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German Pages [337] Year 2019
Daniela Ringkamp Héctor Wittwer (Hg.)
Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817247
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Daniela Ringkamp Héctor Wittwer (Hg.) Was ist Medizin?
VERLAG KARL ALBER
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Daniela Ringkamp Héctor Wittwer (Hg.)
Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Daniela Ringkamp, Héctor Wittwer (Eds.) What is medicine? The concept of medicine and its ethical implications Medicine today is characterised by a series of tendencies that lead to a change in the traditional understanding of medicine which no longer understands itself as a mere art of healing. These include, for example, the often-lamented economisation of medicine or the trend toward »wish-fulfilling medicine«. In view of these changes, the theoretical question of the nature of medicine gains practical significance. This volume finds answers to this question from various perspectives. Contributions from the history of medicine inform about constants and changes in the understanding of medicine. Medical and scientific theoretical discussions examine the question, what kind of science medicine is. These discussions lay their focus, among other things, on the tension between scientific research and clinical practice. In addition, from the point of view of ethics, heavily debated questions are discussed as to whether medicine has an inherent ethos in which it could exist and whether it can contribute to clarifying medical ethical problems. Finally, the volume makes use of case studies to question where limits of modern medicine.
The publishers: Daniela Ringkamp is Research Associate at the Department of Practical Philosophy at the Otto von Guericke University in Magdeburg. After her PhD dissertation on the moral justification and political realisation of human rights, she is currently working on her postdoctoral lecturing qualification project (»Habilitation«) on dementia, personality and ethics. Héctor Wittwer is Professor of Practical Philosophy at the Otto von Guericke University Magdeburg. His research domains are normative ethics, metaethics and legal philosophy. Moreover, he has long been addressing the philosophical problems that arise from human mortality.
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Daniela Ringkamp, Héctor Wittwer (Hg.) Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen Die Medizin der Gegenwart ist durch eine Reihe von Tendenzen charakterisiert, die dazu führen, dass sich das traditionelle Verständnis der Medizin als bloßer Heilkunde nicht mehr von selbst versteht. Zu nennen sind hier etwa die oft beklagte Ökonomisierung der Medizin oder der Trend zur »wunscherfüllenden Medizin«. Angesichts dieser Veränderungen gewinnt die theoretische Frage nach dem Wesen der Medizin an praktischer Bedeutung. Dieser Band beantwortet die Frage aus verschiedenen Perspektiven. Beiträge aus der Geschichte der Medizin informieren über Konstanten und Wandlungen im Verständnis der Medizin. Medizin- und wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen beschäftigen sich mit der Frage, was für eine Art von Wissenschaft die Medizin ist. Dabei gilt ihr Augenmerk u. a. der Spannung zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der klinischen Praxis. Außerdem werden aus der Sicht der Ethik die vieldiskutierten Fragen erörtert, ob die Medizin ein inhärentes Ethos aufweist, worin dieses bestehen könnte und ob es einen Beitrag zur Klärung medizinethischer Probleme leisten kann. Schließlich wird anhand von Anwendungsfällen nach den Grenzen der gegenwärtigen Medizin gefragt.
Die Herausgeber: Daniela Ringkamp ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Nach ihrer Dissertation zur moralischen Begründung und Verwirklichung von Menschenrechten arbeitet sie derzeit an einem Habilitationsprojekt über Demenz, Personalität und Ethik. Héctor Wittwer ist Professor für Praktische Philosophie an der Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Forschungsgebiete liegen in der Normativen Ethik, der Metaethik sowie der Rechtsphilosophie. Außerdem beschäftigt er sich seit Langem mit den philosophischen Problemen, die sich aus der menschlichen Sterblichkeit ergeben.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Replik des Reliefs »Asklepios heilt eine kranke Frau« 4. Jh. v. Chr. (nach dem Weihrelief an Asklepios, Piräus, Archäologisches Museum) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48963-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81724-7
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Inhalt
Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
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Der Wandel der Medizin in der Gegenwart
Matthias Kettner Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tobias Eichinger Instrument oder Profession? Zur ethischen Dimension einer Wesensbestimmung der Medizin
42
Cornelius Borck Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information. Die Präzisionsmedizin der Zukunft, die Effizienz der modernen Medizin und das vergessene Können Heilkundiger . . . . . . .
57
II. Der Begriff der Medizin aus historischer Sicht Daniel Schäfer Grenzen der Medizin? Kontinuität und Wandel der Heilkunde am Beispiel des historischen Umgangs mit Unheilbarkeit und Tod . . . . . . . .
81
Fritz Dross ›allerley jrthumb vnnd mengl‹ – Medizinisches Gutachten im examen leprosum im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. Der Begriff der Medizin aus Sicht der theoretischen Medizin und der Wissenschaftstheorie Peter Hucklenbroich Was ist Medizin – heute? Die Antwort der Medizintheorie . . .
117
Holger Lyre Medizin als Wissenschaft – eine wissenschaftstheoretische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
Heiner Raspe Die klinische Humanmedizin ist eine Handlungswissenschaft eigenen Rechts – ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
Jörg Frommer Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit . . . .
196
IV. Die Frage nach dem Ethos der Medizin aus systematischer Perspektive Dieter Birnbacher Das ärztliche Ethos im Spannungsfeld von ärztlichem Urteil, Recht und Erwartungen der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . .
215
Thomas Schramme Die Bedeutung der Medizintheorie für ein angemessenes Verständnis der ethischen Implikationen der Medizin: Überlegungen in Anlehnung an Karl Eduard Rothschuh . . . . .
238
Héctor Wittwer Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin und ihre Bedeutung für die Medizinethik . . . . . . . . . . . . . . . .
256
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Inhalt
V. Wo liegen die Grenzen der Medizin? – Anwendungsfragen Kerrin A. Jacobs Sozialdiagnostik und Lebensrat – Ärztliche Praxis als medizinischer Grenzgang . . . . . . . . . .
283
Daniela Ringkamp Die Medikalisierung der Schwangerschaft und die Grenzen medizininhärenter Normierungen . . . . . . . . . . . . . . .
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Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung der Herausgeber
Was ist Medizin? – Auf den ersten Blick scheint sich diese Frage leicht beantworten zu lassen. Medizin ist das, was Ärztinnen und Ärzte tun. Versuchsweise könnte man folgendermaßen definieren: Humanmedizin ist die menschliche Tätigkeit, die (i) darauf abzielt, menschliche Krankheiten zu verhindern oder zu heilen und krankheitsbedingtes Leid zu mildern, die (ii) auf wissenschaftlichen Kenntnissen über den Aufbau und die Funktionsweise des menschlichen Körpers beruht und die (iii) von dazu ausgebildeten Spezialisten ausgeführt wird. Diese zugegebenermaßen noch grobe Begriffsbestimmung beruht auf den Erfahrungen, die Menschen alltäglich im klinischen Kontext, d. h. beim Umgang von Ärztinnen mit Patienten 1 machen. Die Medizin wird hier als eine kurative Praxis aufgefasst, weil sie darauf abzielt, Krankheiten und deren Auswirkungen zu bekämpfen. Dieses Verständnis der Medizin erscheint plausibel. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch bald, dass es etliche Bereiche und Maßnahmen gibt, die einerseits in der Gegenwart allgemein als Teile der Medizin anerkannt sind, die sich aber andererseits nicht unter die vorgeschlagene kurative Definition der Medizin subsumieren lassen. Beispiele dafür sind leicht zu finden. Sofern etwa die Rechtsmedizin der Aufklärung von Verbrechen dient, fehlt ihr jeder Bezug auf die Bekämpfung von Krankheiten. Operative Geschlechtsumwandlungen dienen dem Wohl der Betroffenen, es handelt sich bei ihnen aber zweifellos nicht um kurative Maßnahmen. Wenn eine Frauenärztin einer ihrer Patientinnen ein Verhütungsmittel verschreibt, dann tut sie das in aller Regel nicht, um die Patientin vor einer Krankheit zu schützen, sondern damit diese sich ihren Wunsch erfüllen kann, Geschlechtsverkehr haben zu können, ohne schwanger zu werden. Das heutzutage routinemäßig angebotene Bleichen der Zähne (bleaching) Wenn nur die weibliche oder männliche Form genannt wird, ist die jeweils andere mitgemeint.
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Einleitung der Herausgeber
dient ebenso wenig der Gesundheit wie Schönheitsoperationen. Die ärztliche Beihilfe zum Suizid, die in einigen Bundesstaaten der USA erlaubt ist, ist zwar insofern krankheitsbezogen, als sie nur Menschen gewährt werden darf, die an einer unheilbaren und schmerzhaften Krankheit leiden; auch sie wird man aber kaum als kurative Maßnahme bezeichnen dürfen. Wie diese Beispiele, denen man weitere hinzufügen könnte, veranschaulichen, ist es – zumindest unter den Bedingungen der Gegenwart – nicht so einfach, zu einem angemessenen Verständnis des Begriffs der Medizin zu gelangen, wie es scheint. Die Schwierigkeiten, die einer einfachen, kurativen Begriffsbestimmung im Wege stehen, lassen sich folgendermaßen systematisieren. Erstens ist die klinische Praxis gegenwärtig durch eine Tendenz charakterisiert, die man im Anschluss an Matthias Kettner als Erweiterung der kurativen durch die wunscherfüllende Medizin bezeichnen kann. 2 Kennzeichnend für Letztere ist, dass Mediziner die Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie erworben haben, um Krankheiten heilen zu können, anwenden, um Wünsche ihrer Patientinnen und Patienten zu erfüllen, die über die Heilung oder Gesunderhaltung hinausgehen. Diese Tendenz wirft die Frage auf, ob es sich bei Maßnahmen dieser Art überhaupt noch um medizinische Tätigkeiten handelt oder ob in diesen Fällen nicht vielmehr medizinische Kenntnisse und Fähigkeiten zum Erreichen nicht medizinischer Zwecke eingesetzt werden. Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, wird man entweder am kurativen Verständnis der Medizin festhalten können oder dieses durch den Aspekt der Wunscherfüllung erweitern müssen. Falls man der Auffassung ist, dass wunscherfüllende Eingriffe keine medizinischen Maßnahmen sind, stellt sich die moralische Frage, ob Ärztinnen und Ärzte diese Eingriffe dennoch vornehmen dürfen. Der zweite Grund dafür, dass es unter den Bedingungen der Gegenwart schwieriger geworden ist, den Begriff der Medizin so zu bestimmen, dass er seinem Bezugsgegenstand angemessen und darüber hinaus konsensfähig ist, besteht darin, dass keine Einigkeit darüber herrscht, ob einige der Maßnahmen, die von Ärztinnen und Ärzten Vgl. Matthias Kettner: »Assistenz zum guten Leben. Der Trend zur wunscherfüllenden Medizin«, Ethik in der Medizin 18 (2006), S. 5–9; ders. (Hg.), Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt/New York 2009.
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Einleitung der Herausgeber
im klinischen Alltag vorgenommen werden, mit den berufsspezifischen moralischen Anforderungen vereinbar sind, denen die ärztliche Tätigkeit unterliegt. Einschlägige Beispiele sind in diesem Zusammenhang die Abtreibung, die selektive Präimplantationsdiagnostik (PID), die Unterstützung bei der Empfängnisverhütung, die direkte aktive Sterbehilfe und die ärztliche Beihilfe zum Suizid. Seit den 1970er Jahren ist von einer Reihe von Autoren die These vertreten worden, dass die Medizin – im Unterschied zu anderen Berufen – keine Menge von moralisch neutralen Kenntnissen und Fertigkeiten sei, die man zur Erreichung beliebiger Zwecke einsetzen dürfe. Stattdessen weise die Medizin ein sogenanntes »internes Ethos« auf. In der gegenwärtigen Debatte ist nicht nur umstritten, ob es ein solches internes Ethos der Medizin überhaupt gibt, 3 sondern auch, welchen Inhalt dieses Berufsethos, wenn es denn existiert, aufweist und ob die genannten ärztlichen Eingriffe mit ihm vereinbar sind oder nicht. Falls, wie Leon Kass behauptet hat, 4 das einzige Ziel der Medizin die Verhinderung und Heilung von Krankheiten wäre, würde es sich bei der Abtreibung und den anderen genannten Handlungsweisen gar nicht um medizinische Maßnahmen handeln. Wie diese Ausführungen zeigen, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der begrifflichen Frage nach dem Wesen der Medizin und der medizinethischen Frage, ob die ärztliche Tätigkeit über ein ihr eigenes, internes Ethos verfügt und wie dieses gegebenenfalls beschaffen ist. Solange über die Beantwortung dieser ethischen Fragen kein Konsens erzielt worden ist, muss auch der Begriff der Medizin umstritten bleiben. Eine dritte und letzte Schwierigkeit, welche einer allgemeingültigen Begriffsbestimmung der Medizin gegenwärtig im Wege steht, bildet die Tatsache, dass die Medizin sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend aufgespalten hat in die klinische Praxis einerseits und die wissenschaftliche Forschung andererseits. Dieses Auseinandertreten von Medizin als klinischer Praxis und Medizin als wissenschaftlicher Forschung stellt vor allem für die Wissenschaftstheorie eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Zu klären ist beispielsweise, ob es möglich und sinnvoll ist, eine Definition
Vgl. zur Kritik an der These vom internen Ethos der Medizin z. B. Robert Veatch: »The Impossibility of a Morality Internal to Medicine«, Journal of Medicine and Philosophy 26 (2001), S. 621–642. 4 Vgl. Leon Kass: »Regarding the end of medicine and the pursuit of health«, The Public Interest 40 (1975), S. 11–42 3
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Einleitung der Herausgeber
der Medizin zu finden, unter die sich beide Zweige subsumieren lassen, oder ob es zweckmäßiger ist, die Medizin als klinische Praxis auch begrifflich klar von der Medizin als Naturwissenschaft zu unterscheiden. Wie diese Frage zu beantworten ist, hängt wiederum davon ab, ob für die beiden Bereiche der medizinischen Tätigkeit die gleichen Erfolgskriterien gelten. Gibt der Erfolg einer Therapie den behandelnden Ärzten Recht, 5 oder hängt auch im klinischen Kontext die Wahrheit einer Aussage von den Methoden ihrer Überprüfbarkeit ab? – In diesem Zusammenhang wird gegenwärtig u. a. diskutiert, ob die sogenannte Evidenzbasierte Medizin (EBM), die heute in der medizinischen Forschung als »Goldstandard« der Wissenschaftlichkeit gilt, auch ein angemessenes Kriterium für die Qualität klinischer Maßnahmen darstellen kann. Obwohl Menschen und ihre Krankheiten zweifellos natürliche Gegenstände sind, ist darüber hinaus zweifelhaft, ob die Medizin im gleichen Sinne eine Naturwissenschaft sein kann wie die Biologie oder die Physik. Im klinischen Alltag begegnen sich Ärztinnen und Patienten als Menschen, d. h. als denkende, handelnde und miteinander kommunizierende Wesen. Anders als Moleküle, mechanische Körper oder Pflanzen begegnen Patienten den behandelnden Ärzten nicht einfach als Gegenstände; vielmehr möchten sie mit ihren Leiden und Krankheiten von den Medizinern verstanden werden. Dass die Kommunikation zwischen Ärztin und Patientin ein unverzichtbarer Aspekt der Therapie ist, wird heutzutage kaum bestritten. Die wissenschaftstheoretische Frage, die sich aus dieser Feststellung ergibt, lautet, ob der hermeutisch-kommunikative Aspekt mit dem rein naturwissenschaftlichen Verständnis der Medizin vereinbar ist. Die genannten drei Gründe haben dazu geführt, dass zunehmend unklar geworden ist, was Medizin ist, genauer gesagt: wo die Grenzen der Medizin verlaufen. Unstrittig war immer, dass die Verhinderung und Heilung von Krankheiten den Kern der ärztlichen Tätigkeit bildet. Dies wird auch in der gegenwärtigen Debatte über den Begriff der Medizin von niemandem bestritten. Da allerdings sowohl der Anteil der nicht kurativen Maßnahmen als auch der rein wissenschaftlichen Forschung an der Gesamtheit der medizinischen Tätigkeiten zunimmt, stellt der Konsens über den semantischen Kern des
Vgl. dazu etwa Urban Wiesing: Wer heilt, hat Recht? Über Pragamatik und Pluralität in der Medizin, Stuttgart 2004.
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Einleitung der Herausgeber
Begriffs der Medizin in immer geringerem Maße eine geeignete Grundlage für ein angemessenes Verständnis der Medizin dar. Die Verunsicherung im Hinblick darauf, was Medizin ist und wo ihre Grenzen verlaufen (sollten), wird durch Tendenzen verstärkt, die in den öffentlichen Debatten der letzten Jahrzehnte häufig konstatiert und beklagt worden sind. Die Rede ist u. a. von der Ökonomisierung, der Kommerzialisierung, der Entindividualisierung und Anonymisierung sowie von der Technisierung der Medizin. Wie immer man die entsprechenden Behauptungen im Einzelnen beurteilen mag – kaum zu bezweifeln ist sicherlich, dass sich die Medizin der Gegenwart in einem Wandel befindet. Wohin dieser Prozess führen wird, ist noch keineswegs ausgemacht. Während die einen befürchten, dass die Medizin oder das, was in Zukunft so genannt werden wird, sich von ihrem Wesen und ihrer eigentlichen Aufgabe entfremden könnte, setzen andere große Hoffnungen in den Wandel der Medizin. In ihrem Zusammenspiel haben die genannten Faktoren dazu geführt, dass heutzutage weniger als je zuvor außer Frage steht, was Medizin ist und sein sollte und wo ihre Zuständigkeit endet oder enden sollte. In der Gegenwart ist »Medizin«, wie Christopher McKnight treffend formuliert hat, ein »wesentlich umstrittener Begriff« 6. In der Debatte über dieses Thema hängen medizininterne, wissenschaftstheoretische, moralische, politische und religiöse Annahmen auf nicht immer überschaubare Weise miteinander zusammen. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes gehen von der Überzeugung aus, dass sich die Fragen nach dem Wesen und dem Ethos der Medizin nur dann überzeugend beantworten lassen, wenn die Einsichten mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Begriff der Medizin beschäftigen, einbezogen werden. Zu nennen sind hier in erster Linie die Theoretische Medizin, die Wissenschaftstheorie, die Geschichte der Medizin, die Philosophie der Medizin sowie die Medizinethik. Wir haben uns darum bemüht, nicht nur Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen zu Wort kommen zu lassen, sondern auch gegensätzliche Auffassungen gegenüberzustellen, sodass dieser Band hoffentlich repräsentativ für die kontroversen Debatten der Gegenwart ist. Da jedem Text ein Abstract vorangestellt ist, kann hier daVgl. Christopher McKnight: »Medicine as an essentially contested concept«, Journal of Medical Ethics 29 (2003), S. 261–262.
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Einleitung der Herausgeber
rauf verzichtet werden, den Inhalt der einzelnen Beiträge zusammenzufassen. Die meisten der hier versammelten Aufsätze beruhen auf Vorträgen, die im Februar 2017 in Magdeburg auf einer von uns ausgerichteten, interdisziplinären Tagung zum Thema dieses Bandes gehalten wurden. Unser Dank gilt der Leitung der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg für die finanzielle Förderung der Tagung zum Begriff der Medizin und dem Verlag Karl Alber, insbesondere Herrn Lukas Trabert für die Aufnahme des Tagungsbandes in sein Programm. Unser besonderer Dank gilt Anne-Sophie Gaillard, die als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der OVGU entscheidend dazu beigetragen hat, dass dieser Band so bald nach der Tagung erscheinen kann. Magdeburg im Januar 2018
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I. Der Wandel der Medizin in der Gegenwart
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin Matthias Kettner
Abstract: Die Kultur der Medizin ist vielfältig und erlaubt unterschiedliche Einteilungen. Im vorliegenden Aufsatz wird zunächst der 2005 vom Autor eingeführte Begriff der »wunscherfüllenden Medizin« durch eine Reihe von Kontrastierungen mit unserem Grundverständnis »kurativer Medizin« erläutert. Der Bereich von aktuellen Phänomenen wird veranschaulicht, die mit diesem Begriff kulturreflexiv beobachtet werden können und seine zeitdiagnostische Aufschlusskraft belegen. Wunscherfüllende Medizin ist die von Ärzten und anderen medizinischen Experten verantwortete Bereitstellung oder Anwendung medizinischen Wissens und Könnens zur absichtsvollen Einwirkung auf Eigenschaften von Personen, aufgrund und nach Maßgabe von Wünschen, auf deren Erfüllung sie selber Wert legen, nicht aber aufgrund der allgemein anerkannten ärztlichen Behandlungsbedürftigkeit von Kranken. Im letzten Teil des Aufsatzes wird der Begriff gegen zwar verwandte, aber anders gelagerte Begriffe wie »Enhancement«, »Optimierung«, »Medikalisierung« abgegrenzt und gegen kurzschlüssige Konfundierungen verteidigt.
1.
Wie begreifen wir Diversität innerhalb der Kultur der Medizin?
Das Menschenbild der Medizin bezieht sich seit ihren historisch bekannten Anfängen wesentlich auf den kranken Menschen. Heute jedoch beginnt sich in vielen Praxisbereichen der Kultur der Medizin ein neues Bild abzuzeichnen. In den reichen Ländern mit ausgebauten Gesundheitssystemen und technisch hochentwickelter medizinischer Versorgung möchten immer mehr Menschen das verfügbare medizinische Können und Wissen auch unabhängig davon nutzen, ob sie krank sind. Sie möchten ihre eigene körperliche Verfassung und das Leben, wie sie es zu führen wünschen, mithilfe des medizinisch Machbaren besser aufeinander abstimmen. 19 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Matthias Kettner
Das schafft Bedarf für neue Transferprozesse von medizinischem Wissen und Können in die Lebenspraxis, Transferprozesse, die die etablierte Praxis der organisierten Krankenbehandlung umgehen. Besserung oder Heilung von Krankheitszuständen und krankheitsbedingtem Leiden ist nicht mehr der Leitzweck, der das System der ärztlichen Heilkunst und aller ihm zuarbeitenden Aktivitäten integriert, sondern die Verbesserung von Weisen der Lebensführung mit medizinischen Mitteln. Die medizinisch assistierte Optimierung der individuellen Lebensführung bildet sich als ein zweites mächtiges Telos heraus, das Telos der wunscherfüllenden Medizin. 1 »Die Pointe der wunscherfüllenden Medizin«, so meinte und meine ich, lässt sich am besten in Abgrenzung zur kurativen Medizin erklären. Deren Kerngeschäft ist die Krankenversorgung unter der regulativen Idee der Heilung. Wunscherfüllende Medizin hingegen setzt medizinisches Wissen und Können für individualisierte Zwecke ein – diesseits und jenseits des gesellschaftlich approbierten Zwecks der Krankenversorgung. Sie konzentriert sich auf die Gesundheit von Gesunden und erzeugt neben der Patientenrolle, wie wir sie kennen, Klienten- und Kundenrollen für ihre Rezipienten. Sie öffnet das medizinische Wissen und Können aus der Sicht der Rezipienten für diverse Zwecke der Lebensplanung, Selbstverwirklichung und Selbstverbesserung. 2
Wie sozialwissenschaftliche Umfragen zeigen, finden bereits mehr als ein Drittel der Deutschen die Erwartung, Ärzte sollten nicht mehr nur als Helfer in gesundheitlicher Not handeln, normal. Ärzte, und auch andere Experten des medizinischen Wissens und Könnens, sollten komplexe Dienstleistungen mit vielfältigem Nutzen zum Wohle ihrer Klienten anbieten, wie diese es sich wünschen. Solche Verschiebungen von Normalitätsspielräumen innerhalb der allgemeinen Kultur, und dadurch mittelbar in der Expertenkultur der Medizin, greift das Stichwort der »wunscherfüllenden Medizin« auf: Den Einsatz medizinischen Wissens und Könnens zugunsten von Gesunden nach deren eigenen Wünschen. Vgl. Matthias Kettner: »Assistenz zum guten Leben. Der Trend zur wunscherfüllenden Medizin«, Ethik in der Medizin, 18 (2006), S. 5–9; Matthias Kettner: »›Wunscherfüllende Medizin‹ – Assistenz zum besseren Leben?«, G+G Wissenschaft 6/2 (2006), S. 7–16. 2 Matthias Kettner (Hg.): Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt a. M. 2009, hier S. 11. 1
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
Wunscherfüllende Medizin durch Kontrastierung mit kurativer Medizin zu charakterisieren heißt nicht, diese Unterscheidung für erschöpfend zu halten. Offensichtlich können wir je nach gewähltem Bezugspunkt auf je verschiedene Weise innerhalb der Kultur der Medizin auf mehr oder weniger Diversität setzen. Besonders gut eignet sich die kurative Medizin als Ankerpunkt für Kontrastierungen, weil sie in der bisherigen Kulturgeschichte der Medizin den durchgängigen roten Faden darstellt: Sie bildet sich in dieser Geschichte als deren historisches Apriori heraus. »Palliative« Medizin beispielsweise lässt sich als Schwundform kurativer Medizin von dieser unterscheiden. Palliativ werden Kranke behandelt, wenn nur noch die Abhaltung von krankheitsbedingten Qualen des Sterbens, aber nicht mehr die Abhaltung des krankheitsbedingten Sterbens selbst ein medizinisch sinnvolles Behandlungsziel sein kann. »Forensische« Medizin ist der Einsatz medizinischen Wissens und Könnens für polizeiliche, »Gerichtsmedizin« für Zwecke der Strafrechtsdurchsetzung, beides in Differenz zur kurativen Medizin. Einen anderen Unterscheidungsgesichtspunkt, nämlich den der wissenschaftlichen Bewertung der epistemischen Qualität des jeweiligen relevanten medizinischen Wissens, nehmen wir ein, wenn wir innerhalb der kurativen Medizin »evidenzbasierte« und nicht evidenzbasierte unterscheiden. Ebenfalls innerhalb des Felds kurativer Medizin, aber wieder unter einem anderen Gesichtspunkt, unterscheiden wir »moderne« von »traditioneller« Medizin und »indigener« Heilkunde. 3 Eine weitere Unterscheidung, die den Gegensatz von kurativer und nicht kurativer Medizin überkreuzt, ist die Differenz von »Schulmedizin« und »Alternativmedizin«. In dieser scheinbar einfachen Differenz laufen vielfältige Differenzierungsgesichtspunkte zusammen, darunter ist die faktisch mehr oder weniger ausgeprägte Hegemonie innerhalb einer bestimmten historischen Gestalt der Kultur der Medizin sicher nicht der unwichtigste. Schulmedizin ist selbstverständlicher und allgemeiner etabliert als Alternativmedizin. »Komplementärmedizin«, wenn man hier noch eine terminologische Differenz in die Alternativmedizin einziehen möchte, ließe sich als der kurative Teil der Alternativmedizin unterscheiden. Für einen aufschlussreichen Blick auf die im Westen gelehrte und praktizierte TCM, die bei Licht besehen weder traditionell noch chinesisch ist, siehe Paul Ulrich Unschuld: What Is Medicine? Western and Eastern Approaches to Healing, Berkeley 2009.
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Matthias Kettner
2.
Kulturelle Vektoren von kurativer und wunscherfüllender Medizin
Das Hastings Center, ein renommiertes nordamerikanisches Forschungsinstitut für Bio- und Medizinethik, hat in einer breit angelegten Untersuchung das vor einigen Jahren (noch!) vorherrschende professionelle Selbstverständnis von Ärzten untersucht. Die normativ wesentlichen Ziele der Medizin, wie wir sie kennen – man kann auch sagen: die kulturellen Errungenschaften einer normativen Essenz dessen, was sich in der europäischen Neuzeit als das Feld professionalisierter medizinischer Praktiken herauskristallisiert hat –, lassen sich so zusammenfassen: 4 1. Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung, 2. Erleichterung von Schmerz und Leid, die von Krankheiten verursacht werden, 3. Heilen von Krankheiten; Fürsorge, wenn eine Heilung nicht möglich ist, 4. Vermeiden eines frühzeitigen Todes und Streben nach einem friedvollen Tod. Diese vier Ziele haben im zwanzigsten Jahrhundert den Umfang der »ärztlich indizierten«, also vom Expertenurteil untermauerten Behandlungsmöglichkeiten nachhaltig bestimmt. Zusammen ergeben diese vier Ziele, was man das medizinische »Grundverständnis« des Behandelns und Heilens nennen kann. Die Konstellation dieser Ziele bzw. medizinkultureller Vektoren lässt sich auch als »Therapie-Paradigma« der heute (noch) vorherrschenden westlichen Humanmedizin charakterisieren. Auch die Psychotherapie fügt sich in dieses Paradigma ein, wenn auch mit eigenen und anderen Krankheitstheorien als die der kurativen somatischen Medizin. Das Therapieparadigma der kurativen Medizin hat sich auch in der Entwicklungsgeschichte der solidarisch finanzierten Krankenversicherung ausgeprägt: Es rechtfertigt die Ausgrenzung all dessen, was gesetzlich Versicherte nicht beanspruchen können, weil die Krankenkassen, die im deutschen Gesundheitssystem durch ihre Kontrollmacht über die Finanzierungsströme zu den gesundheitspolitischen Akteuren mit der größten Steuerungsmacht zählen, es wegen mangelnder medizinischer Notwendigkeit in der Regel nicht bewilligen 4 Vgl. Mark J. Hanson/Daniel Callahan (Hg.): The Goals of Medicine. The Forgotten Issues in Health Care Reform, Washington, DC 2010.
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
und die Ärzte nicht bewirken sollen, da es jenseits der genannten Ziele liegt. Heute jedoch gerät die Medizin zunehmend in die merkwürdige Lage, dass sie zwar immer noch vieles nicht weiß und nicht kann, was sie zur Behandlung von Krankheiten eigentlich können sollte, aber auch vieles weiß und vieles kann, was mit der Behandlung von Krankheiten gar nichts mehr zu tun hat und deshalb auch von den moralischen, rechtlichen und professionellen Normen, die die ärztliche Behandlung von Krankheiten bisher sinnvoll geregelt haben, nicht mehr »richtig« reguliert werden kann, will sagen: normativ einwandfrei; effektiv und effizient; im Licht von lebensweltlich und professionskulturell etablierten Wertmustern befriedigend. Und so beginnt sich durch das Erstarken des Trends der wunscherfüllenden Medizin das medizinische Grundverständnis, zumindest an seinen Rändern bereits, aufzulösen. Für die Medizinsoziologie, Medizinphilosophie und Medizinethik besteht dadurch Forschungsbedarf. Entwickelt werden müsste eine empirisch gesättigte und zugleich normativ gehaltvolle Theorie, die für die unumgängliche Neuorientierung des ethischen, professionellen, gesundheitspolitischen und -ökonomischen Denkens angesichts des kulturellen Trends der wunscherfüllenden Medizin hilfreich wäre. Die Erforschung der Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin ist bislang noch ein Desiderat. Auch die vorliegenden Überlegungen sind nur programmatisch. Sie verfolgen lediglich das bescheidene Ziel, den Begriff der wunscherfüllenden Medizin einleuchtend zu artikulieren und von Angleichungen an verwandte, aber anders gelagerte Begriffe abzusetzen. Ich habe den Begriff der wunscherfüllenden Medizin 2005 in die medizinethische Diskussion eingeführt, um ein theoretisches Instrument zu konstruieren, das erlauben sollte, einige scheinbar ganz disparate Phänomene zusammenzufassen und gewissermaßen an ihrer kulturellen Wurzel zu begreifen: 5 Gefeierte Fortschritte der ärztlich assistierten Fortpflanzung und Repro-Genetik, die zur massenkulturellen Selbstverständlichkeit werdende Schönheitschirurgie, eine zunehmend kommerziell bedeutsame Verbreitung pharmakologischer Anlässlich der 2005 in Witten/Herdecke ausgerichteten Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin. Programm und Abstracts der Jahrestagung »Wunscherfüllende Medizin« sind abrufbar unter hhttp://aem-online.de/index.php?id=50i (letzter Zugriff 23. 01. 2018).
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Matthias Kettner
Mittel zur Manipulation der gefühlsmäßigen Gestimmtheit, der Hype um sogenannte »Anti-Aging«-Medizin, die mit schwärmerischen Hoffnungen umgarnenden Visionen diverser »Enhancements« zur übernormalen Verbesserung von Eigenschaften, die üblicherweise begehrt sind und daher auch in häufig individueller Sichtweise wünschenswert erscheinen, die wachsende Attraktivität von »ganzheitlichen« und »alternativen« Heilungsverfahren, die subjektiv erwünscht sind, auch und obwohl sie keine erklärbare und nachweisliche kurative Wirkkraft besitzen, sowie die schnelle Ausbreitung eines Markts für Medizinprodukte und medizinische Dienstleistungen ohne positive medizinische Indikation. Seitdem sind einige Arbeiten entstanden, die die Aufschlusskraft des Begriffs erproben, 6 allerdings noch nicht im Umfang größerer Forschungsprojekte.
Alena Buyx/Peter Hucklenbroich: »›Wunscherfüllende Medizin‹ und Krankheitsbegriff: Eine medizintheoretische Analyse«; Reinhard Damm: »Informed consent zwischen Indikations- und Wunschmedizin: Eine medizinrechtliche Betrachtung« und Dominik Groß: »Wunscherfüllende Zahnmedizin: Die Zahnarztpraxis als Kosmetik- und Wellness-Oase?«, alle drei in: Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin, S. 25–54, S. 183–207 und S. 103–122; Tobias Eichinger: Jenseits Der Therapie: Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin, Bielefeld 2013; Nine Joost: »Schönheitsoperationen – die Einwilligung in medizinisch nicht indizierte ›wunscherfüllende‹ Eingriffe«, in: Claus Roxin/Ulrich Schroth (Hg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, Stuttgart 2010, S. 283–443; Matthias Kettner: »The Authority of Desire in Medicine«, in: Marcus Düwell/Christoph Rehmann-Sutter/Dietmar Mieth (Hg.), The Contingent Nature of Life. Bioethics and the Limits of Human Existence, Berlin 2008, S. 97–108; ders.: »Wunscherfüllende Medizin, private Dienstleistungsmedizin und die Ausdifferenzierung der Arzt-Patient-Beziehung«, in: Susanne Dungs/Uwe Gerber/Eric Mührel (Hg.), Biotechnologie in Kontexten der Sozial- und Gesundheitsberufe, Frankfurt a. M. 2009, S. 113–124; ders.: »Enhancement als wunscherfüllende Medizin«, in: Ada Borkenhagen/Elmar Brähler (Hg.), Die Selbstverbesserung des Menschen. Wunschmedizin und Enhancement aus medizinpsychologischer Perspektive, Gießen 2012, S. 13–32; Matthias Kettner/Iris Junker: »Konsequenzen der wunscherfüllenden Medizin für die Arzt-Patient-Beziehung«, in: Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin, S. 55–74; Giovanni Maio: »Medizin auf Wunsch? Eine ethische Kritik der präferenzorientierten Medizin, dargestellt am Beispiel der ästhetischen Chirurgie«, Deutsche Medizinische Wochenschrift 132/43 (2007), S. 2278– 2281; ders.: Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2012, darin S. 322–334: Kapitel 22: »Enhancement und wunscherfüllende Medizin«; Gerald Neitzke/Bernd Oppermann: »Wunscherfüllende Zahnmedizin: die Indikation als Grundlage zahnärztlichen Handelns«, Ethik in der Medizin 29/1 (2017), S. 41–52; Albrecht Wienke et al. (Hg.): Die Verbesserung des Menschen. Tatsächliche und rechtliche Aspekte der wunscherfüllenden Medizin, Heidelberg 2009.
6
24 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
3.
Was heißt »wunscherfüllende Medizin« und wie ist ihr Begriff konstruiert?
Was ich mit wunscherfüllender Medizin meine, lässt sich abstrakt und ein wenig pedantisch in fünf Punkten definieren. Wunscherfüllende Medizin ist die Praxis 1. der von Ärzten und anderen medizinischen Experten verantworteten Bereitstellung oder Anwendung 2. medizinischen Wissens und Könnens 3. zur absichtsvollen Einwirkung auf Eigenschaften von Personen 4. aufgrund und nach Maßgabe von Wünschen, auf deren Erfüllung sie selber Wert legen, 5. nicht aber aufgrund der allgemein anerkannten ärztlichen Behandlungsbedürftigkeit von Kranken. Konkreter wird das mit dem Begriff Gemeinte, sobald man das Therapieparadigma der kurativen Medizin als Bezugsrahmen heranzieht, um eine Reihe von Kontrastierungen vorzunehmen. Dieses Verfahren ist nicht zu verwechseln mit dem (ohnehin fast immer aussichtslosen) Versuch, alle notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die korrekte Verwendung eines nichtformalen Begriffs angeben zu wollen. Die Reihe der Kontraste, mit deren Hilfe ich den Begriffsinhalt verdeutliche, ist aus keinem obersten Prinzip abgeleitet, sondern versammelt pragmatisch verschiedene Gesichtspunkte, die bedeutsame Züge des Begriffsinhalts, sozusagen sein Begriffsprofil, hervortreten lassen: Kurative Medizin
Wunscherfüllende Medizin
A1
Krankheit (disease)
offener Wunsch
A2
Gesundheit
GESUNDHEIT
A3
Indikation
keine Kontraindikation
A4
Krankenrolle
Kundenrolle
A5
Imperativität
Optionalität
A6
Professionelle Autonomie
Deregulierung
A7
Schulmedizin
Alternativmedizin
A8
Pathogenese
Salutogenese
Abbildung 1: Zur Unterscheidung kurativer und wunscherfüllender Medizin
25 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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Die Kontraste, die ich nun erläutern möchte, sind unter den Aspekten A1-A8 in absteigender Reihenfolge ihrer Trennschärfe angeordnet. (A1) Wunscherfüllende Medizin widmet sich der Erfüllung von Wünschen, deren Erfüllung als ein Gut bzw. deren Offenbleiben oder Versagung als ein Übel individuell bewertet werden (nämlich: als fürmich-erstrebenswert oder als für-mich-leidvoll). Hingegen beruht Medizin im Therapieparadigma kurativer Medizin auf einem Krankheitsbegriff, der eine aus körperlichen oder seelischen Funktionsstörungen (d. h. objektiv feststellbaren Dysfunktionen) resultierende Beeinträchtigung des Gesundheitszustands einer Person meint. Die resultierende Beeinträchtigung wird von der Person als leidvoll erlebt, und zwar als leidvoll nach allgemein selbstverständlichen Wertungsstands von nichttrivialen Übeln. Und selbst wenn die Person diese Beeinträchtigung nicht aktuell so erlebt (wie z. B. in präsymptomatischen Phasen einer Krankheit), erhöht sie doch vergleichsweise signifikant die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von nichttrivialen Übeln für die kranke Person. 7 Gesundheit heißt dann so viel wie die Abwesenheit von etwas Negativem, Mangelhaftem, nämlich der krankheitswertigen Beeinträchtigung, und die kurative medizinische Behandlung führt im Idealfall zur Wiederherstellung des Zustands der unbeeinträchtigten Gesundheit. (A2) Anders im Denken der wunscherfüllenden Medizin: Hier wird die GESUNDHEIT gleichsam groß geschrieben und als eine komplexe, positive, sozio-bio-physische Qualität gedacht, die immer mehr gesteigert und verbessert werden kann. Es geht einem nie so gut, dass es einem in bestimmten subjektiv erwünschten Hinsichten nicht noch besser gehen könnte. (Man denke z. B. an das ästhetische Erscheinungsbild der Person, an Wohlgefühl, Selbstbejahung, Liebesfähigkeit, Arbeitsfähigkeit, Lebensdauer.) Zur groß geschriebenen GESUNDHEIT zählt zunehmend auch der erwünschte Aufschub schwerer Krankheiten ins hohe Alter (»compression of disease«) und die Verlängerung des Lebens bis in Umfassend zur Komplexität der Krankheitstheorie siehe Peter Hucklenbroich: »›Krankheit‹ als theoretischer Begriff der Medizin: Unterschiede zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Krankheitsbegriff«, Journal for General Philosophy of Science (30. 06. 2017), S. 1–36 hhttps://doi.org/10.1007/s10838–017–9367-yi (letzter Zugriff 23. 01. 2018); ders.: »Die Unterscheidung zwischen krankheitsbezogener und ›wunscherfüllender‹ Medizin – aus wissenschaftstheoretischer Sicht«, in Sascha Dickel/Martina Franzen/Christoph Kehl (Hg.), Herausforderung Biomedizin – Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis, Bielefeld 2011, S. 205–229.
7
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ein ungewöhnlich hohes Alter (»longevity«). Die im öffentlichen, aber auch im Expertendiskurs der Medizin anhaltende Kontroverse über Anti-Aging-Medizin zwischen Sinn und Scharlatanerie ist hintergründig eine Kontroverse über die Wertschätzung der Alten und die Deutung des Alterns. Dass die Zahl konkurrierender Erklärungstheorien des biologischen Alterungsprozesses explodiert, verwundert nicht, bedenkt man, wie viel Gewinn an öffentlicher Diskurshoheit (leider) im Verweis auf »naturwissenschaftlich gesicherte« Befunde liegt. Da die Branche boomt, legen Anti-Aging-Mediziner die Befunde der biologischen Altersforschung vorzugsweise so aus, dass sie »Altern als einen defizitären Vorgang« beschreiben, »der durch Abbauprozesse und Verschleißerscheinungen gekennzeichnet ist. Diese Perspektive legt es Medizinern nahe, den Alterungsprozess mit pathologischen Erscheinungen zu vergleichen, um schließlich Altern selbst als unnatürlich und krank aufzufassen« 8. Die an der wissenschaftlichen und/oder kommerziellen Etablierung von Anti-Aging-Medizin Interessierten versuchen diese entweder dem Umfang kurativer Medizin direkt einzuverleiben, entdecken die Krankheitswertigkeit des Alterns als solchen und erfinden neue Indikationen; oder sie rechtfertigen sie indirekt aus dem im Grundverständnis der Medizin ebenfalls normativ generalisierten Wert der Prävention und Gesundheitsförderung; oder sie rechnen sie offensiv zur wunscherfüllenden Medizin, die sie natürlich für legitim halten müssen: »Der Wunsch des Menschen an die so genannte Anti-AgingMedizin besteht darin, dass man ihnen das numerische Alter nicht ansieht.« 9 Diese dritte Möglichkeit beschreibt Eichinger als wunscherfüllende Medizin, nennt allerdings nicht diesen Begriff, sondern den weit weniger passenden der »Medikalisierung«: Es gehe darum, zur Legitimierung von Anti-Aging-Medizin »ganz auf einen KrankheitsTobias Eichinger: »Ausweitung der Kampfzone: Anti-Aging-Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung«, in: Willy Viehöver/Peter Whehling (Hg.), Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen, Bielefeld 2011, S. 195–228, hier S. 214. Eichinger verweist ebd. auf Alexander Römmler/Alfred S. Wolf (Hg.): Anti-Aging Sprechstunde. Teil I: Leitfaden für Einsteiger, Berlin 2003, S. 19. 9 Thomas Rabe/Thomas Strowitzki: »Anti-Aging-Medizin auf dem Weg zur Wissenschaft«, in: Christian Herfahrt (Hg.), Gesundheit, Berlin 2007, hier S. 353, zitiert in Fußnote 27 von Eichinger: »Ausweitung der Kampfzone: Anti-Aging Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung«, a. a. O., S. 220. 8
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bezug zu verzichten und Anti-Aging als optionale Dienstleistung zu verstehen. Die Zielsetzungen der Anti-Aging-Medizin lassen sich dann nicht unter die bestehenden Ziele der Medizin subsumieren, sondern verweisen auf einen Zweck, der diesen neu hinzugefügt wird: die Erfüllung individueller Wünsche ohne medizinische Indikation«, abzielend auf die »Verbesserung der Lebensqualität im Alter« 10. (A3) Im Therapieparadigma der herkömmlichen kurativen Medizin richtet sich der Einsatz von Wissen und Können nach anerkannten Kriterien der Behandlungsbedürftigkeit, den medizinischen Indikationen. 11 Patienten willigen in Maßnahmen ein, die die Ärzte nicht deshalb vorschlagen, weil sie sie aus welchen Gründen auch immer vornehmen möchten, sondern weil die Ärzte diese Maßnahmen lege artis vorschlagen sollten: aus normativen Gründen, deren Quelle das Mandat der ärztlichen Heilkunst ist, in die wiederum die medizinische Nosologie, eine Systematisierung des faktischen Krankheitswissens der Medizin, eingebettet ist. Dagegen genügt es im Denkrahmen wunscherfüllender Medizin, dass der Einsatz eines Mittels oder einer Maßnahme lege artis nicht schädlich, nicht kontraindiziert ist und aus Expertensicht einen Nutzen bringen könnte, der dem entspricht, was diejenigen sich versprechen, die diese Experten als ihre Wunscherfüllungsgehilfen, als Assistenten zum besseren Leben, engagieren. Ebd., S. 219. Zum Indikationsbegriff und den Problemen seiner Verwendung siehe Andrea Dörries/Volker Lipp (Hg.): Medizinische Indikation. Ärztliche, ethische und rechtliche Perspektiven. Grundlagen und Praxis, Stuttgart 2015. Dass der Trend zur wunscherfüllenden Medizin die Praxis der Indikationsstellung, wie wir sie im Therapie-Paradigma der kurativen Medizin kennen, antastet, beobachtet in medizinrechtlicher Perspektive Reinhard Damm (Damm: »Informed consent zwischen Indikations- und Wunschmedizin«). Damm untersucht eine Reihe von wichtigen Praxisbereichen der modernen Medizin auf Anzeichen einer Abwertung der normativen Rolle des medizinischen Indikationsbegriffs und Aufwertung der informierten Patienteneinwilligung. Diese eigentümliche Konstellation, Bedeutungszuwachs von Information und Bedeutungsschwund von Indikation, findet Damm in der Fortpflanzungsmedizin, bei Pränataldiagnostik und prädiktiver genetischer Diagnostik, bei der Schnittentbindung auf Wunsch und bei der Organlebendspende. Damm interpretiert diese Befunde als eine Krise des überkommenen medizinischen Indikationsbegriffs. In den betrachteten Bereichen wird dessen Legitimationskraft für ärztliches Handeln, die Rückhalt in objektivierbaren Kriterien verlangt, von der Legitimationskraft von wohlinformiert wählenden Individuen, die keinen solchen Rückhalt verlangt, übersteuert und aufgehoben. Als Medizinrechtler betrachtet Damm diese Entwicklung mit großer Skepsis: als ein Triumph der subjektiven Autonomie sollte sie nicht gefeiert werden.
10 11
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
Ein gutes Beispiel für eine einzelne Leistung wunscherfüllender Medizin, die heute in Deutschland den Status einer nicht mehr rechtfertigungsbedürftigen Selbstverständlichkeit erlangt hat, ist die Wunschgeburt (»Kaiserschnitt«). Als Beispiel für ein ganzes Feld wunschmedizinischer Maßnahmen in unterschiedlichen Stadien der öffentlichen Umstrittenheit sei auf die Reproduktionsmedizin und Humangenetik verwiesen (Stichworte: genetisches Enhancement, vorgeburtliche Geschlechtswahl). Zum Desiderat einer normativ durchdachten und empirisch gehaltvollen Theorie der wunscherfüllenden Medizin gehört auch die Suche nach gut begründbaren, geklärten und relevanten Urteilsstandards, die die individuelle ebenso wie die öffentlich-politische Urteilsbildung darüber anleiten könnten, wie die längst in Gang befindliche »liberale«, d. h. in die elterliche private, nicht mehr in die staatliche Autorität gestellte Eugenik, die nach Vorteilen (»positive Eugenik«) oder nach Nachteilen (»negative Eugenik«) selektiert, eingeschätzt werden kann. Gewiss existiert zum Problemfeld, wie ärztlich gut, gesundheitspolitisch korrekt und gesellschaftspolitisch förderlich und zukunftsdienlich mit dem mächtigen Wunsch nach genetisch eigenen – und gesunden – Kindern umzugehen ist, eine ausgebreitete Literatur. 12 Aber eine durchdachte normative Integration wäre m. E. erst im Rahmen einer ausgearbeiteten Theorie wunscherfüllender Medizin möglich. Tobias Eichinger hat am Beispiel von Körperintegritätsidentitätsstörungen (BIID) 13 wie der Sehnsucht nach Amputation gesunder Gliedmaßen gezeigt, wie unsere gewohnten Vorstellungen krankheitswertiger Leiden, für deren Linderung oder Behebung die Medizin zuständig erklärt wird, zu überdenken und eventuell auszuweiten wären. Weil die Frage, ob der Wunsch nach einer freiwilligen AmpuSpezifisch zur philosophischen Literatur siehe die Bibliographie in Sara Goering: »Eugenics«, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2014 Edition), hhttps:// plato.stanford.edu/archives/fall2014/entries/eugenics/i (letzter Zugriff 23. 01. 2018). Für Ansätze, Fragen der Eugenik und des Kinderwunschs in einem wunschmedizinischen Rahmen zu deuten, siehe Matthias Kettner: »Neue Formen gespaltener Elternschaft«, Beilage zu Das Parlament, Nr. 27, 2001, S. 34–43 hhttp://www.bpb.de/ apuz/26180/neue-formen-gespaltener-elternschafti (letzter Zugriff 10. 11. 2017). 13 Siehe die Informationsseiten der Selbsthilfegruppe für BIID-Betroffene, Angehörige, Ärzte und Therapeuten hhttp://www.biid-dach.org/index.phpi (letzter Zugriff 23. 01. 2018). 12
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tation als Krankheit begriffen werden kann, keine im Expertendiskurs konsensfähige Antwort gefunden hat, ist BIID, im Unterschied »zur körperdysmorphen Störung« (noch) nicht in DSM und ICD, die Kataloge offiziell anerkannter Krankheiten und Störungen, aufgenommen worden. Eichinger 14 interpretiert die medizinische Behandlung von Amputationssüchtigen als »Extreme wunscherfüllender Medizin«. Hier ist die normative Regulierung des Einsatzes von medizinischem Wissen und Können, insbesondere von Chirurgie, nicht durch Indikationen untermauert, wäre aber nach Meinung von Eichinger dennoch keineswegs willkürlich, sondern könnte sich an Bewertungsgründen der »Leidensfreiheit, Integrität und Authentizität« 15 normativ orientieren. (A4) Hier geht es um charakteristische soziale Rollenverschiebungen: Wunscherfüllende Medizin behandelt ihre Abnehmer nicht als Patienten in der Erkranktenrolle, sondern als Kunden in der Rolle von Klienten oder Konsumenten. Sehr deutlich zu beobachten sind diese Verschiebungen im Feld der »Schönheitschirurgie« und verwandter körperästhetischer medizinischer Dienstleistungen. Zwar existiert bereits eine (kleine) medizinethisch-normative und (größere) feministisch-theoretische Literatur zu Fragen, für wie authentisch, wie selbstbestimmt, wie anerkennungswürdig die Wünsche von KlientInnen der Schönheitsmedizin zu halten sind. 16 Noch weitgehend im Dunkeln liegt hingegen die Bedeutung solcher Rollenverschiebungen für die ärztliche Profession und die Ethosrationalität bzw. Professionsethik ihrer Mitglieder. Die wenigen bisher vorliegenden, tiefenhermeneutisch auswertbaren Interviews mit Schönheitschirurgen enthalten Hinweise auf ein erstaunliches Phänomen, dessen Verbreitung und Tragweite weiter erforscht werden muss: Mehr als ihre kurativ tätigen Kolleginnen und Kollegen Vgl. Tobias Eichinger: »Behandlungsziel Verstümmelung. Zur normativen Funktion der Leidensminderung am Beispiel extremer wunscherfüllender Medizin«, in: Giovanni Maio/Claudio Bozzaro/Tobias Eichinger (Hg.), Leid und Schmerz. Konzeptionelle Annäherungen und medizinethische Implikationen, Freiburg 2015, S. 267– 287, hier S. 269 f. 15 Eichinger: »Behandlungsziel Verstümmelung«, a. a. O., S. 283. 16 Vgl. Kathy Davis: Reshaping the Female Body: The Dilemma of Cosmetic Surgery, London 2013; Jane Northrop/Jane Megan Northrop: Reflecting on Cosmetic Surgery: Body Image, Shame and Narcissism, London 2013; Cressida Heyes/Meredith Jones (Hg.): Feminist Primer on Cosmetic Surgery, London 2012; Christa Rohde-Dachser: »Im Dienste der Schönheit: Schönheit und Schönheitschirurgie unter psychoanalytischer Perspektive«, in: Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin, a. a. O., S. 209–228. 14
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
innerhalb einer weitgehend standardisierten organisierten Krankenbehandlung sind ästhetisch-plastisch tätige Ärzte und Ärztinnen anscheinend beruflich eher zufrieden. Gerade sie erleben und realisieren anscheinend mehr von jener vertrauensvollen und individualisierten Arzt-Patient-Beziehung, die gerne (noch) als ein allgemein erfülltes Standesideal der Ärzteschaft hochgehalten wird. Gute Aussichten auf job enrichment scheinen auf der Seite der wunscherfüllenden Medizin zu liegen, die Drohung von Berufsunzufriedenheit bis hin zum Burnout eher auf der kurativen Seite. Interessant wäre auch die hermeneutische Rekonstruktion typischer Selbst- und Fremdbilder einerseits von SchönheitschirurgInnen, als den exemplarischen Repräsentanten wunscherfüllender Medizin, sowie andererseits von solchen kurativ tätigen Ärzten und Ärztinnen, die Schönheitschirurgie ablehnen. 17 Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht hat 2008 ihren 12. Einbecker Workshop unter dem Titel »Die Verbesserung des Menschen – Tatsächliche und rechtliche Aspekte der wunscherfüllenden Medizin« durchgeführt. Als Tagungsergebnis hat sie Empfehlungen verabschiedet, 18 in denen wunscherfüllende Medizin folgendermaßen definiert wird: Wunscherfüllende Medizin bezeichnet jede Art von nicht medizinisch indizierten Eingriffen in den menschlichen Organismus mit dem Ziel der Verbesserung, Veränderung oder Erhaltung von Form, Funktion, kognitiven Fähigkeiten oder emotionalen Befindlichkeiten (sog. Enhancement), die unter ärztlicher Verantwortung durchgeführt werden. Dazu zählen insbesondere operative, pharmakologische, biotechnische (z. B. neurobionische) und gentechnische Maßnahmen. Dabei kommen häufig Substanzen und Verfahren zum Einsatz, die ursprünglich zur Behandlung und Prävention von Krankheiten entwickelt wurden. 19
Die acht Punkte der Empfehlung sprechen Gesichtspunkte u. a. der Haftung, der Eigenverantwortung und die Bindung bestimmter Leistungen (z. B. irreversible Leistungen der ästhetischen Chirurgie) an Erstaunlicherweise gibt es noch keine Fallstudie zum Schicksal der Kampagne »Gemeinsam gegen Schönheitswahn«, die von der Bundesärztekammer 2004 ins Leben gerufen wurde. Zur Kampagne siehe hhttp://www.bundesaerztekammer.de/page.asp? his=0.1.17.3676.3816.7162i (letzter Zugriff 23. 01. 2018). 18 Vgl. DGMR: Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin, 2008 hhttp://www.egms.de/static/de/journals/awmf/2008–5/ awmf000169.shtmli (letzter Zugriff 23. 01. 2018). 19 Ebd. 17
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Mindestaltersgrenzen, der Qualifikationskontrolle durch Zertifizierung, der Arztbindung wunscherfüllender Medizin und ihrer Subsumption unter Normen der ärztlichen Berufsordnung an. Abgesehen von der unnötigen Engführung des Begriffs der wunscherfüllenden Medizin mit dem Begriff des Enhancements verdienen zwei Punkte Interesse: Die DGMR empfiehlt, (1) die Leistungserbringung wunscherfüllender Medizin vertraglich als Dienstvertrag und somit die Leistung als Dienstleistung zu normieren. In Abgrenzung zum Werkvertrag schuldet der Dienstverpflichtete eine Leistung (Bemühung), aber keinen Erfolg. Zudem (2) unterstreicht sie die erhöhten Anforderungen an die informierte Einwilligung: »Für Maßnahmen der wunscherfüllenden Medizin bestehen besonders umfassende Aufklärungspflichten über deren Risiken und Nebenwirkungen. Zudem muss über mögliche rechtliche, psychosoziale und wirtschaftliche Folgen informiert werden, zu denen auch die Kosten der Behandlung etwaiger Komplikationen der durchgeführten Eingriffe gehören.« 20 Diese Empfehlungen belegen m. E. einige Implikationen, die wir auch ohne Seitenblick auf den Rechtsdiskurs bereits aus unserem kulturtheoretischen Verständnis des Trends zur wunscherfüllenden Medizin ableiten können: Wunscherfüllende Medizin, verstanden als Assistenz zum besseren Leben, verlangt als solche erhebliche Umstellungen der ärztlichen Informations- und Beratungskunst, sozusagen eine Modernisierung des informed consent. Und sie verlangt auch komplexere Formen der Qualitätssicherung, im ambulanten Bereich ebenso wie in Kliniken. (A5) Patienten als solche genießen in Gesundheitssystemen wie dem deutschen ein sozialstaatlich abgesichertes Recht auf Bereitstellung einer hinreichend guten medizinischen Behandlung. Die Erfüllung dieses Rechts ist gewissermaßen ein sozialstaatlicher therapeutischer Imperativ: Wer krank ist, soll medizinisch versorgt werden können. Hingegen fragen Kunden (d. h. Klienten oder Konsumenten) bei Anbietern (»Providern«) Güter und Dienstleistung nach. Sie üben im Unterschied zu Patienten ein normativ ganz anders gelagertes Recht aus, ein Recht auf Wahlfreiheit zwischen Optionen, und geben in Form von Kaufentscheidungen ihren Neigungen und Wünschen Ausdruck. Dabei genießen sie Verbraucherschutzrechte. Öffentliche, aber auch medizinethische Debatten in Deutschland 20
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polarisieren sich oft um die allzu einfache Problemformel vom »Patienten als Kunden«. 21 Eine systematische Untersuchung einschlägiger Kontroversen um diese teils affirmativ, teils kritisch gebrauchte Formel hätte zu entwirren, wo Kritik an unerwünschten Aspekten der Privatisierung und Kommerzialisierung von kurativer Medizin (Schlagwort »Klinikprivatisierung«) 22 sich vermischt mit Kritik an der sozialen Figur des »aufgeklärten Konsumenten« von nicht kurativer, wunscherfüllender Medizin. Ein heute nicht nur spektakuläres, sondern auch für die kulturreflexive Medizinethik interessantes Feld sind z. B. die Angebote zur wunschmedizinischen Gestaltung der körperlichen Intimzonen. 23 Solche Leistungen werden in einer normativen Form angeboten, die inzwischen zu einem betriebswirtschaftlich bedeutsamen Komplex wunscherfüllender Medizin aufgestiegen ist, die sogenannten individualvertraglichen Gesundheitsleistungen (IGeL). 24 Während die Anbieter manche dieser Leistungen als sinnvolle, aber leider von den Kassen vorenthaltene Beiträge zu Heilbehandlungen anpreisen, also kurativ begründen (z. B. Akupunktur zur Migräneprophylaxe), bewegt sich ein Großteil der Angebote klar außerhalb des Therapieparadigmas (z. B. Sport-Checks, Atteste und Gutachten), selbst wo Völlig ernst meinen es mit dieser Formel die Propagandisten des Wandels des Gesundheitswesens in »Gesundheitswirtschaft«, siehe z. B. Markus Obermüller: Kundenorientierte Arztpraxis: Vom Patienten zum Kunden, Saarbrücken 2007. Ambivalent kommentiert Egbert Maichbach-Nagel als Chefredakteur des Deutschen Ärzteblattes empirische Studien, die belegen, dass sich die Vorstellungen, die sich viele Heilberufler von der Zukunft der Heilberufe machen, immer weiter von der Klarheit jener Gesinnung wegbewegen, die der ehemalige Bundesärztekammerpräsident Jörg Dietrich Hoppe einmal so auf den Punkt brachte: »Ärzte sind keine Kaufleute und Patienten keine Kunden« (Egbert Maichbach-Nagel: »Trendforschung: Patient oder Kunde«, Deutsches Ärzteblatt 112 (2015), S. 29 f.). 22 Ansätze dazu in Matthias Kettner: »Kann Ökonomisierung gut und muss Kommerzialisierung schlecht sein?«, in: Friedrich Heubel/Matthias Kettner/Arne Manzeschke (Hg.), Die Privatisierung von Krankenhäusern. Ethische Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 117–132, sowie Matthias Kettner/Thomas Loer: »Moralische Ökonomisierungsprozesse im Krankenhaus«, Jahrbuch für Ethik in der Klinik, JEK 4 (2011), S. 17–40. 23 Zu wunschmedizinischen Maßnahmen wie Penisvergrößerungen, Vagina-Design, Hymenrekonstruktion, Intimpiercings, siehe die Beiträge in Ada Borkenhagen/Elmar Brähler (Hg.): Intimmodifikationen. Spielarten und ihre psychosozialen Bedeutungen, Gießen 2010. 24 Siehe den im Licht von Evidenzbasierung um Bewertung bemühten »IGeL-Monitor« des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen hhttps://www.mds-ev.de/fuer-patienten/igel-monitor.htmli (letzter Zugriff 23. 01. 2018). 21
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noch dessen Semantik bemüht wird, um die betreffende Leistung zu rationalisieren (z. B. Bach-Blütentherapie). In dem Maße, wie der ökonomische Stellenwert von individualvertraglichen Gesundheitsleistungen anwächst – neben der ästhetischen Chirurgie ist das offenbar sehr ausgeprägt in der Zahnmedizin der Fall, jedenfalls in Deutschland 25 –, gerät das überkommene professionelle Selbstverständnis, das Ärzte von ethischen Standards des »guten Arztes« und der »guten Praxis« haben, unter Druck. Auch hier wären im Rahmen einer ausgearbeiteten Theorie wunscherfüllender Medizin Klärungen und Begründung von Beurteilungsstandards dringend, um den Spielraum rational abzustecken, in welchem das absehbare weitere Anschwellen des IGeL-Komplexes noch innerhalb des medizinischen Grundverständnisses normativ untergebracht werden könnte, darüber hinaus jedoch dieses nicht nur verändert, sondern korrumpiert. (A6) Die traditionelle Arztrolle stellt die Kontrolle des angebotenen medizinischen Wissens und Könnens in die Verantwortung des Arztes. Im Unterschied zu dieser professionellen Autonomie gestaltet sich das Angebot in der wunscherfüllenden Medizin letztlich durch die Nachfrage der Kunden (Klienten, Konsumenten). Wo immer die Erzeugung und Steuerung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen wunscherfüllender Medizin auf unternehmerische Akteure der Gesundheitswirtschaft zurückgeht (man denke nur z. B. an die vielen medial inszenierten »Mangelerscheinungen« wie Eisen-, Kalzium-, Selenmangel usw. oder an – existenziell viel bedeutsamere – medial inszenierte »Makelerscheinungen« wie Falten, DünnlippigZahnärzte werden häufig mit dem Wunsch ihrer Patienten nach ästhetischen oder kosmetischen Behandlungsmaßnahmen konfrontiert, und viele Therapieformen der Zahnmedizin beinhalten ästhetische Aspekte. »Wenn für eine gewünschte zahnärztliche Maßnahme die Indikation nicht gestellt wird, ist weiter zu prüfen, ob sie im Rahmen der gesetzlich regulierten Professionsgrenzen zulässig ist. Alle Eingriffe, die darüber hinausgehen, liegen außerhalb der zahnärztlichen Profession und werden als bloße kosmetische Dienstleistung erbracht. Dies kann zu einer Erosion der normativen Grundlagen und zu einer Deprofessionalisierung der Zahnheilkunde führen.« (Gerald Neitzke/Bernd Oppermann: »Wunscherfüllende Zahnmedizin: die Indikation als Grundlage zahnärztlichen Handelns«, Ethik in der Medizin 29/1 (2017), S. 41–52, hier S. 41) Ähnliche moralische Bedenken gegen die Konsequenzen wunscherfüllender Medizin, nämlich eine Verschiebung der Ethosrationalität der Behandelnden weg von einer ärztlichen Professionsethik hin zu einer Dienstleisterethik sieht auch Dominik Groß: der »Zahnarzt als Dienstleister und Gewerbetreibender« (Dominik Groß: Ethik in der Zahnmedizin. Ein praxisorientiertes Lehrbuch mit 20 kommentierten klinischen Fällen, Berlin 2012, hier S. 172).
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keit, Schmalbrüstigkeit, Fülligkeit usw.), folgt sie denselben Strategien der Bildung von Erwartungen und Wünschen, die als Strategien des Marketings von Konsumgütern in allen möglichen Branchen entwickelt und beforscht werden. In ihren Strategien der Erzeugung und Steuerung der Nachfrage nach wunscherfüllender Medizin verwächst die Kultur der Medizin mit der übrigen Konsumkultur auf eine Weise, die wir in Zukunft besser begreifen müssen und die mit dem – schon phrasenhaft gewordenen – Allgemeinplatz von der »Ökonomisierung der Medizin« nur erst unbestimmt erfasst ist. 26 Zu solchen gleichsam »äußeren« Deregulierungsphänomenen treten aber auch »innere«, die sich für die Zukunft der Kultur der Medizin vielleicht als noch bedeutsamer erweisen werden. Hier ist z. B. an die Dynamik von Diagnose-Moden (z. B. ADS, ADHS) zu denken. Zwar geht es hier vordergründig um Krankheitsdiagnosen und insofern um kurative Medizin. Aber in einem sozialpsychologisch erweiterten Rahmen der Betrachtung könnte sich ein Anteil wunscherfüllender Medizin darin zeigen, wie bestimmte konflikthafte Wünsche (z. B. Kontrollwünsche in der familiären und schulischen Erziehungspraxis) die Dynamik von Diagnose-Moden antreiben. Vielleicht wäre hier ein Begriff von wunscherfüllender Medizin zweiter Ordnung zu bilden. Denn maßgeblich sind hier nicht, oder weniger, die Wünsche der direkt Betroffenen, sondern die Wünsche Dritter mit Bezug auf diese bzw. deren Verhalten. Innere Deregulierungsphänomene des Therapieparadigmas der kurativen Medizin kann man auch am Kommen und Gehen vieler Modediagnosen untersuchen. Modediagnosen haben dann ein Moment von wunscherfüllender Medizin an sich, wenn die Vergabe der Diagnose nicht in einer ärztlich anzuerkennenden Behandlungsbedürftigkeit (Indikation) gründet, sondern in einer Kollusion der Ärzte mit Wünschen ihrer Patienten, die entsprechende Diagnose zu erhalten. Modekrankheiten entstehen nicht schon dadurch, dass Ärzte sie häufig stellen: Erst wenn auch auffallend viele Patienten plötzlich vermuten, an einer bestimmten Krankheit zu leiden, sich sogar regelrecht mit ihr identifizieren, ist die Modekrankheit geboren. Oft gibt es für die Diagnose dieser ErkranFür Versuche, mehr Differenzierung in die Rede von »Ökonomisierung« zu bringen, siehe die Beiträge in Matthias Kettner/Peter Koslowski (Hg.): Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Wirtschaftsphilosophische Unterscheidungen, München 2011.
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Matthias Kettner
kungen noch keine einheitlichen Kriterien oder einen weiten Spielraum. So ist es beim Burn-out, aber auch bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, deren Anzeichen Ärzte sehr unterschiedlich auslegen. 27
(A7) Auch die Ergänzung von »Schulmedizin« durch »Alternativoder Komplementärmedizin« hat Überschneidungen mit dem Trend zur wunscherfüllenden Medizin. In der wachsenden Popularität von Alternativ- oder Komplementärmedizin meldet sich ein Misstrauen vieler Menschen gegenüber dem als blind und arrogant empfundenen Zutrauen der auf Naturwissenschaft und industriell organisierte Krankenbehandlung setzenden Schulmedizin, die oft nicht liefert, was sich viele Patienten als »wirklich gute« medizinische Behandlung subjektiv wünschen. Wollte man die Grundlagen dieses Misstrauens und die Wünsche, die ihm entspringen, tiefer erforschen, dürfte die Konkurrenz der Krankenkassen nicht ausgespart werden. Denn hier darf ein Druck vermutet werden, möglichst attraktive Leistungsangebote jenseits der medizinischen Indikationen zu identifizieren und anzubieten, um sich im Wettbewerb um Mitglieder zu profilieren, doch ohne die sozialrechtliche Geschäftsgrundlage der Versicherer, ihren Auftrag der Vermittlung von Leistungen der Krankenbehandlung, zu kompromittieren. Ein zweites Problem in diesem Zusammenhang ist der Abbau medizinischer Expertokratie zugunsten von Laienpartizipation. 28 M. E. nicht unplausibel ist die Hypothese, dass wunscherfüllende Medizin hierdurch zusätzlich Aufwind erhält. Noch ist die Gesundheitspolitik in Deutschland überwiegend durch Experten geprägt. Fachleute definieren die wichtigsten zukünftigen Inhalte der Gesundheitsversorgung sowie das, was als das medizinisch Notwendige gilt. Es könnte aber sein, dass die Maxime »Wettbewerb über Leistung statt über den Preis«, etwa im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz,
27 »Ich hab das auch«, Pharmazeutische Zeitung Online 11.2015 hhttps://www. pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=56872i (letzter Zugriff 23. 01. 2018). Siehe die Dokumentation einer Diskussion des Deutschen Ethikrats über »Alte Probleme – Neue Krankheiten. Überflüssige Medikalisierung oder notwendige Therapie?«, die im Februar 2015 stattfand hhttp://www.ethikrat.org/veranstaltungen/ forum-bio ethik/alte-probleme-neue-krankheiteni (letzter Zugriff 23. 01. 2018). 28 Vgl. Tanja Krones: »Patientenwünsche versus Indikation? Überlegungen zum ›Shared Decision Making‹ auf allen Ebenen des Gesundheitssystems«, in: Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin, a. a. O., S. 137–151.
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
zusammen mit wachsenden Mitsprachemöglichkeiten von Patientenvertretern, Selbsthilfegruppen, Versichertenvertretern, allmählich die Palette von Angeboten medizinischen Wissens und Könnens, die für Versicherte attraktiv, aber nicht medizinisch notwendig sind, enorm erweitern wird, und zwar unter Beteiligung von Bürgern als medizinischen Klienten, Konsumenten und Kunden. Komplementärmedizin wird zumeist in kurativer Absicht angewendet, ihre objektive kurative Wirkmächtigkeit wird jedoch im etablierten medizinischen Grundverständnis infrage gestellt, allerdings kann man ihre subjektiv erlebte Wirksamkeit kaum noch ernsthaft bezweifeln. Kommt in dem verbreiteten Wunsch nach einer anderen (»alternativen« bzw. »komplementären«) kurativen Medizin vielleicht noch ein anderer Wunsch zum Ausdruck, nämlich der im Rahmen wunscherfüllender Medizin zu deutende Wunsch nach einer therapeutischen Interaktionsweise, die den Patienten kommunikativ als ganze Person anspricht und achtsam wie einen hochsensiblen Klienten behandelt? Vielleicht entsteht gerade unter dem Stichwort der »integrativen« Medizin eine neue kurative Medizin mit wunschmedizinischem Goldrand? 29 (A8) Während die herkömmliche Medizin erklären will, warum man krank wird (Pathogenese), interessiert sich die wunscherfüllende Medizin weit mehr dafür, wie GESUNDHEIT entsteht und aufrechterhalten werden kann. Besonders wichtig, wenn auch in Gefahr, unüberprüft zur modischen Floskel zu geraten, ist hier die (auf Aaron Antonovsky zurückgehende) Idee der »Salutogenese«. Das salutogenetische Denken gehörte zwar bei Antonovsky noch zum Therapieparadigma der kurativen Medizin, hat inzwischen aber auf dem Wege semantischer Umdeutungen teils in »Wellness«, teils in »gesund leben« eine wunschmedizinische Färbung angenommen und weite Teile der Bevölkerung in reichen Ländern wie Deutschland erreicht. Immer mehr Menschen genügt es nicht länger, nicht krank zu sein, sie kommen auf den Geschmack von steigerbarem Wohlbefinden, steuerbarer Arbeits- und Genussfähigkeit und den endlosen Möglichkeiten von medizinisch unterlegter – und deshalb unter Kon-
»Integrative Medizin ist die Praxis der Medizin, die die Bedeutung der Beziehung zwischen Arzt und Patienten betont, sich auf die ganze Person fokussiert, auf Evidenz stützt und alle relevanten therapeutischen Möglichkeiten, Gesundheitsberufe und -disziplinen nutzt, um optimale Gesundheit und Heilung zu erreichen«, Universität Witten/Herdecke, Institut für Integrative Medizin (IfIM).
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kurrenzbedingungen besser vermarktbarer – Wellness. Für die, die daran noch keinen Gefallen finden, arbeiten unzählige Lifestyle-Medienkommunikationen in der Werbung, Serien-Narrative und modische Vorbilder daran, sie auf den Geschmack zu bringen. Die kommerzielle Bedeutung dieses Teils der Gesundheitswirtschaft wächst von Jahr zu Jahr. Eine zweite Linie der semantischen Umdeutung führt vom salutogenetischen Denken weiter weg zu vielfältigen Praktiken der VitalOptimierung. Die Pharmaindustrie hat in den letzten Jahren mit Wachstumsraten von jährlich 10 Prozent und einem geschätzten Weltmarktvolumen von 40 Mrd. US-Dollar gut verdient, und wunschmedizinische Präparate – Stimmungsaufheller und Potenzmittel sind nur die Spitze – haben daran einen nicht unbedeutenden Anteil. Zudem: Wie groß – in Deutschland – der Schwarzmarkt für eigentlich verschreibungspflichtige missbrauchte Medikamente ist, lässt sich schwer abschätzen. Wie man aus seriösen, allerdings in der Grauzone eines kulturell banalisierten Dopings naturgemäß schwierigen Erhebungen hört, sind etwa die sogenannten Neuro-Enhancer bzw. »Hirn-Dopingmittel«, z. B. Ritalin, als beliebte Konzentrationshilfen vor Prüfungen bereits unter Schülern und allemal unter Studenten ein Selbstläufer.
4.
Grenzen des Begriffs der wunscherfüllenden Medizin
Der Begriff der wunscherfüllenden Medizin, das besagt schon sein Wortsinn, setzt bei der Perspektive von Personen an, die Medizin für sich nutzen und nachfragen. Dass diese Begriffsbildung dazu neige, »die unterschwellig als fragwürdig angesehenen Wünsche der Konsumenten […] als den entscheidenden Faktor für die Erosion der kurativen Medizin zu privilegieren und dabei andere Einflüsse und gesellschaftliche Kontexte auszublenden«, wie Wehling und Viehöver kritisieren, 30 kann ich nicht erkennen. Die beiden Soziologen operieren mit dem Begriff einer »Entgrenzung der Medizin« und meinen damit einen Wandel des medizinischen Feldes, der eng damit verPeter Wehling/Willy Viehöver: »Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?«, in: dies., Entgrenzung der Medizin: Transformation des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive, Bielefeld 2011, S. 7–50, hier S. 27.
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
knüpft ist, »dass die Grenzen medizinischen Handelns sowie des medizinischen Gegenstands- und Zuständigkeitsbereichs unscharf werden und uneindeutig werden oder sich sogar ganz auflösen« 31. Entgrenzung zeige sich in Form der Ausweitung medizinischer Diagnosen, in der von Krankheit unabhängig werdenden Verbreitung medizinischer Techniken, in der Entzeitlichung von Krankheit und in der direkten Optimierung des menschlichen Körpers. Mir erscheint der Entgrenzungsbegriff interessant, aber nicht besser, sondern nur anders als der Begriff der wunscherfüllenden Medizin zu sein. Der Entgrenzungsbegriff setzt nicht bei der Perspektive von Personen an, sondern beim medizinischen Feld als solchem und sieht »in expansiven Tendenzen der Medizin selbst die wesentliche Ursache für die gegenwärtig zu beobachtenden Transformationsprozesse« 32. Die Autoren beziehen sich, anders »als die Rede von der wunscherfüllenden Medizin« 33, zur Erklärung auf ein Konzept von »Medikalisierung«. Mir scheint: Welche Stärken und Schwächen jedes der drei genannten Konzepte hat, kann man immer nur relativ zu bestimmten Erkenntnisinteressen vergleichen. Einig bin ich mit Wehling und Viehöver darin, dass Phänomene zunächst beschrieben werden müssen und dann erst bewertet werden können. Der Begriff der wunscherfüllenden Medizin als solcher enthält keine skeptische Abwertung individueller Wünsche, sondern öffnet allererst den evaluativen und normativen Diskurs über Sinn und Unsinn, Wert und Unwert, Begrenzungswürdigkeit oder Zulässigkeit von entsprechenden Wünschen. Festhalten möchte ich hier noch einmal, dass wunscherfüllende Medizin sich weder auf Enhancement noch auf Dienstleistungsmedizin reduziert, obwohl ihr Begriff beide als Momente enthält. Dieser Reduktionstendenz verfällt m. E. Giovanni Maio, der in seinem Lehrbuch der Medizinethik der Wunschmedizin ein Kapitel widmet. 34 Giovanni Maio beobachtet eine Entwicklungstendenz der Medizin »hin zu einem Dienstleistungssektor«, 35 der mit medizinischen Angeboten »potenzielle ›Konsumenten‹« mit »wunscherfüllenden Dienstleistungen« umwirbt. Maio handelt wunscherfüllende Medizin Ebd., S. 9. Ebd., S. 27. 33 Ebd. 34 Vgl. Giovanni Maio: Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2012. 35 Ebd., S. 322. 31 32
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zusammen mit Enhancement ab,36 weil er beides als bloß terminologische Varianten der Optimierungsanstrengung von Leistungen und Qualitäten des Menschen bzw. am Menschen begreift. Deutlicher formuliert, meint Maio, »das wahre Ziel« jeglichen Enhancements und so auch der wunscherfüllenden Medizin sei »die Einsparung von Zeit, die Vermeidung von Aufwand, die Erreichung eines jedweden Ziels mittels einer Abkürzung« 37. Außer Allgemeinplätzen (»schneller und direkter ist nicht immer besser«, »Enhancement ist nicht immer ein Mittel zum Glück« 38) führt Maio als allgemeine Bedenken gegen solche Anstrengungen an, dass ein Denken in Begriffen der Optimierung menschlicher Leistungen und Qualitäten unter Umständen den wertvollen Spielraum der Selbstbestimmung der betreffenden Person verengt und vielleicht sogar eine entfremdende, die Authentizität der Person schwächende Distanz zwischen der Person und ihren eigenen Leistungsaktivitäten schafft. 39 Speziell dagegen, medizinisches Wissen und Können für die Erfüllung von Wünschen nach Verschönerung der eigenen körperlichen Erscheinung in Dienst zu nehmen, wendet Maio ein, ästhetische Medizin laufe Gefahr, »nicht Schönheit, sondern Uniformität zu generieren« 40. Außerdem kritisiert er eine gewisse Ausbeutungshaltung: »Schönheit als Äußerlichkeit ist mittlerweile zur Ware geworden, und die ästhetische Medizin nutzt diese gesellschaftliche Entwicklung zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil aus. Dabei bedenkt sie nicht, dass sie à la longue nur verlieren kann, wenn sie nicht sorgsam mit ihren Versprechen und mit ihrer Wunscherfüllung umgeht.« 41 Maios Fazit: »Die Enhancement-Orientierung in der Medizin wirft die Frage nach der Authentizität von Kundenwünschen auf und es muss hinterfragt werden, ob die Hochschätzung des Effizienzgedankens dem Menschen tatsächlich gerecht wird, insofern diese Ausrichtung den Wert der Umwege und den Wert des Gegebenen ignoriert.« 42 Gewiss könnte man in die von Maio ja nur angedeutete normative Debatte über Authentizität und kapitalistischen Perfektionismus eintreten. Als Prinzipiendebatte hat
36 37 38 39 40 41 42
Ebd., S. 322–334: Kapitel 22: »Enhancement und wunscherfüllende Medizin«. Ebd., S. 330. Ebd., S. 326 f. Vgl. ebd., S. 330 f. Ebd. Ebd. Ebd., S. 333.
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Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin
sie aber wenig Reiz. Interessanter wären wohl konkrete Fallstudien zu einzelnen Praktiken von Enhancement-Dienstleistungen. Zum Abschluss möchte ich noch einmal klarstellen, warum wunscherfüllende Medizin nicht in Enhancement aufgeht. »The term enhancement is usually used in bioethics to characterize interventions designed to improve human form or functioning beyond what is necessary to sustain or restore good health.« 43 Da wunscherfüllende Medizin auch Spielraum für Disenhancement-Wünsche enthält (z. B. für Amputationswünsche von Gesunden) sowie für Vitaloptimierungswünsche jenseits der Treatment versus Enhancement-Unterscheidung (z. B. für den Wunsch, den Geburtszeitpunkt per Kaiserschnitt zu wählen), ist ihr Begriff umfassender als der Begriff medizinischen Enhancements und nicht auf Letzteren reduzierbar.
43 Eric T. Juengst: Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington, DC 1998.
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Instrument oder Profession? Zur ethischen Dimension einer Wesensbestimmung der Medizin Tobias Eichinger
Abstract: Durch zunehmend angebotene und nachgefragte Möglichkeiten, mit medizinischen Mitteln und Interventionen nicht nur Krankheiten und Kranke zu behandeln, sondern auch normale Fähigkeiten, Eigenschaften und Leistungen von Gesunden auf Wunsch zu beeinflussen und zu verbessern, sieht sich die Medizin auf theoretischer und ethischer Ebene mit Grundsatzfragen konfrontiert. Wie kann die ärztliche Tätigkeit an sich verstanden und konzipiert werden? Ist Medizin ein normativ unbestimmtes Mittel, ein bloßes Instrument zur Erreichung beliebiger Zwecke, oder handelt es sich um eine moralische Profession mit eigenen ethischen Prinzipien und genuinen Zielen, die an sie herangetragenen Begehrlichkeiten Grenzen setzen können? Und wie kann eine derartige Bestimmung des Wesens der Medizin plausibel erfolgen? Wie sich zeigt, ist ein gewisses Set eigener Ziele für die ärztliche Tätigkeit unabdingbar, soll ihr normativer Kern aufrechterhalten werden, um den darauf angewiesenen Menschen in Notlagen und Abhängigkeit vertrauensvolle und fürsorgliche Hilfe leisten zu können.
1.
Ausweitung und Grundsatzstreit
Wer sich für grundsätzliche theoretische Fragen in der Medizin und an die Medizin interessiert, für den konnte in den letzten Jahren ein Thema bzw. ein Themenfeld nicht unbemerkt bleiben. Dieses Themenfeld umfasst Fragen des sogenannten Enhancements und Fragen zu einem Phänomen, das als wunscherfüllende Medizin Anlass zu Diskussionen gibt. Was kurz und bündig als »Medizin für Gesunde« bezeichnet werden kann, sorgt für teils heftige, teils widersprüchliche Reaktionen: Für die einen handelt es sich um die Entwertung eines altehrwürdigen Berufsstandes und einen Verrat am ärztlichen Ethos, die anderen sehen darin hingegen eine überfällige und zeitgemäße Inanspruchnahme von Technologie und Fachkompetenz. Diese De42 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Instrument oder Profession?
batte, die nicht nur Medizintheorie und Medizingeschichte, sondern nicht zuletzt auch die Medizinethik auf den Plan gerufen hat, dreht sich um Phänomene einer Ausweitung des medizinischen Feldes, einer Expansion des ärztlichen Tätigkeitsbereiches über seine traditionellen Grenzen hinaus. Es geht um Anfragen an die Medizin und um Angebote der Medizin, nicht mehr nur Zustände zu behandeln, denen Krankheitswert zukommt, sondern sich auch der Beeinflussung und Veränderung von Eigenschaften zu widmen, die zwar durchaus als gesund und normal gelten können, die aber vielleicht nicht ganz perfekt sind – und zumindest aber immer noch besser sein könnten. Es geht um medizinische Maßnahmen zur Optimierung des menschlichen Körpers und Geistes und damit um Leistungen, die mit den klassischen ärztlich-therapeutischen Zielsetzungen nur wenig bis gar nichts zu tun haben. Medizinische Dienstleistung auf Wunsch also statt therapeutischer Behandlung nach Indikation. Angefangen bei Selbstdoping im Freizeitsport, kleineren kosmetischen Korrekturen der Haut oder der Einnahme von Stimmungsaufhellern über die pharmakologische Vermeidung oder labortechnische Herbeiführung einer Schwangerschaft bis hin zum Verformen oder gar Entfernen gesunder und funktionierender Körperteile, zum Eingriff in die genetische Ausstattung oder auch zur Manipulation des Alterungsprozesses – an zahlreichen Beispielen aus der jüngeren und jüngsten Medizingeschichte zeigt sich eine Entwicklung, die als Entgrenzungsbewegung bezeichnet werden kann. Die Ausweitung und Entgrenzung des medizinischen Feldes ist ein Prozess, an dem sich Streit entzündet, so wie das auch bei anderen Dynamiken der Entgrenzung zu beobachten ist. Dies gilt vor allem, wenn die betreffenden Grenzen und Grenzziehungen sehr lange bestanden haben. Bezeichnenderweise handelt es sich im Fall der Medizin um Auseinandersetzungen, die sich nicht auf einzelne Phänomene dieses Expansionsprozesses beschränken, sondern die aufs Ganze gehen. An der Entgrenzung des medizinischen Feldes entzünden sich regelmäßig Grundsatzstreitigkeiten. Diese Grundsatzstreitigkeiten betreffen Vorstellungen davon, was Medizin als solche ist, was sie ausmacht, wo ihr Kern und ihre Grenzen liegen und liegen sollten. Und nicht zuletzt steht hierbei auch die elementare Frage im Raum, ob eine solche Wesensbestimmung der Medizin überhaupt sinnvoll und möglich ist.
43 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Tobias Eichinger
2.
Therapeutisches Paradigma
Doch bevor man diesen Schritt macht und die medizintheoretisch weitreichende These in Erwägung zieht, der zufolge eine kohärente Wesensbestimmung von Medizin weder möglich noch nötig ist, ist es naheliegend und hilfreich, die Ausgangslage des Problems näher zu beleuchten. Wenn man von Entgrenzung oder Ausweitung spricht, bezieht man sich auf bisher Bestehendes, auf bisher Begrenztes und Definiertes. Man setzt also Grenzen voraus. Und so verläuft auch üblicherweise die Diskussion um Enhancement und wunscherfüllende Medizin entlang der Kontrastfolie eines oft als klassisch oder traditionell bezeichneten Konzeptes von Medizin, das dieses zuallererst als »kurative Medizin« bestimmt. Dieses Konzept ist ideell einer Praxis verpflichtet, welche als obersten Zweck ihrer Tätigkeit die Hilfe für Menschen in Not setzt. Den konzeptuellen Kern dieser Bestimmung von Medizin bildet der Begriff der Krankheit. Ohne die facettenreiche Geschichte der Medizin zu stark zu simplifizieren, kann man diese Zielsetzung der Krankheitsbehandlung als den übergeordneten Orientierungspunkt der klassischen Auffassung anführen. So spricht etwa Paul Unschuld davon, dass der Zweck der Medizin »seit mehr als zwei Jahrtausenden darin [besteht], den jeweils zeitgemäßen Stand der Naturwissenschaft zu nutzen, um das Wesen von Krankheiten zu erkennen und auf der Grundlage dieses Wissens Kranksein vorzubeugen, zu lindern oder im Idealfall zu heilen« 1. Diese Bestimmung, die sich ganz auf Krankheiten, auf das Wissen über und den Umgang mit Krankheiten als den für die Medizin entscheidenden Entitäten bezieht, ist beinahe deckungsgleich mit einer anderen, recht breit publizierten und viel zitierten Definition. Das Hastings Center, eine der renommiertesten und ältesten Forschungseinrichtungen der Bioethik, hat Mitte der Neunziger Jahre in einem großen internationalen Projekt eine Formulierung der zentralen Zielsetzungen der Medizin erarbeitet, die in der Folge auf große Resonanz und breite Zustimmung gestoßen ist. Es sind vier Ziele, die hier aufgeführt werden, und diese Ziele werden im Wesentlichen von einer motivischen Klammer zusammengehalten: diese Klammer ist der Krankheitsbegriff. Paul U. Unschuld: »Heilwissenschaft vs. Heilkunde: Über die Zukunft der ärztlichen Profession«, in: Matthias Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt a. M. 2009, S. 75–102, hier S. 75.
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So sehr es auch auf theoretischer oder philosophischer Ebene Schwierigkeiten bereiten mag, einen einheitlichen und praktikablen Krankheitsbegriff zu konzeptualisieren, und so sehr auch in der medizintheoretischen und bioethischen Diskussion angezweifelt wird, ob sich überhaupt trennscharf zwischen Krankheitsbehandlung und Gesundheitsoptimierung, zwischen Therapie und Enhancement unterscheiden lässt, so erfolgreich ist die Idee von Krankheit und ihrer Bekämpfung und Vermeidung doch in praktischen Anwendungskontexten der Medizin. Dirk Lanzerath bezeichnet den Krankheitsbegriff in diesem Sinne als diejenige »normative Größe, die ärztliches Handeln spezifiziert, legitimiert und limitiert« 2. Dies gilt zumindest für die klassische Auffassung, der zufolge Medizin vor allem anderen einen Hilfs- und Heilauftrag im Dienste kranker Menschen verfolgt und ihre Praxis im Rahmen eines Paradigmas vollzieht, das als das therapeutische Paradigma bezeichnet werden kann. 3 Durch Entwicklungen wie die wunscherfüllende Medizin und den Einsatz medizinischer Maßnahmen zum Zweck von Lifestyle und Enhancement scheint das klassische Konzept nun im Grundsatz herausgefordert. Für manchen ist die gegenwärtige Diskussion bereits der Beweis dafür, dass diese Auffassung an ihr Ende gekommen ist und als antiquierte und überkommene Vorstellung nicht mehr länger Gültigkeit beanspruchen kann. Andere versuchen, an der Unterscheidbarkeit von Gesundheit und Krankheit, von Therapie und Enhancement und damit an den Grundlagen des therapeutischen Paradigmas weiter festzuhalten oder diese doch zumindest einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um sie neu zu formulieren, jedenfalls sie nicht angesichts von IVF, body modification oder Anti-Aging sang- und klanglos zu verabschieden. Und so vermag das um den Krankheitsbegriff zentrierte therapeutische Paradigma durchaus einen aufschlussreichen Bezugspunkt abzugeben, um die genannte Ausweitungsbewegung besser verstehen und einordnen zu können.
Dirk Lanzerath: »Krankheit«, in: Wilhelm Korff/Lutwin Beck/Paul Mikat (Hg.), Lexikon der Bioethik, Gütersloh 2000, S. 478–485, hier S. 483. 3 Vgl. Tobias Eichinger: Jenseits der Therapie. Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin, Bielefeld 2013, S. 155–158. 2
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Tobias Eichinger
3.
Begründungsfiguren der Entgrenzung
Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Medizin um eine normative Praxis handelt, d. h. eine Praxis, die von hohem gesellschaftlichem Interesse ist, die dabei reguliert und normiert ist, die deswegen auch zu den sogenannten »Musterprofessionen« gezählt wird – was bedeutet, dass sie in einer exponierten und privilegierten Stellung unverzichtbare Dienste für die Gemeinschaft leistet und moralisch hochstehende Aufgaben von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung bewältigt 4 –, wenn man somit von einem besonderen ethischen Status der Medizin ausgeht, davon, dass sie in spezifischer Weise limitiert und legitimiert ist, dann sind Veränderungen ihres Tätigkeitsbereiches begründungsbedürftig. Dies trifft gerade auf Entgrenzungsbewegungen zu, in deren Folge die Medizin vom herkömmlichen Katalog ihrer Zielsetzungen abweicht oder diesen überschreitet. Vor dem Hintergrund des therapeutischen Paradigmas ergeben sich auf einer theoretischen Ebene hier nun prinzipiell zwei Möglichkeiten für die Begründung solcher Erweiterungen. Dies sind zum einen medikalisierende Begründungen und zum anderen pathologisierende Begründungen. Im Folgenden werden diese Begriffe hier zunächst in einem gewissermaßen abgespeckten Sinn verwendet, bezogen nur auf ihre begründungstheoretische Funktion. In diesem Zusammenhang, der sich um die Art und Weise der Legitimierung neuer Anwendungsbereiche medizinischen Wissens und Könnens dreht, sind die Begriffe der Medikalisierung und Pathologisierung nicht normativ und wertend zu verstehen, sondern als Kennzeichnung zweier verschiedener Typen der Bezugnahme auf das klassische Konzept von Medizin. Diese Unterscheidung ist für die genannten grundlegenden medizintheoretischen Fragen entscheidend. Wenn man neue medizinische Behandlungsfelder rechtfertigt, indem man die Zustände, auf die sich die neuen Maßnahmen richten und die bisher nicht im Fokus der Medizin standen, als krank deklariert, so pathologisiert man diese Zustände. Damit bleibt man, was die Legitimierung ärztlichen Handelns angeht, dem therapeutischen Paradigma verpflichtet und ist somit weiter am Krankheitsbegriff orientiert. Durch einen definitorisch-explikativen Akt werden Phäno-
Vgl. Alfons Labisch/Norbert Paul: »Medizin (Zum Problemstand)«, in: Korff/Beck/ Mikat (Hg.), Lexikon der Bioethik, S. 630–642.
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mene, die bisher als unauffällig, gesund und normal angesehen wurden, die jedenfalls nicht als krank galten, als ›krank‹ klassifiziert und in den fraglos anerkannten Zuständigkeitsbereich ärztlichen Handelns integriert, ohne die konventionelle Zielbestimmung der Medizin herauszufordern oder gar links liegen zu lassen. Man könnte auch sagen, die Phänomene werden umdefiniert. Demgemäß spricht man in der Medizinsoziologie hier von »Etikettierungsprozessen« 5. Solche Vorgänge der Neudefinition muss man sich in aller Regel freilich weniger als punktuelle, dezisionistische Momente der medizinischen Deutungsmacht vorstellen; vielmehr kann man sie als Effekte eines schleichenden und oft hoch komplexen Aushandlungsprozesses ansehen, an dem verschiedene gesellschaftlich wirksame Faktoren und Akteure beteiligt sind. Neben öffentlichkeitswirksamen und oft auch deutlich kritisierten ›Entdeckungen‹ oder ›Erfindungen‹ neuer Krankheiten im Dienste der Profitinteressen von Pharmakonzernen sind pathologisierende Erweiterungen des medizinischen Feldes häufig Resultate langwieriger Gewöhnungsprozesse oder auch schlicht das Ergebnis technischen Fortschritts. Hier wird etwa deutlich, wie stark die Interpretation und die Grenzen des Krankheitsbegriffs von den tatsächlich gegebenen Möglichkeiten der Behandlung abhängen. Die Begradigung schiefer Zähne mittels Zahnspangen oder die hormonelle Behandlung von Kleinwüchsigkeit sind Beispiele, die hier genannt werden. Hier zeigt sich, wie zunehmende medizintechnische Interventionsmöglichkeiten tendenziell zu einer Zunahme und Ausdifferenzierung von Krankheitsbildern führen können. Derartige Entwicklungen folgen dabei einer pathologisierenden Begründung einer Ausweitung der Medizin. Den entgegengesetzten Fall bildet eine medikalisierende Begründung. Hierbei werden klare Grenzen von bestehenden Krankheitsdefinitionen anerkannt und beibehalten, jedoch nicht mehr als exklusives Kriterium für den Einsatz von medizinischem Handeln akzeptiert. Ein Zustand muss dann nicht pathologischen Status haben, um legitimerweise behandelt werden zu können. Es genügt, dass entsprechendes medizinisches Handeln möglich und gewünscht ist. 6
Siehe Fabian Karsch: »Enhancement als Problem der soziologischen Medikalisierungsforschung«, in: Sascha Dickel/Martina Franzen/Christoph Kehl (Hg.), Herausforderung Biomedizin. Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis, Bielefeld 2011, S. 267–281, hier S. 272. 6 In der Praxis ist dann noch eine oft entscheidende weitere Hürde, dass die Interven5
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Was medikalisierende Rechtfertigungen für neuartige Einsatzformen von Medizin auszeichnet, ist also, dass sie explizit auf den Bezug zu den am therapeutischen Paradigma ausgerichteten klassischen Zielen mit ihrem Verweis auf das Vorliegen von Krankheit verzichten; vielmehr wird medizinische Zuständigkeit anhand vorliegender Nachfrage bei gleichzeitiger Machbarkeit proklamiert. Das ist im Wesentlichen die Rechtfertigungslinie, an der sich die wunscherfüllende Medizin orientiert. Nicht mehr medizinische Notwendigkeiten, gesundheitliche Bedürfnisse oder fachlich beglaubigte Indikationsstellungen sind ausschlaggebend, sondern schlicht vorliegende und vorgebrachte Wünsche. Während pathologisierende Strategien in diesem Sinne konservativer angelegt sind und zielkonform krankheitsbezogen bleiben, brechen medikalisierende Begründungen den klassischen Zielkanon auf, indem sie zielüberschreitend wunschbezogen argumentieren. Verkürzt gesagt, läuft die Rechtfertigung neuer Tätigkeitsbereiche in der Medizin einem pathologisierenden Ansatz nach über die Behauptung neuer Krankheiten, während eine medikalisierende Begründungsstrategie neue Ziele bestimmt. Am Beispiel der sogenannten Anti-Aging-Medizin lässt sich diese theoretische und begründungstheoretische Unterscheidung pointiert und eingängig illustrieren. 7 Das Bestreben, mit medizinischen Mitteln die zwar nicht als pathologisch angesehenen, aber doch ungeliebten und beschwerlichen Begleiterscheinungen des natürlichen Alterungsgeschehens abzuschwächen und zu bekämpfen, folgt einer in diesem Sinne medikalisierenden Logik; während es dagegen zum Wesen pathologisierender Ansätze gehört, das Altern selbst zur Krankheit zu erklären. Von dieser Option versprechen sich ihre Vertreter größeres normatives Gewicht, als es der medikalisierenden Option zukommt. Der gewissermaßen moralische Vorteil einer pathologisierenden Sichtweise ist auch tatsächlich nicht von der Hand zu weisen und dem engeren Verhältnis zum klassischen Konzept geschuldet. Wenn Altern pathologisch ist, ist medizinische Altersbehandlung nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten – ganz
tion auch finanziert wird. Dies ist allerdings begründungstheoretisch weniger relevant. 7 Vgl. Tobias Eichinger: »Jenseits von gesund und krank: Ethische Einwände gegen Anti-Aging als Medizin«, in: Silke Schicktanz/Mark Schweda (Hg.), Pro-Age oder Anti-Aging? Altern im Fokus der modernen Medizin, Frankfurt a. M. 2012, S. 309– 325.
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dem traditionellen medizinischen Auftrag gemäß. Wer dagegen in medikalisierender Weise für Anti-Aging eintritt, eröffnet den potentiellen Klienten lediglich eine weitere zulässige Option. Eine Option, die man auch getrost ignorieren oder ablehnen kann, ohne gegen Grundprinzipien medizinischer Vernunft zu verstoßen. Matthias Kettner hat diese Differenz zwischen kurativer und wunscherfüllender Medizin mit dem Gegenüber von einem »therapeutische[n] Imperativ« (im Fall der kurativen Medizin) und einem »konsumentische[n] Optativ« (in der wunscherfüllenden Medizin) gefasst. 8 Ihr imperativisches Moment zeigt gleichzeitig das Problematische an der pathologisierenden Formel, denn durch die Uminterpretation des Alterns als Krankheit haben wir alle plötzlich ein medizinisches Problem, werden wir alle handstreichartig zu Patientinnen und Patienten, die schon durch diese Etikettierung implizit aufgefordert sind, tätig zu werden und medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein anderes Beispiel für diese begründungstheoretischen Alternativen ist die Reproduktionsmedizin, wo die entsprechende Auseinandersetzung um den Status ungewollter Kinderlosigkeit geführt wird – als pathologisch und deswegen fraglos behandlungsbedürftig, mit einem medizinischen Imperativ versehen also oder als natürliche und nicht-krankhafte Gegebenheit; was freilich nicht heißen muss, dass dieser Zustand deswegen hingenommen werden müsste, sehr wohl kann dieser durch den individuellen Einsatz kinderwunscherfüllender Medizin behoben werden, was dann allerdings der Logik eines Optativs folgt. Hier sei erneut darauf verwiesen, dass die Begriffe der Medikalisierung und Pathologisierung in dem begründungstheoretischen Sinn, in dem sie hier eingeführt wurden, zunächst wertfrei gemeint sind und in erster Linie die Argumentationslogik unterscheiden sollen. Das heißt auch, dass beide Optionen sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringen. So kann auch eine Pathologisierung für die Betroffenen von großem Vorteil sein, indem ihnen von berufener Seite die Krankenrolle zugewiesen wird, indem wissenschaftliche Erklärungsmuster für vorher unverstandene und überfordernde Zustände geboten werden oder indem abweichendes Verhalten entkri-
Matthias Kettner: »›Wunscherfüllende Medizin‹ – Assistenz zum besseren Leben?«, G+G Wissenschaft – Wissenschaftsforum in Gesundheit und Gesellschaft 6 (2006), S. 7–16, hier S. 12.
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minalisiert wird und durch eine medizinische Diagnose mit einem impliziten Hilfsangebot verknüpft wird. 9 Mit einer Unterscheidung, die Peter Wehling und Willy Viehöver aus einer medizinsoziologischen und biopolitischen Perspektive getroffen haben, lässt sich nun zurückkommen auf die Metaphorik der Grenzziehung und der Entgrenzung des medizinischen Feldes. Wehling und Viehöver differenzieren das fragliche Expansionsgeschehen und unterscheiden Fälle von Grenzverschiebungen von solchen der Grenzüberschreitung. 10 Diese griffige Unterscheidung passt exakt auf die angeführte Begrifflichkeit von Medikalisierung und Pathologisierung. Während pathologisierende Strategien die Grenzen der herkömmlichen Medizin verschieben, überschreiten medikalisierende Begründungsformen diese. So ließe sich sagen, dass unter beiden Bannern Neuland betreten wird, der Unterschied dabei eben darin liegt, ob dies unter Berufung auf die Tradition oder aber als deren Überwindung geschieht.
4.
Möglichkeiten einer Wesensbestimmung
Nach dieser Skizze der konzeptuellen Zusammenhänge von therapeutischem Paradigma, klassischen Zielen der Medizin, Krankheitsorientierung und ganz neuen Zielsetzungen muss nun aber die Frage aufgeworfen werden, ob denn eine Bestimmung adäquater Ziele oder eines einheitlichen Begriffs der Medizin überhaupt sinnvoll und möglich ist. Denn Entgrenzungsbewegungen wie die wunscherfüllende Medizin fordern ja nicht nur Antworten auf die Frage heraus, wie man derartige Ausweitungen mit Bezug auf den traditionellen Kern der Medizin und ihrer Moral begründungstheoretisch fassen kann, sondern diese Entwicklungen ziehen darüber hinaus in Zweifel, ob heutzutage für das vielgestaltige und ausdifferenzierte Feld ärzt-
Siehe zu dieser Verschiebung von kriminalisierenden zu pathologisierenden Deutungen den sprechenden Untertitel von Peter Conrad/Joseph W. Schneider: Deviance and medicalization. From badness to sickness, Philadelphia 1992. 10 Vgl. Willy Viehöver/Peter Wehling: »Entgrenzung der Medizin: Transformationen des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive«, in: Willy Viehöver/Peter Wehling (Hg.), Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?, Bielefeld 2010, S. 7–47, hier S. 9 f. 9
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Instrument oder Profession?
lichen Handelns überhaupt eine kohärente Bestimmung definierter Zielsetzungen nötig ist. Dies bringt zunächst ganz generell die Möglichkeiten einer Wesensbestimmung in den Blick. Hier lassen sich drei Wege unterscheiden. Eine naheliegende Herangehensweise besteht in dem Blick zurück. Man kann versuchen, sich dem Gehalt der Medizin historisch zu nähern und befragt die Medizingeschichte. Dies empfiehlt sich sicherlich, um zu verstehen, welche Elemente, Kräfte und Akteure in der Vergangenheit die Idee, die Praxis und das Bild von Medizin geprägt haben. Um die heutigen Ausprägungen ärztlicher Tätigkeit und auch die politischen und ethischen Auseinandersetzungen um Rolle und Funktion der Medizin zu begreifen, ist es unerlässlich, zu wissen, wie es dazu kam, welche Vorläuferdebatten und vergleichbaren Kontroversen bereits stattgefunden haben. Es lässt sich Aufschlussreiches lernen über soziale Funktionen, moralische Dimensionen und anthropologisch-philosophische Visionen medizinischer Praktiken und Diskurse. Doch muss ein solcher historischer Ansatz an Grenzen stoßen, wenn es darum gehen soll, Grundsätze des ethisch Vertretbaren oder Gebotenen für die Gegenwart aufzustellen oder zu kritisieren. Freilich kann es ein gewichtiges Argument sein, darauf zu verweisen, dass seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden gewisse Vorstellungen von gutem ärztlichen Handeln und einer medizinischen Ethik herrschen. Daraus allerdings direkt abzuleiten, dass dies auch künftig so sein sollte, kann nur überzeugen, wenn zusätzliche Prämissen oder Argumente hinzugezogen werden. So kann die historische Methode nicht abschließend und zufriedenstellend eine normativ gehaltvolle Wesensbestimmung der Medizin für heute und die Zukunft leisten. Dies führt zu einer zweiten Möglichkeit, das Wesen oder eine adäquate Zielsetzung der Medizin zu definieren. Ansätze dieses zweiten Typs versuchen, aus dem Begriff der Medizin selbst ihren moralischen Gehalt und entsprechende ethische Gebote und Grenzen abzuleiten. Diese Vorschläge, die man essentialistisch nennen kann, sind zunächst verlockend, da sie eine klare und verlässliche Bestimmung versprechen, die sich ganz logisch und begriffsanalytisch aus der Beschreibung der Tätigkeit, um die es geht, ergibt. So werden dieser einflussreichen Auffassung zufolge die Ziele medizinischen Handelns von der Medizin oder aus der Medizin selbst festgelegt, gewissermaßen von innen heraus. Eine andere Formulierung dafür ist, dass Ärztinnen und Ärzte »allein von ihrem Arztsein her sich 51 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Tobias Eichinger
einer bestimmten Moralität unterwerfen« 11 würden, dass also die Zugehörigkeit zum Berufsstand bereits unhintergehbare normative Implikationen hätte. Hier spricht man auch von dem Konzept einer »inhärenten Moral« der Medizin, welche aus ihrem Charakter als Praxis in einem an die Antike gemahnenden handlungstheoretischen Sinne resultiert. 12 Im Gegensatz zum Handlungstyp der poiesis, der produzierenden Herstellung, die ihren Sinn in einem von der Tätigkeit selbst unterschiedenen Produkt hat, finden Tätigkeiten vom Typ der praxis ihren Gehalt im Vollzug ihrer selbst. Der Verweis auf diese klassische Analyse und ihre Anwendung auf die ärztliche Tätigkeit kann dazu beitragen, das Charakteristische der Medizin zu erkennen und zu diskutieren. Eine Auffassung, die das Handeln selbst und weniger das messbare Ergebnis in den Mittelpunkt stellt, kann das kritische Bewusstsein schärfen für problematische Entwicklungen etwa einer immer stärker werdenden Ökonomisierung in Kliniken und Arztpraxen oder kann aufmerksam machen auf die Untiefen eines materialistischen Gesundheitsbegriffs. 13 Allerdings muss sich ein solch essentialistisches Medizinverständnis ebenfalls kritische Rückfragen gefallen lassen. So drängt sich der Verdacht einer zirkulären Argumentation auf, wenn zur Begründung der normativen Grundsätze einer Praxis einfach auf deren Definition zurückgegriffen wird, welche an sich wiederum als überliefert vorausgesetzt wird. Außerdem stellt sich die Frage, wie ein essentialistisches Konzept auf Herausforderungen der Gegenwart reagieren kann, ohne bloß auf einem unverrückbaren Kern der Praxis zu bestehen und so zu riskieren, zeitgenössischen Entwicklungen nicht gerecht zu werden. So hat sich das allgemeine Verständnis von Gesundheit, von Lebensqualität und Eigenverantwortung, von persönlicher Freiheit und Selbstverwirklichung doch in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt – nicht zuletzt im Zuge der Erweiterung medizinischer InterventionsmögGiovanni Maio: »Ethik der wunscherfüllenden Medizin«, in: Georg Marckmann (Hg.): Praxisbuch Ethik in der Medizin, Berlin 2015, S. 377–386, hier S. 381. 12 Vgl. Edmund D. Pellegrino: »The internal morality of clinical medicine: A paradigm for the ethics of the helping and healing professions«, Journal of Medicine and Philosophy 26 (2001), S. 559–579. 13 Einer materialistischen Vorstellung nach ist Gesundheit eine Größe, die sich herstellen, steigern und verkaufen lässt. Dieser Ansatz bringt aber eine Reihe von Problemen mit sich, siehe Tobias Eichinger: »Gesund machen oder Gesundheit machen? Philosophische Anmerkungen zu einem Grundbegriff der Medizin«, in: Brigitte Kepplinger/Florian Schwanninger (Hg.), Optimierung des Menschen, Innsbruck/ Wien/Bozen 2018. 11
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Instrument oder Profession?
lichkeiten. Vor allem aber hat sich die Gesellschaft mitsamt den hier anzutreffenden Wertvorstellungen in einer Weise liberalisiert und pluralisiert, dass ein eng umgrenztes, limitierendes Konzept von Medizin Schwierigkeiten hat, noch ausreichend Akzeptanz zu finden. Schließlich ist das weite Feld medizinischer Möglichkeiten und Praktiken nicht nur von einer sich wandelnden Kultur und Gesellschaft umgeben, die etwa von außen die Medizin mit neuen Ansprüchen bedrängt, sondern die Medizin ist freilich selbst Teil gesellschaftlicher Strömungen und Ansprüche, und dies in doppelter Hinsicht, als Produkt und Produzent gleichermaßen. Dieser nicht gerade leichtgewichtige Einwand gegen eine essentialistische Auffassung weist bereits direkt zu der dritten Möglichkeit, das Wesen der Medizin zu bestimmen. Dieser dritte Weg versteht Medizin als Disziplin, die mit ihren Angeboten und Möglichkeiten Optionen bereitstellt, die je nach Situation und Bedarf abgerufen und eingesetzt werden können sollen. Ärztliches Wissen und Können ist demzufolge eine Technik, ein Instrument, das seinem Einsatz von sich heraus keinen besonderen Bereich und keine Grenzen vorgibt, ein Instrument, das vielmehr der Umsetzung von unbestimmten zeit- und kulturspezifischen Zielen der Menschen zur Verfügung steht. Solch eine instrumentalistische Auffassung beinhaltet freilich weiterhin die Funktion der fachgerechten Hilfe im Krankheits- oder Verletzungsfall, ist aber eben nicht auf therapeutische Zwecke festgelegt oder beschränkt. So sehr diese Idee zu den zeitgemäßen Rahmenbedingungen einer pluralistischen, liberalen Gesellschaft passt und sich auf ein freiheitliches Menschenbild, geprägt von Autonomie und Eigenverantwortung, berufen kann – auch dieses Konzept weckt aus ethischer Sicht erhebliche Zweifel. Fehlten klar definierte oder gar eigene, inhärente Ziele, so die Kritik, dann würde die Medizin zu einer bloßen Dienstleistung oder einem bloßen Handwerk. Im Grunde muss dieser Einwand die Vertreter eines instrumentalistischen Konzeptes aber gar nicht beunruhigen, denn das ist ja genau ihre Prämisse. Die Kritik daran geht aber weiter und zeichnet ein doch bedenkenswertes Bild von den Folgen eines solchen Medizinverständnisses. Wäre Medizin nämlich eine bloße Technik, dann wäre ärztliches Handeln, abgesehen von technischen Standards der fachlichen Ausführung, gehalten, im Prinzip jeden Auftrag auszuführen, sofern dieser Minimalkriterien von Selbstbestimmung und informierter Aufklärung genügt. Mit solch einem Konzept wird die Gefahr einer unverantwortlichen Komplizenschaft sowie einer 53 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Tobias Eichinger
tendenziell unbeschränkten Kommerzialisierung verbunden, die für Vertreter der klassischen Auffassung dem ursprünglichen Auftrag der Medizin sogar direkt entgegenwirken könne. So wird der fragende Einwand laut, ob es denn Sinn und Zweck der Medizin sein könne, bei der Verwirklichung nicht-medizinischer Zwecke behilflich zu sein, wie es etwa bei kosmetischen Operationen gesunder Körperpartien typischerweise der Fall zu sein scheint. 14 Die Konsequenzen eines instrumentellen Verständnisses scheinen aber noch weiter zu gehen, als derartige Kritik befürchtet. So lässt die Idee von Medizin als einem bloßen Mittel für alle möglichen Zwecke vermuten, dass schon das Projekt einer Bestimmung des Wesens der Medizin gar nicht beabsichtigt wird. Nimmt man die instrumentalistische Auffassung ernst, ist ein einheitlicher Begriff von Medizin gar nicht von Interesse und würde sich wohl auch in einer ausufernden Pluralität von medizinischen Praktiken und Anwendungskontexten verlieren. Zusammenfassend ergibt sich nun folgendes Bild: Nach dem historischen Konzept ist Medizin das, was ihrer Geschichte entspricht; nach dem essentialistischen Konzept ist Medizin das, was einer bestimmten normativen Setzung entspricht; und nach dem instrumentalistischen Konzept ist Medizin das, was ihrer tatsächlichen Anwendung und Anwendbarkeit entspricht. Während die historische Bestimmung also eine deskriptiv-konservative ist (sie beschreibt, was war und bewahrt werden soll) und die essentielle eine begrifflich-normative ist (sie definiert, was vorausgesetzt wird), ließe sich die instrumentelle als deskriptiv-offen bezeichnen (sie beschreibt, was realisierbar ist).
5.
Schluss
Nachdem dies nun zunächst vor allem eine Skizze der wesentlichen theoretischen Möglichkeiten ist, Medizin zu konzeptualisieren, soll zum Schluss nun noch ein Plädoyer für eine dieser Richtungen folgen. So können, wie bereits angedeutet, aus medizinethischer Sicht weder die historische Herangehensweise noch die instrumentalistische Sicht der Medizin überzeugen. Und auch die dritte Variante, die hier als essentialistisch bezeichnete, kann gewisse Schwierigkeiten nicht leugnen. Allerdings erscheint es dennoch am aussichtsreichs14
Vgl. Eichinger: Jenseits der Therapie, a. a. O., S. 204–211.
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Instrument oder Profession?
ten, hier anzusetzen und zuallererst an der Möglichkeit festzuhalten, das Wesen der Medizin in einer normativ gehaltvollen Weise zu bestimmen. Andernfalls wäre das Konzept von Medizin als Praxis der Hilfe für Menschen in gesundheitlicher Not, als Praxis, die in besonderer Weise legitimiert und limitiert ist, kaum zu halten. Dies ist also die erste Voraussetzung: Medizin ist keine Dienstleistung, kein Beruf oder Handwerk wie jedes andere, das seine Ziele von außen, von Auftraggeberinnen und Kunden oder von der Gesellschaft und Politik erhält, sondern Medizin ist im emphatischen Sinne eine humanistische Profession mit spezifischem Ethos, die ihr Handeln an eigenen, der Tätigkeit zugeordneten Zielen ausrichtet. Dass dies keine bloße Setzung ist, erklärt sich vor allem ex negativo, aus dem Szenario des Fehlens eigener Ziele. Wäre dies nämlich der Fall, wäre medizinische Hilfe ein neutrales Angebot neben anderen, und wäre sie damit nicht eindeutig einem festen Kanon eigener Ziele verpflichtet, so würde gelten, was auch bei allen anderen ›gewöhnlichen‹ Dienstleistungen gilt: In einem Marktgeschehen, das wesentlich durch die Dynamik von Angebot und Nachfrage, von Knappheit, Bepreisung, Kaufkraft und Umsatz gesteuert ist, müsste der Kunde oder die Kundin das bestehende Angebot zunächst selbstständig recherchieren, sichten und prüfen, um schließlich die beste Wahl für die Umsetzung seines oder ihres Zieles treffen zu können. Dies setzt nicht nur einen mehr oder weniger klaren Kopf, ausreichend Energie und Motivation voraus, sondern auch, dass die leitende Zielvorstellung definiert ist und feststeht. Auf dem freien Markt ist dies allein eine Kundenvorstellung. Kaum ein Anbieter korrigiert die Ziele der Konsumwilligen oder lehnt sie ab. Was es natürlich gibt, sind Vorschläge und verlockend daherkommende Angebote, doch dies können tendenziell unmoralische Angebote sein. Es gibt eben keine nennenswerten ethischen Prinzipien, die die Logik der Profitmaximierung in die Schranken zu weisen vermögen – und soll es auch gar nicht geben. Auch eine überzogene, maßlose oder irrtümliche Kundenvorstellung widerspricht an sich weder dem Marktprinzip noch den Zielen eines Anbieters – und wird letztlich umgesetzt, sofern der selbstbestimmte Kunde frei entscheidet und bezahlt. Der ›Kunde‹ der Medizin nun ist jedoch in exemplarischer Weise kein freier und unabhängiger Marktteilnehmer, sondern trotz allen Enhancements ein Patient oder eine Patientin. Und was eine Patientin kennzeichnet, ist gerade die Einschränkung ihrer geistigen und körperlichen Kräfte und Fähigkeiten. Um diesem Umstand und Zustand 55 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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der Angewiesenheit zu begegnen und gerecht zu werden, hat sich das ärztliche Ethos herausgebildet. Es umfasst ein bedingungsloses Hilfsversprechen und ein »rollengebundenes, antizipatorisches Vertrauen«, wie das Urban Wiesing einmal genannt hat. 15 Jede und jeder Angehörige des Berufsstandes verpflichtet sich auf ethische Grundprinzipien und Ziele, auf deren Geltung das Gegenüber vertrauen kann. Als praktische Handlungswissenschaft, die immer nur in individuellen Einzelfällen ihr Bestes tun, nie aber Erfolg garantieren kann, ist es für die Medizin in moralischer Hinsicht existenziell, diese ihre Motivation der Hilfe als primäres Handlungsprinzip zuzusichern. Wie Richard Toellner es formuliert hat, bezieht sich das Vertrauen des Patienten »nicht primär auf die Sicherheit des medizinischen Wissens oder den Erfolg der ärztlichen Handlung, sondern auf die Zuverlässigkeit des ärztlichen Verhaltens. Nur wenn der Patient überzeugt ist, dass der Arzt nach bestem Wissen und Gewissen handelt, kann er sich in die Hand des Arztes geben.« 16 Die Auffassung also, dass es so etwas wie eigene genuine medizinische Ziele – und damit auch so etwas wie ein Wesen der Medizin – gibt und als orientierende Vorgaben auch geben sollte, scheint zur Gewährleistung und zum Schutz des Kernauftrags der ärztlichen Tätigkeit unabdingbar zu sein. Ein in diesem Sinne essentialistisches Konzept von Medizin ist dann auch mehr als die selbstbezügliche Bekräftigung einer bloßen Setzung zur Wahrung der Tradition. Vielmehr geht es um die Aufrechterhaltung des normativen Kerns der ärztlichen Tätigkeit an sich und in seiner tagtäglichen praktischen Umsetzbarkeit. Hier verläuft eine wesentliche Grenzziehung, entlang derer sich die Grundsatzstreitigkeiten und -entscheidungen über Möglichkeit und Notwendigkeit einer Wesensbestimmung der Medizin entzünden.
Urban Wiesing: »Die Integrität der Arztrolle in Zeiten des Wandels«, Jahrbuch für Recht und Ethik 4 (1996), S. 315–325, hier S. 316. 16 Richard Toellner: »Einführung in das Tagungsthema«, in: Richard Toellner/Urban Wiesing (Hg.), Wissen – Handeln – Ethik. Strukturen ärztlichen Handelns und ihre ethische Relevanz, Stuttgart 1995, S. 3–9, hier S. 5. 15
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Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information Die Präzisionsmedizin der Zukunft, die Effizienz der modernen Medizin und das vergessene Können Heilkundiger Cornelius Borck Abstract: Das enorme Leistungsspektrum der modernen Medizin und die Genauigkeit ihrer diagnostischen Techniken treiben derzeit das Projekt einer datengetriebenen Präzisionsmedizin voran, die zugleich die individuellen Bedürfnisse der Patienten zu berücksichtigen verspricht. Unter dem Label »P4« sollen Prävention, Prädiktion, Partizipation und Personalisierung zu einer umfassenden und maßgeschneiderten medizinischen Begleitung vereint werden. Bereits heute gehört die statistische Evaluation medizinischer Maßnahmen hinsichtlich Wirksamkeit und Effizienz zu den Kernmerkmalen der Evidenz-basierten Medizin. Sie hat die Orientierung an pathophysiologischen Erklärungen und der individuellen ärztlichen Erfahrung verdrängt und bietet damit ein typisches Beispiel für die mit der wissenschaftlichen Aufklärung verbundenen Ent-Täuschungen, weil sie als kritische Wissenschaft zwar falsche Vorstellungen entlarven, aber mit ihren abstrakten Zahlen und anonymen Leitlinien individuelles Leiden kaum adäquat berücksichtigen kann. Hier setzt die Präzisionsmedizin mit dem Projekt einer technischen Optimierung an, das letztlich auch die ärztliche Expertise an Computer delegiert, anstatt die individuelle Betreuung und Begleitung von Patienten als Handlungszentrum jeder Heilkunde wiederzuentdecken.
1.
Einleitung
Die wissenschaftlich-technischen Fortschritte der Medizin während der vergangenen hundert Jahre sind in der Medizingeschichte beispiellos – und in naher Zukunft sollen die aktuellen Entwicklungen in Epigenetik, Systembiologie und Informationstechnik noch ganz neue Durchbrüche möglich machen. Während früher gegenüber den meisten lebensbedrohlichen Erkrankungen weitgehend Hilflosigkeit 57 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Cornelius Borck
vorherrschte, stehen heute für viele Krankheitsbilder effiziente Therapieverfahren zur Verfügung. Die Vielfalt der diagnostischen Möglichkeiten reicht von einfachen, aber hoch spezialisierten Blutuntersuchungen über die verschiedensten bildgebenden Verfahren bis zu genetischen Tests und ist damit so umfassend geworden, dass die über fast zwei Jahrhunderte zur medizinischen Qualitätssicherung unabdingbare postmortale Sektion heute nur noch in wenigen Fällen erforderlich erscheint. Die Miniaturisierung der Operationsverfahren durch die sogenannte Schlüssellochchirurgie und die Kathetertechnik lässt raffinierte Eingriffe auf minimalinvasivem Weg zu und führt zu einem immer engeren Zusammenrücken von Diagnostik und Therapie wie z. B. in der interventionellen Radiologie. Menschen sind zwar nach wie vor sterblich, aber die Medizin hat ein so enorm breites Leistungsspektrum entwickelt, dass der Tod eines Menschen heute beinahe unausweichlich als ihr Versagen erscheint. Diese veränderte Erwartungshaltung gegenüber einer Medizin, deren vielseitiges Können inzwischen längst für selbstverständlich genommen wird, mag einer der Faktoren dafür sein, dass die Medizin trotz ihres enormen Könnens in der Kritik steht. Die heutige Medizin gilt als anonym und als abstrakt, als nicht genügend dem einzelnen Patienten im je spezifischen Kranksein zugewandt und damit als zu maschinenförmig. Sie wird, kurz gesagt, als eine therapeutische Praxis kritisiert, die ihrem Namen »Humanmedizin« nicht gerecht wird. 1 Selbstverständlich gibt es in jedem komplexen System Fehlentwicklungen, zumal wenn so viele verschiedene Akteure und Interessen untereinander zu vermitteln sind wie im Gesundheitssystem. Ganz abgesehen von den großen Interessenkonflikten zwischen Krankenhausbetreibern, Pharmaindustrie, Versicherungen, Ärzten und Patienten, zählen dazu beispielsweise so banale, aber hartnäckige Probleme wie die aus einer routinierten Praxis übergenauer Tests resultierenden Fehldiagnosen. Dazu gehören Fehlentwicklungen der Versorgung, wenn Patienten abends oder an Wochenenden Notaufnahmen mit Bagatellstörungen blockieren, weil sie hier am effizientesten die gesuchte Hilfe bekommen. Dazu gehören die unerwünschten Effekte einer in immer spezialisiertere Richtungen ausdifferenzierten ärztlichen Praxis, in der das individuelle Wohl eines Patienten gelegentlich aus dem Blick gerät, auch wenn damit 1 Vgl. Thure von Uexküll/Wolfgang Wesiack: Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns, München 1988.
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Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information
grundsätzlich eine bessere Medizin einhergeht. Dazu gehört die Grundspannung zwischen einer kosteneffizienten Versorgung möglichst vieler Patienten mit gut dokumentierten, gerecht verteilten Leistungen und der daraus resultierenden Zeitnot und Papierarbeit. Insbesondere die jüngste Wende mit der sogenannten Evidenzbasierten Medizin (EBM), bei der die in randomisierten Studien nachgewiesene Wirksamkeit über diagnostische Maßnahmen und therapeutische Interventionen entscheiden soll, hat erneut zu einer breiten Diskussion über die Ziele der Medizin und das richtige ärztliche Vorgehen geführt. 2 In Deutschland, wo die Einführung der EBM parallel lief mit einer Umstellung der Krankenhausfinanzierung von Tagessätzen auf Fallpauschalen und niedergelassene Ärzte immer stärker in ihrer Abrechnungspraxis reglementiert werden, kreist diese Diskussion dabei vor allem um die Frage, ob Effizienzsteigerung ärztliches Handeln zu stark an wirtschaftlicher Optimierung ausrichte. 3 Für eine fundierte Auseinandersetzung mit Effizienz und Können der Medizin müsste also zuerst geklärt werden, was mit Effizienz und Effektivität gemeint sein soll, wie beides zu definieren und in Bezug auf medizinische Praxis zu messen sei, bevor das Können der Medizin kritisiert wird. 4 Freilich wäre dies dann schon eine Diskussion im Horizont der Strukturierung des Handlungsfeldes von Gesundheit und Krankheit durch die derzeitige Medizin. Es wäre eine Diskussion, die um die Fragen ihrer richtigen Anwendung in der ärztlichen Praxis kreiste – und die damit die grundsätzlichere Frage nach der spezifischen Ausrichtung der Medizin gar nicht mehr zu stellen erlaubte. Deshalb sei hier mit Können ohne nähere Präzisierung und mit einem absichtlich unscharfen Begriff schlicht das oben skizzierte Leistungspotenzial der heutigen, biowissenschaftlich fundierten Medizin gemeint: Inwiefern ist gerade die Effizienz, welche die Medizin in den vergangenen Jahren so eindrucksvoll gesteigert hat, zum Problem geworden? Eine besonders naheliegende Antwort scheint in der Grundstruktur der EBM selbst zu liegen: Weil sie ihre therapeutischen EntVgl. Trisha Greenhalgh, Jeremy Howick and Neal Maskrey for the Evidence Based Medicine Renaissance Group: »Evidence based medicine: A movement in crisis?«, British Medical Journal 348 (2014), Nr. g3725. 3 Vgl. Giovanni Maio: Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft, Berlin 2014. 4 Hierzu immer noch wegweisend: Archibald L. Cochrane: Effectiveness and efficiency. Random reflections on health services, London 1972. 2
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scheidungen an die Ergebnisse möglichst aussagekräftiger und damit großer Untersuchungskollektive bindet, hat sie zu einem neuen Schematismus ärztlichen Handelns und entsprechender Anonymisierung geführt. Sie sei zwar mit der grundsätzlich richtigen Intention gestartet, die jeweils beste verfügbare Therapie für einen einzelnen Patienten zu finden, habe aber inzwischen zu einer weitgehenden Standardisierung ärztlichen Handelns geführt und sei so zu einer »Kochbuchmedizin« geworden. 5 Bei dieser Diagnose setzt auch die aktuelle Vision einer weiteren Revolution der Medizin an, welche das Grundschema einer Gleichbehandlung aller Patienten, die von derselben Krankheit betroffen sind, durch eine neue »Präzisionsmedizin« ersetzen will: Die Einsichten der epigenetischen Forschung und neue Techniken der Datenverarbeitung sollen das jetzt schon vorhandene Wissen der Medizin so weit verfeinern, dass individuell maßgeschneiderte Therapien möglich werden. 6 Wird diese Medizin dann nicht das Beste aller Zugänge vereinen und damit endlich die Kritik zum Verstummen bringen? Die Geschichte der Medizin lässt dies eher unwahrscheinlich erscheinen: Spätestens seit die Medizin sich vor 150 Jahren stärker den Naturwissenschaften zur Orientierung zuwandte, wurde ihr dies als Einseitigkeit ausgelegt. In immer wieder neuen Anläufen wurde nach Alternativen gesucht: Medizin dürfe keinesfalls ihre Qualität als Heilkunst verlieren, argumentierten Ärzte schon im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ganzheitlichkeit avancierte dann im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts international zum zentralen Stichwort einer breiten Medizinkritik. 7 Eine spezifisch deutsche Variante stellte das Projekt dar, das Subjekt wieder in die Medizin einzuführen. 8 Später im Zuge des Aufstiegs der Biomedizin sollten neueste interdisziplinäre Forschungsrichtungen wie z. B. die Psychoneuroimmunologie der Medizin neue Wege weisen. Parallel wartete die Psychosomatik auf ihre Anerkennung als Zentraldisziplin einer sich als Humanmedizin 5 Vgl. Uwe Beise: »Kochbuchmedizin?«, Ars Medici 10 (2007), S. 481; Loes Knaapen: »Evidence-based medicine or cookbook medicine? Addressing concerns over the standardization of care,«, Sociology Compass 8 (2014), S. 823–836. 6 Vgl. Leroy Hood: »Systems biology and P4 medicine: past, present, and future«, Rambam Maimonides Medical Journal 4/2 (2013), e0012. 7 Vgl. Christopher Lawrence/George Weisz (Hg.): Greater than the parts. Holism in biomedicine, 1920–1950, Oxford 1998. 8 Vgl. Heinrich Schipperges: Medizin in Bewegung. Geschichte und Schicksal, Heidelberg 1990.
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Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information
verstehenden ärztlichen Praxis. 9 Und als Gegenmodelle zur als »Schulmedizin« stigmatisierten Biomedizin haben sich immer weitere Formen von Alternativmedizin herausgebildet, deren gemeinsames Kennzeichen paradoxerweise darin zu bestehen scheint, dass sie typischerweise weit schulmäßiger verfasst sind als die so kritisierte Medizin. Keine dieser Kritikbewegungen konnte sich jedoch gegen die sogenannte Biomedizin und deren Aufstieg zur weltweit dominanten Form ärztlicher Praxis durchsetzen. Aber ebenso bemerkenswert wie die lange Geschichte dieser Kritik ist der Umstand, dass die Kritik sich im Verlauf der Auseinandersetzungen keineswegs erschöpft hat. Vielmehr scheint die Kritik sich mit jeder neuen Entwicklungsstufe der Medizin zu erneuern und an Brisanz eher noch zu gewinnen. Das zeigt besonders die Diskussion um die aktuelle Medizin und ihre derzeitige Effizienzorientierung, die keineswegs zu einem Verstummen oder auch nur zu einem Leiserwerden der Kritik geführt hat. Ganz im Gegenteil provoziert sie die Frage, in welcher Weise gerade die neueren Entwicklungen Anlass zur Kritik bieten und ob die avisierte Präzisionsmedizin hier überhaupt einen Ausweg schaffen kann. Um diese Fragen besser in den Blick zu nehmen, scheint es mir ratsam, die prüfende Distanz zu vergrößern und nicht nur die allerletzten Schritte im Vergleich zu den vorletzten zu prüfen, also die Wende zur Evidenz-basierten Medizin vor dem Hintergrund der pathophysiologischen und »Eminenz-basierten« Medizin oder die Präzisionsmedizin im Vergleich zur EBM. Wenn das Können der Medizin als Quelle der Kritik in Frage steht, scheint ein Vergleich zu Praktiken in der Geschichte der Medizin aussichtsreicher, die sich als Heilformen etablieren konnten, obwohl sie viel weniger zu leisten vermochten: Was konnte eigentlich eine Medizin, bevor sie – aus moderner Perspektive – überhaupt etwas konnte?
2.
Fall-Vignetten als Längsschnitt von der Vergangenheit in die Zukunft
Wenn die Frage so grundsätzlich gestellt wird, scheint es nahezuliegen, den Bogen ganz weit zu spannen und die moderne Medizin mit Vgl. Thure von Uexküll (Hg.): Integrierte psychosomatische Medizin. Modelle in Praxis und Klinik, Stuttgart 1981.
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den Heilkulturen fremder Zeiten und Gesellschaften zu vergleichen. Allerdings übersteigt das nicht nur meine Kompetenz, sondern lässt auch die Vergleichbarkeit mit der gegenwärtigen Medizin in unserer Gesellschaft aus dem Blick geraten. Deshalb soll hier eine mittlere Distanz zur aktuellen Debatte gewonnen werden, indem zunächst vier Fallvignetten skizziert werden, die einen Bogen aufspannen von der Zeit kurz vor der naturwissenschaftlichen Wende über die pathophysiologische Medizin und die EBM bis zur Vision einer Präzisionsmedizin. Diese vier Szenen sollen in sehr schematischer Form nachzeichnen, wie sich medizinische Praxis aufgrund wissenschaftlichtechnischer Fortschritte ändert und neue Probleme erzeugt, um auf diese Weise Stärken und Eigenheiten des sich jeweils dabei herausbildenden Handlungstyps hervortreten zu lassen. 10 Die Vignetten zielen dabei auf eine Art historischer Typologie, die hier nur hinsichtlich einiger Grundcharakteristika relevant ist und deshalb nicht weiter in die diagnostisch-therapeutischen Einzelheiten verfolgt werden soll. Denn hier geht es nicht um wahr oder falsch, um Sinn oder Unsinn einer spezifischen Diagnose und Therapie, sondern um zeit- bzw. paradigmenspezifische Charakteristika und Handlungsnormen eines jeweiligen Vorgehens. In den 1860er Jahren bemerkt ein gut 60-jähriger Patient eine ihm bis dahin unbekannte und andauernde Abgeschlagenheit. Er fühlt sich nicht mehr richtig leistungsfähig und klagt außerdem über Appetitlosigkeit und Schluck- sowie Verdauungsbeschwerden. Er hat in den vergangenen Monaten Gewicht verloren, mal ist ihm kalt, mal heiß, und in letzter Zeit wird ihm auch die Luft knapp. Der konsultierte Arzt notiert sorgfältig alle diese Beschwerden und konstatiert bei der körperlichen Untersuchung eine Schwellung am Hals am Übergang zur Thoraxöffnung. Zusammenfassend diagnostiziert er – noch ganz im humoralpathologischen Denken – eine Stockung der Körpersäfte. Entsprechend verordnet er heiße Fußbäder, macht Aderlässe und gibt strikte Diät-Anweisungen, um das dynamische Körpergeschehen wieder in Gang zu setzen. Aber die Schwellung am Hals verschwindet nicht, sondern wird immer größer, und dem Patienten geht es immer schlechter. Es wird immer deutlicher, dass ein Tumor dort wächst und ihm die Luft- und Speiseröhre einengt. Das führt den Arzt keineswegs zu einer anderen Diagnose, denn dazu gibt es in Den Vignetten liegen reale Fälle zugrunde, die hier aber zur Anonymisierung geringfügig fiktionalisiert wurden und ohne nähere Quellenangaben eingeführt werden.
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seiner Theorie gar keine Veranlassung, sondern zu immer drastischeren Therapieversuchen, bis der Patient die Therapie nicht mehr zu befolgen vermag. In dieser Situation zieht der Arzt den Chirurgicus zu Rate, der ihm bestätigt, dass hier auch keine Operation helfen kann, und beide kommen zu dem Schluss, dass die ärztliche Kunst in diesem Fall am Ende ist und die Therapie abgebrochen werden kann. Das führt jedoch keineswegs dazu, dass der Arzt sich zurückzieht; er macht weiterhin regelmäßig Hausbesuche oder erkundigt sich nach dem Ergehen des Patienten und ist auch in der Stunde des Todes da. Rund hundert Jahre später bemerkt ein Mann von Mitte 50 Jahren, dass ihm gelegentlich ein Wort nicht mehr einfällt oder er Silben verwechselt, ohne dass dem ein akutes Ereignis vorausgegangen ist. Die Symptome dauern an und verstärken sich, bis echte Wortfindungsstörungen auftreten. Schließlich überweist ein Neurologe den Patienten zur diagnostischen Abklärung in die Klinik, wo damals in den 1970er Jahren allerdings weder CT noch MRT zur Verfügung stehen, sondern eine Angiographie des Kopfes angefertigt und schließlich histologisch die Diagnose eines Glioblastoms gestellt wird. Der Patient und ein Neurochirurg beraten über mögliche Therapieoptionen und entscheiden gemeinsam, keinerlei Therapie zu unternehmen, weil offensichtlich das Sprachzentrum vom Tumor betroffen ist und eine ohnehin nur wenig aussichtsreiche Operation deshalb mit zu schwerwiegenden Einbußen verbunden wäre. Der Patient wird nach Hause entlassen im Bewusstsein, dass er an seinem Tumor bald sterben wird. Noch ist der Zustand jedoch einigermaßen stabil, sein Zustand verschlechtert sich nur allmählich, nach einigen Monaten des Abschiednehmens wird er bettlägerig und verstirbt zwei Wochen später zuhause, ohne wieder im Krankenhaus gewesen zu sein. Zu Beginn des neuen Jahrtausends stellt sich eine junge Frau von 30 Jahren mit Kopfschmerzen, Schwindel und weiteren unspezifischen Symptomen verschiedenen Ärzten vor, die sie je nach ihrem Spezialgebiet umfassend körperlich untersuchen, eine Vielzahl von Tests machen und immer wieder psychosomatisch geschult nach auslösenden Belastungen fragen, aber keine diagnostisch wegweisenden Befunde gewinnen, bis schließlich bei einem als ultima ratio angeordneten MRT des Kopfes ein Hirnstammgliom diagnostiziert wird. Die neurologische Symptomatik ist weiterhin nur gering ausgeprägt, aber die Patientin umso geschockter von der Diagnose, zumal damit keine sicheren therapeutischen Maßnahmen verbunden sind. Aufgrund ihres speziellen Krankheitsbildes bleibt sie in der Betreuung einer 63 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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Universitätsklinik, wo sie bei den wiederholten Klinikaufenthalten stets von neuen jungen Ärztinnen und Ärzten betreut wird, die sie mit der offensichtlichen Aussichtslosigkeit des Krankheitsbildes konfrontieren und sie dabei unterschwellig ihre eigene ohnmächtige Abwehrreaktion angesichts eines so grausamen Schicksals spüren lassen. Perfekt gemäß Leitlinie und dem Ideal einer nicht-direktiven ärztlichen Beratung soll sie anhand neuester Studienergebnisse zwischen einer Chemo- oder Strahlentherapie entscheiden, obwohl für beides nur eine unklare Studienlage existiert. Obendrein fühlt sie sich in eine Position der Rechtfertigung dafür gedrängt, dass sie überhaupt noch am Leben ist. Schließlich sucht sie Hilfe bei einem Neurologen, der sich bereits zur Ruhe gesetzt hat, um endlich einmal »ihr Herz ausschütten« zu können. Im Zentrum des Gesprächs steht ihre gescheiterte Lebensplanung, die erlebte Sinnlosigkeit beruflicher Qualifikation und ihr unerfüllter Kinderwunsch – immer wieder unterbrochen von Klagen, welche Hölle die Uniklinik sei. Diese drei historischen Beispiele waren bewusst so angelegt, dass sie die spezifische Handlungsfähigkeit der jeweiligen Medizin herausstellten, aber zugleich ein letztlich unbefriedigendes Ergebnis zeigten: Die humoralpathologische Diagnose mag eine damals plausible Erklärung der Beschwerden des Patienten im ersten Fall geliefert haben, aber die Vitalisierungstherapie war eine Quälerei für den Patienten und brachte ihm keinerlei Besserung, immerhin blieb ihm ein Trost durch den begleitenden Arzt. Hundert Jahre später konnte zwar eine Diagnose gestellt werden, die auch heute noch Anerkennung finden würde, aber das setzte äußerst schmerzhafte Untersuchungen voraus, die gleichwohl dem Patienten keine Abhilfe eröffneten. Immerhin war die Medizin sich ihrer begrenzten Handlungsmöglichkeiten in einer Weise bewusst, dass sie den Patienten weitgehend aus ihrer Fürsorgepflicht entlassen und seiner eigenverantwortlichen Lebensplanung übereignen konnte – gerade weil sie keine echte Alternative dazu anzubieten hatte. Diese Option scheint ihr inzwischen abhandengekommen, wie das Beispiel der Patientin im dritten Beispiel zeigt. Hier konnte zwar ohne wegweisende Leitsymptome und auf schonende Weise eine klare Diagnose gestellt werden, aber trotz massiv gesteigerter diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten konnte ihr keine Hilfe angeboten werden – mehr noch, die hilflose Patientin erlebte sich als Opfer der Medizin, weil sie einer Medizin nicht mehr entkommen konnte, die ihr Betreuungssystem zu einer fürsorglichen Belagerung ausgebaut und fugenlos abgedichtet 64 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information
hat. An diesem Fall zeigt sich paradigmatisch, wie medizinische Betreuung und eine Bewältigung von Krankheitszuständen auseinanderklaffen können, auch wenn alle Beteiligten dabei mit besten Absichten die richtigen Leitlinien befolgen. Die vierte Fallvignette lässt sich noch nicht in derselben Weise skizzieren, weil sie bislang nur eine Vision ist, aber sie wird derzeit aktiv vorangetrieben von der Forschung und von vielen daran beteiligten Firmen. Die Stichworte dieser Vision lauten Prävention, Prädiktion, Partizipation und Personalisierung. Diese vier Merkmale sollen die Präzisionsmedizin der Zukunft charakterisieren, in der mittels datengetriebener Forschung und engmaschiger Protokollierung sämtlicher gesundheitsrelevanter Daten bereits präventiv und prädiktiv diagnostische Tests bzw. individuell maßgeschneiderte Interventionen zur Erhaltung der Gesundheit eines Menschen veranlasst werden können. Ausgangspunkt der neuen Präzisionsmedizin ist also eine konsequente Vorverlagerung medizinischer Überwachung auf klinisch noch unauffällige Stadien, womit grundsätzlich jeder Mensch zum Patienten in spe wird. Dazu kombiniert Präzisionsmedizin die bereits vorhandenen Möglichkeiten von Vorsorgeuntersuchungen und prädiktiver genetischer Diagnostik mit den neuen Optionen einer freiwilligen, partizipativen Datenspeicherung per App und Mobilgerät. Zur medizintheoretischen Innovation soll Präzisionsmedizin dadurch werden, dass sie diese individuellen Daten mit dem vorhandenen medizinischen Fachwissen kombiniert, um auf der Basis dieser Informationen den individuellen Verlauf einer präventiv diagnostizierten Krankheit zu modellieren und die möglichen therapeutischen Maßnahmen an einem Computer-Double des Patienten, einem sogenannten Patient Avatar, zu evaluieren. 11 Denn in der Präzisionsmedizin der Zukunft ist Therapie nicht mehr die generelle Antwort auf eine möglichst präzise Diagnose, sondern sie soll in ihren Effekten beim konkreten Einzelfall antizipierbar werden, um individuell die beste, maßgeschneiderte Therapie zu planen. Einige Firmen gehen so weit, per virtual reality die zukünftigen Patienten gleich auch noch in die Entscheidung über die verschiedenen Therapieoptionen einzubeziehen. 12 Per Simulationskino, in das sie selbst eingreifen können, Sherry-Ann Brown: »Building SuperModels: emerging patient avatars for use in precision and systems medicine,«, Frontiers in Physiology 06. 11. 2015, https://doi. org/10.3389/fphys.2015.00318 (letzter Zugriff 09. 12. 2017). 12 Vgl. das Video »The Virtual Patient Avatar« der Firma MAASTRO Clinic in Maas11
65 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Cornelius Borck
sollen sie zwischen verschiedenen Alternativen wählen, indem sie die jeweils damit verbundenen konkreten Prozesse mitverfolgen. Wie medizinische Entscheidungen dann zu treffen sein werden und ob Patienten sich damit stärker als aktiv handelnde Person erleben werden, muss vorerst offen bleiben. Aber bemerkenswert ist, dass private Anbieter dieses Potenzial der Präzisionsmedizin bereits heute zur Vermarktung nutzen.
3.
Die Schöne Neue Welt der Präzisionsmedizin
P4 = Prävention, Prädiktion, Partizipation und Personalisierung: So lautet das neue Mantra der Medizin. In einer entscheidenden epistemischen Verlagerung geht es dabei längst nicht mehr um den genetischen Determinismus des Human Genome Project, sondern um eine epistemisch völlig offene, sogenannte »datengetriebene Forschung«: Genetisches Screening, epigenetische Informationen, das gesamte Omics-Programm, jeder diagnostische Test, auch jeder Messwert einer alltagsweltlichen Aktivität und alle lebensweltlichen Angaben, die Klienten von Hand hinzufügen, können und sollen benutzt werden. Zusammen mit den Ergebnissen klinischer Studien, den Basisdaten zur Evaluation therapeutischer Maßnahmen, den verfügbaren epidemiologischen Informationen und den statistischen Evaluationen vorhandener medizinischer Programme ergeben sie ein Daten-Meer, einen Datenozean an Information, von dem gar kein zu Theorien abstrahierbares Wissen mehr abgeleitet werden soll. Stattdessen wird der Informationsozean von Rechenmaschinen mittels deep-learningalgorithms nach Mustern durchforstet, die ein individuelles Risikoprofil zu errechnen erlauben, inklusive der Ansprechraten für alle vorhandenen Therapieoptionen. Die automatisch übermittelten Daten aus den Tracking-Devices, die Informationen, welche die Konsumenten laufend per App eingeben, die diagnostischen Informationen, welche ihre Ärzte hinzufügen, und das Weltwissen der biologisch-medizinisch-pharmazeutischen Forschung, das in den Datenbanken der Wissenschaft permanent aktualisiert wird, versprechen einen bisher nie dagewesenen, technisch erst in Ansätzen realisierten und dynamisch im Zeittricht, https://www.youtube.com/watch?v=F6kN3gFSnrI (letzter Zugriff 09. 12. 2017).
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verlauf stetig wachsenden, immer dichter werdenden Datenteppich. Dieser ebenso universelle wie individuelle Datenteppich kann mit allen anderen individuellen Datenspuren abgeglichen, auf bevorstehende Risiken untersucht und gleich schon im Vorgriff auf den möglichen Erfolg oder Misserfolg der zur Verfügung stehenden therapeutischen Interventionen hin geprüft werden. Und die raffinierte Pointe dabei ist, dass die Vorhersagekraft umso besser wird, je intensiver jede Klientin und alle Klienten gemeinsam mitmachen: Je mehr Partizipation, umso mehr Personalisierung; idealiter echte, individualisierte Medizin. Für einen an Foucault geschulten Medizinhistoriker belegt und bestätigt diese Vision der Präzisionsmedizin die These einer gegenwärtigen Verlagerung und Verlängerung der Biopolitik: An die Stelle der alten Regime ärztlicher Kontrolle und autoritärer Maßregelung treten neue Techniken einer Selbstüberwachung, in denen Ärzte die Funktion von Vollzugsgehilfen übernehmen zur flächendeckenden Durchsetzung eines Regimes der totalen Selbstüberwachung mittels modernster Datenverarbeitungstechnik – bis zu einem geschlossenen System der objektiven Perfektionierung des gelebten Lebens. 13 Weit im Vorfeld klinischer Interventionen träumt diese Präzisionsmedizin davon, dass Patienten nicht nur länger leben, sondern objektiv mehr Lebensqualität, also ein besseres Leben dadurch erlangen, dass sie sich zu beflissenen Befolgern permanenter Gesundheitstrainingsaufforderungen machen. Denn Prävention und Prädiktion können nicht früh genug einsetzen, und das Programm bleibt deshalb nicht auf Patienten beschränkt, sondern ist grundsätzlich für jeden gedacht. In diesem Szenario sind Menschen nicht mehr die passiven Opfer einer Medikalisierung, sie werden zu Lebensoptimierungssklaven ihrer selbst. Hier bleibt anscheinend nur noch zu fragen, wer daran verdient. Aber auch dafür liegt die Antwort schon auf der Hand, denn die pharmazeutische und die medizintechnische Industrie stehen mit ihren für die Produktion der geforderten Evidenz maßgeschneiderten Angeboten bereit, um Präzisionsmedizin zum Laufen zu bringen. Vor allem aber dürfte die neue Netz-Ökonomie der Treiber dieser Entwicklungen sein, weil dieser neue Wirtschaftszweig solche hochspeVgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität 2. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt a. M. 2006; vgl. Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007.
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ziellen und exakt individualisierten Daten, wie sie die Präzisionsmedizin für ihre Modellierungen und Simulationen benötigt und die sie ihren Klienten zum vermeintlich eigenen Nutzen entlockt, zum Ausschöpfen seines Wachstumspotenzials in vielen weiteren Bereichen benötigt. Ob bzw. wie sich diese Technik etablieren und durchsetzen wird, lässt sich noch nicht abschätzen, aber entsprechende Apps oder die Apple-Watch mit Gesundheitsfunktion erfreuen sich bereits heute erstaunlicher Beliebtheit. Hierfür dürfte das zweite Versprechen, mit dem die Präzisionsmedizin über die für das 20. Jahrhundert so charakteristische Kombination von Prävention und Prädiktion hinausgeht, verantwortlich sein: Personalisierung qua Partizipation. Was die Evidenz-basierte Medizin noch sorgfältig als internal und external evidence unterschieden hatte, 14 die in der individuellen ärztlichen Praxis bei einem Einzelfall in der Arzt-Patient-Beziehung erhobenen Befunde und das verfügbare medizinische Wissen, sind hier also bewusst zusammengefasst zu einem nahtlosen Datenteppich, der mit den neuesten Methoden programmierten Maschinenlernens nach Mustern durchsucht werden soll, ohne dabei auf die bereits bekannten Ursache-Wirkungsketten der Pathophysiologie beschränkt zu bleiben. Aufgrund einer nie dagewesenen Fülle medizinischer Informationen in publizierten Studien und Datenrepositorien, insbesondere aber auch durch freiwilliges Selbstmonitoring von immer mehr Betroffenen sollen IT-Systeme eine perfekte Parallelwelt zur virtuellen Testung und Evaluation sämtlicher zur Verfügung stehender therapeutischer Optionen entstehen lassen, in der nach noch gänzlich unbekannten und möglicherweise nur für den Einzelfall relevanten Zusammenhängen gefahndet werden kann. Die Pointe ist dabei, dass selbst Ärztinnen und Ärzte die Ergebnisse solcher Simulationen kaum angemessen werden prüfen können, weil diese ja strikt individuell erstellt wurden und dabei das im Medizinstudium vermittelte generalisierbare pathophysiologische Denken übersteigen. In der Vision zukünftiger Perfektionierung ist Präzisionsmedizin deshalb weniger Gegenstand ärztlichen Wissens als vielmehr Ergebnis autonomer Algorithmen, welche die Datenmeere nach verwertbaren Korrelationen durchforsten. Ärztinnen und Ärzte werden zu Schnittstellenmanagern und Beratern für ihre Patientin14 Vgl. David L. Sackett/W. Scott Richardson/William Rosenberg et al.: Evidencebased Medicine. How to Practice and Teach EBM, New York 1997.
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nen und Patienten in einer Welt perfektionierten Wissens, das dann buchstäblich höher ist als alle begrenzte menschliche Vernunft, wenn die intelligenten Systeme nicht mehr vom menschlichen Wissen abhängen. Wie immer diese Form von Medizin (vermutlich bereits in naher Zukunft) aussehen wird, bereits heute scheint festzustehen, dass sie mit der Medizin als akademischem Lehrgebiet und Fachwissenschaft in der jetzt bekannten Weise nur schlecht vereinbar sein und deshalb diese verändern wird. Denn die Präzisionsmedizin der Zukunft hat kaum Platz mehr für ÄrztInnen als Experten für den kranken Körper und als Vermittler zwischen der wissenschaftlichen Welt der Medizin und den individuellen Erfahrungswelten ihrer PatientInnen. Präzisionsmedizin perfektioniert Medizin zu einer vom handelnden Arzt emanzipierten Technik, die sich deshalb vielleicht tatsächlich auch leichter und offensiver einem betroffenen Menschen als Klienten zuwenden kann (wenigstens in ihrer privatwirtschaftlichen Unternehmensvariante). Künftig werden eine Ärztin und ein Arzt vermutlich mehr die Rolle einer Schnittstelle im Informationsmanagement übernehmen, die einen weitgehend reibungslosen Informationsaustausch zwischen Datenozean und Patientin ermöglichen soll, damit Präzisionsmedizin beim Klienten auch tatsächlich in der errechneten Weise ankommt. In dieser Zukunftsmedizin braucht es fortan vor allem Informationstechnik, Operationsroboter, Informatiker und Datenmanager – und vermutlich noch auf längere Zeit ärztlich oder medizinisch geschultes Personal als Dolmetscher und Begleittherapeuten, die dafür zuständig sind, Patienten mit dem System in Verbindung zu halten.
4.
Ent-Täuschung als Merkmal der gegenwärtigen Medizin
Die moderne Medizin verfügt anerkanntermaßen über ein erstaunliches Leistungsspektrum. Viele sind vermutlich froh, nicht mehr in einer Zeit zu leben, wo aufgrund einer altehrwürdigen Theorie so problematische Therapien wie der Aderlass mehr oder minder als Allheilmittel herhalten mussten. Gleiches gilt für die heute bereitstehenden diagnostischen Möglichkeiten, auf die man nicht leichtfertig wird verzichten wollen. Deshalb reicht das Paradox der Kritik an einer historisch beispiellos erfolgreichen Medizin tiefer als die Klage über Zeitnot und Anonymität bei ihrer Anwendung. Es berührt 69 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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die Verfassung der Medizin, rührt von ihrer Verfasstheit her. Nicht trotz ihres Könnens, sondern mit der Art und Weise ihres Könnens und Vorgehens provoziert und produziert sie offenbar Enttäuschungen. 15 Die Medizin ist selbst Teil des Problems, genauer: ihre Form von Wissenschaftlichkeit – das zeigen die drei historischen Fallbeispiele. Und die Zukunftsvision einer Präzisionsmedizin weckt begründete Sorgen, dass sich dies auch bei ihr nicht ändern wird. Die epistemologische Orientierung der Medizin zunächst an den Naturwissenschaften, dann an ihrer Wirksamkeit war historisch gesehen nicht nur der Motor ihrer Stärke, sondern wurde auch zur Quelle eines Vertrauensschwundes. Medizin ist ent-täuschend in der Ambivalenz dieses doppeldeutigen Worts. Einerseits beseitigt Medizin dank selbstkritischer Forschung Täuschungen und falsche Vorstellungen ganz im Sinne des alten Aufklärungsideals, aber mit dem auf diese Weise geprüften Wissen, mit ihrem Fokus auf kritisch evaluierte Therapieverfahren enttäuscht die Medizin aus systematischen und neuen Gründen. Medizinische Theorien sind Deutungen von Gesundheit und Krankheit, die an bestimmte Handlungsimperative gekoppelt sind, spezifische Interventionen legitimieren und provozieren. Das moderne Krankheitsverständnis stellt nicht nur einfach einen Erkenntnisfortschritt gegenüber früheren Zeiten dar, sondern ist immer auch eine Übersetzung im Kontext von Sinn-, Deutungs-, und Handlungszusammenhängen. Selbstverständlich behandelt die Medizin im konkreten Fall immer einzelne Menschen, selbst wo sie diese in Gruppen einschließt, aber das Wissen, das dafür die Leitlinien liefern, gilt strikt immer nur allgemein im Sinne der Anonymität wissenschaftlicher Erkenntnisse. Noch mit den Konzepten der Risikofaktoren und Prädispositionen plausibilisiert die wissenschaftliche Medizin nur, wie Besonderheiten eines Einzelfalles allgemein zu berücksichtigen sind. Deshalb findet die Medizin aufgrund ihrer Wissenschaftlichkeit keine Antwort auf die ebenso simple wie bohrende Frage Warum ich und warum gerade jetzt? Was damit in Frage steht, ist aber nicht einfach fehlendes Wissen, sondern die Perspektive einer angemessenen, d. h. immer subjektiven Bewältigung einer Erkrankung. Die oben skizzierten Fallvignetten mit ihrer Chronologie verschiedener Handlungstypen lassen als Tendenz erkennbar werden, Die folgenden Ausführungen greifen zurück auf Cornelius Borck: Medizinphilosophie zur Einführung, Hamburg 2016.
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70 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information
dass die Medizin aus guten Gründen ihrer jeweiligen Wissenschaftlichkeit und aufgrund ihrer Verpflichtung auf Objektivität mögliche Antworten auf diese Frage weitgehend ausgeschlossen hat, eben weil es keine Wissensfrage ist, sondern hier Hilfe zur Bewältigung des Krankseins gesucht wird. Aus der Perspektive der modernen Medizin gehört die Hilfe bei der individuellen Bewältigung einer Erkrankung zwar zu ihrem Handlungsauftrag, aber sie betrifft nicht ihren Erkenntniskern als Wissenschaft, sondern solche Fragen werden allenfalls als Problematik ihrer Anwendung behandelt. Vielmehr gehört die Einsicht in die grundsätzliche Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem einzelnen Schicksal zum aufklärerischen Ideal ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses. Ähnlich gelagerte Enttäuschungen provoziert Medizin mit ihrem Wissensfortschritt, wenn sie selbst auf scheinbar einfachste Sachfragen wie etwa nach der Art einer Erkrankung ihre Patienten mit der selbstgeschaffenen Unsicherheit einer überspezialisierten Diagnostik bedrängt. Dann können Patienten darüber klagen, dass sie von drei Ärzten fünf verschiedene Diagnosen bekommen haben. Für sie sieht es dann so aus, als ob die Medizin trotz ihrer raffinierten technischen Methoden eigentlich gar nichts weiß. Nun mag es tatsächlich gelegentlich Fälle geben, bei denen Ärzte miteinander in Streit liegen, denn auch solcher Streit gehört ja selbstverständlich zum Kern einer guten wissenschaftlichen Praxis. Aber weit öfter dürfte der Fall sein, dass solcher Streit aus der Ausdifferenzierung des medizinischen Wissens herrührt, also aus einem Zuviel an Wissen über einen Patienten. Aber wie soll man das einem gewöhnlichen Patienten mit gesundem Menschenverstand klarmachen? Zwischen Vertrauen und Wissenschaftlichkeit öffnet sich also nicht etwa deswegen eine Schere, weil wissenschaftliche Medizin noch nicht weit genug vorangekommen sei oder noch zu viele offene Fragen bestehen, sondern allein schon dadurch, dass Wissenschaft auch in der Medizin auf Ausdifferenzierung angelegt ist und zudem oft andere Fragen bearbeitet, als sie von denjenigen gestellt werden, für die sie da sein soll. Diese ambivalente, ja paradoxe Effektivität der wissenschaftlichen Medizin wird zusätzlich noch durch manche der zu ihrer Verbesserung ergriffenen Strategien weiter vergrößert. Hier wäre an erster Stelle die verbindliche Einführung umfassender Aufklärung im Sinne des Informed Consent zu nennen, die an sich sicher sinnvoll und wichtig ist, aber gelegentlich zu einer regelrecht systematischen 71 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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Verunsicherung der Patienten durch Mitteilung aller denkbaren mit einem Eingriff verbundenen Risiken führt. Man muss hier auch die EBM mit ihren Verfahren der Weiterentwicklung und Überprüfung medizinischer Maßnahmen hinzuzählen, mit denen selbst altbewährte therapeutische Verfahren auf ihre Tauglichkeit bzw. Effektivität hinterfragt und ein eben noch gepriesenes Medikament als schädlich oder einfach nur nutzlos überführt wird. Damit wird EBM zwar effektiver und auch im Einzelfall zuverlässiger, aber in der Praxis hat diese radikale Umstellung den Eindruck provoziert, diese Medizin wisse nun selbst offenbar nicht mehr, was eigentlich wirke. Vor diesem breit gefächerten Spektrum an enttäuschenden Faktoren aufgrund der Form der Wissenschaftlichkeit der bisherigen Medizin einschließlich der EBM scheint die Präzisionsmedizin eine steile Alternative anzubieten, wenn sie eine echte Individualisierung von Diagnose und Therapie in Aussicht stellt und dabei auch noch den Zeitverlauf der körperlichen, aber auch psycho-sozialen Entwicklung berücksichtigt: Denn damit würde – wenigstens in der Vision ihrer perfekten Realisierung – die bohrende Doppelfrage Warum ich und warum gerade jetzt? beantwortet. Ein beträchtlicher Teil der Faszination für dieses Projekt gerade in Kreisen der beteiligten Mediziner und Forscher dürfte tatsächlich auf dieses Potenzial zurückzuführen sein. Es ist der alte Traum, dass Wissenschaft nicht in grauer und abstrakter Theorie enden muss, sondern in der Wirklichkeit ankommt. Aber gleichwohl bleibt zu betonen, dass die Frage, wie eine schwere Krankheit angemessen bewältigt werden kann, allenfalls zum kleineren Teil eine medizinische Frage darstellt, weil sie auf den individuellen Lebensentwurf im Horizont der gelebten biographischen Deutungen zielt. Anhand der sich bereits heute abzeichnenden Tendenzen der Präzisionsmedizin scheint deshalb die Prognose wahrscheinlich, dass auch sie die Lücke nicht schließen wird: Schon heute führen die genetischen und epigenetischen Testmöglichkeiten zu einer immer weiter verfeinerten Stratifizierung betroffener Patientenkollektive in hochspezifische kleine Gruppen, im seltenen Einzelfall zu einer individuell angepassten Therapie. Aber selbst wenn damit die Frage Warum ich und warum gerade jetzt? wissenschaftlich beantwortbar scheint, bleibt die Aufgabe, die Erkrankung biographisch zu bewältigen. Deshalb ist es nur konsequent, wenn Firmen auf das partizipatorische Potenzial der Präzisionsmedizin setzen. Denn die neue Medizin wird die bereits bestehende Tendenz verstärken, grundsätzliche 72 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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Entscheidungsdilemmata an die Betroffenen zu delegieren – und man wird schwerlich bestreiten wollen, dass in demokratischen, modernen Gesellschaften die Betroffenen entscheiden sollen. Das gilt in Zukunft in noch viel stärkerem Maße, wenn das Wissen der medizinischen Informationssysteme tatsächlich einmal den Stand medizinisch-naturwissenschaftlicher Erklärbarkeit übersteigen sollte. Das ist bislang nur aus den Dystopien der Science Fiction bekannt, aber wohl selten zuvor wurde so offensichtlich, wie weit Erklären, Deuten und Optimieren auseinanderklaffen können.
5.
Was leistete eine Medizin, die noch nichts konnte?
Wenn sich die Herausforderungen in der Medizin nicht mehr entlang der bekannten Oppositionen von Wissenschaft versus Kunst, Naturwissenschaft versus Heilkunde, Ganzheitlichkeit versus Reduktionismus oder Psychosomatik versus Biologismus deklinieren lassen, weil die neuen Datenozeane völlig gleichgültig gegenüber solchen Unterscheidungen sind, dann gewinnen vergangene und fremde Heilkulturen ein neues Auskunftspotenzial. Denn in ihnen manifestiert sich ein Können diesseits solcher Dichotomien, das der biomedizinischen Praxis abhandengekommen ist. Dabei sind mit Können hier weder bestimmte Inhalte fremder Heilsysteme und vergangener Kulturen gemeint noch der jüngste alternativmedizinische Aberglauben, der gerade en vogue ist, und auch nicht das weitgehend verlorene Wissen um Heilpflanzen oder der im Regenwald vermutete Schatz an wirksamen Naturstoffen. Es geht nicht um die vermeintliche Tröstungsgewissheit einer bei uns weitgehend erschöpften Religion oder die (Gott sei Dank) verblasste Autorität von Ärzten als Halbgöttern-inWeiß. Ebenso wenig sind die unausgeloteten Potenziale von Psychoimmunologie und Neuroendokrinologie oder sonst einer neuesten Forschungsrichtung gemeint, sondern ganz allgemein und abstrakt das Können von Heilkundigen als Kulturtechnik. In Frage steht eine Kulturtechnik des Heilens, nicht das möglicherweise darin enthaltene naturheilkundliche oder psychosomatische Wissen und keine darin verkörperte Metaphysik oder blinder Gehorsam. Als Kulturtechniken leisteten medizinische Praktiken offenbar immer schon etwas, auch ohne dass sie in heutigem Sinne nachweisbar effizient waren, denn sonst hätten sie sich nicht als solche herausgebildet: Was leisteten medizinische Praktiken, bevor sie etwas (aus heutiger biomedizi73 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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nischer Sicht) konnten oder obwohl sie aus biomedizinischer Sicht nichts konnten? Hinter dieser Frage steht die Annahme, dass Heilpraktiken sich nur dann entwickeln, etablieren und stabil tradieren konnten, wenn sie ein bestimmtes Können verkörperten. Meine Ausgangsvermutung ist dabei, dass dieses Können der Biomedizin abhandengekommen ist, gerade weil sie so effektiv und effizient in Naturzusammenhänge interveniert und deshalb alles andere, was außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnisse liegt, die ihre Praxis legitimiert, abschattiert und vernachlässigt. Hier weiterzukommen verlangt offensichtlich ein umfangreiches und umfassendes Forschungsprogramm, in dem anhand konkreter, ethnographischer, medizinhistorischer und kulturwissenschaftlicher Studien lokal spezifizierte Antworten formuliert werden. Das kann hier nicht geleistet werden. Deshalb will ich mit vier Thesen schließen, die gewissermaßen als Rahmen eines zukünftigen Forschungsprogramms die bis hierher geführte Diskussion zusammenfassen.
6.
Thesen für ein neues Forschungsprogramm
6.1. Selbstbeschränkung der Heilkunde Medizin hat keineswegs für alle Gesundheitsstörungen zuständig zu sein. Die Prognose spielte z. B. in der antiken Medizin eine entscheidende Rolle bei der selbstkritischen Begrenzung ärztlichen Handelns. Sie war die entscheidende Voraussetzung für Professionalität, denn nur aus einer sicheren Abschätzung, ob sich im vorliegenden Falle die Selbstheilungskräfte der Natur günstig lenken und unterstützen ließen, konnte erfolgreich ärztlich gehandelt werden. Außerdem ließ sich ärztliche Expertise an einer zutreffenden Prognose eindrucksvoll unter Beweis stellen, und dieses Können war zwingend erforderlich, um keine aussichtslosen Fälle aus humanitären Gründen anzunehmen und damit den eigenen Ruf zu gefährden. Die Prognose als Fähigkeit zur Abschätzung, ob im vorliegenden Fall präventives und therapeutisches Handeln Aussicht auf Erfolg haben könnte, war also Ausdruck eines klugen Umgangs mit Unsicherheit angesichts eines begrenzten therapeutischen Könnens. »Resilienz« lautet dafür das Stichwort in aktuellen Diskussionen und meint ziemlich genau das Gegenteil von medizinischer Prävention. Resilienz wäre die Fähigkeit 74 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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eines Menschen, den individuellen biologischen und psychosozialen Möglichkeitsraum zur Verwirklichung seiner Lebensentwürfe zu nutzen. Diametral entgegengesetzt berechnet die Präzisionsmedizin den Lebensverlauf im Horizont der Normalwerte und individuellen Abweichungen. Inzwischen lässt sich medizinischen Verlaufsbeobachtungen und klinischen Studien vergleichsweise genau entnehmen, welche Aussichten auf Erfolg ein bestimmtes Therapieverfahren hat. Deshalb bestehen ärztliche Kunst und ethische Verpflichtung dem Selbstverständnis der heutigen Biomedizin nach gerade darin, keine noch so kleine Chance zur Vermeidung eines Risikos oder Verbesserung eines Schadens auszulassen. In einer wirkmächtigen und handlungsfokussierten Medizin wird kluges Abwarten allzu leicht zu schlecht legitimierbarem Zögern. Was in der medizinischen Praxis sich längst als problematische Maxime herausgestellt hat, soll in der präventiven Präzisionsmedizin in Zukunft zum Lebensmodell verallgemeinert werden.
6.2. Heilkunde offeriert aktivierende Deutungen Nachvollziehbare Erklärungen anstelle statistisch gesicherter Effizienzaussagen können ärztliche Entscheidungen im derzeitigen Paradigma der Medizin nicht begründen, aber so erläutern, dass sie Patienten wichtige Anhaltspunkte für plausible Selbstdeutungen liefern. Das verbindet eine auf naturwissenschaftlichen Erklärungen basierende Medizin mit vielen anderen Kulturtechniken des Heilens. Solche Deutungen können sich als falsch erweisen (im Unterschied zu den stets korrekten statistischen Aussagen der EBM). Aber ein solches Versagen der Deutung bleibt Teil der Heiler-Klient-Beziehung, kann also als Beziehungsarbeit verhandelt werden – wofür es in der Biomedizin mit dem Stichwort der »Compliance« allenfalls einen schlechten Platzhalter, aber buchstäblich kaum Spielraum gibt. Biomedizin und EBM geben kaum befriedigende, also die Patienten zur Krankheitsbewältigung anstiftende Antworten auf die bei ernsten Erkrankungen immer zentrale Frage Warum ich und warum gerade jetzt? Weil erst deutende Erklärungen das Scharnier zur biographischen Bewältigung ernster Erkrankungen und existenzieller Krankheitserfahrungen bilden, muss EBM zu einer Handlungswissenschaft erweitert werden (s. a. den Beitrag von Heiner Raspe in diesem Band). Eine schwierige Frage bleibt freilich, welche überzeugenden Deu75 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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tungsangebote heute im Horizont der EBM gemacht werden können. Wenn alternativmedizinische Angebote forsch allerlei Biomedizinisches mit populärem Gleichgewichtsdenken und allgemeinem Zuspruch verquirlen, zeigen sie damit auch die engen Grenzen möglicher Deutungsangebote auf. Aber eine Medizin ohne deutende Erklärungen wird zum Schiffbruch verurteilt sein, selbst wenn das Informationssystem in naher Zukunft perfekte Lösungen anbietet. Ihrem naturalistischen Selbstverständnis nach bietet EBM statistisch perfekte Beschreibungen, wo früher Scharlatane den Mitgliedern einer Gesellschaft »Märchen« auftischten, Priester angesichts menschlichen Leidens kaum mehr tun konnten, als den Gläubigen Trost zu spenden, oder ärztliche Experten mit ihrer Eloquenz beeindruckten. Alle diese Praktiken adressierten menschliche Bedürfnisse, und angesichts der Dominanz der EBM und der Richtigkeit ihrer Studien muss daran erinnert werden, dass solche Praktiken sicher nicht immer, aber doch gelegentlich als hilfreich empfunden wurden, während der Medizin heute vorgeworfen wird, dass sie die Kompetenz zum tröstenden Umgang mit menschlichem Leiden verloren habe und aufgrund ihrer Erfolgsorientierung trostlos geworden sei.
6.3. Professionelle Distanz bei persönlicher Zuwendung Der personale Kontakt zwischen Heiler und Klient mag hochgradig ritualisiert und durch Objekte strukturiert sein (wie auch die heutige Arzt-Patient-Beziehung), aber er schafft – unabhängig von allen medizinischen Erfolgen oder Misserfolgen – eine persönliche Beziehung zusammen mit einem entscheidenden Distanzgewinn. Gemeint ist dabei weniger Distanzgewinn seitens des professionellen Heilers als vielmehr der Distanzgewinn für den Betroffenen. Es ist ein Distanzgewinn vom »Absolutismus der Wirklichkeit«, um mit Hans Blumenberg zu sprechen. 16 Ein Absolutismus, in dem nichts anderes mehr gilt als die akute Situation, scheint geradezu exemplarisch Situationen schwerer Erkrankung zu charakterisieren, wenn Menschen
Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, besonders das erste Kapitel »Nach dem Absolutismus der Wirklichkeit«, S. 9–39; vgl. Odo Marquard: »Entlastung vom Absoluten. In memoriam Hans Blumenberg,« in: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz [Poetik und Hermeneutik Bd. 17], München 1998, S. XVII–XXVI.
16
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Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information
ihr Kranksein als so bedrohlich und belastend erleben, dass sie davon überwältigt werden. In der Typologie der Fallvignetten hatte schon die alte Medizin als distanzierendes Deutungsangebot die wissenschaftliche Erklärung gegen das persönliche Verschulden anzubieten. Auch die Biomedizin offeriert diesen Distanzgewinn nach dem Motto: »Nicht ich bin es, sondern es ist nur ein anonymes Körpergeschehen!« Wenn sich die dritte Vignette verallgemeinern lässt, scheint mit EBM dieser Distanzgewinn in Entfremdung umzuschlagen, wenn im Horizont der Studienergebnisse und statistischer Zahlen nicht mehr ausreichend Andockmöglichkeiten für Selbstdeutungen und biographische Narrative aufgefunden werden können. Im Vergleich dazu scheint Präzisionsmedizin ein so fein auf die konkrete Situation abgestimmtes und individuell justiertes Wissen anzubieten, dass Distanzierung gar nicht mehr vorgesehen ist.
6.4. Einsicht in Unsicherheit statt grenzenloses Wissen Das Versprechen der Medizin als datengetriebener Technowissenschaft geht auf grenzenlose Optimierung. Aber die Strategien eines präzisionsmedizinischen Dauermonitoring kollidieren mit der lebendigen Offenheit menschlichen Lebens bei gleichzeitiger Begrenztheit und Beschränktheit. Der Siegeszug der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Methoden in der Medizin hat dazu geführt, dass sich die Medizin vornehmlich als immer besser werdendes Problemlösungsunternehmen begreift. Weil die moderne Medizin bereits heute so viele therapeutische Optionen und Interventionsverfahren zur Hand hat, besteht die Welt für sie aus zu lösenden Problemen. Aber wenn menschliches Leben in ihr nur im Zeichen (bevorstehender) Krankheiten und diese wiederum nur als Normwertabweichungen vorkommen, verfehlt Medizin lebendiges Leben auf spezifische Weise. Hans Blumenberg hat das auf die Formel »Schiffbruch mit Zuschauer« gebracht: Wir sind Zeugen, wie sich die Welt um uns immer rasanter verändert, weil wir sie zu verstehen und zu beherrschen versuchen. 17 Seit mehreren hundert Jahren verändern Wissenschaft und Technik die menschliche Umwelt und die Welt insgesamt, indem sie permanent neues Wissen und neue Interventionsmöglichkeiten bereitHans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmethapher, Frankfurt a. M. 1979.
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stellen. Dementsprechend gehören künstlich gezeugtes und technisch manipuliertes Leben längst zum Alltag der Biowissenschaften. Ihre problematische Produktivität liegt nicht zuletzt darin, neue Wirklichkeiten zu eröffnen. Schiffbruch als Daseinsmetapher wird hier zum Modus einer Einsicht in die Grenzen des Erkennbaren und in die Komplexität der Welt. Es geht nicht darum, endlich einzusehen, dass wir mit Wissenschaft und Technik Schiffbruch erleiden werden; ganz im Gegenteil geht es darum, endlich den Schiffbruch und das Zeugesein dabei mit in die Reflexion über Wissenschaft, Medizin und Technik einzubeziehen. Selbstverständlich soll Medizin auch in Zukunft weiter besser werden, aber für einige der zur Zeit hervortretenden Probleme kann die Lösung nicht in optimierten medizinischen Interventionen liegen, sondern nur in einer veränderten Einstellung der Gesellschaft gegenüber diesen Optionen. Der Problemlösungsperfektionismus der Medizin braucht eine sorgfältige Aufklärung über sein Scheitern am endlichen, aber nicht normierbaren menschlichen Leben.
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II. Der Begriff der Medizin aus historischer Sicht
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Grenzen der Medizin? Kontinuität und Wandel der Heilkunde am Beispiel des historischen Umgangs mit Unheilbarkeit und Tod Daniel Schäfer
Abstract: Der folgende medizinhistorische Beitrag versucht, sich der schwierigen Frage nach dem Wesen der Medizin zu nähern, indem er in vier Schritten nach ihren Begrenzungen sucht. Bereits in der Etymologie des Wortes Medizin (1.) scheint eine Fokussierung und damit auch Abgrenzung (Definition) gegenüber anderen Begrifflichkeiten auf. Ferner könnte die Analyse medizinnaher Bereiche, in denen die Medizin nicht tätig ist oder war, von denen sie sich also abgrenzt, ex negativo exemplarische Aussagen darüber erlauben, was Medizin ausmacht. Hier bieten sich besonders solche Bereiche an, in denen historisch ein Wandel zu beobachten ist, also Grenzen sich verändert haben und damit leichter erkennbar sind. Eine in Vergangenheit und Gegenwart sehr wesentliche Grenze der Medizin war und ist ihr Umgang mit Unheilbarkeit sowie mit Sterben und Tod. Hier sollen zunächst (2.) vormoderne Konzepte einer verhältnismäßig strikten Meidung unheilbarer und sterbender Patienten in den Blick genommen werden, bevor (3.) die vielfältigen Annäherungen an den Tod seit der Frühen Neuzeit kursorisch vorgestellt werden. Abschließend (4.) soll überlegt werden, inwieweit das Ziel der Lebensverlängerung und letztlich die Utopie der Unsterblichkeit eine weitere Entgrenzung der Medizin erforderlich machen, sofern sich die Heilkunde diesen Themen nicht grundsätzlich verweigert.
1.
Terminologie: Was bedeutet medicina?
Die sprachliche Herleitung eines Begriffs diente in der Vormoderne häufig als Mittel, ihn inhaltlich näher zu bestimmen oder zumindest in einen Kontext zu stellen und damit semantisch aufzuladen. Am Ausgang der griechisch-römischen Antike (um 600) entstanden, bilden die Etymologien Isidors von Sevilla ein wesentliches Bindeglied zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Tradierung dieser Praktik. Formal grenzt Isidor medicina von den einfachen artes liberales ab, 81 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Daniel Schäfer
weil die Heilkunst deren Wissensinhalte voraussetze, und qualifiziert sie als secunda philosophia. 1 Den Begriff selbst leitet er von modus (lat. für »Maß«) ab 2 und bezieht dies konkret auf die Tugend der Mäßigung als wichtiger Voraussetzung für Gesundheit. Diese kreative Etymologie stimmt sogar mit modernen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen überein: In der Tat enthält medicina die (proto-)indoeuropäische Silbe *med- (»messen«); von diesem Wortstamm leiten sich Begriffe verschiedener moderner Sprachen ab, die sowohl auf quantitatives (»ab-messen«, abschätzen) als auch qualitatives Erkennen (»er-messen«, meditieren, einen Beschluss fassen, urteilen) und Handeln (»Maß-nahme«) abzielen. 3 Nähme man sich wie Isidor die kreative Freiheit und bezöge jedes dieser Wortfelder auf den Begriff medicina, so wäre das Wesen der Heilkunst in erster Linie durch (diagnostisches) Erkennen und (prognostisches) Beurteilen mit daraus folgenden therapeutischen Praktiken charakterisiert. Medizin erschiene demnach (aus spekulativ-etymologischer Sicht) als eine intellektuelle Verbindung äußerer (messbarer) Zustände mit gezielten Handlungskonsequenzen. Aufgrund dieser spekulativen Grundbestimmung als Kunst des (Er-)Messens scheint die Medizin außerdem essentiell mit Grenzziehungen in Verbindung zu stehen. Als ein Terminus (»Grenzstein«) schlechthin grenzt sie Dinge voneinander ab: Messend fokussiert sie auf Gegenstände, Tätigkeiten oder Personen und lässt demgegenüber anderes primär außer Acht. Gleichzeitig richtet sie als Grenz-Wissenschaft ihren Blick epochen- und kulturübergreifend auch auf Bereiche, die nicht ihrem genuinen Aufgabenbereich entsprechen: Sie fokussiert beispielsweise – zumindest in der europäischen Tradition – klar auf Krankheit und Leiden, reklamiert aber für sich auch Hygiene und Prävention (Erhaltung der Gesundheit); sie konzentriert sich auf Schäden des Körpers, dehnt den Bereich aber auch auf psychische Leiden aus (beispielsweise, indem sie diese materialisiert); sie konzentriert sich auf das bedrohte diesseitige Leben und meidet konsequent Aussagen zur Transzendenz, bemüht sich aber trotzdem um LebensVgl. Heinrich Schipperges: »Medizin, A. Westen (unter Einbezug der arabischen Medizin)«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München 1993, S. 452–459, hier S. 453; vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX, hg. v. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911, lib. IV 13 (ohne Seitenangabe). 2 Vgl. Ebd., lib. IV 2 (ohne Seiteangabe). 3 Vgl. Nach Heinrich Tischner: »Etymologie«, hhttp://www.heinrich-tischner.de/22sp/2wo/wort/alt/m/mez.htmi (letzter Zugriff 27. 10. 17). 1
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verlängerung und indirekt auch um eine Überwindung des Todes (siehe unten). Abgeleitet von diesen sprachlichen und fachlichen Beobachtungen möchte ich als Hypothese formulieren, dass Medizin als begrenzte und abgrenzende Heilkunst primär auf Heilung und Leidenslinderung abzielt, durch ihr Handeln aber unaufhörlich Leben verlängert und dadurch den Eintritt des Todes, dieser wichtigsten Grenze medizinischer Tätigkeit, verschiebt. Und wie auch andere Grenzen der Medizin 4 in einem historischen und kulturellen Kontext von Möglichkeiten und Erwartungen verortet und daher variabel sind, so ist auch die Grenze zwischen Leben und Tod in der Medizin keine absolute, sondern verändert sich in Abhängigkeit von ihrem Umfeld.
2.
Grenzen der vormodernen Medizin
Eine weitere Definition aus der Vormoderne, allerdings 1000 Jahre nach Isidor von Sevilla entstanden, formulierte der flämische Arzt und Chemiker Steven Blankaart (1650–1704), und auch sie enthält zumindest auf den zweiten Blick Grenzziehungen. Blankaarts Lexicon medicum graeco-latinum (1679) zufolge ist »medicina […] ars naturae ministra, per convenientia remedia, quantum possibile est, faciendi sanitatem in corpore humano« (»eine der Natur dienende Kunst, durch angemessene Heilmittel, soweit es möglich ist, im menschlichen Körper Gesundheit zu bewirken« 5). Blankaart greift zu Beginn dieser Festlegung den kulturgeschichtlich weit zurückreichenden Gegensatz zwischen Natur und Kunst auf. Das Adjektiv ministra vermittelt zwischen diesen Antipoden und weist der Medizin zugleich (ebenfalls traditionell) einen untergeordneten Rang zu: Medizin unterstützt die Natur; sie pflegt, aber die Natur heilt. 6 Der Übersicht zu diesem Thema bei Renate Wittern: Grenzen der Heilkunst – eine historische Betrachtung, Gerlingen 1982. 5 Stephanus Blancardus: Lexicon medicum. Mit einem Vorwort von Karl-Heinz Weimann, Hildesheim 1973 [Nachdruck der Ausgabe Jena 1683], S. 308 (deutsche Übertragung des Zitats von DS). 6 Vgl. das in der Frühen Neuzeit weit verbreitete Sprichwort medicus curat, natura sanat; frei nach einem Aphorismus im Corpus Hippocraticum, Epidemien VI 5.1: »Die Naturen sind die Ärzte der Krankheiten« – nousōn physeis ietroi; ed. É. Littré, Oevres complètes d’Hippocrate, Bd. 5, Paris 1846 (Reprint Amsterdam 1962), S. 314. 4
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Bezug zur Natur als übergeordnetem und häufig personifiziertem Subjekt des Heilens ist also essentiell für die Tätigkeit der vormodernen Medizin. In diesem Denksystem ist es nicht verwunderlich, dass zwei Gegenspieler der Natur auch die entscheidenden Gegner der Medizin sind: (1.) natura (physis) im Sinne von Lebens- oder Wuchskraft steht in Antithese zu mors bzw. thánatos, dem Tod. 7 (2.) natura als »Heilkraft« ist auch unmittelbare Gegenspielerin zur Krankheit, nach vormoderner Fachterminologie einer »nicht-natürlichen Sache« (res praeter/contra naturam). 8 Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Abgrenzung ist es nun gut verständlich, dass vormoderne Medizin zwar gegen Krankheit vorging, indem sie die Natur unterstützte, sich gleichzeitig aber von Schwerkranken und Sterbenden, denen sie bzw. die Natur nicht helfen konnte, häufig abgrenzte. 9 Diese aus heutiger Sicht zunächst schwer verständliche Haltung erklärt sich auch aus dem zeithistorischen Kontext: Selbst wenn sie im Dienst einer Stadt oder eines Fürsten arbeiteten, waren vormoderne Ärzte unmittelbar von ihrem beruflichen Erfolg abhängig; die frustrane Behandlung unheilbarer Patienten galt daher als rufschädigend und außerdem für die Therapeuten gefährlich, weil sie bei einem negativen Ergebnis womöglich von Angehörigen der Patienten bedroht oder verfolgt wurden. Ferner war eine Fortsetzung der Therapie bis zum Ableben ethisch umstritten, weil sie Ärzte dem Vorwurf aussetzte, habgierig zu sein und zugleich anderen Patienten die meist knappen personellen Ressourcen zu entziehen. Außerdem war die Behandlung von Schwerkranken angesichts der geringen therapeutischen Möglichkeiten de facto wenig hilfreich; studierte Ärzte hatten teilweise den Ruf, nolens volens Helfer des Diesen Gegensatz greift auch die vierte Strophe der bekannten hochmittelalterlichen Sequenz Dies irae, dies illa auf: mors stupebit et natura (»Der Tod wird staunen, und das Leben«). Die Autorschaft der Sequenz ist unklar, möglicherweise stammt sie von Thomas von Celano. 8 Wolfram Schmitt: »res praeter naturam«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1997, S. 752. 9 Zum Thema vgl. Renate Wittern: »Die Unterlassung ärztlicher Hilfeleistung in der griechischen Medizin der klassischen Zeit«, Münchner Medizinische Wochenschrift 121 (1979), S. 731–734; dies., Grenzen der Heilkunst, Gerlingen 1982, S. 10–16; Klaus Peter Pohl: Unheilbar Kranker und Sterbender: Problemfälle ärztlicher Deontologie. Stellungnahmen aus dem 18. Jahrhundert und ihre historischen Voraussetzungen, Diss. med. Münster 1982; Klaus Bergdolt: Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München 2004, S. 39–41. 7
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Todes zu sein und auch sich selbst nicht vor dem Tod schützen zu können. 10 Zudem war eine Betreuung Sterbender im vormodernen Europa eindeutig Aufgabe des Klerus (»Arzt der Seele«), gegenüber dem die »Ärzte des Leibes« vom Sterbebett zurücktreten sollten. 11 Um über die Nicht-Aufnahme einer Behandlung bzw. den Rückzug vom Krankenbett rechtzeitig entscheiden zu können, pflegten vormoderne Ärzte daher neben einer ausgefeilten prognostischen Krankheits-Zeichenlehre (signa mortis) 12 die Kunst der Blick-Prognose: Beispielsweise versuchten sie mithilfe der Facies Hippocratica, dieser Beschreibung des Gesichts eines Sterbenden in der Schrift Prognostikon, mit einem Blick zunächst ohne weitere Kontaktaufnahme zum Patienten seinen Zustand einzuschätzen, um zu einer raschen Entscheidung zu gelangen. 13
3.
Annäherungen an den Tod seit der Frühen Neuzeit
Vor und während des Übergangs zur Moderne veränderten sich zahlreiche Parameter, die für die bisherige Distanz zwischen Medizin und Tod ursächlich gewesen waren. Professionsgeschichtlich änderten sich zunächst langsam und ab der Mitte des 19. Jahrhunderts rapide Organisationsgrad und gesundheitspolitisches Engagement der Ärzteschaft. Mit den therapeutischen Möglichkeiten (v. a. durch naturwissenschaftliche Methoden und zunehmende Forschungsmöglichkeiten im sich etablierenden Krankenhaus erworben) wuchs auch das Ansehen des Ärztestandes in der Gesellschaft und damit die Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und neue Tätigkeitsfelder zu besetzen (z. B. Medikalisierung der Geburt, aber auch des Todes). Ideengeschichtlich wandelte sich – parallel zum Prozess ihrer Ausführlichere Darstellung der verschiedenen Argumente mit Quellenbelegen bei Daniel Schäfer: Der Tod und die Medizin. Kurze Geschichte einer Annäherung, Heidelberg 2015, S. 58 f., 96–104, 110–112. 11 Berthold von Regensburg: »Von des libes siechtuom unde der sele tode«, in: ders.: Vollständige Ausgabe seiner Predigten, hg. v. Franz Pfeiffer, Bd. 1, Wien 1862, S. 505–519. 12 Vgl. Daniel Schäfer, »Signa mortis. Antike Vorgaben und spätmittelalterliche Ausprägungen«, Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 16 (1997), S. 5–13. 13 »Prognostikon«, cap. 2, in: Hippokrates: Ausgewählte Schriften, hg. v. Hans Diller, Stuttgart 1994, S. 81. 10
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Daniel Schäfer
zunehmenden Erforschung – das Verständnis von Natur: Zunehmend erschien sie aus Sicht von Wissenschaft und Medizin nicht mehr als handelndes Subjekt, das Leben, Heilung und Vollkommenheit repräsentiert oder zumindest darauf hinwirkt, sondern als zu beherrschendes Objekt, das auch fehlerhaft sein kann und insofern korrigiert werden muss. Krankheit wurde deshalb zunehmend (bereits ab 1650) nicht mehr als widernatürlicher Prozess, sondern als Teil der Natur betrachtet, die ihrerseits pathologische Züge (besonders bei Alterungs- und Sterbevorgängen) annehmen kann. 14 Dieser Wandel im Naturverständnis wurde innerhalb der Medizin um 1800 durchaus auch kritisch gesehen: Der wirkungsmächtige Arzt und Publizist Christoph Wilhelm Hufeland forderte, dass die Heilkunst nicht magister, sondern weiterhin minister naturae sein solle, also nicht ihr Lehrer oder Meister, sondern ihr Diener. 15 Doch eine solche Haltung war und ist der modernen biomedizinischen Forschung, die u. a. aus methodischen Gründen eher überindividuelle Krankheiten als individuelle Patienten im Fokus hat, weitgehend fremd. Der Tod ist für sie kein natürliches Phänomen, sondern stets Folge einer zu benennenden Krankheit oder Störung. Vor diesem sich wandelnden professions- und ideengeschichtlichen Hintergrund änderte sich sukzessive auch der ärztliche Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden. Einen wesentlichen Anstoß dazu lieferte bereits im frühen 17. Jahrhundert der sehr an Medizin interessierte englische Philosoph Francis Bacon. In seinem fundamentalen Werk De dignitate et augmentis scientiarum (1623) forderte er u. a. von der Medizin, die euthanasia exterior (»äußere«, leibliche Sterbebegleitung als Gegenstück zur »inneren« SterbeseelAusführlich dazu Daniel Schäfer: »Krankheit und Natur. Historische Anmerkungen zu einem aktuellen Thema«, in: Markus Rothhaar/Andreas Frewer (Hg.), Das Gesunde, das Kranke und die Medizinethik. Moralische Implikationen des Krankheitsbegriffs, Stuttgart 2012, S. 15–31 (Geschichte und Philosophie der Medizin, Bd. 12). 15 »Immer ist’s also die Natur und nicht die Kunst, die die Krankheiten heilt, und die Medizin non est magister, sed minister naturae.« (Christoph Wilhelm Hufeland: »Rechenschaft an das Publikum über mein Verhältniss zum Brownianismus«, Journal der practischen Heilkunde 32 (1811), S. 3–29, hier S. 20) – Demgegenüber verhöhnt Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, in der vierten Auflage seines zentralen Lehrwerks die »Allopathie der alten Schule«, weil ihre Anhänger als »ministri naturae« mit ihren ableitenden Heilverfahren dieser »rohen, verstandlosen, automatischen Lebens-Energie« Unterstützung leisten wollten (Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunde, Dresden/Leipzig 41829, S. 39, 33 f.). 14
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sorge) als ihre wesentliche Aufgabe zu begreifen. 16 Solche Sterbebegleitung wurde in der Folgezeit von der Medizin – zunächst bei höheren Ständen – auch zunehmend durchgeführt; im 18. und frühen 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche Abhandlungen zu diesem Thema. 17 Auch auf theoretischem Gebiet näherte man sich dem Tod an: Anatomisches Wissen wurde seit dem 16. Jahrhundert hauptsächlich an Leichen gewonnen. Die Frage nach den (patho-) physiologischen Vorgängen beim Sterben interessierte Ärzte seit dem 17. Jahrhundert, nachdem wiederum Francis Bacon über »Vorhöfe des Todes« (atriola mortis), also typische präfinale Einschränkungen der Lebensvorgänge im Gehirn, spekuliert hatte. 18 Im 18. Jahrhundert beschrieb der Arzt und Physiologe Albrecht von Haller hingegen die erlöschende Erregbarkeit (Irritabilität) des Herzmuskels als letztes Lebenszeichen des Organismus. 19 Beide (kardio- und enzephalozentrische) Erklärungsmodelle, die übrigens eine lange, in der griechischen Antike wurzelnde Tradition haben, kombinierte der Hamburger Arzt Johann August Unzer 1771 in seiner Darstellung des »sinnlichen Todes«, der entweder durch ein Sistieren von Herz- und Blutkreislauf oder durch ein Erlöschen der Funktion von Gehirn und Nerventätigkeit verursacht werde; das jeweils andere Organsystem folge kurz darauf. Dieses Konzept eines differenzierten, prinzipiell heterochronen Todes erweiterte Unzer noch, indem er annahm, dass dem »sinnlichen Tod«, der mit dem Verlust der Sinneswahrnehmung einhergehe, mitunter ein »geistiger Tod« (in moderner Terminologie: ein dementieller Abbau) vorangehe und ein »vollständiger Tod« mit dem Sistieren der »unbeseelten« Lebensvorgänge (Wachstum, Ver-
Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum, London 1623, S. 201. Vgl. Udo Benzenhöfer: Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen 2009, S. 54–68; Michael Stolberg: Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute, Frankfurt a. M. 2011, S. 43–67. 18 Francis Bacon, »Historia vitae et mortis«, in: ders., The Great Instauration, Part III, The Oxford Francis Bacon, vol. 12, ed. Graham Rees, Oxford 2007, S. 328–336. – Zur Entwicklung der naturphilosophischen und medizinischen Todesvorstellungen ausführlich Daniel Schäfer: »Quid sit mors: Medizinische Todesdefinitionen im frühneuzeitlichen Gelehrtendiskurs«, in: Herbert Jaumann/Gideon Stiening (Hg.), Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin 2016, S. 701– 737. 19 Albrecht von Haller: Elementa physiologiae corporis humani. Editio secunda aucta et emendata, Bd. 8, Lausanne 1778, S. 121 f. (lib. XXX, § XXII). 16 17
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dauung) nachfolge. 20 Knapp 200 Jahre vor der Einführung des Hirntod-Kriteriums für die Todesfeststellung auf Vorschlag eines Ad-hocKomitees der Harvard Medical School (1968) markiert diese wenig bekannte Darstellung Unzers einen Einschnitt in der medizinisch-naturwissenschaftlichen Vorstellung vom Tod: Statt eines Moments (z. B. naturphilosophisch als Trennung von Körper und Seele beschrieben) wurde nun ein mehrstufiger Prozess angenommen. Wohl nicht zufällig entwickelte sich parallel zu diesen Forschungen ein öffentlicher Diskurs über die Möglichkeit, scheintot begraben zu werden: Der Eintritt eines mehrstufig gedachten und daher womöglich umkehrbaren Todes war keine einfach festzustellende Tatsache mehr. Berichte über Scheintod-Ereignisse in Europa wurden 1742 von dem französischen Arzt Jacques-Jean Bruhier d’Ablaincourt gesammelt und zusammen mit Forschungen über die Unsicherheit aller bekannten Todeszeichen (mit Ausnahme der Fäulnis) veröffentlicht. Als Folge dieser und weiterer Skandalisierungen wurden in aufgeklärten Staaten Verordnungen oder Gesetze erlassen, die die Todesfeststellung erstmals regelten, eine Mindestzeit bis zur Beerdigung vorschrieben, den Bau von Leichenhäusern und -hallen förderten (z. B. Weimar 1792) und zunehmend Ärzten als Experten die Leichenschau und die Ausstellung der sukzessive gesetzlich vorgeschriebenen Totenscheine übertrugen. 21 In der Folgezeit gab es viele Versuche, die Todesfeststellung sicher(er) zu machen; am nachhaltigsten wirkte der gezielte Einsatz des 1817 eingeführten Stethoskops zur perimortalen Überprüfung von Herztätigkeit und Atmung, anstelle wie bisher nur den peripheren Puls und Bewegungen der Brust zu ertasten (Bouchut 1846). 22 Im 20. Jahrhundert folgte die einschlägige Nutzung von EKG (1911) und EEG (1941) zur Todesdiagnose. Zur Feststellung des Hirntods Johann August Unzer, Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper, Leipzig 1771, S. 711–734 (§§ 703–728). 21 Jacques-Jean Bruhier d’Ablaincourt: Dissertation sur l’incertitude des signes de la mort […] par M. Jacques Benigne-Winslow [lat. Verfasser] traduite et commentée par Jacques-Jean Bruhier, Paris 1742; Christoph Wilhelm Hufeland: Über die Ungewissheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel, sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen und das Lebendig begraben unmöglich zu machen, nebst der Nachricht von der Errichtung eines Leichenhauses in Weimar, Weimar 1791. Zur medizinischen Scheintod-Debatte vgl. Martin S. Pernick: »Back from the grave: Recurring controversies over defining and diagnosing death in history«, in: Richard M. Zaner (Hg.), Death beyond whole-brain criteria, Dordrecht 1988, S. 17–74. 22 Nach Pernick: Back from the grave, a. a. O., S. 38. 20
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bei Beatmungspatienten werden in den letzten Jahrzehnten neben klinischen Tests auch die zerebrale Angiographie und weitere apparative Verfahren eingesetzt. In jedem Fall ist bis heute die ärztliche Feststellung des Todes Voraussetzung für den weiteren Umgang mit der Leiche (Transplantation, Obduktion, Freigabe zur Bestattung). Der Bezug der Medizin zur Leiche, der durch den Auftrag zur Todesfeststellung seit Ende des 18. Jahrhunderts stetig wuchs, führte zunächst nicht zu einer Vertiefung bereits vorhandener Ansätze einer palliativen Sterbebegleitung (siehe oben). Vielmehr überließ die Heilkunde die letztere Aufgabe ab Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend der (konfessionellen) Pflege und sah ihren Auftrag stattdessen in einem Kampf gegen den Tod bis zur letzten Minute. Angesichts neuer therapeutischer Möglichkeiten, die nicht selten an Moribunden erprobt wurden, durften die Patienten bis zuletzt nicht aufgeben. Auch deshalb nahmen Ärzte an der seit 1870 entflammten Debatte um Euthanasie (jetzt im modernen Sinne der Tötung eines Kranken auf dessen Wunsch hin oder ohne diesen Wunsch) kaum teil, 23 sondern verwiesen auf das einschlägige Verbot im Hippokratischen Eid, auf die Unsicherheit jeglicher Todesprognose und auf ihre Verpflichtung, allein dem Leben zu helfen. Die konträren Einstellungen und Handlungsweisen im Umgang mit Sterbenden finden sich beispielsweise in Thomas Manns Roman Buddenbrooks (1901) anlässlich der Schilderungen des Sterbens von Johann B. zu Beginn und der Konsulin B. am Ende des 19. Jahrhunderts eindrücklich in Szene gesetzt. 24 Die »Wiederentdeckung« der Palliativmedizin und insbesondere der ärztlichen Sterbebegleitung in den 1970er Jahren lässt sich hauptsächlich als Folge wachsender gesellschaftlicher Kritik an den Umständen des Sterbens im Krankenhaus verstehen. Dort ereignete sich bereits zu dieser Zeit in westlichen Staaten mehr als die Hälfte der Todesfälle, nicht selten nach längeren, häufig als qualvoll interpretierten Sterbeprozessen in sozialer Isolation. Wachsende Teile der mittlerweile an Symptomkontrolle gewöhnten Gesellschaft akzeptierten solche »Kollateralschäden« des medizinischen Fortschritts im Kampf gegen den Tod nicht mehr und idealisierten demgegenüber (z. B. in der Hospizbewegung) den »guten Tod«: ein möglichst schmerzloses, Vgl. Isaac van der Sluis: »The movement for euthanasia 1875–1975«, Janus 66 (1979), S. 131–172. 24 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Berlin 1909, S. 70 (Kap. II 4) und S. 545 (Kap. IX 1). 23
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Daniel Schäfer
»humanes« Sterben außerhalb von anonymen Institutionen mit möglichst geringer und dennoch wirksamer medizinischer Assistenz. Die zunehmende Delegierung dieser Bedürfnisse an Palliativ-Spezialisten ermöglicht es der heutigen Notfall- und Intensivmedizin, weiterhin an den kurativen Zielen der Heilkunde festzuhalten und die therapeutischen Grenzen (z. B. bei der Reanimation klinisch toter Patienten, aber auch in den Bereichen der Organtransplantation oder der Frühgeborenenmedizin) immer weiter zu verschieben: Im pluralistischen Zeitalter zeigt sich also auch ein Pluralismus der medizinischen Grenzen. Als Teil der anti-paternalistischen Bürgerrechtsbewegung reformierte sich ferner fast zeitgleich eine internationale Right-to-die-Bewegung, die ausgehend von extremen Verläufen (z. B. mehrjährige therapeutische und pflegerische Betreuung von komatösen Patienten) das Recht forderte, über medizinische Maßnahmen am Ende des Lebens selbst im Voraus verfügen zu dürfen. Die eindrückliche Forderung nach Therapiebegrenzung am Ende des Lebens, teilweise auch nach Tötung auf Verlangen und assistiertem Suizid, verunsichert viele Ärztinnen und Ärzte in ihrem bis dato wenig reflektierten Selbstverständnis, stets bis zuletzt für das Leben zu kämpfen und diesbezüglich auch für ihre Patientinnen und Patienten entscheiden zu können. Gleichzeitig öffnet es auch den Raum für neue ärztliche Rollen am Sterbebett und führt diesbezüglich zu einer Erweiterung und Diversifizierung der Medikalisierung des Sterbens.
4.
Lebensverlängerung und Unsterblichkeit als Ziele der Medizin?
Auch wenn Ärzte gelegentlich ihre Kunst als »ewig« apostrophieren: 25 Die Endlichkeit des Lebens war und ist bislang eine Primärerfahrung der praktischen Medizin. Auch aus heutiger Sicht sind lediglich niedrig differenzierte Einzeller (z. B. Bakterien, aber auch zu Krebszellen mutierte Körperzellen) und einige Mehrzeller (z. B. Süß-
Vgl. Wilhelm Doerr: »Ars longa, vita brevis. Von den wirklichen Aufgaben des Studiums der Heilkunde«, in: ders., Ars longa, vita brevis: Problemgeschichte kritischer Fragen II, Heidelberg 2013, S. 1–10. Zum Thema Unsterblichkeit in der Medizin ausführlicher Daniel Schäfer: »Vita brevis – ars longa. Endlichkeit und Ewigkeit in medizin(histor)ischer Perspektive«, Hermeneutische Blätter 1 (2016), S. 110–122.
25
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wasserpolypen) durch Regeneration, Teilung und Sprossung potentiell unsterblich. Obwohl sie also regelmäßig von der mors certa ausgehen, verweigern viele Ärzte von der Antike bis zur Gegenwart gleichwohl eine Festlegung, wie lang menschliches Leben individuell oder generell dauern könne: Dies sei nämlich u. a. abhängig von den eingesetzten medizinischen Möglichkeiten. Allerdings war es in der Vormoderne, in der die Länge des Lebens häufig religiös oder philosophisch determiniert wurde, noch schwierig, von einer Lebensverlängerung durch die Medizin zu sprechen. Der Heilkunde waren dadurch formal engere Grenzen gesetzt als heute. Der Arzt und Philosoph Maimonides (1135–1204) beispielsweise argumentierte deshalb in seinem Responsum defensiv, dass Krankheiten regelmäßig die (vorherbestimmte) Lebenszeit verkürzten und deshalb ein medizinisches Handeln gegen den drohenden Tod gerechtfertigt sei. 26 Die Medizingeschichte kennt gleichwohl auch zahlreiche Spekulationen über Lebensverlängerung und Verjüngung seit der griechischrömischen Antike, oft von medizinischen Außenseitern (z. B. Paracelsus) oder Laien (z. B. Francis Bacon) hervorgebracht oder vertreten. 27 Ein ähnlich spekulatives Verfahren der Gegenwart ist beispielsweise die seit den 1970er Jahren angebotene Kryonik: Ihre transhumanistischen Anhänger gehen davon aus, dass zukünftige Fortschritte von Wissenschaft und Technik auch einen bereits eingetretenen Tod sowie dessen Ursachen und die Schäden, die unvermeidlich durch das Einfrieren der Leiche entstehen, rückgängig werden machen können; durch einen vorübergehenden Stopp aller Lebensvorgänge sowie durch spätere Reanimation und Reparatur soll also zumindest eine nachhaltige Lebensverlängerung erreicht werden. 28 Wesentlich realistischer und seit vielen Jahren erprobt ist eine andere Strategie der praktischen Medizin, dem Ziel der Unsterblichkeit näher zu kommen: Sie erkennt weiterhin die Grenze des Todes Vgl. Moses Maimonides: Über die Lebensdauer. Ein unediertes Responsum, hg. u. übers. v. Gotthold Weil, Basel/New York 1953. 27 Vgl. Daniel Schäfer: »Auf der Suche nach der Überwindung des Todes. Medizinische Spekulationen im kulturellen Kontext«, in: Annette Hilt/Isabella Jordan/Andreas Frewer (Hg.), Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit, Stuttgart 2010, S. 19– 32 (Ars moriendi nova 1). 28 Vgl. die wissenschaftlichen Beiträge zur Kryonik von Oliver Krüger, Klaus H. Sames, Jens Lohmeier und Stefanie Krüger, in: Dominik Groß/Brigitte Tag/Christoph Schweikhardt (Hg.), Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod, Frankfurt a. M. 2011, S. 249–329. 26
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Daniel Schäfer
prinzipiell an, ersetzt sie aber implizit durch untergeordnete Limitierungen des Lebens, gegen die sie inzwischen therapeutisch vorgehen kann. Ein früher tödliches Nierenversagen kann beispielsweise durch Dialyse überbrückt oder auch für längere Zeit kompensiert werden. Dieses Prinzip gilt im Grunde auch für Alterungsvorgänge: Zwar kann der Organismus als Ganzes nicht verjüngt werden, aber beispielsweise können durch Implantationen und Transplantationen einzelne Organe ersetzt werden, mit der Folge einer partiellen Verjüngung. Auf diese Weise wird die Utopie der Unsterblichkeit partikularisiert oder umgekehrt, wie es Zygmunt Bauman formulierte, Mortalität dekonstruiert: Klinische Medizin ziele darauf ab, »to dissolve the issue of the struggle against death in an ever growing and never exhausted set of battles against particular diseases and other threats to life« 29. Daher kämpft auch seriöses Anti-Ageing nur indirekt gegen die Seneszenz, indem zahlreiche Alterserscheinungen und -krankheiten identifiziert, medikalisiert, pathologisiert und therapiert werden. Ähnlich partikulare Strategien verfolgt die biomedizinische Forschung: Genetische (nicht: individuelle) Unsterblichkeit kann bereits heute erreicht werden, indem man anstelle eines ganzen Körpers seine Gameten kryokonserviert und bei Bedarf durch reproduktives Klonen biotechnologisch einen hinsichtlich der Erbanlagen identischen Organismus herstellt. Dementsprechend werden auf zellulärer Ebene unterschiedliche molekularbiologische Faktoren der Zellalterung und -apoptose entschlüsselt, die einen Einfluss auf das Überleben der Einzelzelle haben und damit theoretisch auch die Lebensdauer von Zellverbänden und ganzen Organismen beeinflussen können. Eine Anwendbarkeit dieser gerontologischen Forschung in der klinischen Praxis ist allerdings noch unabsehbar. Insgesamt lässt sich festhalten, dass innerhalb der Naturwissenschaft und der davon beeinflussten biomedizinischen Grundlagenforschung die Sterblichkeit kein festes Attribut des Lebens mehr bildet. In der klinischen und ambulanten Patientenversorgung spielen diese Überlegungen bislang allerdings kaum eine Rolle; hier ist bis zur Gegenwart die mors certa Ausgangs- und Zielpunkt der Heilkunde und die hora incerta eine ihrer wichtigsten Motivationen geblieben. Dass auf dem Umweg über die dekonstruierte Mortalität dennoch Grenzen Zygmunt Bauman: Mortality, Immortality and Other Life Strategies, Cambridge 1992, S. 10.
29
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Grenzen der Medizin?
der Unsterblichkeit in den Blick geraten, bleibt der praktischen Medizin weitgehend unbewusst.
5.
Resümee
Im vorliegenden Beitrag wurde versucht, das Wesen der Medizin durch die Analyse einiger ihrer Grenzen näher zu bestimmen. Dabei wurde deutlich, dass diese Grenzen im historischen Kontext bemerkenswert variabel sind, möglicherweise in Abhängigkeit vom Naturverständnis, von den therapeutischen Möglichkeiten, dem Grad der Professionalisierung, dem gesellschaftlichen Auftrag an die Heilkunde und natürlich von ihrem religiösen und kulturellen Umfeld. Eine besondere Grenze der Medizin ist der Tod ihrer Patienten: Einerseits begrenzt er therapeutisches Handeln, andererseits bildet das potentielle Sterben genau dafür einen wesentlichen Antrieb. Grenzerweiterungen in diesem Bereich waren lange Zeit unerwünscht, ja sogar tabuisiert: Im altgriechischen Mythos trifft der Blitzstrahl des Zeus den späteren Heilgott Asklepios, als er es wagt, einen Sterbenden oder Toten wieder zum Leben zu erwecken. Der Dichter Pindar kommentiert diese Szene mit einer doppelten Aufforderung, die dem Selbstverständnis der damaligen Medizin entsprechen könnte: »Streb nicht, meine Seele, nach Leben ohne Tod, [aber] die Handlungsmöglichkeit schöpf aus«. 30 Ein Blick auf die Gegenwart zeigt, wie sehr diese Ausschöpfung der Handlungsmöglichkeiten das Selbstverständnis beeinflusst hat: Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gehört die Reanimation zum klinischen Alltag, und im 21. verbreiten sich vollautomatisierte Defibrillatoren im öffentlichen Raum. Dieser dramatische Wandel in Medizin und Gesellschaft offenbart beispielhaft, wie variabel die Heilkunde erscheint, agiert und argumentiert, wenn es um Bewahrung oder Erweiterung ihrer Grenzen geht. Es ist zu erwarten, dass dies auch für die heute noch unüberwindlich erscheinende Grenze der Sterblichkeit gilt, die schon jetzt durch die sukzessiven Strategien einer »Dekonstruktion der Mortalität« angegangen wird. Angesichts dieser variablen Grenzen der Medizin, die konsekutiv auch einen Teil ihres Wesens ausmacht, stellt sich verschärft die Frage nach einer epochenübergreifenden, transkulturellen Identität Pindar: Siegeslieder, griechisch/deutsch, hg. u. übers. v. Dieter Bremer, München 1992, S. 132 f. (3. Pythische Ode 56–61).
30
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Daniel Schäfer
der Medizin. Diese lässt sich eher nicht über ihre Grenzen bestimmen, sondern vermutlich durch eine Analyse ihrer Kernkompetenzen und -interessen. Gut möglich, dass hier an vorderer Stelle Hilfe und Einsatz für durch Krankheit und Verletzung bedrohtes Leben zu nennen sind. Wie begrenzt oder grenzenlos dieses Engagement ist, entscheidet aber vor allem der Kontext, in den die Medizin als biologisch-technische Life Science und zugleich »sociale Wissenschaft« 31 eingebettet ist.
31 Rudolf Virchow: »Der Armenarzt«, in: Die medicinische Reform, 18 (3. 11. 1848), S. 125.
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»allerley jrthumb vnnd mengl« – Medizinisches Gutachten im examen leprosorum im 16. Jahrhundert Fritz Dross Abstract: Der folgende Aufsatz handelt von der Lepra und ihrer Schau und argumentiert im Kern historisch auf der Grundlage Nürnberger Quellen des 16. Jahrhunderts. Am historischen Beispiel sollen zwei Probleme erörtert werden, die für die Beantwortung der Frage »Was ist Medizin?« über die historischen Details hinaus hilfreich sein könnten: Zum einen geht es um das Krankheitskonzept »Lepra« in seiner historischen Entwicklung und die Frage, wie und mit welchen Folgen sich darin medizinische Begriffe mit religiös-rituellen Vorstellungen von »(Un-)Reinheit« verbinden. Zum anderen geht es um eine zuweilen vernachlässigte medizinische Praxis, nämlich das Beurteilen von Körperzuständen als Begutachtung im Auftrag Dritter. Angesprochen werden in diesem Zusammenhang zwei Punkte, die regelmäßig bei Bestimmungen eines »Wesens« der Medizin zur Sprache kommen: zum einen, dass Medizin eine religiös-magischen Denkweisen und Praktiken diametral entgegengesetzte, wissenschaftlich-rational und auf bekenntnisunabhängige Plausibilität allein ausgerichtete Form der Expertise, zum anderen, dass deren Endzweck stets die Behandlung erkrankter Menschen ausschließlich im Interesse derselben sei.
1.
Die Lepra und ihre Schau als medizinhistorisches und medizintheoretisches Experimentierfeld
»Wer nu aussetzig ist / des Kleider sollen zurissen sein / vnd das Heubt blos / vnd die Lippen verhüllet / vnd sol aller ding vnrein genennet werden. | Vnd so lange das mal an jm ist / sol er vnrein sein / alleine wonen / vnd seine Wonung sol ausser dem Lager sein.« (Lev 13,45/46) So lautet der Wortlaut der berühmt-berüchtigten Passage aus dem Buch Leviticus (3. Buch Mose) zur »Lepra« in der Übersetzung Martin Luthers. Größere Teile sowohl der theologisch-exegetischen als auch der medizinhistorischen Forschung haben »aussetzig« und den Zustand »so lange das mal an jm ist« einigermaßen umstandslos 95 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Fritz Dross
als eine »Krankheit« gedeutet, und zwar als Lepra. Dies liegt insofern auf der Hand, als »lepra« tatsächlich die Formulierung in der Biblia Graeca (sowie aller darauf basierender Übersetzungen) ist und es sich dabei um einen Fachterminus der antiken Medizin handelt. 1 Die unmittelbare Verknüpfung einer Krankheitserscheinung mit einer derart rigiden sozialen Praxis hat die Medizingeschichte seit Jahr und Tag beschäftigt. Medizinhistorische Darstellungen gehen zurück bis ins ausgehende 18. Jahrhundert, 2 als es weder eine universitär institutionalisierte Medizingeschichte noch überhaupt eine im neueren Sinne naturwissenschaftlich begründete Medizin gab –, und sie erfreuen sich weiterhin einer gewissen Konjunktur. 3 Von besonderem Interesse ist das Verhältnis der medizinischen und religiösen Krankheitskonzepte untereinander sowie zur sozialen Praxis des Aussetzens. 4 Noch den neuesten Berichten des Robert-Koch-Instituts ist zu entnehmen, dass sich das Aus-Setzen und Ausgrenzen von Leprosen einer unerhörten historischen Stabilität erfreut: Im Epidemiologischen Bulletin vom 25. Januar 2016 weist Florian Steiner darauf hin: »auch die Stigmatisierung der Patienten ist weiterhin ein großes Problem; sekundäre Gefahren wie Depression und Suizidalität dürfen
Vgl. Karl-Heinz Leven: »Lepra«, in: ders. (Hg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, S. 565–567. 2 Vgl. Philipp Gabriel Hensler: Vom abendländischen Aussatze im Mittelalter. Nebst einem Beitrage zur Kenntniß und Geschichte des Aussatzes, Hamburg 1790. 3 Vgl. zuletzt und mit dem Nachweis der aktuellen Literatur etwa: Martin Scheutz/ Alfred Stefan Weiß: »Unbekannte Brüder der Bürgerspitäler? Leprosorien und Sondersiechenhäuser in Österreich«, in: Österreich, Geschichte, Literatur, Geographie (ÖGL) 60 (2016), Nr. 4, S. 355–383; aus medizinischer Perspektive: Max Hundeiker/ Ioannis D. Bassukas: »Die zukünftige Geschichte der Lepra«, in: Pneumologie 68 (2014), Nr. 9, S. 613–618. Als monographische Übersichten: Christian Müller: Lepra in der Schweiz, Zürich 2007; Martin Uhrmacher: Lepra und Leprosorien im rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Trier 2011; Carole Rawcliffe: Leprosy in Medieval England, Woodbridge 2006; Luke E. Demaitre: Leprosy in premodern medicine. A malady of the whole body, Baltimore 2007. 4 Vgl. Fritz Dross: »Aussetzen und Einsperren. Zur Integration und Desintegration von Leprosen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit«, in: Arno Görgen/Thorsten Halling (Hg.), Verortungen des Krankenhauses, Stuttgart 2014, S. 175–190; Jürgen Belker: »Aussätzige. ›Tückischer Feind‹ und ›Armer Lazarus‹«, in: Bernd-Ulrich Hergemöller (Hg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft: ein Hand- und Studienbuch, Warendorf 1990, S. 200–231. 1
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nicht unterschätzt werden« 5; zuletzt am 26. Januar 2017 schreibt an gleicher Stelle Eva-Maria Schwienhorst-Stich unter der Überschrift »Lepra lebt«: »In einigen Ländern bestehen noch heute diskriminierende Gesetzgebungen bezüglich Heirat, Benutzung öffentlicher Transportmittel und dem Zugang zu schulischer und universitärer Bildung sowie zum Arbeitsmarkt« 6. Hinsichtlich der Frage »Was ist Medizin?« stellt sich damit zum einen die Frage nach den Krankheitskonzepten und ihren sozialen Konsequenzen in einer langen Tradition bis in unsere Gegenwart. Dies umfasst das Verhältnis von medizinischen und religiös-rituellen Anteilen eines Krankheitsverständnisses, aber auch die Frage danach, inwiefern und unter welchen Umständen die Medizin eine die Gesellschaft organisierende und gesellschaftliche Teilhaberechte zuteilende Lehre vom menschlichen Leib ist, wie es beim Aussatz offenbar der Fall ist. Um die sozialen Konsequenzen – das Aus-Setzen – durchführen zu können, ist eine gesellschaftlich breit akzeptierte Unterscheidung der auszusetzenden Leprosen von den nicht an der Lepra erkrankten Personen notwendig. Diese Unterscheidung darf nicht willkürlich erfolgen. In welcher Form und durch wen also, das ist die historische Frage, wurde unter welchen konkreten historischen Umständen festgestellt, »wer nu aussätzig ist«, und in welcher Form sind historische Gesellschaften dem Gebot nachgekommen, deren »Wonung sol ausser dem Lager sein«? Die hierhin passende medizintheoretische Frage lautet dagegen: Welchen Stellenwert hat das expertise Urteilen über Körperzustände Dritter innerhalb der Medizin – die damit eine Medizin ohne Patienten wird?
2.
Von der außetzigen besichtigung
Das Nürnberger Beispiel des 15. und 16. Jahrhunderts ist insofern von besonderer Bedeutung für die hier verfolgte Argumentation, als die Lepraschau Bestandteil des reichsstädtischen Ärzteeides war, der Verpflichtung der in Nürnberg tätigen Ärzte auf die reichsstädtische 5 Epidemiologisches Bulletin 3 (25. Januar 2016), S. 23–24 hhttp://edoc.rki.de/oa/ articles/rewj6grGrQXoc/PDF/215yVvwkyeJoU.pdfi (letzter Zugriff 09. 04. 2018). 6 Epidemiologisches Bulletin 4 (26. Januar 2017), S. 35–38 hhttp://edoc.rki.de/oa/ articles/reWSZjtvj1TY/PDF/241iUuNBRhaqU.pdfi (letzter Zugriff 09. 04. 2018).
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Obrigkeit. 7 Die Schau genoss gewisse Prominenz, da sie im Zusammenhang mit dem Nürnberger »Sondersiechenalmosen« einmal jährlich in der Karwoche an mehreren Hundert, im 16. Jahrhundert bis zu dreitausend fremden »Sondersiechen« ausgeführt wurde. 8 Sie war daher bei den Ärzten ebenso unbeliebt wie unter besonderer Beobachtung der Obrigkeit der in diesen Tagen regelmäßig im Ausnahmezustand befindlichen Stadt. Sie hat eine weitere Besonderheit: Im Unterschied zum auch andernorts seit dem Mittelalter geübten examen leprosorum, das letztlich über den weitgehenden Verlust bürgerlicher Rechte und den Verzug einer Person in ein Lepra-Spital befand, ging es bei der Nürnberger Sondersiechenschau um die Zuteilung spezifischer Rechte, nämlich die bevorzugte Teilnahme an dem öffentlich inmitten der Stadt durchgeführten Sondersiechenalmosen. Rings um die die Stadtkirche St. Sebald wurden fremde Sondersieche von Kardienstagnachmittag bis Karfreitagmittag öffentlich leiblich und geistlich versorgt. In dem unmittelbar nach Weihnachten 1571 dem Rat der Stadt übergebenen Schriftsatz »Kurtzes und ordentliches bedencken, welcher gestalt in einem wohlgeordneten Regiment, es mit den Ärtzten und Arzneien sambt allen andern darzu notwendigen stücken möcht geordnet und gehalten werden« 9 des Nürnberger Stadtarztes Joachim II. Camerarius (1534–1598) ist das dem Umfang nach zweitgrößte Kapitel der Aussatzschau gewidmet. Es umfasst mit sechs beidseitig beschriebenen folii mehr als ein Achtel des in insgesamt 16 Kapitel unterteilten Textes. 10 Stadtbibliothek Nürnberg [StadtBib N] Ms Cent V 42, f. 1r: »Das er auch … sich daneben in der marterwochen so wol als ander Doctorii zur sondersiechen shaw gebrauchen laßen wolle.« Zu den Ärzteeiden und der Verpflichtung der Ärzte auf die reichsstädtische Obrigkeit siehe demnächst Fritz Dross: »De Officiis – ›Vom Ambt des Artzts‹ : physicians’ oaths and the appointment of physicians in 16th and 17th century Nuremberg«, in: Annemarie Kinzelbach/Ruth Schilling/J. Andrew Mendelsohn (Hg.), Civic Medicine. Physician, Polity and Pen in Early Modern Europe, Aldershot (vorauss. 2018). 8 Dazu Fritz Dross: »Vom zuverlässigen Urteilen. Ärztliche Autorität, reichsstädtische Ordnung und der Verlust »armer Glieder Christi« in der Nürnberger Sondersiechenschau«, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 29 (2010), S. 9–46. 9 StadtBib N Ms Cent V, 42, f. 90–139; Edition in Karl Gröschel: Des Camerarius Entwurf einer Nürnberger Medizinalordnung »Kurtzes und ordentliches Bedencken« 1571, München 1977. 10 StadtBib N Ms Cent V, f. 132–138 »Von der außetzigen besichtigung, wie dieselbige der notturft nach möcht angestellet werden.« Gröschel: Camerarius Entwurf, S. 176– 190. 7
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Das besondere Problem, so Camerarius, liege in Nürnberg an der großen Zahl der in kurzer Zeit zu schauenden Personen, sodann an der »bosheit und betriegligkeit der leut, welche […] nicht der besichtigung halben, sondern gelts und almusens wegen, […] an solche ort pflegen zu komen, welche sich zuvor mit etlichen kreutern und andern bößen stücken so meisterlich künnen zurichten und anschmiren, das sie auch von den erfarensten ärzten […] nicht könen […] volkümlich erkennt werden.« 11 Das ärztliche Verfahren besteht also in der Deutung von spezifischen Körperzeichen, die allerdings auch den Untersuchten bekannt sind und nachgeahmt bzw. vorgetäuscht werden können. Daneben seien neue und dem Aussatz hinsichtlich der zu beachtenden Körperzeichen ganz ähnliche Erkrankungen inzwischen sehr häufig. An keiner Stelle geht Camerarius auf irgendeinen Zusammenhang mit einer Kur der Aussätzigen ein, die im Übrigen auch in der einschlägigen medizinischen Literatur des 16. Jahrhunderts kaum angesprochen wird. Die Denkschrift des Nürnberger Stadtarztes bewegt sich auf dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft seiner Zeit. Auch dort ist allenfalls am Rande von der Heilung der Lepra die Rede, die andererseits durchaus nicht ausgeschlossen wird. Der Schwerpunkt der medizinischen Lepra-Literatur des 16. Jahrhunderts liegt – wie bei keiner anderen Erkrankung – auf dem zuverlässigen Erkennen. 12 Regelmäßig ist von »Verdächtigen«, zuweilen von »Beschuldigten« die Rede. Das einschlägige Vokabular entstammt der Strafverfolgung und dem Gerichtswesen. Wie dort, sind die Obrigkeiten verantwortlich, heilkundige Experten fungieren als Gutachter in einem gerichtsähnlichen Verfahren. 13 Dementsprechend nervös reagierte der Nürnberger Magistrat auf die Denkschrift des Stadtarztes. Sie fordert im Wesentlichen die Errichtung eines Collegium Medicum, die allerdings erst mit zwei StadtBib N Ms Cent V, f. 134r; Gröschel: Camerarius Entwurf, S. 181 f. Vgl. Renate Wittern: »Die Lepra aus der Sicht des Arztes am Beginn der Neuzeit«, in: Christa Habrich (Hg.), Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel, I [Ausstellung im Dt. Museum München, 5. November 1982– 9. Januar 1983], Ingolstadt 1982, S. 41–50; zur Lepraschau vgl. Martin Uhrmacher: Lepra und Leprosorien im rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Trier 2011, S. 70–95. 13 Vgl. Annemarie Kinzelbach: »›an jetzt grasierender kranckheit sehr schwer darnider‹. Schau und Kontext in süddeutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit«, in: Carl Christian Wahrmann/Martin Buchsteiner/Antje Strahl (Hg.), Seuche und Mensch. Herausforderung in den Jahrhunderten, Berlin 2012, S. 269–282. 11 12
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Jahrzehnten Verzug geschah. Unmittelbar reagierte die Obrigkeit, indem sie den seinerzeit neun Stadtärzten zur Kenntnis brachte, »das ein F. W. Rath ein groß mißgefallen trag vnnd hab, von wegen des vnfleis der ordentlichen schau«. Die städtischen Ärzte mögen sich also unverzüglich dazu erklären. Die neun gutachtlichen Stellungnahmen der Nürnberger Ärzte sind überliefert und gestalten weitere Einblicke. Alle Gutachten heben die Unsicherheit des Verfahrens angesichts unklarer Aussatz-Zeichen hervor. Schwer entscheidbar seien Fälle »ähnlicher« Erkrankungen, allgemeiner auch Unsauberkeit und die Folgen eines Lebens auf der Straße durch »böße[r] diet in essen vnnd trincken«. Die fremden Landbettler seien »an der Sonne gebraten«, heißt es in einer Stellungnahme. Dazu komme aber auch das jämmerliche Schreien und Heulen und das Lügen sowie das aktive Zurichten der Haut durch Salben und Ähnliches. Die Simulation von Aussatz ist für das 16. Jahrhundert gut belegt. 14 Landes- und Polizeiordnungen warnten vor Bettlern, die sich als Aussätzige ausgaben. Dies verweist nicht zuletzt auf den problematischen Status der Aussatzschau. Nur auf den ersten Blick und hinsichtlich der Untersuchungstechniken handelt es sich um eine Diagnose. Die Diagnose konstituiert bereits klassisch den therapeutischen Prozess und kann als ein Übersetzungsvorgang eines individuellen Leidens der erkrankten Person in ein medizinisches Wissenssystem des untersuchenden Arztes gefasst werden, in deren Verlauf aus dem individuellen Leiden eine therapeutisch manipulierbare Unregelmäßigkeit wird. 15 Die Diagnose wird durch eine (erkrankte) Person eröffnet, die sich dazu entscheidet, ihr Leiden durch einen Arzt untersuchen zu lassen, und die damit zum Patienten wird. Bei der Lepraschau hingegen handelt es sich um ein Verfahren, bei dem eine spezifische »Unreinheit« festzustellen ist, deren Konsequenzen weder der Gutachter noch die untersuchte Person sanktionieren. Das examen leprosorum stellte einen leiblich-körperlichen Status fest, der Vgl. Robert Jütte: »Lepra-Simulanten. ›De iis qui morbum simulant‹«, in: Martin Dinges/Thomas Schlich (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte, Stuttgart 1995, S. 25–42; Kay Peter Jankrift: »Normbruch und Funktionswandel. Aspekte des Pfrundmissbrauchs in mittelalterlich-frühneuzeitlichen Leprosorien«, in: Sebastian Schmidt/Jens Aspelmeier (Hg.), Norm und Praxis in der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 137–146. 15 Vgl. Norbert W. Paul: »Diagnose und Prognose«, in: Stefan Schulz/Norbert W. Paul/Heiner Fangerau et al. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2006, S. 143–153. 14
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fixierte Rechtsfolgen hatte. Es kennt daher nur zwei abschließende Ergebnisse: rein (mundus) und unrein (immundus). Regelmäßig haben die Schaugremien daher die zu Schauenden nach einer gewissen Zeit erneut einbestellt, wenn sie kein abschließendes Urteil fällen konnten. Historisch ist das examen leprosorum daher im Zusammenhang mit einschlägigen Rechtsbegriffen zu untersuchen. Die Schau stellt im allgemeineren Sinne ein rechtsförmiges und verbindliches Verfahren dar, durch persönlichen Augenschein die Qualität einer Sache festzustellen – dies reicht vom Gesellen- oder Meisterstück über Schlachtvieh bis zur Obduktion einer Leiche oder der Musterung eines Rekruten. 16 Noch in Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon im 18. Jahrhundert werden im Artikel »Pflichten der Aerzte« zwei Teilbereiche ärztlicher Tätigkeit unterschieden, deren »eine bestehet darinnen, daß er die ihm anvertrauten Patienten fleißig besuche«, die andere allerdings darin, »daß er auf Erforderung der Gerichten und Obrigkeiten von gewissen Umständen lebender, gesunder, krancker, gebrechlicher, verwundeter und sterbender Personen, auch todter Cörper und vielerley anderer natürlicher Dinge, nach seinem besten Wissen und Gewissen unterschiedne Zeugnisse, Wundzeddel und Berichte abstatte« 17. Die mittelalterliche Lepraschau begründet einen medizinischen Traditionsstrang des Gutachtens über Körperzustände im Auftrag Dritter, insbesondere obrigkeitlicher Instanzen, der bis zur Selektion an der Rampe der Vernichtungslager reicht, der von der militärischen Musterung über die medizinische Untersuchung von Einwanderern bis zur Einstellungsuntersuchung führt, von der auf medizinische Gutachten gestützten Einschätzung von Versicherungsrisiken bis zum »krank Schreiben« als zeitgenössischer Form der Privilegierung durch das zeitweilige Aussetzen der Arbeitsverpflichtung. Die Nürnberger Quellen verweisen nicht zuletzt darauf, dass die Veränderung des Rechtsstatus durchaus von den Untersuchten gefragt sein konnte, die einschlägigen Zeichen bekannt waren und die Vgl. Fritz Dross: »Seuchenpolizei und ärztliche Expertise: Das Nürnberger ›Sondersiechenalmosen‹ als Beispiel heilkundlichen Gutachtens«, in: Carl Christian Wahrmann/Martin Buchsteiner/Antje Strahl (Hg.), Seuche und Mensch. Herausforderung in den Jahrhunderten, Berlin 2012, S. 283–301. 17 Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste […], 64 Bde. und Suppl., Halle/Leipzig 1732–1754, Bd. XXVII (1741) »Pflichten der Aertzte«, Sp. 1598 f. 16
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Leiber der Untersuchten dementsprechend präpariert werden konnten – dies ist der Kern der Vorwürfe der Ärzte gegenüber den LepraSimulanten. Im Kontext der vier reichsstädtischen Leprosorien lässt sich belegen, dass insbesondere von leprosen Frauen, die einen Heiratspartner gefunden hatten, eine erneute Schau angefragt wurde. Wurden die Frauen »schön« geschaut, ergab sich die Möglichkeit, zu heiraten und das Leprosorium zu verlassen, 18 so wie andersherum die halbwegs gesicherte Versorgung im und durch ein Leprosorium durchaus eine attraktivere Lebensperspektive darstellen konnte als das Leben auf der Straße oder bei extrem unsicheren Einkommensund Ernährungsverhältnissen. 19
3.
»nicht geringe mengel und mißbraüch«: Die Medizin, die Ärzte und die Obrigkeit
Für den Zusammenhang frühneuzeitlicher ärztlicher Stellungnahmen zur Aussatzschau darf nicht übersehen werden, dass es sich um ein standespolitisch zentrales Thema handelte. Während es in Nürnberg kaum zu Debatten darüber kam, wer für die Schau zuständig sei, war beispielsweise in Köln durchaus strittig, ob eine durch die doctores der Medizinischen Fakultät durchgeführte Lepraschau die Schau durch die gewählten Ältesten des Leprosenhauses Melaten übertreffe und damit Letztere im Sinne einer höherinstanzlichen Entscheidung aufheben konnte. 20 Eigentlicher Beschwerdepunkt der Denkschrift des Nürnberger Stadtarztes Joachim II. Camerarius war, dass die ordentliche Ausübung des ärztlichen Berufs »vielen guethertzigen und treüen ärtzten […] gantz beschwerlich« sei. 21 Wesentlicher Gegenstand der Eingabe
Vgl. Fritz Dross: »Aussetzen und Einsperren. Zur Integration und Desintegration von Leprosen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit«, in: Arno Görgen/Thorsten Halling (Hg.), Verortungen des Krankenhauses, Stuttgart 2014, S. 175–190. 19 Vgl. Kay Peter Jankrift: »Jost Heerde. Das Schicksal eines Lepraverdächtigen in Münster«, in: Die Klapper 6 (1998), S. 3–5. 20 Vgl. Martin Uhrmacher: Lepra und Leprosorien im rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Trier 2011, S. 86–91; Martin Uhrmacher: »So vinden wyr an euch als an eynen krancken und seichen manne … Köln als Zentrum der Lepraschau für die Rheinlande im Mittelalter und früher Neuzeit«, in: Die Klapper 8 (2000), S. 4–6. 21 Joachim Camerarius: »Kurtzes und ordentliches bedencken«, Vorrede, StadtBib N Ms. Cent. V 42, f. 90. 18
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ist das Abstellen dieses Missstandes, wozu ein Collegium der Ärzte zu bilden sei, dem als Expertengremium eine Aufsicht über die Apotheker zukomme und das darauf beruhe, dass die Obrigkeit die Tätigkeit der »unverstendigen empiricis und landfahrer« in der Reichsstadt weitestgehend verbiete. Das in einer zeitgenössischen handschriftlichen Abschrift in der Stadtbibliothek Nürnberg vorliegende Stück ist seit geraumer Zeit ediert und gilt nach Alfons Fischer als initialer Schriftsatz der Etablierung eines obrigkeitlichen Medizinalwesens in Form von Medizinalkollegien in den deutschen Reichsstädten des ausgehenden 16. Jahrhunderts. 22 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Camerarius die Verpflichtung der Ärzte unterschlug, diese Schau durchzuführen. Damit war auch und gerade im Zusammenhang mit der Schau die Ärzteschaft nicht der reichsstädtischen Obrigkeit, sondern einer erheblich weiter gefassten Ethik verpflichtet: »das solche sieche leut, daran man oft ein zweifel hat, recht werden unterschaidet, und die unrainen von den rainen gruentlich mögen erkent werden, sonst würden oft unversehener und unverstendiger weis, manche erliche guete leut nicht allein von gemainschaft von weib und kind, eltern, freund etc. unbilliger weis von einander gestossen […] darzu aber ein sunderer vleis und gueter verstand, auch gewisse erfarnüß dieser seuch erfordert würd.« 23 Bereits an dieser Stelle fällt auf, dass nicht etwa erkrankte von gesunden, sondern »reine« von »unreinen« Personen unterschieden werden. Eine Obrigkeit, so die Argumentation, die sich nicht dem alttestamentarischen Gebot der Separation der »Unreinen« widersetzen und darüber hinaus auch dem Gebot einer profanen Gerechtigkeit entsprechen wollte, hatte also die Ärzteschaft zu privilegieren. Der Text – einschließlich der ausführlichen Passage über das examen leprosorum – gehört in den standespolitischen Diskurs der Ärzteschaft. Regelmäßig beginnen Texte dieser Gattung mit einem Aufriss des-
Vgl. Alfons Fischer: Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Bd. 1: Vom Gesundheitswesen der alten Deutschen zur Zeit ihres Anschlusses an die Weltkultur bis zum Preußischen Medizinaledikt, Berlin 1933, S. 90–91. Edition des Camerarius-Textes in: Karl Gröschel: Des Camerarius Entwurf einer Nürnberger Medizinalordnung »Kurtzes und ordentliches Bedencken« 1571, München 1977. Zu Camerarius zuletzt Svenja Wenning: Joachim II. Camerarius (1534–1598). Eine Studie über sein Leben, seine Werke und seine Briefwechsel, Duisburg 2015, S. 33–39, S. 153–156. 23 StadtBib N Ms. Cent. V 42, f. 133r; Gröschel: Camerarius Entwurf, S. 178. 22
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sen, was Medizin sei bzw. sein solle, sowie einer Bewertung der aktuellen Situation, die den Ärzten verschiedene Hindernisse in den Weg lege, den als ideal beschriebenen Zustand erreichen zu können. Dieser Diskurs hat das Ziel, und das fällt in den Texten des 16. Jahrhunderts deutlich ins Auge, die Obrigkeiten davon zu überzeugen, dass nach Möglichkeit ausschließlich Ärzte mit den verschiedenen Aufgaben der Gesundheitsversorgung und -fürsorge betreut werden – dass also die Obrigkeiten im Sinne einer Gesundheit als bonum commune vorab die professionellen Interessen der Ärzteschaft zu schützen habe. Michael Stolberg hat den Vorgang als »Autorisierung« der frühneuzeitlichen Medizin durch die Ärzteschaft analysiert. 24 Auf diesem Wege und in unzweideutig standespolitischer Absicht kommt nun allerdings tatsächlich ein nicht ganz unwesentliches medizintheoretisches Problem zur Sprache: Der sogenannte »hiatus theoreticus«, 25 in den Worten von Camerarius das Verhältnis von »rationem et experientiam, das ist, […] guete vernunft und rechtschaffene erfarung«. Diese beiden weiß der akademisch ausgebildete Arzt in ein sinnvolles Mittel zu bringen. Die »unverstendigen empiricis« hingegen würden allein einer theoretisch nicht weiter problematisierten Erfahrung nach kurieren. 26
Vgl. Michael Stolberg: »Formen und Strategien der Autorisierung in der frühneuzeitlichen Medizin«, in: Wulf Oesterreicher/Winfried Schulze/Gerhard Regen et al. (Hg.), Autorität der Form – Autorisierung – institutionelle Autorität, Münster 2003, S. 205–218. 25 Norbert W. Paul: »Der Hiatus theoreticus der naturwissenschaftlichen Medizin. Vom schwierigen Umgang mit Wissen in der Humanmedizin der Moderne«, in: Cornelius Borck (Hg.), Anatomien medizinischen Wissens. Medizin, Macht, Moleküle, Frankfurt a. M. 1996; Norbert W. Paul: »Incurable Suffering from the ›hiatus theoreticus‹ ? Some Epistemological Problems in Modern Medicine and the Clinical Relevance of Philosophy of Medicine«, Theoretical Medicine and Bioethics 19/3 (1998), S. 229–251. 26 StadtBib N Ms Cent V, 42, f. 95v-96r: »dieser artzt giebt niemmer mehr ein eintzliche artzney den kranken, dessen er nicht zuvor guete volkümliche wissenschaft und erfarung und ofter mahl zu vor vleissig auf die zwen rechte Probierstein gelegt hat, rationem et experientiam, das ist, durch guete vernunft und rechtschaffene erfarung, welches rationem etliche, das licht der natur parabolice nennen, und volget ein solcher nicht den unverstendigen empiricis und landfahrern nach, wann ein artzney ein oder zwey mahl geholfen hat, das sie dieselbigen ohn weitter nachdencken, und unterschiedt durch aus in allen krankheiten brauchen, welches zu dieser Zeit sunderlich mit vielen artzneyen pflegt zu gescheen, darvon hernach meldung getan würdt.« Gröschel: Camerarius Entwurf, S. 18–20. 24
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In diesem Sinne spielt hinsichtlich der Lepraschau in Nürnberg eine gewichtige Rolle, dass Camerarius vorschlägt, einmal von gelehrten Ärzten geschaute Personen mögen eine Urkunde darüber mitbringen, sowie dass er gewissermaßen ein Collegium Medicum im Kleinen nur für die Lepraschau in der Karwoche vorschlägt: »würde ohne zweifel nit ein kleine fürderung zu solchem handl sein, wann die doctores und ärzt von einer obrigkeit zu einer schau bestellt und verordnet, etlich tag zuvor zusammenkommen, und von solcher krankheit, natur und aigenschaft, und derselben zaichen, erkentnus und besichtigung sich mit allen müglichen vleis unterreden, miteinander beschliessen, wie ein ordentliche, schleunige und gewisse besichtigung fürzunehmen, und was für zaichen solcher krankheit sie sich fürnehmlich, als für die warhaftigsten gebrauchen wollten, dadurch dann darnach in der zeit der schau desto weniger disputation und zweifeln unter ihnen fürfallen, die zeit nicht dadurch verloren würd werden.« 27 Ausdrücklich gelobt wird das Nürnberger Verfahren von dem Pforzheimer Stadtphysikus Philipp Schopff, der in seinem 1571 und erneut 1582 aufgelegten »kurzen Bericht vom Aussatz« mahnte, es »soll keyn Artzt ob er schon gelehrt / vil weniger aber der / so noch eyn vnerfahrner vnd junger Practicus, also vermessen sein / daß er für sich alleyn solchen handel annemmen / vnd vrtheyl sprechen wölle / dann diß nicht eyns eyntzigen Mans werck ist / sonder wissen allweg (wie auch inn dem gemeynen Sprüchwort) zwen oder trei mehr dann eyner. Darumb ist die weitberümpte Statt Nürnberg inn disem / gleich wie inn andern guten Ordnungen vnd inuentionibus hoch für andere Stätt des Teutschlands zuloben / dieweil sie inn besichtigung der aussätzigen (so jedes Jar mit besonderer Solennitet geschicht) nicht eyn Man oder zwen / sonder etliche / darzu gelehrte / zu solchem Werck verordnet hat / da eynem jeden ohn ansehung der Person sein Recht widerfährt / darum jr vrtheyl vmb sovil desto kräfftiger / vnd wird keyner bald von disem vrtheyl zu eynem andern appellieren.« 28
StadtBib N Ms Cent V, 42, f. 138r; Gröschel: Camerarius Entwurf, S. 189 f. Philipp Schopff: Kurtzer Aber doch außführlicher Bericht von dem Aussatz […], Straßburg 1582, S. 2.
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4.
»etliche vnser scribenten selber was zwiespeldig«
Daraus ergibt sich indes, dass offenbar nicht ohne Weiteres Einigkeit selbst unter den gelehrten Ärzten bestand, »was für zaichen solcher krankheit […] fürnehmlich, als für die warhaftigsten« anzuerkennen seien. Zu den ganz erheblichen Problemen bei der Aussatzschau gehört mithin der Umstand, dass die Medizin des 16. Jahrhunderts über kein schlüssiges und widerspruchsfreies Leprakonzept verfügte. In der Stellungnahme des Nürnberger Stadtarztes Schenck heißt es zurückhaltend: »haltt ich es gleich für vnmöglich, das solche schau, ordentlicher weis khunde ohne klag vollendet werden, sunderlich weil in den rechten wahren zaichen des aussatz etliche vnser scribenten selber was zwiespeldig« 29. Die Nürnberger Ärzte hatten die vorliegende Literatur – sowohl der antiken als auch der späteren medizinischen Schriftsteller (vnser scribenten) – gründlich studiert. Nachdem im Zuge der Renaissance im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts auch die medizinischen Autoritäten der Antike in zeitgenössischen Editionen im Druck erhältlich waren, war der Bruch zwischen der antiken »lepra« und derjenigen des Mittelalters nicht mehr zu übersehen. In der Antike firmierte unter »lepra« eine vergleichsweise unscheinbare, der Sache nach völlig harmlose und daher selten erwähnte weißliche Hautveränderung. 30 Als jüdische Gelehrte im 3. Jahrhundert vor Christus begannen, ihre Heilige Schrift, die Thora, vom Hebräischen in die griechische Septuaginta zu übertragen, wurde diese »lepra« das semantische Korrelat zum hebräischen Begriff einer rituellen Unreinheit, die in den Reinheitsgeboten im dritten Buch Mose die entscheidende Rolle spielt. 31 Auf diesem Weg ist die »lepra« dann ins Alte und Neue Testament der Christen gelangt. Seit der Spätantike und im Laufe des Mittelalters änderte allerdings die Medizin ihre Terminologie der »lepra«. 32 Diese wurde zuerst quasi-synonym zu der noch bei Galen damit völlig unverwandStadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 151r-151v (Gutachten Schenck). Vgl. »Lepra«, a. a. O., S. 565–567 und Ieraci Bio: »Elephantiasis« und »Leontiasis«, S. 249 und S. 565. 31 Julius Preuss: Biblisch-talmudische Medizin. Beiträge zur Geschichte der Heilkunde und der Kultur überhaupt, Berlin 1911, S. 369–390. 32 Otto Betz: »Der Aussatz in der Bibel« sowie Peter Paul Gläser: »Der Lepra-Begriff in der patristischen Literatur« beide in: Jörn Henning Wolf (Hg.), Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel. Bd. 2: Aufsätze, Würzburg 1986, S. 45–62 (Betz), S. 63–67 (Gläser). 29 30
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ten und hochgefährlichen »elephantiasis«. 33 Schließlich mündete die Entwicklung in eine 4-Gestalten-Lehre der »Lepra« als »Alopitia« / »Leonina« / »Tyria« / »Elephantia«. 34 Damit war aus fünf voneinander unabhängigen Krankheitsbegriffen ein Oberbegriff und Bezeichnungen für seine vier Erscheinungsformen geworden. Die »lepra« wurde die meines Wissens einzige Erkrankung der sogenannten Vier-Säfte-Lehre, die – je nach Erscheinungsform – mit jeder der vier Grundfeuchtigkeiten in Verbindung stehen konnte. Mit »lepra« war sodann insbesondere die »elephantiasis« verbunden, die bei Galen als »Krebs des ganzen Körpers«, als hochgefährlich und unheilbar tödliche Erkrankung firmiert. Terminologische Transformationen waren und sind noch in der Medizin gelegentlich zu beobachten. Das Besondere im Fall der »lepra« war, dass das Wort Bestandteil der Heiligen Schrift, der göttlichen Offenbarung war. Mit der Neuformulierung der lepra-Terminologie hatte die Medizin dem Bibeltext eine neue Bedeutung gegeben. Die terminologische Verschiebung der Bezeichnung einer unauffälligen und ungefährlichen Weißfärbung der Haut zu einer tödlichen und zu fürchterlichen Entstellungen führenden unheilbaren Erkrankung hatte ihrerseits Rückwirkungen auf das Verständnis des biblischen Textes. Wo von »lepra« die Rede war, galt der Gedanke nicht mehr einer subtilen rituellen Unreinheit, die Häuser und Kleider, Tiere und Menschen betreffen konnte und deren Verbleib unter den Menschen, die bei Gott wohnen, unmöglich machte. Die Unreinheit wurde Krankheit. In der Theologie wurde schließlich das Bild eines aussätzigen Hiob geprägt, was den alttestamentarischen Text zwar vollständig auf den Kopf stellt, dafür aber die Doppelgesichtigkeit des mittelalterlichen Bildes des Leprosen famos repräsentiert: einerseits als »unreine« Person Ausgesetzter und gleichsam unberührbarer lebender Toter (»tamquam mortuus«), andererseits als das Fegefeuer schon in dieser Welt absolvierender von Gott Geprüfter, der dem Herrn besonders nah, und insofern besonders »rein« war – und dem Almosen zu reichen daher als besonders attraktiv gelten musste. Wie der Messias im Neuen Testament mehrfach den Kontakt zu diesen Ärmsten der Armen sucht, sollte sich der Christenmensch in der Nachfolge Christi besonders beweisen. Ieraci Bio, »Elephantiasis«, S. 249. Hans von Gersdorff: Feldbuch der Wundartzney, Strassburg 1517, f. LXXIII v (»Von den vier speciebus oder gestalten der Lepre oder maltzey«).
33 34
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Das mehrschichtige Bild wird gut in der Sylvester-Legende deutlich. 35 Bischof Sylvester in Rom steht unter der konstantinischen Christenverfolgung. Als Kaiser Konstantin an »Lepra« erkrankt, wird ihm geraten, im Blut unschuldiger Kinder zu baden – was in der antiken Literatur den altorientalischen Herrschern nachgesagt wird. Der Anblick der weinenden Frauen und ihrer unschuldigen Kinder rührt den Kaiser jedoch. Er erinnert sich an den Christenbischof Sylvester und lässt ihn holen. Sylvester tauft den Kaiser und heilt ihn damit von der Lepra – der Kaiser bedankt sich mit der legendären Schenkung, die Sylvester und seiner Kirche weitreichende Rechte und Machtbefugnisse einräumt. Das Abendland, wie wir es kennen, beruht mithin auf einer rituellen Lepra-Heilung. Vollends konfus wurde die Begrifflichkeit im Deutschen mit der Durchsetzung einer Krankheitsbezeichnung »Aussatz« seit und durch die Luther’sche Bibelübersetzung. Schon Jakob Grimm äußerte sich im Deutschen Wörterbuch einigermaßen konsterniert über die außergewöhnliche Wortgeschichte, die aus dem Adjektiv »aussätzig« erst die Personenbezeichnung »Aussetziger« bildet und aus dieser wiederum eine Krankheitsbezeichnung »Aussatz«, die die Ursache des Aussetzens sei. 36 Der leibliche Zustand – »Lepra« –, seine rituelle Deutung – »unrein« – und deren Konsequenz – das Aussetzen – geraten damit ununterscheidbar in ein Wort. In der Luther’schen Bibelübersetzung finden sich allein in der kurzen Stelle Leviticus 13 gleich mehrere semantische Varianten, u. a. die einigermaßen verwirrende von einem »reinen Aussatz«. Der biblische Text verhandelt hier die zu prüfenden unsicheren Aussatzzeichen, Luther kommentiert: »Dieser Aussatz heisset rein / Denn es ist ein gesunder Leib der sich also selbs reiniget / als mit bocken / masern / vnd kretze geschicht / da durch den gantzen Leib / das böse her aus schlegt / Wie wir Deudschen sagen / Es sey gesund etc.« 37
Vgl. Wilhelm Pohlkamp: »Kaiser Konstantin, der heidnische und der christliche Kult in den Actus Silvestri«, in: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), S. 357–400. 36 »Die herleitung des sächlichen begrifs aus dem persönlichen hat etwas seltsames, wir begegnen hier wiederum einem willkommnen beispiel dafür, dasz der sprachgeist die vorstellung der sache aus empfindungen des personenverhältnisses hervorgehen liesz.« (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961, zit. nach der online-Ausgabe. hhttp://www.woerterbuchnetz. de/DWB?bookref=1,943,33i [letzter Zugriff 09. 04. 2018]). 37 Martin Luther: Biblia / das ist / die gantze Heilige Schrifft Deudsch, o. O. 1545. 35
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Der biblische Reinheitsbegriff wird hier medikalisiert und damit replausibilisiert. Im Sinne einer geläufigen medizinischen Vorstellung der klassischen Medizin gelten sämtliche Ausscheidungen als den Körper verlassende »Unreinheiten«, die Haut dementsprechend als Membran, die im Körper angesammelte schädliche Materie nach außen abführen kann. 38 Ganz ähnlich argumentierte 250 Jahre später noch Adelung, der in seinem Wörterbuch dem Artikel »Aussatz« folgende Überlegung anfügt: »Der Nahme Aussatz, in der ersten Bedeutung, beziehet sich nicht so wohl auf die Aussetzung oder Absonderung der mit dem Aussatze behafteten von aller menschlichen Gemeinschaft, als vielmehr auf den Ausschlag, der sich dabey auf die Haut setzet.« 39 Der biblische Kontext hatte den Lepra-Begriff derart imprägniert, dass er schließlich weder in der Medizin noch in Religion und Theologie halbwegs eindeutig und brauchbar bestimmt werden konnte. Luther konstruiert in der zitierten Stelle einen Aussatz, der gleichzeitig »rein« und »gesund« ist, der also weder zum Aus-Setzen führen soll noch überhaupt einen behandlungsbedürftigen körperlichen Zustand darstellt. Auf der medizinischen Seite findet sich dagegen kein Hinweis auf eine medizinisch notwendige Isolation, etwa einer Ansteckungsgefahr wegen. Vielmehr wurde es im 16. Jahrhundert nicht mehr kritisch gesehen, in den Leprahäusern auch verschiedene dauerhaft Erkrankte, »welche sonst gebrechlich unnd Schadhaffte Personen« unterzubringen. 40 Gleichzeitig bezogen sich auch die medizinischen Texte des 16. Jahrhunderts implizit oder explizit auf den alttestamentarischen Aussatz, die bibelfesten protestantischen Nürnberger Ärzte vorab, allen voran der aus Friesland stammende Volcher Coiter mit seiner Klage, dass die Nürnberger Ärzte in zwei Tagen Vgl. Bettina Wahrig: »Kranke Haut – kranker Körper: Das Beispiel Lepra«, in: Ulrike Zeuch (Hg.), Verborgen im Buch, verborgen im Körper. Haut zwischen 1500 und 1800 [Ausstellung in der Herzog-August-Bibliothek, 5. Oktober 2003–11. Januar 2004], Wiesbaden 2003, S. 139–160. 39 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Leipzig 1793–1801, zit. nach der online-Ausgabe hhttp://www.woerterbuchnetz.de/Adelung?bookref= 1,630,6i (letzter Zugriff 09. 04. 2018). 40 »welche sonst gebrechlich unnd Schadhaffte Personen seindtt, oder die sonst in den khöben bisshieher sich gehalten, welche ob sie gleich woll nit recht aussetzig iedoch durch beywonung anderer verunrheinigett seindt.« (StadtBib N, Ms. Cent V 42, Gutachten Palma, f. 142r.) 38
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Tausende schauen müssten, während im alttestamentarischen Vorbild Aaron für eine Schau 14 Tage gehabt habe. 41 Das medizinische Lepra-Konzept wurde mehr und mehr unplausibel und verschwand. Seit dem 17. Jahrhundert wurde die Lepra in Lehrbüchern in der Regel als Subtypus der Krätze geführt. 42 Nur in größeren enzyklopädischen Kompendien blieb die Vielfalt der Bezeichnungen bis ins frühe 19. Jahrhundert noch erhalten, ohne allerdings größeres Erstaunen auszulösen. 43 Geblieben ist allerdings die Konnotation der »Unreinheit«, ungemein intensiviert schließlich durch die Hygiene des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die weit über das im 16. Jahrhundert übliche Maß Probleme der Moral hygienisierte und solche der Hygiene moralisierte: »Hygiene ist Moral, Moral ist Hygiene.« 44 Ausgangspunkt für diese Entwicklung war die Beobachtung des 16. Jahrhunderts, dass die zu beobachtenden Krankheitsformen und die verschiedenen vorfindlichen Konzeptualisierungen in der medizinischen Literatur nicht zusammenpassen wollten. Annähernd gleichzeitig wie die Nürnberger Stadtärzte ihre Stellungnahmen verfasste der Pforzheimer Stadtphysicus Schopff seinen »Kurtzen Bericht von dem Aussatz«. 45 Um den Befund zu ordnen, scheidet er die »grie-
StadtBib N, Ms. Cent V 42, Gutachten Coiter, f. 153v-155v. Vgl. Samuel Hafenreffer: Pandocheion aiolodermon in quo cutis eique adhaerentium partium, affectus omnes, singulari methodo, et cognoscendi et curandi fidelissime traduntur […], Tubinga 1630, S. 104–108 (»Caput XV. De Scabie Ejusq. speciebus«); Johann Jacob Woyt: Vernüfftige und in der Erfahrung gegründete Abhandlung Aller Im menschlichen Leibe vorfallenden Kranckheiten […], Leipzig 1735, S. 347–353. 43 Vgl. Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, dort Artikel »Aussatz« (Bd. III, 1829) verweist auf »Lepra« (Bd. XXI, 1839), weiter auf »Elephantiasis« (Bd. X, 1834, S. 556–588). Hervorgehoben werden die »zum Theil seltsamen, zum Theil nur einzelnen Formen« zukommenden Bezeichnungen. Die Erkrankung zeige »sich nach den verschiedensten climatischen, örtlichen, individuellen und andern Verhältnissen, Complicationen u. s. w., unter so mannigfaltigen Gestalten, Modificationen, Abarten und Abänderungen, dass es unmöglich ist, eine immer gültige und genügende, allgemein treffende Definition davon zu geben.« (Dietrich Wilhelm Heinrich Busch [Hg.], Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Bd. 10 [Dystocia–Encanthis scirrhosa], Berlin 1834). 44 Alfons Labisch: »›Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene‹ – Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Medizin«, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1986, S. 265–285. 45 Philipp Schopff: Kurtzer aber doch außführlicher Bericht von dem Aussatz, auch dessen ursachen, Zeychen und Curation, Straßburg 1572. 41 42
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chische Lepra« und die »jüdische Lepra« einfach aus der weiteren Betrachtung aus, weil sie mit den beobachtbaren Umständen nicht in Zusammenklang zu bringen seien. Mit »griechischer Lepra« bezeichnete Schopff die Lepra-Lehre der antiken Medizin, mit »jüdischer« Lepra diejenige des Alten Testamentes, insbesondere des Buches Leviticus. Dazu führt er weiter aus: »Aber von disen dingen laß ich die Theologos zum theyl (dieweil der Aussatz im Alten Testament mehr eyn Geystliche dann weltliche oder natürliche deutung vnd außlegung gehabt) disputiren / Zum theyl die jenige welchen wol ist auff hohe vnd seltzame Fragen fleiß zulegen« 46 – als habe er unsere Bemühungen in Medizingeschichte und -theorie vorausgeahnt.
5.
Was ist Medizin – was war Medizin?
Die Medizingeschichte, so scheint unmittelbar einleuchtend, sollte in der Lage sein, einen Beitrag zur Frage »Was ist Medizin?« leisten zu können. Wie sonst könnte sie ihren Gegenstandsbereich von der »allgemeinen« sowie von anderen »Bindestrich-Geschichten« abgrenzen, wenn nicht durch einen nachvollziehbaren Begriff davon, was Medizin sei? Schon auf den zweiten Blick allerdings wird deutlich, dass aus dem methodischen Arsenal der Geschichtswissenschaft erst einmal Werkzeuge zur Verfügung gestellt werden müssen, um zu klären, was war – und nicht, was ist. Dies kann die Medizingeschichte freilich nicht davon befreien, Auskunft darüber zu geben, mit welchem Teilbereich der Vergangenheit sie sich befasst. Begibt man sich auf die Suche nach historischen Texten, die auf die Frage »Was ist Medizin?« Antworten liefern können, landet man typischerweise bei Texten von Ärzten. Solche Texte geben nur indirekt Auskunft auf die Ausgangsfrage, indem sie mehr oder weniger unausgesprochen unterstellen, »Medizin« sei dasjenige, was Ärzte – von akademischen Ärztinnen ist für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit nicht ohne Weiteres zu berichten –, was also männliche Ärzte tun. Dieses Tun habe sodann als Verhindern oder Beseitigen von Krankheiten »Gesundheit« entweder als unmittelbare Praxis oder aber mittelbar als das Gewinnen, Ordnen und Weitergeben von diese Praxis fördernden Erkenntnissen zum Ziel.
46
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Es ist also zu klären, wer sich mit welcher Berechtigung Arzt nennt, genannt hat oder rückblickend genannt werden darf. Am hier gewählten Beispiel konnte gezeigt werden, dass einschlägige Diskurse nicht selten im Kern mit der Frage befasst sind, wer eigentlich legitimerweise von »Medizin« und »Gesundheit« reden darf –, mithin standespolitisch akzentuiert sind. Tatsächlich war die Lepraschau ein im 16. Jahrhundert erheblich umstrittener Gegenstand und ein ärztliches Monopol auf expertise Gutachten keinesfalls durchgesetzt. Wenn aber ärztliche Behandlung und medizinische Wissenschaft sich auf den erkrankten Menschen beziehen – über die vom Menschen beliebig abstrahierbare »Krankheit« hinaus –, kann es keine guten Gründe geben, die behandelten Menschen in ihrer Krankheit aus der historischen Betrachtung weitgehend auszuschließen. Gerade am Beispiel der Lepra lässt sich zeigen, dass die Untersuchten recht gut mit den Aussatz-Zeichen vertraut und in der Lage waren, ihren Körper einschlägig zu präparieren, um an das gewünschte Schauzeugnis zu gelangen. Die Auseinandersetzung der Medizin mit dem biblischen LepraBegriff auf der konzeptuellen Ebene einerseits, dem Verfahren des examen leprosorum in technischer Hinsicht andererseits sowie hinsichtlich der Praxis der Schau angesichts »eigensinniger« Personen in der Schau verdeutlicht gut, dass Medizin stets selbst eine Kulturwissenschaft ist, wie Volker Roelcke zuletzt eindrücklich vertreten hat. 47 Sie studiert und modifiziert menschliche Verhaltensweisen nach selbst konzipierten Kategorien von »gesund« und »krank« und ist damit Teil einer kulturellen und historischen Formation, der sich darin selbst und seine soziokulturellen Kontexte reflektiert. 48 Eine Medizingeschichte, die diese Funktionen von Medizin in den Blick bekommen will, wird ihrerseits zur historischen Kulturwissenschaft von der Medizin werden müssen: 49 Gegenstand sind Vgl. Volker Roelcke: Vom Menschen in der Medizin. Für eine kulturwissenschaftlich kompetente Heilkunde, Gießen 2017; ders.: »Medizin – eine Kulturwissenschaft? Wissenschaftsverständnis, Anthropologie und Wertsetzungen in der modernen Heilkunde«, in: Klaus Erich Müller (Hg.), Phänomen Kultur. Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften, Bielefeld 2003, S. 107–130. 48 Vgl. Roelcke: »Medizin – eine Kulturwissenschaft?«, a. a. O., S. 128: »Die Medizin könnte daher in pointierter Formulierung als kulturell desinteressierte Kulturwissenschaft bezeichnet werden.« 49 Vgl. Martin Lengwiler/Jeanette Madarász (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010; Hans-Georg Hofer/Lutz Sauerteig: »Perspektiven einer Kulturgeschichte der Medizin«, in: Medizinhistori47
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dann Diskurse und Praktiken von »Gesundheit« und »Krankheit« sowie die sozialen Formationen, innerhalb derer dies geschieht. Diachron und synchron werden somit Gesundheitsbegriffe und Krankheitskonzepte erkenn- und deutbar, miteinander konkurrierend, einander ergänzend oder auch ignorierend. Analysierbar werden Behandlungssituationen mit den Rollen von Behandelnden und Behandelten in ihren professionellen und soziokulturellen Kontexten sowie hinsichtlich der dabei jeweils in Anspruch genommenen Wissensbestände und ihrer Genese. In den Mittelpunkt geraten die gesünderen und kränkeren Körper von Individuen und Kollektiven, die Medien und Argumente, sich darüber auszutauschen sowie die verschiedenen Modi, darüber Erkenntnisse zu gewinnen und Kenntnisse zu verbreiten. Eine ebenso kurze wie einprägsame und überzeugende, überzeitlich gültige Bestimmung eines Wesens der Medizin wird die Medizingeschichte mithin nicht liefern können. Im Gegenteil: Sie wird an zahllosen historischen Einzelbeispielen deutlich machen, dass wir, wenn wir nach der Medizin fragen, uns selbst in den Blick nehmen müssen: als Körperwesen, die im Laufe ihres Lebens kränker und gesünder, schließlich sterben werden – und die sich darum sorgen. Die Antwort auf die Frage »Was ist Medizin?« wird am Ende eine anthropologische und sie wird historisch-kulturell relativ sein müssen.
sches Journal 42 (2007), S. 105–141; Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheitsund Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln 2003; Robert Jütte: »Die Frau, die Kröte und der Spitalmeister. Zur Bedeutung der ethnographischen Methode für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin«, in: Historische Anthropologie 4 (1996), Nr. 2, S. 193–215.
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III. Der Begriff der Medizin aus Sicht der theoretischen Medizin und der Wissenschaftstheorie
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Was ist Medizin – heute? Die Antwort der Medizintheorie Peter Hucklenbroich
Abstract: In der heutigen Medizin ist ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zu beobachten: Nach üblichem Verständnis ist die Medizin durch die Ziele Therapie und Prävention von Krankheiten definiert, die Praxis lässt sich aber in vielen Bereichen, z. B. Reproduktionsmedizin oder Rechtsmedizin, nicht darunter subsumieren. Dies wird oft als Grenzüberschreitung oder als Entwicklung hin zu einer »Wunschmedizin« kritisiert. Eine Analyse solcher Grenzfälle zeigt jedoch, dass zwischen Medizin als klinischer Praxis und Medizin als wissenschaftlicher Erkenntnis unterschieden werden muss und die Grenzfälle nicht-klinische Anwendungsfälle medizinischer Erkenntnisse sind. Es wird gezeigt, dass diese Erkenntnisse in universalen erklärenden Theorien mit polyvalenter Anwendbarkeit bestehen. Die klinische Praxis lässt sich durch Rekurs auf den Krankheits- und Therapiebegriff scharf eingrenzen. Die Möglichkeit von Krankheiten ist durch anthropologisch konstante Faktoren in der Natur des Menschen bedingt. Demgegenüber stellt die Erkennung und effektive Behandlung von Krankheiten sozialontologisch ein Potential dar, das historisch-kulturell ganz unterschiedlich realisiert oder verfehlt werden kann.
1.
Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis in der heutigen Medizin
Wer in der heutigen Zeit fragt, was Medizin sei, wird in der Regel verwiesen auf Formulierungen, in denen auf Ziele der Medizin Bezug genommen wird. Medizin wird dabei typischerweise als eine praktische Tätigkeit, nämlich die ärztliche Tätigkeit und Praxis, in den Blick genommen. So hieß es in der von Héctor Wittwer formulierten Einladung zu der Tagung, auf die die im vorliegenden Band versammelten Beiträge zurückgehen, definitorisch (im folgenden D1 genannt):
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»Medizin ist diejenige menschliche Tätigkeit, die abzielt auf Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit, beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Körpers, • vollzogen wird von dazu ausgebildeten Spezialisten.« Eine weltweit verbreitete Formulierung für die Ziele der Medizin, die den Punkt »Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit« noch erweitert und genauer fasst, wurde 1996 im Rahmen eines internationalen Projektes des New Yorker Hastings Center für Bioethik erarbeitet. 1 Danach sind folgende goals of medicine zu nennen (im Folgenden D2 genannt): 2 1. a) Prävention von Krankheiten und Verletzungen, b) Förderung und Erhaltung der Gesundheit, 2. Linderung von durch Krankheiten verursachten Schmerzen und Leiden, 3. a) Pflege und Heilung von erkrankten Menschen, b) Pflege von Kranken, die nicht geheilt werden können, 4. a) Verhinderung eines vorzeitigen Todes, b) Streben nach einem friedvollen Tod. Es handelt sich hierbei offensichtlich um ein traditionelles und sehr weit verbreitetes, auch von den medizinisch Tätigen selbst akzeptiertes Verständnis von Medizin; man kann es auch als eine rudimentäre »Theorie der Medizin« betrachten, da es in ganz allgemeiner Form ausgedrückt ist und von Begriffen wie »Krankheit«, »Gesundheit«, »Schmerz« und »Prävention« Gebrauch macht, die auf einen theoretischen Hintergrund verweisen. Es handelt sich gewissermaßen um eine Alltagstheorie der Medizin. Vergleicht man nun diese Theorie dessen, was Medizin sei, mit dem, was faktisch unter der Bezeichnung »Medizin« – auch in Zusammensetzungen wie »Ästhetische Medizin« oder »Rechtsmedizin« oder doch zumindest mit dem Anspruch, zur Medizin zu gehören – an praktischen Tätigkeiten vollzogen wird, so wird deutlich, dass manches davon sich nur mit Schwierigkeiten, vieles sogar überhaupt nicht unter diese Ziele subsumieren lässt. Solche Schwierigkeiten be• •
1 Vgl. Mark J. Hanson/Daniel Callahan (Hg.): The goals of medicine. The forgotten issue in health care reform. Washington 1999; Gebhard Allert (Hg.): Ziele der Medizin. Zur ethischen Diskussion neuer Perspektiven medizinischer Ausbildung und Praxis, Stuttgart/New York 2002. 2 Zitiert nach Allert: Ziele der Medizin, S. 17 u. S. 25.
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gegnen z. B. bei der genauen Betrachtung der Reproduktionsmedizin, der Plastischen und Ästhetischen Chirurgie, des Neuro-Enhancements, der Anti-Aging-Medizin und der Rechtsmedizin (siehe den nächsten Abschnitt). Man kann daher durchaus mit Berechtigung von einem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis sprechen, zumindest prima facie. Dieser Widerspruch ist insbesondere in der medizinethischen und medizinsoziologischen Literatur vielfach bemerkt und diskutiert worden, wobei überwiegend ein medizinkritischer oder gesellschaftskritischer Tenor vorherrscht: Der Widerspruch wird als Zeichen einer Grenz- oder Kompetenzüberschreitung seitens der Mediziner, als Ausdruck einer »Medikalisierung« der gesamten Gesellschaft, als unzulässige »Pathologisierung« der Lebenswelt oder sogar als Abkehr der Medizin von ihren traditionellen Zielen gedeutet und kritisiert. 3 Manche sehen darin auch den Übergang von einer krankheitsorientierten zu einer »wunscherfüllenden Medizin« (oder »Wunschmedizin«) 4 oder zu einer rein technisch-instrumentell orientierten »Dienstleistungsmedizin« oder auch »Körper- und Seelentechnik« (»Anthropotechnik«). 5 Gegenüber solchen Interpretationen möchte ich in diesem Beitrag folgende Positionen behaupten: • Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis ist zu analysieren auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen Medizin als (ärztlicher) Praxis und Medizin als Wissenschaft (als wissenschaftlicher Erkenntnis). • Es muss unterschieden werden zwischen ärztlicher Praxis als verwissenschaftlichter und wissenschaftsorientierter, krankheitsbezogener Praxis mit den oben genannten Zielen und der Anwendung medizinischen Wissens in anderen Praxisfeldern mit anderen Zielen. • Weitere Folgerungen, die sich hieran anschließen, werden dann zu folgenden Positionen führen: Die Literatur dazu ist mittlerweile nahezu uferlos und kaum überschaubar. Exemplarisch: Sascha Dickel/Martina Franzen/Christoph Kehl (Hg.): Herausforderung Biomedizin. Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis, Bielefeld 2011. 4 Exemplarisch: Matthias Kettner (Hg.): Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt a. M./ New York 2009. 5 Exemplarisch: Dirk Lanzerath: Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik, Freiburg/München 2000, hier S. 78– 85. 3
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Für die ärztliche Praxis im obigen Sinn lässt sich eine klare, erfahrungswissenschaftlich fundierte Abgrenzung auf der Basis des Krankheitsbegriffs und der Krankheitslehre der wissenschaftlichen Medizin geben. • Die Motivation und Legitimation ärztlichen Handelns geht auf eine anthropologisch konstante Bedingung, nämlich die Vulnerabilität und Pathibilität menschlicher Lebewesen, zurück, existiert allerdings historisch immer nur in soziokulturell unterschiedlich ausgestalteten Formen. • In der heutigen, auf Wissenschaft und Technik basierenden gesellschaftlichen Lebensweise nimmt die ärztliche Tätigkeit grundsätzlich die Form einer verwissenschaftlichten und wissenschaftsorientierten Praxis, als klinisch-praktische Medizin, an. Für den Argumentationsgang ist es zunächst notwendig, sich die Schwierigkeiten, die zur Diagnose des Prima-facie-Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis führen, genauer anzusehen und auf ihre Grundlage hin zu analysieren. Dies wird im nächsten Abschnitt für einige wichtige medizinische oder quasi-medizinische Praxisfelder geleistet. •
2.
Exemplarische Analyse medizinischer Praxisfelder
In diesem Abschnitt werden einige Bereiche praktischer Tätigkeit untersucht, die sich selbst als bestimmte Bindestrich-Medizinen bezeichnen oder die üblicherweise dem Bereich medizinischer Tätigkeit zugerechnet werden. Nach einer kurzen Charakterisierung dieser Bereiche, die sich an die gängigen Darstellungen und Selbstdarstellungen anschließt, wird jeweils untersucht, ob und inwiefern diese Tätigkeiten unter die oben genannten Ziele der Medizin subsumiert oder nicht subsumiert werden können.
2.1. Palliativmedizin Palliativmedizin ist »die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen 120 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Was ist Medizin – heute?
Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt« 6. Da nach dieser Definition die kurative Behandlung im Sinne einer Wiederherstellung der Gesundheit nicht (mehr) zu den Zielen der Palliativmedizin gehört, kann bezweifelt werden, ob sich die Palliativmedizin dennoch unter die traditionellen Ziele der Medizin subsumieren lässt (gemäß D1). Zieht man jedoch die erweiterte Formulierung von D2 heran, so kann festgestellt werden, dass die zitierte Definition der Palliativmedizin unter die Ziele 2, 3b und 4b subsumiert werden kann. Insbesondere ist auch darauf hinzuweisen, dass die Behandlung von Krankheitssymptomen und die Beseitigung oder Linderung krankheitsbedingter Schmerzen und Beschwerden unter den Bezeichnungen »symptomatische Therapie« und »palliative Behandlung« schon immer zu den ärztlichen Aufgaben gehört haben. Daher kann die Palliativmedizin in vollem Umfang unter die Ziele der Medizin subsumiert werden, auch wenn sie sich erst in jüngster Zeit als ein eigenes medizinisches Fachgebiet institutionell etabliert hat.
2.2. Reproduktionsmedizin 7 Die Reproduktionsmedizin ist ein Spezialgebiet der klinischen Medizin, das sich im Rand- und Überschneidungsbereich mehrerer schon länger existierender klinischer Teilgebiete herausgebildet hat. Zu diesen Teilgebieten gehören vor allem: • Gynäkologie (»Frauenheilkunde«); • Andrologie (»Männerheilkunde«), ein auf die Störungen des männlichen Fortpflanzungssystems bezogenes Spezialgebiet; • Urologie, das auf die Krankheiten des harnbildenden und harnableitenden Organsystems (»Urogenitalsystem«) bezogene operative Teilgebiet der Medizin; • Humangenetik, der Teil der Medizin, der sich mit der menschlichen Vererbung, deren Störungen und den erblichen Krankheiten befasst; Vgl. die Definitionen auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: hhttps://www.dgpalliativmedizin.de/images/DGP_GLOSSAR.pdfi (letzter Zugriff 01. 10. 2017). Referenzwerk für die Palliativmedizin: Eberhard Aulbert/Friedemann Nauck/Lukas Radbruch (Hg.): Lehrbuch der Palliativmedizin, Stuttgart 32011. 7 Referenzwerk für die Reproduktionsmedizin: Klaus Diedrich/Michael Ludwig/ Georg Griesinger (Hg.): Reproduktionsmedizin, Berlin/Heidelberg 2013. 6
121 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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Embryologie und Pränatologie, zwei Gebiete, die sich auf die normale und pathologische Entwicklung des Menschen in der vorgeburtlichen Phase, von der Zeugung über die Stadien des Embryos und Fetus bis hin zur Geburt, beziehen und Teilgebiete der Pädiatrie (Kinderheilkunde) bilden. Die Reproduktionsmedizin bezieht sich in diesem Umfeld spezifisch auf die natürliche menschliche Fortpflanzung und deren Störungen sowie auf die sogenannte »assistierte« Fortpflanzung und die im Rahmen der Letzteren eingesetzten diagnostischen Methoden, insonderheit die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Polkörperchendiagnostik. Der Hauptgegenstand der Reproduktionsmedizin ist die Infertilität, d. h. die Unfähigkeit einer Einzelperson oder eines Paares zur natürlichen Fortpflanzung. Als Ursache dafür kommt eine ganze Anzahl von Krankheiten in Betracht, u. a. • Fehlbildungen, Infektionen, Tumore der Fortpflanzungsorgane, • Hormonstörungen, • Endometriose (Erkrankung, bei der Gebärmutterinnenschleimhautgewebe an anatomisch »falschen« Stellen im Körper angelegt ist), • perniziöse Anämie, • erektile Dysfunktion (sogenannte »Impotenz« des Mannes), • immunologische Inkompatibilität zwischen männlichem und weiblichem Partner • und noch viele andere Krankheitsbilder. Als Behandlungsmethoden gegen die Infertilität setzt die Reproduktionsmedizin insbesondere Verfahren ein, bei denen Ei- oder Samenzellen von gesunden Personen gewonnen bzw. gespendet werden und diese durch spezielle Verfahren innerhalb oder außerhalb des weiblichen Körpers zu einer »künstlichen« Befruchtung gebracht werden (intrauterine Insemination = IUI, in-vitro-Fertilisation = IVF, intracytoplasmatische Spermieninjektion = ICSI). Es handelt sich hierbei um die Therapie des krankhaften Zustands der Infertilität, genauer um eine Form der substitutiven (ersetzenden) Therapie, insofern für den Ausfall einer gesunden Fähigkeit (zur Reproduktion) ein Ersatz geschaffen wird. Alle diese Verfahren können grundsätzlich nicht nur bei Vorliegen einer Krankheit bzw. Infertilität, sondern auch zur künstlichen Zeugung eines »Wunschkindes« bei Gesunden eingesetzt werden. Dieser Zweck ist vergleichbar dem einiger traditioneller Kulturtechniken zur Erlangung eines – auf natürlichem oder als legitim gelten•
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dem Wege nicht erreichbaren – Kindes, z. B. durch Samenspende, Adoption, Polygamie bzw. Polygynie, Nebenfrauen, morganatische Ehen usw. In diesem Fall handelt es sich dann bei den reproduktionsmedizinischen Verfahren um quasi-technische, auf medizinischem Wissen über Anatomie, Physiologie und Pathologie der Reproduktion beruhende Methoden. Da nach Voraussetzung in diesen Fällen keine Krankheit vorliegt, handelt es sich hierbei nicht um Therapie. Es handelt sich aber sehr wohl um eine technische Methode, die mit erheblichen gesundheitlichen Risiken und Gefahren verbunden ist, und zwar sowohl in Bezug auf die körperliche und seelische Gesundheit der Eltern (oder zumindest der weiblichen Patientin), bei denen bzw. bei der die Methode eingesetzt wird, als auch in Bezug auf die körperliche Integrität der Keimzellen und des Embryos, der gezeugt werden soll: Bei der Entnahme und Wiedereinpflanzung von Keimzellen und Embryo kann es zu Verletzungen kommen, im Rahmen der Prozedur können Keimzellen und Embryonen geschädigt werden, und die ganze Prozedur kann die Patienten psychisch erheblich belasten und sogar traumatisieren. Um diesen Gefahren vorzubeugen, müssen präventiv geeignete Vorkehrungen getroffen und nötigenfalls spezifische – auch therapeutische, z. B. psychotherapeutische – Maßnahmen eingesetzt werden. Diese notwendigen Vorkehrungen und Maßnahmen fallen eindeutig unter die Ziele der Medizin. Diese Feststellung ist klar begründet und kaum bestreitbar. Man muss sie argumentativ klar unterscheiden von der Frage, ob reproduktionsmedizinische Verfahren überhaupt zulässig sind und im Rahmen des Gesundheitssystems angeboten werden sollen, die bekanntlich aufgrund ethischer oder weltanschaulicher Bedenken kontrovers diskutiert wird. Es gilt: Wenn reproduktionsmedizinische Verfahren eingesetzt werden, dann sind auch bestimmte präventive oder sogar therapeutische Maßnahmen ärztlich notwendig und indiziert, und diese fallen unter die Ziele der Medizin. Dies ist ein Fall von technisch bedingter ärztlicher Indikation, der in analoger Form auch in anderen Bereichen auftritt.
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2.3. Ästhetische Chirurgie 8 Die Ästhetische Chirurgie wird in der Regel als Teilgebiet der »Plastischen und Ästhetischen Chirurgie« definiert. Während es dabei in der Plastischen Chirurgie um die Korrektur und Reparatur krankheitsbedingter (angeboren, Verletzung) oder therapeutisch notwendig gewordener (Operation) körperlicher Verformungen, Entstellungen oder Verstümmelungen geht, zielt die Ästhetische Chirurgie zunächst einmal generell auf Verbesserungen des Aussehens aus anderen Gründen ab. Man muss hier noch einmal unterscheiden zwischen Maßnahmen, die im Grenzbereich zur Krankheitsbehandlung liegen, und solchen, die eindeutig anderen Zwecken dienen. Zur ersten Gruppe gehören • die Behandlung von Alterserscheinungen, die als krankheitsanalog betrachtet werden können, z. B. Falten, Gewebserschlaffungen, Pigmentierungen und Depigmentierungen von Haut, Haaren, Zähnen; • Maßnahmen zum Schutz vor sozialer Ausgrenzung, Kränkung oder Diskriminierung, z. B. wegen der Haut- oder Haarfarbe oder wegen »abstehender« Ohren; • Maßnahmen zur Abwendung oder Behandlung einer psychischen Erkrankung, z. B. wegen extremer Scham über körperliche Merkmale (»zu große« Nase, »zu kleine« Brüste u. Ä.). Bei dieser letzten Teilgruppe ist eine »Differentialindikation« zwischen einer ästhetisch-chirurgischen und einer psychotherapeutischen Intervention vorauszusetzen, die jeweils nur individuell und situationsbezogen erfolgen kann. Zur zweiten Gruppe gehören Maßnahmen, die primär eindeutig nicht krankheitsbezogen sind, sondern aus persönlichen ästhetischen Vorstellungen heraus, aus beruflichen Gründen (Schauspieler, Model) oder wegen eines Wettbewerbsvorteils in Beruf oder Partnerwahl erstrebt werden. Auch bei diesen Maßnahmen muss aber sekundär, analog wie bei den reproduktionsmedizinischen Maßnahmen, an eine technisch bedingte medizinische Indikation zur Prävention möglicher Schädigungen gedacht werden, die unter die Ziele der Medizin zu subsumieren wäre.
Referenzwerk: Heinz-Georg Bull/Werner Lothar Mang (Hg.): Ästhetische Chirurgie, Hamburg 1996.
8
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2.4. Enhancement und Neuro-Enhancement 9 Unter dieser Bezeichnung werden gegenwärtig Verfahren zusammengefasst, die mithilfe in der klinischen Medizin etablierter Techniken folgende Ziele verfolgen: • Leistungssteigerung im Sport, im militärischen Einsatz, in beruflichen und zivilen Prüfungs- und Wettbewerbssituationen (Doping); • Herbeiführung von Euphorie und Antriebssteigerung ohne Vorliegen einer krankhaft verminderten oder gestörten Stimmungslage; • Erhöhung der sexuellen »Leistungsfähigkeit« aus beruflichen oder hedonistischen Motiven; • Herbeiführung oder Konservierung von »Jugendlichkeit« in Aussehen, Funktion oder Gefühlslage aus beruflichen Gründen oder als Ausdruck eines Lebensstiles (»Berufsjugendliche«). Diese Ziele sind insgesamt eindeutig von Therapie, Prävention und Palliation unterschieden und daher keine Ziele der Medizin. Allenfalls kann bei bestimmten Techniken wiederum eine technisch bedingte medizinische Indikation gestellt werden. Alle diese Ziele wurden aber in der Geschichte immer schon verfolgt, lange vor der Ära der modernen Medizin. Allerdings lässt sich durch die heutigen, wissenschaftlich fundierten medizinischen Verfahren häufig eine erhöhte Effektivität und größere Sicherheit des Erfolges erreichen.
2.5. Rechtsmedizin 10 Die Rechtsmedizin, auch als Forensische Medizin oder Gerichtsmedizin bezeichnet, befasst sich in ihrem Hauptanteil mit der Entwicklung, Anwendung und Beurteilung medizinischer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse für die Rechtspflege sowie zusätzlich mit der Vermittlung arztrechtlicher und ethischer Kenntnisse für die Ärzteschaft. Ersichtlich fällt keine dieser Tätigkeiten direkt unter die Ziele Exemplarisch: Bettina Schöne-Seifert/Davinia Talbot (Hg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009, und Bettina Schöne-Seifert/Davinia Talbot/Uwe Opolka et al. (Hg.): Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, Paderborn 2009. 10 Referenzwerk: Reinhard B. Dettmeyer/Harald F. Schütz/Marcel Verhoff: Rechtsmedizin, Berlin/Heidelberg 22014. 9
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der Medizin; auch die Vermittlung rechtlicher und ethischer Kenntnisse unterstützt zwar die Ärzteschaft in der Ausübung ihres Berufs, ist aber primär keine therapeutische Tätigkeit, sondern gehört zur Qualifizierung und Absicherung des ärztlichen Handelns. Aber die beratende und gutachterliche Tätigkeit der Rechtsmediziner für die Rechtspflege bezieht sich z. B. auf die Feststellung von Todesursachen, die Spurensicherung bei Verbrechen, den Nachweis oder Ausschluss von Vaterschaften oder die Beurteilung von Fahrtauglichkeiten und von Schuld-, Haft- und Verhandlungs(un)fähigkeiten und setzt daher eine wissenschaftlich-medizinische Ausbildung und zusätzliches fachspezifisches Expertenwissen unabdingbar voraus. Damit fällt sie unter den Gegenstandsbereich der Medizin als wissenschaftlicher Erkenntnis und wird aus diesem Grund als Teilgebiet der Medizin, eben als Rechtsmedizin, bezeichnet.
3.
Medizin als Wissenschaft
3.1. Der erkenntnistheoretische Aspekt Als Resultat der Analysen im vorigen Abschnitt kann festgehalten werden, dass es große Bereiche praktischer Tätigkeit gibt, die deswegen als (Bindestrich-) Medizin bezeichnet werden bzw. generell zur Medizin gerechnet werden, weil sie auf spezifischem medizinischem Wissen beruhen – auch wenn sie nur bedingt oder gar nicht unter die praktischen Ziele der Medizin im Sinne von D1 und D2 subsumiert werden können. Hier zeigt sich eine zweite Bedeutung des Ausdrucks »Medizin«: Nicht nur die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit, sondern auch das System medizinischer Erkenntnisse und Theorien wird als Medizin bezeichnet. 11 In der Geschichte der Medizin gibt es eine lange Folge von Theorien und Systemen, die in eigenen Lehrwerken und Handbüchern niedergelegt sind, vom Corpus Hippocraticum über die großen Kompendien der arabischen und mittelalterlichen Medizin bis zu den neuzeitlichen Atlanten und Traktaten zur Anatomie, Physiologie und Pathologie und bis zur heutigen modernen Lehr- und Handbuchliteratur. Diese Werke repräsentieren jeweils das mediziDiese Differenzierung ist ausführlicher begründet in Peter Hucklenbroich: »Die Struktur des medizinischen Wissens«, Zeitschrift für medizinische Ethik 44/2 (1998), S. 107–125.
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nische Wissen ihrer Zeit über Krankheiten, ihre Ursachen, Erkennung und Behandlung. Wenn man in diesem Zusammenhang von »Wissen« spricht, ist allerdings eine Differenzierung zu berücksichtigen: Es handelt sich zwar immer um Theorien – mithin um fehlbares, unsicheres Wissen –, aber zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert ändert sich sukzessive das Paradigma der Medizin von einem spekulativen, mit bloßer unsystematischer Empirie arbeitenden Gemenge von Schulmeinungen (»Schulmedizin«) hin zu einer methodisch ausgereiften, experimentell und instrumentell arbeitenden Wissenschaft. Die genaue Geschichte der Entstehung des modernen Paradigmas der Medizin als wissenschaftlicher Medizin, etwa im Sinne der Kuhn’schen Wissenschaftstheorie, ist zwar noch zu schreiben, 12 aber etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kann von der Existenz der Medizin als reifer Wissenschaft im Sinne der modernen Erfahrungswissenschaften wie Physik, Chemie und Biologie ausgegangen werden: ein System erklärender Theorien, das durch ständige experimentelle Prüfung und Erweiterung die normalen und pathologischen Vorgänge immer vollständiger und genauer erfasst und die Grundlage für ständig verbesserte diagnostische und therapeutische Methoden darstellt. Dieses System ist die heutige Medizin – in der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Terminus. Das System der medizinischen Theorien, also die heutige wissenschaftliche Krankheits- und Methodenlehre der Medizin, ist bislang von Wissenschaftstheorie und Philosophie kaum zureichend untersucht und analysiert worden. Zum Teil mag das daran liegen, dass die moderne Medizin in der Öffentlichkeit primär mit ihren therapeutischen Fortschritten und Erfolgen identifiziert wird, nicht mit ihren theoretischen Erkenntnisfortschritten. Deren Rolle wird häufig verkannt oder als marginal eingeschätzt, so dass schon deswegen eine genauere Analyse unterbleibt. Noch bedauerlicher ist es, wenn die erkenntnistheoretische Analyse der Medizin als eine Einschränkung der philosophischen Perspektive dargestellt und ihr als Alternative Vgl. die Diskussionen bei Richard Toellner: »Mechanismus – Vitalismus: Ein Paradigmawechsel? Testfall Haller« und Karl E. Rothschuh: »Ist das Kuhnsche Erklärungsmodell wissenschaftshistorischer Wandlungen mit Gewinn auf die Konzepte der Klinischen Medizin anwendbar?«, beide in: Alwin Diemer (Hg.), Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und die Geschichte der Wissenschaften, Meisenheim 1977, S. 61–72 bzw. S. 73–90, und den Versuch einer Kuhnianischen Rekonstruktion bei Nelly Tsouyopoulos: Asklepios und die Philosophen. Paradigmawechsel in der Medizin im 19. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Cannstatt 2008.
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eine kulturhistorische Betrachtung entgegengesetzt wird, anstatt die Zusammengehörigkeit beider Betrachtungsweisen zu erkennen. 13 Was genau zum Gegenstandsbereich der heutigen wissenschaftlichen Medizin gehört und wie die medizinischen Theorien systematisch zusammenhängen, gehört noch keineswegs zum Allgemeinwissen des gebildeten Laien. Selbst bei Fachphilosophen, die über Medizin und Medizintheorie schreiben und urteilen, finden sich so grobe Fehler wie die Behauptung, dass der Begriff der Krankheit von der Biologie definiert würde, oder dass die Medizin über gar keine eigene wissenschaftliche Theorie verfüge. 14 Diesen Autoren ist offenbar unbekannt, dass der Krankheitsbegriff, als zentraler Begriff der Medizin überhaupt, ein theoretischer Begriff ist, der seit dem 19. Jahrhundert im Rahmen der theoretischen und klinischen Krankheitslehre (Pathologie und Nosologie) erforscht und systematisch-wissenschaftlich abgehandelt wird. 15
3.2. Der Gegenstandsbereich der Medizin im Überblick Die wissenschaftliche Medizin umfasst das Wissen über den Menschen als bio-psycho-soziales Wesen in den erfahrungswissenschaftlich fassbaren Aspekten von Leben und Tod, Entwicklung und Alterung, Gesundheit und Krankheit, Heilung und Behinderung sowie das Wissen und die praktischen Kompetenzen hinsichtlich der Erkennung und Behandlung von Krankheiten und gesundheitlichen Gefährdungen. Einheitliche Gegenstände der Medizin sind somit 1. der Mensch (Homo sapiens) und sein körperliches, seelisches und soziales Leben in Beziehung auf Gesundheit und Erkrankung, 2. die Krankheiten, insbesondere die speziellen Krankheitsentitäten, 3. die ärztliche Handlung und ihre Strukturen und Regeln im Rahmen von Diagnostik, Therapie und Prävention. Es bestehen Überlappungen Exemplarisch: Cornelius Borck: Medizinphilosophie zur Einführung, Hamburg 2016, besonders S. 26–36. 14 Nachweise bei: Peter Hucklenbroich: »Die Normativität des Krankheitsbegriffs. Zur Genese und Geltung von Kriterien der Krankhaftigkeit«, Analyse & Kritik 38/2 (2016), S. 459–496, hier S. 461. 15 Dazu ausführlich: Peter Hucklenbroich: »›Krankheit‹ als theoretischer Begriff der Medizin: Unterschiede zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Krankheitsbegriff«, Journal for General Philosophy of Science 49/1 (2018), S. 23–58. hhttps://doi.org/10.1007/s10838–017–9367-yi (letzter Zugriff 21. 01. 2018) 13
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zwischen der Medizin und Bereichen der exakten Naturwissenschaften Physik und Chemie (Biophysik, Biochemie, Pharmakologie, Klinische Chemie), den Lebenswissenschaften Biologie (Humanbiologie, Mikrobiologie, Evolutionsmedizin) und Psychologie (Neuropsychologie, Klinische Psychologie, Tiefenpsychologie) und Bereichen der Sozialwissenschaften (Sozialmedizin, Epidemiologie, Gesundheitswissenschaft, Public Health). Gegenwärtig beobachten wir in Forschung und Praxis ein beginnendes Zusammenwachsen von neuromedizinischen, psychiatrischen, psychosomatischen und psychosozialen Ansätzen. Die zentrale theoretische Begrifflichkeit der Medizin umfasst die Unterscheidung zwischen gesund und krank(haft) (Theoretische Pathologie), das Konzept der Verursachung und Ausbreitung krankhafter Phänomene im Organismus (Ätiologie und Pathogenese) sowie Begriff, Theorie und System der Krankheitsentitäten (Allgemeine Pathologie und Nosologie). Die Unterscheidung zwischen gesund und krank rekurriert primär auf folgende fünf Krankheitskriterien: Ein Zustand oder Vorgang im Organismus ist krankhaft, wenn er (unbehandelt) • zum Tode führt, • mit Schmerz, Leiden oder Beschwerden verbunden ist, • die Fähigkeit zur biologischen Reproduktion einschränkt oder aufhebt, • die Fähigkeit zum sozialen Zusammenleben einschränkt oder aufhebt, • das (individuelle) Risiko erhöht, dass ein Ereignis gemäß 1.–4. neu auftritt. Bei dieser Definition sind einige Zusatzbedingungen zu berücksichtigen, z. B. dass es sich um Phänomene handeln muss, die nicht der willentlichen Steuerbarkeit unterliegen, dass es natürliche Alternativen zu ihnen geben muss, die nicht unter Krankheitskriterien fallen, und dass diese Alternativen nicht ausschließlich künstlich herbeiführbar sind. (Beispiel: Das Auftreten einer kurzfristigen Bewusstlosigkeit ist pathologisch nach Kriterium 5 – Verletzungsrisiko und Schutzlosigkeit – und, weil ohne Widerspruch zur Erfahrung angenommen werden kann, dass ein gesundes Leben ohne solche Bewusstlosigkeiten möglich ist [= dass ein Alternativverlauf möglich ist und weniger nachteilig wäre]; das regelmäßige Auftreten mehrstündiger Bewusstlosigkeiten jede Nacht – der natürliche Schlaf – ist nicht pathologisch, weil erfahrungsgemäß und wissenschaftlich er129 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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klärbar ein Überleben ohne solchen regelmäßigen Schlaf nicht möglich ist [Alternative = Tod durch Schlafentzug]; falls es in Zukunft möglich werden sollte, z. B. durch neuropharmakologische Maßnahmen zu erreichen, dass Menschen teilweise oder ganz ohne Schlaf auskommen, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen, würde dadurch der natürliche Schlaf nicht zu einem pathologischen Phänomen.) Diese primäre Unterscheidung lässt sich sodann mittels der Konzepte der Kausalität und der Symptomrelation erweitern auf sekundär und tertiär pathologische Phänomene: Dies sind Phänomene, die nicht selbst unter die Kriterien fallen, aber ausschließlich durch solche primär pathologischen Phänomene verursacht werden können oder Symptome für solche sind. Diese dreistufige Unterscheidung zwischen gesund und krankhaft wird mit den Mitteln der Statistik zum Konzept der (statistischen) Normalität und der Abweichung von ihr, insbesondere zu den Konzepten des Normalwertes und des Normalbereichs, erweitert. 16 Mit dieser Begrifflichkeit baut die Medizin ihr Modell der normalen und pathologischen Zustände des Menschen auf, die Orthologie und Pathologie. Der komplexe Gegenstandsbereich wird in eine Reihe von Modellen aufgelöst, die jeweils bestimmte Aspekte des Lebensprozesses thematisieren und beschreiben. Die grundlegenden Aspekte, für die die Medizin Modelle entwickelt, sind: (i) das individuelle Leben als ontogenetischer Entwicklungs- und AlterungsproAusführliche Darstellungen und Diskussionen zum System der Krankheitskriterien in: Peter Hucklenbroich: »Hauptartikel: Krankheit – Begriffsklärung und Grundlagen einer Krankheitstheorie«, Erwägen – Wissen – Ethik 18/1 (2007), S. 77–90; ders.: »Replik: Klärungen, Präzisierungen und Richtigstellungen zum Krankheitsbegriff«, Erwägen – Wissen – Ethik 18/1 (2007), S. 140–56; ders.: »›Normal – anders – krank‹. Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen zum Krankheitsbegriff«, in: Dominik Groß/Sabine Müller/Jan Steinmetzer (Hg.), Normal – anders – krank? Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin, Berlin 2008, S. 3–31; ders.: »Der Krankheitsbegriff der Medizin in der Perspektive einer rekonstruktiven Wissenschaftstheorie«, in: Markus Rothhaar/Andreas Frewer (Hg.), Das Gesunde, das Kranke und die Medizinethik. Moralische Implikationen des Krankheitsbegriffs, Stuttgart 2012, S. 33–63; ders.: »Die wissenschaftstheoretische Struktur der medizinischen Krankheitslehre«, in: Peter Hucklenbroich/Alena M. Buyx (Hg.), Wissenschaftstheoretische Aspekte des Krankheitsbegriffs, Münster 2013, S. 13–83; ders.: »›Disease entity‹ as the key theoretical concept of medicine«, Journal of Medicine and Philosophy 39 (2014), S. 609–633; ders.: »Medical Criteria of Pathologicity and Their Role in Scientific Psychiatry – Comments on the Articles of Henrik Walter and Marco Stier«, Frontiers in Psychology 5 (2014), S. 128; sowie Hucklenbroich: Normativität, a. a. O., und Hucklenbroich: Theoretischer Begriff, a. a. O.
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zess; (ii) der Körper als geformte und gegliederte Struktur; (iii) der Organismus als umweltabhängig selbstprozessierender Funktionszusammenhang; (iv) das individuelle menschliche Subjekt als soziopsycho-somatisches System; (v) die Wechselbeziehung von Individuum und Lebensgemeinschaft als bio-psycho-soziales System. Innerhalb jeder dieser Grundperspektiven werden weitere Teilaspekte isoliert und modelliert; beispielsweise innerhalb der zweiten, morphologischen Perspektive die Aspekte der Funktionssysteme (funktionelle Anatomie), der Gewebe (Histologie), der Zellstruktur (Cytologie) und der räumlichen Anordnung und Nachbarschaftsrelationen der verschiedenen Teilstrukturen und Teilsysteme (topographische Anatomie). Diese Aufteilung in Teilaspekte ist aus methodischen und praktischen Gründen unvermeidlich, stellt aber eine künstlich eingeführte Perspektivik dar, der die grundsätzliche Einheit des individuellen menschlichen Lebens gegenüberzustellen und jederzeit vor Augen zu halten ist. Die Ortho- und Pathologie wird ergänzt durch die Diagnostik und Therapeutik, also die Lehren von der Erkennung und Behandlung (einschließlich der Prävention) von Krankheiten. Zur Diagnostik zählen z. B. Disziplinen wie Klinische Chemie, Laboratoriumsmedizin, (klinische) Radiologie oder internistische Funktionsdiagnostik; zur Therapeutik Disziplinen wie (klinische) Pharmakologie, Strahlentherapie oder Operationslehre. Schließlich werden die Aspekte von Ortho- und Pathologie, Diagnostik und Therapeutik nach bestimmten, v. a. methodisch und praktisch begründeten Aspekten zu klinischen Spezialdisziplinen zusammengefasst, darunter die Innere Medizin und die Chirurgie als »Mutterfächer«, die Gynäkologie, Pädiatrie, Dermatologie, Orthopädie, Neurologie, Psychiatrie usw. als die eigentlichen »Spezialfächer«. Die verschiedenen Disziplinen der Medizin unterscheiden sich v. a. hinsichtlich der betrachteten Teilausschnitte des gemeinsamen Gegenstands und der eingesetzten Methoden. Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind die wichtigsten gegenwärtigen Herausforderungen für die medizinische Grundlagenforschung die Aufklärung der vom Genom ausgehenden weiteren Prozesse im Zellstoffwechsel und bei der Entwicklung, Differenzierung und Alterung von Zelle und Gesamtorganismus sowie die Zusammenführung neurobiologischer und (neuro-) psychologischer Beschreibungs- und Erklärungsansätze, um ein integriertes medizinisches Organismus- und Krankheitsmodell zu erreichen. 131 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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Solange dies nicht vorliegt, besteht immer die Gefahr einer entweder dualistischen (Trennung von Körper und Psyche) oder reduktionistischen (rein biomedizinischen) Sichtweise auf den Patienten, die beide wissenschaftlich und ärztlich-ethisch nicht akzeptabel sind.
3.3. Das Verhältnis von Theorie und Praxis Wie der obige Überblick zeigt, ist die Medizin heute als integraler, eng vernetzter Teil des Gesamtsystems der theoretischen und experimentellen Erfahrungswissenschaften etabliert. Ihr Erkenntnisziel ist die möglichst vollständige und lückenlose, systematisch geordnete und von irgendwelchen praktischen Interessen, kulturspezifischen Perspektiven oder weltanschaulichen Wertungen unabhängige und uneingeschränkte Beschreibung und Erklärung ihres Gegenstandsbereichs. Damit ist auch gesagt, dass sich die medizinische Erkenntnis keineswegs ausschließlich auf praktisch-therapeutisch (und eventuell diagnostisch) verwertbares Wissen beschränken oder reduzieren lässt. Selbst wenn man dies fordern wollte, was bisweilen tatsächlich geschieht, widerspräche dies ganz grundlegend dem systematischen Charakter wissenschaftlichen Wissens, ja würde dieses Wissen als Ganzes tendenziell aufheben müssen, da ja einerseits nie garantiert werden könnte, dass Teile dieses Wissens irgendwann und irgendwie auch für andere Anwendungszwecke gebraucht werden können, andererseits ein selektives Auslassen der – zu einer bestimmten Zeit – nicht als therapeutisch relevant erscheinenden Probleme oder Informationen große Lücken, gewissermaßen »blinde Flecke«, in den Beschreibungs- und Erklärungsmodellen hinterlassen würde, die ein konsistentes und kohärentes Argumentieren und Forschen überhaupt unmöglich machen würden. Kurz zusammengefasst: Eine medizinische Wissenschaft und Forschung, die a priori garantiert nur klinisch-praktisch relevante Gegenstände erforscht und Ziele unterstützt, kann gar nicht erst etabliert werden, und es gibt sie daher auch nicht. Dies liegt nicht an einem fehlenden Willen dazu, sondern an der Natur menschlichen Wissens, genauer an der Natur des Verhältnisses von generalisierbarem Erfahrungswissen und kontingenten menschlichen Zwecksetzungen. 17 Dies nicht zu erkennen und daher eine »praktische« Wissenschaft Medizin zu fordern, die streng auf therapeutische Zwecke bzw. Anwendbarkeit beschränkt ist, ist der
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Generalisiertes Erfahrungswissen ist in seiner Anwendbarkeit grundsätzlich polyvalent. Diese erkenntnistheoretische Grundtatsache gilt nicht nur für die Naturwissenschaften 18, sondern für alle Erfahrungswissenschaften, die über Theorien verfügen, daher auch für die wissenschaftliche Medizin. Daraus ergeben sich Konsequenzen für das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Medizin: Es gibt nicht nur das Praxisfeld der klinischen Therapie und Diagnostik, in dem medizinische Erkenntnisse Anwendung finden (können), sondern auch viele andere. Dadurch erklärt sich, dass – wie oben aufgezeigt – beispielsweise im Praxisfeld der Reproduktionsmedizin, der Ästhetischen Chirurgie, der Rechtsmedizin und des Enhancements medizinische Techniken als Anwendungen medizinischen Wissens zu finden sind und die Bereiche teilweise sogar als bestimmte Bindestrich-Medizinen bezeichnet werden, auch wenn sie nicht unter die Ziele der klinisch-praktischen Medizin subsumiert werden können. Allerdings bleibt die klinisch-praktische Medizin als Krankenversorgung und Krankheitsbehandlung das bei Weitem größte und gesellschaftlich bedeutendste Anwendungsfeld medizinischen Wissens. Es bleibt auch richtig, dass es dieses Praxisfeld war, aus dem die Medizin als Erfahrungswissenschaft erst hervorgegangen ist. Aber mit der Entstehung der wissenschaftlichen Medizin und ihres Paradigmas im 19. und 20. Jahrhundert hat sich auch irreversibel ihr potentielles Anwendungsspektrum enorm erweitert, und diese Potenzen werden immer weitgehender auch genutzt – in Kosmetik, Sport, Kommerz, Kriminalistik, Weltraumforschung, Militärwesen und leider auch in zentrale Schwachpunkt in Urban Wiesings Konzeption. Vgl. Urban Wiesing: Wer heilt, hat Recht? Über Pragmatik und Pluralität in der Medizin, Stuttgart 2004. Zur Kritik des auf Wolfgang Wieland (u. a.) zurückgehenden Konzepts einer solchen »praktischen« Wissenschaft Medizin vgl. Hucklenbroich: Struktur des Wissens, a. a. O., sowie ders.: »Theorie der Medizin«, in: Hanns Ackermann et al., Endspurt Klinik. Skript 20 Querschnittsfächer, Stuttgart 2013, S. 144–152, bzw. 22017, S. 147– 154. 18 Wiesing begründet seine abweichende Meinung nur mit dem von ihm behaupteten Gegensatz zwischen Naturwissenschaften und Medizin (vgl. Wiesing: Wer heilt, hat Recht?, a. a. O., S. 13–30). Aber die Polyvalenz ist allen wissenschaftlichen Disziplinen gemeinsam, die mit generellen Theorien arbeiten. Dass die Medizin gar keine solchen Theorien verwende oder auf sie verzichten könne, wird heute kein Erkenntnis- oder Wissenschaftstheoretiker mehr behaupten wollen: Fast alle in den klinisch-praktischen Fächern verwendeten Theorien über Krankheiten, ihre Diagnose und Behandlung sind erklärende Theorien von universaler Geltung, also nicht beschränkt und beschränkbar auf die klinischen Zwecke.
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moralisch fragwürdigen und kriminellen Anwendungsfeldern. Diese Entwicklung kann weder dadurch rückgängig gemacht werden, dass man eine Beschränkung der »erlaubten« Anwendungsfelder medizinischen Wissens auf die klinische Praxis einfach fordert oder postuliert, noch kann sie durch eine generelle Abwertung und Abqualifizierung aller nicht-klinischen Anwendungen als »Medikalisierung«, »Pathologisierung« oder inhumane »Anthropotechnik« angemessen beantwortet werden. Notwendig ist vielmehr eine sorgfältige Differenzierung zwischen allen diesen ganz verschiedenen Anwendungsfeldern und eine gründliche Analyse und Bewertung der hinter ihnen stehenden Zwecke und Interessen. Dies ist sicher ein wichtiges Feld für die angewandte Ethik und für eine gesellschaftliche Technologiefolgenbewertung. Es ist aber auch klar, dass in diesen Bereichen der Bewertung soziokulturelle Unterschiede und Interessenkonflikte ebenso wie weltanschauliche, religiöse und politische Differenzen in vollem Umfang zum Tragen kommen. 19 Zusammenfassend können drei Bereiche des Praxisbezugs der wissenschaftlichen Medizin differenziert werden: 1. die klinischpraktische Medizin als Krankenversorgung, 2. alle anderen praktischen Anwendungen medizinischen Wissens und medizinischer Techniken und Methoden, 3. Erkenntnisse, die primär aus rein theoretischem Interesse, aus »theoretischer Neugierde« heraus oder zur Vervollständigung des wissenschaftlichen Weltbildes ohne jede Zweckbindung und in diesem Sinne wertfrei gewonnen und weiterverfolgt werden. Zu dieser letzten Gruppe zählen z. B. zumindest teilWiesing schlägt vor, diese Problematik insgesamt dadurch zu lösen, dass eine »Indikation ohne Krankheitsbezug« eingeführt wird, die sich statt am Krankheitsbegriff lediglich am »subjektiven (!) Nutzen« des Kunden/Klienten/Patienten orientiert (vgl. Urban Wiesing: Indikation. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die ärztliche Praxis, Stuttgart 2017, S. 84–95). Er behauptet, eine solche Indikation könne weiterhin eine »Leitfunktion« in dem Sinne ausüben, dass keine Beliebigkeit in der Wahl von Zielen für Maßnahmen entsteht und medizinische Maßnahmen nicht aus kommerziellen Interessen durchgeführt werden (ebd., S. 94–95). Damit widerspricht er sich selbst, denn er hat »Nutzen« hier rein subjektiv als »Nutzen aus Sicht des Patienten«, bestimmt und damit ausdrücklich beliebige Nutzenvorstellungen, auch rein kommerzielle, zugelassen. Die Rolle des Arztes bzw. ärztlichen Dienstleisters ist hierbei auf die bloße interne Konsistenzprüfung beschränkt, d. h. auf die Frage, ob die »indizierte« Maßnahme auch tatsächlich den subjektiv erwünschten Nutzen erbringen kann. Mit dem Begriff der »Indikation ohne Krankheitsbezug« wird darüber hinweggetäuscht, dass in Wirklichkeit mit dem Verzicht auf den Krankheitsbezug nur erreicht wird, dass alles erlaubt (= indiziert) ist, was irgendjemandem aus subjektiven Erwägungen heraus nützlich erscheint. 19
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weise Erkenntnisse über die evolutionäre Entstehung und spezifische Anthropogenese des Menschen (Hominisation), also die Naturgeschichte des Menschen, oder medizintheoretische und medizinhistorische Forschungsresultate. Solche Erkenntnisse haben ihren Platz in Forschung und Lehre, aber nicht in praktischen Bereichen der Lebens- und Arbeitswelt. Die Frage, wie man die klinisch-praktische Medizin trennscharf von anderen Anwendungsbereichen medizinischen Wissens abgrenzen kann, wird im nächsten Abschnitt behandelt.
4.
Der Krankheitsbegriff als Unterscheidungskriterium
Um die klinisch-praktische Medizin von allen anderen praktischen Anwendungen medizinischen Wissens abzugrenzen, kann in erster Näherung auf die weiter oben bereits zitierten »Ziele der Medizin« (D2) zurückgegriffen werden. Diese Definition sollte allerdings noch in zweierlei Hinsicht ergänzt werden: (i) Nicht nur die in D2 genannten Ziele Therapie, Prävention, Palliation, Pflege und Sterbebegleitung von Kranken müssen genannt werden, sondern auch die mittelbaren Ziele Diagnostik und Erforschung von Krankheiten. (ii) Therapie als »Wiederherstellung der Gesundheit« besteht nicht nur und ausschließlich in einer restitutio ad integrum, also einer Rückführung in den Zustand vor der Erkrankung und in der Wiederherstellung verloren gegangener Fähigkeiten, sondern kann und muss häufig darin bestehen, für verloren gegangene Fähigkeiten, Körperteile oder Organe einen Ausgleich oder Ersatz bereitzustellen. Beispiele dafür sind der Einsatz von Prothesen, Transplantaten, Schrittmachern oder »künstlichen« Organen bzw. technischen Organersatzgeräten (Niere, Herz) sowie der Ersatz körpereigener Hormone, Enzyme oder sogar Gene durch Zuführung künstlich erzeugter gleicher oder gleichwertiger Stoffe und Produkte (kompensatorische und substitutive Therapie). Unter Berücksichtigung dieser Möglichkeiten lässt sich die Definition der Ziele der Medizin noch einmal präzisieren in Form von D3: (D3) Ziele des ärztlichen Handelns sind: 1. Erhaltung von Leben und Gesundheit, Schutz vor vorzeitigem Tod (Prävention). 2. Verhütung, Heilung oder Linderung von Krankheiten und Schmerzen (Prävention, kurative und palliative Therapie). 135 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Peter Hucklenbroich
3.
Wiederherstellung, Ausgleich oder Ersatz von krankheitsbedingt verlorenen Fähigkeiten, Funktionen und Körperteilen (reparative, kompensatorische und substitutive Therapie). 4. Erkennung von Krankheiten zum Zwecke der Behandlung (Diagnostik) und Erforschung von Krankheiten, deren Entstehung, Mechanismen, Verlauf und Beeinflussbarkeit zum Zwecke von Therapie, Prävention und Palliation. Diese Formulierung zeigt auch besonders deutlich, dass die Ziele der Medizin wesentlich auf den Begriff der Krankheit und seine Implikate Bezug nehmen (kursiv gesetzte Ausdrücke). Hier setzt nun ein Typ von Einwänden an, der die Abgrenzbarkeit der klinisch-praktischen Medizin von anderen Anwendungen wie Enhancement, kosmetischästhetischen Maßnahmen oder Doping bestreitet mit dem Argument, der Krankheitsbegriff sei gar nicht trennscharf definierbar und die Abgrenzung von Therapie und Prävention einerseits und Enhancement oder Doping andererseits sei nicht durchführbar. 20 Autoren, die dies behaupten, berufen sich z. B. auf bestimmte besonders schwierig analysierbare Fälle der Krankheitslehre (z. B. Alter, psychische Störungen, Krankheiten mit ambivalenter Bewertung) oder auf philosophische Krankheitstheorien, die ethische oder soziale Kriterien zur Definition von Krankheit vorschlagen (z. B. die MaladyTheorie von Bernard Gert et al.). 21 Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass Einwände dieses Typs generell hinfällig sind: Sie beruhen bislang alle auf ungenügender Kenntnis oder Analyse der medizinischen Krankheitslehre und ihrer Kriterien oder auf Krankheitstheorien, die nachweislich im Widerspruch zum wissenschaftlich-medizinischem Erkenntnisstand stehen. Dies im Einzelfall nachzuweisen, erfordert allerdings eine sehr differenzierte und tiefgehende wissenschaftstheoretische Rekonstruktion der Krankheitslehre und ihres Kriteriensystems sowie eine medizintheoretische Detailanalyse der angeblichen Gegenbeispiele und der philosophischen Krankheitstheorien, die als AlternaExemplarisch: Muireann Quigley/John Harris: »To Fail to Enhance is to Disable«, in: D. Christopher Ralston/Justin Ho (Hg.), Philosophical Reflections on Disability, Dordrecht 2010, S. 123–131. Direkt dazu: Peter Hucklenbroich: »Der Krankheitsbegriff als Unterscheidungskriterium zwischen Therapie und Enhancement«, in: Jan C. Joerden/Eric Hilgendorf/Natalia Petrillo et al. (Hg.), Menschenwürde in der Medizin – Quo vadis?, Baden-Baden 2012, S. 395–422, hier S. 417–419. 21 Vgl. K. Danner Clouser/Charles M. Culver/Bernard Gert: »Malady«, in: James M. Humber/Robert F. Almeder (Hg.), What Is Disease?, Totowa, NJ 1997, S. 175–217. 20
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tive zur Medizin angeboten werden. Ich habe diese Rekonstruktion und die Detailanalysen in einer Anzahl von Arbeiten vorgelegt, auf die ich daher hier nur verweisen kann. 22 Immerhin sei auf eine Feststellung hingewiesen, die von zwei ausgewiesenen Experten für die philosophische Diskussion des Krankheitsbegriffs 2017 im Routledge Companion to Philosophy of Medicine geäußert worden ist: »What is disease?« – This simple question has vexed philosophers of medicine, yet has been overlooked entirely by bioethicists, physicians, and epidemiologists, with the exception of a rare few. On the one hand, dozens of philosophical theories paint starkly different pictures of the essential nature of disease. On the other hand, most bioethicists, policy makers, and clinicians take disease to be a given […]. 23
Leider weisen auch diese Autoren nicht darauf hin, dass in der medizinischen Krankheitslehre ein Krankheitsbegriff impliziert ist, der den Vorteil hat, mehr als ein Jahrhundert theoretischer Diskussion und praktischer Anwendung bereits erfolgreich überstanden zu haben. Aber ihre Situationsbeschreibung macht überdeutlich, dass es nicht angezeigt ist, auf der Basis solcher »krass divergierender«, einander vielfach widersprechender philosophischer Theorien über die Leistungsfähigkeit des medizinischen Krankheitsbegriffs zu urteilen, z. B. die Abgrenzbarkeit von Therapie und Enhancement in Frage zu stellen. 24 Der Krankheitsbegriff und die Krankheitslehre der Medizin sind in der Tat tief liegende und komplizierte theoretische Konstrukte, die Vgl. Hucklenbroich: Struktur der Krankheitslehre, S. 70–76; ders.: »Die Unterscheidung zwischen krankheitsbezogener und ›wunscherfüllender‹ Medizin – aus wissenschaftstheoretischer Sicht«, in: Sascha Dickel/Martina Franzen/Christoph Kehl (Hg.), Herausforderung Biomedizin, S. 205–229; ders.: »Disease entities and the borderline between health and disease: Where is the place of gradations?«, in: Geert Keil/ Lara Keuck/Rico Hauswald (Hg.), Vagueness in Psychiatry, Oxford 2017, S. 75–92 sowie meine in Fn. 16 und 20 genannten Arbeiten. 23 Dominic Sisti/Arthur L. Caplan: »The concept of disease«, in: Miriam Solomon/ Jeremy R. Simon/Harold Kincaid (Hg.), The Routledge Companion to Philosophy of Medicine, New York/London 2017, S. 5–15 (Hervorh. v. mir). 24 Die philosophiegeschichtlichen Wurzeln und die Ursache für die Auseinanderentwicklung von Philosophie und theoretischer Medizin in der Krankheitstheorie habe ich zu analysieren gesucht in Peter Hucklenbroich: »Disease entities, negative causes, multifactoriality, and the naturalness of disease classifications. Remarks on some philosophical misperceptions of medical pathology«, in: Alexander Christian/David Hommen/Nina Retzlaff et al. (Hg.), Philosophy of Science – Between Natural Science, Social Science and the Humanities, Berlin u. a. 2018, S. 137–152. 22
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Peter Hucklenbroich
sich dem analytischen Zugriff nicht sofort und ohne Weiteres erschließen. Sie sind das Resultat einer viele Jahrhunderte währenden Begriffs- und Theoriegeschichte, die viele Um-, Ab- und Irrwege eingeschlossen hat, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts alle theoretisch notwendigen Bausteine erarbeitet hatte und erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts den begrifflichen Ausdruck des erreichten Theoriestandes formulieren konnte. 25 Eine selbständige, explizite und vollständige Darstellung aller Implikate dieser Konzeption ist auch heute noch Desiderat. In den letzten zehn Jahren habe ich daran gearbeitet, die Grundlinien des Konzepts explizit darzustellen und seine Bedeutung für die Theorie und Philosophie der Medizin herauszuarbeiten. An dieser Stelle kann ich nur einige zentrale Punkte hervorheben und muss ansonsten auf die vorliegenden ausführlicheren Publikationen verweisen. 26 Essentielle Elemente des modernen medizinischen Krankheitsbegriff sind: • Alle konkreten krankhaften Phänomene sind zu deuten als Teile und Manifestationen zugrunde liegender Prozesseinheiten, die jeweils eine bestimmte, abgrenzbare und identifizierbare Krankheit (Einzelerkrankung) darstellen. • Jede Krankheit (Einzelerkrankung) ist ein Fall einer zugehörigen allgemeinen Krankheitsart oder Krankheitsentität. Welche und wie viele Krankheitsentitäten existieren bzw. möglich sind, kann gegenwärtig nicht abschließend beurteilt werden und ist Gegenstand der Krankheitsforschung. • Krankheitsentitäten müssen entdeckt werden; Schätzungen über die Gesamtzahl existierender Krankheitsentitäten gehen von einer mindestens fünfstelligen Ziffer aus. • Krankheitsentitäten bestehen aus einer – möglicherweise komplexen – Ursache bzw. Anfangsbedingung und dem sich daraus ergebenden Krankheitsverlauf bis zum Ausgang (Heilung, Dies geschah erstmals 1957 in dem von Leiber und Olbrich herausgegebenen Wörterbuch (Bernfried Leiber/Gertrud Olbrich (Hg.), Wörterbuch der klinischen Syndrome, München 1957). In der aktuellen Version findet sich die Definition des Begriffs der Krankheitsentität in: Bernfried Leiber (Hg.): Die klinischen Syndrome, München 71990, S. XXIII-XXIX. Zur langen Vorgeschichte des Krankheitsbegriffs vgl. Emanuel Berghoff: Entwicklungsgeschichte des Krankheitsbegriffs, Wien 21947. 26 Vgl. die in Fn. 16, 20 und 22 zitierten Arbeiten; außerdem Peter Hucklenbroich: »Medical Theory and its Notions of Definition and Explanation«, in: Thomas Schramme/Steven Edwards (Hg.), Handbook of the Philosophy of Medicine, Vol. 2, Dordrecht 2017, S. 791–801. 25
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Chronifizierung oder Tod). Sowohl die Anfangsbedingung als auch der Verlauf können sich auf verschiedenen Ebenen des Organismus ereignen bzw. abspielen, von der Ebene der Moleküle bis zum subjektiven Erleben. • Die individuellen Verläufe einer Krankheitsentität weisen in der Regel eine große Variationsbreite hinsichtlich der Schwere auf, von unmerklichen über milde und moderate bis zu schweren und schwersten Verläufen, sowie Varianten und Komplikationen in verschiedenen anderen Hinsichten. Die zugehörige Krankheitsentität ist daher (neben der Ursache) durch das gesamte Spektrum möglicher Verläufe definiert. • Krankheitsentitäten sind von gesunden Zuständen und Prozessen dadurch unterschieden, dass ihre Teilprozesse und Manifestationen krankhaft (pathologisch) sind. Die Definition des Begriffs der Krankhaftigkeit bzw. Pathologizität ist komplex, beruht aber in letzter Instanz auf den fünf Krankheitskriterien (diese wurden oben in 3.2. genannt). Die vollständige Darstellung der Krankheitskriterien und aller bekannten pathologischen Prozesse, Manifestationen und Krankheitsentitäten ist Inhalt der allgemeinen und speziellen Pathologie und der klinischen Nosologie. Der so charakterisierte (medizinische) Krankheitsbegriff ist in den Zielformulierungen D1 bis D3 vorausgesetzt und bildet somit die wichtigste begriffliche Grundlage der klinisch-praktischen Medizin. Durch ihn ist gewährleistet, dass sich diese von anderen, nicht klinischen Anwendungen medizinischen Wissens klar und scharf abgrenzen lässt. Was zum Schluss zu klären bleibt, ist die Frage, welchen sozialontologischen und ethischen Status die Medizin hat.
5.
Was ist Medizin – anthropologisch und sozialontologisch?
Der Mensch im Spannungsfeld von Gesundheit und Krankheit ist der Gegenstand der theoretisch-wissenschaftlichen wie auch der klinischpraktischen Medizin. Was ist und warum gibt es Krankheit? Nach heutigem Wissensstand muss die Antwort mindestens folgende Tatsachen einbeziehen: • Der Mensch – Homo sapiens – ist ein irdisches Lebewesen, hat sich im Lauf der Evolution aus tierischen Vorfahren entwickelt und steht genau wie diese unter den Grundbedingungen organi139 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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•
•
schen Lebens überhaupt: Er ist an einen strukturierten Körper und an Interaktionsprozesse mit dessen Umwelt 27 gebunden, die einen permanenten Stoff- und Energieaustausch voraussetzen. Darüber hinaus steht er mit seinen elterlichen Vorfahren (und gegebenenfalls seinen Nachkommen) über die Keimbahn, also über seine Keimzellen und deren genetisches Material, in direkter Verbindung und unterliegt selbst einer dadurch und durch äußere Umwelteinflüsse gesteuerten onto-genetischen Entwicklung mit Wachstum und Alterung, die auf einen natürlichen Tod hinausläuft. 28 Dieser menschliche Organismus ist aufgrund seiner natürlichen Ausstattung und mithilfe von in der kulturellen Evolution entstandenen und tradierten Techniken in der Lage, in sehr verschiedenen Umwelten zu überleben. Dabei ist insbesondere eine Reihe von somatischen, psychosomatischen und psychischen Fähigkeiten und Mechanismen essentiell, die wir generell als Schutz-, Reparatur- und Selbstheilungsmechanismen zusammenfassen. 29 Zu ihnen gehören z. B. die mechanische und biochemische Barrierefunktion der Körperhaut, die Fähigkeit zur Blutgerinnung und Wundheilung, die (begrenzte) Fähigkeit zur Regeneration verletzten oder verlorenen Gewebes und zur Neubildung von Zellen, das zelluläre und humorale Immunsystem, eine Anzahl von Schutzreflexen und bestimmte autonome psychische Erlebens- und Reaktionsweisen wie Freude, Angst und Schmerz. Trotz dieser sehr vielfältigen Selbsterhaltungs- und Selbstheilungsfähigkeiten gibt es Situationen, in denen diese überfordert,
Dazu gehört auch die soziale Umwelt (oder »Mitwelt«). Zu den medizinischen und philosophischen Aspekten des natürlichen Todes vgl. weiterführend Peter Hucklenbroich: »Tod und Sterben – Was ist das? Medizinische und philosophische Aspekte«, in: Peter Hucklenbroich/Petra Gelhaus (Hg.), Tod und Sterben. Medizinische Perspektiven, Münster 2001, S. 3–20. 29 Das Selbstheilungssystem, seine Grenzen und Ambivalenzen und die Rolle von Therapie als Hilfe zur Selbsthilfe sind genauer dargestellt in Peter Hucklenbroich: »Der Krankheitsbegriff: Seine Grenzen und Ambivalenzen in der medizinethischen Diskussion«, in: Markus Höfner/Stephan Schaede/Günter Thomas (Hg.), Endliches Leben. Interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen der Krankheit, Tübingen 2010, S. 133–160, hier S. 152–155. Für eine populärere Vorstellung desselben Themas vgl. auch ders.: »Kranksein und Heilwerden – aus medizinischer Sicht«, in: Kirchenkreis Tecklenburg (Hg.), Kranksein und Heilwerden. Theologie – Seelsorge – Medizin, Lengerich 2008, S. 47–60. 27 28
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überlastet oder einfach überrannt werden oder in denen sie sogar in das Gegenteil von Schutz umschlagen: Die Fähigkeiten zum Überleben, zur Selbsterhaltung und zum Selbstschutz haben eine endliche Größe und einen begrenzten Zuständigkeitsbereich, sie sind erschöpfbar und umgehbar, und sie müssen als autonom funktionierende Mechanismen gewissermaßen blind operieren, d. h. ohne bewusste Einsichts- und Lernfähigkeit. • Diese Endlichkeit, Begrenztheit und Unvollkommenheit des Selbsterhaltungssystems bedeutet, dass der menschliche Organismus verletzbar und angreifbar ist bis hin zur letalen Verletzung. Dafür wurden die Bezeichnungen der Vulnerabilität und Pathibilität 30 des menschlichen Organismus geprägt. Die Fähigkeit des menschlichen Organismus zu erkranken resultiert direkt aus seiner organischen, psycho-somatischen Natur und Lebensform, sie ist nicht etwa das Ergebnis einer sozialen Konvention, einer kulturellen Konstruktion, einer moralischen Norm oder einer ethischen Entscheidung. Da sie in diesem Sinne eine natürliche, naturgesetzlich konstant vorgegebene Bedingung menschlichen Lebens ist, darf man hier von einer anthropologischen Konstante sprechen, die allen spezifischen menschlichen Kulturentwicklungen in allen historischen Zeiten und Epochen vorausliegt. Diese natürliche Grenze kann nur durch rationale, empirisch fundierte medizinische Erkenntnis prinzipiell überwunden werden. Die letzte Feststellung bedeutet nicht, dass damit in allen Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte eine einheitliche oder gleiche Reaktion und Umgangsweise mit dem Phänomen der Krankheit bestanden hat oder zu erwarten ist. Bekanntlich ist schon die Wahrnehmung und Interpretation von Krankheitsphänomenen und erst recht die Bewertung und soziokulturelle Reaktion darauf äußerst unterschiedlich ausgefallen. Bestimmte Ausprägungen von Religion haben etwa Krankheit als etwas Unabwendbares oder Vorherbestimmtes angesehen, das »fatalistisch« hinzunehmen oder sogar als verdiente Folge von Schuld und »Versündigung« im eigenen oder einem früheren Leben anzunehmen ist. 31 Manche frühe Kulturen ha30 Der heute wenig gebräuchliche, aber sehr treffend gewählte Ausdruck Pathibilität wurde 1959 von Rothschuh geprägt (vgl. Karl Eduard Rothschuh: Theorie des Organismus. Bios – Psyche – Pathos, München/Berlin 1959, S. 224–231). 31 Vgl. die Darstellung der ganz unterschiedlichen Medizinsysteme in Heinrich
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Peter Hucklenbroich
ben aufgrund ihrer nomadisierenden Lebensweise auf die Behandlung und Versorgung erkrankter Mitglieder ganz verzichtet (oder verzichten müssen). Die christliche Religion des europäischen Mittelalters kennt – zum Teil bis heute 32 – die Lehre von der Krankheit als Strafe oder Prüfstein Gottes. Andere religiöse und philosophische Lehren, z. B. der antike Stoizismus, haben die Existenz von Krankheit und Schmerz ganz als Täuschung oder als nichtig zu erweisen gesucht. Selbst die Bemühungen um eine rationale, empirisch fundierte Begründung ärztlichen Handelns haben über viele Jahrhunderte hinweg auf falschen Theorien beruht und daher zu unwirksamen oder sogar schädlichen Behandlungen geführt. Dies alles bedeutet, dass der soziokulturelle Umgang mit Krankheit, im Gegensatz zu seiner natürlich-anthropologischen Vorbedingung, in extremem Maße kulturrelativ und variabel ist. Wenn man alle diese Reaktionsweisen pauschal als die jeweilige Medizin (einer Kultur oder Epoche) bezeichnet, bedeutet das, dass der sozialontologische Status der Medizin in diesem Sinne unbestimmt und nicht konstant ist. Eines ist aber doch konstant: Die prinzipielle Erkennbarkeit und die prinzipielle Behandelbarkeit von Krankheiten ist durch die Existenz der modernen wissenschaftlichen Medizin erwiesen. Die sozialontologische Existenzweise der Medizin ist die eines gesellschaftlichen Potentials, einer Möglichkeit der erfolgreichen menschlichen Zuwendung und der wirksamen Hilfe, die ergriffen oder verfehlt werden kann. Nachdem es gelungen ist, die Medizin als Wissenschaft zu etablieren, kann eine verantwortliche ärztliche Tätigkeit nur noch in Form der verwissenschaftlichten Praxis, d. h. der wissenschaftsorientierten Medizin, ausgeübt werden. Die Zielsetzung der Medizin, wie sie klinisch-praktisch in D3 und darüber hinaus im wissenschaftlichen Ethos einer Medizin als Wissenschaft formuliert werden kann, unterliegt zwar weder einem historischen Determinismus noch einem überzeitlichen Imperativ, aber in ihr kommt die Selbstverpflichtung von Menschen zum Ausdruck, die dieses Potential erkannt und ihr Leben in den Dienst seiner Verwirklichung gestellt haben. Eine solche Entscheidung darf man wohl eine ethische Entscheidung nennen.
Schipperges/Eduard Seidler/Paul U. Unschuld (Hg.): Krankheit, Heilkunst, Heilung, Freiburg/München 1978. 32 Vgl. Clive Staples Lewis: Über den Schmerz, Gießen 62007.
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Medizin als Wissenschaft – eine wissenschaftstheoretische Analyse Holger Lyre
Abstract: Gegenstand dieses Beitrags ist eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaftlichkeit der Medizin. Den Leitfaden der Analyse bildet dabei ein jüngerer Ansatz in der analytischen Wissenschaftstheorie, wonach Systematizität als zentrales Kriterium von Wissenschaft anzusehen ist. 1 Ich werde im Detail zeigen, dass die Medizin dieses mehrdimensionale Kriterium insgesamt erfüllt, dass aus der Wissenschaftlichkeit der Medizin aber gleichwohl normative Konsequenzen folgen, die beispielsweise zur Abgrenzung von der Homöopathie und einer kritischen Bewertung des biopsychosozialen Modells führen. Zudem resultieren der Anwendungscharakter der Medizin und die zentrale Bedeutung des Arzt-Patienten-Verhältnisses nicht in einer Schwächung des Anspruchs der Medizin als Wissenschaft.
1.
Einleitung
Die Wissenschaftstheorie der Medizin steckt, gemessen an der wissenschaftstheoretischen Durchdringung der Physik oder der Biologie, immer noch in den Kinderschuhen. In diesem Aufsatz möchte ich die nicht eben geringe Frage stellen, ob Medizin eine Wissenschaft ist, wohl wissend, dass eine solche Frage den Umfang eines einfachen Aufsatzes sprengt – speziell vor dem Hintergrund, dass eine Wissenschaftstheorie der Medizin noch vollumfänglich zu entwickeln ist. Dabei ist die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Medizin aus wenigstens zweierlei Gründen von offenkundiger Dringlichkeit; denn einerseits gibt es abweichende, die Wissenschaftlichkeit der Medizin in Frage stellende oder gar ablehnende Positionen, andererseits besitzt die Medizin eine für das Wohlergehen der Menschheit kaum zu überschätzende Bedeutung. Eine wissenschaftstheoretische Durch1 Paul Hoyningen-Huene: Systematicity. The Nature of Science, New York 2013, im Folgenden zitiert als HH 2013.
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Holger Lyre
dringung der Medizin und ihres akademischen Selbstverständnisses stellt daher eine bedeutsame Aufgabe dar. 2 Artikuliert man die Frage im Alltag, wird interessanterweise kaum verstanden, dass es sich überhaupt um eine Frage handelt (der Leser möge dies jederzeit in einem nicht-akademischen Umfeld versuchen). Überwiegend wird man die Antwort erhalten: Natürlich ist Medizin eine Wissenschaft, was sollte sie sonst sein? Die akademische Auseinandersetzung mit der Frage, was Medizin eigentlich ist, zeigt demgegenüber eine bemerkenswerte Spannweite an Antworten auf. Medizin wird wahlweise angesehen als (Heil-) Kunst, Praxis oder Handwerk, hermeneutische Disziplin oder (Gesundheits-) Technik. 3 Sehr häufig werden auch Hybride aus diesen Optionen erwogen – in großer Mehrzahl Kombinationen, in denen die Medizin zum Teil als Wissenschaft, zu einem anderen Teil aber gerade nicht als Wissenschaft angesehen wird. Diesen Diskussionen um den Status der Medizin steht die »unverbildete« Sichtweise seltsam entgegen, was, gemessen an der Bedeutung der Medizin für unser aller Wohlergehen, die Dringlichkeit der Klärung der Frage nach dem Wissenschaftsstatus der Medizin nochmals demonstriert. Dabei möchte ich gleich eingangs auf ein überraschend naives, aber dennoch geläufiges Missverständnis aufmerksam machen, das sich m. E. zwar leicht ausräumen lässt, das aber dennoch in weiten Teilen der medizin-reflektierenden Literatur zu finden ist. Betrachten wir kontrastierend einmal die Frage, ob Physik eine Wissenschaft ist.
Erfreulicherweise sind in jüngerer Zeit sehr gute Handbücher (Thomas Schramme/ Steven Edwards (Hg.): Handbook of the Philosophy of Medicine, Dordrecht 2017; Miriam Solomon/Jeremy R. Simon/Harold Kincaid (Hg.): The Routledge Companion to Philosophy of Medicine, New York/Abingdon 2016) und Einführungen (James A. Marcum: An Introductory Philosophy of Medicine. Humanizing Modern Medicine, Dordrecht 2008; Julian Reiss/Rachel Ankeny: »Philosophy of Medicine«, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2016 Edition), hhttps://plato.stanford.edu/ archives/sum2016/entries/medicine/i (letzter Zugriff 07. 01. 2018); R. Paul Thompson/Ross Upshur: Philosophy of Medicine. An Introduction, New York/Abingdon 2017) zur Philosophie der Medizin erschienen. Zur Wissenschaftstheorie der biomedizinischen Wissenschaften siehe Lara Huber/Lara Keuck: »Philosophie der biomedizinischen Wissenschaften«, in: Simon Lohse/Thomas Reydon (Hg.), Grundriss Wissenschaftsphilosophie. Die Philosophien der Einzelwissenschaften, Hamburg 2017. 3 Vgl. Kristine Bærøe: »Medicine as Art and Science«, in: Thomas Schramme/Steven Edwards (Hg.): Handbook of the Philosophy of Medicine, Dordrecht 2017, S. 759– 772. 2
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Medizin als Wissenschaft – eine wissenschaftstheoretische Analyse
Kaum jemand wird dies verneinen – weder innerhalb noch außerhalb akademischer Diskurse. Und doch ist es so, dass ein ausgebildeter Physiker, der nach einem Physikstudium in einem Arbeitsbereich der Wirtschaft tätig ist, typischerweise die als Wissenschaft vermittelte Physik nunmehr allenfalls anwendet, aber eben nicht mehr produktiv als Wissenschaft betreibt oder gar vorantreibt (modulo Industrieforschung, Privatgelehrtentum etc.). Und dies gilt a fortiori für anwendungsorientierte Wissenschaften wie etwa die Ingenieurwissenschaften. Auch hier ist der im Alltag praktisch tätige Ingenieur, zum Beispiel ein Maschinenbauer, nicht wissenschaftlich tätig, wohl aber wendet er die als Wissenschaft vermittelte Maschinenbaukunde an. Gleiches trifft in aller Banalität auf die Medizin zu. Der praktizierende Arzt betreibt typischerweise keine Wissenschaft, sondern wendet allenfalls die als Wissenschaft vermittelte Medizin an. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Medizin in keiner kategorialen Weise von einer Vielzahl anderer Disziplinen. Eine Sonderstellung erhält sie allenfalls durch ihre – etwa kurativen und palliativen – Anwendungszwecke und das in der Praxis so bedeutsame Arzt-Patienten-Verhältnis, nicht aber allein schon dadurch, dass sie angewandt wird. Auf diesen Punkt werde ich im letzten Abschnitt zurückkommen. Hinter dem genannten Missverständnis wird die eigentliche, substantielle Fragestellung sichtbar: Ist die an unseren Universitäten und biomedizinischen Forschungseinrichtungen betriebene und vermittelte Medizin eine Wissenschaft? Und ist sie es, wohlgemerkt, auch und insofern ihr Forschungsgegenstand der lebendige Mensch in seiner vollen Situiertheit in der Welt ist und insofern medizinischer Fortschritt dies und auch das Patient-Sein des Menschen immer mit in den Blick nehmen muss? Diese Frage muss uns unter dem Aufsatztitel interessieren, nicht die Frage, was ein Arzt tagtäglich macht, wohl aber, ob der fachliche Hintergrund seiner Tätigkeit ein wissenschaftlicher ist. Ich werde zeigen, dass diese Frage de facto positiv zu beantworten ist, und werde dann aber auch demonstrieren, dass ein positives Verständnis von Medizin als Wissenschaft zu relevanten normativen Konsequenzen führt. Als Richtschnur für mein Vorgehen ziehe ich einen Vorschlag von Paul Hoyningen-Huene heran, wonach Systematizität das entscheidende Charakteristikum von Wissenschaft ist. Nach Hoyningen-Huenes Programmatik, die ich im zweiten Abschnitt etwas genauer vorstelle, entfaltet sich das Charakteristikum der Systematizität der Wissenschaft in neun Dimensionen, die ich im dritten Ab145 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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schnitt der Reihe nach mit Blick auf die Medizin abarbeiten werde. Im vierten Abschnitt gehe ich auf die möglichen normativen Konsequenzen der Wissenschaftlichkeit der Medizin ein. Hierbei dient mir eine kritische Beurteilung der Homöopathie zur Illustration. Im fünften und letzten Abschnitt komme ich auf die eingangs gestellte Frage zurück, inwieweit Praxis und Anwendungsbezug der Wissenschaft sowie das Arzt-Patienten-Verhältnis der Medizin eine über den Wissenschaftscharakter hinausgehende Sonderstellung verleihen. Dabei schlage ich im Ausblick auch eine Erweiterung der Thesen Hoyningen-Huenes vor.
2.
Systematizität als Charakteristikum von Wissenschaft
Um die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Medizin zu beantworten, muss man zuvor offenbar eine nochmals umfangreichere Frage beantworten können, nämlich schlicht: Was ist Wissenschaft? Diese Frage kann mit Fug und Recht als ›Mutter aller Fragestellungen in der Wissenschaftstheorie‹ angesehen werden. Hierzu ein paar knappe Vorbemerkungen. Die klassische Wissenschaftstheorie hat die Frage als Demarkationsproblem charakterisiert: Wie lässt sich Wissenschaft von Pseudowissenschaft (oder gar blankem Unsinn) abgrenzen? Popper hat bekanntlich für die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium plädiert. 4 Die Wissenschaftstheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte dann auf, um wie viel komplexer die Problematik eigentlich ist, und dass eindimensionale Bilder von Wissenschaft fehlgehen. Dies sei hier nur in Stichworten skizziert: Nach Quine lassen sich einzelne wissenschaftliche Hypothesen nicht nur nicht verifizieren, sondern in Strenge auch nicht falsifizieren. 5 Im besten Fall tritt erst die Menge aller wissenschaftlichen Theorien als Ganze vor das Tribunal empirischer Prüfung (Bestätigungsholismus). Nach Kuhn folgt die Wissenschaft zudem keiner geradlinigen Dynamik, sondern einem Stufenschema von Normalwissenschaft und krisenhaften Paradigmenwechseln. 6 Auch die potentielle Unterbestimmtheit wissenschaftlicher Theorien und nicht-epistemische Vgl. Karl Popper: Logik der Forschung, Wien 1935. Vgl. William V. O. Quine: »Two Dogmas of Empiricism«, Philosophical Review 60/ 1 (1951), S. 20–43. 6 Vgl. Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. 4 5
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Medizin als Wissenschaft – eine wissenschaftstheoretische Analyse
Einflüsse der wissenschaftlichen Dynamik in Form von Werten, Präferenzen, Ideologien etc. verkomplizieren unser heutiges Verständnis von Wissenschaft. Kaum ein Wissenschaftstheoretiker wagt sich daher noch an die Mutter aller wissenschaftstheoretischen Fragestellungen heran. Paul Hoyningen-Huenes jüngere Arbeiten bilden in diesem Zusammenhang eine erfreuliche Ausnahme. Demnach ist Systematizität das entscheidende Charakteristikum von Wissenschaft. Nach meinem Dafürhalten ist dieser Vorstoß, sich nach Jahrzehnten der Stagnation und Resignation wieder der Mutterfragestellung zuzuwenden, mehr als zu begrüßen. Dazu ist es nicht wichtig, dass ich Hoyningen-Huene in allen Belangen seiner Analyse zustimme (ich tue dies nicht), allerdings stimme ich zu, dass Systematizität ein wichtiges Kernelement bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen von Wissenschaft darstellt. Dies rechtfertigt es, die in HH 2013 entwickelte Programmatik für die Zwecke dieses Aufsatzes als allgemeine argumentative Leitlinie heranzuziehen. Die Systematizitäts-These lautet explizit: Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich von anderen Wissensarten, besonders dem Alltagswissen, primär durch seinen höheren Grad an Systematizität. 7 Da der Begriff der Systematizität notorisch vage und allgemein ist, legt Hoyningen-Huene eine Konkretisierung in neun Dimensionen oder Kontexten vor: 1) Beschreibung 2) Erklärung 3) Voraussage 4) Verteidigung von Wissensansprüchen 5) kritischer Diskurs 6) epistemische Vernetztheit 7) Ideal der Vollständigkeit 8) Vermehrung von Wissen 9) Darstellung von Wissen Die ursprüngliche Systematizitäts-These zerfällt also in neun Unterthesen, wonach wissenschaftliche Beschreibungen systematischer als Alltagsbeschreibungen, wissenschaftliche Erklärungen systematischer als Alltagserklärungen etc. sind. Innerhalb jeder Dimension HH 2013: S. 14; ders.: »Précis zu ›Systemacity: The Nature of Science‹«, Zeitschrift für philosophische Forschung 69/2 (2015), S. 225–229, hier S. 226.
7
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lässt sich die Systematizität der je verschiedenen Wissenschaften nochmals unterschiedlich ausführen, so dass lediglich Familienähnlichkeiten bestehen bleiben. Das Charakteristikum der Systematizität ist also ausdrücklich nicht als essentialistisches Charakteristikum zu verstehen. 8 Dennoch betont Hoyningen-Huene, dass die Systematizität für sämtliche Wissenschaften, also nicht nur für die empirischen Wissenschaften (die englischen »sciences«) charakteristisch ist. Der beeindruckenden Heterogenität und Diversität der Wissenschaften wird der Umstand gerecht, dass die Systematizität der einzelnen Dimensionen für verschiedene Wissenschaften ihrerseits wieder verschieden ausgeführt werden kann. Zum Beispiel bedienen sich Historiker anderer systematischer Beschreibungen und Erklärungen als Chemiker. Ferner sind nicht immer alle neun Dimensionen für alle Wissenschaften einschlägig. Das Kriterium der Voraussage ist nicht nur für die Mathematik oder weite Teile der Geisteswissenschaften nicht anwendbar, auch für die Medizin hat es nicht den gleichen Stellenwert wie beispielsweise für die Physik (siehe 3.3). Schließlich ist der Hinweis bedeutsam, dass Hoyningen-Huene seine Analyse als ein deskriptives Unterfangen ansieht, das prima facie keine normativen Ansprüche erhebt. Im Kontext der Wissenschaftlichkeit der Medizin werde ich hierauf im vierten Abschnitt eingehen.
3.
Die Systematizität der Medizin
Die neun Dimensionen sollen nun mit Blick auf die Medizin angewandt und ausgewertet werden.
3.1. Systematische Beschreibungen in der Medizin Systematisierende Überblicke zu einem Phänomenbereich sind ein vordergründiges Charakteristikum von Wissenschaft. Zu den hochgradig systematischen Beschreibungsinstrumenten zählen Klassifikationen oder Taxonomien, speziell die Lebenswissenschaften sind voll davon. Für ihren Grundbegriff der »Krankheit« hat die Medizin das Der Untertitel von HH 2013, »The Nature of Science«, ist insofern irreführend, als »nature« im Englischen durchaus mit »Wesen« übersetzt werden kann (vgl. ebd., S. 10).
8
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Medizin als Wissenschaft – eine wissenschaftstheoretische Analyse
Instrument der systematischen Klassifikation in Form der von der WHO herausgegebenen und weltweit anerkannten ICD, der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, auf eine beachtliche Hochstufe zur systematischen Klassifikation medizinischer Diagnosen gebracht. Der Wissenschaftscharakter der Medizin wurde durch dieses Instrument ab der Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich befördert, die Bedeutung der ICD zeigt sich auch im Zusammenhang mit den Dimensionen der Vermehrung und Darstellung von Wissen (3.8, 3.9). Fast schon idealtypisch im Zusammenhang mit der Systematizität von Beschreibungen ist die Erfassung eines Phänomenbereichs im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie. Die klassische Wissenschaftstheorie hat sich Mitte des 20. Jahrhunderts vornehmlich am Ideal der Physik orientiert und die sogenannte syntaktische Theorienauffassung entwickelt. Demnach sind Theorien als Satzmengen aufzufassen, wobei die einzelnen Sätze (Hypothesen, Theoreme oder Naturgesetze) in logischen Ableitungsbeziehungen zueinander stehen. Im besten Fall ist ein solches Satzsystem axiomatisierbar, also aus wenigen, fundamentalen Sätzen (Axiomen) herleitbar. Die syntaktische Auffassung scheint damit aber ausschließlich auf formalisierbare Wissenschaften wie etwa Physik, Mathematik oder Informatik anwendbar zu sein – ein Charakteristikum, das die erdrückende Mehrheit aller Wissenschaften inklusive der Medizin nicht erfüllt. Wissenschaftliche Theorien sind, so die weitere Kritik an der syntaktischen Auffassung, auch nicht notwendigerweise über ihre sprachliche Formulierung gekennzeichnet, sind also nicht zwangsläufig linguistische Entitäten. Die modernere, semantische Auffassung will dem gerecht werden, indem sie Theorien primär als Mengen von Modellen auffasst, wobei unter einem Modell eine wahre Interpretation oder semantische Bewertung einer Formel- oder Satzmenge bzw. einfach die Klasse ihrer erfolgreichen Anwendungen verstanden werden kann. Zu erinnern wäre beispielhaft an das Atommodell, Klimamodelle, Marktmodelle, das DNA-Modell oder Modellorganismen. Die Erarbeitung und Etablierung erfolgreicher Modelle in der Medizin ist ein wichtiges Kennzeichen ihrer Systematizität. Eine weitergehende Frage ist dann, inwieweit diese Modelle (etwa über partielle Isomorphien) zu Klassen verbunden werden können, so dass modelltheoretisch bestimmte Theorien entstehen. Hier teilt die Medizin das Schicksal nahezu aller komplexen und höherstufigen Wissenschaften, dass eine solche Zusammenführung in geschlossene 149 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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Klassen, die dann einen weiten, gegebenenfalls heterogenen Phänomenbereich abdecken, nur in Ausnahmefällen gelingt. Ein Mangel an geschlossenen, homogenen Theorien mit langreichweitigen Gesetzen und großer Zieldomäne ist für die Medizin daher zu konstatieren, gilt aber generell für weite Teile der Lebenswissenschaften, ebenso der Sozial- oder auch der Ingenieurwissenschaften.
3.2. Systematische Erklärungen in der Medizin Eine immens wichtige Aufgabe und damit auch Kennzeichen von Wissenschaft ist es, Phänomene zu erklären. Das traditionelle Erklärungsmodell der Wissenschaftstheorie ist als deduktiv-nomologisches Modell bekannt (auch: DN-Schema). Dem DN-Modell liegt zugrunde, wissenschaftliche Erklärungen mit der Ableitbarkeit des Explanandums aus allgemeinen Gesetzen und speziellen Anfangsund Randbedingungen gleichzusetzen. Im Bereich der nach Naturgesetzen strebenden Wissenschaften (vor allem der Physik) hat das DN-Modell eine große Bedeutung, in der Medizin spielt dieser Erklärungstyp jedoch kaum eine Rolle, denn wie schon im vorangehenden Abschnitt gesehen, mangelt es der Medizin an geschlossenen Theorien mit allgemeinen Gesetzen. Das DN-Modell ist auch mit internen Problemen behaftet. So lässt sich die Schattenlänge eines Mastes durch dessen Höhe und die Gesetze der Lichtausbreitung deduktiv-nomologisch erklären. Nach Maßgabe des DN-Schemas ist es aber ebenso legitim, die Masthöhe mit seiner Schattenlänge zu erklären. Das aber erscheint falsch! Offenkundig sollte die kausale Abfolge der Lichtausbreitung auch für die Richtung der Erklärung explizit berücksichtigt werden. Daher sehen nicht wenige Wissenschaftstheoretiker die Kausalität als wesentlich für Erklärungen an. Auch scheinen zahlreiche Erklärungen keinerlei allgemeiner Gesetze zu bedürfen. Um zu erklären, warum Cindy sich angesteckt hat, reicht es anzugeben, dass sie mit Bert, der bereits stark erkältet war, in kausalem Kontakt war. Eine Weiterentwicklung des Modells kausaler Erklärungen stellen mechanistische Erklärungen dar. Ein Mechanismus ist dabei zu verstehen als ein organisiertes System von Komponenten und Operationen, das ein Phänomen hervorbringt. Paradigmatische Beispiele wären ein Motor oder eine Uhr, aber auch das Herz, der Organismus oder die biologische Zelle. Hierin kündigt sich an, dass Mechanismen 150 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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in den Lebenswissenschaften allgegenwärtig sind und auch in der Medizin eine vorherrschende explanatorische Rolle spielen. Ein Blick auf die Historie der Medizin-Nobelpreise illustriert dies: 1920 kapillarmotorischer Regulationsmechanismus, 1924 Mechanismus des Elektrokardiogramms, 1938 Rolle des Sinus- und Aortenmechanismus bei der Atemregulierung, 1959 Mechanismus in der biologischen RNA- und DNA-Synthese, 1961 Mechanismus der Erregungen in der Schnecke des Ohres, 1963 Ionen-Mechanismus bei der Erregung und Hemmung der peripheren und zentralen Bereiche der Nervenzellenmembran, 1964 Mechanismus und Regulation des Stoffwechsels von Cholesterin und Fettsäuren, 1969 Vermehrungsmechanismus und genetische Struktur von Viren, 1971 Wirkungsmechanismen von Hormonen, 1976 Mechanismen bei der Entstehung und Verbreitung von Infektionskrankheiten, 1992 Mechanismen der Steuerung der Stoffwechselvorgänge in Organismen und 2016 Mechanismen der Autophagie. Mechanistische Erklärungen bilden in der Medizin insgesamt ein dichtes Geflecht mit partiellen Überlappungen der Phänomene und Gegenstandsbereiche. In Anlehnung an Craver lässt sich von einer mosaikartigen Einheit der Medizin sprechen. 9 Die schon in 3.1 beobachtete Theorie-Armut und der Mangel an allgemeinen Gesetzmäßigkeiten tut der Systematizität der Medizin also nicht per se einen Abbruch. Auch bedeutet die Prädominanz mechanistischer Erklärungen nicht, dass die Medizin nicht doch gelegentlich auch Gesetzmäßigkeiten mit größerem Skopus erfasst. Ein Beispiel bietet die Erklärung medizinischer Phänomene unter dem Gesichtspunkt dynamischer Systeme. Unter einem dynamischen System versteht man allgemein das zeitliche Entwicklungsmodell eines durch Zustandsgrößen beschriebenen Systems. Die Zustandsgrößen spannen einen Zustandsraum auf, die zeitliche Entwicklung des Systems ist als Trajektorie im Zustandsraum darstellbar. Wichtige Anwendungsfelder in der (Theoretischen) Medizin und Biomedizin (sowie benachbarter Gebiete wie der Systembiologie, Systembiophysik und Bioinformatik) sind etwa metabolische, zelluläre und genetische Netzwerke sowie Modelle der Regulation oder Signalübertragung. Die Modellierung erfolgt im Kern durch Systeme partieller Differentialgleichungen und gestattet insofern eine stärkere Generalisierbar9 Vgl. Carl F. Craver: Explaining the Brain. Mechanisms and the Mosaic Unity of Neuroscience, Oxford 2007.
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keit als im Falle typischer Mechanismen. Der Medizin-Nobelpreis des Jahres 2017 über die molekularen Kontrollmechanismen des circadianen Rhythmus liefert hierfür ein Beispiel. 10 In der Wissenschaftstheorie wird kontrovers diskutiert, inwieweit dynamische gegenüber mechanistischen Erklärungen als eigenständiger Erklärungstyp anzuerkennen sind. Eine vermittelnde Position besteht darin, dynamische Erklärungen als »strukturell« in dem Sinne zu bezeichnen, dass sie die kausal relevante raumzeitliche Struktur eines dynamischen Systems hervorheben, welche unmittelbar der dem System zugrunde liegenden mechanistischen Organisation entspricht. 11
3.3. Systematische Voraussagen in der Medizin Wie bereits in der Einführung vermerkt, ist »Voraussage« kein allgemeines Charakteristikum von Wissenschaft, sondern allenfalls ein spezielles Charakteristikum empirischer Wissenschaften. Hier handelt es sich also um eine restringierte Dimension oder Dimension mit Sonderstatus. Und obzwar die Medizin im weiten Sinne unter die empirischen Disziplinen fällt, besitzt sie keine hohe systematische und allgemeine Vorhersagekraft. Eine Ausnahme bildet beispielsweise die Epidemiologie, die durch ihre Modelle auch die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Epidemien und deren Verlauf zu prognostizieren versucht. In einem eingeschränkteren, da weniger systematischen Sinne geht die Medizin aber natürlich durchaus prognostisch vor, insofern die Prognose des Krankheitsverlaufs auf der Basis einer individuellen Diagnose zum klassischen medizinischen Behandlungskanon bestehend aus Anamnese, Diagnose, Prognose und Therapie gehört. Im Allgemeinen strebt die Medizin jedoch nicht nach Prognosen, sie ist in diesem Zusammenhang aber den meisten angewandten Wissenschaften nicht unähnlich.
Vgl. William Bechtel/Adele Abrahamsen: »Dynamic mechanistic explanation: computational modeling of circadian rhythms as an exemplar for cognitive science«, Studies in History and Philosophy of Science 41 (2010), S. 321–333. 11 Vgl. Holger Lyre: »Structures, dynamics and mechanisms in neuroscience: an integrative account«, Synthese: An International Journal for Epistemology, Methodology and Philosophy of Science (2017), DOI: 10.1007/s11229-017-1616-4. 10
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3.4. Systematische Verteidigung von Wissensansprüchen in der Medizin Während die ersten drei Dimensionen eher die Beschaffenheit wissenschaftlichen Wissens charakterisieren, folgen nun stärker methodische Dimensionen, die auf Anspruch und Geltung der Wissenschaft abzielen. Der systematischen Verteidigung von Wissensansprüchen kommt dabei traditionell ein herausgehobener Status zu, wie Martin Carrier in einer kritischen Diskussion von HH 2013 treffend hervorhebt: Mir scheint es […] angebrachter, die Prüfung und Bestätigung von Wissensansprüchen ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. In der Wissenschaft geht es vor allem darum, Aussagen mit überlegenem Geltungsanspruch zu verteidigen. Wissenschaftliches Wissen ist dem Alltagswissen zunächst in seiner Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit überlegen. Hierfür bezieht sich die Wissenschaft auf die Übereinstimmung mit der Erfahrung und auf weitere, nicht-empirische Ansprüche. 12
Zu den klassischen Instrumentarien der Verteidigung von Wissensansprüchen in den formalen Wissenschaften gehört der Beweis. In den empirischen Wissenschaften spielen das Experiment bzw. experimentelle Daten eine herausragende Rolle. Aufgrund der TheorieArmut der Medizin kommt dem klassischen Modell der Hypothesenprüfung nur untergeordnete Bedeutung zu. Mit zahlreichen anderen Disziplinen teilt die Medizin den jüngeren Trend hin zu einer zunehmend datengetriebenen Wissenschaft. Wesentliche Innovationen gehen von den sich durch bioanalytische Hochdurchsatzverfahren entwickelnden Omics-Technologien aus (Genomics, Proteomics, Microbiomics, Connectomics etc.). Aufgrund der rasant ansteigenden Datenmengen (insbesondere Patientendaten) und der sich ebenso rasant entwickelnden Möglichkeiten der Datenverarbeitung und -analyse ist das Potential der »Big Data«-Techniken in der Medizin derzeit bei Weitem noch nicht absehbar oder ausgeschöpft. Klar erkennbar ist aber schon heute, dass diese Entwicklungen zu radikalen Veränderungen führen werden. Ein mindestens doppelter Paradigmenwechsel deutet sich an: einerseits von einer reaktiven hin zu einer präventiven
Martin Carrier: »Systematizität: Eine systematische Charakterisierung der Wissenschaft? Kommentar zu Paul Hoyningen-Huenes ›Systematicity‹«, Zeitschrift für philosophische Forschung 69/2 (2015), S. 230–234, hier S. 233.
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Medizin, andererseits von einer globalen hin zu einer individualisierten oder personalisierten Medizin. Die Verteidigung medizinischer Wissensansprüche, d. h. die systematische Berücksichtigung ihrer Fehlbarkeit und die Entwicklung adäquater Methoden der Irrtumselimination wird in Zukunft noch stärker unabhängig von mechanistisch-kausaler Modellierung und dem unmittelbaren Experiment am biologischen Substrat erfolgen und sich stattdessen auf Methoden des Data Mining, der Datenanalyse und der Statistik stützen. Ein Vorbote dieser Entwicklung, der innerhalb der letzten Dekaden zu nicht weniger als dem neuen Standard des methodischen Nachweises in der Medizin avanciert ist, ist die evidenzbasierte Medizin (EbM: Evidence based medicine; treffend auch als »nachweisorientierte Medizin« zu bezeichnen). Sackett et al. definieren EbM in ihrer klassischen Arbeit wie folgt: »Evidence based medicine is the conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients.« 13 Klarerweise führt dies zu der Hauptfragestellung: Was zählt als Evidenz, also Nachweis, des medizinischen Wissens? Das führende Oxford Centre for Evidence-Based Medicine setzt hierfür die folgende Evidenz-Hierarchie an: 14 1 Systematic review of RCTs or n-of-1 trials 2 RCT or observational study with dramatic effect 3 Non-randomized controlled cohort/follow-up study 4 Case series, case-control studies or historically controlled studies 5 Mechanism-based reasoning Demnach gelten randomisierte und kontrollierte Studien (RCT: randomized controlled trials) als EbM-Goldstandard. Durch zufällig ausgewählte Behandlungs- und Kontrollgruppen sollen sich die bekanntesten statistischen Verzerrungen, speziell diejenige der Auswahl (selection bias), bestmöglich vermeiden lassen; RCTs sollen aber auch zuverlässige Schlüsse auf Kausalzusammenhänge gestatten. Gleichzeitig indiziert die Evidenz-Hierarchie, dass im Zuge der EbM der Stellenwert klinischer Studien weitaus höher ist als derjenige von
David L. Sackett et. al.: »Evidence based medicine: what it is and what it isn’t«, British Medical Journal 312 (1996), S. 71–72, hier S. 71. Hervorhebung von mir. 14 OCEBM Levels of Evidence Working Group (2011): The Oxford Levels of Evidence v2.1. Oxford Centre for Evidence-Based Medicine. hhttp://www.cebm.net/index.aspx? o=5653i (letzter Zugriff 18. 01. 2018) 13
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Beobachtungsstudien und experimenteller Laborforschung. Als gängige Begründung mit Blick auf Letztere wird häufig angeführt, dass im Experiment ergründete pathophysiologische Prinzipien und Mechanismen nur unzuverlässige Wegweiser für medizinische und pharmakologische Interventionen sind. In der Tat stellt die herausgehobene Dignität von RCT-Nachweisen im Rahmen der EbM eine starke methodologische und epistemische Annahme dar, die in jüngerer Zeit zu einer kritischen Diskussion in der Wissenschaftstheorie der Medizin geführt hat (hierbei handelt es sich übrigens um das vielleicht fortgeschrittenste Themenfeld der heranwachsenden analytischen Wissenschaftstheorie der modernen Medizin). So besteht einerseits der Hinweis, dass RCTs per se keine Gewähr für den Ausschluss sämtlicher Störfaktoren bieten und dass insbesondere mit Blick auf externe Validität, also die Übertragbarkeit von Studienergebnissen in die Praxis, Beobachtungsstudien (seien es Kohorten-, Fall-Kontroll- oder Querschnitts-Studien) gegenüber randomisierten Studien überlegen sein können. 15 Andererseits heben Autoren wie Russo und Williamson hervor, dass Urteile über Kausalzusammenhänge in der Medizin letztlich einer Kombination eines probabilistischen Nachweises (etwa durch RCTs) und eines Wirkmechanismus bedürfen. 16 Einblicke in Mechanismen sollten daher nicht auf das unterste Evidenzlevel herabgestuft werden; denn in der Tat verweist eine bloß nachrangige Bedeutung kausal-mechanistischer Erklärungen und Modelle letztlich auf eine Spannung innerhalb der Medizin als Wissenschaft zwischen verschiedenen Formen systematischer Beschreibungen, Erklärungen sowie Ansprüchen der epistemischen Vernetztheit und Vollständigkeit. In der Medizin besteht demnach hinsichtlich der Verteidigung ihrer Wissensansprüche zweifellos ein Streben nach Systematizität, wenn auch die Frage spezieller Nachweiskriterien noch offen und spannungsreich ist. Entscheidend ist, inwieweit diese Spannungen und Kontroversen ihrerseits systematisch ausgefochten werden. Dies leitet über zum nächsten Punkt.
15 Vgl. John Worrall: »What evidence in evidence-based medicine?«, Philosophy of Science 69 (2002), S. 316–330; vgl. ders.: »Evidence: philosophy of science meets medicine«, Journal of Evaluation in Clinical Practice 16 (2010), S. 356–362. 16 Vgl. Federica Russo/Jon Williamson: »Interpreting Causality in the Health Sciences«, International Studies in the Philosophy of Science 21/2 (2007), S. 157–170.
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3.5. Systematischer kritischer Diskurs in der Medizin Neben nachweisorientierter Irrtumselimination betreiben Wissenschaften auch auf sozialer Ebene Qualitätssicherung, indem sie Plattformen und Institutionen schaffen, die einen öffentlichen und kritischen Fachdiskurs organisieren und befördern. Im Falle der Medizin geschieht dies seit jeher beispielhaft. Die Zahl begutachteter Fachzeitschriften, großer nationaler und internationaler Kongresse sowie zahlenstarker, aktiver Fachgesellschaften ist in kaum einer Wissenschaft so hoch wie in der Medizin. Forschungshypothesen und -ergebnisse werden öffentlich präsentiert und diskutiert. Auch Großforschung ist in der Medizin prominent, in Deutschland lässt sich beispielhaft auf das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg, das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin sowie zahlreiche Max-Planck-Institute verweisen. Gleichwohl offenbart sich in jüngerer Zeit unter dem Stichwort »Replikationskrise« eine beunruhigende Schiefstellung, unter der vorrangig Medizin, Psychologie und Ökonomie, im Prinzip aber sämtliche empirische Wissenschaften leiden. Eine alarmierend hohe Anzahl an Studien und Publikationen (in Medizin und biomedizinischer Forschung über 70 %) weist nicht-reproduzierbare Befunde auf. Die Ursachen liegen grob in zweierlei: mangelhafte Kenntnis der Datenauswertung und Statistik (etwa grobe Missverständnisse des »p-Werts« 17) sowie wissenschaftliches Fehlverhalten in Form von Datenfälschung und Plagiaten. Die Medizin muss hierauf ebenso reagieren wie andere betroffene Disziplinen und auch die großen Wissenschaftsorganisationen und Drittmittelgeber. 18 Dabei geht es um Maßnahmen zur Einhaltung und Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und eine von vielen mittlerweile befürwortete Entwicklung in Richtung von Open Science, die zu neuen Kriterien der Evaluation und Belohnung von Forschungsqualität und Forschungstransparenz führen soll. Will die Medizin den Systematizitätsansprüchen einer Wissenschaft genügen, muss sie diese Wege beschreiten und organisatorisch und institutionell umsetzen. In diesem Zusam17 Vgl. Regina Nuzzo: »Scientific method: statistical errors«, Nature 506 (2014), S. 150–152. 18 Vgl. DFG-Stellungnahme: Replizierbarkeit von Forschungsergebnissen, Bonn 2017. hhttp://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2017/1704 25_stellungnahme_replizierbarkeit_forschungsergebnisse_de.pdfi (letzter Zugriff 07. 01. 2018)
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menhang ist übrigens auch an die wiederholte Kritik des Wissenschaftsrats an der Promotionspraxis in der Medizin zu erinnern. 19 Ein studienbegleitender »Dr. med.« entspricht nicht den Standards wissenschaftlicher Promotionen, die alternative Einführung eines reinen Berufstitels »Medizinischer Doktor« wäre mehr als empfehlenswert.
3.6. Systematische epistemische Vernetztheit der Medizin Wissenschaften befördern keine isolierten Wissensbestände, sondern streben nach einer systematischen Vernetzung mit angrenzenden Disziplinen. Für die Medizin ist hier zunächst geltend zu machen, dass sie auf zahlreichen fundamentaleren Wissenschaften aufbaut und dies auch in der vorklinischen akademischen Ausbildung durch ein breites Fächerspektrum zur Geltung bringt, das etwa Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie und Biochemie in gewissen Grundlagen umfasst. Und zweifelsohne besitzt die ausgereifte Medizin zahllose Bezüge zu angrenzenden Wissenschaften, man denke exemplarisch an die engen Verbindungen zwischen Medizin und Physik – was zu einem eigenen akademischen Ausbildungsgebiet, der Medizinischen Physik mit Abschluss Medizinphysiker, geführt hat. In der Strahlentherapie, Nuklearmedizin und vielen bildgebenden Verfahren sind teilchen- und kernphysikalische Grundlagen und entsprechende Vernetzung unerlässlich. Neben all diesen Verflechtungen kommt es aber auch zu Spannungen, die exemplarisch am Beispiel der Homöopathie in Abschnitt 4 zur Sprache kommen sollen. Die nun folgenden, letzten drei Dimensionen lassen sich knapper abhandeln; denn sie sind der Sache nach überschaubarer als die vorhergehenden Dimensionen und zudem in Teilen untereinander und mit diesen überlappend (was einen gewissen Schwachpunkt der Programmatik in HH 2013 darstellt).
19 Wissenschaftsrat: Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier, Köln 2011, S. 29. hhttps://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/ 1704–11.pdfi (letzter Zugriff 07. 01. 2018)
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3.7. Systematisches Ideal der Vollständigkeit in der Medizin Wissenschaften streben danach, ihre Gegenstandsbereiche und Domänen möglichst lückenlos, erschöpfend und vollständig zu erfassen. Die Medizin macht in dieser Hinsicht keinerlei Ausnahme. Sie beschäftigt sich nicht nur mit spezifischen Krankheitsarten, sondern kreiert umgekehrt, bei Bedarf, auch neue Zweige und Fachrichtungen – wie etwa die Reproduktionsmedizin oder die Psychoneuroendokrinologie. Die vom Umfang her mit jeder Neuversion beträchtlich anwachsende ICD liefert ebenso ein beredtes Beispiel.
3.8. Systematische Vermehrung von medizinischem Wissen Zur systematischen und planvollen Wissensvermehrung zählen sowohl technische und institutionelle Instrumente wie etwa Enzyklopädien und Datenbanken als auch die methodisch-systematische Durchforstung des Gegenstandsbereichs. Auch hierfür liefert nochmals die ICD das beste Beispiel, ebenso wie die bereits in 3.4 angesprochenen, sich rasant entwickelnden Big Data-Technologien in der modernen Medizin.
3.9. Systematische Darstellung von medizinischem Wissen Zur Darstellung ihrer Wissensbestände bedienen sich Wissenschaften einer oft ausgedehnten und systematischen Nomenklatur und Fachterminologie. Sie soll dazu dienen, den Gegenstandsbereich begrifflich trennschärfer und sauberer zu erfassen und zu zergliedern als die oft ungenaue und vage Alltagssprache. Die Medizin gibt in dieser Hinsicht das geradezu idealtypische Beispiel unter allen Wissenschaften ab, insofern »Medizinische Terminologie« sogar als eigenes Fach im Rahmen der akademischen Grundausbildung gelehrt wird.
4.
Normative Konsequenzen
Wie im zweiten Abschnitt erläutert, versteht Hoyningen-Huene seine Systematizitäts-These als eine rein deskriptive These. Und in 158 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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nochmals allgemeinerer Hinsicht möchte auch ich betonen, dass, erstens, der Wissenschaftstheorie in normativen Fragen nicht nur keine Priorität gegenüber den Wissenschaften zukommt, sondern dass sie, zweitens, eben weil sie selber eine Wissenschaft ist, im gleichen Sinne rein deskriptiv voranschreiten sollte – mehr oder weniger im Einklang mit Max Webers klassischem Postulat der Wertneutralität der Wissenschaften. 20 Daraus folgt nun aber keinesfalls, dass die Erkenntnisse der Wissenschaften oder der Wissenschaftstheorie unter gar keinen Umständen mit normativen Schlüssen in Verbindung gebracht werden können; denn, wie Gerhard Schurz ausführt, kann die Wissenschaft durchaus auf der Basis von Zweck-Mittel-Schlüssen zu normativen Aussagen beitragen, indem aus ihrem deskriptiven Wissen im Verbund mit vorgegebenen Normen abgeleitete Normen gewonnen werden, die dann als Mittelempfehlungen weiterzugeben sind. 21 Auf unsere Thematik übertragen heißt das: Die wissenschaftstheoretische Systematizitäts-Analyse zeigt, dass Systematizität dasjenige Mittel ist, mit dem sich Wissenschaftlichkeit als Zweck erreichen lässt. Falls nun die Medizin als Wissenschaft auftreten soll oder will, muss sie nach Systematizität streben. Dass die Medizin als Wissenschaft auftreten soll oder will, ist die hier im Schema des Zweck-Mittel-Schlusses vorausgesetzte Vordersatz-Norm. Ihre Geltung wird hier schlicht vorausgesetzt. Unter dieser Voraussetzung folgt dann aber die Systematizität der Medizin als abgeleitete Norm. Dies hat weitere normative Konsequenzen, zu deren Illustration ich die Homöopathie betrachten will. Bei der Homöopathie handelt es sich um den klassischen Fall einer Pseudowissenschaft ähnlich der Astrologie oder dem Kreationismus. 22 Leider handelt es sich in den Augen mancher Mediziner Vgl. Holger Lyre: »Ist theoretische Naturphilosophie normativ?«, in: Christian Kummer (Hg.), Was ist Naturphilosophie und was kann sie leisten?, Freiburg 2009, S. 28–37. 21 Vgl. Gerhard Schurz: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt 2006. 22 Polemisch, aber nicht unzutreffend charakterisiert James Ladyman Pseudowissenschaft wie folgt: »As a first approximation, we may say that pseudoscience is to science fraud as bullshit is to lies.« (James Ladyman: »Toward a Demarcation of Science from Pseudoscience«, in: Massimo Pigliucci/Maarten Boudry (Hg.), Philosophy of Pseudoscience. Reconsidering the Demarcation Problem, Chicago 2013, S. 45– 60, hier S. 52). Pseudowissenschaft ist in dem Sinne eine definite Form von »Bullshit«, also zwar beredtem, aber gleichwohl anmaßendem Humbug, wie er gerade in unserer modernen, von Medien geprägten Kultur und Öffentlichkeit an vielen Stellen unheilvoll zutage tritt (vgl. Harry G. Frankfurt: On Bullshit, Princeton 2005). Und 20
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immer noch um einen »Streit-Fall«. Dabei ist offenkundig, dass die Homöopathie wesentliche Charakteristika von Wissenschaft hinsichtlich der Systematizität ihrer Beschreibungen und Erklärungen, der Verteidigung ihrer Wissensansprüche und des kritischen Diskurses sowie insbesondere die epistemische Vernetztheit und das Ideal der Vollständigkeit manifest verletzt. Mit Blick auf epistemische Vernetztheit sei vor allem an die seit Langem offenkundigen drastischen Inkompatibilitäten und Inkonsistenzen der homöopathischen Lehre mit den in 3.6 gelisteten angrenzenden und grundlegenden Wissenschaften erinnert. Nach jahrzehntelangem kritischen Diskurs haben sich seit Mitte der 2000er Jahre nunmehr klare Befunde hinsichtlich der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit der Homöopathie ergeben: In der aufsehenerregenden Metastudie von Shang et al. wurden 110 placebokontrollierte, randomisierte Homöopathie-Studien mit ebenso vielen diagnostisch analogen konventionellen Studien verglichen mit dem eindeutigen Ergebnis, dass die Wirkungen homöopathischer Behandlungen nicht über Placebo-Wirkungen hinausgehen. 23 Und zehn Jahre später kommt eine im Auftrag des Australian National Health and Medical Research Council durchgeführte Metastudie über 57 systematische Reviews aus den Jahren 1997 bis 2013, die insgesamt 176 RCTs zusammenfassen, zu demselben eindeutigen Ergebnis, dass es keine zuverlässigen Wirksamkeitsbelege homöopathischer Behandlungen jenseits von Placebos oder anderweitigen Behandlungen gibt. 24 Die normative Konsequenz im Sinne der obigen Zweck-MittelAnalyse ist daher eindeutig: Will die Medizin als Wissenschaft auftreten, muss sie die Homöopathie zurückweisen. Die Fortführung der Homöopathie ist sogar in doppelter Hinsicht unethisch, was häufig übersehen wird. Denn nicht nur handelt es sich um eine Behandlungsform ohne genuine Wirksamkeit, ihre Beibehaltung unterwährend Wissenschaftsbetrug uns von der Wahrheit ablenken will, operiert eine Pseudowissenschaft gleichsam mit »eigener Wahrheit« und betrügt insofern nicht absichtsvoll, sondern höchstens unwissentlich, weist aber die systematische Evidenz der Wissenschaft zurück. 23 Vgl. Shang et al.: »Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy«, The Lancet 366 (2005), S. 726–732. 24 National Health and Medical Research Council: NHMRC Information Paper: Evidence on the effectiveness of homeopathy on treating health conditions, Commonwealth of Australia 2015.
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miniert das Vertrauen in die Wissenschaft und deren epistemische Autorität. 25 Der letztere Punkt ist dabei im Lichte unserer Analyse der bedeutsamere. Der Medizin als Wissenschaft entstehen nämlich Verpflichtungen, die aus der epistemischen Überlegenheit und Autorität der Wissenschaft als Ganzer erwachsen und die sie nicht aussparen kann, falls sie selber als Wissenschaft auftreten will. Dass sie aber längst als Wissenschaft auftritt, ist ein Faktum, wie die Deklination der Systematizitäts-Dimensionen im dritten Abschnitt gezeigt hat. Der häufig in der Öffentlichkeit zu begegnenden »anekdotischen Evidenz« über vermeintliche homöopathische Wirksamkeit ist aufklärerisch so zu begegnen, dass »anekdotische Evidenz« tatsächlich gar keine Evidenz bzw. keinen Nachweis darstellt; und dem ebenso häufig geäußerten Sinnspruch »Wer heilt, hat recht« ist damit zu begegnen, dass der kurative Zweck (ob durch Globuli, Placebos oder auch nur dadurch, dass die Zuwendung des homöopathischen Arztes psychotherapeutische Effekte zeitigt) die Mittel nicht bedingungslos heiligt. Denn dieselben Effekte lassen sich gleichermaßen durch konventionelle Behandlungen (inklusive Placebos) oder die Zuwendung konventioneller Ärzte erreichen – dann aber ohne pseudowissenschaftliche Anmaßung und unter Wahrung desjenigen größeren Werts, den die Integrität der Wissenschaft als Ganzer darstellt. Dies leitet über zum letzten Abschnitt.
5.
Medizin als Wissenschaft
Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Ist die Medizin eine Wissenschaft? Unsere Analyse im dritten Abschnitt hat gezeigt, dass die Medizin alle Kennzeichen systematischer Wissenschaft hinreichend erfüllt. Dass im Detail auch offene Flanken zutage getreten sind, tut der Gesamtbilanz keinen Abbruch, sondern liefert Hinweise auf Veränderungs- und Verbesserungsbedarf (im Sinne des Schemas der In ähnlicher Weise zeigt Smith im Stil einer utilitaristischen Bilanzierung der Homöopathie, dass deren Vorzüge wie etwa nicht-invasive und kostengünstige PlaceboBehandlungen deutlich hinter den Nachteilen zurückbleiben, die insbesondere in der Verhinderung effektiver medizinischer Maßnahmen, Ressourcenverschwendung, Verbreitung falscher Überzeugungen und der Unterminierung der Wissenschaft bestehen (Kevin Smith: »Against Homeopathy – a Utilitarian Perspective«, Bioethics 26/8 (2012), S. 398–409).
25
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Zweck-Mittel-Schlüsse im vierten Abschnitt). Dennoch waren wir eingangs über den Umstand gestolpert, dass viele Autoren (wenn auch gehäuft einer gewissen Provenienz 26) die Medizin nicht oder allenfalls eingeschränkt als Wissenschaft ansehen. Betrachten wir pars pro toto die häufig zitierte Position von Ronald Munson. 27 Er unterscheidet, wie viele andere, Medizin als Wissenschaft und Medizin als Praxis. Letztere kann seiner Meinung nach keine Wissenschaft sein, in ihr äußerst sich eine genuin auf den Patienten bezogene Praxisorientierung. In dieser Charakterisierung offenbart sich zunächst noch einmal das Missverständnis oder die Verwirrung, die schon zu Beginn angesprochen wurde. Die klinisch oder sonst wie angewandte Medizin mag allerlei Anwendungszwecke verfolgen, seien sie kurativer, präventiver oder palliativer Art. Dennoch geht sie der Sache nach – qua Anwendung – nicht über andere angewandte Wissenschaften hinaus. Und ferner gilt: Der praktizierende Mediziner betreibt ebenso wenig Wissenschaft wie ein praktizierender Physiker oder Ingenieur, aber alle drei können ihr Handeln in einer erlernten Wissenschaft fundieren. Munson charakterisiert die Medizin als »inherently social« 28. Und auch das allein kann noch kein Ausschlusskriterium von Wissenschaft sein, denn sämtliche Gesellschaftswissenschaften studieren soziale Entitäten, ohne dass dies bereits ihre Wissenschaftlichkeit unterminiert. Gemeint ist wohl vielmehr, dass sich die Medizin in der Verfolgung ihrer Anwendungszwecke (betrachten wir der Einfachheit halber nur die Behandlung von Krankheiten) erst im Arzt-Patienten-Verhältnis vollzieht – und dass sich dieses Verhältnis nicht theoretisch, sondern erst im Praxisvollzug ›entfaltet‹. Munson drückt es so aus: »Medicine’s aim is […] manifested in the patient« und »practicing physicians […] are required to seek the aim of medicine by promoting the health of their patients as individuals, while […] medical researchers […] are committed to promoting the health of patients as a population.« 29 Es bleibt allerdings schleierhaft, wieso die individuelle Behandlung und das individuelle Arzt-Patienten-VerEs handelt sich hier ganz vorrangig um Autoren aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie Soziologie, Geschichtswissenschaft, Jurisprudenz sowie der Philosophie in hermeneutischer und phänomenologischer Tradition. 27 Vgl. Ronald Munson: »Why medicine cannot be a science«, The Journal of Medicine and Philosophy 6/2 (1981), S. 183–208. 28 Ebd., S. 203. 29 Ebd., S. 197 f. 26
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hältnis nicht grundsätzlich auch Teil einer systematischen wissenschaftlichen Exploration sein kann. 30 Genau dies ist entschieden der Fall: Der Praxisbezug gehört für sämtliche angewandte Wissenschaften einschließlich der Medizin zur Domäne der Wissenschaft hinzu. Und wenn Krankheit ein individuelles Phänomen ist (was dahingestellt bleibt), dann muss die Medizin als Wissenschaft genau dies systematisch in den Blick nehmen. Das Arzt-Patienten-Verhältnis entzieht sich also nicht allein schon deshalb der Wissenschaft, weil es gegebenenfalls individuell ist oder sich erst in der Praxis vollzieht. Es könnte sich höchstens der Domäne der Wissenschaft entziehen, wenn es sich um ein prinzipielles Mysterium handelte. 31 Munson regt zu einem solchen Verdacht beinahe an, da er zentral dafür argumentiert, dass es nicht möglich sei, Medizin auf Biologie zu reduzieren. Dabei gibt es auch hierfür kein erkennbares prinzipielles Argument. Doch würde es sich zweifellos um einen Kategorienfehler handeln anzunehmen, Wissenschaft sei mit Reduktion und Reduktionismus gleichzusetzen. Umgekehrt gehört es aber durchaus zu den Aufgaben und Fragestellungen bestimmter Wissenschaften und insbesondere der Wissenschaftstheorie, die Möglichkeiten und Grenzen reduktiver Beziehungen zwischen verschiedenen Wissenschaften und ihren Gegenständen systematisch zu untersuchen. Dies führt auf eine abschließende Thematik. In der Medizin und insbesondere der Psychiatrie wird das »Biopsychosoziale Modell« (BPSM) über weite Strecken geradezu kanonisch vertreten. In seiner klassischen Arbeit charakterisiert Engel das BPSM als ein ganzheitliches und multifaktorielles Mehrebenen-Bild
Die Abgrenzung von individuellen Patienten zu Populationen erinnert entfernt an Wilhelm Windelbands berühmte Unterscheidung der »nomothetisch« verfahrenden Natur- (genauer: Gesetzes-) Wissenschaften gegenüber den »idiographisch«, auf das Einmalige und Individuelle bezogenen Geistes- (genauer: Ereignis-) Wissenschaften (vgl. Wilhelm Windelband: »Geschichte und Naturwissenschaft«, in: ders., Präludien: Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 31907). Wäre die Medizin in diesem Sinne idiographisch (was sie nicht ist), zählte sie selbst nach Windelband als Wissenschaft, nur eben nicht als Naturwissenschaft. Und wie in 3.1 und 3.2 gesehen, bedürfen selbst Naturwissenschaften nicht durchweg der Beschreibung und Erklärung mittels allgemeiner Gesetze. Und auch und gerade Physik und Biologie untersuchen wahrhaft einmalige Gegenstände, ohne dass dies den Wissenschaftscharakter von Kosmologie und Evolutionsbiologie unterminiert. 31 Ähnlich wie das von der (speziell katholischen) Theologie behauptete »Mysterium des Glaubens« folgerichtig den Wissenschaftsanspruch der Theologie unterminiert. 30
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Holger Lyre
des Menschen und seiner Krankheiten. 32 Dabei enthält es eine Reihe problematischer impliziter und expliziter Annahmen: • Es geht aus von der Existenz dreier autonomer Interaktions-Ebenen, die ihrerseits nicht eindeutig definiert sind: Körper – Psyche oder Geist – Soziales. • Es behauptet die Möglichkeit höherstufiger Kausalität, also autonom ablaufender Kausalflüsse auf jeder der drei Ebenen. • Es gestattet die Möglichkeit der Top-down-Verursachung von einer höheren in die niedrigere Ebene. Problematisch sind diese Annahmen spätestens, sobald ihnen ontologisches Gewicht beigemessen wird; denn dann treten bekannte und schwerwiegende Probleme und Fragestellungen nach kausalem Ausschluss, Überdetermination, Supervenienz-Verletzung und Reduktion auf den Plan, die Gegenstand intensiver Debatten in der Philosophie des Geistes, der Neurophilosophie und der Wissenschaftstheorie der Kognitions- und Neurowissenschaften sind. 33 Dabei macht die Medizin vom BPSM de facto einen eher pragmatischen Gebrauch. Nassir Ghaemi ist zuzustimmen, wenn er schreibt: The essence of the BPS model is eclecticism. By eclecticism, I mean that the BPS model wishes to avoid any definitive assertion of causation or importance of any one of the three factors. […] It wishes not to make definitive claims of any kind, except the claim that one can never be definitive. […] [I]t allows clinicians to do whatever they want, under the cover of being »holistic« and biopsychosocial. […] All these attitudes are tied into the wish to be humanistic, to treat the patient as an individual human being who is unique and has feelings and a certain social context. All this can be true, but none of it proves or disproves a biological reductionist etiology to any putative disease. 34
Es stellt sich die Frage, ob das BPSM mit der Medizin als Wissenschaft in Strenge verträglich ist. Zwar ist es durchaus zulässig, wenn eine Disziplin in einem begrenzten Umfang oder übergangsweise Vgl. George L. Engel: »The need for a new medical model: a challenge for biomedicine«, Science 196 (1977), S. 129–136. 33 Vgl. Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin 2008 und Holger Lyre: »Philosophie der Neurowissenschaften«, in: Simon Lohse/Thomas Reydon (Hg.), Grundriss Wissenschaftsphilosophie. Die Philosophien der Einzelwissenschaften, Hamburg 2017, S. 319–353. 34 S. Nassir Ghaemi: »Biomedical Reductionist, Humanist, and Biopsychosocial Models in Medicine«, in: Thomas Schramme/Steven Edwards (Hg.), Handbook of the Philosophy of Medicine, Dordrecht 2017, S. 773–791, hier S. 786 f. 32
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Medizin als Wissenschaft – eine wissenschaftstheoretische Analyse
pragmatisch motivierte Konzepte oder Modelle verwendet, ein Modell wie das BPSM wird aber dann zu einer Blockade der Wissenschaftlichkeit, wenn es im Sinne eines prinzipiellen »Ignorabimus« vertreten wird. Ebenso wenig wie der Reduktionismus kann der Anti-Reduktionismus Apriori-Geltung in Anspruch nehmen. Das BPSM kann daher in jetziger Form nicht dauerhaft bestehen, dies würde die Systematizität der Medizin hinsichtlich Erklärung, kritischem Diskurs, epistemischer Vernetztheit und dem Ideal der Vollständigkeit schwer verletzen. 35 Im Hintergrund all dieser Fragen steht das übergeordnete Bedürfnis, die Welt, den Menschen und die Stellung des Menschen in der Welt zu verstehen und in ein integriertes Bild bringen zu wollen. Diesem übergeordneten Interesse – wenn man so will, Kants vierter Frage »Was ist der Mensch« – dient die Wissenschaft ultimativ. Und sie befördert unsere Antwortmöglichkeiten hinsichtlich dieses Grundbedürfnisses auf die uns bestmögliche, da systematischste Art und Weise. Hoyningen-Huenes neun Dimensionen lassen dieses wichtige Charakteristikum von Wissenschaft leider außen vor, man muss es m. E. als 10. Dimension unter dem Titel »Systematisches Welt-Verstehen« hinzufügen (vielleicht auch als Meta-Dimension, dies wäre in einer eigenen Arbeit zu prüfen und kann hier nicht diskutiert werden). Erst durch diese Dimension erhält das Unternehmen Wissenschaft seine Rückbindung an die Welt und den Menschen (der die Wissenschaft schließlich betreibt). Denn keine Wissenschaft vollführt ein bloßes Glasperlenspiel, ein gleichsam in der Luft hängendes l’art pour l’art. Für unser Verständnis von Krankheit und ihren Sitz im Leben spielt es beispielsweise eine Rolle, ob wir sie als übernatürliche Schicksalsfügung ansehen oder ihre Mechanismen verstehen. Dies ist ein wichtiger Aspekt der systematischen Welt-VerstehensDimension der Medizin. Hierzu eine weitere, nicht eben geringe Anmerkung, die aber den Rahmen dieses Aufsatzes ersichtlich sprengt: Das Gegenmodell zum BPSM ist nicht notwendig ein rein biologischer Reduktionismus, denn die Reduktions- (oder Supervenienz-) Basis des Geistigen (und Sozialen) könnte durchaus über den biologischen Einzelorganismus hinausgehen. In der modernen Philosophie des Geistes wird unter den Stichwörtern Embodied, Situated und Extended Cognition dafür argumentiert, dass Faktoren des Körpers und der Umgebung konstitutiv sind für Kognition oder dass im Sinne des Externalismus sprachlicher und mentaler Gehalt von der physischen und sozialen Welt abhängt (vgl. Holger Lyre: »Erweiterte Kognition und mentaler Externalismus«, Zeitschrift für philosophische Forschung 64/2 (2010), S. 190–215).
35
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Wissenschaft ist die systematische Form des Welt-Verstehens. Erst dadurch kann die herausgehobene Rolle der Wissenschaft in unserer modernen Welt voll in den Blick genommen werden. Denn nur insofern sie der systematischen Durchdringung und dem Verständnis der Welt, des Menschen und der Stellung des Menschen in der Welt dient, erlangt sie das ihr beigelegte Vertrauen, ihre epistemische Überlegenheit und Autorität. Die Medizin ist Teil des Gesamtunternehmens Wissenschaft, dies habe ich in diesem Aufsatz zu belegen versucht. Dann aber erwachsen ihr daraus auch Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen, wie im vorangehenden Abschnitt und jetzigen Schlussabschnitt skizziert. Aber dies, so denke ich, ist ein durchaus akzeptabler Preis für den unvergleichlich höheren Wert der Medizin als Wissenschaft.
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Die klinische Humanmedizin ist eine Handlungswissenschaft eigenen Rechts – ein Versuch Heiner Raspe
Abstract: Der folgende Text unternimmt mit begrenzten Mitteln den Versuch, die klinische Medizin als eine exemplarische Vertreterin einer Untergruppe der praktischen Wissenschaften darzustellen. Zu dieser könnten weiter die Kranken- und Altenpflege, die Psychotherapie, Rechtspflege, die Pädagogik und Teile der praktischen Philosophie und Theologie gezählt werden. Sie teilen in unterschiedlichem und weiter zu untersuchendem Maße eine Reihe von Merkmalen. Sie werden hier als humane Handlungswissenschaften bezeichnet, um einerseits ihren unaufhebbaren Personenbezug und andererseits je bestimmte Humanitätsansprüche zu betonen. In der Klinik ist das Handeln v. a. ein medizinisches Behandeln; es ruht wissenschaftlich auf drei Fundamenten: der biomedizinischen Grundlagenforschung, die es von außen verwissenschaftlicht; auf der klinisch-evaluativen Forschung, die aus der Klinik heraus Evidenz zu Wirksamkeit, Nutzenchancen und Schadenrisiken idealiter aller klinischen Methoden erarbeitet und auf »kleinen« epistemischen Praktiken. Zu ihnen gehören hermeneutische Techniken, die Nutzung von externer Evidenz, Auslassversuche, Diagnostik ex juvantibus u. v. m. Die Klinik erscheint aus der hier entwickelten Perspektive als eine unauflösbare Einheit von praktischem, auch handwerklichem Handeln, das grundsätzlich forschungsbasiert ist und gleichzeitig generelles wie fallbezogenes Wissen generiert.
1.
Einführung
Die folgenden Überlegungen unternehmen den Versuch, die klinische Humanmedizin (kurz: »die Klinik«; früher auch: »Heilkunde«) 1. als ein eigenes Territorium im Zentrum des weiten Reichs der Gesamtmedizin abzugrenzen und sie 2. als eine eigenständige humane Handlungswissenschaft zu bestimmen. 167 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Heiner Raspe
Das Prädikat »human« soll hier allein darauf hinweisen, dass es die Klinik mit Menschen, nicht mit Tieren (»Großtierklinik«), Puppen (»Puppenklinik«) oder Porzellan (»Porzellanklinik«) zu tun hat. Es behauptet nicht, dass sie eo ipso human, d. h. durch Mitmenschlichkeit gekennzeichnet sei – es hält aber die Frage offen, ob und in welchem Ausmaß der ethischen, aber auch sozialrechtlich fixierten Norm gefolgt wird: »Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken.« (§ 70 Abs. 2 SGB V) Nach der Einführung (1) wird zuerst das Territorium der klinischen Humanmedizin eingegrenzt (2), um dann Handlungswissenschaften allgemein zu charakterisieren (3). Danach stelle ich die Handlungswissenschaft der klinischen Humanmedizin in zwei jeweils zweigeteilten Abschnitten dar: in (4) mit dem Fokus auf medizinische Forschung und in (5) mit dem Fokus auf »kleine« epistemische Praktiken der Kliniker. Es folgt ein kurzes Schlusskapitel (6). Eine Wissenschaft ist nach traditioneller Auffassung gekennzeichnet durch einen umschreibbaren Gegenstand und ein Ziel, das in »wissenschaftlicher Tätigkeit« methodisch-systematisch verfolgt wird. Nach dem Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 1973 umfasst eine solche Tätigkeit »alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist« 1. Die Wahrheit wissenschaftlicher Feststellungen und Verknüpfungen ist jedoch selten augenfällig; immer müssen sie rational begründet werden (können); und die Begründungen müssen immer intersubjektiv verständlich, logisch kohärent, im Lichte von als gesichert geltendem Wissen plausibel und von anderen überprüfbar, d. h. auch widerlegbar sein. Die Intention einer Reihe von teils praktisch, teils technisch genannten Wissenschaften zielt »nicht [allein] darauf, ein Stück natürlicher oder sozialer Wirklichkeit zu erkennen, sondern darauf, in dieser Wirklichkeit bewusst und geplant zu handeln« 2 – auf der Basis umfangreicher, oft heterogener, aber immer unabgeschlossener Wissensbestände. Zu dieser wiederum heterogenen Gruppe zähle ich die klinische Humanmedizin.
1 2
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1973 (BverfGE 35, 79 CII). Wolfgang Wieland: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin 1975, S. 5.
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Die klinische Humanmedizin ist eine Handlungswissenschaft eigenen Rechts
Der folgende Versuch einer näheren wissenschaftstheoretischen Bestimmung der Klinik wird sozusagen von innen her versucht, im Rahmen einer Theoriebildung in bzw. aus der Medizin. Der Autor ist Arzt für Innere Medizin – Rheumatologie – Sozialmedizin mit einer soziologischen Zusatzausbildung. Der Blick von innen mag Vorteile haben, er beinhaltet sicher auch Schwächen auf Grund der Begrenzung seines Horizonts und der (mir) zur Verfügung stehenden epistemologischen Mittel. Meine Diskussion schließt an frühere theoretische Beschäftigungen mit der sogenannten Evidenz-basierten Medizin an. 3 Für das Folgende greife ich jedoch zurück v. a. auf Überlegungen von Gadamer, 4 Wieland, 5 Toellner, 6 Hartmann, 7 Gerok, 8 Rager, 9 Gethmann, 10
Vgl. Heiner Raspe: »Evidence-based medicine: Modischer Unsinn, alter Wein in neuen Schläuchen oder aktuelle Notwendigkeit?«, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 90 (1996), S. 553–562; ders.: »Theorie, Geschichte und Ethik der Evidenzbasierten Medizin (EbM)«, in: Regina Kunz/Günter Ollenschläger/Heiner Raspe et al. (Hg.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, Köln 22007, S. 15–29; ders.: »Von der Erfahrung zur Evidenz. Zum Wandel der Wissensgrundlagen in der Medizin«, GesundheitsRecht 11 (2012), S. 584–591. 4 Hans-Georg Gadamer: »Apologie der Heilkunst«, in: ders. (Hg.), Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a. M. 1996, S. 50–64. Das folgende Zitat findet sich auf S. 59. 5 Vgl. Wieland: Diagnose; ders.: »The character and mission of the practical sciences, as exemplified by medicine«, Poiesis & Praxis 1 (2002), S. 123–134; ders.: »Medizin als praktische Wissenschaft – die Frage nach dem Menschenbild«, in: Matthias Gierke/Jörg-Dietrich Hoppe/Peter F. Matthiessen et al. (Hg.), Medizin und Menschenbild. Das Verständnis des Menschen in Schul- und Komplementärmedizin, Köln 2006, S. 9–27. 6 Richard Toellner: »›Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen‹ (J. W. v. Goethe). Über den einheitsstiftenden Vorrang des Handelns in der Medizin«, in: ders. (Hg.), Medizingeschichte als Aufklärungswissenschaft. Beiträge und Reden zur Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin vom 16.–21. Jahrhundert, Münster 2016, S. 585–597. 7 Fritz Hartmann: »Die ›Frag-Würdigkeit‹ der Medizin als Wissenschaft«, Medizin in unserer Zeit 2 (1978), S. 121–129. 8 Wolfgang Gerok: »Grundlagen und Grenzen der wissenschaftlichen Medizin«, in: Johannes Köbberling (Hg.), Die Wissenschaft in der Medizin. Selbstverständnis und Stellenwert in der Gesellschaft, Stuttgart 21993, S. 27–42. 9 Günter Rager: »Medizin als Wissenschaft und ärztliches Handeln«, in: Ludger Honnefelder/Günter Rager (Hg.), Ärztliches Urteilen und Handeln. Zur Grundlegung einer medizinischen Ethik, Frankfurt a. M. 1994, S. 15–52. 10 Carl Friedrich Gethmann: »Heilen: Können und Wissen. Zu den philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Medizin«, in: Jan P. Beckmann (Hg.), Fragen und Probleme der medizinischen Ethik, Berlin/New York 1996, S. 69–93. 3
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Gross und Löffler; 11 Behrens, 12 Birgmeier, 13 Borck, 14 Sadegh-Zadeh 15 – und versuche, sie zusammen- und, Gadamers Hinweis folgend, weiterzuführen: Die Heilkunst […] stellt daher innerhalb der modernen Wissenschaften eine eigentümliche Einheit von theoretischer Erkenntnis und praktischem Wissen dar, eine Einheit, die sich überhaupt nicht als Anwendung von Wissenschaft auf Praxis verstehen läßt. Sie stellt eine eigene Art praktischer Wissenschaft dar, für die im modernen Denken der Begriff abhanden gekommen ist. 16
Während Gadamer, Gethmann, Rager, Sadegh-Zadeh und Wieland den Begriff »praktische Wissenschaft« wählten, um der Klinik einen besonderen epistemologischen Status zuzuweisen, sprechen Behrens, Birgmeier, Borck, Hahn, Hartmann, Toellner und ich selbst, um die »eigene Art« herauszuarbeiten, von »Handlungswissenschaft«. Ich tue dies nicht, um an eine philosophische Handlungstheorie 17 anzuschließen. Das Handeln in der Klinik ist im Wesentlichen ›Behandeln‹, ein problembezogenes, planvolles, zielgerichtetes, begründetes und vielfach normiertes Handeln von speziell dazu aus-, weiter- und fortgebildeten Personen für, mit und an Patienten – in deren erklärtem oder wenigstens mit Recht vermutetem »bestem Interesse«. Patienten sind besorgte, gesundheitsgefährdete oder (meist) manifest erkrankte Personen, die einen Kliniker, eine Klinik von sich aus aufsuchen oder dorthin gebracht werden in der begründeten Erwartung eines Hilfspotentials, das das ihre übersteigt – und die dort angenommen werden. Jede Ärztin hat schon Personen, die sich als Patienten präsentierten, fortgeschickt in der Überzeugung, in diesem
Rudolf Gross/Markus Löffler: Prinzipien der Medizin, Berlin 1997. Johann Behrens: »EbM ist die aktuelle Selbstreflexion der individualisierten Medizin als Handlungswissenschaft«, Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 104 (2010), S. 617–624. 13 Bernd Birgmeier: Handlungswissenschaft Soziale Arbeit. Eine Begriffsanalyse, Wiesbaden 2014. 14 Cornelius Borck: Medizinphilosophie zur Einführung, Hamburg 2016. 15 Kazem Sadegh-Zadeh: Handbook of Analytic Philosophy of Medicine, Berlin 2015; ders.: »Die Medizin ist eine deontische Disziplin«, Angewandte Philosophie 1 (2015), S. 10–23. 16 Gadamer: »Apologie der Heilkunst«, S. 59. 17 Siehe dazu: Michael Kühler/Markus Rüther (Hg.), Handbuch Handlungstheorie. Grundlagen, Kontexte, Perspektiven, Stuttgart 2016. 11 12
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oder jenem Fall gehe es nicht um ein Problem, das man mit medizinischen Mitteln lösen könne. Heute dürfte es bei uns so gut wie keinen Menschen geben, der nicht schon ein solcher Patient gewesen wäre und Kontakt mit der Klinik gehabt hätte. Man muss also nicht extra erklären, was Behandeln aus der Sicht der Behandelten bedeutet. Zudem dürften viele Menschen auch vom Behandeln selbst konkretere Vorstellungen haben. Sie haben sich selbst oder ihre Kinder behandelt, sich im Laiensystem behandeln lassen und genug Behandler bei der Arbeit gesehen. So setze ich voraus, dass nahezu jede(r) weiß, worum es phänomenal geht. Es würde einen weiteren umfangreichen Text erfordern, angemessen auf alternative Bestimmungen der Klinik einzugehen. Rothschuh schrieb etwa: »Die Medizin ist also keine Wissenschaft, aber es gibt eine wissenschaftliche Medizin, die Wissenschaft treibt um der Erkennung und Heilung der Krankheit willen.« 18 Schäfer sieht die Medizin »in Gegensatz zu jeder anderen Wissenschaft«. Sie sei »grundsätzlich dreidimensional: Sie behandelt Geistiges, Materielles und deren nicht modellierbare Beziehungen.« 19 Andere sprechen von »ärztlicher Kunst« (im Sinne von Techne), beschreiben sie als »a stochastic art« 20, als »interpretive science« 21 oder sehen sie als »angewandte Wissenschaft oder als entwicklungsfähige Summe angewandter Wissenschaften« 22. In kritischen Diskussionen wird gerne auch die Frage erwogen, wie weit die klinische Medizin ein Handwerk sei, und es werden Analogien vorzugsweise zum Klempner oder Automechaniker gesucht. Karl Eduard Rothschuh: Prinzipien der Medizin. Ein Wegweiser durch die Medizin, München 1965, S. 9. 19 Hans Schäfer: »Wie weit ist die Medizin eine Wissenschaft?«, Medizinische Klinik 84 (1989), S. 267–270, hier S. 268. 20 Katerine Ierodiakonou/Jan P. Vandenbroucke: »Medicine as a Stochastic Art«, Lancet 341 (1993), S. 542–543. David L. Sackett, R. Brian Haynes und Peter Tugwell bezeichneten die Klinische Epidemiologie auf der Rückseite der ersten Auflage ihres Buches Clinical Epidemiology als »science of the art of medicine« (David L. Sackett/ R. Brian Haynes/Peter Tugwell: Clinical Epidemiology. A basic science for clinical practice, Philadelphia 11985). 21 Richard Horton: »The grammar of interpretive medicine«, Canadian Medical Association Journal 159 (1998), S. 245–249. 22 Georges Canguilhem: »Der epistemologische Status der Medizin« in: ders. (Hg.), Grenzen medizinischer Rationalität. Historisch-epistemologische Untersuchungen, Tübingen 1988, S. 84. 18
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Der zur Verfügung stehende Raum reicht leider auch nicht, um mehr als oberflächlich auf ethische und professionspolitische Implikationen einer als Handlungswissenschaft verstandenen klinischen Humanmedizin einzugehen.
2.
Klinische Humanmedizin
Dass man »die Medizin« und die »Heilkunde« voneinander unterscheiden kann, am sinnvollsten in dem Sinn, dass das weite Reich der Medizin die Klinik als ein abgrenzbares Territorium enthält, legte schon Naunyn in seinem berühmten Diktum von 1905 nahe: Für mich ist es kein Zweifel, dass das Wort: ›Die Medizin wird eine Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein‹ auch für die Therapie gelten muss und gilt. Die Heilkunde wird eine Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein! Mir ist es sonnenklar, dass da, wo die Wissenschaft aufhört, nicht die Kunst anfängt, sondern rohe Empirie und das Handwerk. 23
Für Naunyn war jedoch »die Heilung der Krankheiten […] nur eines der Ziele, das sich die Medizin steckt, ihre Aufgabe ist das Studium des menschlichen Organismus und seiner Lebensäußerungen nach allen Richtungen« 24 – »Hand in Hand mit den aufblühenden Naturwissenschaften. Dass wir an die Seite der Naturforscher gehören, daran haben die Einsichtsvollen unter den Aerzten nie gezweifelt.« 25 Folgt man dieser im 19. Jahrhundert sich entwickelnden und heute wieder dominierenden Selbstdefinition der akademischen Medizin als »Bio- oder Lebenswissenschaft«, dann liegt es viel näher, die Klinik als »verwissenschaftlichte Praxis« 26 zu verstehen, als wenn man von der Not und dem Anliegen der Patienten, von deren Behandlungsauftrag und vom gesellschaftlichen Heilauftrag her denkt und die Klinik als Mittelpunkt, Ziel und Aufgabe der gesamten Medizin auffasst – wie ich es tue. So setze ich ins Zentrum der klinischen Humanmedizin die kliBernhard Naunyn: »Ärzte und Laien«, Teile 1 und 2, Deutsche Revue 30 (1905), S. 185–196 und S. 343–355, hier S. 349. 24 Ebd., S. 345 f. 25 Ebd., S. 188. 26 Peter Hucklenbroich: »Die Struktur medizinischen Wissens. Zur Grundlegung und zum Verhältnis von Medizintheorie und medizinischer Ethik«, Zeitschrift für Medizinische Ethik 44 (1998), S. 107–125, hier S. 109. 23
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nische Situation, die unmittelbare, aber grundsätzlich zeitlich und sachlich begrenzte Begegnung einer/eines Patientin/en und eines Klinikers, einer Klinikerin. Unter Kliniker verstehe ich jede fachlich qualifizierte Person, die in direktem Kontakt und in direkter Verantwortung mit, für und an Patienten arbeitet, also nicht nur Krankenhausärzte. Diese klinische Situation ist der nächste Rahmen für klinisches Handeln, das immer auch zwischenmenschliches Handeln (»Umgang« bei Viktor von Weizsäcker 27) ist. »The most obvious fact of medicine is that it is a human discipline, one involving role and taskdefined activities of two or more people. Such roles and tasks are defined in a complementary fashion.« 28 Regelmäßig sind an dieser sozialen Interaktion heute weitere Personen aufseiten des Patienten (Angehörige, Freunde) wie des Klinikers (Mitglieder des therapeutischen Teams) mehr oder weniger direkt beteiligt. Wie weit diese Beziehung zu einer persönlichen werden, wie weit die Klinik im Sinne Engelhardts »patientenzentriert« sein kann, hängt heute mehr von den Rahmenbedingungen der Situation als vom Verhalten der unmittelbar Beteiligten ab. Die kurzen Verweildauern und Kontaktzeiten und der dauernde Personalwechsel stehen jedenfalls in den Krankenhäusern einer im eigentlichen Sinne personalisierten Behandlung entgegen. Aber auch sonst sind die Verhältnisse für Engelhardts »Versuch einer patientenzentrierten Medizin« ungünstiger geworden. Dieser verfolgte das Ziel: »Die klinische Annäherung an die durch Beobachtung am Krankenbett und im Arztzimmer zu belegende These, dass jede Krankheit mit zahlreichen menschlichen Problemen verbunden ist, deren Beachtung oder Nichtbeachtung auf das Krankheitsbild zurückwirkt.« 29 Diese Annäherung erfordert es, im Patienten nicht nur einen objektivierbaren erklärungsbedürftigen »Gegenstand« zu sehen, sondern auch ein individuelles »Gegenüber«. 30 Die Person des/der Kranken ist tief in die Siehe hierzu Klaus Gahl: »Viktor von Weizsäckers Anthropologische Medizin. Eine Annäherung«, psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 9 (2014), S. 12–33. 28 George L. Engel: »The Clinical Application of the Biopsychosocial Model«, The Journal of Medicine and Philosophy. A Forum for Bioethics and Philosophy of Medicine 6 (1981), S. 101–124, hier S. 102. 29 Karlheinz Engelhardt: Der Patient in seiner Krankheit, Stuttgart 1971, S. VI. 30 Fritz Hartmann: »Medizin – eine Wissenschaft aus eigenem Recht?«, in: Dietrich 27
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Ausgestaltung der Krankheit und ihres Verlaufs verwickelt und will und muss verstanden werden. Zur klinischen Humanmedizin/Klinik ist weiter zu rechnen, was tagtäglich in der unmittelbar fallbezogenen Arbeit angewandt, genutzt, verbraucht, realisiert, instantiiert wird (Infrastruktur, Geräte, Materialien, Handlungsprogramme, Wissensbestände …). Um die Klinik herum, aber doch fern von der klinischen Situation gibt es »die Medizin« im weitesten Sinne und in vielerlei Gestalt, theoretisch (z. B. Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin), in der Forschung (z. B. Grundlagenforschung, Systembiologie, Gesundheitsökonomie) und praktisch (z. B. Gesundheitsförderung, Öffentlicher Gesundheitsdienst, Beratungs- und Begutachtungsdienste) – teils auch mit Bezug zur Klinik und zum Nutzen der Klinik. Maßgebend ist für die heute institutionalisierte klinische Medizin der gesellschaftliche Heilauftrag im Rahmen eines Vertrages zwischen Gesellschaft und klinischen Akteuren und Institutionen. Die 2002 veröffentlichte Charta »Medical professionalism in the new millenium: a physicians’ charta« internationaler medizinischer Fachverbände beginnt ihre Präambel mit den Worten: Professionalism is the basis of medicine’s contract with society. It demands placing the interests of patients above those of the physician, setting and maintaining standards of competence and integrity, and providing expert advice to society on matters of health […]. 31
Solange die Gesellschaft darauf vertrauen kann, dass diese drei Forderungen zuverlässig erfüllt werden, so lange und nur so lange können die klinischen Professionen, allen voran die ärztliche, erwarten, dass ihre Teilautonomie, ihre sozialen Privilegien und auch ihr weitreichender Heilauftrag erhalten bleiben. Verträge sind kündbar. Um an diesen Vertrag zu erinnern und seitens der Profession(en) zu bekräftigen, aber offensichtlich auch, um internen wie externen Erosionen des Vertrages zu begegnen, formuliert die Charta im Rahmen der Prinzipienethik eine Reihe ärztlicher Verantwortlichkeiten und Selbstverpflichtungen. 32 Auf eine wird noch zurückzukommen sein.
Rössler/Hans Dierck Waller (Hg.), Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1989, S. 32. 31 Medical Professionalism Project: »Medical Professionalism in the New Millenium. A Physicians Charter«, Lancet 359 (2002), S. 520–522, hier S. 520 [Hervorh. v. H. R.]. 32 Vgl. ebd., S. 520–522.
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Die klinische Humanmedizin ist eine Handlungswissenschaft eigenen Rechts
Ein Heilauftrag setzt sachlich und zeitlich Un-Heil, ein Übel voraus, dem abgeholfen werden soll: Hier sind es in erster Linie relevante Krankheitsrisiken, Vor- und Frühstadien bestimmter Krankheiten, manifeste Krankheiten, krankheitsbedingte Leiden, ungünstige Verläufe, Residuen (auch mit Folgen für Lebensqualität und Teilhabe), Rezidive, Folgekrankheiten, schweres Sterben. Zu berücksichtigen sind auch, bei begrenzter klinischer Verantwortlichkeit und Einflussmöglichkeit, die sie teils befördernden, teils ihnen folgenden »menschlichen Probleme« und ihre psychosozialen Kontexte. »Holistischen« Heilweisen ist schon deshalb zu misstrauen, weil »der Mensch gar kein Ganzes [ist], denn er ist doch nichts, was fertig ist, er ist nur ein Werdender, ein Halber« 33, und weil ein ganzheitlicher Zugang nicht leicht von einem imperialen Zugriff zu unterscheiden ist. Die von der klinischen Medizin entsprechend zu verfolgenden Ziele sind nach der Vorbeugung und Abwendung von Krankheiten deren Heilung, Remission, Besserung, Linderung, Stabilisierung, ein möglichst günstiger Verlauf, Ausgleich bleibender Defizite und Rehabilitation. In letzter Zeit ist mit der Palliativmedizin ein altes Ziel, die Hilfe zu einem leichten Sterben und friedvollen Tod, wieder in den Vordergrund gerückt. Die Mittel der Klinik sind diverse Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die sich, teils sprunghaft, stets ausdifferenziert und qualitativ weiterentwickelt haben. Sie sollen möglichst »effizient« sein. Ihr Fortschritt verdankt sich zunehmend einer gezielten und planvollen Grundlagen-, pharmazeutischen und Technikforschung. Auch die Organisation und Infrastruktur der klinischen Medizin haben sich in den letzten 100 Jahren erheblich ausdifferenziert.
3.
Handlungswissenschaften
Der im Titel genannte Versuch bezieht sich auf die These, dass die klinische Medizin zu einer Gruppe von wissenschaftlich fundierten und wissenschaftlich tätigen, akademisch vermittelten Handlungssystemen gehöre, die um negativ bewertete menschliche und gesellschaftliche Grundprobleme konkreter Personen kreisen: körperliche Viktor von Weizsäcker: »Ärztliche Aufgaben«, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Frankfurt a. M. 1986, S. 143–157, hier S. 144.
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oder seelische Krankheit, Hinfälligkeit, soziale Exklusion, Rohheit (»l’enfant sauvage«), Unrecht, Sünde. Die entsprechenden Zustände scheinen durch das ausgezeichnet, was Robert Audi »moral in upshot« nennt. Ihr jeweiliger Unwert (sein Beispiel: Schmerz; er sei »prima facie wrong«) ist unmittelbar und appellativ evident. 34 Handlungswissenschaften sind immer auch Wert- und Normwissenschaften. Somit beinhaltet so gut wie jede Feststellung zu Art, Ausmaß, Intensität und Dauer etc. des ihr aufgegebenen, grundsätzlich negativen Zustands immer auch eine »Wertstellung« (zwischen z. B. leicht – schwer, erträglich – unerträglich, ungefährlich – gefährlich für die biologische oder soziale Existenz); und sie beinhaltet eine mehr oder weniger starke Handlungsaufforderung. Zu diesen Handlungssystemen rechne ich neben der klinischen Medizin v. a. die Pflege und Psychotherapie, die Sozialarbeit und Pädagogik, die Rechtspflege sowie Teile der praktischen Philosophie und Theologie. Aufgabe und Ziel humaner Handlungswissenschaften ist es, den natürlichen Verlauf der bisherigen – negativ bewerteten – Verläufe und Zustände aktiv handelnd (selbstverständlich historisch kontingent) in jeweils gewünschte Bahnen und in Richtung jeweils gewünschter Ziele und Ergebnisse umzulenken – und dies nicht nur bei der aktuell gegebenen Person, sondern verlässlich und im Erfolg abschätzbar auch bei der nächsten und übernächsten und weiter beim generalisierten Einzelfall. Handlungswissenschaften unterliegen einem Handlungsimperativ; sie unterliegen bestimmten Humanitätsanforderungen. Zu diesen sollte nicht die Forderung nach »Ganzheitlichkeit« gehören. Jede Handlungswissenschaft ist unvermeidlich nur eine Aspektwissenschaft. Sie zielt – funktional spezifisch – auf eines der genannten Übel, nicht auf jedes oder alle zugleich. Das professionelle Handeln geschieht in direktem Kontakt mit Personen: mit Patienten, Pflegebedürftigen, Klienten, Schülern, Mandanten, Gläubigen. Sie erscheinen in doppelter Gestalt, als zu objektivierender Gegenstand und als persönliches Gegenüber, als Subjekt.
Robert Audi: Means, Ends, and Persons. The Meaning and Psychological Dimensions of Kant’s Humanity Formula, Oxford 2016, S. 88 ff.
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Ihre Vertreter gehör(t)en in der Regel zu Berufsgruppen, die (soziologisch) als Professionen bezeichnet werden. Ihre Ziele und Aufgaben sind in groben Zügen gesellschaftlich, auch und vor allem rechtlich vorgegeben und geschützt; sie werden im Detail von den Berufsgruppen und ihren Verbänden selbst konkretisiert. Die verfasste Ärzteschaft z. B. regelt die fachärztliche Weiterbildung und Fortbildung, verfügt über eine eigene Berufsgerichtsbarkeit und eigene Pensionskassen und beteiligt sich an der Qualitätssicherung. Humane Handlungswissenschaften eint, dass sich das, was sie wissen und können, am Einzelfall – auf sehr unterschiedliche Weise – bewähren soll, allgemein formuliert: in der thematisch fokussierten Falllösung in konkreter Interaktion zwischen Fachleuten und Individuen. In ihrer Aus-, Weiter- und Fortbildung spielen Fallbeispiele und Aufgaben zur Falllösung eine zentrale Rolle. Nach wie vor sind Kasuistiken, also Narrative, ein unverzichtbares Medium der intraprofessionellen Kommunikation. 35 Sie eint weiter, dass ihr professionelles Handeln institutionell verfestigt ist. Dessen Inhalte, sein Ablauf, seine Ziele sind alles andere als kapriziös oder willkürlich. Sie werden strukturiert durch diverse Selbstverpflichtungen, Empfehlungen, Vorschriften, Gesetze, standardisierte Prozeduren, tradierte Routinen – in der Medizin nachweisbar etwa in Form von Gelöbnissen, Leitlinien, Richtlinien, Standards und Ritualen wie der Visite am Krankenbett. Sie eint auch, dass in ihrer jeweiligen Grundsituation Handeln grundsätzlich Vorrang vor Wissen hat. Man kann die Handlungsaufforderung eines Patienten, Klienten, Mandanten etc. nicht dadurch abweisen, dass man erst noch viel mehr wissen müsse und dass das weitere Nachdenken und Forschen leider einige Monate bis Jahre brauche. Das Wissen einer Handlungswissenschaft ist in aller Regel beides, unvollständig und unsicher – und dennoch muss bei vollem Bewusstsein dieser Grenzen hier und jetzt und oft noch unter Zeitdruck gehandelt werden, auf der Basis des jeweils besten verfügbaren Wissens. Sie eint schließlich eine mehr oder weniger ausgeprägte Asymmetrie: Sie ist beziehungsstiftend (warum sonst sollte man einen Vertreter einer Handlungswissenschaft konsultieren?), in Grenzen ausgleichbar, aber so lange grundsätzlich nicht aufhebbar, wie Wissen, Vgl. Kathryn M. Hunter: »A science of individuals. Medicine and casuistry«, Journal of Medicine and Philosophy 14 (1989), S. 193–212.
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Können, emotionale Befangenheit und oft auch existentielle Betroffenheit zwischen z. B. Kliniker und Patient oder Rechtsanwalt und Klient unterschiedlich verteilt sind.
4.
Klinische Humanmedizin: »verwissenschaftlichtes« und sich verwissenschaftlichendes professionelles Handeln
Hucklenbroich begegnet dem Verständnis der Klinik als Handlungswissenschaft mit Skepsis, erkennt ihr aber den Status einer »verwissenschaftlichten Praxis« zu. 36 Mich irritiert an dieser Formulierung das Partizip Perfekt Passiv. Die Klinik wurde also verwissenschaftlicht – aber wann, von woher und von wem? Der Klinik fließt doch ein stetiger Strom neuen Grundlagenwissens und »innovativer« Untersuchungs- und Behandlungsmethoden aus aller Welt zu. Heute liegen deren Quellen meist außerhalb der Klinik. Grundlagenforschung und die Entwicklung neuer Arzneimittel und Medizinprodukte sind weithin aus der Klinik ausgewandert, werden von Nicht-Klinikern betrieben und haben sich eigene Einrichtungen geschaffen. Der »clinician scientist« ist zu einer gefährdeten Spezies geworden. Dies nicht ohne Grund: Weite Teile der medizinischen Grundlagenforschung waren und sind Naturforschung – ohne Bezug zur Klinik und selbst vom »translational research from bench to bedside« nicht nur meilenweit entfernt, sondern auch an ihm (zu Recht) nicht interessiert. Will man den Begriff »verwissenschaftlicht« beibehalten, so sollte man ihn für das der Klinik von außen zufließende neue Wissen und die Methoden reservieren, die sich als »klinisch relevant« herausgestellt haben (und nur wenn sie dies getan haben). Dies erfordert eigene klinische Prüfungen, die nicht mehr allein auf das Verständnis biologischer und psychischer Prozesse zielen, sondern auf die Ergebnisse patientendienlichen professionellen Handelns. Aus Sicht der Patienten sind solche Studien in der Sprache einer Forschungsethikkommission »eigen-« oder wenigstens »gruppen-«, aber nicht »fremdnützig«. 37 Berücksichtigt man andererseits, dass es die Kliniker sind, die in ihrem Praxiskontext alte und neue Arzneimittel, Medizinprodukte Peter Hucklenbroich: »Die Struktur medizinischen Wissens«, S. 109. Heiner Raspe/Angelika Hüppe/Daniel Strech et al.: Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethik-Kommissionen, Köln 22012, S. 215 ff. 36 37
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und ganze Behandlungsstrategien (wenn auch selten) entwickeln, öfter optimieren und immer vergleichend auf Wirksamkeit und Nutzen prüfen, dann kann man auch sagen, dass sich hier die Klinik selbst fortwährend verwissenschaftlicht und mit wissenschaftlichen Mitteln kontrolliert. Dies gilt besonders dort, wo sie zu nicht kommerziellen klinischen Prüfungen, sogenannten Investigator initiated Trials (IITs) findet; sie werden von Klinikern selbst entworfen, geplant, durchgeführt und ausgewertet. Es gilt auch für Beobachtungsstudien vom Typ der Anwendungsbeobachtung, für Registerstudien, generell für Outcomes Research. Alle genannten Studientypen intendieren, das kollektive handlungsbezogene Wissen der Klinik zu vermehren. Ihnen geht es im Unterschied zu Qualitätssicherungssystemen um »generelle«, nicht nur lokale Wirksamkeit, Nützlichkeit und/oder Unbedenklichkeit. Dies ist auch das Ziel einer noch engeren Integration von Forschung und Praxis: Unter der Überschrift »learning health system« soll es darum gehen, »real-world«-Daten zu relevanten Behandlungsprozessen und Behandlungsergebnissen an der Quelle zu erfassen, um sie parallel sowohl dem Qualitätsmanagement wie der Forschung zur Verfügung zu stellen. 38 Dies stellt eine Vielzahl theoretischer, klinimetrischer 39 und technischer Probleme, die heute zwar abzusehen, aber noch keineswegs gelöst sind. Erst das Zusammenwirken von externer Verwissenschaftlichung und internem Sich-Verwissenschaftlichen gibt der klinischen Handlungswissenschaft ein sicheres Fundament. Dabei steht die Klinik unter einem therapeutischen, einem Handlungsimperativ. Dieser wird als so stark empfunden, dass ein Diagnose- oder Therapieverzicht 40 als »Udenotherapie« 41, »abwartendes Offenlassen« 42, »gezieltes Zuwarten« oder »watchful waiting« und »being masterly inactive« (Arztfolklore) besonders gerechtfertigt Vgl. Institute of Medicine: Integrating Research and Practice. Health System Leaders Working Toward High-Value Care: Workshop Summary, Washington DC 2015. 39 Vgl. Alvan R. Feinstein: Clinimetrics, New Haven 1987. 40 Vgl. Felix Anschütz: Indikation zum ärztlichen Handeln. Lehre, Diagnostik, Therapie, Ethik, Berlin 1982. 41 Eugen Bleuler: Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, Berlin 31922, S. 16. 42 Vgl. Robert N. Braun: Diagnostische Programme in der Allgemeinmedizin, München 1976. 38
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werden muss, um dem Vorwurf des therapeutischen Nihilismus zu entgehen. Die Zeiten, in denen ein Josef Dietl, Primararzt eines Wiener Krankenhauses, sagen konnte »Im Wissen und nicht im Handeln liegt also unsere Kraft!« 43 sind unwiderruflich vorbei. Auch wenn verschiedene klinische Berufsgruppen eigene Terminologien pflegen, so gilt doch in jedem Fall, dass ihr professionelles Handeln systematisch-geregelt abläuft. Für die ärztliche Profession haben Gahl und Raspe deren typische Handlungssequenz, bezogen auf die Begegnung mit einem gesprächs- und entscheidungsfähigen Patienten in der Praxis oder Ambulanz, mit zwölf »Handlungsbegriffen« vergegenwärtigt: Begrüßung (und erste Krankenbeobachtung) – Anamnese – klinische Untersuchung – technisch gestützte Untersuchungen (u. a. Labor, Bildgebung) – Diagnose – Prognose – gemeinsame Problemdefinition – therapeutische Indikationen – gemeinsame Behandlungsplanung – Behandlung(en) – Verlaufsbeobachtung – Epikrise. 44 Als zentralen Handlungsbegriff, als zentrales Handlungselement sehe ich die wissenschaftlich kausal und final zu begründende und moralisch zu rechtfertigende fallbezogene Indikationsstellung. Eine Indikation stellt fest, was vor dem Hintergrund aktueller Wissensbestände (siehe unten) in einem vorliegenden Fall in unterschiedlicher Dringlichkeit zu tun »angezeigt« ist. In Indikationen verbinden Ärzte und andere Kliniker – regelbasiert – die Analyse und Bewertung der klinischen Lage eines konkreten Patienten mit der zuerst rein gedanklichen Auswahl eines evident nützlichen Heilmittels in Hinblick auf ein legitimes und realistisch erreichbares Ziel (Dreieck der Indikationsstellung). 45 Indikationen werden von alters her nach ihrem normativen Gewicht unterschieden: Wir kennen vitale bzw. absolute, d. h. unbedingt und sofort zu realisierende Indikationen mit dem Ziel der Lebens-
Joseph Dietl: »Praktische Wahrnehmungen nach den Ergebnissen im Wiedner-Bezirkskrankenhaus. Vorwort«, Zeitschrift der K. K. Gesellschaft der Ärzte zu Wien 1/2 (1845), S. 9–26, hier S. 14. 44 Vgl. Klaus Gahl/Hans-Heinrich Raspe: »Klinik für Vorkliniker«, Deutsche Medizinische Wochenschrift 117 (1992), S. 757–761. 45 Heiner Raspe: »Die medizinische Indikation und ihre Regulierung in Zeiten der evidenzbasierten Medizin«, in: Andrea Dörries/Volker Lipp (Hg.), Medizinische Indikation. Ärztliche, ethische und rechtliche Perspektiven. Grundlagen und Praxis, Stuttgart 2015, S. 94–112. 43
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rettung, mehr oder weniger relative und grenzwertige und schließlich auch Nicht-Indikationen. Dabei unterliegt die lex artis medicinae einem beständigen Wandel. Kompendien von Indikationsregeln, wie sie die weit verbreiteten klinischen Praxisleitlinien 46 zusammenfassen, haben es nicht leicht, aktuell zu bleiben. Nur eine beständige Aktualisierung ihrer Empfehlungen unter Berücksichtigung beider oben genannten wissenschaftlichen Quellen unterstützt ihren normativen Anspruch. Indikationen werden nicht nur für Therapien gestellt, sondern sie spielen schon in der Anamnese eine Rolle: Ist es »angezeigt«, diese Patientin auf Suizidalität oder jenen Patienten auf seine Sexualität anzusprechen? Indikationen leiten natürlich auch die klinische Untersuchung, die technisch unterstützte Diagnostik und die Verlaufsbeobachtung. Eine klinische Indikation ist die erste Voraussetzung für einen rechtskonformen Heileingriff, noch vor der sogenannten informierten Zustimmung des Patienten. Zustimmen kann man nur zu etwas, was – hoffentlich indikationsbasiert – vorgeschlagen wurde: Ärzte (und andere Kliniker) stellen Indikationen und geben mehr oder weniger dringliche Empfehlungen, Patienten entscheiden am Ende über deren Verwirklichung. Auch im Modell der gemeinsamen Entscheidungsfindung (»shared decision making«) kann auf die professionelle Indikationsstellung nicht verzichtet werden; keinesfalls ist sie durch die voluntas aegroti/ae zu ersetzen. So eröffnet sich zwischen den Eckpunkten Indikationsstellung – Patientenentscheidung ein weites Feld für das suchend-klärende, auf die Entscheidung hinführende Gespräch zwischen Klinikerin und Patient. Dies auszumessen, würde den Rahmen dieses Textes ein weiteres Mal sprengen. Jedenfalls ist es nur in Grenzfällen auf einen bloßen Austausch sachlicher Informationen zu beschränken. Andererseits wird nur selten die ›fundamentale mitmenschliche Gegenseitigkeit‹ und ›Solidarität‹ wahrgenommen werden (können), die nach Gahl 47 im »Zentrum der von Viktor von Weizsäcker begründe-
Nähere Informationen bieten die Webseiten hhttp://www.leitlinien.de/i und hhttp://www.awmf.org/leitlinieni (letzter Zugriff 17. 9. 2017). 47 Hilde und Klaus Gahl: »Der Arzt und der Kranke«, in: Norbert C. Baumgart/Gerhard Ringshausen (Hg.), Philosophisch-theologische Anstöße zur Urteilsbildung, Münster 2007, S. 113–124, hier S. 119. 46
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ten und in einem umfangreichen Œuvre dargelegten ›anthropologischen Medizin‹« steht.
4.1. Die sich verwissenschaftlichende und wissenschaftlich kontrollierende Klinik Alle klinische Medizin ist auch Erfahrungsmedizin. Keine/r lernt sie aus Lehrbüchern so, dass sie/er sie sicher und verlässlich praktizieren könnte. Auch Erfahrung und Übung sind notwendige Bedingungen für verlässliches Können und bewährtes Wissen. Klinische Erfahrung(en) kann man – erstens – für sich selbst durch Wiederholung und Versuch & Irrtum gewinnen; solche rohe bzw. naive Erfahrung kann man – zweitens – raffinieren, u. a. durch fortlaufende (einsame oder gemeinsame) Dokumentation und Reflexion (z. B. Tagebuchführung, Fallvorstellung, Supervision, Kasuistik, Teilnahme an einem Krankheitsfallregister, einem Qualitätssicherungsprogramm). Auf dieser Basis arbeitet die Klinik an ihrer beständigen Optimierung im Sinne einer sogenannten formativen Evaluation. Die Evaluationsergebnisse fließen direkt in den beobachteten Prozess ein. Erfahrung kann man – drittens – wissenschaftlich kontrolliert gewinnen und so absichern, dass ihre Inhalte (z. B. wie man in einer typischen klinischen Situationen möglichst schonend, effektiv und effizient handelt) mitteilbar und intersubjektiv überprüfbar werden und den kollektiven Erfahrungsschatz der Klinik bereichern, jedenfalls stabilisieren. Diese im engeren Sinne klinische, d. h. handlungsrelevante Forschung und ihre methodischen, technischen und normativen Grundlagen kann man zusammenfassend dem Begriff der »clinical evaluative sciences« zuordnen. 48 Ihr Hauptwerkzeug sind die in jeder Hinsicht aufwendigen klinischen Prüfungen; die Ergebnisse dieser sogenannten summativen Evaluation bilden das Substrat der Evidenz-basierten Medizin (EbM). 49
48 Howard Hiatt/Lee Goldman: »Making medicine more scientific«, Nature 371 (1994), S. 100. 49 Vgl. David L. Sackett/William M. C. Rosenberg/J. A. Muir Gray et al.: »Evidence based medicine: what it is and what it isn’t«, British Medical Journal 312 (1996), S. 71–72.
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Unter Evidenz verstehe ich mit einem Rundtischgespräch des US-amerikanischen Instituts of Medicine: »to be [publicly available] information from [documented] clinical experience that has met some established test of validity, and the appropriate standard is determined according to the requirements of the intervention and clinical circumstance« 50. Das Validierungserfordernis gilt, nebenbei, nicht nur für Aussagen zur generellen Wirksamkeit von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, sondern auch für singuläre Feststellungen zum klinischen Problem und Anliegen eines Patienten. Die Evidenz zur generellen Wirksamkeit stellt sich nicht von selbst ein; sie kann der klinischen Situation nicht direkt entnommen werden und ist doch nicht ohne mühsame aktive Mitwirkung von Klinikern zu erarbeiten. Die schon erwähnte Charta »Medical Professionalism in the New Millenium« enthält als achte ärztliche Selbstverpflichtung das »commitment to scientific knowledge«: Much of medicine’s contract with society is based on the integrity and appropriate use of scientific knowledge and technology. Physicians have a duty to uphold scientific standards, to promote research, and to create new knowledge and ensure its appropriate use. 51
Die Helsinki-Deklaration der World Medical Association weist in Artikel 6 in Satz 2 auf die anhaltende Notwendigkeit evaluativer klinischer Forschung selbst dann hin, wenn sich ein Verfahren schon »evident« bewährt hat: The primary purpose of medical research involving human subjects is to understand the causes, development and effects of diseases and improve preventive, diagnostic and therapeutic interventions (methods, procedures and treatments). Even the best proven interventions must be evaluated continually through research for their safety, effectiveness, efficiency, accessibility and quality. 52
LeighAnne Olsen/W. Alexander Goolsby/J. Michael McGinnis: Leadership Commitments to Improve Value in Health Care. Finding Common Ground. Workshop Summary, Washington 2009, S. 10. 51 Medical Professionalism Project: Medical Professionalism in the New Millenium, S. 521. 52 World Medical Association: »WMA Declaration of Helsinki – Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects«, 19. 10. 2013. hhttps://www.wma.net/ policies-post/wma-declaration-of-helsinki-ethical-principles-for-medical-researchinvolving-human-subjects/i (letzter Zugriff 18. 09. 2017) 50
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So wenig bezweifelt werden kann, dass die klinische Medizin ohne Forschung im Sinne von Satz 1 (»verwissenschaftliche Praxis«, s. u.) stillstehen würde, so wenig Zweifel bestehen daran, dass sie ohne solche – im engeren Sinne klinische – Forschung im Sinne von Satz 2 kapriziös, erratisch, in ihren Effekten kaum vorhersehbar und insgesamt unkontrollierbar und wohl auch ungerecht (im Sinne von ungleichmäßig) würde. Klinische Indikationsstellungen erfolgen regelbasiert. In die heute in klinischen Praxisleitlinien formulierten Indikationsregeln gehen zentral die Ergebnisse evaluativer klinischer Forschung, zusammengefasst in Evidenzsynthesen, ein. Sie gelten dann als »evidenzbasiert« und gewinnen dadurch moralisches Gewicht und eine spezifische Rationalität: Aktuelles einzelfallbezogenes Handeln beruft sich auf wissenschaftlich kontrolliert gewonnene mittlere Ergebnisse früheren klinischen und Versorgungshandelns an größeren Kollektiven, zu denen der aktuelle Patient hätte gehören können. Während bis in die frühen 1980er Jahre (besonders in Deutschland) eine bestimmte Untersuchungs- oder Behandlungsmethode ihre Legitimation vor allem aus einer grundlagenwissenschaftlichen (»biomedizinischen«) Begründung erfuhr, gilt ab Anfang der 1990er Jahre, dass es zuerst auf wissenschaftlich belegte Wirksamkeit und Nutzen ankomme. Diese pragmatische Wende in der Begründung der Rechtfertigung einer Methode findet ironisch Ausdruck in dem einem Anonymus zugeschriebenen Aperçu: »It’s all very well in practice, but will it work in theory?« 53 Der zentrale Anspruch der EbM zielt auf den von Martini schon 1932 geforderten und später (1947) von ihm ausdrücklich »klinisch« genannten »Beweis« für die Wirksamkeit und den Nutzen einer bestimmten Methode mit Hilfe einer gezielten sach- wie fachgerechten Untersuchung. 54 Dabei ist »Beweis« hier im kriminologisch-juristischen Sinne zu verstehen; nicht im strengeren Sinn der Logik und Mathematik. »Evidenz« war eine nur anfangs missverständliche direkte Übersetzung von »evidence« (Beweismittel), einem Begriff des englischen Prozessrechts. Die klinische Medizin kommt als humane HandlungswissenIain Chalmers: »What do I want from health research and researchers when I am a patient?«, British Medical Journal 310 (1995), S. 1315–1318, hier S. 1317. 54 Vgl. Paul Martini: Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung, Berlin 1932; ders.: Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung, Berlin 21947. 53
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schaft im wissenschaftlichen Programm der EbM sozusagen zu sich selbst. Sie wird für sich wissenschaftlich genuin nicht dadurch, dass sie sich auf die Ergebnisse der externen Grundlagenforschung berufen kann, sondern dadurch, dass sie sich immer wieder mit dem Mittel problemangemessen »geschnittener« wissenschaftlicher Studien skeptisch-kritisch ihrer eigenen Wirksamkeit, ihres Nutzens und ihrer Belastungen und Risiken versichert. Bevor man Handlungen Klinikern und Kranken empfiehlt oder ihnen als Patient zustimmt, sollte man (grundsätzlich unter Unsicherheit) abschätzen können, ob sie das vereinbarte Ziel und, wenn ja, unter welchen Nutzenchancen, Belastungen und Schadenrisiken sie es generell zu erreichen vermögen. Und dies setzt kontrolliertes Erprobungshandeln zeitlich, sachlich und logisch voraus. Dessen Ergebnisse gelten als besonders verlässlich, wenn das neue Wissen im Rahmen einer »interventionellen« – im Gegensatz zu einer beobachtenden – Studie gewonnen wurde. Handeln ist handelnd auf die Probe zu stellen (so wie die Probe des Puddings das Essen ist). In einer solchen Studie realisiert sich eine empiristische und probabilistische Beweisführung, der es nach der Wirksamkeit einer Intervention v. a. um deren Zusatznutzen im Vergleich zu Methoden gleicher Zielsetzung geht. Der Beweis gilt am ehesten dann als erbracht, wenn die Studie eine entsprechende Kontrollbedingung und -gruppe mitführt, mit deren Hilfe abgeschätzt werden kann, »was ist, wenn nicht …« (wenn also ein Kontrafaktum nicht nur gedacht, sondern parallel realisiert wird) und der beobachtete Outcomes-Unterschied sowohl statistisch wie klinisch »signifikant« bzw. relevant ist. Als Goldstandard für eine solche Beweisführung gilt heute das Design der kontrollierten randomisierten Studie mit Verblindung der wesentlich Beteiligten (RCT). Entgegen landläufiger Meinung bildet ein RCT nicht nur »Korrelationen« ab, sondern sichert Ursache-Wirkungszusammenhänge. 55 Mit RCTs lässt sich wenigstens hoch wahrscheinlich machen, dass sich bestimmte beobachtete Veränderungen klinischer Zustände (z. B. Schmerzreduktion) kausal auf experimentell eingeführte Ursachen (z. B. zentral wirksames Schmerzmittel) zurückführen lassen. Auch wird hier vorhandenes Wissen nicht nur bestätigt (eine zweite verbreitete Fehlwahrnehmung), sondern neues Wissen Vgl. Nancy Cartwright/Jeremy Hardy: Evidence-Based Policy. A Practical Guide to Doing It Better, Oxford 2012, S. 122 ff.
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hypothesentestend (»konfirmatorisch«) gewonnen. RCTs sind dagegen eine schwaches Beweismittel für die Richtigkeit pathophysiologischer Hypothesen, Erklärungen und Prognosen. Die sich aus ihnen ergebenden Ergebnistabellen sind in der Regel für konkurrierende Erklärungsansätze offen. 56
4.2. Die verwissenschaftlichte Klinik Parallel nimmt die Klinik, wie gesagt, fortwährend biomedizinisches Wissen und biomedizinische Praktiken und Techniken auf, die ihr von außen, v. a. aus dem Bereich der Grundlagenforschung, zugetragen werden. Man kann in diesem Sinn von einer biologisch und technologisch »verwissenschaftlichten« klinischen Praxis sprechen. Diese Beiträge sind heute der wesentliche Motor des medizinischen Fortschritts. Die Bedeutung biomedizinischer Modelle reicht jedoch weit in die klinische Arbeit hinein. Für die Lösung eines klinischen Falls ist nicht nur die Evidenzlage zur Diagnostik und Therapie wichtig. Generell unverzichtbar ist ein Rückgriff auf die als gesichert geltenden Erkenntnisse der Pathomechanismus-Forschung. Sie ermöglichen einen biomedizinisch-analytischen Zugang zum Patientenproblem. Er ist unverzichtbar, wenn z. B. unklare biochemisch-immunologische Befundkonstellationen vorliegen, zu deren Aufklärung und Bewertung eine pathophysiologische Arbeitshypothese entwickelt werden muss. Vergleichbares gilt für die orthopädische oder neurologische Lokalisationsdiagnostik. Wenn diese oder jene Funktion beeinträchtigt ist, dann sollte diese oder jene Läsion nach dem hypothetisch-deduktiven Verfahren nachweisbar sein. Auch für die aus einzelnen RCTs ableitbare »effectiveness prediction« 57 braucht es theoretische, oft zusätzlich psychologische und soziologische Überlegungen zum Wirkmechanismus und zu förderlichen und hinderlichen Faktoren: Ist die geprüfte Methode nicht nur im RCT, sondern auch hier und heute, unter veränderten Rahmen-
Vgl. Heiner Raspe: »Von der Erfahrung zur Evidenz«, Gesundheitsrecht 11 (2012), S. 584–591. 57 Nancy Cartwright/Eileen Munroe: »The limitations of randomized controlled trials in predicting effectiveness«, Journal of Evaluation in Clinical Practice 16 (2010), S. 260–266, hier S. 261. 56
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bedingungen wirksam? Denn diese (und weitere) Faktoren liegen oft in anderer Ausprägung und Kombination vor als dort, wo die Orginalstudie(n) durchgeführt wurde(n). Nur die Klinik wird sich wissenschaftlich nennen können, die beide Wissensströme zusammenführt. Im besten Fall arbeiten sie Hand in Hand, so dass grundlagenwissenschaftlich abgeleitete Methoden klinisch überprüft werden und klinische Prüfungen zu neuen Problemen für die Grundlagenforschung führen.
5.
»Kleine« epistemische Praktiken in der klinischen Medizin
Will man der klinischen Medizin den Status einer Handlungswissenschaft zuschreiben, dann reicht es nach meiner Auffassung nicht, klinische Empfehlungen theoretisch und im Sinne der EbM (kausal und final) sowie normativ zu begründen. Denn bei Licht betrachtet wird die Klinik durch theoretische Modelle wie durch Konzept, Methoden und Techniken der EbM ja »nur« dadurch »more scientific«, dass ihr eine Rüstkammer zur Verfügung gestellt wird, die im besten Fall allein »Theorie- und/oder Evidenzbasiertes« enthält, das sich – wissenschaftlich kontrolliert – als grundlagenwissenschaftlich plausibel und generell wirksam erwiesen hat. Auch wenn uns heute Evidenzbasierung unverzichtbar geworden ist und durch Sozialrecht und Sozialrechtsprechung eingefordert wird: Innerhalb einer Handlungswissenschaft sollten darüber hinaus auch typische Handlungsschritte der Fachleute »wissenschaftlich« genannt werden können. Dies führt zu der Frage, ob sich epistemische Praktiken (und Tugenden) identifizieren lassen, die in klinisches Handeln sozusagen eingeschmolzen sind und die die Vergabe des Wissenschafts-Prädikats rechtfertigen. Dabei ist fallbezogenes Handeln von Aktivitäten zu unterscheiden, die das kollektive Wissen der Profession korrigieren, stabilisieren oder erweitern können. Um sie von den oben behandelten ex ante geplanten »großen« Studienunternehmen (RCTs etc.) zu unterscheiden, spreche ich hier von »kleinen« Praktiken.
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5.1. Fallbezogenes wissenschaftliches Handeln der Kliniker Schon bei Bock findet sich die Bemerkung: »Das theoriegeleitete ärztliche Handeln stützt sich nicht nur auf Wissenschaften, sondern enthält selbst Elemente, die eindeutig die Merkmale einer ›wissenschaftlichen Tätigkeit‹ aufweisen, z. B. die Diagnosefindung.« 58 Diesen Gedanken will ich systematisch anhand einer realistischen (aber erfundenen) Kasuistik verfolgen. Ein ähnliches Vorgehen hatte Hahn 2012/2013 in einer »Überarbeitung und erweiterte(n) Neufassung des Methodenteils« seiner Ärztlichen Propädeutik und (im Untertitel) Einführung in die anthropologische Medizin gewählt. 59 Anhand einer Kasuistik unterschied er vier Phasen in der und Zugänge zu der klinischen Situation: phänomenologisch (»Ich beobachte und interessiere mich«), hermeneutisch (»Ich versuche zu verstehen«), dialektisch (»Ich verhalte mich kritisch«) und empirischanalytisch (»Ich komme zu einer Handlung«). Alles dies wird von ihm unter der Überschrift »Der wissenschaftliche Zugang« verhandelt – was impliziert, dass schon die fallbezogene Reflexion über die jeweils angemessene Ebene des Umgangs »wissenschaftlich« zu nennen sei. Man stelle sich eine vielleicht 40-jährige Frau vor, die – von ihrem Hausarzt angemeldet 60 – eine Rheumatologin konsultiert. Auf die Frage »Warum kommen Sie?« legt sie ihre Hände auf den Tisch und fragt die Ärztin verzweifelt und mutlos: »Sehen Sie! Die Schwellungen! Was ist das? Was hab’ ich? Es geht schon acht Wochen! Mir fällt so viel aus der Hand; auch mit der Arbeit am PC geht es kaum noch. Was soll nur daraus werden? Bisher hat nichts richtig geholfen.« Manifestiert sich die (hier vorliegende) rheumatoide Arthritis (RA) in typischer Weise, dann erlaubt sie eine Blickdiagnose, und der diagnostische Weg ist kurz; in anderen Fällen ist er länger und Klaus Dietrich Bock: Wissenschaftliche und alternative Medizin, Berlin 1993, S. 16. 59 Vgl. Peter Hahn: Ärztliche Propädeutik. Gespräch, Anamnese, Interview. Einführung in die anthropologische Medizin: wissenschaftstheoretische und praktische Grundlagen, Berlin 1988, S. 144; vgl. ders.: »Braucht die praktische Medizin wissenschaftstheoretische Grundlagen?«, in: Helmut A. Zappe/Hansjokob Mattern (Hg.), Das Philosophische und die praktische Medizin, Berlin 1990, S. 14–22. 60 Damit hat dieser schon eine Indikation gestellt, nämlich diejenige zur Überweisung an die Spezialistin. 58
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unsicherer: Aus der Arbeitsdiagnose RA wird theoriebasiert abgeleitet, dass bestimmte empirisch testbare Kriterien positiv nachweisbar sein müssten (widersprechende dagegen nicht), um die Hypothese zu stützen: Anamnesedauer über sechs Wochen, weiche symmetrische Schwellungen kleiner Gelenke vorzugsweise im Bereich der Hände, typische Laborbefunde, typische Veränderungen in einem bildgebenden Verfahren. Im Hintergrund stehen die aktuellen nosologischen Vorstellungen, Klassifikationskriterien und nosographischen Standards zur RA, also ein umfänglicher Bestand an typologischem, propositionalem und normativem Wissen. Würde die Patientin die Frage »Was hab’ ich?« vertiefen wollen, würde die Rheumatologin in laienverständlicher Form erklären müssen, welche Krankheitsprozesse »hinter« den Gelenkschwellungen etc. stecken. Nebenbei wird hier ein weiterer wissenschaftlicher Bereich der Klinik sichtbar: die Lehr-, Aufklärungs-, Informations- bzw. Schulungsleistungen in situations- und adressatenangemessener Form und nach dem Stand der aktuell anerkannten Erkenntnisse. Parallel dazu ist mit einer ganz anderen Methodik auf dem Boden einer Epistemologie des Verstehens und der Interpretation unter anderem zu klären, wie tief die sich der Ärztin aufdrängende Verzweiflung und Mutlosigkeit reichen und was sie befördert. Ist die Wahrnehmung überhaupt richtig gewesen? Auch »interne Evidenzen« 61 bedürfen der Validierung. Welche Vorstellungen hat die Patientin über die Natur, Ursachen, Gefährlichkeit, Prognose, Behandelbarkeit ihrer Erkrankung? Welche Erfahrungen hat sie, haben ihr Nahestehende mit der bisherigen und eventuell im Raum stehenden Therapie (Cortison!?) gemacht? Welche Anliegen, Hoffnungen, Ziele bringt die Patientin mit, vor welchem Hintergrund der »patients’ values and preferences« 62? Hierunter verstehe ich (am Ende validierte) Informationen, die allein in der klinischen Situation gewonnen werden können. Hierzu gehören alle Ergebnisse der Anamnese, der klinischen Untersuchung und weiterer direkter Kontakte von Kliniker und Patient. 62 Der Begriff »Präferenz« ist anfällig für Missverständnisse. Man sollte sich in der klinischen Medizin vor seinem Gebrauch in der Ökonomie hüten. Dort geht man von klaren Alternativen aus, die von Kunden auf der Basis bereits existierender »Präferenzen« kriterienbasiert ohne große Probleme entschieden werden können. Davon kann im vorliegenden Fall mit Sicherheit nicht die Rede sein. Es mag sein, dass ein langer Krankheits- und Behandlungsverlauf zu stabilen Präferenzen führt. Angesichts offener Krankheitsverläufe, rascher therapeutischer Fortschritte und wechsel61
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Dies sind wichtige Themen einer erweiterten Anamnese auf der Basis einer ausgearbeiteten Anamnestik, einer mäeutischen Kunstlehre des zweckrationalen Hörens, Fragens, Hypothesen-Generierens, Ans-Licht-Bringens, Prüfens. Aus Sicht der patientenzentrierten Medizin wichtig sind auch Fragen zu den konkreten Lebensumständen der Patientin in Familie, Freundeskreis, Wohnumfeld und Beruf. 63 Auch sie erschließen sich zuerst nur einem verstehend-interpretierenden Zugang. Und dieser Zugang beginnt in aller Regel mit Geschichten, Erzählungen seitens des Subjekts Patient. Patients don’t come into the office with an index card listing the three symptoms that clinch the diagnosis. They come in with nonlinear narratives, personal stories that need to be placed into context, organized, and questioned for additional background and clinical details. […] [T]he application of all that necessary [biomedical and evidence] information starts in the context of a story […]. [An] interpretative act is the art that makes the science possible […]. 64
In aller Kürze: Der Mensch ist ein »Story-telling animal« 65 und »The practice of medicine is an interpretive activity.« 66 Nimmt man die Anamnese als einen frühen, beziehungsstiftenden, das Anliegen des Patienten klärenden, medizinische Arbeitshypothesen generierenden und narrativ erheblich »kontaminierten« klinischen Handlungsschritt, dann ist sie auch eine strukturierte und methodisch geführte wissenschaftliche Tätigkeit. Sie unterliegt wie andere auf Verstehen und Interpretation ausgerichtete professionelle hafter Lebenslagen ist unsicher, ob dies zutrifft und wenn ja, ob es für die Patienten hilfreich wäre. 63 Vgl. Saul J. Weiner/Alan Schwartz/Frances Weaver et al.: »Contextual Errors and Failures in Individualizing Patient Care: A Multicenter Study«, Annals of Internal Medicine 153 (2010), S. 69–75; Monika M. Safford/Jeroan J. Allison/Catarina I. Kiefe: »Patient Complexity: More Than Comorbidity. The Vector Model of Complexity«, Journal of General Medicine 22 (2007) (suppl. 3), S. 382–390; Amy E. BinnsCalvey/Alex M. Malhiot/Carol T. Kostovich et al.: »Validating Domains of Patient Contextual Factors Essential to Preventing Contextual Errors: A Qualitative Study Conducted at Chicago Area Veterans Health Administration Sites«, Academic Medicine 92/9 (2017), S. 1287–1293. 64 Joseph J. Fins: »What’s wrong with evidence-based medicine?«, Hastings Center Report 46 (2016), inside back cover. 65 Graham Swift: Waterland, London 2015, S. 65. 66 Vgl. Kathryn M. Hunter: Doctors’ Stories. The Narrative Structure of Medical Knowledge, Princeton 1991; dies ist hier enger verstanden als bei Horten 1998, der die klinische Medizin insgesamt als interpretatives Unternehmen sieht.
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Die klinische Humanmedizin ist eine Handlungswissenschaft eigenen Rechts
Arbeiten »den allgemeinen Standards von Wissenschaftlichkeit, insbesondere den Forderungen nach intersubjektiver Verständlichkeit und Überprüfbarkeit, rationaler Argumentation und der Anwendung wissenschaftlicher Methoden« 67. Auch im Bereich der Diagnostik gibt es Praktiken, die m. E. die Bezeichnung »wissenschaftlich« verdienen. Vermutlich hat sich ihrer der Hausarzt der Patientin schon bedient. Immerhin hat er acht Wochen mit der Facharztüberweisung gewartet. Dennoch: Nach anfänglich »abwartendem Offenlassen« unter Einnahme einfacher Antirheumatika verstärkte sich auch durch die wirksame (aber nebenwirkungsträchtige) Cortisonbehandlung »ex iuvantibus« der Verdacht auf eine ernsthaftere entzündlich-rheumatische Erkrankung. Damit wird die Diagnose, die die bio-psycho-soziale Gesamtsituation der Kranken zusammenfasst, das Ergebnis einer »inference to the best explanation« 68. Dass sich die Indikation zu einer spezifischen Therapie auf Evidenz stützen sollte, versteht sich von selbst. Der erste Therapievorschlag der Rheumatologin dürfte heute auf Methotrexat (MTX) zielen. Damit beginnt ein neues therapeutisches Experiment. Führte es zur Vollremission, könnte man nach längerer Zeit über ein schrittweises Absetzen nachdenken und in einen »kontrollierten Auslassversuch« einsteigen. Ein naher Verwandter solcher klinisch-experimentellen Taktiken aus dem Bereich der wissenschaftlichen Studiendesigns ist die N=1Studie. In ihr wechseln sich in zufälliger Reihenfolge fixe Zeitabschnitte unter Placebo oder Verum im Behandlungsverlauf eines einzelnen Falles ab. Hier zeigt sich die enge Verwandtschaft zweier epistemischer Praktiken, die fälschlicherweise zwei angeblich divergierenden Bereichen, einem der Praxis (individueller Auslassversuch) und einem der Wissenschaft (N=1-Studie, kontrollierter AuslassRCT 69), zugeordnet werden. Die Hypothese liegt nahe, dass viele
Oliver R. Scholz: »Texte interpretieren. Daten, Hypothesen und Methoden«, in: Jan Borkowski/Stefan Descher/Felicitas Ferder et al. (Hg.), Literatur interpretieren. Interdisziplinäre Beiträge zu Theorie und Praxis, Münster 2015, S. 147–171, hier S. 147. 68 Gilbert H. Harman: »The inference to the best explanation«, Philosophical Review 74 (1965), S. 88–95. 69 Katerina Chatzidionysiou/Carl Turreson/Annika Teleman et al.: »A multicentre, randomised, controlled, open-label pilot study on the feasibility of discontinuation of 67
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Heiner Raspe
heute wohldefinierte Studienansätze als Erweiterung älterer klinischer Praktiken verstanden werden können. Gelegentlich ist es notwendig, sich gezielt auf einen Fall vorzubereiten; viel öfter aber unvermeidlich, ihm nachzulesen. Dies erfordert nicht nur biomedizinisches Wissen, sondern auch die Fertigkeit, einschlägige Literatur zu suchen, zu finden, auszuwählen, zu beurteilen und für die eigene Praxis auszuwerten. Hierzu sind Kompetenzen aus dem Bereich klinische Epidemiologie und Statistik unverzichtbar. Daneben ist m. E. ein eigener Zugang zur anthropologischen und psychosomatischen Literatur unerlässlich. Die entsprechenden Kompetenzen werden aktuell unter dem Begriff »Scientific Literacy« diskutiert. Es werden drei Anforderungen unterschieden: »explain phenomena scientifically«, »evaluate and design scientific enquiry« und »interpret data and evidence scientifically«. 70 Schließlich sind Ärzte gehalten, fallbezogene wissenschaftliche Gutachten für diverse Auftraggeber, u. a. Sozialversicherungen und Gerichte, zu erarbeiten. Weniger anspruchsvoll und aufwendig ist die Abfassung von Epikrisen und Arztbriefen; dennoch halte ich es für vertretbar, auch sie, wenn sie mehr sind als unleserliche »Kurzarztbriefe«, als praktisch intendierte wissenschaftlich erarbeitete Dokumente anzusehen. Ist der »begründete Entschluss zu einer bestimmten [diagnostischen, prognostischen, kurativen etc. – H. R.] Handlung« (Anschütz 71) seitens des Arztes gefasst und hat der Patient zugestimmt, dann verschmelzen im konkreten Behandeln handfeste Interventionen mit den skizzierten epistemischen Praktiken. Sie prüfen die Akzeptanz und Zweckmäßigkeit der Entscheidung, legen ggf. ihre Änderung nahe, bereiten weitere vor und erläutern, begründen und rechtfertigen sie ex ante und ex post.
adalimumab in established patients with rheumatoid arthritis in stable clinical remission«, RMD open 2 (2016), e000133. 70 OECD: Pisa 2015. Draft Science Framework 2013, hhttps://www.oecd.org/pisa/ pisaproducts/Draft%20PISA%202015%20Science%20Framework%20.pdfi (letzter Zugriff 17. 9. 2017); vgl. Catherine E. Snow/Kenne A. Dibner (Hg.): Science Literacy. Concepts, Contexts, and Consequences, Washington 2016. 71 Anschütz: Indikation zum ärztlichen Handeln. Lehre, Diagnostik, Therapie, Ethik, S. 6.
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Die klinische Humanmedizin ist eine Handlungswissenschaft eigenen Rechts
5.2. Klinisches Handeln schafft generelles Wissen Folgt man Zutt (1953), dann ist »der kranke Mensch nicht nur der in gesundheitlicher Gefährdung sachverständigen Rat Suchende […], sondern gleichzeitig Forschungsobjekt, ›Fall‹, und der Arzt nicht nur durch das Leiden und die Gefährdung des Kranken aufgerufener Helfer, sondern gleichzeitig medizinischer Forscher«; er kann sich in ein »wertvolles ›Experiment der Natur‹« vertiefen und/oder in einen individuellen Heilversuch. 72 Ein solcher muss nach Hart heute in allen Phasen zwischen initialer Planung und endlicher Veröffentlichung wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. 73 Man kann die Reihe von Tätigkeiten, die das kollektive Wissen der Klinik erweitern, schon mit der standardisierten Meldung einer Nebenwirkung (z. B. an die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft) und der Beteiligung an einem nationalen Behandlungsfallregister beginnen lassen. Man kann die nächste Stufe in der Ausarbeitung und Veröffentlichung einer Kasuistik sehen. Dann wäre die Sammlung, Dokumentation, Auswertung und Veröffentlichung einer Fallserie zu nennen. Hier kann, je nach Umfang, erstmalig eine personenübergreifende Aggregation von Daten und Urteilen erfolgen (eine Erfindung wohl erst des 18. und frühen 19. Jahrhunderts). Soll es bei solchen einarmigen Beobachtungsstudien um den genannten Wirksamkeitsnachweis gehen, wird man wenigstens ausreichend lange Vor- und Nachbeobachtungsperioden vorsehen oder eine zweite Fallserie zum Vergleich unter der Fragestellung »was wäre, wenn nicht … ?« heranziehen müssen. Überzeugender sind, wie gesagt, selbst initiierte monozentrische RCTs (dazu siehe oben), denen als »große« Studien auf einer nächsten Stufe die multizentrischen, oft auch multinationalen Prüfungen folgen würden.
Jürg Zutt: »Der Arzt und der Kranke, der Mediziner und der Fall«, in: ders. (Hg.), Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1963, S. 512–521, hier S. 445. 73 Vgl. Dieter Hart: »Heilversuch und klinische Prüfung. Kongruenz und Differenz«, Medizinrecht 33 (2015), S. 766–775. 72
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Heiner Raspe
6.
Zum Abschluss
Geht man von der klinischen Praxis und der mit ihr sich unvermeidlich aufdrängenden naiven Erfahrung aus, dann kann ein Kliniker diese nahezu schwellenlos in Richtung evaluativer Reflexion bis systematischer klinischer Forschung erweitern und validieren. Er bliebe dabei den Aufgaben, Zielen, Praktiken der Klinik enger verbunden, als wenn er aus ihr heraus grundlagenwissenschaftliche Forschung betriebe. Geht man auf der anderen Seite von einer kontrollierten evaluativen Studie aus, dann ist ein an ihr teilnehmender Arzt so gut wie immer gleichzeitig auch Behandler in unmittelbarem Kontakt und unmittelbarer Verantwortung für einzelne Patienten. Damit halte ich es für falsch, eine scharfe Trennung zwischen dem Arzt als Kliniker und dem Arzt als Wissenschaftler vorzunehmen. Das kanadische Physician Competency Framework nennt sieben Rollen, die jeder Arzt erlernen und beherrschen soll. Eine ist die Rolle des »scholar«: »As scholars, physicians demonstrate a lifelong commitment to excellence in practice through continuous learning and by teaching others, evaluating evidence, and contributing to scholarhip.« 74 Das annähernd schwellenlose Ineinandergreifen von klinischpraktischem und wissenschaftlichem Handeln ist m. E. ein starkes Argument zugunsten einer von der Idee der handlungswissenschaftlichen Klinik getragenen Einheit von klinischer Praxis und klinischer Forschung (und klinischer Lehre/Edukation). In diesem Sinne hat eine »AG Zukunft der Onkologie« in einem Positionspapier im Februar 2017 die Notwendigkeit einer »forschungsbasierten und gleichzeitig ›Wissen generierenden‹ Versorgung« 75 betont. Dies stützt den herausgearbeiteten epistemologischen Befund: Die Klinik der »Schulmedizin« kann als Handlungssystem weder auf die ständige Verwissenschaftlichung von extern (»forschungsbasiert«) noch auf die ständige wissenschaftliche Selbstkontrolle von intern (»Wissen generierend«) verzichten. Für die erstgenannte Not-
Jason R. Frank/Linda Snell/Jonathan Shapiro (Hg.): CandMEDS 2015 Physician Competency Framework, Ottawa 2015, S. 13. 75 Das Positionspapier zur »Wissen generierenden onkologischen Versorgung« ist über die Webseite der Deutschen Krebsgesellschaft erreichbar: hhttps://www. krebsgesellschaft.de/positionen.htmli (letzter Zugriff 17. 9. 2017) 74
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Die klinische Humanmedizin ist eine Handlungswissenschaft eigenen Rechts
wendigkeit steht die Grundlagenforschung, für die zweite besonders die »Evidenzbasierung«. Die Nutzung und Weiterentwicklung der einen wie der anderen Forschungskultur 76 ist in ein umfangreiches und heterogenes medizinisches Wissenskorpus eingebettet; sie würden ins Leere laufen, könnten sie sich nicht darauf verlassen, in den Klinikern Personen zu finden, die das Wissen nutzend im klinischen Handeln gleichzeitig eine Vielzahl epistemischer Praktiken (und Tugenden) realisieren.
Vgl. Jan P. Vandenbroucke: »Observational research, randomised trials, and two views of medical science«, PLOS Medicine 5 (2008), S. 339–343.
76
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Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit Jörg Frommer
Abstract: Ausgehend von Eugen Bleulers Schrift über das autistischundisziplinierte Denken in der Medizin geht der Aufsatz der Frage nach, welche rationalen und welche irrationalen Bestimmungsgründe ärztlicher Praxis zugrunde liegen. Dabei wird das Spannungsverhältnis zwischen erkenntnisorientiertem medizinischem Denken und handlungsorientierter klinischer Praxis ausgelotet. Es wird dargelegt, dass der in den Postulaten ärztlicher Ethik verankerte hohe normative Druck, unter dem diese Praxis steht, in Verbindung mit einer weitgehend fehlenden kritischen Praxeologie fachspezifischen professionellen Handelns regelmäßig dazu führt, dass in Rechtfertigungssituationen zwar Erläuterungen zur Diagnostik und Therapiemethode im Sinne technischer Prozeduren gegeben werden und Begründungen zu den mit wissenschaftlichen Methoden gewonnenen Erkenntnissen, die den Erfolg des gewählten Vorgehens plausibilisieren, verfügbar sind, dass zugleich jedoch dieses Handeln unterbestimmt bleibt, weil die meist nur implizit wirkenden Regeln, die die professionelle Fallarbeit des Arztes steuern, unthematisiert bleiben. Abschließend wird gezeigt, dass die Bewusstmachung und Explikation dieser Regeln unverzichtbar ist für die Herstellung eines partizipativen Arzt-Patient-Verhältnisses.
1.
Einleitung
Als mich im Juli 2016 die Einladung von Daniela Ringkamp und Héctor Wittwer zu der für Februar 2017 geplanten Tagung »Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen« erreichte – wie ich sah, als einzigen Referenten der Magdeburger Medizinischen Fakultät –, fühlte ich mich geehrt, aber auch nicht gering befangen: Die Befangenheit ähnelte dem Gefühl, das eintritt, wenn man einer Person wieder begegnet, mit der man sich vor langen Jahren sehr verbunden und in intensivem Austausch befand, bevor 196 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit
eine Zeit kam, in der man sich aus den Augen verlor – nicht ohne Bedauern und dem sich immer wieder meldenden inneren Wunsch nach erneuter Begegnung 1. Dass die Tagungsveranstalter und ich uns bis dahin noch gar nicht kannten, lässt den Schluss zu, dass dieses Gefühl sich nicht auf die einladenden Personen, sondern auf die Thematik bezog: Bei dieser geht es nämlich um nicht weniger und nicht mehr als um die zentrale Frage nach der Identität des Mediziners, die nicht denkbar ist ohne die Frage nach der Identität des Arztes. Meine Zusage verband sich mit dem Vorhaben, mich intensiver mit einer Schrift zu beschäftigen, deren Existenz mir seit Jahrzehnten bekannt war, die ich aber bisher nie mehr als oberflächlich zur Kenntnis genommen hatte. Mit großer Überraschung nahm ich dann im Vorwort der mir vorliegenden fünften, posthum erschienenen Auflage aus der Feder des Sohnes des Autors die Koinzidenz zur Kenntnis, dass dieser das Werk im Alter von 62 Jahren verfasst habe, rückblickend auf eine 21-jährige Tätigkeit als Lehrstuhlinhaber in der Medizin. Ich erwähne das deshalb, weil ich selbst 1996, also zum Zeitpunkt der Tagung 21 Jahre zuvor, als Gründer des Faches in Magdeburg auf die psychosomatische Professur berufen wurde, und im Frühjahr 2017 zudem vor der Vollendung meines 62. Lebensjahres stand.
2.
Eugen Bleuler und das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin
Die gemeinte Schrift ist 1919 unter dem Titel Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung erstmals Während meines Medizinstudiums in Heidelberg nahm ich ab Ende der 1970er Jahre die Gelegenheit wahr zu einem Studium Generale mit Schwerpunkten in Philosophie und Soziologie. In Verbindung mit meinem Interesse an psychopathologischen Fragen fand dies zunächst seinen Niederschlag in: Jörg Frommer: Schizophrene Inkohärenz als Verständigungsproblem. Vergleichende patholinguistische Studien zum Sprachverhalten Schizophrener, Frankfurt a. M. 1993. Unter dem Einfluss meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker folgte: Jörg Frommer: Qualitative Diagnostikforschung. Inhaltsanalytische Untersuchungen zum psychotherapeutischen Erstgespräch, Berlin/Heidelberg/New York u. a. 1996; siehe auch retrospektiv zu dieser Entwicklung: Jörg Frommer: »Phänomenologische Psychopathologie, Psychoanalyse und empirische Evidenz – Ein Syntheseversuch mit autoethnographischen Bezügen«, in: Gerhard Dammann (Hg.), Phänomenologie und psychotherapeutische Psychiatrie, Stuttgart 2015, S. 36–50.
1
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Jörg Frommer
erschienen. Unmittelbar leuchtet ein: Ein solches Buch veröffentlicht kein akademischer Anfänger, der den Medizinbetrieb idealisiert und dessen zukünftige Karriere vom Wohlwollen seiner Lehrer und Kollegen abhängig ist. Eher kündigt sich eine erfahrungsgesättigte späte Zwischenbilanz oder frühe Gesamtbilanz eines Berufslebens an, in dem Erfüllung und Enttäuschung um Balance ringen. Ihr Autor ist der Züricher Psychiater Eugen Bleuler. »Was immer er mit seinem kryptischen Titel gemeint haben mag, liegt lange zurück« – könnte man sagen – »und heute, im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin, stehen die Verhältnisse doch anders.« Und tatsächlich: In meiner Tätigkeit heute musste und muss ich nicht mehr – wie dereinst Bleuler senior – das Dorf vor den Toren der Klinik medizinisch mitversorgen, zusätzlich zu meiner Behandlung psychischer Störungen an Operations-Vormittagen zum Skalpell greifen und die Kranken regelmäßig an die frische Luft bringen, damit sie nicht an der Rachitis zugrunde gehen. 2 Diese Zeiten waren schon vorbei, als ich den Beruf des Arztes ergriff. Und doch hat sich der lange gehegte Wunsch nach intensiver Lektüre des Werkes gelohnt. Bleuler denkt nicht kurz. In seinem eigenen Vorwort zur zweiten Auflage antwortet er auf seine erbosten Kritiker, die ihm eine pauschale Verunglimpfung der Ärzteschaft vorwerfen, mit der Unterscheidung von wissenschaftlichem medizinischem Denken im Sinne der Naturwissenschaften einerseits und der das Handeln des Arztes lenkenden ärztlichen Kunst andererseits und schreibt bezüglich Letzterer: »Wenn man aber aus diesem Kunstbegriff ableiten will, dass das ärztliche Handeln sich weitgehend der logischen Nachprüfung entziehe, dann möchte ich energisch protestieren.« 3 Bleulers Protest schließe ich mich heute mehr an denn je. Der Grund hierfür liegt nach meiner Erfahrung darin, dass alle Bemühungen um eine wissenschaftlich begründete allgemeine und spezielle Lehre ärztlichen Handelns die klinische Medizin nicht nur in der Arztpraxis und im Krankenhaus, sondern auch in ihrer akademischen Repräsentanz an den Universitäten wenig erreicht haben. Diese These soll nicht falsch verstanden werden: Die vielfältigen Versuche um
2 Vgl. Manfred Bleuler: »Vorwort zur Neuausgabe von 1962«, in: Eugen Bleuler, Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, Berlin/ Heidelberg/New York 51962 (erstmals erschienen 1919), S. III–VIII, hier S. V. 3 Eugen Bleuler: »Vorwort zur zweiten Auflage«, in: ders., Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, S. IX.
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Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit
eine derartige theoretische Fundierung habe ich durchaus registriert, musste dabei aber auch feststellen, dass in diesem Feld nicht nur für Viktor von Weizsäckers »Pathosophie« 4 das Bonmot gilt, das man dem sterbenden Georg Wilhelm Friedrich Hegel gerne mit den Worten in den Mund legt, von seinen Schülern habe ihn nur einer verstanden und der habe ihn missverstanden. 5 Zu einer gewissen Enttäuschung über die Klinikferne und schwere Verständlichkeit mancher Ansätze gesellte sich bei mir dann noch die durch meine Ausbildung zum Psychoanalytiker geschürte Skepsis gegenüber allzu hohem Theoretisieren angesichts des offensichtlichen unreflektierten Mitwirkens unbewusster Wünsche, Interessen und Motive im Alltag ärztlicher Praxis. Eine ähnliche Skepsis bewegte wohl auch Bleuler, der über Carl Gustav Jung mit Sigmund Freud in Verbindung gekommen war, bei seiner Analyse der Begründungsstrukturen ärztlichen Handelns, wenn er dieses Handeln beschreibt als Resultat eines Denkens, das keine Rücksicht nimmt auf die Grenzen der Erfahrung, und das auf eine Kontrolle der Resultate an der Wirklichkeit und eine logische Kritik verzichtet, d. h. analog und in gewissem Sinne geradezu identisch ist mit dem Denken im Traume und dem des autistischen Schizophrenen, der, sich um die Wirklichkeit möglichst wenig kümmernd, im Größenwahn seine Wünsche erfüllt und im Verfolgungswahn seine eigene Unfähigkeit in die Umgebung projiziert. 6
Bleulers pauschale Skepsis gegenüber einer wissenschaftlichen Begründung der Berufspraxis seiner Fachkollegen und meine Skepsis gegenüber der Abstraktheit mancher Medizintheorien im Spannungsfeld anthropologischer und systemtheoretischer Ansätze 7 steViktor von Weizsäcker: Pathosophie, Göttingen 1956. Das Bonmot geht wohl auf zurück auf Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Buch 3, Stuttgart 2006, S. 108: »Als Hegel auf dem Totbette lag, sagte er: ›nur Einer hat mich verstanden‹, aber gleich darauf fügte er verdrießlich hinzu: ›und der hat mich auch nicht verstanden‹.« 6 Bleuler: Das autistisch-undisziplinierte Denken, S. I. 7 Eine eingehende Übersicht und Diskussion der Medizintheorie würde den Rahmen der hier vorgetragenen Grundüberlegungen zu einem professionssoziologisch informierten handlungstheoretischen Ansatz sprengen. Hierzu sei nur angemerkt, dass sich mein Versuch von den anthropologischen und systemtheoretischen Ansätzen grundsätzlich dadurch unterscheidet, dass er sinnhaft orientiertes Handeln als privilegierte Fähigkeit bewusstseinsfähiger menschlicher Akteure betrachtet und insofern auf eine Einführung des Subjekts in die Biologie sensu Viktor von Weizsäcker – vgl. ders.: Der Gestaltkreis, Leipzig 1940 – ebenso verzichtet wie auf die Unterstellung von 4 5
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hen im Kontext der Tatsache, dass in der Medizin aufgrund des hohen ethischen Drucks, unter dem das ärztliche Handeln steht, ein starker Zwang zum normativen Denken zu verzeichnen ist: Wer sich mit dem Handlungsfeld Medizin beschäftigt, beschäftigt sich überwiegend damit, wie lege artis gehandelt werden soll. Wir kennen konsentierte und justiziabel abgesicherte Verordnungen, Vorschriften und Leitlinien zuhauf, aber wir beschäftigen uns ungern mit Fragen tatsächlicher Prozessabläufe im klinischen Alltag. Wenn dann ab und zu das Auseinanderklaffen von Vorschriften und Handlungspraxis bei überlebensentscheidenden Fragen unübersehbar wird, wie beispielsweise unlängst in der Lebertransplantationschirurgie, 8 wird dies zwar wirkungsvoll öffentlich diskutiert, nachhaltige Reflexion entsteht dadurch jedoch eher selten.
3.
Die Unterbestimmtheit in der Begründung ärztlichen Handelns
Woran liegt dies? Wie kann es sein, das ein so renommierter, bedeutender und mit riesigem materiellem Aufwand alimentierter Bereich hoher gesamtgesellschaftlicher Relevanz wie die Medizin sich hinsichtlich der Grundlagen seiner Handlungslehre dermaßen unterreflektiert präsentiert? Dieser Frage soll nun nachgegangen werden. Ausgehend von Bleulers Diagnose des autistischen Denkens in der Bedeutungserteilung und Bedeutungsverwertung als Merkmalen jedweden Lebens im Sinne der semiotisch-systemtheoretischen Überlegungen Thure von Uexkülls, vgl. ders./Wolfgang Wesiack: »Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales Modell«, in: Rolf H. Adler/Wolfgang Herzog/Peter Joraschky et al. (Hg.), Psychosomatische Medizin, München 2011, S. 3–40, hier S. 11. 8 Die rechtliche Aufarbeitung des Skandals um die Manipulation von priorisierungsrelevanten Daten potenzieller Spenderleberempfänger gegenüber der zentralen Verteilungsstelle Eurotransplant durch den Göttinger Arzt Aiman O. macht deutlich, wie weit faktische Handlungsabläufe und abstrakte Bewertungen in der klinischen Medizin auseinanderklaffen, und wie unsicher Letztere daher Maßstab für »richtiges« Handeln sein können: während die Staatsanwaltschaft Göttingen von einem Totschlagsdelikt ausging und den Chirurgen zeitweilig sogar in Untersuchungshaft nahm, sah das Göttinger Landgericht in seinem durch den Bundesgerichtshof bestätigten Urteil keine strafrechtlich relevante Tat (vgl. Christina Berndt/Wolfgang Janisch: »Ein Spiel mit dem Leben schwer kranker Menschen«, Süddeutsche Online 28. 6. 2017. hhttp://www.sueddeutsche.de/gesundheit/transplantationsskandal-einspiel-mit-dem-leben-schwer-kranker-menschen-1.3565730i (letzter Zugriff 21. 01. 2018)
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Medizin, das wir mit Piaget 9 auch als »egozentrisch« oder im Sinne psychoanalytischer Theorie 10 als »narzisstisch« bezeichnen könnten, möchte ich im Anschluss an die immer noch sehr lesenswerte Monographie von Wolfgang Wieland zum Begriff der Diagnose die These aufstellen, dass erstens medizinische Erkenntnis und ärztliches Handeln nicht demselben theoretischen Zugriff zugänglich sind, sondern zwei unterschiedliche Herangehensweisen erfordern, nämlich eine erkenntnistheoretische und eine handlungstheoretische; zweitens möchte ich Ihnen daran anschließend den Gedanken näher bringen, dass im klinischen Alltag häufig ein unverbundenes Nebeneinander existiert zwischen einer bewussten quasi offiziellen, normativ abgesicherten naturwissenschaftlichen Begründung ärztlichen Handelns einerseits und einer eher vorbewussten, unklaren, oft auch verschleierten und für den Nicht-Insider verborgenen Begründung ärztlichen Handelns im Sinne alter Schulenbindung, das nicht immer, aber doch auch nicht selten »autistische« Züge einer Argumentationsunzugänglichkeit trägt, auf der anderen Seite. Als unsichere Brücke zwischen diesen beiden Kontexten dient nicht selten die unklar-changierende Verwendung des Methodenbegriffs. Die heterogenen Stränge, die sich in diesem Methodenbegriff unreflektiert sammeln, sollen im Folgenden ausdifferenziert werden, verbunden mit einem Plädoyer für eine dem interpretativen Paradigma in der Sozialforschung verpflichtete Theorie der medizinischen Fallarbeit. Im Anschluss an Richard Koch und Alvan R. Feinstein arbeitet der Arzt und Philosoph Wieland in seiner erstmals 1975 erschienenen Arbeit zur ärztlichen Diagnostik 11 heraus, dass die wissenschaftliche Begründung der Medizin, wie sie insbesondere durch die naturwissenschaftliche Erkenntnis und metatheoretisch durch die Wissenschaftstheorie geleistet wird, bereits die ärztliche Diagnostik, aber viel mehr noch die ärztliche Therapeutik grundsätzlich unterbestimmt lässt. Mit meinen eigenen Worten formuliert, handelt es sich bei wissenschaftlichen Erkenntnissen um nicht mehr als Kontextinformationen, die das diagnostische und therapeutische Handeln einmal in dieser, einmal in jener Kombination, einmal mehr, ein andermal weniger aktualisiert, mitbestimmen, aber eben nicht erschöpVgl. Jean Piaget: Das Weltbild des Kindes, München 72003. Vgl. z. B. Heinz Kohut: Narzissmus, Frankfurt a. M. 1976. 11 Wolfgang Wieland: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin/New York 1975. 9
10
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fend bestimmen. Der Grund hierfür liegt darin, dass sich die Aufgaben des Arztes eben nicht in der zeitunabhängigen reinen Erkenntnis erschöpfen, sondern dass er durch die ärztliche Ethik dazu verpflichtet ist, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige, und d. h. das praktisch Bestmögliche, zu tun. Eine wesentliche Paradoxie in der beruflichen Identität des Faches liegt somit darin, dass der Arzt in erster Linie zu einem auf methodisch objektive, reliable und valide Erkenntnis fokussierten Wissenschaftler ausgebildet wird, aus diesem Studium dann aber in eine berufliche Alltagswelt entlassen wird, in der zu seinen ersten prägenden Erfahrungen zählt, dass sein wissenschaftliches Background-Wissen sich zum Teil an klinischen Routineabläufen bricht, die gegenüber diesem Wissen indifferent sind und ihm manchmal auch widersprechen. Aus diesem Inkongruenzverhältnis von wissenschaftlichem Grundlagenwissen und klinischer Praxis erwächst regelmäßig – und das nicht nur beim Anfänger – ein Rechtfertigungsdruck, der den klinischen Alltag begleitet. In diesem Sinne liegt der Zweck der klinischen Medizin Wieland zufolge »unmittelbar in einem bestimmten Handeln und nicht in einer Theorie dieses Handelns. […] Praktische Disziplinen von der Art der Medizin bedürfen nicht nur wissenschaftstheoretischer, sondern auch handlungstheoretischer Überlegungen, wenn es um die Erörterung ihrer Grundlagenprobleme geht.« 12 Eine auf die konkrete medizinische Alltagspraxis bezogene Theorie des wirklich stattfindenden diagnostischen und therapeutischen Handelns kann jedoch, so meine ich, durch normative Ansätze innerhalb der Medizintheorie nur unzureichend abgedeckt werden. Stehen dem Arzt nur naturwissenschaftliche Erkenntnisse einerseits und normative Handlungsvorschriften andererseits zur Verfügung, bleibt notwendigerweise eine grundsätzliche und daher identitätsrelevante Lücke in der Begründungsstruktur ärztlichen Handelns. Diese Lücke ergibt sich aus der in der soziologischen Verwendungsforschung 13 thematisierten Einsicht, dass die Implementierung von Vorschriften und anderen normativen Vorgaben im sozialen und gesellschaftlichen Leben stets eine Eigendynamik entfaltet, die für die normsetzenden Personen und Institutionen im Vorhinein unabsehEbd., S. 6. Vgl. Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hg.): Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftichen Wissens, Frankfurt a. M. 1994.
12 13
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Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit
bar ist und nicht nur zu unbeabsichtigten, sondern manchmal auch zu gegen die ursprünglichen Ziele gerichteten Folgen führt. Einer der wesentlichen Gründe hierfür ist, dass menschliches Handeln grundsätzlich nicht nur durch die bewusste Orientierung auf normative Vorgaben gesteuert wird, sondern auch durch unbewusste sowie vorbewusste affektive und irrationale und traditional verankerte Beweggründe. Wer also das Regelwerk eines bestimmten Handelns, zum Beispiel das einer Profession, durchdringen will, muss das häufig unausgesprochene und auch nicht immer bewusste tacit knowledge 14 der betreffenden Handlungsdomäne in Rechnung stellen und miterforschen. Dabei wird er dann beim ärztlichen Handeln – so meine These – auch heute noch auf jenes häufig durch den Rekurs auf tatsächliche oder vermeintliche Erkenntnisse getarnte oder sich einfach unbemerkt einschleichende »autistische Denken« stoßen, das die Medizinerwelt zu einer Art wunschgerechten abgekoppelten Sonderwelt mit eigenen Gesetzen stipuliert, die dem Nicht-Mediziner weder denklogisch noch erfahrungslogisch zugänglich bleibt. Besonders wirkt das maskierte autistische Denken nach meiner Erfahrung immer dann, wenn bei handlungspraktischen Problemen der soziale und ethische Rechtfertigungsdruck hoch und die wissenschaftliche Erkenntnisbasis dünn ist. Kommt noch Zeitdruck hinzu und kombinieren sich alle drei genannten Faktoren, wird am ehesten auf schulenimmanent gelerntes idealtypisch abgespeichertes Erfahrungswissen zurückgegriffen, das dann in seiner Anwendung auf den konkret vorliegenden Fall die größte Einlasspforte für das autistische Denken bietet. Die wenn auch unbewusste, so aber doch naheliegende Weise, mit dem sich das autistische Denken Zutritt zur Handlungssphäre verschafft, ist u. a. das Spiel mit dem Methodenbegriff in der Medizin und der aus diesem Spiel resultierenden Verwirrung. Was meine ich damit?
4.
Technische, naturwissenschaftliche und handlungstheoretische Methodik ärztlicher Fallarbeit
Im Gegensatz zum Alltagshandeln ist Handeln im professionellen Rahmen definiert durch methodisches Vorgehen. Bittet man einen Arzt um die Begründung einer diagnostischen oder therapeutischen 14
Vgl. Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985.
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Jörg Frommer
Maßnahme, so erläutert er in der Regel seine Methode, mit der er eine Krankheit diagnostizieren und therapieren möchte. Das Ziel erscheint selbstevident und die Erläuterung beschränkt sich weitgehend auf technische Aspekte der Vorgehensweise, beispielsweise wird die Abfolge der einzelnen Schritte eines chirurgischen Eingriffs dargelegt. Geht man theoretisch von der Dichotomie zwischen kausal erklärbarem Verhalten ohne impliziten Sinnbezug einerseits und intentional auf ein sinnhaftes Ziel ausgerichtetem Handeln andererseits aus, 15 so bezieht sich die technische »Begründung« des Vorgehens bei einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme häufig auf den ersteren Typus von Aktivität, also auf ein Verhalten. Das korrekte Vorgehen bei einem chirurgischen Eingriff kann man in diesem Sinne heute schon in Teilen einem Da Vinci-Roboter übertragen, der weder introspektive Selbstreflexion noch eine intentionale Zielorientierung für seinen Erfolg benötigt. Geht man nun einen Schritt weiter und hinterfragt gegenüber dem Arzt einzelne Schritte des geplanten Ablaufs der ärztlichen Maßnahme, so erfährt man gewöhnlich, durch welche wissenschaftlichen Erkenntnisse das Vorgehen gerechtfertigt erscheint. Auch hierzu ein Beispiel: Der Chirurg erläutert, dass zum geplanten Vorgehen eine perioperative Antibiose gehört. Auf Nachfrage gibt er zur Begründung an, mit welcher Wahrscheinlichkeit mit dem Eindringen gewisser Bakterien während der Operation zu rechnen ist und auf Grund welcher Studien mit welcher Sicherheit bei welcher Dosierung eine Vernichtung dieser Keime vorausgesagt werden kann. Wird weiter nachgefragt, so werden für möglichst viele Schritte des Vorgehens Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zitiert, die diese Maßnahmen stützen. Zusammengefasst erhält, wer den Arzt nach seiner Methode fragt, also in der Regel der Patient, zum einen Erläuterungen zur Diagnostik- und oder Therapiemethode im Sinne des technischen Vorgehens und zum anderen Erläuterungen zu mit wissenschaftlichen Methoden gewonnenen Erkenntnissen, die den Erfolg des gewählten Vorgehens plausibilisieren, direkt oder indirekt, in seiner Gesamtheit oder in Teilen. Was der Patient auf seine Nachfrage nach der Methode gewöhnlich nicht erhält und was auch dem Arzt häufig nur in Teilen bewusst Vgl. Carl F. Graumann: »Verhalten und Handeln – Probleme einer Unterscheidung«, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Verhalten, Handeln und System, Frankfurt a. M. 1980, S. 16–31.
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Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit
ist, sind Erläuterungen zur Methode, nach der der Arzt professionell handelt. Professionelles Handeln ist nach meinem Verständnis sinnhaftes, d. h. deut- und verstehbares Verhalten im sozialen Kontext, das insbesondere bei akademischen Berufen im Spannungsverhältnis von höhersymbolisch verfassten Wissensbeständen einerseits und ihrer Anwendung mittels bestimmter Techniken in bestimmten einmaligen, raumzeitlich festgelegten Situationen andererseits, steht. An anderer Stelle 16 habe ich vorgeschlagen, dann von Fallarbeit zu sprechen, wenn erstens diese Wissensbestände und Techniken nicht weitgehend standardisiert und routinisiert ablaufen, sondern höhergradig reflektiert und spezifiziert, und zweitens damit einhergehend, wenn der Arbeits»gegenstand« kein Ding ist, sondern eine menschliche Person. In diesem Fall ist der technische Aspekt von Berufsarbeit genauso wenig ausreichend zur Bestimmung des Wesens ärztlicher Arbeit wie die Erläuterung der höhersymbolischen, d. h. wissenschaftlichen Wissensbestände, die zur Legitimierung des Vorgehens herangezogen werden. Weiter habe ich in diesem Sinne in modifiziertem Anschluss an Schütze 17 postuliert, dass ärztliche Fallarbeit, abgeAuf Initiative von Jörg Bergmann, Ulrich Dausendschön-Gay, Ludger Hoffmann, Thomas-Michael Seibert und Ulrich Streeck wurde 2008 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld eine interdisziplinäre Forschergruppe etabliert, die dem Projektantrag zufolge der Frage nachzugehen beabsichtigte, »wie ein Fall im professionellen Handeln von Medizinern und Juristen konstituiert wird und welche epistemischen, interaktiven und institutionellen Funktionen und Folgen die Ausrichtung auf den Fall für das professionelle Handeln hat. […] Diese Konzentration auf prozessuale und mediale Fragen erzeugt spezifische methodologische und methodische Probleme für die Kooperation von Juristen, Medizinern, Linguisten und Soziologen, mit denen sich die Kooperationsgruppe ebenso befassen wird wie mit theoretischen Fragen der Fallformation sowie den berufspraktischen Konsequenzen ihrer Analysen« (Projektantrag der Initiatoren, unpubliziert, S. 1). Der Gruppe, die die Problematik an jeweils einem konkreten Fall aus der Strafgerichtsbarkeit, dem Zivilrecht, der Chirurgie und der Psychotherapie aufarbeitete, gehörten außer den Initiatoren Elisabeth Gülich, Reinhold Hickl, Kent Lerch, Frank Oberzaucher, Thomas Scheffer, Ulrike Schröder, Susanne Uhmann und ich selbst an. In meinem Beitrag zu der gemeinsamen Monographie habe ich versucht, einige von der Gruppe herausgearbeiteten Grundlinien der Fallarbeit in der klinischen Medizin zusammenzufassen: Jörg Frommer: »Therapie als Fallarbeit. Über einige Grundprobleme und Paradoxien professionellen Handelns in der Medizin«, in: Jörg R. Bergmann/Ulrich Dausendschön-Gay/Frank Oberzaucher (Hg.), »Der Fall«. Studien zur epistemischen Praxis professionellen Handelns, Bielefeld 2014, S. 103–123, hier S. 104. 17 Vgl. Fritz Schütze: »Schwierigkeiten bei der Arbeit und Paradoxien des professionellen Handelns. Ein grundlagentheoretischer Aufriss«, Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 1 (2000), S. 49–96. 16
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Jörg Frommer
sehen vom technischen Aspekt, unaufhebbar durch den Aspekt sozialer Interaktion bestimmt ist. Beides zusammen charakterisiert die vier Phasen medizinischer Fallarbeit: Sie umfasst erstens die Stellung einer Diagnose, zweitens die Enaktierung eines komplexen therapeutischen Arbeitsbogens gegebenenfalls unter Einbeziehung anderer Professionen, drittens die Einbettung in kollektive und gesellschaftliche Rahmenbedingungen und schließlich viertens die Beendigung und dokumentarische Aufarbeitung des Falles.
5.
Ethische Konsequenzen der Ausdifferenzierung des Methodenbegriffs
Nicht nur, aber in besonderem Maße ist ärztliche Fallarbeit durch die Grundparadoxie professioneller Arbeit mit und an Klienten gekennzeichnet, dass die Erfahrung von Dingen im Arbeitskontext ergänzt wird durch die Beziehung zu einer anderen Person, die stets Begegnungscharakter hat. Hieraus folgt: »Eine wesentliche Basiskompetenz von Professionellen, die Fallarbeit beherrschen, besteht in der ständig mitlaufenden impliziten und expliziten Differenzierung zwischen beiden Aspekten und somit […] in der Fähigkeit zur Mentalisierung, d. h. der Fähigkeit des Zuschreibens mentaler Zustände gegenüber der als Fall zu bearbeitenden Person.« 18 Am Beispiel des Chirurgen erläutert bedeutet dies, dass das Operationsfeld trotz seiner festen Zugehörigkeit zu einem Menschen für ihn während der Operation quasi zur Sache wird, an der er emotionslos und distanziert mit ruhiger Hand technische Abläufe vollzieht, während er bei der späteren Visite auf der Intensivstation demselben Patienten mitmenschlich Wärme, Trost und Verständnis spendet. Der Blick auf die biomedizinischen Daten der Krankenkurve wird in der gelingenden Fallarbeit so ergänzt durch die Orientierung am subjektiven Erleben und den individuellen persönlichen Relevanzsetzungen des jeweiligen Patienten. In diesem Sinne habe ich in dem bereits zitierten Aufsatz die These einer notwendigen Diskrepanzspannung aufgestellt zwischen ärztlicher Identität und Identität als Mediziner, die ihren Niederschlag in der Fallarbeit insofern findet, »als deren Gelingen ein ständiges Aus-
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Frommer: Therapie als Fallarbeit, S. 109.
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Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit
balancieren von empathisch-zwischenmenschlicher und distanziertsachlicher Einstellung notwendig macht« 19. Ich kehre nun zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück: Dieser Ausgangspunkt griff die Beobachtung Eugen Bleulers auf, dass die Begründungsstruktur ärztlichen Handelns Elemente enthält, die sich weder einem formal logischen noch einem erfahrungsgeleiteten Zugang erschließen, da sie Züge aufweisen, die einem von der Realität abgekoppelten Wunschdenken entsprechen. Aus meiner Sicht ist dieses auch heute noch existierende Phänomen Ausdruck einer unterkomplexen Bestimmung der Rolle des Mediziners ausschließlich als technisch orientierten Anwenders normativer Vorgaben, die auf naturwissenschaftlicher Erkenntnis beruhen. Das Verführerische dieser verkürzten Rollendefinition ist die Spannungsund scheinbare Verantwortungsentlastung in professionellen Situationen mit hohem ethischem Begründungsdruck. Wer »lediglich« wissenschaftliche Erkenntnisse technisch akkurat anwendet und sich »persönlich heraushält«, d. h. die Interferenz von quasimechanischen Arbeitsabläufen und persönlichen Affekten, Motiven und Einstellungen durch Ausblendung Letzterer zu vermeiden sucht, glaubt sich ethisch auf der richtigen Seite und öffnet doch Tür und Tor für das unbewusste Mitwirken des von ihm Verleugneten. Er verfällt der Illusion eines verkürzten Konzepts von Objektivität, die das sozial Objektive 20 für irrelevant erachtet, um sich nicht der BegegnungsEbd., S. 112. Besonders in den von einem rein naturwissenschaftlichen Selbstverständnis geprägten Disziplinen wird die Dichotomie von naturwissenschaftlich begründet und nicht-naturwissenschaftlich begründet häufig gleichgesetzt mit der Dichotomie von »objektiv« und »subjektiv«, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass auch im hermeneutisch-sozialwissenschaftlichen Denken Objektivität von rein subjektiver Bedeutungszuschreibung unterschieden werden kann, vgl. Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders. (Hg.), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 41973 (ersterschienen 1904), S. 146–214. Das Erreichen sozial-objektiver Erkenntnis setzt allerdings paradoxerweise die Anerkennung der Tatsache voraus, dass emotionale und irrationale subjektive Momente dem Erkenntnisgegenstand inhärent sind und die empirische Erforschung sinnhaften Erlebens und Handelns somit einer distanzierend-kritischen Brechung initialer Eindrücke, z. B. durch die Bezugnahme auf idealtypische Konstrukte, erforderlich macht, vgl. Jörg Frommer: »Typisierung, Idealtypenbildung und qualitatives Urteil«, Rechtstheorie 32 (2001), S. 273–287. Wird diesem Gesichtspunkt Rechnung getragen, kann sich die Reichweite qualitativer Forschungsstrategien sogar über bewusst subjektive Bedeutungszusammenhänge hinaus ausdehnen auf den Bereich unklar-vorbewusster und unbewusster Phänomene, vgl. Jörg Frommer: »Psychoanalyse 19 20
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arbeit mit dem Kranken stellen zu müssen. Die häufig von Patienten gestellte Frage »Wie würden Sie, Herr Doktor, entscheiden, wenn es um Sie selbst ginge oder einen Ihrer nahen Angehörigen?« – diese Frage ist ernst gemeint in dem Sinne, dass der Patient eben nicht zufrieden ist mit der Erläuterung technischer Details und Studienergebnissen, sondern dass er den Arzt als Gegenüber, als alter ego adressiert, und damit seinen Anspruch signalisiert, auch selbst beim Arzt als alter ego repräsentiert zu sein. Er möchte mit dieser Frage erfahren, ob er bei den anstehenden Maßnahmen mit empathischer Begleitung rechnen kann und ob der Arzt zu treffende Entscheidungen im Sinne und unter Berücksichtigung seiner – also des Patienten – subjektiver Erfahrung und Relevanzsetzung reflektiert. Der Patient testet mit solchen Fragen, ob die Behandlung für den Arzt primär eine narzisstische Bühne von Selbstdarstellung und narzisstischer Gratifikation um jeden Preis darstellt oder ob Empathie und Humanität mit dem technisch Machbaren ausbalanciert sind.
6.
Konsequenzen für die Sozialisation zur Arztpersönlichkeit
Während technische Abläufe und (natur)wissenschaftliche Begründungszusammenhänge als Grundlagen ärztlichen Handelns den expliziten Diskurs unter Medizinern dominieren und auch in der Kommunikation mit dem Patienten im Vordergrund stehen, regiert die Methodik der Fallarbeit eher implizit: Warum ein Fall zum Fall wird, nach welchen Regeln ein Patient zum Patienten des einen und nicht des anderen Fachgebiets wird, nach welchen Regeln sich das Zusammenwirken der beteiligten Medizinprofessionellen gestaltet, welche Aspekte der Diagnostik und Behandlung in der Dokumentation dominieren und welche eher untergehen, welche diagnostischen Maßnahmen und therapeutischen Optionen bevorzugt werden, andere eher im Hintergrund bleiben, wie sich das Zeitmanagement der Behandlung einschließlich der Aufteilung in ambulante und stationäre Therapie gestaltet, welchen Einfluss Kostenfragen auf den Ablauf nehmen und wie und wann die Fallarbeit als erfolgreich oder nicht erfolgreich abgeschlossen wird – dieses und vieles andere lernt der und qualitative Sozialforschung in Konvergenz: Gibt es Möglichkeiten, voneinander zu lernen?«, Psyche 61/8 (2007), S. 781–803.
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Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit
Arzt nicht im Studium durch Lehrbücher, sondern in den ersten Berufsjahren durch learning by doing. Die Vermittlung derartigen für die Prozesssteuerung der Fallarbeit und somit für die Professionalität unverzichtbaren Wissens geschieht in der Regel nicht durch Lehrmaterialien, Vorlesungen und Schriftstücke; vielmehr wird es vermittelt auf dem Flur der Krankenstation zwischen den einzelnen Krankenzimmern während der Visite oder beim gemeinsamen Mittagessen nach der Visite in der Krankenhauskantine. Es wird nicht systematisch beschreibend dargelegt und argumentativ begründet. Seine Weitergabe vom erfahrenen Arzt zum Novizen geschieht vielmehr eher beiläufig und nicht selten in Form der Unterstellung, dass dies doch bekannt sein müsste, gefolgt von der kondensierten stichwortartigen Mitteilung der wesentlichen Aspekte, manchmal sogar vorgetragen mit dem leichten Unterton des Vorwurfs. Der Neuling lernt auf diese Weise rasch, dass es gewissermaßen unanständig ist, über die impliziten Regeln nicht informiert zu sein, weil doch das Wohl der Patienten gefährdet werden könnte durch die noch lückenhafte eigene Beherrschung der Regeln professionellen Handelns. Im Hinblick auf diese Regeln gilt es für ihn angesichts des normativen Drucks der berufsethischen Maximen vor allem, bei Kollegen und Patienten den Eindruck zu vermeiden, er sei bezüglich der zu ergreifenden Handlungsschritte unsicher oder lückenhaft informiert. Kompensatorisch wird gerade dann häufig auf die Erläuterung technischer Abläufe und/oder auf die Erklärung wissenschaftlicher Erkenntnisse zurückgegriffen, wodurch lediglich kaschiert wird, dass eben nicht so ganz klar ist, was zum Wohle des Patienten als nächstes getan werden sollte. Während derartige durch fehlende Berufserfahrung oder auch durch spezifische Fallcharakteristika auftauchende Situationen der Ambiguität und Unsicherheit in der Patientenbehandlung im Zeitalter überwiegend paternalistisch strukturierter Arzt-Patient-Beziehungen durch autoritative Maßnahmen überspielt werden konnten, entsteht unter den Bedingungen des shared decision making ein höherer Diskurs-, Explikations- und Begründungsbedarf. Hierbei kommt zum Tragen, dass sowohl technische Abläufe als auch mit den Methoden der Naturwissenschaften gewonnene Erkenntnisse ihre Geltung völlig unabhängig von der Person beanspruchen, die sie anwendet oder sich auf sie beruft. Bei der Fallarbeit stellt sich dies anders dar: Handeln ist immer das Handeln einer Person, dessen Sinn im Gesamtzusammenhang der Biographie dieser handelnden Person 209 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Jörg Frommer
verankert ist. Dem entspricht reziprok die Erwartungshaltung des Objekts dieses Handelns – also des Patienten –, dass der Arzt nicht leichtfertig irgendetwas tut, sondern mit Besonnenheit erfahrungsbegründet die Handlungen vornimmt, die die größten Chancen zur Erreichung des Ziels der gemeinsamen Interaktion, d. h. zur Heilung des Patienten, versprechen. Die diesbezügliche Verantwortung kann der Arzt vor allem bei schwer Erkrankten nicht im Sinne eines Dienstleister-Selbstverständnisses auf den Patienten abwälzen. 21 Die Erwartung des Patienten impliziert damit Merkmale, die man mit dem vagen Begriff der Persönlichkeitsreife assoziieren könnte. Versucht man diesen Begriff vor dem Hintergrund psychoanalytischer Erkenntnis oder auch im Sinne Bleulers zu präzisieren, so bedeutet dies im Wesentlichen, dass der Arzt nicht kurzfristigem Wunschdenken und idiosynkratischen Realitätsverkennungen aufsitzt, sondern in der Lage und bereit ist, seine subjektiven Präferenzen und Sichtweisen durch Perspektivenwechsel zu ergänzen und manchmal auch zu brechen, sein Handeln also an in die eigene Persönlichkeit stimmig integrierten überindividuell geltenden Maßstäben auszurichten. Damit werden Persönlichkeitseigenschaften wie Authentizität, Glaubwürdigkeit und Präsenz zu Qualitätsmerkmalen des Handelns und entscheiden maßgeblich darüber, ob der Patient dem Arzt im wahrsten Sinne des Wortes abnimmt, was dieser ihm anbietet. Dies ist besonders dann wichtig, wenn der Arzt dem Patienten Realitäten vermitteln muss, die dessen Wunschdenken konterkarieren und die Auseinandersetzung mit beängstigenden und bedrohlichen Fakten erzwingen. Auch nach der Überwindung des »Diagnoseschocks« durchleben schwer körperlich Erkrankte in ihrer subjektiven Krankheitsverarbeitung einen regressiven Prozess mit Ausblendungen und zum Teil realitätsinadäquaten Überzeugungen. Während überwältigendes Bedrohungserleben und gleichzeitige Normalisierungs- und Ausblendungsversuche bspw. bei Patienten mit Akuter Leukämie in der Anfangsphase der Krankheitsbewältigung miteinander ringen (vgl. Michael Koenigsmann/Katharina Koehler/Andreas Regner et al.: »Facing Mortality: A Qualitative In-depth Study on Illness perception, Lay Theories and Coping Strategies of Adult Patients with Acute Leukemia 1 Week After Diagnosis«, Leukemia Research 30 (2006), S. 1127–1134), erzwingt der weitere Verlauf eine mehr oder weniger gelingende Übernahme der Patientenrolle, vgl. Michael Koehler/Katharina Koehler/Michael Koenigsmann et al.: »Beyond Diagnosis: Subjective Theories of Illness in Adult Patients with Acute Myeloid Leukemia«, Hematology 16 (2011), S. 5–13. Während des gesamten Krankheitsund Behandlungsverlaufs besteht eine weitgehende Abhängigkeit vom Medizinsystem, die ein hohes Maß an Perspektivenwechsel und Verantwortungsübernahme durch den behandelnden Arzt erforderlich macht.
21
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Der unklare Methodenbegriff in der ärztlichen Fallarbeit
7.
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend argumentiere ich für eine Ergänzung primär normativer ethischer Maximen in der Medizin durch die Prozessanalyse konkreter Abläufe ärztlichen Handelns mit dem Ziel, Paradoxien und Unklarheiten in der Fallarbeit begrifflich zu konzipieren und konkret an empirischem Fallmaterial aufzuweisen. Auf der Basis eigener Erfahrung innerhalb dieser Profession ist in diesem Sinne ein notorisch unklarer Begriff der »ärztlichen Methode« im klinischen Handlungskontext zu monieren, der ganz heterogene Begründungskontexte konfundiert. Schärfer zu unterscheiden sind nach meiner Auffassung erstens die Methode im Sinne rein technischer Abläufe in Diagnostik und Therapie, zweitens die Methode im Sinne naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung zur Stützung der in Diagnostik und Therapie eingesetzten Mittel und drittens die Methode im Sinne der Professionalität der Abläufe in der Fallarbeit des Arztes. Während technische Abläufe und naturwissenschaftliche Begründungen zum etablierten Bestand der Professionalität zählen, fehlt die wissenschaftliche Erforschung und systematische Lehre für die handlungstheoretisch zu begründenden Aspekte ärztlicher Berufspraxis weitgehend. Ihre Regeln sind eher implizit implementiert, wenig kodifiziert und werden in Lehrer-Schüler-Verhältnissen weitergegeben. Für nicht der Profession Zugehörige sind sie wenig transparent; durch paternalistische Arzt-Patient-Beziehungen werden sie stabilisiert, ohne thematisiert zu werden. Im Modell einer partizipativen Entscheidungsfindung entsteht die Notwendigkeit, ihre Rolle aufzuklären, um so einen Ausgleich zwischen empathischzwischenmenschlicher und distanziert-sachlicher Beziehungsgestaltung dem Patienten gegenüber zu ermöglichen. Damit wird die authentische, glaubwürdige und präsente Verantwortungsübernahme gegenüber dem Patienten in einer asymmetrischen Beziehung, die durch realitätsverzerrende subjektive Krankheitstheorien des Patienten charakterisiert sein kann, zum Teil des expliziten professionellen Handlungsrepertoires. Voraussetzung hierfür ist ein beruflicher Sozialisationsprozess, der abgespaltete, realitätsinadäquate Autismen aufspürt, thematisiert und durch Überzeugungen zu ersetzen hilft, in denen egozentrische Wunschperspektive und intersubjektiv validierte Realitätsanerkennung ausbalanciert sind.
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IV. Die Frage nach dem Ethos der Medizin aus systematischer Perspektive
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Das ärztliche Ethos im Spannungsfeld von ärztlichem Urteil, Recht und Erwartungen der Öffentlichkeit Dieter Birnbacher
Abstract: Die verschiedenen Formen des Berufsethos lassen sich als Vorkehrungen sehen, mit denen die Gesellschaft die Lasten der Moral auf möglichst viele Schultern verteilt und den Einzelnen ein Stück weit vom Druck moralischer Verpflichtungen entlastet. Das ärztliche Ethos übernimmt dabei eine paradigmatische Rolle. Es ist weitgehend kodifiziert, Zuwiderhandlungen werden sanktioniert, und es steht in einem engen Zusammenhang mit rechtlichen Vorgaben. Der Beitrag unterscheidet vier Hauptfunktionen des ärztlichen Ethos und setzt sich eingehender mit der Gefährdung einiger dieser Funktionen im Zuge der zunehmenden Ökonomisierung der Medizin auseinander. Zuletzt werden einige der Konfliktpotenziale aufgezeigt, die intern aus Spannungen innerhalb des ärztlichen Ethos und extern aus Spannungen zwischen ärztlichem Ethos und gesellschaftlichen Wertverschiebungen resultieren. Dazu gehören Divergenzen sowohl zwischen ärztlichem Ethos und Rechtsentwicklung als auch Divergenzen zwischen ärztlichem Ethos und der sich gegenwärtig vollziehenden Pluralisierung und Ausweitung der Erwartungen an den ärztlichen Stand.
1.
Einleitung: Ethos und allgemeine Moral
Die Bereitschaft zur Befolgung moralischer Normen ist eine knappe Ressource. Auch deshalb hat die gesellschaftliche Moral eine Reihe von Strukturen entwickelt, die die Lasten der Moral auf möglichst viele Schultern verteilen und den Einzelnen ein Stück weit vom Druck moralischer Verpflichtungen entlasten. Moralische Überforderung ist für die Moral kontraproduktiv. Deshalb muss Verantwortung, wenn sie realistisch gelebt werden soll, beschränkt werden. Die wahrscheinlich wichtigste Vorkehrung gegen moralische Überforderung ist die Abstufung der moralischen Dringlichkeit – und des moralischen Drucks, sich entsprechend zu verhalten – zwischen vollkommenen und unvollkommenen moralischen Pflichten. 215 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Dieter Birnbacher
Sie wirkt sich hauptsächlich so aus, dass zwar alle jederzeit verpflichtet sind, andere nicht zu schädigen, aber nicht alle in gleichem Maße dazu verpflichtet sind, allen, die sich in Notlagen befinden, zu Hilfe zu kommen. Vielmehr sind dazu einige stärker verpflichtet als andere. Einen anderen in eine Notlage zu bringen, gilt in der Regel als ein schwerer wiegender Moralverstoß, als einem anderen in einer Notlage nicht zu helfen. Die Abstufung wirkt sich auch so aus, dass wir bei der Aufteilung unserer Fähigkeit und Bereitschaft zur Hilfeleistung deutlich mehr Freiheiten haben als bei der Nichtschädigung. Wem wir unsere Hilfe anbieten, ist sehr viel stärker unserer eigenen Entscheidung überlassen, als wen wir nicht schädigen dürfen. Eine Zwischenstellung auf der Stufenleiter der vollkommenen und unvollkommenen Pflichten nehmen dabei die Pflichten zur Entschädigung im Falle einer Verletzung der Rechte anderer ein. Diese Pflichten sind im Allgemeinen weniger dringlich als die Pflichten zur Unterlassung von Rechtsverletzungen, aber dringlicher als allgemeine Hilfspflichten. Anders als bei allgemeinen Pflichten zur Unterstützung anderer und zur Großzügigkeit haben wir auch beim Ausgleich von Schädigungen bei der Auswahl des Empfängers im Allgemeinen keine Wahlfreiheit. Eine zweite gesellschaftliche Vorkehrung für eine möglichst effiziente Verteilung moralischer Verantwortung ist die Kopplung bestimmter über Jedermannsrechte und Jedermannspflichten hinausgehender Rechte und Pflichten an gesellschaftlich definierte Rollen. Einige von diesen Rollen sind durch familiäre oder andere Beziehungen definiert – diese gehören zumeist zu den zuerst von Talcott Parsons sogenannten zugewiesenen Rollen, die wir nicht frei wählen können –, andere durch bestimmte Qualifikationen und Kompetenzen – diese gehören zumeist zu den erworbenen Rollen, die wir übernehmen können, aber nicht müssen. Beide Arten von Rollen bewirken, dass die begrenzten moralischen Ressourcen, über die Menschen verfügen, aufs Ganze gesehen effektiv genutzt werden. Es ist evident, dass die Moral schlechter oder gar nicht funktionieren würde, wären wir für die Kinder anderer in höherem Maße zuständig als für unsere eigenen oder lägen Erziehung und Bildung nicht in der Hand von Lehrern, sondern von Politikern. Aus guten Gründen sind moralische Hilfspflichten primär an die Eltern-Kind-Beziehung oder an die in Familien, Nachbarschaften und Nationen vorgängig zur Moral bestehenden Solidaritätsgefühle gebunden, bestimmte besondere Qualifikationen erfordernde Hilfs216 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Das ärztliche Ethos
verpflichtungen wie die Rettung eines Menschen aus einem brennenden Haus hingegen an die Feuerwehr. Das Kriterium ist im ersten Fall das Bestehen vormoralischer emotionaler Beziehungen, im zweiten Fall Eignung und Qualifikation. Ein Ethos kann als die Gesamtheit der für besondere Berufsrollen spezifischen moralischen Normen verstanden werden. Diese Normen gehen sowohl in dem, wozu sie verpflichten, als auch in dem, was sie gestatten, über die für jedermann geltenden Normen hinaus, sind aber mit den für jedermann geltenden Normen insoweit kompatibel, als sie von allen geteilte Ziele verfolgen. Inhaltlich sind sie allerdings spezifischer und auf ihren jeweiligen Wirkungskreis abgestimmt. Wie sehr sie sich auch in ihren konkreten Ausprägungen unterscheiden mögen, sie verfolgen je auf ihre dem jeweiligen Wirkungskreis angepasste Weise dasselbe Ziel der Erhaltung und Steigerung übergreifender gesellschaftlicher Wohlfahrt. Bei allen Verschiedenheiten bestehen zwischen den verschiedenen Ethosformen dabei auch signifikante Gemeinsamkeiten. So gilt für zahlreiche Berufsgruppen, die primär die Interessen ihrer Patienten, Klienten oder Kunden vertreten, etwa Ärzte, Psychologen, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer, die Schweigepflicht in Bezug auf Informationen von und über Patienten und Klienten. Gemeinsam ist diesen Formen auch, dass von ihnen noch stärker als von den allgemeinen moralischen Normen erwartet wird, dass sie stabil in Einstellungen, Selbstverpflichtungen und Verhaltensbereitschaften verankert sind und dass auf ihre Einhaltung insofern mehr Verlass ist als auf die Einhaltung allgemeinmoralischer oder rechtlicher Normen. Für das Ethos ist charakteristisch, dass sich derjenige, der eine entsprechende soziale Position einnimmt, sich ausdrücklich – und möglicherweise in ritualisierter Form wie Eid oder Gelöbnis – darauf verpflichtet, während für die allgemeine Moral vergleichbare Selbstverpflichtungen nicht bekannt sind. Warum das so ist, hat offensichtlich mit der sozialen Bedeutung der Erwartungssicherheit zu tun, an der denjenigen gelegen ist, die die Dienstleistungen der jeweiligen Rollenträger in Anspruch nehmen. Der Patient oder Klient soll sich darauf verlassen können, dass ein Arzt, Psychologie oder Anwalt in seinem besten Interesse handelt, auch dann, wenn er ihm gänzlich unbekannt ist. Bei den Trägern zugewiesener Rollen bedarf es dieser Sicherheit u. a. auch deshalb weniger, da wir mit ihnen in der Regel unabhängig von den Leistungen, die wir von ihnen erwarten, bekannt sind. 217 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Dieter Birnbacher
Was das ärztliche Ethos betrifft, so lässt sich aus diesen ersten Überlegungen bereits eine erste Konsequenz ziehen: Für die Ausfüllung der ärztlichen Rollennormen ist eine Theorie der common morality, wie sie Beauchamp und Childress ihrem in der Medizinethik weit verbreiteten Vier-Prinzipien-Modell zugrunde legen, nicht hinreichend. Dafür ist diese zu unspezifisch. Beauchamp und Childress definieren die common morality so, dass sie für alle Personen charakteristisch ist, die das Ziel der Moral ernst nehmen, also sich an moralischen Normen orientieren. Wie die Autoren selbst wissen, reicht dies jedoch nicht hin, um spezifisch ärztliche Rechte und Pflichten herzuleiten. Sie unterscheiden deshalb zwischen der general morality, die für alle gilt, und der spezifischeren professional morality. 1 Die Frage ist allerdings, ob die general morality zusammen mit den spezifischen Anwendungs- und Kontextbedingungen der Medizin ausreicht, das ärztliche Ethos in einer hinreichend definiten und praxistauglichen Form zu begründen. Meine Vermutung ist, dass die common morality – der overlapping consensus über die Minimalbedingungen der Moral – zu viel offenlässt, um dieser Aufgabe gerecht zu werden und dass das Verfahren der Spezifikation, das Beauchamp und Childress für die Umsetzung ihrer Prinzipien in Ethosregeln vorsehen, über die principles der common morality hinaus eine Fülle weiterer normativer Weichenstellungen erfordert.
2.
Besonderheiten des ärztlichen Ethos
Das ärztliche Ethos weist gegenüber anderen Ethosformen eine Reihe von Besonderheiten auf. Eine sticht heraus: die Dominanz der Hilfsund Fürsorgepflichten. Anders als andere freie Berufe ist der Arztberuf von Anfang an moralisch definiert. D. h. Pflichten treffen den Arzt nicht erst dann, wenn er damit beauftragt wird, tätig zu werden, er ist vielmehr auftrags- und vertragsunabhängig in entsprechenden Bedarfslagen zur Hilfe verpflichtet. Das unterscheidet die Rolle des Arztes insbesondere von der des im biomedizinischen Bereich tätigen Wissenschaftlers. Der Wissenschaftler ist nicht als solcher – auch dann, wenn er keine Wissenschaft betreibt – dem wissenschaftlichen Ethos unterworfen. Den Ethos1 Vgl. Tom L. Beauchamp/James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics, New York 72013, S. 5 ff.
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Das ärztliche Ethos
regeln der Wissenschaft unterliegt er nur, soweit er forscht. Dagegen ist der Arzt kraft Approbation jederzeit zur Hilfe in Notfällen verpflichtet, auch »außer Dienst« und in höherem Alter nach Beendigung seiner Berufstätigkeit. Verdeckt wird diese Unterscheidung durch Redeweisen, die nahelegen, Medizin könne auch als reine Wissenschaft und unabhängig von den in den Arztberuf eingeschriebenen moralischen Zielsetzungen betrieben werden, z. B. als medizinische Grundlagenforschung. Tendenziell irreführend ist insofern auch die Redeweise etwa von einer »biologischen Psychiatrie« – die klarerweise missverstanden wird, wenn sie so interpretiert wird, als sei der Arzt in diesen Fällen als Biologe und nicht vielmehr lediglich unter Rückgriff auf biologische Wissensbestände tätig. Selbstverständlich gibt es eine genuine und in Grenzen eigenständige medizinische Forschung. Aber nicht nur ist diese Forschung an den »Zielen der Medizin« orientiert, also im weitesten Sinne anwendungsbezogene Forschung. Sie kann sich auch, soweit sie von Ärzten betrieben wird, nur im Rahmen des ärztlichen Ethos vollziehen. A fortiori kann die Medizin nicht als Wissenschaft und kraft der epistemischen Autorität der Wissenschaft normativ gehaltvolle moralische Aussagen treffen, etwa darüber, wie sich ärztliches Handeln in gesellschaftlich kontroversen Bereichen wie Organtransplantation, Reproduktionsmedizin oder Sterbehilfe vollziehen soll oder welche allgemeinen Regeln oder Leitsätze für diese Bereiche gelten sollen. Insofern begeht das Transplantationsgesetz in § 10 und § 12 einen intellektuellen Fauxpas, indem es die Festlegung der Verteilungskriterien von Organen bzw. die Aufnahme in die Warteliste an den »Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft« bindet. So heißt es in § 10 TPG: (2) Die Transplantationszentren sind verpflichtet, […] 2. über die Aufnahme in die Warteliste nach Regeln zu entscheiden, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Notwendigkeit und Erfolgsaussicht einer Organübertragung […].
Versteht man den Ausdruck »entsprechen« so, dass sich die Regeln unmittelbar oder mittelbar aus den Wissensbeständen der Medizin herleiten sollen, ist diese Bestimmung nicht weniger als absurd. Verteilungskriterien sind zwangsläufig normativ. Normativ gehaltvolle Regeln lassen sich aus dem Wissen der Medizin aber offenkundig 219 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Dieter Birnbacher
nicht ableiten. Versteht man »entsprechen« so, dass die Regeln, wie immer sie im Einzelnen aussehen, Wissensbestände der Medizin berücksichtigen, wird die Aussage trivial. Selbstverständlich muss nicht nur die Anwendung, sondern bereits die Formulierung der Verteilungsregeln die Resultate empirischer Forschung berücksichtigen. Außerdem würde sie nicht zu den nachfolgenden Kriterien der Notwendigkeit und Erfolgsaussicht passen, bei denen es sich unmissverständlich um keine rein »wissenschaftlichen«, sondern eindeutig normative Kriterien handelt. Analoges gilt für normativ folgenreiche semantische Festlegungen wie die des Todesbegriffs. Auch sie können nicht, wie selbst einige medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften im Vorfeld der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes meinten, ausschließlich mit Bezug auf Ergebnisse der »medizinischen Wissenschaft« begründet werden. Die Identifikation des Todes mit dem Hirntod, verstanden als der vollständige und endgültige Ausfall aller Hirnfunktionen, die in das Transplantationsgesetz eingegangen ist, ist kein Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis, über deren Gültigkeit Wissenschaftler das letzte Wort hätten. Eine solche Rollenzuschreibung wird der Geltungsweise der Gründe für oder gegen die Hirntoddefinition nicht gerecht. Bei der »Hirntoddefinition« handelt es sich nicht um eine wie immer geartete empirische oder theoretische Erkenntnis, sondern um eine Definition, d. h. um die normativ geleitete Festlegung der Bedeutung und der Anwendungskriterien des Begriffs »Tod eines Menschen«. »Festlegung« soll dabei nicht besagen, dass es sich um eine bloß willkürliche Konvention handelt. Es soll nur besagen, dass die Gründe ihrer Akzeptabilität anderer Art sind als die Gründe für die Akzeptierung einer wissenschaftlichen Hypothese. Man kann sich über alle wissenschaftlichen Fragen, die den Tod betreffen, einig sein, und dennoch abweichende Auffassungen darüber vertreten, was als »Tod eines Menschen« gelten soll. Im Transplantationsgesetz übernehmen die Bezugnahmen auf die »Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft« insofern eine im Wesentlichen politische Funktion, und zwar keine besonders beeindruckende. Ich wage die These, dass sie hinsichtlich einer in Gesellschaft und Medizinethik umstrittenen Verteilungsfrage eine falsche Objektivität vorgaukeln und insofern etwas zutiefst Undemokratisches an sich haben: Sie sind unvereinbar mit dem demokratischen Prinzip der Transparenz und Nachvollziehbarkeit eines Gesetzes. Aber auch das ärztliche Ethos scheint für eine Begründung von 220 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Das ärztliche Ethos
Verteilungskriterien für knappe Organe ungeeignet. Es ist zweifelhaft, ob das ärztliche Ethos hinreichend eindeutig ist, um auf die schwierigen Fragen, die sich bei der Todesdefinition und bei der Verteilung von Organen stellen, Antworten zu geben. Was die Todesdefinition betrifft, so ist sie auch unter ausgeprägt ethisch sensiblen Ärzten umstritten. Dasselbe gilt für die Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Schließlich gehört zum ärztlichen Ethos beides: die Verantwortung für den einzelnen Patienten und die Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Eine Bevorzugung des je eigenen gegenüber abstrakten anderen Patienten, wie sie das Transplantationsgesetz ausschließen möchte, ist mit dem ärztlichen Ethos nicht von vornherein unverträglich.
3.
Das ärztliche Ethos – eine funktionale Sicht
Die Merkmale, in denen sich das ärztliche Ethos von der allgemeinen Moral unterscheidet, verdanken sich den spezifischen Funktionen, die dieses Ethos im Gesamtgefüge der Moral zu übernehmen bestimmt ist. Man muss nicht die Ansicht teilen, dass die Moral insgesamt im Wesentlichen eine funktionale Rolle in Bezug auf die längerfristige Wohlfahrt einer Gesellschaft übernimmt. Es scheint jedoch offenkundig, dass die Eigenarten des Ethos – nicht nur des ärztlichen – gesellschaftlichen Desideraten an bestimmte Berufsgruppen entsprechen. Was das Ethos erfordert und was mit ihm vereinbar oder unvereinbar ist, bestimmt sich nach funktionalen Gesichtspunkten, d. h. danach, was die besondere Aufgabenstellung des jeweiligen Berufs erfordert und was die Gesellschaft – im Falle des ärztlichen Ethos die Gesamtheit der tatsächlichen und potenziellen Patienten – von ihren Vertretern erwartet. Dazu gehören nicht nur bestimmte Leistungen, sondern auch bestimmte Einstellungen, Selbstverpflichtungen und Verhaltensbereitschaften. Beim ärztlichen Ethos lassen sich im Wesentlichen vier Hauptfunktionen unterscheiden: 1. 2. 3.
Es verschafft den ärztlich Tätigen Orientierungssicherheit. Es verschafft den Patienten, die ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen, Erwartungssicherheit. Es sichert die Sachangemessenheit der ärztlichen Tätigkeit und verhindert, dass sie von sachfremden Gesichtspunkten dominiert wird.
221 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Dieter Birnbacher
4.
Es ermöglicht die für die ärztliche Tätigkeit unabdingbare Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient.
Ad 1. Wie alle Berufsethiken dient das ärztliche Berufsethos der Ausbildung von berufsspezifischen internalisierten Normen und Verhaltensroutinen. Sie lenken als Selbstverständlichkeiten die Aufmerksamkeit und entlasten von einer möglichen Überforderung durch stets erneute Selbstvergewisserung. Die Funktionsfähigkeit des ärztlichen Ethos hängt nicht nur von der Geltung entsprechender berufs- und strafrechtlicher Normen und ihrer Sanktionierung ab, sondern vor allem auch von der stabilen Verinnerlichung dieser Regeln im ärztlichen Selbstverständnis. Ad 2. Ein inhaltlich festgelegtes und verbindlich geltendes ärztliches Berufsethos gewährt allen, die ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen, Sicherheit darüber, was sie von ihrem Arzt erwarten können. Diese Sicherheit ist in Gesundheitsbelangen in besonderer Weise vordringlich, da diese Belange für den Einzelnen häufig von existenzieller Bedeutung sind und ärztliche Hilfe auch dann in Anspruch genommen werden muss, wenn die zu erwartende Qualität der Behandlung für den Patienten nicht überprüfbar ist. Nur wenn – im Sinne eines »antizipatorischen Systemvertrauens« 2 – bestimmte Kompetenzen und Bereitschaften bei Ärzten allein aufgrund der Zugehörigkeit zum Beruf erwartet werden können, kann sich der Patient vertrauensvoll auf eine Behandlung einlassen. Ad 3. Sachangemessen ist ärztliches Handeln immer nur so weit, wie es primär an der Gesundheit des Patienten orientiert ist. Nicht zufällig lautet der erste Satz des Genfer Gelöbnisses des Weltärztebundes: »Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.« Die Orientierung an Gesundheitszielen muss auch da den Primat haben, wo ärztliche Behandlung und Beratung andere oder über gesundheitsbezogene Ziele hinausgehende Ziele verfolgen. Der Arztberuf ist ein freier Beruf. Anders als von gewerblich oder im Auftrag des Staates Tätigen wird von Ärzten erwartet, dass sie der Gesundheit ihrer individuellen Patienten Vorrang geben vor kommerziellen oder hoheitlichen Zielen.
Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer: »Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung. Das Beispiel der Verträge mit leitenden Klinikärztinnen und -ärzten«. 20. 9.2013. http://www.zentrale-ethikkommission.de/down loads/Stell KlinikVertraege2013.pdf, S. 4 (zuletzt abgerufen am 26. 1. 2018).
2
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Das ärztliche Ethos
Ad 4. Die ärztliche Tätigkeit ist in besonderer Weise auf eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Arzt angewiesen. Erstens ist der Patient, da er in der Regel nicht über das fachliche Wissen und Können des Arztes verfügt, darauf angewiesen, auf die Sachkunde und Integrität des Arztes zu vertrauen. Zweitens existieren für ärztliche Bemühungen nicht in derselben Weise objektive Erfolgsindikatoren wie bei anderen freien Berufen. Auch die qualifizierteste und erfolgversprechendste Behandlung kann erfolglos bleiben. Drittens ist der Erfolg einer Behandlung u. a. auch davon abhängig, wie weit sich der Patient dem Arzt gegenüber öffnet und dabei auch Informationen preisgibt, die seine Intimsphäre berühren. So erklärt sich die große Bedeutung der ärztlichen Schweigepflicht als Kernstück des ärztlichen Ethos. Zwischen diesen Funktionen bestehen im Einzelnen enge Zusammenhänge. Das gilt insbesondere für die Funktionen 3 und 4. Damit Patienten auf ihre Ärzte vertrauen können, muss sich die Tätigkeit des Arztes an der Zielbestimmung Gesundheit und keiner anderen orientieren. Der Patient muss sicher sein, dass der Arzt primär, wenn nicht sogar ausschließlich die Patientengesundheit zur Richtschnur seines Handelns macht und nicht darüber hinaus weitere, konkurrierende Ziele verfolgt. Diese Forderung ist in der Geschichte immer wieder durch anderweitige Zielsetzungen durchbrochen worden, etwa durch eine einseitige Orientierung ärztlichen Handelns an der »Volksgesundheit«, zum Teil unter Analogisierung individueller und kollektiver Ziele durch Übertragung von Kategorien wie Gesundheit und Krankheit auf Kollektive wie den so genannten »Volkskörper«.
4.
Die Gefährdung des ärztlichen Ethos durch Ökonomisierung
Gegenwärtig besteht die größte Gefahr einer Beeinträchtigung der Sachorientierung ärztlichen Handelns und damit auch des Patientenvertrauens in der zunehmenden Tendenz zur Ökonomisierung. Das ärztliche Ethos gerät zunehmend unter den Druck von Gewinnerwartungen – sowohl aufseiten der Kliniken wie der Praxen. In den letzten Jahren hat das Bundesgesundheitsministerium verstärkt vor Chefarztverträgen gewarnt, die Anreize zu Unter- oder Überbehandlung geben, indem sie etwa Bonuszahlungen an die Anzahl oder die Lukra223 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Dieter Birnbacher
tivität statt an die ärztliche Indiziertheit bestimmter Behandlungen binden. Auch der Gesetzgeber hat inzwischen reagiert und in § 136a SGB 5 geregelt, dass die Deutsche Krankenhausgesellschaft »in ihren Beratungs- und Formulierungshilfen für Verträge der Krankenhäuser mit leitenden Ärzten […] im Einvernehmen mit der Bundesärztekammer Empfehlungen abzugeben [hat], die sicherstellen, dass Zielvereinbarungen, die auf finanzielle Anreize bei einzelnen Leistungen abstellen, ausgeschlossen sind. Die Empfehlungen sollen insbesondere die Unabhängigkeit medizinischer Entscheidungen sichern.
Eine entsprechende gemeinsame Erklärung wurde inzwischen veröffentlicht. Es ist unstrittig, dass diese Befürchtungen zumindest in Teilen der Medizin ein fundamentum in re haben. So hat sich nach einem Gutachten des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherungen von 2012 die Anzahl der medizinischen Behandlungen in Kliniken in den Jahren 2006 bis 2010 um 13 % erhöht, wobei aufwändige und finanziell gut entlohnte Behandlungen überproportional zunahmen. Es wird vermutet, dass mehr als die Hälfte des Zuwachses nicht durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft erklärbar ist. Laut dem AOK Krankenhausreport 2013 hat sich die Anzahl der Wirbelsäulenoperationen im Zeitraum zwischen 2005 bis 2010 verdoppelt. Verschiedene Indizien sprechen dafür, dass neben anderen Faktoren die Zunahme an Behandlungen auch aus der Anpassung der Indikationen an die jeweils bestehende Vergütungsstruktur resultiert. Diagnosen und Indikationsstellungen scheinen häufig ökonomisch mitbedingt. Bei Längsschnittuntersuchungen zeigt sich jedenfalls in verblüffender Weise, wie prompt die Indikationen auf Änderungen der Vergütung reagieren. Zwar lassen sich die bestehenden Korrelationen nicht unmittelbar als Kausalverhältnisse interpretieren, 3 aber solange andere Kausalfaktoren nicht in Sicht sind, haben sie zumindest einen indiziellen Wert. Eine andere Facette dieser Entwicklung ist, dass Ausschreibungen und Dienstverträge für leitende Ärzte vielfach so gestaltet werden, dass sie neben einem vergleichsweise geringen Festgehalt eine Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg der Einrichtung vorsehen. 3 Vgl. Leopoldina: Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem. Dokumentation des Symposiums am 21. Januar 2016, Halle 2016, S. 8.
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Das ärztliche Ethos
Verschärft wird diese Entwicklung, wenn sich die Verlängerung befristeter Verträge u. a. am Kriterium des wirtschaftlichen Erfolgs orientiert. Seit einiger Zeit macht das Wort »Diagnosen-Tuning« die Runde. Gespräche mit im medizinischen Bereich Tätigen liefern eine Fülle anekdotischer Belege. So wurde mir kürzlich berichtet, dass eine Psychiaterin von ihrer Vorgesetzten angewiesen wurde, bei einem Patienten, der sich häufiger als normal auf der Straße nach Frauen umschaute, Zwanghaftigkeit als Zusatzdiagnose anzugeben – zweifellos aus Gründen der günstigeren Abrechenbarkeit. Der Ehemann einer Mitarbeiterin, klinischer Neurologe, bekam von seinem Geschäftsführer zu hören, er kümmere sich »zu intensiv« um seine Patienten. Drastische Fälle von einer – nicht nur, aber u. a. auch ökonomisch bedingten oder zumindest mitbedingten »Behandlungswut« – die wörtliche Übersetzung des im Französischen geläufigen Ausdrucks »acharnement thérapeutique« – am Lebensende berichtet Christian Thöns in seinem bitterbösen Buch Patient ohne Verfügung. Gerade die kränksten, vulnerabelsten und ohnmächtigsten Patienten werden, so scheint es, mit Vorliebe als cash cows gemolken. Den Hintergrund dafür bilden einerseits die Dehnbarkeit der Diagnosen und Indikationsstellungen, andererseits die bestehenden medizinischen Überkapazitäten und die sich daraus unvermeidlich ergebende Konkurrenz um Kassenleistungen. Die semantische Unbestimmtheit vieler diagnostischer Begriffe (etwa »Depression«) ermöglicht es, Patienten als kränker erscheinen zu lassen, als sie sind (im Krankenkassenjargon: sie zu »verkranken«), oft ohne dass diese davon erfahren. Andererseits verfügt Deutschland im klinischen Bereich über knapp 60 % mehr Betten pro Kopf der Bevölkerung als der Durchschnitt der europäischen Länder. 4 Insbesondere der Überlebenskampf kleiner Krankenhäuser führt dazu, dass sie ihre Wirtschaftlichkeit auf ethisch problematische Weise zu sichern versuchen: durch möglichst hohe Fallzahlen, durch ein up-coding von Diagnosen pro Fall, durch das unnötige zeitweilige Dabehalten von Patienten aus der Notaufnahme und durch die Verteilung von Eingriffen auf mehrere separate Teileingriffe, häufig zum Schaden des Patienten. 5 Viele Ärzte reagieren auf diese Entwicklung mit Unmut, Unzufriedenheit, innerer Opposition und Klagen über zunehmenden Vgl. Christian Thöns: Patient ohne Verfügung, München 2016, S. 8. Vgl. Paul U. Unschuld: Ware Gesundheit: Das Ende der klassischen Medizin, München 2014, S. 99 ff.
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Stress. Bedenklicher für das ärztliche Ethos ist allerdings die umgekehrte Reaktion: die Übernahme der entsprechenden Orientierung in die eigenen Denk- und Verhaltensweisen, möglicherweise so weitgehend, dass der Widerspruch zwischen ärztlichem Ethos und Orientierung an Profitabilität gar nicht mehr als solcher gespürt wird. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat in ihrer einschlägigen Stellungnahme vor allem Wert darauf gelegt, zwischen der legitimen Orientierung an Wirtschaftlichkeit und problematischer Ökonomisierung zu unterscheiden. 6 Nicht Wirtschaftlichkeit, sondern die Orientierung an Profitabilität zulasten des Patientenwohls gefährdet das ärztliche Ethos. Selbstverständlich hat die Gesellschaft ein berechtigtes Interesse an Wirtschaftlichkeit und Kostenbewusstsein. Wirtschaftlichkeit bedeutet dabei eine möglichst effiziente Allokation von Gütern und Dienstleistungen sowie die Ausrichtung auf einen sowohl sparsamen als auch wirksamen Einsatz vorhandener Mittel. Dazu gehören die Straffung von organisatorischen Abläufen, der Abbau von Überkapazitäten und die Vermeidung von Verschwendung. Unter den Bedingungen eines solidargemeinschaftlich finanzierten Gesundheitssystems ist eine möglichst wirtschaftliche Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel dabei nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein moralisches Gebot. Da die Fähigkeit und die Bereitschaft der Gesellschaft zur Finanzierung des Gesundheitssystems begrenzt sind, müssen Ärzte und Klinikverwaltungen ebenso wie die Kostenträger mit den bewilligten Mitteln möglichst haushälterisch und verantwortungsvoll umgehen. Darüber hinaus benötigen medizinische Einrichtungen, wie alle Unternehmen, Gewinne, um Mittel für notwendige Investitionen, z. B. in neue Technologien, zu generieren. Insofern ist der in manchen Kreisen verbreiteten Tendenz entgegenzutreten, Gewinnorientierung im sozialen und medizinischen Bereich bereits als solche zu verteufeln. Selbstverständlich ist Gewinnorientierung nicht von vornherein »unethisch«, auch nicht in Bereichen mit sozialen Zielsetzungen. Schließlich ist auch die politische Steuerung von Bereichen, in denen das Ziel der Profitabilität akzeptiert ist, etwa Wirtschaftsförderung und Handelspolitik, u. a., wenn nicht sogar primär, auf soziale Zielsetzungen wie die Erhaltung von Arbeitsplätzen ausgerichtet. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer: »Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung«, a. a. O.
6
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Das ärztliche Ethos
»Ökonomisierung« hat die Zentrale Ethikkommission dagegen als die davon zu unterscheidende Tendenz bestimmt, wirtschaftliche Aspekte zulasten originär medizinischer Aufgaben zu priorisieren, nicht nur bei der Krankenversorgung, sondern auch bereits bei der Rekrutierung von Ärzten, etwa wenn Ärzte primär wegen ihrer ökonomischen Befähigungen und nicht wegen ihrer ärztlichen und menschlichen Fähigkeiten eingestellt werden. Ökonomisierung in diesem Sinn ist nicht nur deshalb problematisch, weil sie die Funktion des ärztlichen Ethos, Vertrauen zu ermöglichen und zu erhalten, untergräbt. Sie untergräbt auch die Selbstbestimmung des Patienten, indem sie ihn mit für ihn intransparenten Diagnosen und Indikationen konfrontiert, über die er nur sehr eingeschränkt urteilsfähig ist. Er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, abschätzen zu müssen, wie weit eine Indikation medizinisch und ärztlich legitim ist und wie weit sie von ökonomischen Aspekten geleitet ist – eine Aufgabe, die ihn zumeist überfordert und das berechtigte Gefühl hinterlässt, vertrauen zu müssen, ohne vertrauen zu können. Eine Minimalbedingung der Betätigung seines Selbstbestimmungsrechts wäre jedoch, dass Konflikte zwischen wirtschaftlichen Zielen und medizinischen Bedürfnissen offengelegt und zum Gegenstand eines Diskurses zwischen den Beteiligten gemacht würden. Insgesamt muss das Verhältnis zwischen Ethos und Ökonomie gegenwärtig als gestört gelten. Eine Versöhnung kann nur so aussehen, dass vermehrt ethoskonforme Zielsetzungen in die ökonomischen Anreizsysteme aufgenommen werden. Die Zielvorgaben müssen neben wirtschaftlichen Parametern nicht nur Qualitätsziele berücksichtigen wie z. B. die Verbesserung der angebotenen Leistungen durch die Einführung evidenzbasierter innovativer Methoden und die Verbesserung der Patienten-, Kollegen- und Mitarbeiterzufriedenheit, sondern auch ethosnahe Ziele wie eine gute Kommunikationskultur im Umgang mit den Patienten. Es mutet geradezu paradox an, dass bei einer stets älter werdenden Patientenpopulation, bei der nicht mehr Infektionskrankheiten, sondern chronische Leiden und irreversible Belastungen im Vordergrund stehen, Gesprächs-, Beratungs- und andere kommunikative Leistungen nicht stärker, sondern im Gegenteil weniger als in früheren Zeiten in der Vergütungsstruktur berücksichtigt werden.
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5.
Das ärztliche Ethos ist keine Konstante
Eine funktionale Sicht des ärztlichen Ethos ist untrennbar verbunden mit der Legitimation seines Wandels im Lauf der Geschichte. So etwas wie ein schlechthin vorgegebenes »ärztliches Telos« gibt es nicht und kann es nicht geben. Das »Telos« des Arztes unterliegt der Veränderung, weil es derselben gesellschaftlichen und kulturellen Dynamik unterworfen ist wie die moralischen Normen insgesamt. Was das ärztliche Ethos erfordert und was mit ihm vereinbar oder unvereinbar ist, bestimmt sich nicht nach einer irgendwie gearteten überzeitlichen und überkulturellen »Idee des Arztes«, sondern nach funktionalen Gesichtspunkten, d. h. danach, was ihre besondere Aufgabenstellung erfordert und was die Gesellschaft – die Gesamtheit der tatsächlichen und potenziellen Patienten – von ihren Ärzten erwartet. Natürlich gibt es hier wie da Konstanten: Wie die vier Prinzipien des »Georgetown Mantra« die common morality zu allen Zeiten charakterisiert haben, so ist auch das ärztliche Ethos zu allen Zeiten durch Hilfeleistungspflichten charakterisiert gewesen. Verschoben haben sich jedoch die Gewichte. Wie innerhalb der common morality das Prinzip der Achtung von Selbstbestimmung in der westlichen Welt spätestens mit den Emanzipationsbewegungen des 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, hat innerhalb der ärztlichen Ethik in der letzten Jahrhunderthälfte das Prinzip der Respektierung der Patientenautonomie ein bis dato unbekanntes Gewicht erhalten, nicht zuletzt durch das Rechtssystem und – speziell in Deutschland – die Verfassung, die dem Grundrecht auf freie Lebensgestaltung einen hohen Rang zuweist. Die Funktionalität des ärztlichen Ethos erfordert insofern Anpassungen sowohl an grundlegende Wandlungen der sachlichen Bedingungen der ärztlichen Tätigkeit wie auch an die Wertverschiebungen innerhalb der Gesellschaft. Zu den Sachaspekten gehören insbesondere die bereits genannten Veränderungen in der Zusammensetzung der Patientenpopulation. Infolge der demografischen Entwicklung nimmt die Anzahl älterer und multimorbider Patienten zu, das Krankheitsspektrum wandelt sich von akuten zu chronischen Erkrankungen, von mit bewährten Verfahren heilbaren zu unheilbaren und allenfalls linderbaren Beschwerden und Einschränkungen. Ebenfalls dazu gehört die zunehmende Ersetzung persönlicher durch apparative Leistungen,
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Das ärztliche Ethos
etwa die Ersetzung der Diagnostik »von Hand« (wie durch Abhorchen) durch Geräte wie Ultraschall und CT. Unter den Wertaspekten ist für die Weiterentwicklung des ärztlichen Ethos vor allem der zunehmende kulturelle Pluralismus von Bedeutung. Die Wertvorstellungen der Patienten sind heute heterogener als in allen vergangenen Epochen, sodass der Arzt nicht mehr erwarten kann, dass seine – in der Regel aus dem Bürgertum stammenden – Wertvorstellungen von seinen Patienten durchweg geteilt werden (was sich vor allem in der Psychotherapie, in der es häufig um Fragen der Lebensführung geht, auswirkt). Auch dadurch wächst der Patientenselbstbestimmung eine stets größere Bedeutung zu, nicht nur hinsichtlich der Behandlungswege, sondern auch der Behandlungsziele und der Entscheidung über Behandlung und Nicht-Behandlung. In den Werthaltungen von mehr und mehr Patienten rangiert die Erhaltung von Lebensqualität vor der Erhaltung ihres Lebens, mit der Folge, dass die weiterhin bestehende und für das ärztliche Ethos zentrale Pflicht zur Lebenserhaltung durch mehr und mehr Ausnahmeklauseln relativiert wird. Für das ärztliche Ethos impliziert die Pluralisierung der Patientenwerte vor allem eine Revision des herkömmlichen und über Jahrhunderte mehr oder weniger unhinterfragten Paternalismus. Es impliziert nicht nur ein beträchtliches Maß an Toleranz gegenüber kulturell abweichenden Lebensformen und -zielen, sondern auch die Verpflichtung zu einer weitgehenden – und in concreto möglicherweise aufwendigen – Individualisierung der Behandlungsentscheidungen. Der Arzt kann nicht mehr problemlos davon ausgehen, dass seine Patienten in demselben Maße an einer gesundheitsorientierten Lebensführung interessiert sind wie er selbst. Er muss vielmehr damit rechnen, dass Patienten idiosynkratische Präferenzen geltend machen, die mit Gesundheitszielen mehr oder weniger unvereinbar sind, etwa Suchtverhalten, das Streben nach sportlichen Höchstleistungen oder weltanschaulich motivierte Behandlungsverweigerungen. Wertverschiebungen zeigen sich auch in den gesellschaftlichen Erwartungen an den Arztberuf. Der Arzt wird zwar weiterhin primär als Heiler von Krankheiten gesehen und als solcher weiterhin hochgeschätzt. Insofern vermitteln die vom Hastings Center erarbeiteten »Ziele der Medizin« weiterhin ein adäquates Bild von den Kernaufgaben des Arztes:
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Verhütung von Krankheit und Verletzung sowie die Förderung und Erhaltung der Gesundheit; Linderung von durch Krankheit verursachten Schmerzen und Leiden; Pflege und Heilung von erkrankten Menschen sowie die Pflege von Kranken, die nicht geheilt werden können; Verhinderung eines vorzeitigen Todes sowie das Streben nach einem friedvollen Tod. 7
Aber seit Längerem melden sich – nicht nur in den wohlhabenden Gesellschaften – Ansprüche an den ärztlichen Beruf, die weit über diesen Kernbereich hinausgehen: Beratungsleistungen, LifestyleMedizin, ästhetische Medizin, Sportmedizin. Vor allem Allgemeinmediziner und psychotherapeutisch tätige Ärzte übernehmen zunehmend Aufgaben, die herkömmlich in der Hand von Seelsorgern lagen: Krisenintervention, Aussöhnung mit Schicksalsschlägen, Bewältigung von Verlust und Trauer, Umgang mit Sexualität. Wachsende Bereiche der Medizin und der direkt oder indirekt in das Medizinsystem involvierten Aktivitäten (Pharmaforschung, Apotheken, Medizintechnik) widmen sich nicht mehr nur der Behandlung und Bekämpfung von Krankheiten und Störungen, sondern gleichberechtigt und in Einzelfällen sogar vorrangig Enhancement-Zielen wie der Steigerung der Leistungsfähigkeit über das Normalmaß hinaus (Sportmedizin), der Kompensation natürlicher Degenerationsprozesse (Anti-Aging), der Verschönerung des Körpers (ästhetische Chirurgie, Kieferorthopädie) oder der Verbesserung des Wohlbefindens (Psychopharmakologie). Wie nicht anders zu erwarten, führt die Dynamik der neuen Erwartungen an das ärztliche Handeln nicht nur zu Verwerfungen innerhalb des ärztlichen Ethos, sondern auch zu zum Teil erbittert ausgetragenen Konflikten innerhalb der Ärzteschaft zwischen »traditionalistischen« Vertretern der überkommenen und »modernistischen« Vertretern revidierter Ethosnormen. Aus den zahlreichen Beispielen für derartige ethosinterne »Generationenkonflikte« greife ich zwei heraus: den Konflikt darum, wie mit der Zunahme der Inanspruchnahme ärztlicher Behandlungen mit primär oder ausschließlich ästhetischen Zielsetzungen umzugehen ist, und den Konflikt über die Grenzen der Schweigepflicht bei Fremdgefährdungen unterhalb der Schwelle zu Kapitalverbrechen.
Hastings Center: »Die Ziele der Medizin – neue Prioritäten setzen«, in: Gebhard Allert (Hg.), Ziele der Medizin. Zur ethischen Diskussion neuer Perspektiven medizinischer Ausbildung und Praxis, Stuttgart 2002, S. 22–81, hier S. 25.
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Das ärztliche Ethos
Die Dienste der ästhetischen Medizin werden seit Längerem in erheblichem Maße in Anspruch genommen und verzeichnen teilweise rasante Zuwächse. Zu erwarten ist, dass die Konjunktur der ästhetischen Chirurgie anhält. Man vermutet, dass der latente Bedarf die faktische Nachfrage weit übersteigt und lediglich mangelnde Zahlungsfähigkeit als limitierender Faktor wirkt. Wie groß die Nachfrage nach Schönheitschirurgie ist, bekamen um 1980 die Niederlande zu spüren, als kosmetische Operationen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wurden. Es kam zu einer dramatischen Steigerung der Inanspruchnahme mit einer ungefähren Verdoppelung der Fälle jedes einzelnen Typs von Operation. Erst die von der niederländischen Regierung eingesetzte Dunning-Kommission schlug vor, kosmetische Operationen aus dem »basic package« der solidarisch finanzierten Gesundheitsleistungen herauszunehmen. Mit einer nachhaltigen Nachfragesteigerung ist nicht zuletzt aufgrund der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz zu rechnen. Ähnlich wie bei der Inanspruchnahme von Reproduktionsmedizin ist die Inanspruchnahme von Schönheitsoperationen nicht mehr in demselben Maße tabuisiert wie noch vor zehn Jahren. Wie zu erwarten, stoßen diese Entwicklungen nicht auf allen Seiten auf Wohlgefallen. In den Jahren 2004 und 2005 bildete sich sogar eine »Koalition gegen den Schönheitswahn«, an der sich neben den christlichen Kirchen u. a. auch die Bundesärztekammer als Sprecherin der Ärzteschaft beteiligte. 8 Auch wenn sich die Kritik primär gegen die aus den USA bekannte Praxis der ästhetischen Operationen bei Minderjährigen richtete, war sie doch auch der Versuch einer Abgrenzung der ärztlichen Kernaufgaben von der sogenannten »wunscherfüllenden Medizin« und einer Kritik an der Fehlallokation wertvoller medizinischer Ressourcen für Luxusbedürfnisse. Ein anderer Fall eines ethosinternen Konflikts ist derjenige zwischen denen, die die Schweigepflicht von Kinderärzten auch bei ernsthaftem Verdacht auf Kindesmisshandlung aufrechterhalten wollen bzw. es bei der gegenwärtig geltenden Freistellung des Informationsaustauschs darüber belassen wollen, und denen, die für eine Verpflichtung zur Mitteilung des Verdachts an Berufskollegen plädieren. Hauptanliegen ist es, das sogenannte »Kinderärzte-Hopping« einVgl. Bundesärztekammer: »Gemeinsam gegen den Schönheitswahn«, 5. 9. 2004 hhttp://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/institutionengremien/koalitionenbuendnisse/schoenheitswahn/schoenheitswahn/i (letzter Zugriff 8. 9. 2017).
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zuschränken, 9 das es misshandelnden Eltern erlaubt, ärztliche Hilfe für ihre Kinder in Anspruch zu nehmen, ohne sich als Wiederholungstäter erkennen geben zu müssen. Die Muster-Berufsordnung für Ärzte enthält bereits in ihrer gegenwärtigen Fassung eine Bestimmung, die es Ärzten auch unterhalb der strafrechtlichen Ausnahmeregelung für schwere Straftaten wie Mord und Vergewaltigung erlaubt, bei Verdacht auf Kindesmisshandlungen die Schweigepflicht zu verletzen. Umstritten ist, ob diese Bestimmung bei Wiederholungsfahr in eine Verpflichtung umgewandelt werden sollte. Dabei geht es weniger um eine genuin ethische als vielmehr um eine prognostische Abwägung: Haben die betroffenen Kinder Aussicht, von einer etwaigen Verpflichtung zu profitieren? Wie die Erfahrungen in Österreich gezeigt haben, birgt eine gesetzliche Meldepflicht, wie sie dort 1984 eingeführt worden ist, die Gefahr, dass misshandelnde Eltern ihre betroffenen Kinder gar nicht mehr in kinderärztliche Behandlung bringen und die Kinder auf diese Weise einen doppelten Schaden davontragen. 10
6.
Dynamik des ärztlichen Ethos im Dreieck von Ärzteschaft, Recht und gesellschaftlichen Erwartungen
Welche Faktoren bestimmen, wann, wie und in welche Richtung sich die Wandlungen des ärztlichen Ethos vollziehen? In erster Näherung scheint mir zu deren Verständnis ein Modell geeignet, nach dem beim Wandel des ärztlichen Ethos drei Instanzen eine Hauptrolle spielen: (i) die Ärzte und die Institutionen der Selbstverwaltung, die aus ärztlicher Sicht über die für Ärzte verbindlichen Regeln durch berufsrechtliche Normen, Leitlinien und Empfehlungen bestimmen; (ii) das allgemeine Recht und (iii) die wechselnden Erwartungen der Öffentlichkeit an den ärztlichen Stand, also die Gesamtheit der tatsächlichen und potenziellen Patienten, Ratsuchenden und anderweitigen Nachfrager medizinischer Dienstleistungen. Innerhalb dieses Drei-Instanzen-Modells scheint sich das ärztliche Ethos im Wesentlichen auf zwei Weisen zu entwickeln: endogen 9 Michael Tsokos/Saskia Guddat: Deutschland misshandelt seine Kinder, München 2015, S. 18 f. 10 Vgl. ebd., S. 212 ff.
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Das ärztliche Ethos
aus sich wandelnden Anschauungen der Ärzte und der Ärzteschaft heraus; exogen aus Interaktionen mit den beiden anderen Instanzen. Bei diesen Interaktionen übernehmen jeweils unterschiedliche Instanzen die Führung, entweder indem sie den Anstoß zu einer Weiterentwicklung des Ethos geben oder indem sie eine aus einer anderen Instanz kommende Entwicklung aufgreifen und verstärken. Einmal geht das Recht voran und das Ethos folgt mit einem gewissen timelag. Ein anderes Mal ist es genau umgekehrt und eine berufsrechtliche Regel wird – möglicherweise wieder mit einem gewissen timelag – in eine allgemeinrechtliche Form gegossen und dadurch abgesichert. In wieder anderen Fällen verdanken sich Verschiebungen in den berufsethischen Normen einem hinreichend starken Erwartungsdruck der Öffentlichkeit. In Deutschland und anderen westlichen Ländern hat sich eine Interaktion des ersten Typus vollzogen mit der Verabschiedung des ärztlichen Paternalismus in der hippokratischen Tradition zugunsten einer die Patientenautonomie und das Shared decision making in den Mittelpunkt stellenden Arzt-Patient-Interaktion. Das Recht ist vorangegangen, indem es die Patientenrechte gestärkt hat und in Deutschland sogar so weit gegangen ist, jede eigenmächtige Behandlung, die – abgesehen von Notfällen – ohne oder gegen den informed consent des Patienten erfolgt, als Körperverletzung zu werten und mit weitreichenden Haftungspflichten zu verknüpfen. Ein Beispiel für die umgekehrte Aktionsrichtung ist die ärztliche Schweigepflicht, die sich bereits im Eid des Hippokrates als ärztliche Berufspflicht findet und die in Deutschland in der Form des § 203 StGB ins allgemeine Strafrecht aufgenommen worden ist. Als ein Beispiel für eine Interaktion zwischen Öffentlichkeit und Ärzteschaft, die zu einer signifikanten Verschiebung des ärztlichen Ethos geführt hat, kann die bereits erwähnte starke Nachfrage nach ästhetischen medizinischen Leistungen gelten. Sie hat – zusammen mit anderen vergleichbaren Angeboten – zu einer Öffnung des ärztlichen Ethos für eine große Vielfalt an ärztlichen Behandlungen außerhalb des Bereichs medizinischer und ärztlicher Indikationen geführt, bei denen die Patienten dem Arzt eher als Kunden auf einem »Gesundheitsmarkt« denn als behandlungsbedürftige »Leidende« begegnen. Ein aktuelles Beispiel für die Infragestellung des traditionellen ärztlichen Ethos durch rechtliche Vorgaben ist der Umgang mit dem Prinzip der Patientenselbstbestimmung im Bereich der Psychiatrie. 233 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Dieter Birnbacher
Angesichts der häufigen Uneinsichtigkeit der Patienten in ihre Erkrankung bzw. der Beeinträchtigung ihrer Einwilligungsfähigkeit durch psychische Störungen herrschen in der Psychiatrie weiterhin stärker paternalistische Denkweisen vor als in anderen Bereichen der Medizin. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist kein Teil der Ethostradition der Psychiatrie. Auch Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen kommen nur selten zum Einsatz und werden nur selten respektiert, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung, dass die Befolgung einer Verfügung, mit der sich der Patient verbittet, bei einem akuten psychotischen Schub medikamentös oder mit einer Elektrokrampftherapie behandelt zu werden, die lebenslange Hospitalisierung zur Folge haben kann. Angesichts der geringen Bereitschaft von Psychiatern, Patientenverfügungen ohne Einschränkung zu akzeptieren 11, ist verständlich, dass Behandlungsvereinbarungen gelegentlich von vornherein so formuliert sind, dass eine Befolgung nicht verbindlich zugesichert wird und lediglich die nachträgliche Information über die Nicht-Befolgung in Aussicht gestellt wird. Es fragt sich, wie weit diese Lage mit dem geltenden Recht vereinbar ist, das mit der Verabschiedung des Patientenverfügungsgesetzes die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen festgeschrieben hat. Dass einer Behandlungsvereinbarung zwischen Klinik und Patient dabei mindestens der Verbindlichkeitsstatus einer Patientenverfügung zukommt, scheint dabei nicht nur plausibel, 12 sondern zwingend – u. a. deswegen, weil die Anforderungen an eine Behandlungsvereinbarung über die an eine Patientenverfügung hinausgehen: Die Behandlungsvereinbarung ist von einem ärztlichen Vertreter der Klinik unterschrieben, während Patientenverfügungen ansonsten auch ohne die Unterschrift eines Arztes gültig sind; anders als bei »normalen« Patientenverfügungen ist bei Behandlungsvereinbarungen in höherem Maße gewiss, dass eine sachgemäße Informierung über Indikationen, Wirkungen und Nebenwirkungen der abgelehnten Intervention vorangegangen ist; und der Patient hat mit der Behandlung, die er ablehnt, bereits Erfahrungen gemacht und ist deshalb in einer besseren Lage als die meisten Patienten, die eine Patien-
Vgl. Katrin Radenbach/Alfred Simon: »Advance Care Planning in der Psychiatrie«, Ethik in der Medizin 28 (2016), S. 183–194, hier S. 190 f. 12 Vgl. Gunnar Duttge: »Grenzen des Selbstbestimmungsrechts im psychiatrischen Behandlungskontext«, Ethik in der Medizin 28 (2016), S. 195–206, hier S. 199. 11
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Das ärztliche Ethos
tenverfügung aufsetzen, die abgelehnte Intervention und ihre Folgen zu beurteilen. Ein Bereich, in dem es zwischen Rechtslage und ärztlichem Ethos in dem von ihr betroffenen Bereich ärztlicher Tätigkeit zu einer umgekehrten Interaktion gekommen ist, ist die Reproduktionsmedizin. Hier ist die Rechtslage in Deutschland deutlich restriktiver als die unter den primär betroffenen Ärzten vorherrschenden Ethosauffassungen – wie das deutsche Embryonenschutzgesetz überhaupt in den medizintechnisch avancierten Ländern zu den rigidesten gehört. Begegnungen mit Reproduktionsmedizinern belehren einen darüber, dass die Rechtslage in Deutschland bei den Mitgliedern dieser Zunft – wie auch vielfach bei betroffenen Patienten und Ratsuchenden – überwiegend auf Befremden, wenn nicht auf offene Ablehnung stößt. Das in diesem Bereich vorherrschende ärztliche Ethos übt insofern einen beständigen Druck auf das Recht bzw. auf die Interpretation der Rechtslage aus und tendiert dazu, es nach und nach aufzuweichen – mit m. E. bedenklichen Konsequenzen für die Rechtssicherheit, die bei einem Strafgesetz – das Embryonenschutzgesetz ist als Strafgesetz ausgestaltet – besonders schwer wiegt. Eines der Ärgernisse der geltenden Rechtslage aus ärztlicher Sicht ist die sogenannte Dreierregel, nach der bei der In-vitro-Fertilisation pro Zyklus jeweils nicht mehr als drei Embryonen hergestellt werden dürfen, die dann auch sämtlich zu übertragen sind, d. h. ohne sie zuvor auf ihre Aussicht, zu einer Schwangerschaft zu führen, zu prüfen. Durch eine Selektion aussichtsreicher Embryonen auf der Basis einer größeren Zahl können die Erfolgsaussichten wesentlich erhöht werden, was reproduktionsmedizinische Institute im Ausland, in dem diese Regel nicht gilt, für deutsche Kinderwunschpaare attraktiver macht. Angesichts der Konkurrenz an den deutschen Grenzen verwundert es insofern nicht, dass diese Regel, wie der Deutsche Ethikrat in seiner jüngsten Stellungnahme zur Embryonenspende schreibt, […] in den letzten Jahren erweitert interpretiert [wird]. Es werden über die Zahl drei hinaus so viele imprägnierte Eizellen weiterkultiviert, wie der Arzt meint, aufgrund seiner Prognose einer möglichen Verlustquote zu benötigen, um letztlich einen, zwei oder drei zur Übertragung geeignete Embryonen zur Verfügung zu haben. 13
Deutscher Ethikrat: Embryospende, Embryoadoption und elterliche Verantwortung. Stellungnahme. Berlin 2016, S. 11.
13
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Dieter Birnbacher
Damit werden zwangsläufig »überzählige« Embryonen erzeugt, die dann entweder ihrem Schicksal überlassen werden und zugrunde gehen oder für eine mögliche, aber ungewisse Adoption durch andere Paare zur Verfügung stehen – genau das, was die Verfasser des Embryonenschutzgesetzes verhindern wollten. Ihnen ging es – wie auch der Titel des Gesetzes andeutet – bei der Regulierung der Reproduktionsmedizin primär um den Schutz des menschlichen Embryos vor Zerstörung, sei es durch forschende, sei es durch nutzungsorientierte Eingriffe, aber eben auch durch das Vorenthalten einer Entwicklungschance durch Selektion. Ein Bereich, in dem sich das ärztliche Ethos gegenwärtig Druck vonseiten des Rechts wie auch von Seiten der Öffentlichkeit ausgesetzt sieht, ist der Bereich der Sterbehilfe, genauer des ärztlich assistierten Suizids bei Schwerkranken, die ihrem kurz bevorstehenden natürlichen Tod zuvorkommen wollen. Das ärztliche Ethos ist in diesem Punkt allerdings uneindeutig und im Zeitverlauf instabil. Eine nicht unbeträchtliche Minderheit der Ärzte möchte für sich nicht ausschließen, in einer akuten Leidenssituation gegebenenfalls Hilfe zu einem wohlerwogenen Patientensuizid zu leisten. Uneindeutig ist auch die berufsrechtliche Lage. Offensichtlich um entsprechenden Tendenzen in der Ärzteschaft zu wehren, hat der Deutsche Ärztetag 2011 beschlossen, ein berufsrechtliches Verbot des ärztlich assistierten Suizids in die Muster-Berufsordnung aufzunehmen. Dieses ist aber nur von 10 der 17 Landesärztekammern in ihre jeweiligen Berufsordnungen übernommen worden. Allein diese Berufsordnungen sind verbindlich, sodass gegenwärtig in Deutschland ein »Flickenteppich« von berufsrechtlichen Verboten und Nicht-Verboten besteht. Mit der Einführung des neuen § 217 StGB im Dezember 2015 geraten nun aber auch die Ärzte in den großzügigeren Kammergebieten (darunter Baden-Württemberg, Bayern und Westfalen-Lippe) unter Druck. Denn nach der nächstliegenden Auslegung des Wortlauts des § 217, nach dem eine »geschäftsmäßige«, d. h. auf Wiederholung angelegte Hilfe zum Suizid strafbar ist, fallen alle Ärzte unter dieses Verbot, die Beihilfe zum Suizid leisten, sofern sie dem betreffenden Patienten nicht zusätzlich familiär oder freundschaftlich verbunden sind. Solange sie allgemeine Kriterien anlegen, nach denen sie beurteilen, ob ein Fall gravierend genug ist, um eine Hilfe zu verantworten, ist auch dann, wenn sie nur einmal Hilfe leisten, ihr Handeln »auf Wiederholung« angelegt, da jederzeit ein weiterer Patient die-
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Das ärztliche Ethos
selben Kriterien erfüllen kann. Das ärztliche Ethos, zumindest so, wie sie es interpretieren, gerät in Widerspruch zur Rechtslage. Auf der anderen Seite stehen beide, Rechtslage und Berufsordnung, in Widerspruch zu den Erwartungen der Öffentlichkeit. In über eine lange Reihe von Jahren wiederholten Umfragen zeigte sich, dass sich eine große Mehrheit der Deutschen den Notausgang eines ärztlich unterstützten Suizids bei tödlicher schwerer Erkrankung bzw. am Lebensende offenhalten möchte. In der Schweiz erbrachte eine kürzliche Umfrage sogar, dass eine Mehrheit wünscht, dass nicht nur mit Organisationen wie EXIT zusammenarbeitende Ärzte, sondern auch ihre jeweiligen Hausärzte im Bedarfsfall tödliche Mittel zur Lebensbeendigung verschreiben können. Wie sich die unübersehbare Spannung zwischen den Instanzen Ethosverständnis der Ärzteschaft, Rechtslage und Erwartungen der Öffentlichkeit auflösen wird, ist zur Stunde noch offen. Zu hoffen ist, dass sie zumindest so weit aufgelöst wird, dass es nicht bei dem gegenwärtigen Zustand der Verunsicherung bleibt.
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Die Bedeutung der Medizintheorie für ein angemessenes Verständnis der ethischen Implikationen der Medizin: Überlegungen in Anlehnung an Karl Eduard Rothschuh 1 Thomas Schramme Abstract: Der Beitrag verbindet Überlegungen zum Krankheitsbegriff mit der Frage, was die Medizin als Institution ausmacht, speziell worin ihre Ziele bestehen. Der übergeordnete Fokus dieses Vorgehens besteht darin, die Bedeutung medizintheoretischer Überlegungen für die ethische Bewertung bestimmter Entwicklungen der medizinischen Praxis aufzuzeigen. Das Zentrum bildet dabei Karl Eduard Rothschuhs Konzeption der theoretischen Medizin, insbesondere die Frage nach ihrer Funktion. Es wird aufgezeigt, dass Rothschuh der Medizintheorie wichtige Aufgaben zugeschrieben hat, die ihre Orientierungs- und Rechtfertigungsfunktion genannt werden. In Anlehnung an seinen Ansatz wird behauptet, dass die Medizintheorie aufgrund ihrer ethischen Implikationen tatsächlich diesen Funktionen nachkommen kann. Gleichwohl können die normativen Fragen, welche die moderne Medizin umranken, nicht durch theoretische Überlegungen allein gelöst werden.
Einleitung In diesem Beitrag werde ich Überlegungen zum Krankheitsbegriff mit der Frage verbinden, was die Medizin als Institution ausmacht, speziell worin ihre Ziele bestehen. Der übergeordnete Fokus dieses Vorgehens besteht darin, die Bedeutung medizintheoretischer Überlegungen für die ethische Bewertung bestimmter Entwicklungen der medizinischen Praxis aufzuzeigen. Das Zentrum bildet dabei Karl Der vorliegende Text beruht auf der Karl-Eduard-Rothschuh-Vorlesung, die ich unter dem Titel »Der Krankheitsbegriff und die Ziele der Medizin« an der Universität Münster am 12. 7. 2010 gehalten habe. Der Vortragscharakter des Beitrags wurde versucht beizubehalten. Der Text wurde für den Zweck dieser Publikation überarbeitet. Ich danke den Teilnehmern der Tagung »Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen« in Magdeburg im Februar 2017 für hilfreiche Anmerkungen.
1
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Die Bedeutung der Medizintheorie
Eduard Rothschuhs Konzeption der theoretischen Medizin, insbesondere die Frage nach ihrer Funktion. Ich möchte aufzeigen, dass Rothschuh der Medizintheorie wichtige Aufgaben zugeschrieben hat, die ich ihre Orientierungs- und Rechtfertigungsfunktion nenne. In Anlehnung an seinen Ansatz werde ich behaupten, dass die Medizintheorie aufgrund ihrer ethischen Implikationen tatsächlich diesen Funktionen nachkommen kann. Gleichwohl können die normativen Fragen, welche die moderne Medizin umranken, nicht durch theoretische Überlegungen allein gelöst werden. Insofern ich die genannten Funktionen in den Blick nehme, betreibe ich nicht Medizintheorie, sondern versuche, eine Metafrage zu beantworten, nämlich die Frage – etwas großspurig gesprochen – welchen Platz die theoretische Medizin in unserer Welt einnimmt. Neben dieser zentralen übergeordneten Frage stelle ich aber auch an einigen Stellen, wenn es um Krankheitsbegriff und Ziele der Medizin geht, genuin medizintheoretische Überlegungen vor. Die Ziele der Medizin werden letztlich nicht rein theoretisch thematisiert, sondern innerhalb ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Da der Begriff der theoretischen Medizin nicht unbedingt jedem geläufig ist und zu Missverständnissen einlädt, soll hier ein kurzes Zitat Rothschuhs den Einstieg erleichtern: In seinem magistralen Werk Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart aus dem Jahr 1978 beschreibt Rothschuh die Theorie der Medizin in folgender Weise: Ich rechne dazu [d. h. zur Theorie der Medizin; TS] alle Prinzipien, die das Denken und Handeln des Arztes bestimmen, also z. B. die Axiome und normativen Grundlagen, die Lehre vom Selbstverständnis und den Aufgaben der Medizin, die Darstellung des systematischen Gesamtaufbaus der Medizin, die Grundsätze der wissenschaftlich-medizinischen Anthropologie, die Prinzipien der Krankheitslehre, die Prinzipien der Urteilsbildung und des Erkennens (Erkenntnismethodologie) am Krankenbett, mit denen das Handeln theoretisch begründet wird. 2
Man kann also sagen, dass die Theorie der Medizin tatsächlich die Fundamente des medizinischen Handelns betrifft. Gewappnet mit dieser Aussage wollen wir nun sehen, welche Funktionen die theoretische Medizin erfüllen kann.
2 Karl Eduard Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1978, S. 9.
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Thomas Schramme
1.
Theoretische Medizin als Orientierung und Rechtfertigungshilfe
Ich möchte meine Überlegungen mit zwei Beobachtungen Rothschuhs beginnen, die meines Erachtens beide für unsere heutige Situation nach wie vor typisch, relevant und außerdem eng miteinander verknüpft sind. Die zeitliche Entfernung der beiden Gedanken in Rothschuhs Werk und ihre gleichzeitige inhaltliche Nähe scheinen mir ein Hinweis darauf, dass es sich um zentrale Ideen und dauerhafte Überzeugungen seines Denkens handelt. Die erste Beobachtung stammt aus Rothschuhs Aufsatz von 1935 mit dem Titel Theoretische Medizin? Er sieht dort die Notwendigkeit, sich mit der theoretischen Medizin zu befassen, in der historischen Situation begründet. Es handelt sich, so Rothschuh, um eine »Zeit des Übergangs«. Rothschuh schreibt: Weltanschauungen, philosophische Theoreme, Ideale stürzen zusammen, wissenschaftliche Sätze von großer Bedeutung erscheinen plötzlich als Trug entlarvt, ein neues Bild von Mensch und Volk und Welt, eine neue Tafel von Werten mit sich führend, steigt herauf. Das alles zwingt gebieterisch die Nachdenklichen, und das sind die besten Köpfe der Zeit, zu einer Besinnung auf die Fundamente ihres Denkens und Handelns. Das bedeutet, allgemein gesprochen, als einfache Feststellung gegeben, eine allgemeine Wendung der Zeit zur Selbstbesinnung auf die Fundamente, zum Bedürfnis, Denken und Handeln theoretisch zu rechtfertigen, damit schließlich zur Philosophie. 3
Dieser allgemeine Befund, die Besinnung auf orientierende Maßstäbe in Zeiten des Übergangs, gilt Rothschuh zufolge in besonderem Maße für die Medizin, denn sie ist, so kann man seine Auffassung reformulieren, nicht nur Wissenschaft, sondern immer auch und in erster Linie Praxis – und damit ist die Medizin in engster Weise mit elementaren Fragen des Lebens verbunden. Ich will hier keine Rothschuh-Exegese betreiben und werde daher nicht weiter vertiefen, was im Detail theoretische Medizin ist und wie sie betrieben werden soll, etwa ob sie eine wissenschaftliche Disziplin darstellt. Mir reicht für meine Zwecke das eingangs vorge-
Karl Eduard Rothschuh: »Theoretische Medizin? Begründung ihrer Notwendigkeit in der Gegenwart und eine Umreißung ihres Gebiets«, Klinische Wochenschrift 14/39 (1935), S. 1401–1405, hier S. 1401. 3
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Die Bedeutung der Medizintheorie
stellte Zitat. 4 Die zwei Bereiche, die in meinem Beitrag im Mittelpunkt stehen werden, der Krankheitsbegriff und die Ziele der Medizin, scheinen mir ohne Frage zur theoretischen Medizin zu gehören. Darüber hinaus reicht hier der Hinweis auf Rothschuhs Idee, dass – wie wissenschaftlich auch immer die theoretische Medizin tatsächlich ist – sie eine Orientierungsfunktion übernehmen kann. Diese Funktion kann sie wahrnehmen, wenn sie nicht nur die empirischen Aspekte des ärztlichen Wissens thematisiert, sondern die Grundlagen und Ausgangspunkte der Medizin. Die zweite Beobachtung Rothschuhs findet sich in seinem bereits erwähnten Buch Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart. Hier leitet er, in ähnlicher Weise wie eben geschildert, aus dem Rechtfertigungsbedürfnis des Arztes die Notwendigkeit der Theorie ab. Dieses große Theoriebedürfnis der Medizin hat seine besonderen Gründe. Wer, wie der Arzt, zum Handeln und Eingriff gezwungen ist und aufgrund seiner Beauftragung durch den Kranken eine besondere Aufgabe übernimmt, muss sein Handeln auch begründen und verantworten können, und zwar vor sich selbst und dem Kranken. Dieses Rechtfertigungsbedürfnis des Arztes ist wohl der Hauptgrund seines Theoriebedürfnisses. 5
Im späteren Werk spielt weniger die Orientierungsfunktion der theoretischen Medizin in einer als krisenhaft erlebten Zeit als vielmehr die Rechtfertigungsfunktion in Bezug auf das ärztliche Handeln eine Rolle. Während die erste, ältere Idee eine existentielle Komponente enthält, ist die zweite in erster Linie eine ethische Idee. Die Diskussionen um den Krankheitsbegriff und um die Ziele der Medizin stehen im Zentrum der theoretischen Medizin. Gemäß Rothschuh geht ein Verständnis dieser Begriffe sowohl mit einem bestimmten existentiellen Orientierungsversuch im Raum des menschlichen Lebens insgesamt einher als auch mit einem ethischen Rechtfertigungsversuch des medizinischen Handelns.
Soweit ich sehe, stellt Rothschuh einen noch zu entdeckenden Klassiker der Medizinphilosophie dar. Hilfreiche Auseinandersetzungen mit Aspekten seines Werks sind: Richard Toellner: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man historische Medizin? Karl Eduard Rothschuh und die historische Medizin«, Rothschuh-Vorlesung 2004, hhttp://www.sadegh-zadeh.de/publications/rothschuh-toellner.htmi (letzter Zugriff 11. 11. 2017), sowie Daniela Mergenthaler: »Medicine as task – Karl E. Rothschuh’s philosophy of medicine«, Medicine, Health Care and Philosophy 7 (2004), S. 253–260. 5 Rothschuh: Konzepte der Medizin, S. 1. 4
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Bevor ich mich mit dem Krankheitsbegriff und den Zielen der Medizin befasse, möchte ich im Geiste der existentiellen Gesichtspunkte bei Rothschuh einige Beobachtungen des modernen Medizinbetriebs voranschicken, die man durchaus so weit treiben könnte, dass man in den aktuellen Gegebenheiten ebenfalls eine »Zeit des Übergangs« identifizieren könnte. Diese zeitdiagnostischen Befunde können unter den Stichwörtern Medikalisierung und wunscherfüllende Medizin zusammengefasst werden.
2.
Medikalisierung und wunscherfüllende Medizin
Der Begriff der Medikalisierung ist eng verknüpft mit Ivan Illichs Kritik der Medizin, die sich in seinem Buch Die Nemesis der Medizin aus dem Jahr 1975 findet. 6 Gewöhnlich werden als ›Medikalisierung‹ diejenigen gesellschaftlichen Vorgänge bezeichnet, die in einer Umdeutung von nicht-medizinischen in medizinische Probleme münden. Ein Problem dieser Begriffsinterpretation besteht allerdings darin, dass sie entweder bloß deskriptiv beschreibt, inwiefern ein zuvor nicht dem medizinischen Bereich zugeschlagenes Lebensproblem nun zu einem medizinischen geworden ist. Damit würde einfach ein soziologischer Befund vorliegen, der als solcher keine normative Relevanz hat. Oder man müsste ein Kriterium dafür anbieten, warum ein bestimmtes Lebensproblem eben kein angemessenes oder legitimes Objekt der Medizin darstellt. Wir werden auf dieses Problem zurückkommen, wenn wir über die Ziele der Medizin sprechen, aber es scheint jetzt bereits möglich festzuhalten, dass ein solches Kriterium des legitimen Gebrauchs medizinischer Maßnahmen wiederum nicht leicht zu begründen ist. Betrachten wir kurz ein Beispiel zur Illustration: Im Herbst 2006 berichteten die behandelnden Ärzte der schwer geistig und körperlich behinderten, neunjährigen Ashley X aus Seattle, dass sie das Wachstum des Mädchens auf Antrag der Eltern und nach erfolgter Genehmigung durch ein klinisches Ethikkomitee mithilfe verschiedener medizinischer Interventionen gestoppt bzw. vermindert hatten, ins6 Vgl. Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin, München 1975. Der Begriff der Medikalisierung wurde insbesondere von Peter Conrad geprägt: Peter Conrad: The Medicalization of Society: On the Transformation of Human Conditions Into Treatable Disorders, Baltimore 2007.
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Die Bedeutung der Medizintheorie
besondere durch die langfristige Verabreichung hoher Dosen von Östrogen und die Entfernung der Gebärmutter. 7 Ziel war es, Ashleys Leben in der Familie zu gewährleisten. Die Pflege des Kindes wäre, so Ärzte und Eltern übereinstimmend, zu Hause nicht mehr möglich gewesen, wenn Ashley normal gewachsen und entsprechend schwer geworden wäre. Ein kurzer Blick auf diesen Fall scheint ausreichend, um festzuhalten, dass hier ein gesellschaftliches Problem – wie können wir umfassende und menschenwürdige Pflege in der Familie erreichen und garantieren? – durch einen medizinischen Eingriff zu lösen versucht wurde. Das ist Medikalisierung. Doch damit ist noch längst nicht alles gesagt – weder was die Analyse noch was die Bewertung des Falls angeht. In einer zumindest nicht vollkommen aus der Luft gegriffenen Deutung könnte man so weit gehen zu sagen, dass die medizinische Intervention die einzig realistische Möglichkeit war, unter sozialstaatlichen Bedingungen, wie sie in den USA nun einmal vorliegen, die bestmögliche Pflege für Ashley zu gewährleisten, nämlich die Pflege in der Familie. Dieses Beispiel steht für viele und daraus folgt, dass der Medikalisierungsbegriff alleine noch keine hinreichende Grundlage für Orientierung oder Rechtfertigung bietet, auch nicht im Sinne eines negativen Kontrasts. Insofern sollte man in der Feststellung von Medikalisierungsphänomenen nicht den Abschluss der kritischen Analyse sehen, sondern vielmehr den Beginn des Nachdenkens und Bewertens. So hat es kürzlich Nikolas Rose vorgeschlagen. 8 Demnach hätte der Begriff der Medikalisierung weiterhin seine Signifikanz innerhalb der ethischen Auseinandersetzung, ohne gleichzeitig das letzte Wort zu bekommen. Die Entwicklungen der modernen Medizin hin zu größerer Einwirkung auf das menschliche Leben insgesamt sowie die möglicherweise als Auswüchse zu bezeichnenden Entwicklungen der wunscherfüllenden Medizin sind, wie mir scheint, Anzeichen eines Krisenphänomens und einer tiefgehenden Orientierungslosigkeit. 9 Vgl. Daniel F. Gunther/Douglas S. Diekema: »Attenuating Growth in Children With Profound Developmental Disability«, Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine 160 (2006), S. 1013–1017. 8 Vgl. Nikolas Rose: »Beyond Medicalisation«, The Lancet 369 (2007), S. 700–702. 9 Zur Rede von wunscherfüllender Medizin siehe insbesondere den einschlägigen Sammelband von Matthias Kettner: Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt a. M. 2009. 7
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Thomas Schramme
Diese Krise und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit, das soll hier allerdings betont werden, ist keineswegs allein eine der Medizin oder gar der Mediziner, sondern in erster Linie eine der Gesellschaft insgesamt. Natürlich könnte man im Geiste Illichs die Medizin und insbesondere die pharmazeutische Industrie als allumfassende und skrupellose Agenten der Ausweitung des medizinischen Einflussbereichs sehen. Angemessener wäre es allerdings, die durchaus gewollte Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen für die Steigerung der Gesundheit und des individuellen Wohls durch Medizinkonsumenten nicht aus dem Blick zu verlieren. Medikalisierung ist heutzutage ein sowohl passiv erlebtes als auch aktiv ersehntes Phänomen. Gleichwohl entzündet sich an dieser Entwicklung ein tiefgreifendes gesellschaftliches Unbehagen. Inwiefern nun theoretische Medizin, in erster Linie der Krankheitsbegriff und die Idee der Ziele der Medizin, uns in dieser Situation existentieller und ethischer Verunsicherung Orientierung bieten können, das gilt es nun näher zu untersuchen.
3.
Der Krankheitsbegriff
Rothschuh unterscheidet zwischen verschiedenen Weisen, über Krankheit zu sprechen. Dies ist wichtig, da sich viele Missverständnisse in der Debatte über den Krankheitsbegriff daraus ergeben, dass häufig unklar ist, auf welchen Phänomenbereich eine bestimmte Interpretation oder Krankheitstheorie jeweils abzielt. Aussagen können auf den allgemeinen Begriff der Krankheit bezogen sein – auf die Kriterien, die bestimmen, in welchen Fällen Gesundheit fehlt. Sie können auch auf spezifische nosologische Einheiten – etwa Tuberkulose oder Schizophrenie – gerichtet sein, oder wiederum auf die Bedeutung von Krankheit im Leben des Menschen. Dies sind jeweils unterschiedliche Perspektiven, die aber häufig mit demselben Ausdruck ›Krankheit‹ bezeichnet werden. Rothschuh differenziert zwischen Krankheitskonzept – auch Krankheitsmodell genannt –, Krankheitsvorstellung und Krankheitsbegriff. Ein Krankheitskonzept dient in erster Linie dem Ordnen und Erklären und verbindet damit Wissen und Handeln des Arztes. Es handelt sich bei Krankheitskonzepten, wie Rothschuh festhält, um »durchdachte, systematisch formulierte und begründete Theorien von den Krankheitserscheinungen, ihrem Charakter, ihrer Ver244 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Die Bedeutung der Medizintheorie
ursachung und ihrer Regelmäßigkeit«. 10 Meines Erachtens sollte man hier besser von speziellen Krankheitsbegriffen oder vielleicht von Modellen nosologischer Einheiten sprechen. Der Ausdruck »Konzept« macht nebenbei auch deutlich, dass solchen Eingruppierungen von speziellen Krankheitsbegriffen eine absichtsvolle und gegebenenfalls interessenabhängige Komponente anhängt. In welcher Weise wir nosologische Einheiten, etwa Schizophrenie, Depression und bipolare Störung, voneinander unterscheiden, ist von historischen Entwicklungen und dem Stand der Forschung abhängig. Wie Rothschuh bemerkt, ist das medizinische Denken dabei von Beobachtungen von Regelmäßigkeit und dem Fokus auf Ursachen geprägt. Krankheitsvorstellungen sind Rothschuh zufolge »Auffassungen vom Anlass und Schauplatz beobachtbarer, konkreter Veränderungen im erkrankten Menschen« 11. Hier finden sich beispielsweise Theorien über die Ontologie von Krankheiten, also etwa Aussagen darüber, dass Krankheiten eine eigenständige Existenz besitzen oder in einer Unausgeglichenheit von Elementen des Organismus bestehen. Diese sind häufig keinesfalls Definitionen von Krankheit, sondern Beschreibungen bestimmter Aspekte von Krankheitsprozessen oder des Krankseins. Der Krankheitsbegriff wiederum ermöglicht, Objekte der Kategorie ›Krankheit‹ zuzuordnen und damit nach Zugehörigkeit zur Gruppe ›ist krank‹ zu klassifizieren, d. h. hier geht es um eine Definition des Ausdrucks ›Krankheit‹. Dazu benötigt man jeweils Kriterien, anhand derer die Zuordnung möglich ist, beispielsweise wenn man sagt: Krankheit ist ein regelwidriger Prozess, der Behandlungsbedürftigkeit mit sich bringt. Hier sind die Regelwidrigkeit des Prozesses und die Behandlungsbedürftigkeit die notwendigen und gemeinsam hinreichenden Kriterien der Feststellung von Krankheit. Ob dies gut geeignete Kriterien sind, sei dahingestellt, das interessiert uns an dieser Stelle nicht. Natürlich sind verschiedene solcher Kriterien denkbar und tatsächlich vorgeschlagen worden. Somit gäbe es entsprechend eine Vielzahl an Krankheitsbegriffen. Ein solches Ergebnis hielte ich allerdings terminologisch für misslich, und ich möchte daher auch hier eine leicht veränderte Terminologie vorschlagen und sagen, dass die verschiedenen Theorien über die Krankheitskriterien jeweils ver10 11
Rothschuh: Konzepte der Medizin, S. 8 Ebd.
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Thomas Schramme
schiedene Konzeptionen des Krankheitsbegriffs bieten. Dies hat die etwas verwirrende Folge, dass wir bei Übernahme und gleichzeitiger Veränderung und Ergänzung der Terminologie Rothschuhs nun sowohl von Krankheitskonzepten als auch von Krankheitskonzeptionen sprechen müssten. Es hätte aber den Vorteil, dass wir nur von einem allgemeinen Krankheitsbegriff im Singular ausgingen, der eben jeweils durch verschiedene Konzeptionen, also verschiedenen Kriterien der Krankheit, ausbuchstabiert wird. Der Krankheitsbegriff legt Kriterien fest, anhand derer ein Objekt der Klasse ›Krankheit‹ zugeordnet wird. Sehen wir uns Rothschuhs eigene Definition des Krankheitsbegriffs näher an. In seinem enorm lehrreichen Aufsatz »Der Krankheitsbegriff (Was ist Krankheit?)« aus dem Jahr 1972 beantwortet Rothschuh diese Frage folgendermaßen: »›Krankheit‹ ist der Zustand der subjektiven (oder-und) klinischen (oder-und) sozialen Hilfsbedürftigkeit eines Menschen infolge des Verlusts des abgestimmten Zusammenwirkens der physischen, psychischen oder psychophysischen Funktionsglieder des Organismus.« 12 Rothschuh definiert Krankheit dementsprechend als eine Art Funktionsstörung, die aber nur dann eine Krankheit manifestiert, wenn sie in einer Hilfsbedürftigkeit des Menschen mündet. Wichtig ist allerdings, dass eine Funktionsstörung im Krankheitsfall tatsächlich diese kausale Rolle hat, denn wir können uns viele Arten der Hilfsbedürftigkeit vorstellen, die kein Krankheitsurteil rechtfertigen würden, beispielsweise Erwerbsarbeitslosigkeit. Gleichwohl liegt bei einer Funktionsstörung, die nicht in Hilfsbedürftigkeit resultiert, nach Rothschuh keine Krankheit vor. Mit anderen Worten: Eine Funktionsstörung ist notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium für das Vorliegen von Krankheit. Zu dem Kriterium der Hilfsbedürftigkeit wiederum ist zu sagen, dass Rothschuh hier offenbar eine Disjunktion verschiedener Aspekte der Hilfsbedürftigkeit vorschwebt, die jeweils allein in Verbindung mit einer Funktionsstörung hinreichend für ein Krankheitsurteil sind. Der etwas eigenartige Ausdruck ›oder-und‹ könnte einfacher ausgedrückt werden, wenn man das hier naheliegende, einschließende ›oder‹ unterstellt. Natürlich kann jemand, der aufgrund einer Karl Eduard Rothschuh: »Der Krankheitsbegriff (Was ist Krankheit?)«, Hippokrates 43 (1972), S. 3–17; wiederabgedruckt und zitiert nach ders. (Hg.), Was ist Krankheit?, Darmstadt 1975, S. 397–420, hier S. 417.
12
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Die Bedeutung der Medizintheorie
Funktionsstörung subjektiv hilfsbedürftig ist, gleichzeitig auch in klinischer oder sozialer Hinsicht hilfsbedürftig sein. Rothschuhs Ansatz ist insgesamt viel versprechend, dennoch möchte ich einen meiner Ansicht nach zentralen Kritikpunkt nennen: Mir erscheint es unplausibel, die drei genannten Aspekte der Hilfsbedürftigkeit in einer Krankheitsdefinition zusammenzufassen. Rothschuh hat durchaus seine Gründe, die insbesondere mit seiner Idee einer Verortung des Phänomens Krankheit in der Trias Kranker, Arzt und Gesellschaft zu tun haben. Diese Aspekte scheinen mir durchaus einleuchtend und tatsächlich ein wichtiger Gliederungsgesichtspunkt zu sein. Mir geht es hier nur um die Vermengung in einer Krankheitsdefinition, die mir nicht notwendig zu folgen scheint. Betrachten wir zur Erläuterung dieses Problems folgendes Beispiel: Nehmen wir an, eine Funktionsstörung führe bei einer Person zu Arbeitsunfähigkeit und damit zu sozialer Hilfsbedürftigkeit, ginge aber mit keiner subjektiven oder klinischen Hilfsbedürftigkeit einher. Mir schiene es durchaus richtig, hier von »Krankheit« zu sprechen, aber trägt die Arbeitsunfähigkeit zur Feststellung von Krankheit irgendetwas bei? Nur dann, so scheint mir, wenn wir den Begriff »Krankheit« nicht mehr als im engen Sinne medizinischen Begriff verstehen. Ob die Person eine Krankheit hat, wird nicht durch ihre Arbeitsfähigkeit bestimmt. Es mag ein Arbeitsgericht interessieren, ob eine Person in diesem Sinne krank ist, aber aus der medizintheoretischen Perspektive ist das irrelevant. Zugegeben, eine Ärztin mag der betroffenen Person Arbeitsunfähigkeit attestieren, beispielsweise in einem Gerichtsprozess – aber dann agiert sie nicht als Medizinerin, sondern als juristische Fachgutachterin, und ihr Urteil wird sich in erster Linie auf die Feststellung einer Funktionsstörung beschränken. Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bzw. generell der sozialen Hilfsbedürftigkeit ist kein medizinisches Urteil. Wofür ich daher plädiere, ist eine Trennung der verschiedenen Kontexte, in denen wir über Krankheit sprechen. Wir würden dann tatsächlich zu verschiedenen Krankheitsbegriffen im Plural kommen. 13 Diese könnten wir erstens den klinischen, zweitens den individuellen bzw. subjektiven Krankheitsbegriff, und drittens den sozia13 Ich habe diese Fragestellung an anderer Stelle vertieft: Thomas Schramme: »Benötigen wir mehrere Krankheitsbegriffe? Einheit und Vielfalt in der Medizin«, in: Peter Hucklenbroich/Alena Buyx (Hg.), Wissenschaftstheoretische Aspekte des medizinischen Krankheitsbegriffs, Münster 2013, S. 85–103.
247 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Thomas Schramme
len Krankheitsbegriff nennen. Man könnte auch, um terminologisch besser unterscheiden zu können, neue Ausdrücke einführen. Im Englischen existiert eine größere Variabilität, da man hier von disease, illness und auch sickness sprechen kann, im Deutschen müsste man wohl neue Ausdrücke prägen oder bekannte umwidmen, etwa »pathologischer Zustand bzw. Prozess« (disease), »medizinisches Leiden« (illness) und »krankheitsbedingte Benachteiligung« (sickness). Auch Rothschuh kämpft mit diesem Problem und führt in der Folge lateinische Termini ein: aegritudo für die subjektive Perspektive, pathos und nosos für die pathologische bzw. klinische und insalubritas für die gesellschaftliche Sichtweise. Gleichwohl behält er alle Aspekte in einer einzigen Krankheitsdefinition bei, was ich für nachteilig halte. Kehren wir zu Rothschuhs eingangs genannten Überlegungen bezüglich der theoretischen Medizin zurück. Wir können nun fragen, ob einer oder mehrere der Krankheitsbegriffe für die Medizin eine Orientierungsfunktion übernehmen und gegebenenfalls auch ihre Praxis rechtfertigen können. Rothschuh selbst betont, dass der Ausgangspunkt des medizinischen Handelns immer das Erleben des kranken Patienten, seine Beschwerde, ist. Was aber heißt das genauer? Ist der primäre Fokus der Medizin die sich unwohl fühlende Person, unabhängig von der Frage, ob sie krank ist? Oder geht es um den leidenden Kranken, muss also zunächst entschieden werden, wer überhaupt als krank gelten kann? Und: Können diese Fragen durch die Medizintheorie beantwortet werden? Die moderne Medizin orientiert sich tatsächlich nicht bloß an Patienten, denn sie stellt Dienstleistungen zur Verfügung, die ausschließlich auf die Steigerung des Wohlergehens von Konsumenten gerichtet sind, nicht auf die Heilung von Krankheit. Hier ergeben sich zwei alternative Interpretationen des Geschehens: Zum einen könnte die Medizin sich in ihrer Praxis einfach vom Ausgangspunkt der Krankheit wegbewegen. Zum anderen könnte sie dem Krankheitsbegriff eine regulative Funktion zuschreiben und strikt zwischen Krankheitsbehandlung und darüber hinausgehenden Dienstleistungen unterscheiden. Die erstgenannte Interpretation wäre eine selbstbewusste und offene Version der Medikalisierung, die ich vorher unter dem Stichwort wunscherfüllende Medizin erwähnt habe. Wo allerdings, gleichsam zur Vertuschung des Charakters dieser Ausweitung des medizinischen Einflussbereichs, das Mäntelchen des Krankheitsbegriffs 248 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Die Bedeutung der Medizintheorie
beansprucht wird, da wird Medikalisierung betrieben, indem der Krankheitsbegriff in seiner Reichweite absichtlich ausgedehnt wird. Dies wäre insofern eine verdeckte Version der Medikalisierung. 14 Genau an dieser Stelle, so möchte ich behaupten, kommt nun die Orientierungsfunktion der theoretischen Medizin zu ihrem Recht. Denn eine überzeugende Analyse des Krankheitsbegriffs zeigt uns, dass bestimmte Entwicklungen der modernen Medizin als Medikalisierung und damit zumindest potentiell als problematisch anzusehen sind. Der Krankheitsbegriff bestimmt die Grenzen der genuin medizinischen Tätigkeit. Allerdings muss der Krankheitsbegriff theoretisch analysiert werden und darf nicht zum Spielball einer Ausweitung des medizinischen Handelns werden, um dieser Orientierungsfunktion nachkommen zu können. Dabei hilft uns auch Rothschuhs Analyse: Ihm zufolge führen nur Funktionsstörungen zu medizinischen Leiden. Das subjektive Unwohlsein der betroffenen Person alleine ist nicht hinreichend für ein Krankheitsurteil. Damit würde, zumindest in der logischen Rangfolge der Krankheitsbegriffe, die klinische Perspektive den Vorrang genießen, auch wenn das praktische Tätigwerden seinen Anlass im subjektiven Leiden des Patienten nimmt. Der logische Vorrang bestünde darin, dass nur pathologische Zustände auch als Krankheit im Sinne der subjektiven Perspektive gelten sollten. 15 Anders gesagt, illness kann nur dort vorliegen, wo disease gegeben ist. Die Medikalisierung von Lebensproblemen wäre insofern aus der Perspektive der theoretischen Medizin kritisch zu bewerten, denn dabei werden unerwünschte Zustände, die keinen Krankheitswert haben, in den Handlungsbereich der Medizin gezogen. Demnach wäre tatsächlich eine Orientierungs- und Rechtfertigungsfunktion der theoretischen Medizin zu verzeichnen, an dieser Stelle in Form eines ablehnenden Urteils gegenüber bestimmten Entwicklungen der modernen Medizin.
Insbesondere im Bereich der Psychiatrie wird die Gefahr einer Ausweitung des Krankheitsbegriffs häufig betont, zuletzt in Bezug auf das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder. 15 Zur Frage des logischen Verhältnisses zwischen dem »klinischen« und dem »subjektiven« Krankheitsbegriff siehe auch: Thomas Schramme, »What a Naturalist Theory of Illness Should Be«, in: Elodie Giroux (Hg.), Naturalism in Philosophy of Health: Issues and Implications, Heidelberg 2016, S. 63–77; sowie Thomas Schramme: »A Qualified Defence of a Naturalist Theory of Health«, Medicine, Health Care and Philosophy 10/1 (2007), S. 11–17. 14
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Thomas Schramme
Warum soll sich aber die Medizin in ihrer Praxis auf den Bereich der Krankheit beschränken? Gehört nicht auch ein positives Verständnis der Gesundheit, über die Abwesenheit von Krankheit hinaus, ebenfalls zur medizinischen Praxis? Zudem: Warum sollte die Medizin nicht auch wunscherfüllend wirken, wenn es ihr letztlich doch um das Wohl von Menschen geht? Diese Fragen scheinen auf den ersten Blick keine mehr zu sein, welche die theoretische Medizin selbst beantworten kann. Zwar ist festzuhalten, dass dort, wo Krankheit vorliegt, medizinisches Eingreifen gerechtfertigt ist und dass Krankheit nur vorliegt, wo ein pathologischer Zustand oder Prozess existiert. So weit kann uns die theoretische Medizin helfen. Aber das heißt nicht automatisch, dass bei fehlendem Vorliegen einer Krankheit medizinische Hilfe zur Steigerung des subjektiven Wohls nicht ebenfalls gerechtfertigt sein könnte. Um dieses Ansinnen wirklich zurückzuweisen und nicht nur als außerhalb des üblichen konzeptuellen Rahmens liegend zu problematisieren, so scheint es, benötigten wir eine Idee der angemessenen Ziele der Medizin. Leon Kass, ein prominenter US-amerikanische Bioethiker, versuchte in einer seiner früheren Schriften genau diesen Weg zu gehen, also über eine Untersuchung der Ziele der Medizin ihre Praxis auf bestimmte Weise zu beschränken. Er schrieb 1975: I am rather inclined to the old-fashioned view that health – or if you prefer, the healthy human being – is the end of the physician’s art. That health is a goal of medicine few would deny. The trouble is, so I am told, that health is not the only possible and reasonable goal of medicine, since there are other prizes for which medical technique can be put in harness. Yet I regard these other goals – even where I accept their goodness as goals – as false goals for medicine, and their pursuit as perversions of the art. 16
Doch lässt sich eine solche Beschränkung der medizinischen Praxis wiederum begründen?
4.
Die Ziele der Medizin
Kann uns die Diskussion über die Ziele der Medizin, die ebenfalls in den Bereich der theoretischen Medizin gehört, weiterbringen? InsLeon Kass: »Regarding the End of Medicine and the Pursuit of Health«, The Public Interest 40, S. 11–42; wiederabgedruckt und zitiert nach ders.: Towards a More Natural Science, New York 1985, S. 157–186, hier S. 159.
16
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Die Bedeutung der Medizintheorie
besondere: Können die Ziele der Medizin aus der Idee bzw. dem Wesen der Medizin selbst heraus begründet werden? Falls die Orientierungs- und Rechtfertigungsfunktion der theoretischen Medizin hier greifen sollen, so könnte man meinen, dann nur, wenn die Ziele der Medizin der Praxis der Medizin inhärent sind. Sollten sie extern determiniert sein, etwa durch gesellschaftliche und politische Vorgaben, dann erfolgten auch Orientierung und Rechtfertigung des medizinischen Handelns von außen. Ob beispielsweise die Medizin über Krankheitszustände hinaus das Leben von Menschen verbessern sollte, wäre demnach keine Frage, welche die Medizin selbst zu entscheiden hätte. Wohlgemerkt, hier geht es nicht um eine bloß empirische Frage, also darum, ob de facto die Ziele der Medizin durch die Gesellschaft gesteuert werden. Gemeint ist vielmehr, ob es eine Art Natur oder Essenz der Medizin gibt, welche die angemessenen Ziele ihrer Praxis vorgibt. Ich kann in diesem Beitrag keine so komplexe Frage wie die nach der eventuellen Natur der Medizin beantworten. Das ist vielmehr der übergreifende Fokus dieses Sammelbands. Uns soll hier ein prominentes Beispiel einer solchen Position genügen. Edmund Pellegrino hat an verschiedenen Orten für eine Interpretation der Medizin geworben, der zufolge die Ziele der Medizin sich aus ihrer Praxis ergeben. Pellegrino hat übrigens ebenso wie Rothschuh immer die Rechtfertigungsfunktion der Medizintheorie bzw. der Medizinphilosophie vor Augen. Ohne eine inhärente Zielvorgabe der medizinischen Praxis, so Pellegrino, wäre ihrer ethischen Degeneration Tür und Tor geöffnet. Da ich mich insbesondere auf die Frage konzentrieren will, ob überhaupt Ziele der Medizin aus ihrer Praxis abgeleitet werden können, werde ich den eben genannten Aspekt der Bewertung einer solchen Entwicklung ignorieren. Unabhängig davon wird man allerdings sicherlich festhalten können, dass Pellegrino ein übertriebenes Schwarz-Weiß-Denken an den Tag legt, wonach bei einer Ermangelung der inhärenten Zielhaftigkeit der Medizin gewissermaßen Sodom und Gomorrha drohen. Eine Alternative hierzu ist beispielsweise zu finden im Abschlussbericht The Goals of Medicine: Setting New Priorities des Hastings Centers aus dem Jahr 1996, in dem die angemessenen Ziele der Medizin in einer Art internationaler Konsensfindung identifiziert wurden. Die Liste enthält folgende, keineswegs arbiträre oder gar die ethische Identität der Medizin gefährdende Ziele: Die Vermeidung von Krankheit und Verletzung sowie die Beförderung und Aufrecht251 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Thomas Schramme
erhaltung der Gesundheit; die Linderung von Schmerz und Leiden, wo sie durch Krankheiten verursacht sind; Pflege und Heilung der Kranken und die Pflege derjenigen, die nicht geheilt werden können, sowie die Vermeidung frühzeitigen Todes und das Streben nach einem friedvollen Tod. 17 Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Methode des Hastings Centers bei der Ermittlung der Ziele der Medizin Raum lässt für Veränderungen, die in Folge einer entsprechenden gesellschaftlichen Gemütslage zum Zuge kommen könnten. Orientierung und Rechtfertigung der medizinischen Praxis sind dem Vorgehen zufolge durch die Gesellschaft, nicht durch die theoretische Medizin determiniert, und man fragt sich, warum nicht auch die Medikalisierung oder die wunscherfüllende Medizin durch passende gesellschaftliche Interessenlagen gerechtfertigt werden könnte. Zwar verbannt das Konsenspapier des Hastings Centers ausdrücklich den Einsatz medizinischer Mittel zur Verfolgung des individuellen Wohlergehens über die Beseitigung von Krankheit hinaus aus dem Bereich der akzeptablen Ziele der Medizin. 18 Doch gleichzeitig wird zugestanden, dass sich die gesellschaftlichen Einstellungen und damit die Ziele der Medizin ändern können. Karl Eduard Rothschuhs Denken scheint mir dieser Auffassung ebenfalls zuzustimmen, wenn er sagt, dass die Theorie der Medizin »zu den Leitideen des Zeitalters passen [muss], um glaubwürdig und plausibel zu sein« und dass sie »sich daher im Laufe der Geschichte vielfach gewandelt habe«; dass es demnach eine Pluralität von Konzepten der Medizin gebe. 19 Ich stimme dieser pluralistischen und historisch relativierten Sichtweise auf die Medizintheorie ebenfalls zu, möchte aber nun dennoch einen essentialistischen Ansatz zu Wort kommen lassen, da sich eine kritischere Haltung gegenüber bestimmten Entwicklungen der modernen Medizin dann ergeben könnte, wenn man Ziele aufzeigen kann, die der Medizin inhärent sind und daher nicht zum Spielball gesellschaftlicher Vorlieben werden. Die Idee, dass menschlichen Praktiken Ziele inhärent sind, ist ein aristotelischer Grundgedanke,
Vgl. Special Supplement: »The Goals of Medicine: Setting New Priorities.«, The Hastings Center Report 26/6 (1996), S. 1–27. 18 Vgl. ebd., section »Executive Summary«. 19 Karl Eduard Rothschuh: »Medicina Historica. Zum Selbstverständnis der historischen Medizin«, Janus 67 (1980), S. 7–19, hier S. 14. 17
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Die Bedeutung der Medizintheorie
und Pellegrino ist in der Tat stark von Aristoteles beeinflusst. Dabei steht er keineswegs alleine da: Beispielsweise hat auch ein so bekannter Neo-Aristoteliker wie Alasdair MacIntyre in seinen frühen medizintheoretischen Schriften ganz ähnliche Gedanken entwickelt. 20 Pellegrino unterscheidet inhärente Ziele (ends) der Medizin von Zwecken (goals, purposes), denen die medizinische Praxis zugeführt werden kann. Hier sei ein Vorrang zu beachten, denn die anvisierten Zwecke müssten immer an die Ziele rückgebunden sein. 21 Somit ergibt sich für Pellegrino durchaus ein Veränderungspotential der Medizin, welches durch gesellschaftliche Vorgaben gesteuert werden könne. Gleichzeitig setzen ihm zufolge die Ziele der Medizin den gesellschaftlichen Instrumentalisierungsgelüsten klare Grenzen und bewahren so ihre Integrität. Die Ziele der Medizin wiederum ergeben sich aus deren Praxis, die wesentlich in der Ausrichtung auf den kranken Patienten besteht. [W]e must assert the obvious: medicine exists because humans become sick. It is an activity conceived to attain the overall end of coping with the individual and social experience of disordered health. Its end is to heal, help, care and cure, to prevent illness, and cultivate health. 22
Ohne an dieser Stelle in die Details der Theorie Pellegrinos einsteigen zu können, ergibt sich gleichwohl, so denke ich, ein Ergebnis für die von mir gestellte Frage: Kann die Medizintheorie Orientierung und Rechtfertigung in einer krisenhaften Zeit geben? Die Antwort lautet, wie vorher bereits angedeutet: ja und nein. Einmal vorausgesetzt, dass Pellegrinos Auffassung der inhärenten Ziele der Medizin überzeugt, kann uns diese Analyse tatsächlich helfen, zu verstehen und zu begründen, warum beispielsweise die grausamen Menschenversuche mancher nationalsozialistischer Ärzte oder die politische Instrumentalisierung der Psychiatrie zur Aussonderung unbequemer Bürger dem Wesen der Medizin widersprechen. Doch die meisten der modernen Entwicklungen der Medizin, die Unwohlsein und Ängste hervorrufen, sind keineswegs eindeutig gegen die Ziele der Medizin gerichVgl. Alasdair MacIntyre: »How Virtues Become Vices: Values, Medicine and Social Context«, in: Tristram Engelhardt/Stuart Spicker (Hg.), Evaluation and Explanation in the Biomedical Sciences, Dordrecht 1975, S. 97–111. 21 Vgl. Edmund Pellegrino: »The Goals and Ends of Medicine: How Are They to be Defined?«, in: Mark J. Hanson/Daniel Callahan (Hg.), The Goals of Medicine: The Forgotten Issues in Health Care Reform, Washington 1999, S. 55–68, hier S. 65 f. 22 Ebd., S. 62. 20
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Thomas Schramme
tet, die ja immerhin auch Pellegrino zufolge darauf ausgerichtet sind, Individuen zu helfen, die unter gestörter Gesundheit leiden. Enhancement, Präimplantationsdiagnostik oder ärztliche Beihilfe zum Suizid, um nur einige Beispiele für medizinische Interventionen zu nennen, an denen sich das Unbehagen entzündet, sind ja nicht eindeutig unverbunden mit dem übergreifenden Ziel, Gesundheit zu erhalten bzw. mit eingeschränkter Gesundheit würdevoll umgehen zu können. Die Beispiele sind keine offensichtlichen Entartungen der angemessenen medizinischen Praxis, sondern möglicherweise nur konsequente Weiterentwicklungen der medizinischen Technologie im Sinne der traditionellen Ziele der Medizin. Somit kann uns die Theorie der Medizin in diesem Punkt nicht weiterhelfen, denn es gilt, eine Interpretation vorzunehmen, welche Entwicklungen der Medizin wir – als Gesellschaft – noch in Einklang sehen wollen mit einer angemessenen Idee der Medizin. Damit verlassen wir den Bereich der Medizintheorie, auch wenn wir mit ihr verbunden bleiben, da es bei dieser Debatte letztlich um die präferierte Deutung des Gesundheits- und Krankheitsbegriffs sowie der Ziele der Medizin geht. Die Medizintheorie kann also die ethischen Probleme nicht für uns lösen, doch sie kann uns helfen, unsere normativen Überlegungen zu strukturieren und zu fundieren.
5.
Schluss
In diesem Beitrag habe ich die Möglichkeiten und Grenzen der Medizintheorie untersucht, die sie einsetzen kann, um die medizinische Praxis zu orientieren und zu rechtfertigen, also um eine Doppelfunktion in existentieller und ethischer Hinsicht zu übernehmen. Dabei habe ich mich in erster Linie mit zwei Bereichen befasst: dem Krankheitsbegriff und den Zielen der Medizin. Vielleicht ist es übertrieben, die derzeitige Situation der Medizin als eine der existentiellen Krise zu interpretieren, aber mir scheint deutlich, dass Medikalisierung und die Entwicklungen zu einer wunscherfüllenden Medizin in weiten Teilen der Gesellschaft Unbehagen auslösen. Auch wenn diese Krise nicht durch die Medizintheorie gelöst werden kann, so hilft sie uns doch, in der gesellschaftspolitischen Debatte Argumente zu gewinnen, die uns helfen, zu begründeten Meinungen zu gelangen. Letztlich ist die medizinische Praxis als Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens auf nicht-medizinische Urteile angewiesen. Die Frage, 254 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Die Bedeutung der Medizintheorie
wie wir die Medizin gestalten sollten, ist eine, die verbunden ist mit der weit umfangreicheren Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Es wäre insofern nicht nur naiv, sondern sogar gefährlich, den politischen Kontext zu missachten, in dem Medizin betrieben wird. Die Theorie der Medizin kann uns demnach bei Orientierung und Rechtfertigung medizinischen Handelns tatsächlich unterstützen, aber diese Hilfe ist eingeschränkt auf die Bereitstellung der Elemente, die wir einsetzen, um über die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Institution, genannt Medizin, in gesellschaftlichen Kontexten nachzudenken. Zu diesen Elementen der Medizintheorie gehören – neben anderen – auch diejenigen, die in meinen Überlegungen zur Sprache kamen: eine kohärente Analyse des Krankheitsbegriffs sowie der Ziele der Medizin bei gleichzeitiger Sensibilität gegenüber deren historische Wandelbarkeit. Karl Eduard Rothschuhs Werk stellt einen in beispielhafter Weise gelungenen Ansatz in der Theorie der Medizin dar und ist damit ein wesentlicher Beitrag zur gesellschaftspolitischen Debatte über Gegenwart und Zukunft der Medizin. Es gilt, seine Schriften in kritischer Absicht zu studieren und als Steinbruch für neue Ideen zu verstehen, um letztlich zu einem den heutigen Gegebenheiten angemessenen Entwurf der theoretischen Medizin zu gelangen.
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin und ihre Bedeutung für die Medizinethik Héctor Wittwer
Abstract: Seit den 1970er Jahren hat eine Reihe von Autoren die These vertreten, dass die Medizin – im Unterschied zu anderen Berufen – keine Menge von moralisch neutralen Kenntnissen und Fertigkeiten sei, sondern dass sie über ein ihr inhärentes Ethos verfüge. Von dem Rekurs auf dieses sogenannte interne Ethos der Medizin erhoffen sich einige Autoren einen Beitrag zur Lösung der medizinethischen Fragen, über die gegenwärtig so kontrovers diskutiert wird. In dem Beitrag wird zunächst der Inhalt der These vom internen Ethos der Medizin anhand einschlägiger Publikationen ihrer Vertreter dargestellt. Dabei stößt man auf erhebliche Unterschiede zwischen ihren Versionen. Danach wird die methodologische Auffassung vertreten, dass sich dieses Ethos nur historisch-induktiv bestimmen lässt und dass die geschichtliche Rekonstruktion zu dem Ergebnis führt, dass es zwar ein allgemein anerkanntes internes Ethos der Medizin gibt, dass dieses jedoch aufgrund seiner Allgemeinheit nicht dafür geeignet ist, zur Klärung der gegenwärtig strittigen medizinethischen Fragen beizutragen.
1.
Einleitung
Unter den Bedingungen der Gegenwart kann man die Frage nach dem Wesen der Medizin aus verschiedenen Gründen stellen. Beispielsweise ist es von wissenschaftstheoretischem Interesse herauszufinden, um welche Art von Wissenschaft es sich bei der Medizin handelt, an welchen Kriterien ihr Erkenntnisfortschritt gemessen wird und welche Methoden für sie als Wissenschaft konstitutiv sind. 1 In Bezug auf die Gesundheitspolitik ist die Frage hingegen deshalb von Interesse, weil der Gesetzgeber und die Organe der Selbstverwaltung im GeVgl. dazu beispielsweise die Beiträge von Cornelius Borck, Jörg Frommer, Peter Hucklenbroich, Holger Lyre und Heiner Raspe in diesem Band.
1
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin
sundheitswesen, wie etwa der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), immer aufs Neue entscheiden müssen, was als Medizin anerkannt wird und somit grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherungen fällt und was als bloße Pseudomedizin aus dem Bereich der erstattungsfähigen Leistungen ausgeschlossen wird. Man kann die Frage nach dem Wesen der Medizin aber auch in der Hoffnung stellen, dass die Analyse des Begriffs der Medizin uns zu Lösungen für die Probleme verhelfen könnte, die in der Medizinethik so kontrovers diskutiert werden, und zwar teilweise bereits seit Jahrzehnten. Wenn man so vorgeht, dann verknüpft man die begriffliche Frage nach dem Wesen der Medizin mit der medizinethischen Frage, was Ärztinnen und Ärzte tun sollen, dürfen und nicht dürfen. Auf den ersten Blick mag diese Herangehensweise an das Problem der Wesensbestimmung der Medizin befremdlich erscheinen. Geht man von anderen menschlichen Tätigkeiten aus, so liegt es eher fern, sich von der begrifflichen Analyse einer Praxis Antworten auf berufsethische Fragen zu versprechen. Wer würde etwa behaupten, dass aus dem Wesen der Physik folgt, dass Physikern als Physikern bestimmte Handlungsweisen moralisch erlaubt oder geboten sind? 2 Die These, dass die Physiker, die an der Entwicklung der Atom- und der Wasserstoffbombe beteiligt waren, etwas Verwerfliches taten, ist zweifellos eine ernst zu nehmende Behauptung. Man wird sie aber kaum mit dem Hinweis darauf stützen können, es sei im Wesen der Physik begründet, dass Physiker nicht an der Entwicklung neuartiger Waffen mitwirken dürfen. Stattdessen wird man in diesem Fall auf allgemeine moralische Pflichten verweisen. Ähnlich verhält es sich mit anderen menschlichen Tätigkeiten wie etwa dem Handel, dem Bauhandwerk oder dem Flugzeugbau. Die Herstellung von Bombern und Jagdflugzeugen mag verwerflich sein; aber wenn sie es sein sollte, dann sicherlich nicht, weil es zum Wesen des Flugzeugbaus gehörte, dass er nicht der Kriegführung dienen dürfe. – Warum sollte es im Fall der Medizin anders sein? Wer so argumentiert, der übersieht nach Ansicht einiger einflussreicher Autoren die überaus wichtige Tatsache, dass die Medizin Unstrittig ist selbstverständlich, dass Physiker im Rahmen ihrer Forschung bestimmten moralischen Normen unterstehen. Sie dürfen z. B. die Ergebnisse von Versuchsreihen nicht manipulieren. Aber diese forschungsethischen Beschränkungen sind erstens nicht spezifisch für die Physik; vielmehr gelten sie für alle Wissenschaften. Zweitens lässt sich ihnen nicht entnehmen, zu welchen Zwecken physikalische Forschung betrieben werden darf.
2
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Héctor Wittwer
im Unterschied zu vielen anderen menschlichen Tätigkeiten moralisch nicht neutral ist. Anders als das Maurer- oder Schneiderhandwerk und die Physik sei die Medizin keine Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten, die man zum Erreichen beliebiger Zwecke einsetzen dürfe. Stattdessen sei es ein charakteristisches Merkmal der Medizin, dass sie ein sogenanntes internes Ethos aufweise. Weil der Bezug auf bestimmte moralische Ziele konstitutiv für die Tätigkeit der Ärzte sei, könne die nähere Bestimmung des Wesens der Medizin zumindest einen Beitrag zur Beantwortung medizinethischer Fragen leisten. Diese These ist seit den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in verschiedenen Versionen von Leon Kass, John Ladd, Edmund Pellegrino sowie von Howard Brody und Franklin Miller vertreten worden. 3 Der einflussreichste Kritiker dieser Auffassung ist Robert Veatch. 4 Auf den ersten Blick wird man der These vom internen Ethos der Medizin eine gewisse Plausibilität kaum absprechen können. Zumindest wird man einräumen müssen, dass es zum Wesen der Medizin gehört, dass sie auf das Wohl der Patienten abzielt, nicht darauf, ihnen zu schaden. Deshalb wird man auch anerkennen müssen, dass es sich bei der Medizin nicht um eine Menge von moralisch neutralen Kenntnissen und Fertigkeiten handelt, die zu beliebigen Zwecken ge3 Vgl. Leon Kass: »Regarding the end of medicine and the pursuit of health«, The Public Interest 40 (1975), S. 11–42; John Ladd: »The internal morality of medicine. An essential dimension of the physician-patient relationship«, in: Earl E. Shelp (Hg.), The Clinical Encounter, Dordrecht 1983, S. 209–231; Edmund Pellegrino: »Being Ill and Being Healed. Some Reflections on the Grounding of Medical Morality«, Bulletin of the New York Academy of Medicine 57 (1981), No. 1, S. 70–79; ders: »The Healing Relationship. The Architectonics of Clinical Medicine«, in: Earl E. Shelp (Hg.), The Clinical Encounter, Dordrecht 1983, S. 153–172; ders.: »The goals and ends of medicine. How are they to be defined?«, in: Mark J. Hanson/David Callahan (Hg.), The Goals of Medicine. The Forgotten Issues in Health Care Reform, Washington, D.C. 1999, S. 55–68; ders.: »Some Things Ought Never Be Done. Moral Absolutes in Clinical Ethics«, Theoretical Medicine and Bioethics 26 (2005), S. 469–486; Franklin G. Miller/Howard Brody: »Professional Integrity and Physician-Assisted Death«, The Hastings Center Report 25 (1995), S. 8–17; dies.: »The Internal Morality of Medicine. Explication and Application to Managed Care«, Journal of Medicine and Philosophy 23 (1998), S. 384–410; dies.: »The Internal Morality of Medicine. An Evolutionary Perspective«, Journal of Medicine and Philosophy 26 (2001), S. 581–599; dies./Kevin C. Chung: »Cosmetic Surgery and the Internal Morality of Medicine«, Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics 9 (2000), S. 353–364. 4 Vgl. Robert Veatch: »The Impossibility of a Morality Internal to Medicine«, Journal of Medicine and Philosophy 26 (2001), S. 621–642.
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin
braucht werden dürfen. Diese wichtige Feststellung lässt sich anhand eines konstruierten Falles, der hoffentlich niemals Wirklichkeit wird, illustrieren. Nehmen wir an, dass die Herrschenden in einem totalitären Staat unzufrieden mit der Tätigkeit der in ihrem Auftrag handelnden Folterer sind, weil zu viele Folteropfer frühzeitig sterben oder bewusstlos werden. Daher ordnen die Herrschenden an, dass an den Medizinischen Fakultäten des Landes ein neuer Studiengang eingerichtet wird, in dem professionelle Folterer ausgebildet werden sollen. Zu großen Teilen werden die Studierenden der Folterkunde die gleichen Kurse belegen müssen wie die Studierenden der Heilkunde. Auch sie müssen sich beispielsweise mit der Anatomie und Physiologie des Menschen beschäftigen. Im Großen und Ganzen erwerben sie also die gleichen Kenntnisse über den menschlichen Körper, seine Funktionsweise, über Funktionsstörungen und Krankheiten wie die angehenden Ärztinnen und Ärzte. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Studierenden besteht darin, dass die einen diese Kenntnisse erwerben, damit sie kranken Menschen helfen können, während die anderen den menschlichen Körper nur studieren, damit sie möglichst grausam foltern können. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Absolventen des Studiengangs »Folterkunde« Mediziner sind. Wie dieses fiktive Beispiel bestätigt, scheint es zum Wesen der Medizin zu gehören, dass die ärztliche Tätigkeit nicht darauf abzielen darf, Menschen zu schaden, sondern dass der Zweck der Heilung oder Gesunderhaltung für sie konstitutiv ist. So unbestreitbar diese Feststellung ist, so wenig aussagekräftig ist sie aber auch im Hinblick auf die medizinethischen Kontroversen der Gegenwart, solange sie nicht präzisiert wird. Abgesehen von der Sterbehilfe und der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, in Bezug auf die man zumindest darüber streiten kann, ob die Herbeiführung des Todes einer Patientin ihrem Wohl dienen kann, 5 zielt keine der derIm Rahmen dieses Beitrags kann ich nicht auf das Problem eingehen, ob die direkte aktive Sterbehilfe und die ärztliche Beihilfe zum Suizid mit der Norm vereinbar sind, dass Ärztinnen und Ärzte ihren Patientinnen und Patienten niemals schaden dürfen, sondern stets im Hinblick auf deren Wohl handeln müssen. Wie diese Frage zu beantworten ist, hängt davon ab, ob der Tod eines Menschen für diesen stets etwas Schlechtes ist oder ob der Tod für den Betroffenen auch etwas Gutes sein kann. Ich habe andernorts ausführlich dafür argumentiert, dass es für die Behauptung, dass der Tod unter allen Umständen ein Übel ist, keine überzeugende Begründung gibt (vgl. Héctor Wittwer: Selbsttötung als philosophisches Problem. Über die Rationalität 5
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Héctor Wittwer
zeit strittigen ärztlichen Handlungsweisen auf die Schädigung von Patienten ab. Möglicherweise sprechen gute moralische Gründe gegen die künstliche Befruchtung, die Präimplantationsdiagnostik, das Austragen fremder Kinder, die Verschreibung von Verhütungsmitteln, operative Geschlechtsumwandlungen, das Neuroenhancement oder die Schönheitschirurgie. Man wird gegen diese medizinischen Maßnahmen aber nicht einwenden können, dass sie den Betroffenen schaden. Vielmehr dienen sie alle dazu, bestimmte Wünsche der Patientinnen und Patienten zu erfüllen und ihnen auf diese Weise zu nützen. Als vorläufiges Ergebnis dieser einleitenden Überlegungen lässt sich Folgendes festhalten: Einerseits kann man vernünftigerweise kaum bestreiten, dass die Medizin u. a. durch ein ihr inhärentes Ethos konstituiert wird; andererseits scheint der Inhalt dieses internen Ethos so allgemein zu sein, dass der Rekurs auf dieses Berufsethos nichts zur Klärung medizinethischer Probleme beizutragen vermag. – Wenn man nun die These vom internen Ethos der Medizin unvoreingenommen und wohlwollend prüfen will, anstatt sie vorschnell zu verwerfen, dann muss man zunächst versuchen, das Wesen der Medizin einschließlich ihres inhärenten Ethos genauer zu bestimmen. Im Anschluss daran muss geprüft werden, ob das Resultat der begrifflichen Analyse für die Medizinethik fruchtbar gemacht werden kann. Aus dieser Überlegung ergibt sich die Gliederung des vorliegenden Beitrags. Im Folgenden wird zunächst die These vom internen Ethos der Medizin anhand einschlägiger Veröffentlichungen dargestellt (2). Danach soll die methodologische Frage gestellt werden, auf welche Weise sich das inhärente Ethos der Medizin bestimmen lässt, um einen Maßstab für die Beurteilung der These zu gewinnen (3). Daraufhin soll versucht werden, den Inhalt des internen Ethos der Medizin zu bestimmen (4). Im nächsten Schritt wende ich mich dem Thema zu, das im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht: Ist der Rekurs auf die innere Moralität der Medizin dazu geeignet, einen Beitrag zur Lösung derjenigen medizinethischen Probleme zu leisten, die seit Jahrzehnten strittig sind? (5). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse (6).
und Moralität des Suizids, Paderborn 2003, S. 211–254; ders.: Philosophie des Todes, Stuttgart 2009, S. 41–51).
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin
2.
Der Inhalt der These vom internen Ethos der Medizin
Bevor die These vom internen Ethos der Medizin kritisch geprüft werden kann, muss sie möglichst genau dargestellt werden. Dabei ist folgende Schwierigkeit zu berücksichtigen. Die einzelnen Versionen der These unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht. Erstens wird das Ethos der Medizin auf verschiedene Weise hergeleitet, und zweitens wird dessen Inhalt teilweise unterschiedlich bestimmt. In diesem Abschnitt soll es zunächst darum gehen, den Inhalt des internen Ethos der Medizin wiederzugeben. Mit dem methodologischen Problem seiner Herleitung werde ich mich im nächsten Abschnitt ausführlich beschäftigen. Im Folgenden werden drei verschiedene Auffassungen vom internen Ethos der Medizin zusammengefasst und miteinander verglichen, nämlich diejenigen von Miller und Brody, von Pellegrino und Kass. Eine besonders genaue inhaltliche Bestimmung des medizinischen Ethos findet sich in den Schriften von Franklin G. Miller und Howard Brody. Ihnen zufolge besteht dieses Ethos aus (i) inhärenten Zielen der Medizin, (ii) rollenbezogenen Pflichten und (iii) klinischen Tugenden. 6 Im Anschluss an die zuerst im Hastings Center Report veröffentlichten Ergebnisse des internationalen Goals of Medicine Project benennen sie vier Ziele der Medizin: »(i) ›the prevention of disease and injury and promotion and maintenance of health‹ ; (ii) ›the relief of pain and suffering caused by maladies‹ ; (iii) ›the care and cure of those with a malady, and the care of those who cannot be cured‹ ; and (iv) ›the avoidance of premature death and the pursuit of a peaceful death‹ […]«. 7 Diese vier Ziele gehen einerseits weit über die Verhinderung und Heilung von Krankheiten hinaus, andererseits sind alle Ziele auf Krankheiten und deren Auswirkungen bezogen. So wird beispielsweise unter (ii) die Linderung von Schmerz und Leid nicht schlechthin als Aufgabe der Medizin bezeichnet, sondern einschränkend hinzugefügt, dass diese Linderung nur
Vgl. Franklin G. Miller/Howard Brody: »The Internal Morality of Medicine. An Evolutionary Perspective«, Journal of Medicine and Philosophy 26 (2001), S. 581– 599, hier S. 582. 7 Ebd. Vgl. zu den Ergebnissen der internationalen Arbeitsgruppe im Rahmen des Goals of Medicine Project »The Goals of Medicine. Setting New Priorities«, Hastings Center Report, Special Supplement, November-December 1996, S. 1–27, zu den vier Zielen der Medizin insbesondere S. 9–14. 6
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Héctor Wittwer
dann zu den Aufgaben der Medizin gehöre, wenn die Schmerzen oder das Leiden durch Krankheiten verursacht worden sind. Miller und Brody zufolge stellen die genannten Ziele der Medizin nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Bestimmung des medizinischen Ethos dar. Ergänzt werden müssten sie durch »a set of internal duties that constrain practices in pursuit of medical goals« 8. Im Einzelnen werden vier ärztliche Pflichten angeführt: (i) competence in the technical and humanistic skills required to practice medicine; (ii) avoiding disproportionate harms that are not balanced by the prospect of compensating medical benefits; (iii) refraining from the fraudulent misrepresentation of medicine as a scientific practice and clinical art; (iv) fidelity to the therapeutic relationship with patients in need of care. 9
Die inhärenten Ziele der Medizin und die ärztlichen Pflichten werden noch durch die sogenannten »klinischen Tugenden« ergänzt. Da diese allerdings im weiteren Verlauf der Überlegungen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, können sie hier unberücksichtigt bleiben. Im Vergleich zu Miller und Brody, die verhältnismäßig genaue Ziele und Pflichten formulieren, geht Edmund Pellegrino von dem denkbar allgemeinsten moralischen Grundsatz aus: »Do good and avoid evil is the primum principium of all ethics. All ethical systems, medical ethics included, must begin with this dictum, which means that the good must be the focal point and the end of any theory or professional action claiming to be morally justifiable.« 10 Im klinischen Kontext bestehe das Gute für den Patienten aus vier Elementen. Diese seien (i) »The Medical Good«, (ii) »The Patient’s Perception of the Good«, (iii) »The Good for Humans« und (iv) »Spiritual Good«. 11 Zwischen diesen vier Elementen des Guten können Pellegrino zufolge Spannungen auftreten; im Rahmen dieses Beitrags kann ich auf diese Probleme allerdings nicht näher eingehen. Im zweiten Schritt seiner Argumentation fragt Pellegrino, welchen Pflichten Kliniker unterworfen sein müssen, damit das ärztliche Miller/Brody, »The Internal Morality of Medicine. An Evolutionary Perspective«, S. 583. 9 Ebd. 10 Edmund Pellegrino: »The Internal Morality of Clinical Medicine. A Paradigm for the Ethics of the Helping and Healing Professions«, Journal of Medicine and Philosophy 26 (2001), S. 559–579, hier S. 577. 11 Ebd., S. 569–571. 8
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Handeln tatsächlich dem für die Patienten Guten dient. Wie bei Miller und Brody steht bei ihm die Verpflichtung zur medizinischen Kompetenz an erster Stelle: »Obviously the first moral requirement for any ethics of medicine must be competence because without it the physician’s promise to help is a lie. Competence is the indispensable requirement for technically right decisions and the first requirement for a good decision as well.« 12 Zweitens seien Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, die Patientinnen und Patienten dabei zu unterstützen, eine wohlüberlegte Entscheidung für oder gegen die indizierte Therapie fällen zu können: The physician has a moral obligation to conduct the decision reaching process so that the patient’s capacities to make his own decision are enhanced to the degree the illness permits. Disclosure of the information needed to make his decision, telling the truth about the patient’s condition, doing no harm, keeping promises, helping the patient to make a decision that is free, unmanipulated and authentically his own. 13
Diese Pflicht beschränke sich nicht auf die negativen Forderungen, nicht zu lügen und den Patienten keine Informationen vorzuenthalten. Darüber hinaus seien Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, die Patienten so zu informieren oder aufzuklären, dass diese selbst eine möglichst gut begründete Entscheidung treffen können: There is an obligation to take pains necessary to assure that the patient understands the alternatives, the dangers and benefits, the costs, chances of success, limitations of the procedure or treatment. The patient must be helped, too, to make a decision that is authentic, that reflects his values, and he must be helped to discern and identify those values before he decides. 14
Schließlich betont Pellegrino, dass die ärztliche Hilfsplicht nicht endet, sobald sich herausgestellt hat, dass eine Krankheit unheilbar ist: Finally, there is an obligation to help the patient cope with or adjust to a disease that is incurable, progressive, or imminently fatal. The physician need not do all of this himself but he has a major responsibility to see that these dimensions are exposed, and attended to by family, friends, or spiri-
Edmund Pellegrino: »The Healing Relationship. The Architectonics of Clinical Medicine«, in: Earl E. Shelp (Hg.), The Clinical Encounter, Dordrecht 1983, S. 153–172, hier S. 167. 13 Ebd., S. 168. 14 Ebd. 12
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tual advisers. To do this requires some measure of compassion – the capacity to feel something of this patient’s experience of illness. 15
In einer neueren Veröffentlichung hat Pellegrino das interne Ethos der Medizin in folgenden Regeln zusammengefasst: »Do Not Kill« »Act For the Good of the Patient« »Solemn Promises Must Never be Broken« »Never Compromise the Inherent Dignity of the Patient« »Never Lie« »Formal Complicity With Evil is Never Justified« 16
Im Vergleich zu den älteren Publikationen fällt auf, dass Pellegrino zwei neue Pflichten in seine Liste aufgenommen hat; zumindest sind sie früher nicht explizit erwähnt worden: das Tötungsverbot und das Verbot der Komplizenschaft mit dem Bösen. Das Tötungsverbot für Ärztinnen und Ärzte begründet Pellegrino folgendermaßen: Physicians must never kill. Nothing is more fundamental or uncompromising as this moral absolute. Nothing is more contrary than killing to the ends of medicine as a healing art. […] With the legalization of abortion, and more recently of assisted suicide in the state of Oregon, killing patients for reasons of compassion, convenience, or the quality of their lives, has been legitimated. […] Killing can never become healing. It is by definition a denial of the first end of medicine – acting for the good of the patient. 17
Diese Begründung ist in zweierlei Hinsicht angreifbar. Da eine Ärztin, die Beihilfe zum Suizid leistet, selbst niemanden tötet, muss man sich erstens nicht der Auffassung anschließen, dass die Beihilfe zu einer Selbsttötung unter das Tötungsverbot fällt. Pellegrinos sehr weite Auslegung dieses Verbots ist durchaus nicht zwingend. Zweitens ist die Voraussetzung, dass die Beendigung des Lebens immer etwas Schlechtes für die Betroffenen ist, nicht ohne Weiteres plausibel. 18 Auch die zweite der beiden neuen ärztlichen Pflichten, das Verbot der Komplizenschaft mit dem Bösen, beruht auf einer Voraussetzung, die nicht von allen geteilt wird: »Formal cooperation is however absolutely, and always, forbidden. This is the case when the clinician Ebd. Edmund Pellegrino: »Some Things Ought Never Be Done. Moral Absolutes in Clinical Ethics«, Theoretical Medicine and Bioethics 26 (2005), S. 475–482. 17 Ebd. 18 Vgl. dazu meine in Fn. 5 genannten Arbeiten. 15 16
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shares the evil intent, partakes directly and freely, or in a way facilitates an intrinsically evil act like abortion or assisted suicide.« 19 Die Annahme, dass Abtreibung und ärztliche Beihilfe zum Suizid »intrinsisch böse« sind, ist nicht nur innerhalb der philosophischen Ethik und der öffentlichen Debatten umstritten; sie wird nicht einmal von allen Medizinern geteilt. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, wie sich Pellegrinos Behauptung, dass die Verbote der Abtreibung und der Suizidbeihilfe Bestandteile des internen Ethos der Medizin seien, begründen lässt. Auf dieses Problem werde ich im nächsten Abschnitt eingehen. Zuvor soll noch ein dritter Vertreter der These vom internen Ethos behandelt werden. Unter allen Anhängern der Ethos-These ist Leon Kass zweifellos der radikalste. Kass geht davon aus, dass sich die besonderen ärztlichen Pflichten nur durch Rekurs auf das Ziel der Medizin (the end of medicine) ermitteln lassen. Dieses Ziel wird von ihm vergleichsweise restriktiv allein als Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit bestimmt. Kass widerspricht ausdrücklich denen, die behaupten, dass Gesundheit nur eines von mehreren Zielen der Medizin sei. Die ärztliche Kunst ziele ausschließlich auf Gesundheit ab. Bei allen anderen vermeintlichen Zielen der Medizin, wie etwa Glück oder Verhaltensmodifikation, handle es sich um »false goals« 20. Gesundheit dürfe mit diesen Pseudozielen nicht verwechselt werden: »Health is different from pleasure, happiness, civil peace and order, virtue, wisdom, and truth.« 21 Die Annahme, dass die Medizin ausschließlich für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit zuständig ist, impliziert, dass alle von Ärzten durchgeführten Maßnahmen, die nicht der Gesundheit dienen, keine medizinischen Handlungen sind, sondern »perversions of the art« 22. Als Beispiele nennt Kass u. a. the now generally accepted practices of performing artificial insemination or arranging adoptions, performing vasectomies for non-medical reasons (i. e., for family planning), dispensing antibiotics or other medicines simply because the patient wants to take something, as well as some activities of psychiatrists and many of cosmetic surgeons (e. g., where the surgerey does
Pellegrino, »Some Things Ought Never Be Done«, S. 481 f. Leon Kass: »Regarding the end of medicine and the pursuit of health«, The Public Interest 40 (1975), S. 11–42, hier S. 13. 21 Ebd., S. 18. 22 Ebd., S. 13. 19 20
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not aim to correct inborn or acquired abnormality or deformity). I would also add the practice, now being advocated more and more, of directly and painlessly killing a patient who wants to die. All these practices, the worthy and the unworthy alike, aim not at the patient’s health but rather at satisfying his, albeit in some cases reasonable, wishes. They are not acts of medicine, but of indulgence or gratification, in that they aim at pleasure or at the satisfaction of some other desire, and not at health. 23
Vergleicht man die drei hier vorgestellten Versionen der These vom inneren Ethos der Medizin miteinander, so fällt auf, dass sie sich beträchtlich voneinander unterscheiden. Während beispielsweise Kass zufolge Mediziner nichts tun dürfen, was nicht auf die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit abzielt, behaupten sowohl Miller und Brody als auch Pellegrino, dass Gesundheit nicht das einzige Ziel der Medizin ist. Während nach Kass und Pellegrino die ärztliche Beihilfe zum Suizid unvereinbar mit dem internen Ethos der Medizin ist, vertreten Miller und Brody die These, dass diese Handlungsweise nicht gegen die berufliche Integrität von Ärztinnen und Ärzten verstößt. 24 Folgt man Pellegrino, dann gehört das Gebot der Achtung vor der inhärenten Würde der Patienten zum medizinischen Berufsethos, bei den anderen Autoren kommt diese Annahme hingegen nicht vor. Die Tatsache, dass die einzelnen Varianten der Ethos-These sich teilweise beträchtlich voneinander unterscheiden, ist erklärungsbedürftig, und sie wirft ein Problem auf, für welches die Anhänger dieser These eine Lösung finden müssen. Erklärungsbedürftig ist sie, weil man erwarten dürfte, dass sich über das interne Ethos der Medizin zumindest unter Spezialisten leicht Einigkeit erzielen lässt. Kann ein Ethos, das einer Praxis angeblich inhärent ist, denjenigen, die sich an dieser Praxis beteiligen oder als Theoretiker über sie nachdenken, gänzlich oder teilweise verborgen bleiben? Wenn ja, dann stellt sich die Frage, inwiefern es sich hier tatsächlich um ein »internes« Ethos handelt. Das Problem, welches durch die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Inhalt der ärztlichen Moral aufgeworfen wird, besteht darin, dass geklärt werden muss, wie sich entscheiden lässt, welche Version der These vom internen Ethos der Medizin die richtige
Ebd., S. 13 f. Vgl. Franklin G. Miller/Howard Brody: »Professional Integrity and PhysicianAssisted Death«, The Hastings Center Report 25 (1995), S. 8–17, hier insbes. S. 12 u. 16.
23 24
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin
ist. Dieses Problem verweist auf die methodologische Frage, die im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts steht.
3.
Wie lässt sich das interne Ethos der Medizin bestimmen?
Das interne Ethos der Medizin kann nur bestimmt werden, wenn zuvor geklärt worden ist, was Medizin ist. Die Beantwortung dieser Frage ist mit einem methodologischen Problem verbunden. Offensichtlich unterscheidet sich die Frage nach dem Wesen der Medizin von anderen Wesensfragen der Art Was sind Tiger?, Was ist Wasser? oder Was sind Eichen?, weil die Medizin im Unterschied zu Tigern, Wasser und Eichen – wie man in der Philosophie sagt – keine natürliche Art ist. Was Tiger sind, hängt nicht von uns Menschen, sondern von der Natur ab. Deshalb kann und muss sich die Definition oder Explikation des Begriffs »Tiger« daran orientieren, was Tiger sind. Dieser externe Maßstab für die Angemessenheit des Begriffs steht uns in Bezug auf die Medizin nicht zur Verfügung. Die Medizin als Menge von Kenntnissen, Fertigkeiten, Tätigkeiten und Institutionen ist im weiten Sinn des Wortes ein Soziofakt. Tiger, Wasser und Eichen existierten bereits, bevor die Menschheit entstand, und ihr Wesen ist unabhängig von unseren Überzeugungen und Wünschen. Die Medizin hingegen gäbe es ohne menschliche Gesellschaften nicht. Deshalb kann man den Begriff der Medizin nur klären, indem man fragt, was unter »Medizin« verstanden wird. Unabhängig von Menschen gibt es sie nicht. Etwas überspitzt ausgedrückt, kann man sagen: Medizin ist das, was Menschen darunter verstehen. Damit soll nicht behauptet sein, dass es jedem Einzelnen freisteht, dem Wort »Medizin« eine beliebige Bedeutung zu geben. Man braucht nicht eigens auf Ludwig Wittgensteins Argumente gegen die Möglichkeit einer Privatsprache zurückzugreifen, um einzusehen, dass der Bereich dessen, was man sinnvollerweise unter Medizin verstehen kann, durch die Tradition und die allgemein anerkannte medizinische Praxis eingeschränkt wird. Wenn beispielsweise jemand behauptete, Medizin sei die Kunst, andere Menschen durch Reden zu bestimmten Überzeugungen zu bringen, dann hätte er offenbar nicht verstanden, was allgemein als Medizin gilt, und die Bedeutungen der Wörter »Rhetorik« und »Medizin« verwechselt. Meine These, dass Medizin das ist, was Menschen darunter verstehen, besagt also nicht, dass einzelne Menschen willkürlich festlegen können, was Medizin 267 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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ist. Vielmehr wird die geläufige Bedeutung des Wortes »Medizin« durch eine gesellschaftliche Praxis konstituiert und grob umrissen. Dass die Medizin vor allem darauf abzielt, Krankheiten zu verhindern oder zu heilen, dass sie auf Kenntnissen über den menschlichen Körper und dessen Funktionsweise beruht und dass sie Fertigkeiten der Behandlung umfasst, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Das Problem besteht allerdings darin, dass der semantische Konsens auf die soeben genannten Merkmale beschränkt ist. Sobald man darüber hinausgeht und etwa fragt, ob die Linderung von Schmerzen, die durch unheilbare Krankheiten bedingt sind, ob die Obduktion von Leichen zum Zweck der Aufklärung von Verbrechen, ob die Unterstützung bei der Empfängnisverhütung, der Schwangerschaftsabbruch oder die Ermöglichung von Schwangerschaften durch technische Unterstützung ebenfalls medizinische Tätigkeiten sind, besteht keine Einigkeit mehr über die Bedeutung des Wortes »Medizin«. Hier gehen die sprachlichen und moralischen Intuitionen auseinander. Das Gleiche gilt offenbar für das interne Ethos der Medizin. Einigkeit herrscht darüber, dass Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtet sind, kranken Menschen zu helfen. Ob sie darüber hinaus auch Maßnahmen durchführen dürfen oder gar sollen, die nicht auf die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit ausgerichtet sind, ist hingegen umstritten. Wenn nun die These vom internen Ethos der Medizin einen Beitrag zur Lösung strittiger medizinethischer Fragen leisten soll, dann müssen ihre Anhänger eine Lösung für das soeben dargestellte methodologische und inhaltliche Problem finden. Das Problem besteht, kurz gesagt, darin, dass einerseits – methodologisch betrachtet – Wesen und Ethos der Medizin nicht unabhängig davon bestimmt werden können, was Menschen unter »Medizin« verstehen, und dass andererseits – in Bezug auf den Inhalt dieses Ethos – keine Einigkeit darüber besteht, was Mediziner über Prävention und Therapie hinaus tun dürfen oder sollen. Zu prüfen ist nun, ob es den Vertretern der These vom internen Ethos der Medizin gelungen ist, eine überzeugende Lösung für dieses Problem zu finden. Grundsätzlich lassen sich die Versionen der These vom internen Ethos der Medizin in Bezug auf die Herleitung dieses Ethos zwei Typen zuordnen, die hier als essentialistischer und als rekonstruktiver Typ bezeichnet werden sollen. 25 Gemäß der essentialistischen Vor25
Ich nehme hier in modifizierter Form einen Vorschlag von John D. Arras auf. Arras
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin
gehensweise hat die Medizin ein von menschlichen Überzeugungen unabhängiges Wesen, welches den Maßstab für die korrekte Bestimmung des medizinischen Ethos bildet. Die Varianten des rekonstruktiven Typs gehen hingegen übereinstimmend davon aus, dass Wesen und Ethos der Medizin anhand menschlicher Überzeugungen, Praktiken und Institutionen rekonstruiert werden müssen. Aus dem am Anfang dieses Abschnitts genannten Grund muss die essentialistische Herangehensweise verworfen werden. Zwar ist es grundsätzlich möglich, auch im Hinblick auf Artefakte und soziale Phänomene nach deren Wesen zu fragen. Beispielsweise ist die Frage, welche Eigenschaften wesentlich für einen Staat oder eine Schule sind, nicht abwegig. Sofern die Frage nach dem internen Ethos der Medizin jedoch auf der Voraussetzung beruht, dass die Medizin über ein Wesen verfügt, das unabhängig davon ist, was in menschlichen Gesellschaften unter »Medizin« verstanden wird, erübrigt sich die Frage. Der Rekurs auf das vermeintliche Wesen der Medizin und ihr vermeintliches Ethos ist dann nichts weiter als eine dogmatische Behauptung, von der man nicht weiß, wie sie sich bestätigen oder widerlegen ließe. Medizin existiert nur als soziale Praxis, die Voraussetzung eines von dieser Praxis unabhängigen Wesens kann aus begrifflichen Gründen nicht getroffen werden. Somit verbleibt nur der Weg der rekonstruktiven Bestimmung des Wesens und des internen Ethos der Medizin. Wenn man so vorgeht, muss man einerseits auf die Ergebnisse der medizinhistorischen Forschung zurückgreifen und andererseits auf das Selbstverständnis der heutigen Medizin Bezug nehmen. Zu fragen ist (i), ob es epochenund kulturübergreifende Merkmale der Medizin gibt, und (ii) ob sich ein einheitliches, universales Ethos der Medizin ausfindig machen lässt.
unterscheidet insgesamt vier Versionen der Ethos-These: »Essentialism«, »The practical condition account«, »Historical professionalism« und die »evolutionary perspective« (vgl. John D. Arras: »A Method in Search of a Purpose. The Internal Morality of Medicine«, Journal of Medicine and Philosophy 26 (2001), S. 643–662, hier S. 645). Im Hinblick auf das Ziel meiner Überlegungen können die feinen Unterschiede zwischen diesen vier Typen vernachlässigt werden. Die im Haupttext getroffene Unterscheidung zwischen zwei Typen reicht für meine Zwecke aus.
269 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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4.
Das interne Ethos der Medizin und die Geschichte der Medizin
Gibt es – über die Zuständigkeit für Krankheiten hinaus – epochenund kulturübergreifende Merkmale der Medizin? Ein flüchtiger Blick in ein beliebiges Überblickswerk zur Geschichte der Medizin wird einem zunächst einmal vor Augen führen, dass die Medizin im Verlauf ihrer Geschichte verschiedene Aufgaben hatte und dass sie sich verschiedenartiger Methoden bediente, um diese Funktionen zu erfüllen. Versuchsweise lassen sich die verschiedenen Ausprägungen der Medizin nach den folgenden Hinsichten systematisieren. Erstens unterliegen die Auffassungen davon, was Krankheiten sind und wodurch sie verursacht werden, starken Wandlungen. Die für uns heute selbstverständliche Annahme, dass Krankheiten körperlich oder geistig bedingte Funktionsstörungen des Körpers sind, stellt – historisch betrachtet – eher die Ausnahme als die Regel dar. Häufig wurden Krankheiten ganz anders gedeutet, z. B. als Ergebnis der Besessenheit durch Dämonen, 26 als göttliche Fügung 27 oder als Ergebnis des Einflusses der Sterne auf das menschliche Leben 28. Diego Gracia zufolge wurde der Gegensatz zwischen Gesundheit und Krankheit im Verlauf der Geschichte auf dreierlei Weise gedeutet: als Gegensatz zwischen (i) Gnade und Ungnade, (ii) Ordnung und Unordnung und (iii) Glücklichsein und Unglücklichsein. 29 Es ist wohl kaum überraschend, dass den unterschiedlichen Auffassungen von Krankheiten und ihren Ursachen auch verschiedene Therapiemethoden entsprachen. Wenn man Krankheit als Besessenheit durch einen Dämon begreift, dann muss man diesen Dämon austreiben oder besänftigen, um die Krankheit zu heilen. Wenn man hingegen der Humoralpathologie anhängt und annimmt, dass Krankheiten Störungen des Gleichgewichts zwischen den vier körperlichen Kardinalsäften sind, dann liegt es nahe, auf andere Therapieformen wie etwa den Aderlass oder das Schröpfen zurückzugreifen. Im Verlauf der Geschichte variiert nicht nur das Verständnis von Krankheit, ihren Ursachen und den geeigneten Therapien. Die einzelVgl. Wolfgang U. Eckart: Geschichte der Medizin, Berlin u. a. 21994, S. 6–11. Vgl. zu dieser Auffassung im antiken Griechenland ebd., S. 35. 28 Vgl. zur »Iatroastrologie« im Mittelalter ebd., S. 92. 29 Vgl. Diego Gracia: »What Kind of Values? A Historical Perspective on the Ends of Medicine«, in: Mark J. Hanson/Daniel Callahan (Hg.), The Goals of Medicine. The Forgotten Issue in Health Care Reform, Washington, D.C. 2007, S. 88–100, hier S. 88. 26 27
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nen Erscheinungsformen der Medizin unterscheiden sich zweitens im Hinblick darauf, für welche Krankheiten Ärzte überhaupt zuständig sind. Beispielsweise gehörte die Behandlung von Zähnen in Europa jahrhundertelang ebenso wenig zum Aufgabengebiet der Ärzte wie die Geburtshilfe. Seit 1215 war auch die Chirurgie im christlichen Kulturkreis für Jahrhunderte nicht mehr Teil der Medizin, sondern ein Handwerk, das nicht von Ärzten, sondern von entsprechenden Handwerkern ausgeübt wurde. 30 Drittens stellt die Entstehung der Lehre von den Geisteskrankheiten eine Zäsur in der Geschichte der Medizin dar, weil sie zur Folge hatte, dass der Begriff der Krankheit nicht mehr nur auf körperliche Funktionsstörungen beschränkt werden konnte. Alle bisher genannten Variationen betreffen die Vorstellung davon, was Krankheiten sind, wodurch sie verursacht werden und wodurch sie geheilt werden können. Darüber hinaus haben sich im Verlauf der Geschichte aber auch die Vorstellungen davon verändert, wofür Ärzte zuständig sind. Es war keineswegs immer allgemein anerkannt, dass die Medizin nur oder in erster Linie die Aufgabe hat, bestimmte Krankheiten zu bekämpfen. Stattdessen hatte die Medizin häufig auch andere Funktionen. In vielen Fällen hatten beispielsweise die Therapeuten die Aufgabe, die kultisch oder religiös verstandene Reinheit des Körpers der Patienten wiederherzustellen. Im Alten Ägypten war die Mumifizierung der Leichen der Pharaonen und ihrer Angehörigen eine wichtige medizinische Aufgabe. In der Gegenwart ist die Palliativmedizin in erster Linie dafür zuständig, Schmerzen zu lindern, die durch Krankheiten verursacht werden, die nicht geheilt werden können. Dass dies überhaupt eine Aufgabe der Medizin ist, stellt eine verhältnismäßig neue Auffassung dar. So heißt es etwa bei Hippokrates, der heutzutage so gern als Autorität herangezogen wird: »Die Ärzte lehnen mit Recht die Behandlung hoffnungslos Kranker ab.« 31 Was folgt aus alledem in Bezug auf den Begriff der Medizin und die Frage nach dem inhärenten Ethos der Medizin? Wenn man historisch-induktiv vorgeht, lässt sich erstens feststellen, dass Ärzte zumindest immer für die Bekämpfung einiger Krankheiten zuständig waren. Dieses funktionale Merkmal bildet den kleinsten gemeinVgl. Eckart, Geschichte der Medizin, S. 87. Hippokrates: »Die ärztliche Kunst«, in: ders., Ausgewählte Schriften, übers. u. hg. v. Hans Diller, Stuttgart 1994, S. 225–240, hier S. 233.
30 31
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samen Nenner aller Erscheinungsformen der Medizin oder den semantischen Kern des Begriffs »Medizin«. Dabei variierten allerdings die Vorstellungen davon, was Krankheit ist, stark. David Gracia fasst diesen Sachverhalt so zusammen: Medicine has not been a unique task throughout history. What we call medicine is a diverse set of ideas, methods, procedures, and practices that has been changing continuously from the beginning of human culture until now. The only point in common throughout history has been the goal of helping people overcome disease and promote health. But if we try to analyze the contents proper of those two terms, »health« and »disease«, we realize that over time their meaning has changed; a canonical or paradigmatic concept cannot be found for them. In other words, health and disease are not, as people and physicians generally thought, objective temporal facts, but cultural and historical values. 32
Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass in vielen Fällen die Verhinderung oder Heilung von Krankheiten nicht die einzige Aufgabe der Medizin war. Häufig kamen andere Funktionen hinzu. Diese stehen weder praktisch noch theoretisch im Widerspruch zur Krankheitsbekämpfung. Dass ein Medizinmann nicht nur die Krankheiten der Lebenden behandeln, sondern auch die Leichen bestimmter Menschen einbalsamieren soll, stellt keine in sich widersprüchliche Annahme dar. Dass in der Gegenwart Ärztinnen und Ärzte nicht nur Krankheiten heilen, sondern auch auf operativem Weg Geschlechtsumwandlungen vornehmen, stellt ebenso wenig einen Widerspruch dar. Kurz und gut: Die Medizin hat mindestens immer die Aufgabe gehabt, für die Behandlung von Krankheiten zu sorgen, und häufig hat sie darüber hinaus andere Funktionen erfüllt, die ohne Weiteres mit der Bekämpfung von Krankheiten vereinbar sind. Wenn man empirisch-rekonstruktiv an den Begriff der Medizin herangeht, ergibt sich somit folgendes Ergebnis: (i) Es ist wesentlich für Medizin, dass sie die Aufgabe hat, Krankheiten zu verhindern oder zu heilen. (ii) Es ist kein wesentliches Merkmal der Medizin, dass sie für alle Krankheiten zuständig ist. (iii) Mediziner haben in vielen Fällen das Wissen über den menschlichen Körper, das für die Heilung von Krankheiten benötigt wird, auch für andere Zwecke genutzt. Es ist somit kein wesentliches Merkmal der Medizin, dass sie ausschließlich Behandlungen umfassen darf, welche der Verhinderung oder Heilung von Krankheiten dienen. Daraus folgt, dass sich 32
Gracia, »What Kind of Values?«, S. 88.
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die von Leon Kass vertretene Auffassung, dass Ärztinnen und Ärzte nichts tun dürfen, was nicht dem Ziel der Gesundheit dient, nicht durch den Rekurs auf das Wesen der Medizin begründen lässt. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man, wenn man sich der Geschichte der ärztlichen Moral zuwendet. Auch in diesem Fall ist es einerseits leicht, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden: Mediziner sind verpflichtet, dem Wohl ihrer Patienten zu dienen. Sie dürfen daher nichts tun, was ihren Patienten schadet. Um ihre Aufgabe erfüllen zu können, müssen sie kompetent sein. Darüber hinaus beruht die medizinische Praxis darauf, dass die Patienten den Ärzten vertrauen können und dass diese der Schweigepflicht unterliegen. Andererseits stößt man jenseits dieses Konsenses schnell auf erstaunliche Unterschiede zwischen den einzelnen Auffassungen über die ärztlichen Pflichten. Exemplarisch seien hier einige aus der Geschichte der Medizin bekannte Beispiele genannt. Während die gegenwärtigen Vertreter der These vom internen Ethos der Medizin übereinstimmend behaupten, dass das Gebot der Wahrhaftigkeit gegenüber den Patienten ein wesentliches Element der ärztlichen Ethik sei, vertraten im Verlauf der Geschichte etliche Autoren die Auffassung, dass Ärzte unter Umständen verpflichtet seien, Patienten die Wahrheit vorzuenthalten: Der römische Schriftsteller Celsus (1. Jh. n. Chr.) empfahl sogar, ›Kranke stets in einem sorglosen Zustand zu halten, damit sie nur am Körper, nicht aber an der Seele leiden‹. Selbst zutreffende infauste Prognosen seien ihnen zu verschweigen. Niemals dürfe auch vor dem Essen oder Schlafen eine schlechte Nachricht überbracht werden, da sie die Verdauung und die notwendige Entspannung verhindert. 33
Celsus war kein Einzelfall. Im Verlauf der Geschichte wurde das Gebot der Wahrhaftigkeit gegenüber den Patienten wiederholt in Frage gestellt oder bestritten. 34 Im Gegensatz zu der Behauptung von Kass und Pellegrino, dass das Verbot der Abtreibung zum internen Ethos der Medizin gehöre, war außerdem in einige Epochen und Kulturen umstritten, ob Mediziner sich an der Abtreibung beteiligen dürften. 35 Somit kann festKlaus Bergdolt: Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München 2004, S. 28. 34 Vgl. z. B. ebd. den Abschnitt »Der Streit um Lüge und Betrug in der frühneuzeitlichen Medizin«, S. 145–155. 35 Vgl. ebd. S. 52–62 u. S. 122–129. 33
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gehalten werden, dass sich auf empirisch-induktivem Weg nicht belegen lässt, dass das Gebot der Wahrhaftigkeit gegenüber den Patienten und das Verbot der Abtreibung Bestandteile des internen Ethos der Medizin sind. Bei diesen beiden Thesen handelt es sich vielmehr um dogmatische Behauptungen, welche die moralischen Überzeugungen der Autoren zum Ausdruck bringen, nicht aber universell geteilte Auffassungen über die moralischen Pflichten der Ärzteschaft. Ebenso wenig versteht es sich von selbst, dass Ärztinnen und Ärzte die Pflicht haben, alle Menschen, von denen sie um Hilfe gebeten werden, mit der gleichen Sorgfalt zu behandeln. Im antiken Athen beispielsweise bestand diese ärztliche Pflicht nicht: In Athen wurden Freie und Sklaven von den Ärzten […] höchst unterschiedlich behandelt. Der medizinische Alltag widerspiegelte die Klassengesellschaft der Polis. […] Sklavenärzte hatten eher eine defizitäre Ausbildung durchlaufen, während die freien ihr Prestige häufig an berühmten Medizinschulen, etwa in Knidos, Kos, Kyrene oder Sizilien erworben hatten. Die medizinische Behandlung der Unfreien war also qualitativ schlechter, woran Ärzte und Gesellschaft so gut wie keinen Anstoß nahmen. 36
Die Auffassung, dass die Ärzteschaft moralisch verpflichtet ist, alle Patientinnen und Patienten mit der gleichen Sorgfalt zu behandeln, stellt demnach keinen wesentlichen, sondern einen kontingenten Bestandteil des medizinischen Ethos dar. Als letztes Beispiel sei das Prinzip der Patientenautonomie genannt. Dieses Beispiel ist besonders instruktiv, weil es zeigt, dass bestimmte moralische Anforderungen an die Medizin keine zeitlosen Bestandteile des internen Ethos der Medizin sind, sondern Ergebnisse gesellschaftlicher Veränderungen, die sich auf die Medizin ausgewirkt haben. Die Vorstellung, dass Patientinnen und Patienten zumindest ein auf die Möglichkeit der Ablehnung beschränktes Mitspracherecht bei den Entscheidungen über die Wahl der Therapie haben, war der Ärzteschaft jahrtausendelang fremd. Erst nachdem sich der Grundsatz der Selbstbestimmung in anderen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens durchgesetzt hatte, wurde die Forderung erhoben, auch Patientinnen und Patienten als mündige Personen zu behandeln. Das Prinzip der Patientenautonomie beschränkt das Entscheidungsrecht der Ärztinnen und Ärzte, und es
36
Ebd., S. 30.
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wurde von außen an die Medizin herangetragen. Der Arzt Michael der Ridder beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: Vom mündigen Bürger zum mündigen Patienten war es ein nur folgerichtiger, geradezu zwingender Schritt. Er nötigte die Ärzteschaft dazu, dem Patienten auf Augenhöhe zu begegnen und ihn in die Lage zu versetzen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. […] Der hohe normative Stellenwert der Patientenautonomie stellt eine Errungenschaft dar, die wir eher der Judikatur verdanken als der Ärzteschaft. Es waren und sind mutige anwaltliche Initiativen und Richter des Bundesgerichtshofs, die bestehendes, im Grundgesetz niedergelegtes Recht erkannt und ihm zur Geltung verholfen haben, ohne das letztlich auch die erfreuliche Ausweitung der Palliativmedizin und der Hospizbewegung nicht denkbar ist. 37
Im Hinblick auf die Frage nach dem internen Ethos der Medizin können zwei wichtige Einsichten festgehalten werden. Erstens handelt es sich bei dem Grundsatz der Patientenautonomie, der von Pellegrino sowie von Brody und Miller zum Ethos der Medizin gezählt wird, nicht um ein epochen- und kulturübergreifendes Element der medizinischen Ethik, sondern um eine verhältnismäßige junge Errungenschaft und um eine Eigenheit der gegenwärtigen Medizin. Zweitens wurde dieser Grundsatz von außen an die Ärzteschaft herangetragen. Er stellt somit keinen Bestandteil des internen Ethos der Medizin dar, sondern gehört zu den externen moralischen Anforderungen, denen die Tätigkeit von Ärztinnen und Ärzten in jeder Gesellschaft unterworfen ist.
5.
Das interne Ethos der Medizin und die medizinethischen Kontroversen der Gegenwart
Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes besteht darin, die Frage zu beantworten, ob der Rekurs auf das interne Ethos der Medizin dazu geeignet ist, einen Beitrag zur Auflösung der medizinethischen Kontroversen der Gegenwart zu leisten. Verbindet man die bisher angestellten Analysen miteinander, dann ergibt sich folgende Antwort auf diese Frage: Die Berufung auf das interne Ethos der Medizin im RahMichael de Ridder: »Patientenwille gleich Patientenwohl? Der kranke Mensch zwischen Selbstbestimmung und ärztlicher Fürsorgepflicht«, Der Tagesspiegel 29. 12. 2017, S. 8. hhttp://www.tagesspiegel.de/politik/gesundheitspolitik-patientenwillegleich-patientenwohl/20790956.htmli (letzter Zugriff 13. 01. 2018)
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men medizinethischer Debatten führt in ein Dilemma. Entweder geht man historisch-induktiv vor. In diesem Fall beschränkt sich das medizinische Ethos auf sehr wenige, allgemein anerkannte moralische Regeln, die aufgrund ihrer Allgemeinheit nicht für die Lösung der Probleme geeignet sind, die in der Medizinethik so kontrovers diskutiert werden. Oder man geht über dieses Minimalethos der Medizin hinaus und nimmt weitere moralische Regeln, wie etwa das ausnahmslose Gebot der Wahrhaftigkeit gegenüber den Patienten oder den Grundsatz der Patientenautonomie, in das Berufsethos der Medizin auf. In diesem Fall kann man sich nicht mehr auf das zeitlose Wesen der Medizin berufen. Vielmehr vertritt man dann bestimmte moralische Überzeugungen, die nicht Teil des allgemein anerkannten, auf historisch-induktivem Weg erschlossenen internen Ethos der Medizin, sondern externe Beschränkungen der ärztlichen Tätigkeit sind. 38 Zur Erläuterung: Tatsächlich gibt es einige Normen, die sowohl konstitutiv für die Medizin und daher epochen- und kulturübergreifend anerkannt als auch moralisch gehaltvoll sind. Allerdings beschränkt sich dieses interne Ethos der Medizin auf wenige, allgemeine Grundsätze. An oberster Stelle stand und steht die ärztliche Pflicht, immer dem Wohl der Patienten zu dienen und nichts wissentlich zu tun oder zu unterlassen, was einer Patientin oder einem Patienten wahrscheinlich schaden wird. Dieses Gebot bildet den Kern des ärztlichen Ethos, ohne welchen die Medizin gar nicht über längere Zeit hätte existieren können. Damit Ärztinnen und Ärzte diese Pflicht erfüllen können, müssen sie sachkundig und praktisch versiert sein. Somit unterliegen sie zweitens der Pflicht, medizinisch kompetent zu sein. Damit die Medizin als soziale Praxis bestehen kann, müssen die Kranken den Medizinern vertrauen können. Dafür ist es drittens notwendig, dass Ärzte der Schweigepflicht unterliegen, und viertens, dass sie ihre Position nicht dazu ausnutzen, sich selbst unlautere Vorteile zu verschaffen. Das impliziert u. a., dass es Ärztinnen und Ärzten verboten ist, sexuelle Beziehungen mit Patientinnen und Patienten zu haben. Diese vier Elemente der ärztlichen Ethik dürften kultur- und epochenübergreifend unstrittig sein. Für die Lösung der medizinethischen Probleme, die uns in der Gegenwart beschäftigen, sind sie allerdings aufgrund ihrer Allgemeinheit ungeeignet. Damit soll keiZu einem ähnlichen Ergebnis gelangt John D. Arras (vgl. »A Method in Search of a Purpose«, S. 644).
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin
neswegs bestritten werden, dass das interne Ethos der Medizin überhaupt gehaltvoll ist. Wie Brody und Miller zu Recht betont haben, werden bestimmte Handlungsweisen durch das ärztliche Berufsethos zweifellos untersagt. Beispielsweise befördern sexuelle Beziehungen zwischen Arzt und Patientin nicht das Wohl der Letzteren. Im Gegenteil: Wie eine Reihe von Studien gezeigt hat, schaden sie in der Regel der Patientin. 39 Darüber hinaus beruhen sie nicht auf medizinischen Kenntnissen und Fertigkeiten. Auch die Beteiligung an einer Hinrichtung lässt sich durch Rekurs auf das interne Ethos der Medizin zweifellos nicht rechtfertigen. Sie steht in keinem Zusammenhang mit einer Krankheit oder krankheitsbedingtem Leiden, und sie erfolgt nicht, um dem Interesse des Verurteilten, sondern dem des Staates zu dienen. 40 Aus ähnlichen Gründen impliziert das medizinische Berufsethos das Verbot der Beteiligung an der Folter und der Hilfe beim Doping im Sport. Wie diese Beispiele zeigen, sind die Implikationen des internen Ethos der Medizin keineswegs trivial. Dennoch ist dieses Ethos nicht dazu geeignet, einen Beitrag zur Lösung medizinethischer Probleme zu leisten. Der Grund dafür ist, dass die medizinischen Maßnahmen, deren Zulässigkeit in Frage steht, nicht gegen die Forderungen des historisch-induktiv bestimmten internen Ethos der Medizin verstoßen. Insbesondere stellen sie keinen Verstoß gegen das Gebot dar, stets für das Wohl der Patienten zu sorgen und ihnen nicht zu schaden. Die Beteiligung an der Empfängnisverhütung, Operationen im Rahmen der Schönheitschirurgie oder operative Geschlechtsumwandlungen – um nur drei Beispiele zu nennen – zielen ebenso auf das Wohl der Patientinnen und Patienten ab wie therapeutische Maßnahmen. Sie unterscheiden sich nur darin von der kurativen Medizin, dass sie über das Ziel der Verhinderung und Heilung von Krankheiten hinausgehen. Darin liegt allerdings kein Verstoß gegen die Gebote, stets im Hinblick auf das Wohl der Patienten zu handeln und Krankheiten zu bekämpfen. Dies betonen auch die Autorinnen und Autoren des einflussreichen und häufig zitierten Positionspapiers The Goals of Medicine: While the accepted and ordinary use of medicine is for the sake of health, its skills can be used to achieve many aims having nothing directly to do with health. If torture represents a condemned use, cosmetic surgery for the Vgl. H. Brody/F. G. Miller, »The Internal Morality of Medicine. Explication and Application to Managed Care«, S. 389. 40 Vgl. ebd., S. 390. 39
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Héctor Wittwer
purpose of changing or improving a persons’s appearance (quite apart from the medically oriented repair of injury or deformity) has long been accepted. It ordinarily poses no threat to the general welfare and, in most health care systems, must be paid for personally. […] The use of medical skills for family planning purposes (which may, but also may not, have direct health purposes), including contraception and sterilization as well as abortion, is now well accepted throughout much of the world. 41
Man muss diesem Urteil nicht zustimmen. Man kann ihm aber auch nicht durch den Verweis auf das interne Ethos der Medizin widersprechen, weil sich dieses – wie gezeigt wurde – neutral gegenüber den strittigen Handlungsweisen verhält.
6.
Fazit
Die hier angestellten Analysen haben zu folgenden Ergebnissen geführt. (i) Es ist unbestreitbar, dass die Medizin im Unterschied zu anderen Berufen keine Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten darstellt, die zu beliebigen Zwecken eingesetzt werden dürfen. Vielmehr wird sie u. a. durch ein ihr inhärentes Ethos konstituiert. (ii) Da die Medizin als menschliche Praxis nicht unabhängig davon existiert, was Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart unter »Medizin« verstanden haben, ist ihr Wesen nicht unabhängig von menschlichen Überzeugungen. Was Medizin ist, kann nur durch eine historischinduktive Rekonstruktion ermittelt werden. Das gilt auch für das interne Ethos der Medizin. (iii) Das interne Ethos der Medizin umfasst nur wenige und sehr allgemeine moralische Regeln für das ärztliche Handeln. (iv) Da die medizinischen Maßnahmen, deren Zulässigkeit gegenwärtig umstritten ist, nicht gegen die Regeln des internen Ethos der Medizin verstoßen, von diesen aber auch nicht vorgeschrieben werden, verhält sich das Berufsethos ihnen gegenüber neutral. Dieses Ergebnis darf nicht missverstanden werden. Es bedeutet nicht, dass man darüber, ob Ärztinnen und Ärzte bestimmte Maßnahmen durchführen dürfen, die nicht oder zumindest nicht direkt der Gesundheit dienen, nicht auf vernünftige Weise streiten könnte. Aber die Gründe, die sich jeweils für und gegen diese Handlungsweisen anführen lassen, entstammen nicht dem internen Ethos der
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Mark J. Hanson/Daniel Callahan (Hg.), »The Goals of Medicine«, S. 15.
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Die Frage nach dem internen Ethos der Medizin
Medizin. Stattdessen müssen wir als Gesellschaft uns darüber verständigen, was Medizinern über den Dienst an der Gesundheit hinaus erlaubt und verboten sein soll. Ob die Abtreibung, die künstliche Befruchtung, schönheitschirurgische Operationen und andere umstrittene Maßnahmen zur Tätigkeit der Mediziner zählen dürfen, lässt sich nur durch Rekurs auf medizinexterne Gründe entscheiden.
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V. Wo liegen die Grenzen der Medizin? – Anwendungsfragen
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Sozialdiagnostik und Lebensrat – Ärztliche Praxis als medizinischer Grenzgang Kerrin A. Jacobs
Abstract: Der Beitrag thematisiert die individualisierte Sozialdiagnostik als lebensweltliche Herausforderung ärztlicher Praxis. Die Frage ist, ob die Erteilung von Lebensrat eine unzulässige Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Medizin und des ärztlichen Handlungsspielraums darstellt. Es wird dafür argumentiert, dass die Lebenssituation eines Individuums als Ganzes ins Blickfeld ärztlicher Praxis rücken muss, gerade weil der medizinische Praxisbegriff nicht nur eine technisch-wissenschaftliche, sondern auch eine ärztlich-lebensweltliche Dimension enthält. Eine solche Beziehungsgestaltung zwischen Ärzt*Innen und Patient*Innen wird beispielhaft anhand Karl Jaspers’ individualmedizinischem Konzept der existenziellen Kommunikation illustriert. Das Fazit der Untersuchung ist, dass im Kontext einer ärztlichen Beziehungskultur ein aus der Sozialdiagnostik generierter Lebensrat als therapeutische Essenz eines ärztlichen Praxisbegriffs verstanden werden kann.
1.
Einleitung
Eine an Pathogenese und Salutogenese 1 gleichermaßen orientierte medizinische Praxis berücksichtigt die biopsychosoziale Gesamtlage von Individuen, die als ratsuchende Patienten bei Ärzten vorstellig werden. Diese doppelte Ausrichtung an einem Krankheitsbegriff und einem Gesundheitsbegriff bestimmt das Aufgabenfeld der Medizin und den Begriff ärztlichen Handelns. Die Zielsetzung der Krankheitsbehebung und Gesundheitsförderung kann Ärzte dazu motivieren, ihr medizinisches Urteil um Weisungen zur Behebung von (gesundheits-/krankheitsrelevanten) Lebensproblemen zusätzlich zu den kurativen Anweisungen zur Behandlung von Krankheiten zu erAaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit, Tübingen 1997.
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gänzen. Die Kernfrage dieser Untersuchung ist, ob die Erteilung von Lebensrat eine unzulässige – weil beispielsweise mit den Richtlinien ärztlicher Professionalisierung unvereinbare – Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Medizin und damit auch des ärztlichen Handlungsspielraums darstellt. Es gilt, eine in medizinischen Diagnosen verankerte individualisierte Sozialdiagnostik als stetige lebensweltliche Herausforderung der ärztlichen Praxis zu thematisieren. Die Lebensprobleme von Personen als legitimes Ziel medizinischer Therapien ernst zu nehmen, scheint jedoch nicht auf Anhieb ersichtlich. Lebensprobleme sind einer anderen Problemkategorie zugeordnet als die Problemstellungen, die mit »echten« Krankheiten einhergehen. Wenn es nun aber auch der Fall ist, und das möchte ich behaupten, dass gute Ärztinnen genau die Medizinerinnen sind, die sich den Patienten als Individuen verpflichtet fühlen, so ist es für eine gute Arzt-Patienten-Beziehung essenziell, dass die Lebenssituation eines Individuums als Ganzes ins Blickfeld ärztlicher Praxis rückt. Der medizinische Praxisbegriff erhält damit nicht nur eine technisch-wissenschaftliche, sondern auch eine ärztlich-lebensweltliche Dimension, die in Diagnostik, Prognostik und therapeutischer Intervention mit Blick auf die Gesamtsituation von Patienten zum Tragen kommt. 2 Dann stellt sich die Frage, welches Modell einer Arzt-PatientenBeziehung die Sozialdiagnostik überhaupt so integrieren könnte, dass sie den aus ihr generierten Lebensrat als therapeutische Essenz eines ärztlichen Praxisbegriffs versteht, der als medizinischer Grenzgang zwar stets kritisch zu reflektieren bliebe, aber darin eine bleibende Würdigung erfahren muss, dass er die Beziehung von Patienten und Ärzten wirklich ernst nehmen will. Wie eine solche Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patient beispielhaft aussehen könnte, soll hier abschließend Karl Jaspers’ individualmedizinisches Konzept der existenziellen Kommunikation illustrieren. Das Fazit dieser Untersuchung wird sein, dass es zukünftig weniger um eine fundamentale Revision des Verständnisses medizinischer Praxis als vielmehr im
»Die Prognose ist für einen Patienten diejenige Information, an der er in der Regel einen (sozialen und kulturellen) Umgang mit seiner Krankheit ausrichtet, während die Diagnose die Information ist, an der der Arzt sein weiteres Handeln ausrichtet.« (Norbert W. Paul: »Diagnose und Prognose«, in: Stefan Schulz/Klaus Steigleder/Heiner Fangerau et al. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Frankfurt a. M. 3 2012, S. 147) 2
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Sozialdiagnostik und Lebensrat
Kontext einer ärztlichen Beziehungskultur um das Erinnern dessen geht, was eine menschliche Medizin immer schon gefordert hat.
2.
Der Doppelstandard ärztlichen Handelns
2.1. Krankheit, Gesundheit und ärztlicher Rat Der Doppelstandard ärztlicher Praxis lässt sich aus medizintheoretischer Perspektive auf die jeweiligen unterschiedlichen Verständnisse von Krankheit und Gesundheit rückbeziehen. Einerseits handelt es sich um eine ärztliche Orientierung an einem spezifischen Krankheitsbegriff (z. B. im strikt biomedizinischen Verständnis von Krankheit als biologischer Dysfunktion), der den Interventionsrahmen limitiert und den rechtlichen Verpflichtungsbereich der Ärzte definiert (und oftmals in Kombination mit einem negativen Gesundheitsbegriff auftritt, der Gesundheit als die Abwesenheit von Krankheit versteht), anderseits um einen positiven Gesundheitsbegriff mit der Vorstellung, dass Gesundheit durch normative Standards objektiven Wohlergehens bestimmt sei. Wenn Gesundheit mehr ist als das bloße »Schweigen der Organe«, wie es René Leriche einst benannte, dann betreiben Ärzte über Krankheitsbehebung hinaus auch noch Gesundheitsförderung, z. B. indem sie sich auch mit den Lebensproblemen ihrer Patienten beschäftigen, die potenziell gesundheitsgefährdend sind oder sogar spezifische Angebote zur Verbesserung der Gesundheit als zum Spektrum ihrer ärztlichen Handlungspflichten zugehörig erachten. 3 Angesichts der Begrenztheit eines rein mechanistischen Menschenbilds in der Medizin 4 wie auch eines reduktionistisch-biologischen Verständnisses von Krankheit und Gesundheit werden speziDies wird zumeist unter dem Aspekt der IGeL – Individuellen Gesundheitsleistungen – thematisiert. Die IGeL umfassen die Klasse der Leistungen, für welche die Krankenkassen nach Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 SGB V nicht leistungspflichtig sind oder deren Sicherstellung anderen Leistungserbringern obliegt. Es geht mir nicht darum, dass es rechtlich einzufordern wäre, dass Ärzte sich den Lebensproblemen ihrer Patienten widmen müssten, sondern darum, dass Ärzte sich aus berufsethischer Sicht dazu verpflichtet sehen könnten und zusätzliche Interventionen u. U. eben nicht als IGeL für die eigene Praxis definieren. 4 Giovanni Maio: »Das mechanistische Menschenbild als Rückschritt. Für eine Aufwertung der Sinnfragen in der modernen Medizin«, in: Matthias Girke/Peter F. Matthiessen (Hg.), Dialogforum Pluralismus in der Medizin. Medizin und Menschenbild, 3
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fische Krankheitssymptome aus lebensweltlicher Sicht so (re)kontextualisierbar, dass das medizinisch-wissenschaftliche Urteil über die reine Symptombehebung hinaus durch die krankheitsrelevanten psychosozialen Bedingungen des Erkrankens gleichsam schon vorinformiert ist. Das multiaxial strukturierte DSM hat für diese Lebensprobleme sogar eine eigene Axe (Axe V) entworfen: Die auf dieser Achse zusätzlich diagnostizierbaren Lebensprobleme gelten nicht als Krankheiten. Sie sind aber genau dann durchaus Gegenstand ärztlicher Intervention, wenn sie, wie im DSM, als »psychiatrisch relevant« ausgezeichnet werden. Es handelt sich hierbei um ganz alltägliche Sorgen wie z. B. Scheidungsprobleme, Geldsorgen, Erziehungsprobleme etc., die Personen so beeinträchtigen, dass sie eben darüber erkranken (ein Magengeschwür bekommen, Depressionen etc.). Bei genauerer Betrachtung ist zudem gar nicht klar, wie sie sich stringent von »echten« Krankheiten unterscheiden sollten: Nach der allgemeinen Störungsdefinition des DSM soll zwar pro forma eine Grenzziehung aufrechterhalten werden, aber der Anspruch, die Störungen (also Krankheiten) von Nicht-Störungen unterscheiden zu können, wird dann wieder mit Blick auf die offizielle Definition von psychischer Störung 5 untergraben: Die theoretische Konsistenz erfordert, dass diese Achse-V-Zustände selbst nicht die Definition psychischer Störung des DSM erfüllen dürfen, denn sonst wären sie ja de facto als Krankheiten zu betrachten. In jedem Fall stellen sie Funktionsbeeinträchtigungen dar und erfüllen damit auch das zweite offizielle Basiskriterium der Leidhaftigkeit bzw. leidvollen Beeinträchtigung. Damit wird auch das überstiegen, was normalerweise als adäquate Reaktion auf schwierige Lebensumstände aufgefasst wird. Somit qualifizieren sich Lebensprobleme offenbar als »Störungskandidaten«. 6 So problematisch das aus klassifikationstheoretischen Gesichtspunkten auch sein mag: Aus lebensweltlicher Sicht verstärkt es die Forderung, dass neben einer ärztlichen Bewertung von LebensWaldkirchen 2015, S. 77–92; Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München 1974. 5 Kerrin A. Jacobs: Soziopathie – Eine Untersuchung moralischer Unfähigkeit, Uelvesbüll 2012, S. 104–111. 6 American Psychiatric Association: DSM III-R. Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders, Washington 31987, S. 359–362; Jerome Wakefield: »Disorder as Harmful Dysfunction: A Conceptual Critique of DSM-III-R’s Definition of Mental Disorder«, Psychological Review 99/2 (1992), S. 232–247, hier S. 238 ff.
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Sozialdiagnostik und Lebensrat
umständen als »gesundheits- bzw. krankheitsrelevant« auch diese Probleme legitime Gegenstände ärztlicher Beratungstätigkeit sein können. Dies zeigt sich darin, dass oftmals nur eine Veränderung der Lebensführung zu einer Gesundheitsverbesserung von Personen führt. Wer ernsthaft behaupten wollte, dass die Lebensprobleme nichts mit der Fragestellung nach adäquater medizinischer Diagnostik, Prognostik und Therapie zu tun hätten, der würde die Medizin von der Lebenswelt und damit einem Verständnis von biopsychosozialer Gesundheit entkoppeln, das seine Realisierungsmöglichkeiten in der individuellen Lebenssituation von Personen wahrnimmt. Genau hier kommt nun die eigentümliche Rolle des Lebensrats in der ärztlichen Praxis zum Tragen: Einerseits raten Ärzte ihren Patienten andauernd, ihre Lebensumstände oder Verhaltensweisen zu ändern (z. B. mehr Sport zu treiben, nicht mehr zu rauchen), andererseits wird die (ja durchaus berechtigte konzeptuelle) Grenze zwischen Lebensproblemen und Krankheiten bisweilen so hochgehalten, dass man sich fragen muss, ob und wie genau Ärztinnen das bidirektionale Verhältnis 7 von Krankheiten und schwierigen Lebensumständen kommunizieren können bzw. thematisieren sollen. Wo Ärzte als »neutrale« Berater von Patienten gelten, die primär Krankheiten behandeln, müssten sie auch in punkto Gesundheitsförderung auf den engeren Bereich medizinischer Praxis fokussiert bleiben (z. B. in Form der IGeL). Damit scheint es nahe liegend, dass Ärzte darüber hinaus auch keine Lebensberatung betreiben sollten. Dies zu bearbeiten sei dann die Aufgabe von Spezialisten wie Psychologen, Sozialarbeitern, Seelsorgern oder eben des Freundeskreises der betroffenen Patienten. Meine These ist jedoch, dass diese Minimalberücksichtigung von Lebensproblemen am ärztlichen Ethos vorbeizielt. Sie ignoriert, dass Ärzte sich zu »mehr« verpflichtet fühlen bzw. hinterfragen, wo sie diese Grenzen der Berücksichtigung krankheits- bzw. gesundheitsrelevanter Lebensumstände ihrer Patienten setzen müssen oder können. Eine Lösung könnte darin liegen, dass nur dann, wenn ein Krankheitssymptom, z. B. eine Fettleber, in erkennbarer oder vermuteter Das lässt sich z. B. mit Blick auf die Einsamkeitsforschung verdeutlichen: Einsamkeitserleben führt – bei entsprechender Disposition – dazu, dass Personen ein signifikant erhöhtes Risiko haben zu erkranken; umgekehrt sind erkrankte Personen dann auch aufgrund ihres Krankseins mit (weiterer) sozialer Isolation und Einsamkeit konfrontiert. Vgl. Janne Vanhalst/Theo A. Klimstra/Koen Luyckx et al.: »The interplay of loneliness and depressive symptoms across adolescence: Exploring the role of personality traits«, Journal of Youth and Adolescence 41/6 (2011), S. 776–787.
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Relation zu einer schlechten Angewohnheit steht (z. B. übermäßiger Konsum von Alkohol), eine solche Weisung angebracht sei. Dass Ärzte sich auf die direkt durch die Dysfunktion hervorgerufenen Leiden auch mit Ratschlägen zur Lebensführung beziehen, ist relativ unstrittig. Anders stellt sich das Problem, wenn es darum geht, diese (z. B. durch Nachfragen) ausführlich zum Thema zu machen. Wenn in Erwägung gezogen wird, dass nicht nur leidvolle Symptome »echter« Krankheiten, sondern auch diejenigen echter »Lebensprobleme« u. U. Gegenstand ärztlicher Beratungspraxis sein dürfen, stellt sich die Frage, wie diese Weisungen zur guten Lebensführung konzeptuell so in den Begriff des ärztlichen Handelns integriert werden können, dass es widersinnig erscheint, sie als problematische Ausweitung ärztlicher Praxis verstehen zu wollen. Um überhaupt Raum für das Erteilen von ärztlichem Rat in Bezug auf Lebensprobleme – die ins Raster der Beeinträchtigungen des Wohlergehens fallen – zu eröffnen, muss ein positiver Gesundheitsbegriff vorhanden sein, der die Bindung und Verpflichtung des ärztlichen Handelns auf evidenzbasierte, wissenschaftliche Medizin ergänzt. Deshalb muss man einen engeren medizinischen und einen weiteren Bereich ärztlichen Handelns voneinander so unterscheiden, dass ihnen jeweils ein spezifisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit korrespondiert: Der engere oder primäre Bereich ärztlichen Handelns ist durch eine Orientierung an einem negativen Gesundheitsbegriff (= Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit) und/oder an einem engen Krankheitsbegriff (= Krankheit ist leidvolle Dysfunktion und vorrangig gilt es diese zu behandeln) ausgewiesen. Diese engere Bestimmung des medizinischen Praxisbegriffs ist jedoch mit einer zusätzlichen Ausrichtung an positiven Gesundheitsbegriffen, die Gesundheit durch bestimmte Theorien des Wohlergehens erfassen, kombinierbar. Die Einwände gegen diese Erweiterung der ärztlichen Praxis will ich nicht unterschlagen: Wenn Hans-Georg Gadamer statuiert, dass Gesundheit nicht wesentlich etwas sei, was sich bei der Untersuchung zeige, sondern vielmehr das ist, was sich als Zustand der inneren Angemessenheit und der Übereinstimmung mit uns selbst jeder Objektivierung entziehe 8 – finden sich Charakterisierungen positiver Gesundheit, die ungleich problematischer sind. Die Definition von 8 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Über die Verborgenheit der Gesundheit – Aufsätze und Vorträge, Frankfurt a. M. 2010.
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Gesundheit durch die World Health Organisation (WHO) veranschaulicht dies. Dort heißt es: »Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« 9 Der erste Einwand besagt, dass solche Definitionen relativ ungeeignet sind, das Phänomen der Gesundheit und das der Krankheit als ihr Gegenteil überhaupt adäquat zu fassen: Gesundheit erscheint nach dieser Definition als unerreichbar und zudem könnte u. U. alles, was diesem Ideal nicht entspricht, als pathologisch bewertet werden. Das zeigt sich auch in Talcott Parsons’ Verständnis von Gesundheit als funktionaler Voraussetzung für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Prozessdynamiken. 10 Mit ihrer Spezifizierung im Rahmen des systemfunktionalen Denkens soll Gesundheit der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit für die wirksame Erfüllung von sozialen Rollen eines Individuums sein. 11 Sie wird durch Vorstellungen richtigen (politisch) oder guten (ethisch) sozialen Funktionierens erfasst. Damit wird ärztliches Handeln einerseits instrumentalisiert zur Erhaltung »adäquater« gesellschaftlicher Reproduktionsdynamiken, anderseits korrespondiert damit auch ein Verständnis des Gesundheitszustands als einer steigerbaren Disposition. Hinsichtlich letzterer Idee ist ganz klar zu sagen, dass eine Person, die nicht in irgendeiner vortrefflichen Weise gesund ist (z. B. »hochwirksam« ihre Rolle erfüllt), sicherlich nicht allein schon deshalb als krank zu gelten hat. 12 Diese Einwände gegen eine zusätzliche Orientierung ärztlichen Handelns an normativen Gesundheitskonzeptionen sind jedoch für meine Argumentation nicht weiter problematisch: Durch ärztliche »Sozialdiagnostik« können einige Lebensprobleme als z. B. krankheitskonstitutive, eben pathogene Faktoren und Umstände oder als World Health Organisation (WHO): International classification of diseases and related health problems, 101992 Geneva. Im Original lautet die Definition von Gesundheit: »a state of complete physical, mental and social well-being not merely the absence of disease or infirmity« (Vgl. WHO: ICD 11946, S. 83). 10 Talcott Parsons: »Struktur und Funktion der modernen Medizin«, in: René König/ Margret Tönnesmann (Hg.), Probleme der Medizin-Soziologie [Sonderheft 3 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychiatrie], Opladen 1958, S. 10–57. 11 Talcott Parsons: »Definition von Gesundheit und Krankheit im Lichte der Wertbegriffe und der sozialen Struktur Amerikas«, in: Alexander Mitscherlich/Tobias Brocher/Otto von Mering et al. (Hg.), Der Kranke in der modernen Gesellschaft, Köln/ Berlin 1967, S. 57–87. 12 Thomas Schramme: Patienten und Personen. Zum Begriff der psychischen Krankheit, Frankfurt a. M. 2000, S. 104. 9
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aus Erkrankungen resultierende negative Effekte zusätzlich diagnostisch, prognostisch und therapeutisch berücksichtigt werden. Diese Faktoren sind relevant für Beeinträchtigungen des Wohlergehens (also auch für das Gesundsein), stellen selbst aber nicht Krankheiten dar (dies wäre höchstens im Sinne ihrer Rekonstruktion als soziokulturelle Pathologien denkbar 13). Es ist also eine Sache, den Beitrag von Gesundheit zum normalen sozialen Funktionieren zu betonen oder Vorstellungen des guten Lebens und biopsychosozialen Wohlergehens als legitime normative Referenzpunkte der ärztlichen Praxis zu erachten, eine andere, sie mit ganz spezifischen Lebensformen oder Handlungspraktiken dessen, was als »normal« gilt, einfach gleichzusetzen, sodass dann von der Norm Abweichendes Gefahr läuft, in die Nähe des Pathologischen zu rücken. Ich behaupte daher auch, dass Ärzten, die sich gar nicht mit positiven Gesundheitskonzeptionen – auch mit deren konzeptueller Problematik – auseinandersetzen, die Möglichkeit eines tiefgreifenden Verständnisses des Leidens ihrer Patienten verschlossen bleibt oder dass sie eventuell eher dazu tendieren könnten, solche spezifischen Vorstellungen des Wohlergehens unreflektiert in ihr ärztliches Urteil über Krankheit einfließen zu lassen. Es bliebe zu fragen, inwieweit genau dies aus Sicht der ärztlichen Profession überhaupt zulässig ist. Eine Orientierung an einer positiven Definition von Gesundheit ist also sicherlich nicht widersinnig. Nichtsdestoweniger spricht einiges dafür, eine eher minimale Konzeption von Gesundheit zu vertreten. Ein ideal konstruierter Gesundheitsbegriff ist als Ergänzung einer negativen Konzeption von Gesundheit zu begreifen, die den engeren Bereich ärztlicher Praxis kennzeichnet: Gesundheit ist hier primär die Abwesenheit von Krankheit und nicht das Ideal des psychosozialen Wohlergehens, an dem sich ärztliches Handeln orientiert, sondern es geht um die Reduzierung leidvoller Beeinträchtigung. Das bedeutet auch, dass das Vorhandensein problematischer Lebensumstände noch nicht hinreichend die Rede von Krankheit rechtfertigt. Wirklich gerechtfertigt ist ein medizinisches Krankheitsurteil nur dort, wo eine Beeinträchtigung ganz bestimmter FunktionsfähigKerrin A. Jacobs/Matthias Kettner: »Soziokulturelle Pathologien bei Freud, Fromm, Habermas und Honneth«, in: Manfred Clemenz/Hans Zitko/Martin Büchsel et al. (Hg), IMAGO. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Bd. 4, Gießen 2017, S. 119–146.
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keiten vorliegt. Denn ärztliches Handeln zielt immer primär auf die Behebung oder Milderung von physiologischer und psychischer Dysfunktionalität ab. 14 Mit Blick auf den weiten Bereich ärztlicher Praxis rücken die Fähigkeiten in den Blick, die als notwendig für ein gutes Leben gelten. Dann kann sich auch der engere Bereich ärztlichen Handelns nicht grundsätzlich diesen normativen Vorstellungen, die in Theorien menschlichen Wohlergehens verankert sind, entziehen. Sie sind die normativen Referenzpunkte ärztlicher Praxis und unerlässlich bei dem Versuch einer Kategorisierung von leidvollen Zuständen: Erstens stellen Ärzte prinzipiell mit jeder Behandlung von Krankheit auch Gesundheit wieder her und zweitens sind es diese Normen guten Funktionierens, die uns überhaupt danach fragen lassen, wie unsere Lebenssituation verändert werden müsste, damit Funktionsstörungen gemildert und auch Gesundheit im Sinne der Salutogenese gefördert werden kann. Lebensprobleme sind mit Blick auf die zusätzliche Orientierung an einem Gesundheitsbegriff legitime Gegenstände ärztlicher Befundung und Beratung. Es lässt sich festhalten: Eine faktische Behebung von Dysfunktionen ist das Fundament ärztlichen Handelns, aber erst durch die Reflexion einer Funktionsstörung als leidvoller Beeinträchtigung des Wohlbefindens einer Person ist es überhaupt sinnvoll, von Krankheitsbehandlung zu sprechen, denn ein Leiden wird ja erst in Bezug auf eine Theorie des Wohlergehens als eine Beeinträchtigung bewertbar. 15 Diese Beeinträchtigungen schließen m. E. die krankheits- oder gesundheitsrelevanten Lebensprobleme mit ein. Für das Konzept ärztlichen Handelns hat eine wissenschaftlich-medizinische Perspektive mit der Ausrichtung am Krankheitsbegriff eine Vorrangstellung vor der Herstellung von besserer Leistungsfähigkeit und befriedigenderen Lebensumständen. Die Erteilung von Lebensrat fällt damit in den Bereich der ethischen Supererogation. Rechtlich bindend – von den Patienten einzufordern – ist jedoch nur die Tätigkeit, die sich an einem engen Krankheitsbegriff bzw. negativen Gesundheitsbegriff orientiert. Es steht also jedem Arzt frei, sich innerhalb seiner spezifischen Praxissituation gegenüber dem Patienten mitmenschlich ver-
Jacobs: Soziopathie, S. 79 ff., S. 144–148. Es wäre an anderer Stelle ausführlicher zu erörtern, wie weit die These, dass Leiden sich nur vor dem Hintergrund von Theorien des Wohlergehens gehaltvoll als solche erfassen lassen, trägt. In Bezug auf die Definition von Krankheiten als Beeinträchtigung des Wohlergehens scheint dies jedoch nahe liegend.
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pflichtet zu fühlen: Wo Lebensprobleme als massiv leidvoll erlebt werden oder ein ersichtliches pathogenes Potenzial aufweisen, können sie nicht ohne weitere Begründung ignoriert werden – zumindest dort nicht, wo Theorien des Wohlergehens ein Verständnis von Gesundheit prägen und dieses als normativer Bezugspunkt ärztlicher Weisungen und anderer medizinischer Interventionen verstanden wird. Die aus engerer medizinischer Sicht angezeigte Behandlung von Gebrechen definiert also den nüchternen Standard medizinischen Handwerks, der Lebensrat hingegen verweist auf das »Mehr« ärztlicher Handlungskunst. Ärztliche Lebensberatung ist ein medizinischer Grenzgang, weil sie das wissenschaftliche Erklären mit Blick auf ein lebensweltliches Verstehen übersteigt.
2.2. Befindlichkeit und Befund Wenn Ärzte ihre Patienten nach ihrer Lebenssituation (z. B. im Rahmen einer Erstanamnese) fragen, dann rückt die existenzielle Situierung von Personen in den Blick. 16 Sie ist sehr oft nicht nur krankheitsspezifisch, d. h. symptomatisch (z. B. Vitalitätsverlust und kognitiver Leistungsabfall bei Depressionen), sondern führt oftmals selbst zu ganz neuen sozialen Problemstellungen (z. B. Arbeitsunfähigkeit), die zur »sozialen« Dynamik spezifischer »Krankheitskarrieren« gehören. 17 Mit Blick auf die spezielle Lebenssituation eines Menschen wird dann ersichtlich, wie das, was sich aus wissenschaftlicher Sichtweise faktisch beschreiben lässt, aus lebensweltlicher Sicht für jeden Patienten immer etwas bedeutet, d. h. als Befindlichkeitslage kommuniziert und individuell bewertet wird. 18 Medizin ist so besehen Individualmedizin, weil sie Individuen in ihrer einzigartigen Biografie verstehen und behandeln will. Durch die Analyse der Lebenssituation ist nicht nur ein Set der möglicherweise konstitutiven Zur evaluativen Dynamik der existenziellen Situierung siehe Kerrin A. Jacobs: »The depressive situation«, Frontiers in Theoretical and Practical Psychology 4/429 (2013), S. 1–10. 17 Kerrin A. Jacobs/Achim Stephan/Asena Paskaleva-Yankova et al.: »Existential and Atmospheric Feelings in Depressive Comportment«, Philosophy, Psychiatry & Psychology 21/2 (2014), S. 89–110. 18 Vgl. dazu Bernard Lown: »Dem Patienten zuhören können: die Kunst der Diagnosestellung«, in: ders., Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken, Stuttgart 2004, S. 23–30, bes. S. 30. 16
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Sozialdiagnostik und Lebensrat
Sozialfaktoren des Erkrankens im Sinne einer pathogenetischen Befundung generierbar, sondern auch die Bedingungen für den Erhalt (Resilienz) oder die Wiedererlangung von Gesundheit im Sinne einer salutogenetischen Orientierung werden dadurch schon mit angezeigt. 19 Man könnte meinen, dass die hier geschilderte ärztliche Befundung und Therapiepraxis nur auf das klassische Hausarztmodell zutreffen könne. In hoch spezialisierten fachärztlichen Praxen oder auch Ambulanzen – zumal in denen, wo Fälle von akuter Lebensgefahr vorherrschend sind – gehe es nicht um umfassende Sozialdiagnostik, schon gar nicht um Erteilung von Lebensrat. Das stimmt aber so nicht: Einen durch dreizehn Stichwunden kausal herbeigeführten lebensgefährlichen Zustand z. B. als Resultat von Gewalt in der Ehe zu thematisieren ist bereits Sozialdiagnostik. Nota bene ist das, was einen guten Arzt ausmacht, mit Klaus Dörner gesprochen, eine unter der Ärzteschaft eher im Stillen gestellte Frage, die sich auch aus philosophischer Sicht nicht abschließend beantworten lässt 20, jedoch Vorschläge zulässt, wie jenen, dass gute Ärzte individual-medizinisch orientierte Wissenschaftler sind, die sich der evidenzbasierten Medizin verpflichtet sehen, sich aber in der klinischen Praxis auch an generierten Erfahrungswerten eines Umgangs mit dem Leben selbst orientieren. Gute Ärzte erteilen Lebensrat so, dass die Standards der medizinischen Professionalität genau dadurch nicht untergraben, sondern vielmehr gewürdigt werden.
2.3. Lebensrat als Herzstück ärztlicher Beziehungskultur Gemäß der Charta der medizinischen Professionalität 21 hat sich die Ärzteschaft weltweit vor allem am Wohl des Patienten, der PatientenPeter Matthiessen charakterisiert die Problematik einer paradigmatischen Vereinseitigung ärztlichen Handelns. Vgl. Peter F. Matthiessen: »Paradigmenpluralität und Individualmedizin«, in: ders. (Hg.), Patientenorientierung und Professionalität. Festschrift, Bad Homburg 22011, S. 87–113, hier S. 104–108. 20 Klaus Dörner: Der gute Arzt, Stuttgart 2001. 21 Das Wesen ärztlicher Professionalität ist weltweit Gegenstand der Reflexion, so z. B. in der Charta der medizinischen Professionalität. Vgl. American Society of Internal Medicine/European Federation of Internal Medizin: »Medical Professionalism in the New Millenium. A Physician Charter«, Annals of Internal Medicine 136/3 (2002), S. 243–246. 19
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autonomie und der medizinisch-sozialen Gerechtigkeit zu orientieren. Diese Selbstverpflichtung bedeutet: eine gute Arzt-PatientenBeziehung anzustreben, die praktisch umsetzt, was seriöses Therapieren bedeutet. 22 Und dies fußt eben nicht nur auf der objektiv nachzuweisenden Wirkung und Wirksamkeit medizinischer Intervention, sondern betont den »Nutzen« der Berücksichtigung individueller Bewertungsmaßstäbe. 23 Ein Argument contra ärztlichen Lebensrat lautet in einer starken Leseweise: Selbst dann, wenn Ärzte sich ihrem Selbstverständnis nach an einer Patientenversorgung orientieren wollten, die die Lebenssituation des Patienten berücksichtigen würde, müssten sie sich trotzdem ihrer Meinung zu den allermeisten Lebensproblemen ihrer Klienten enthalten. Die Ärztin soll sich vor einer Pathologisierung hüten, denn dahinter könnte ein übertriebenes Interventionsbedürfnis stehen und die künstliche Erzeugung von Behandlungsbedarf und Abhängigkeiten der Patienten. Vor allem sei von einer Überforderung der Ärzteschaft zu sprechen: Selbst wenn Ärzte sich einen solchen Beratungsaufwand leisten können wollten, so sei dieser nicht nur angesichts ökonomischer Sachzwänge vollkommen hypertroph, sondern stelle vor allem eine moralische Überforderung dar. In der Regel wird doch von Ärzten nicht verlangt, dass sie ihr Handeln oder ihre Motivation moralisch begründen, sondern dass sie dies mit Blick auf die arztethischen Standards rechtfertigen können. Somit ist Lebensrat eben nicht Teil des Verpflichtungsspektrums der Standards des Berufsethos, sondern stellt m. E. eine zusätzliche ethische Verpflichtung dar, die der Arzt sich selbst auferlegt. Wo er dies tut, hat er freilich auch Sorge dafür zu tragen, dass die Standards der Charta nicht verletzt werden. Deshalb ist immer abzuwägen, ob die Patienten in solchen Fällen des lebensweltlichen »Beratungs- und Interventionsbedarfs« nicht an einen Psychologen, Sozialarbeiter etc. zu überweisen sind. Eine solche tendenziell restriktive Handhabung der diagnostischen Reichweite des Krankheitsurteils, des Umfangs des ärztlichen Ratschlags und damit auch der aufzuwendenden IntervenHelmut Keine/Hermann Heimpel: »Was ist seriöses Therapieren?«, in: Peter F. Matthiessen (Hg.), Patientenorientierung und Professionalität, Bad Homburg 2010, S. 61–69. 23 Matthias Girke: »Patient-Arzt-Beziehung«, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 50/9 (2007), S. 1128–1132, bes. S. 1131. hhttps://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17828474?dopt=Abstracti (letzter Zugriff 22. 11. 2017) 22
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tionen und Behandlungsfreiheit findet ihre Begründung in der strikten Bindung an die Leitlinien der evidenzbasierten Medizin, die den zusätzlich entstehenden Behandlungsbedarf (z. B. in Form von Gesprächen) als adäquate Intervention zu rechtfertigen oftmals erschwert. Diese berufliche Vorsicht lässt sich freilich mit Pro-Argumenten kontrastieren, die sich ebenfalls auf die Grundprinzipien der Charta medizinischer Professionalisierung beziehen. Das stärkste Argument ergibt sich durch den Fokus auf das Gebot der Achtung der Autonomie der Patienten. Jürgen Werner hat die Praxis der Beratung treffend markiert: »[D]er beste Rat ist einer, worauf ein anderer fast von allein gekommen wäre, so dass er ihn sich selber hätte geben können; zum Glück aber die Einsicht nicht gefunden hat, weil er sonst auf sie nicht gehört hätte« 24. Um auf den Rat des Arztes hören zu können, bedarf es einer Vertrauenssituation und einer Beachtung der Grenzen, die einerseits klar in der ärztlichen Profession festgelegt sind, anderseits auch maßgeblich vom Wissen um eigene Kompetenzen und spezifische situative Faktoren bestimmt werden. Wo Arzt und Patient sich in ihrer Beziehung zueinander ernst nehmen, verfehlt sich ein entgrenztes Raten auch in diesem Kontext grundsätzlich schon selbst: Wenn Beratung ohne Rücksichtnahme auf die Rechte, die individuelle Lage des Ratsuchenden oder die begrenzten Kompetenzen und Ressourcen von Beratern und Ratsuchenden erfolgt, dann ist der Ratschlag zumeist nicht nur fehl am Platz, sondern an ihm selbst zeigt sich eine Unredlichkeit und Respektlosigkeit: die Rolle des Beraters einfach unerbeten zu übernehmen oder einfordern zu wollen. Da eine wechselseitige Anerkennung als autonome Akteure m. E. zum Kern der guten ArztPatienten-Beziehung 25 gehört, gilt dies einerseits für Ärzte, die sich zu ihrer professionellen Verantwortlichkeit bekennen, andererseits gelten natürlich auch für Ratsuchende Grenzen: Ihr (un-)ausdrückliches Bedürfnis, einen Lebensrat zu erhalten, kann u. U. überfordern, zumal sicherlich keine direkte Verpflichtung zur Gesundheitsförderung aufseiten der Ärzteschaft durch umfassend praktizierte Lebensberatung besteht. Wenn wir jedoch die Therapiefreiheit von Ärzten als zentralen Aspekt der ärztlichen Professionalität betonen, dann ist gar nicht ersichtlich, warum Ärzte nicht auch Lebensrat erteilen Jürgen Werner: »Der klügste Rat«, Die tägliche Notiz 02. 10. 2017. hhttp://juergenwerner.com/der-kluegste-rat/i (letzter Zugriff 19. 01. 2018) 25 Matthiessen: Paradigmenpluralität und Individualmedizin, S. 93. 24
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dürfen sollten: Bei Bedenken gegenüber der Standard-Diagnostik kann durchaus noch zusätzlicher Aufwand im Sinne der individualisierten Sozialdiagnostik betrieben werden – zumal Therapiefreiheit ja auch niemals mit Therapiebeliebigkeit gleichzusetzen ist! Anstatt also mögliche Asymmetrien (z. B. im Wissensgefälle) in der ArztPatienten-Beziehung einseitig so zu problematisieren, dass durch sie im ärztlichen Lebensrat eine ethisch bedenkliche Abhängigkeitsstruktur vermutet wird, wäre doch m. E. genau das Gegenteilige zutreffend: Eine Ergänzung der evidenzbasierten wissenschaftlichen Diagnostik und Therapie durch eine lebensweltliche Beurteilung der psychosozialen Situation von Individuen (d. h. auch ihrer Lebensprobleme) bedeutet nicht nur eine Stärkung der ärztlichen Urteilskompetenz und der Therapiefreiheit, sondern ist Ausdruck der Achtung der Patientenautonomie. Wenn Ärzte »ihren« Patienten nicht mehr zutrauen, sich in und mit der ärztlichen Beratung ein eigenes Urteil bilden zu können, ist dies genauso ein Anzeichen für eine unmenschlich gewordene Medizin, wie es vielleicht auch die Angst von Ärzten sein mag, sich überhaupt eine Meinung diesbezüglich erlauben zu wollen. 26 Wenn zudem ein Mangel an »Zuhören« und »Beraten« durch Anwendung der vollen Apparatur medizinisch-technischer Möglichkeiten kompensiert wird, verweist dies auf ein Fehlverständnis der ärztlichen Professionalisierung: Der ärztlichen Professionalität wird heute implizit das Modell der technischen Rationalität zugrunde gelegt: Intelligente Praxis zeichnet sich aus durch die Anwendung von wissenschaftlichen Kenntnissen; der Praktiker übergibt seine praktischen Probleme dem Wissenschaftler, der sie löst und dem Praktiker die neuen Kenntnisse liefert, der sie dann in der Praxis anwendet. Außer der Identifikation von Problemen entsteht hierbei für den Arzt kaum die Notwendigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die einseitige Dominanz dieses Modells, verbunden mit Ressourcenknappheit und Haftungsfragen, führt zu einer zunehmenden externen Regulierung und Rationalisierung ärztlicher Tätigkeit, zu einem Schwinden ärztlicher Autonomie, zu Deprofessionalisierung und Frustration der Ärzte. Dieses Modell der technischen Rationalität wird von Experten aber als grob übersimplifiziert bezeichnet, da es nicht die Komplexität, das Herzstück der Professio-
Gunvar Sophia Kienle: »Evidenzbasierte Medizin und ärztliche Therapiefreiheit: Vom Durchschnitt zum Individuum«, Deutsches Ärzteblatt 105/25 (2008), S. 1383– 1384. Dazu auch: Dieter Hart: »Evidenz-basierte Medizin (EBM) und Gesundheitsrecht«, Medizinrecht 1 (2000), S. 1–5.
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nalität, erfasst, sondern bestenfalls auf die Situation des Anfängers zutreffend sei. 27
Ärztliches Können setzt die individuellen Krankheitsverläufe und Gesundungsprozesse in Relation zur psychosozialen Gesamtlage einer Person. Für diese komplexe Aufgabenstellung bedarf es eines vertrauensvollen Miteinanders, das über die Krankheitssymptomatik hinausgehend das Leben selbst anspricht. Das verweist auf das Eigentümliche des Lebensrats: Er thematisiert die Bedingungen eines »gesunden« Lebens so, dass es das Leben selbst zu sein scheint, das den Rat letztlich aufgreifen muss. Das Gelingen des Rates muss sich im Leben einfinden. Man kann sagen, dass hier ein »Glauben an den Wert des Existierenden als Freiheit und ihrem konstitutiven Sichöffnen gegenüber dem Sein und anderen Existierenden« 28 als ein entscheidender Teil ärztlicher Praxis ansichtig wird.
3.
Lebensberatung als medizinischer Grenzgang
Mit Karl Jaspers’ Theorie der existenziellen Kommunikation und seiner Methodenkritik wird die Gestaltung der Beziehung zwischen Arzt und Patient, die Gewichtung von Befund und Befindlichkeit nochmals spezifiziert. 29
3.1. Ärztliches Handeln zwischen Erklären und Verstehen Für Jaspers ist die Unterscheidung einer wissenschaftlichen und einer alltagspraktischen Perspektive auf Erkrankung zentral: Nun ist für den Arzt beides notwendig: Erstens die Naturwissenschaft und das durch sie begründete Können und somit das klare methodische Bewusstsein von den kausalen Wirkungen und Grenzen, das saubere Denken
Kienle: »Evidenzbasierte Medizin und ärztliche Therapiefreiheit«, S. 1383. Giuseppe Cantillo: »Die Leidenschaft zur Wahrheit und die Philosophie der Liebe bei Karl Jaspers«, in: Anton Hügli/Dominic Kaegi/Reiner Wiehl (Hg.), Einsamkeit, Kommunikation, Öffentlichkeit, Basel 2004, S. 87–98, hier S. 91. 29 Im Folgenden beziehe ich mich auf meinen unveröffentlichten Vortrag über »Karl Jaspers philosophische Kritik der Psychoanalyse«, den ich im Referate-Symposium »Philosophische Grundlagen der Psychotherapie und Psychiatrie« auf dem DGPPNKongress am 28. 11. 2013 in Berlin gehalten habe. 27 28
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und Handeln im Rahmen des durch Wissenschaft Möglichen. Zweitens aber muss dieses Können Werkzeug bleiben, das unter Führung des Ethos des Arztes steht. Nicht in den naturwissenschaftlich begründeten Mitteln, wohl aber in der Weise ihrer Anwendung, im Einverständnis mit dem Kranken und unter seiner Mitwirkung, liegt das grundsätzlich andere der Aufgabe, Tiere oder Menschen zu behandeln. 30
Jeder Versuch einer faktischen Bestimmung des im therapeutischen Kontext Gegebenen kann im Sinne eines Perspektivenwechsels hinter die philosophische Dimension der lebensweltlichen Ausgangslage des Subjekts zurücktreten. Sie muss es mit Jaspers sogar genau dort, wo individuelle Freiheit auf dem Spiel steht. Jaspers schreibt: Durch Verstehen bewirke ich nicht, sondern appelliere an Freiheit. Durch kausales Erklären werde ich fähig, in gewissem Umfang rational berechenbar einzugreifen in das Geschehen im Sinne erwünschter Ziele. Verwechsle ich aber die Verstehbarkeit von Sinn im Raum der Freiheit und die kausale Erklärbarkeit, so taste ich Freiheit an. Dann behandele ich sie wie ein Objekt, als ob sie erkennbar da sei, wodurch ich sie erniedrige. Und dazu versäume ich kausale Möglichkeiten, die wirklich bestehen. 31
Zu den Aufgaben der Verstehenden Psychologie zählt bekanntlich neben dem statischen Verstehen, also einer logisch verständlichen Beschreibung der Einzeltatsachen des Seelenlebens, auch das genetische Verstehen, durch das ersichtlich wird, wie »Seelisches aus Seelischem hervorgeht« 32. Während genetisches Verstehen auf das subjektive Erfassen von inneren Sinnzusammenhängen und damit auf Verständnis verweist – womit es sich gleichsam vom rationalen Verstehen einer nüchternen Verstandeslogik unterscheiden lässt – ist Erklären das Aufzeigen von objektivierbar kausalen Zusammenhängen. 33 Wo ein Eingreifen des Arztes als kausales Erklären mit einer medizinischwissenschaftlichen Erkenntnis begründbar wird, verweist die Konzeption von Verstehen auf die lebensphilosophische Dimension der therapeutischen Praxis und damit eben auf jene Erfahrungen im therapeutischen Kontext, die sich jeder objektiven Erfassung entziehen müssen.
Karl Jaspers: Zur Kritik der Psychoanalyse, Berlin 1950, S. 229; vgl. dazu auch: Karl Jaspers: Wesen und Kritik der Psychoanalyse, München 1954, S. 19. 31 Jaspers: Kritik der Psychoanalyse, S. 222. 32 Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, Berlin/Heidelberg 1973, Kap. III/ I. 33 Ebd., Kap. I/§ 3. 30
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Jaspers betont den fundamentalen Unterschied zwischen »betrachtender Erkenntnis von Kausalverkettungen« und dem praktischen Bereich des »erweckenden Denkens, das in uns zum Bewusstsein bringt, was wir eigentlich wollen« 34. Dementsprechend sucht die philosophische Methode der Transzendierung menschlicher Erfahrung einen Menschen in seiner konkreten Lebenssituation auf seine Bestimmung zur Freiheit hin anzusprechen. Das bedeutet: Ärztliches Handeln appelliert an ein Freiheitsvermögen selbst dort, wo das Individuum schon gravierende Einschränkungen in seinem Freiheitserleben (durch Kranksein oder durch ein gravierendes Lebensproblem) zu erleiden hat. Anstatt also eine Person zum Objekt der Erkenntnis machen zu wollen – indem eine kausale Erklärung den Vorrang vor dem lebendigen Akt der Einfühlung erhält – positioniert sich Jaspers entschieden: Der Anspruch eines ärztlichen Handelns, all das, was es aus philosophischer Sicht zu verstehen gilt, kausal erklären zu können, verunmöglicht es gleichsam. Jaspers sagt: »Erkenntnis erfasst die Geschehnisse nur in ihrer gegenständlichen Objektivierung nach dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit.« 35 Die medizinische Erkenntnis wendet sich also an den allgemeinen Verstand; worauf es allerdings in der therapeutischen Situation ankomme, ist dem Anspruch der Freiheit und damit unausweichlich auch dem Einzelnen gerecht zu werden. Selbst wenn Ärzte also die spezifischen Bedingungen aufzeigen könnten, unter denen Freiheit ihrem speziellen Wissenschaftsverständnis nach möglich oder unmöglich ist, könnte Freiheit selbst doch keineswegs aus diesen Bedingungen hervorgehen. »Freiheit zu denken und sich an sie zu wenden« ist und bleibt Sache des Philosophierens, dementsprechend »horcht die Freiheit auf die Sprache der Transzendenz« 36. Eine ärztliche Praxis ohne individualmedizinischen Anspruch wäre dann m. E. auf diesem Ohr sinngemäß taub. So ließe sich mit Jaspers auch die ärztliche Praxis als ein Tun beschreiben, das »den Menschen lieben« und nicht zu »organisieren und zu technisieren« versucht, »was für immer eine Sache der geschichtlichen Kommunikation einzelner Menschen bleibt« 37. Ein solches Sinnverstehen kann sich nur in der Gegenseitigkeit der KomKarl Jaspers: »Über Gefahren und Chancen der Freiheit«, in: ders., Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951, S. 293–331, beide Zitate auf S. 304. 35 Jaspers: »Über Gefahren und Chancen«, S. 304. 36 Ebd. 37 Jaspers: Kritik der Psychoanalyse, S. 222. 34
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munikation vollziehen und wird bei Jaspers kontrastiert mit der Kausalität als dem Sinnfremden. 38 Dieser existenziell dimensionierte Begriff des Verstehens ist das Herzstück einer ärztlichen Beziehungskultur. Zwar kann hier auch mit Jaspers versucht werden, die Faktoren, unter denen Freiheit möglich oder unmöglich wird, durch kausale Erklärung aufzuzeigen. Damit ist für das leidende Subjekt jedoch noch nichts gewonnen, weil die therapeutische Aufgabe ja genau darin besteht, die individuellen Möglichkeiten zur Freiheit aus dem Blickwinkel des Verstehens zu erhellen. Selbst wo noch der Nutzen einer Einsicht behauptet werden könnte, sich über die faktischen Begrenzungen seiner Freiheit bewusst zu sein, auf die die leidvollen Beeinträchtigungen zurückgeführt werden können, ist es »das Andere« eines verstehenden Wissens der Ursachen des Erkrankens, das bei Jaspers letztlich auch den Vorrang einer lebensweltlichen Perspektive begründet.
3.2. Die existenziell-kommunikative Beziehung zwischen Arzt und Patient Jaspers’ Philosophie appelliert an den rechten Gebrauch der praktischen Vernunft des Menschen. 39 Dies verweist auf die Zentralstellung der Existenzerhellung 40 nicht nur als Kernstück seiner Philosophie, sondern auch als eines Ideals therapeutischer Praxis. Als therapeutischer Kommunikationsmodus sieht existenzielle Kommunikation sich immer einer Kritik an »einer falsch verstandenen und missbräuchlich verwendeten Freiheit« 41 verpflichtet. Jede Form der Therapie ist als inhuman zu kritisieren, die Existenz – also jene Ebene des befindlichen Selbstseins eines Menschen – vergegenständlichen will und somit Freiheitserfahrungen verunmöglicht. Mit dem Konzept der Selbsterhellung formuliert Jaspers zweifelsohne eine normativ Ebd., S. 223. Kurt Salamun: »Zur appellativ-ethischen Dimension in Jaspers’ Philosophie«, in: Anton Hügli/Dominic Kaegi/Reiner Wiehl (Hg.), Einsamkeit, Kommunikation, Öffentlichkeit, Basel 2004, S. 99–117. 40 Karl Jaspers: »Über meine Philosophie«, in: ders., Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951, S. 333–365. 41 Reiner Wiehl: »Karl Jaspers: Einsamkeit, Kommunikation, Öffentlichkeit«, in: Hügli/Kaegi/Wiehl (Hg.), Einsamkeit, Kommunikation, Öffentlichkeit, Basel 2004, S. 15–26, hier S. 18. 38 39
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voraussetzungsreiche Theorie therapeutischer Interventionspraxis und positioniert sich entschieden gegenüber anderen Methoden (psycho)therapeutischer Intervention. 42 Für Jaspers ist der Dialog zwischen Patient und Therapeut für den Prozess individueller Freiheitsentfaltung das Zentrum ärztlicher Praxis. Das Streben nach Freiheit ist mit der Kommunikation zwischen zwei Existenzen untrennbar verbunden. Dies hat Jaspers in seiner Philosophie wie folgt beschrieben: Machen wir den Versuch, Selbstsein weiter zu erhellen, so wird Sinn: Selbstsein hört auf als isoliertes Ichsein; es ist Kommunikation. Es hört auf als vertretbarer reiner Verstand; es ist nur in geschichtlicher Einmaligkeit zu dieser Zeit an dieser Stätte. Es hört auf als empirisches Sosein; es ist nur als Freiheit. 43
Damit ist deutlich, dass seine therapeutische Methode eben nicht auf die alltäglichen Kommunikationsformen des Daseins abzielt, d. h. dass »die Dialogpartner einfach das bleiben, was sie sind, ohne dem anderen mitzuteilen, was sie tatsächlich sind« 44, sondern dass sie sich mit ihrem ganzen Dasein im Prozess der Kommunikation investieren. Für Jaspers’ Therapiemodell ist also der »Prozess des Offenbarwerdens in der Kommunikation« entscheidend, eben [jener] einzigartige Kampf, der als Kampf zugleich Liebe ist. Als Liebe ist diese Kommunikation nicht die blinde Liebe, gleichgültig welchen Gegenstand sie trifft, sondern die kämpfende Liebe, die hellsichtig ist. Sie stellt die Frage, macht schwer, fordert, ergreift aus möglicher Existenz die andere mögliche Existenz. 45
Die Möglichkeiten der Freiheit liegen in der Erfahrung authentischer Begegnung. Damit lässt sich mit Jaspers das Verhältnis zwischen Arzt und Patient als ein durchweg von Solidarität, wechselseitiger Anerkennung, Gleichheit und vor allem größtmöglicher Transparenz gekennzeichnetes Kommunikationsverhältnis auszeichnen, das – so
Dies läuft seiner methodologischen Annahme zuwider, die besagt, dass die Verstehende Psychologie aus wissenschaftlicher Perspektive von normativen Prämissen freizuhalten sei. Vgl. Matthias Bormuth: Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse, Stuttgart/Bad Cannstatt 2002, S. 81. Vgl. auch Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, § 2. 43 Karl Jaspers: Philosophie, Band II: Existenzerhellung, Berlin 31932, S. 49. 44 Cantillo: Die Leidenschaft zur Wahrheit, S. 92. 45 Jaspers: Existenzerhellung, S. 65. 42
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besehen – dann auch kein Machtgefälle mehr kennen will. Im Gegensatz zur Abhängigkeit des Patienten von der eingreifenden Deutung des Therapeuten hat die Existenzielle Kommunikation den Anspruch, den Möglichkeitsgrund der existenziellen Selbsterhellung nicht zu unterlaufen. 46 Dabei ist auch klar, dass jede Form der so verstandenen Vermittlung einer Kunst der Lebensführung (z. B. durch den Lebensrat) unter den Vorzeichen des Ideals der Existenzerhellung doch klarerweise Werturteile impliziert. 47 Es bleibt zu betonen, dass selbst dann, wenn die Ärztinnen-Patientinnen-Beziehung mit Situationen umgehen muss, die Ausdruck eines »Kampfes« 48 der verstehenden Einsicht sind, die damit verbundene Asymmetrie des Kommunikationsverhältnisses im Sinne eines »Freiheitsgefälles« kein ethisch bedenkliches ist, jedenfalls dann nicht, wenn man die Kommunikationskriterien – Wechselseitigkeit, Gleichheit, Unabhängigkeit – als Merkmale eines spezifischen Beziehungsmodells guter ärztlicher Praxis hervorheben will.
3.3. Kritik und Ausblick Man könnte nun einwenden, dass hier mit Jaspers’ Modell der Existenziellen Kommunikation ein normativ zu anspruchsvolles Therapiemodell veranschlagt wird. Mit dem »Programm« der Selbsterhellung könnte der medizinische Interventionsrahmen normativ stark überstrapaziert erscheinen. 49 Das Argument der Überforderung wiegt – nur diesmal weniger aufseiten des Arztes als auf der des Patienten –, da die Befähigung, in den Modus der existenziellen Kommuni-
Der eigentümliche Charakter der therapeutischen Intervention als Herangehensweise in erzieherischer Absicht bleibt auch bei Jaspers zu kritisieren: Siehe Karl Jaspers: Wesen und Kritik der Psychotherapie, München 1955, S. 7–10. Zur Kritik siehe auch: Matthias Bormuth, Lebensführung, S. 89. 47 Somit ist der ursprünglich proklamierte Anspruch einer eigentümlichen phänomenologischen »Vorurteilslosigkeit bei der Anschauung der Erscheinung« (vgl. dazu: Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, Kap. I, S. 48) mit der Angleichung des psychologischen an die Tradition philosophischen Verstehens kaum aufrechtzuerhalten. 48 Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, hier 21920, S. 293. Vgl. auch: Karl Jaspers: Wesen und Kritik der Psychoanalyse, München 1955, S. 38. 49 Hier wäre weiterführend der »Glaubenscharakter« eines auf der lebensphilosophisch orientierten Therapie aufbauenden Verständnisses ärztlichen Handelns kritisch diskutierbar. Jaspers: Wesen und Kritik der Psychotherapie, S. 49 ff. 46
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kation als Unabhängiger einzutreten, aufseiten des Patienten ja oftmals (noch) nicht wahrgenommen werden kann. Vielmehr gelten die Stufen der Existenzerhellung erst als langsam in Erscheinung tretende Wirkungen der existenziellen Kommunikation. Hier müsste auch bei Jaspers die Situation des leidenden Patienten stärker in Relation zum therapeutischen Idealanspruch seiner Existenzwerdung als Person gestellt werden. Das zeigt genau jene Orientierung an einem positiven Gesundheitsbegriff, der die Fragen von Gesundheit und Krankheit anbindet an die Befähigung zur Freiheit. Wenn ärztliche Praxis nicht auch den Versuch unternimmt, über die reine Krankheitsbehebung hinaus den Menschen in seiner individuellen Lebenssituation zu sehen und ärztlich zu beraten, dann wird dem Erklären das Verstehen geopfert. Letztlich ist Jaspers zugutezuhalten, auf diese Gefahren einer inhumanen ärztlichen Praxis verwiesen zu haben mit der Betonung einer notwendigen perspektivischen Trennung zwischen der wissenschaftlichen und der alltagspraktischen Perspektive. Zugleich fordert dies dazu auf, zwischen dem Versuch einer wertneutralen Beschreibung der Einzeltatsachen des Seelenlebens und einem lebensphilosophischen Nachvollziehen der Befindlichkeit engagiert zu vermitteln. Der Lebensrat schlägt diese Brücke der Vermittlung: Er ist Ausdruck eines Verstehens, das in der ärztlichen Praxis immer durch vorausgegangenes Erklären informiert ist. Als Ausdruck eines medizinischen Grenzgangs emanzipiert er sich jedoch und spricht – als Modus zur Freiheit – das Leben selbst an.
4.
Fazit
Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient die verschiedenen Bestimmungshorizonte der Freiheit transparent zu formulieren sind. Die ärztliche Lebensberatung ist der Freiheit des Patienten verpflichtet und immer auch hinsichtlich ihrer Begrenzungen zu kommunizieren, worauf der Idealcharakter des Konzepts der Selbsterhellung freilich schon verweist. 50 Wo sich Individuen der Grenzen ihrer Freiheit bewusst werden, mag es dann auch eine Sache der methodischen Bescheidenheit
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Ebd., S. 35.
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sein, darauf hinzuweisen, dass eine mögliche Verbesserung der Lebenssituation immer durch autonome Selbstbesinnung bestimmt bleibt; und damit kann jede Form der Therapie, die den Lebensrat integriert, auch »nicht ersetzen, was allein das Leben selber bringt« 51.
51
Ebd., kursiv im Original.
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Die Medikalisierung der Schwangerschaft und die Grenzen medizininhärenter Normierungen Daniela Ringkamp
Abstract: In der Medizintheorie und -ethik werden zahlreiche schwangerschaftsbezogene Maßnahmen wie Fragen der Legitimität von Abtreibung oder Pränataldiagnostik umfassend und kontrovers diskutiert. Dabei ist jedoch unklar, wie sich die Medizin zur Begleitung von Schwangerschaften als solchen positioniert. Der Beitrag verdeutlicht, dass aufgrund der ontologischen Konstitution einer Schwangerschaft deren medizinische Regulierung nicht durch Grundlagen normiert werden kann, die aus dem klassischen Selbstverständnis der Medizin als kurative, auf Therapie und Heilung abzielende Tätigkeit hervorgehen. Vielmehr gilt es, durch Einbeziehung der ontologischen Komponenten einer Schwangerschaft den Möglichkeitsraum, der sich bei der Regulierung schwangerschafts- und reproduktionsmedizinischer Maßnahmen eröffnet, an einer Aufwertung der Entscheidungskompetenz der schwangeren Frau als zentraler moralischer Akteurin auszurichten.
Einleitung Als Handlungsordnung, d. h. als »Ensemble wissenschaftlich angeleiteter, technisch vermittelter und soziopolitisch höchst effektvoller Praktiken« 1, ist die Medizin auf die Tätigkeit von unterschiedlichen Akteuren wie Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und Fachangestellten angewiesen, die therapeutische Ziele benennen und ihre Handlungen an diesen ausrichten. Neben konkreten Fragen etwa zur Dauer und Art der Behandlungsziele stellt sich für die medizinische Praxis dabei auch das übergeordnete Problem, an welchen Grundsätzen die Tätigkeiten medizinischer Akteure überhaupt ausgerichtet sein sollen. In diesem Zusammenhang werden in der Medizintheorie zwei Ansätze diskutiert, von denen der eine davon ausgeht, dass die 1
Cornelius Borck: Medizinphilosophie zur Einführung, Hamburg 2016, S. 30–31.
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Daniela Ringkamp
Medizin durch moralische Grundsätze bestimmt wird, die aus der Praxis selbst hervorgehen, während der andere betont, dass die Medizin durch externe, eigenständig zu begründende Vorgaben und Erwartungshaltungen geprägt ist. Vertreter der Auffassung einer der medizinischen Praxis inhärenten Moral verweisen z. B. auf die mit dem ärztlichen Berufsstand verbundenen Selbstbindungen des Nichtschadens, des Wohltuns und der Achtung der Patientenautonomie 2 sowie auf die Ziele der Medizin, die das US-amerikanische Hastings Center u. a. als Erhaltung von Leben, Linderung von Schmerz, als Prävention, vor allem aber als Heilung von Krankheiten und Wiederherstellung der Gesundheit definiert. 3 Vertreter einer gegenteiligen Position heben hervor, dass die Medizin nicht nur nicht über ein eigenständiges telos verfügt, 4 sondern Ziele, Zwecke und Ausgestaltungen medizinischer Praktiken durch externe moralische Vorstellungen normiert werden. 5 Die Antwort auf die Frage nach einem inhärenten oder externen ethos der Medizin bestimmt dabei auch die Frage, was Medizin überhaupt ist: Eine kurative Praxis, deren Zweck die Behandlung von und Prävention vor Krankheiten ist, oder aber eine Profession, die zunehmend Dienstleistungsaufgaben erfüllt. Der diagnostizierte Wandel von einer kurativen hin zu einer wunscherfüllenden Medizin, zu deren Aufgabenbereich die Optimierung von Körperzuständen ohne medizinische Indikation gehört, verdeutlicht dieses Spannungsfeld zwischen Heilungs- und Gestaltungsauftrag der Medizin. 6 Die Dynamik dieser Entwicklungen führt dazu, dass So lauten drei der vier Prinzipien, die Beauchamp und Childress, ergänzt durch das Prinzip der Gerechtigkeit, als »guidelines for professional ethics« – hier der medizinischen Profession – betrachten. Tom L. Beauchamp/James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics, New York 52001, S. 12. 3 So betont Pellegrino die Tugenden des Arztes, die in aristotelischer Tradition durch die »Endziele der Medizin« rekonstruiert werden, deren oberstes telos das Wohl des Patienten ist. Edmund D. Pellegrino: »Der tugendhafte Arzt und die Ethik der Medizin«, in: Hans-Martin Sass (Hg), Medizin und Ethik, Stuttgart 1999, S. 40–68, hier S. 42. 4 Robert M. Veatch: »The Impossibility of a Morality Internal to Medicine«, Journal of Medicine and Philosophy 26/6 (2001), S. 621–642, hier S. 636. 5 Veatch: »Impossibility«, S. 635: »Since there is no such thing as a set of ends for practices that can be universally known by the bare analysis of the concepts related to the practices, the ends of professional practices such as medicine must be derived from external beliefs and norms.« 6 Siehe zur Problematik der wunscherfüllenden Medizin die Beiträge in Matthias Kettner (Hg): Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt am Main/New York 2009. 2
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immer mehr Lebensbereiche dem Zugriff medizinischer Techniken unterliegen, obwohl sie keine Krankheitsimplikationen aufweisen, sondern sich instrumentell an Bedürfnissen oder anderen nichtmedizinischen Zwecken ausrichten 7 – ein Prozess, der in der Medizintheorie unter dem Oberbegriff der ›Medikalisierung‹ 8 diskutiert wird. Ein Gegenstand, der die Medizintheorie vor besondere Herausforderung stellt, ist der Bereich der Reproduktionsmedizin sowie der Umgang mit Schwangerschaft als solcher. So sind einige Maßnahmen der Reproduktionsmedizin dezidiert der wunscherfüllenden Medizin zuzuordnen, z. B. die – im deutschen Embryonenschutzgesetz verbotene – Möglichkeit der Geschlechtsselektion eines in vitro gezeugten Embryos oder auch die Forderung nach einer Sectio auf Wunsch ohne entsprechende medizinische Indikation. Andere Fälle, etwa die an einem in vitro erzeugten Embryo vorgenommene Präimplantationsdiagnostik zur Feststellung des Vorliegens einer schweren Erberkrankung, sind unter bestimmten Bedingungen durchaus mit den klassischen inhärenten Zielen der Medizin zu vereinbaren. Komplexer jedoch und bisher kaum analysiert ist die Frage, wie die Medizin mit Schwangerschaft als solcher umgeht. Kein Vertreter der Schulmedizin wird bestreiten, dass die Medizin für die Begleitung einer Frau von der Frühphase der Schwangerschaft bis zur Geburt zuständig ist. Dennoch ergeben sich bei einer genaueren Durchdringung des Verhältnisses von Schwangerschaft und medizinischer Supervision Widersprüche, die letztendlich auch die Frage nach einem internen oder externen ethos der Medizin tangieren. Der Grund für diese Widersprüche besteht darin, dass in medizintheoretischen und -ethischen Untersuchungen nicht immer bedacht wird, was eine Schwangerschaft als solche kennzeichnet. Sowohl die theoretische als auch die klinische Medizin scheinen wie selbstverständlich davon auszugehen, dass Schwangerschaft – durchaus berechtigterweise – medizinischer Kontrolle bedarf. Diese Selbstverständlichkeit führt jedoch dazu, dass zwar zahlreiche ethische Herausforderungen von mit Schwangerschaften verbundenen Maßnahmen diskutiert werden. Die grundsätzliche Frage aber, was eine Schwangerschaft ist, welche
Vgl. Matthias Kettner: »›Wunscherfüllende Medizin‹ zwischen Kommerz und Patientendienlichkeit«, Ethik in der Medizin 1 (2006), S. 81–91, hier 86. 8 Vgl. dazu Tobias Eichinger: Jenseits der Therapie. Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin, Bielefeld 2013, S. 198–203. 7
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Akteure unmittelbar von ihr betroffen sind und wie die Medizin sich zu diesen positioniert, findet weniger Beachtung. Gegenstand meines Beitrages ist eine Analyse der Herausforderungen, die sich für die Medizintheorie ergeben, wenn sie Schwangerschaft als ›ontologisches Phänomen‹ ernstnimmt. Um die bereits angesprochenen Probleme einer medizintheoretischen Auseinandersetzung mit der Schwangerschaft zu markieren, werde ich mich zunächst (I.) exemplarisch mit zwei divergierenden Positionen beschäftigen, von denen die eine Schwangerschaft als Krankheit betrachtet, die deshalb in den Zuständigkeitsbereich der Medizin fällt, während die andere Schwangerschaft nicht als pathologisch einstuft, ihre ›Behandlung‹ aber dennoch der Medizin zuordnet. Zwar erläutern beide Positionen zumindest indirekt die Frage, weshalb die Begleitung von Schwangerschaften Gegenstand medizinischer Behandlung ist; eine detaillierte Analyse des Verhältnisses zwischen Schwangerschaft und medizinischer Regulierung bleibt jedoch aus. In der Diskussion beider Ansätze, so werde ich im zweiten Teil zeigen (II.), ergeben sich allerdings gute Gründe, die Zuständigkeit der Medizin für Schwangerschaftsbelange nicht durch ein internes, sondern durch ein externes ethos der Medizin zu fundieren, das durch eine Reflexion auf die internen Ziele und Beweggründe medizinischen Handelns nicht bereitgestellt werden kann. Diese Aufwertung externer Normierungsgrundlagen wiederum mag zwar die zahlreichen, dem Kontext der Medikalisierung zuzuordnenden Eingriffe in den Schwangerschaftsverlauf erklären, resultiert unter anderem aber auch in einer Strategie, die den normativen Zugriff auf die Schwangerschaft als solche wieder primär dem medizinischen Personal zuspricht (III.). Allerdings birgt diese Strategie legitimationstheoretische Probleme und berücksichtigt die Stellung der schwangeren Frau nicht adäquat. In einem vierten und abschließenden Teil werde ich daher in Auseinandersetzung mit den geschilderten Tendenzen und unter Beachtung der Frage, was eine Schwangerschaft als solche kennzeichnet, die Position eines externen ethos verteidigen, der zufolge die moralischen Grundlagen, an denen sich die Medizin in ihrer Begleitung der Schwangerschaft orientiert, nicht primär und ausschließlich durch die Medizin selbst bereitgestellt werden können (IV.). Ausgehend von dieser Analyse ergibt sich auch eine – gleichwohl bescheidene – Antwort auf die Frage nach dem ethos der Medizin – nämlich die, dass medizinethische und -theoretische Untersuchungen nicht nur Überlegungen über interne oder externe Bewertungsstandards, sondern 308 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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auch ontologischer Analysen über die zu regulierenden Phänomene bedürfen.
1.
Ist Schwangerschaft eine Krankheit?
Biologisches ›Ziel‹ einer Schwangerschaft ist die Geburt eines Kindes. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses ›Ziel‹ eintritt, ist am höchsten, wenn die Gesundheit von Mutter und Kind während der Schwangerschaft bestmöglich gewährleistet ist und keine Komplikationen bestehen. Es ist daher zunächst offensichtlich, dass die Realisierung dieses ›Ziels‹ am ehesten ›gelingt‹, wenn eine Schwangerschaft medizinisch begleitet wird und mögliche Komplikationen früh erkannt werden. Bei einer genaueren Betrachtung dieser Selbstverständlichkeit ergeben sich jedoch Fragen. Denn Präventionsaspekte, die Erhaltung von Leben oder Linderung von Schmerz als mögliche Ziele der Medizin, die medizinische Eingriffe legitimieren, lassen sich nicht unmittelbar auf die medizinische Begleitung der Schwangerschaft übertragen. Die Erhaltung von Leben ist insbesondere dann gefordert, wenn Leben bedroht ist – eine Schwangerschaft ist aber weder für die Mutter noch für das Kind ein prinzipiell lebensbedrohlicher Zustand. Eine Schmerzlinderung ließe sich durch temporäre Eingriffe bei möglichen Beschwerden erreichen, bedarf aber keiner grundsätzlichen und langfristigen medizinischen Begleitung. Auch Präventionsaspekte werden als Grund einer medizinischen Begleitung der Schwangerschaft immer wieder genannt. 9 Es ist jedoch unklar, wogegen sich präventive medizinische Maßnahmen bei der Schwangerschaftsüberwachung richten sollen, und wir werden später sehen, dass sich eine ausschließlich am Präventionsgedanken ausgerichtete medizinische Schwangerschaftsregulierung mit einem Dilemma konfrontiert sieht. Es ist sicherlich wichtig, potentiellen Risiken vorzubeugen. Doch ist es fraglich, ob eine Schwangerschaft als solche ein Risikozustand ist oder ob nicht vielmehr bestimmte Verlaufsformen der Schwangerschaft, z. B. aufgrund einer mütterlichen Vorerkrankung, einem höheren Risiko ausgesetzt sind als andere, nicht aber die Schwangerschaft per se – denn wieso sollten Risikoschwangerschaften als solche So etwa Peter Hucklenbroich: »Der Krankheitsbegriff als Unterscheidungskriterium zwischen Therapie und Enhancement«, in: Jan C. Joerden u. a. (Hg.), Menschenwürde in der Medizin: Quo vadis?, Baden-Baden 2012, S. 395–422.
9
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benannt werden, wenn bereits die Schwangerschaft selbst ein Risiko darstellt? Diese Irritationen verstärken sich, wenn das klassische medizinische Ziel der Heilung von Krankheiten auf die Schwangerschaft übertragen wird. Wäre die Schwangerschaft eine Krankheit, so wäre die medizinische Zuständigkeit offensichtlich; doch eine mögliche ›Heilung‹ der Krankheit könnte dann im Beenden der Schwangerschaft durch die Medizin bestehen – eine offensichtlich absurde Konsequenz. Inwiefern es problematisch ist, klassische Kategorien der Medizintheorie auf die Schwangerschaft zu übertragen und welche Konsequenzen damit einhergehen, soll im Folgenden anhand einer genaueren Betrachtung der Frage, ob Schwangerschaft eine Krankheit ist oder nicht, gezeigt werden. Die Analyse des Krankheitsbegriffes sowie Fragen zum Verhältnis zwischen Krankheit und Gesundheit sind breit diskutierte Themen der Medizintheorie und geben auch Aufschluss über das Selbstverständnis, mit dem die Medizin an ihre Aufgaben herangeht. Da eine ausführliche Diskussion des Krankheitsbegriffs in diesem Kontext zu weit führen würde, werde ich mich exemplarisch mit den Positionen von Christopher Boorse auf der einen sowie Bernart Gert, Charles Culver und K. Danner Clouser auf der anderen Seite beschäftigen. In beiden Ansätzen werden unterschiedliche Auffassungen zur Frage, ob Schwangerschaft eine Krankheit ist, vertreten; und beide beinhalten – zumindest indirekt – auch erste Annahmen darüber, woraus sich die Zuständigkeit der Medizin für die Schwangerschaft ergibt.
1.1. Schwangerschaft: Biologische Funktionalität Christopher Boorse vertritt einen funktionalistischen Krankheitsbegriff, in dem die Definition von ›Krankheit‹ und ›Gesundheit‹ an die Festlegung von Referenzklassen gebunden ist, für die eine idealtypische Funktionalität physischer Abläufe zur Reproduktion und zum Überleben von Individuen ermittelt werden können. 10 Ausgehend von Alter und Geschlecht werden Organismen einer solchen Referenzklasse zugeordnet – z. B., bezogen auf menschliche Individuen, 25–40-jährige Männer, Frauen zwischen 60 und 70 Jahren, Vgl. Christopher Boorse: »A Rebuttal on Health«, in: James M. Humber/Robert F. Almeder (Hg.), What is Disease?, New York 1997, S. 1–134, hier S. 7.
10
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11–12-jährige Mädchen usw. Auf statistischem Wege wird ein idealtypisches Speziesdesign ermittelt, das den durchschnittlichen charakteristischen Beitrag der physiologischen Prozesse von Mitgliedern der Referenzklasse zur Reproduktion und zum Überleben bestimmt. Ist ein Individuum gesund, so ist die Effizienz der Prozesse bzw. deren Bereitschaft dazu normal oder höher als der statistische Normalwert, ist ein Individuum krank, so ist die Effizienz geringer und liegt unter dem statistisch ermittelten Durchschnitt. Boorses Theorie wird als eine naturalistische, biostastische Theorie der Krankheit bezeichnet: Naturalistisch, weil sie sich an der Funktionalität biologischer Prozesse orientiert, und biostatistisch, weil die durchschnittliche Funktion dieser Prozesse auf statistischem Wege ermittelt wird. Dennoch bemisst sich die Funktionalität letztendlich an qualitativen Komponenten, denn als entscheidende Kriterien, die eine effiziente oder nicht-effiziente Funktionalität anzeigen, benennt Boorse deren kausalen Beitrag zum Überleben und zur Reproduktion des jeweiligen Individuums, den beiden übergeordneten Zielen biologischer Funktionalität. Aufgrund seiner ausschließlichen Gebundenheit an Alter und Geschlecht gibt es über den Begriff der Referenzklasse als solchen keine Möglichkeit, dezidiert schwangere Frauen als Mitglieder einer eigenen Referenzklasse zu verstehen. Allerdings ist es möglich, Frauen eines bestimmten Alters, z. B. zwischen 18 und 45 Jahren, in einer eigenständigen Referenzklasse zusammenzufassen und bei dieser ein erhöhtes Vorkommen von Schwangerschaften zu konstatieren, so dass Schwangerschaften indirekt durchaus berücksichtigt werden können. Entscheidend ist jedoch, dass Boorse das Überleben und die Reproduktion einer Spezies als zentralen Maßstab funktionaler Effizienz begreift, und deshalb ist auch klar, warum Schwangerschaft nicht als Krankheit verstanden werden kann. Denn auch wenn eine Schwangerschaft mit erhöhter Morbidität und Mortalität einhergeht, 11 dient sie der Reproduktion und ist als solche effizient. So betont Boorse mit Verweis auf gegenteilige Positionen daher mehrfach, dass Schwangerschaft keine Krankheit ist: »[W]hen a definition is found to classify pregnancy as disease, pathological, abnormal, or anything of the sort, that is an intolerable result. No analysis faithful to medicine can count pregnancy as per se unhealthy.« 12 In der Kur11 12
Vgl. ebd., S. 94. Ebd., S. 43 f.
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sivsetzung der Begriffe per se zeigt sich, dass es mit Boorse durchaus möglich sein kann, zwischen einem normalen und einem anormalen Schwangerschaftsverlauf zu unterscheiden, sodass vom normalen Funktionsdesign der Schwangerschaft abweichende Prozesse, wie z. B. im Fall einer Präeklampsie, durchaus als Krankheit verstanden werden können. Es wäre in diesem Kontext jedoch irritierend, davon auszugehen, dass bereits die Schwangerschaft als solche eine Krankheit ist, bei der zugleich weitere, schwangerschaftsbedingte Krankheiten auftreten können: In diesem Fall ergäbe sich die ärztliche Pflicht zur Behandlung der schwangerschaftsbedingten Krankheit, was aber zugleich die Wiederherstellung des ursprünglichen, jedoch ebenfalls pathologischen Schwangerschaftsstatus bedeuten würde, sodass unklar ist, welche Handlungsanweisungen überhaupt an die Medizin ergehen. Diese Überlegungen stärken letztendlich Boorses Lesart, der zufolge eine normal verlaufende Schwangerschaft keinesfalls pathologisch ist. Zwar birgt auch eine normal verlaufende Schwangerschaft gesundheitliche Belastungen für die betroffene Frau, dennoch kann eine Schwangerschaft aufgrund dieser Belastungen nicht als pathologisch bezeichnet werden: »Normal pregnancy and birth already put considerable stress on women’s bodies […]. [N]ormal reproduction often carries a very high cost to the individual. But that cannot make normal reproduction pathological, or a disease.« 13 Auch wenn Schwangerschaft als solche keine Krankheit ist, so bedeutet dies jedoch nicht, dass Schwangerschaften nicht medizinisch begleitet und ungewollte Schwangerschaften durch medizinische Interventionen beendet werden können. Denn der Zuständigkeitsbereich der Medizin erschöpft sich mit Boorse nicht nur in der Behandlung von Krankheiten: Zwischen medizinischer Behandlung und der Definition eines Zustandes als pathologisch existiert eine Lücke, (»gap« 14): Die Klassifikation eines Zustandes als Krankheit ist eine hinreichende, jedoch keine notwendige Bedingung dafür, dass dieser Zustand medizinisch begleitet werden bzw. in ihn mit medizinischen Mitteln interveniert werden kann: »Doctors already treat fertility, pregnancy, penile foreskins, ugly noses, small breasts, pain in childbirth, and so on. Prescribing contraceptives does not make fertility
13 14
Ebd., S. 94. Ebd., S. 26.
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pathological, nor does it have to be pathological for doctors legitimately to treat in.« 15 Damit stellt Boorse die Schwangerschaft in den Kontext dessen, was eingangs unter dem Begriff der Medikalisierung erläutert wurde: Schwangerschaft ist keine Krankheit, dennoch fällt sie in den Zuständigkeitsbereich der Medizin. Sie bedarf, wie z. B. korrigierende operative Eingriffe, medizinischer Regulation, ohne jedoch mit derartigen Eingriffen gleichgesetzt werden zu können. Die Aufgaben der Medizin erschöpfen sich dementsprechend nicht in der Behandlung von Krankheiten, sondern müssen weiter gefasst bleiben, wobei an dieser Stelle offen bleibt, nach welchen Zielen der Einwirkungsbereich der Medizin und die medizinische Regulierung der Schwangerschaft bemessen werden sollten.
1.2. Schwangerschaft: Ein Gebrechen? Im Gegensatz zu Boorse vertreten Gert, Culver und Clouser die Position, dass Schwangerschaft pathologisch ist. Jedoch divergieren beide Auffassungen nicht nur in der Frage des Krankheitsstatus der Schwangerschaft, sondern vor allem mit Blick auf den Krankheitsbegriff als solchen. Während Boorse durch Verweis auf biologische Dysfunktionalität einen naturalistischen Krankheitsbegriff etabliert, orientieren sich Gert, Culver und Clouser am evaluativen Begriff des Übels, das Betroffene durch eine Krankheit erfahren. Zur Veranschaulichung wählen sie nicht den Begriff der Krankheit, sondern den des Gebrechens (»Malady«), der eine Vielzahl an Konnotationen aufnimmt, die mit dem Krankheitsbegriff einhergehen – etwa »injury«, »illness«, »sickness«, »disease« (…), »disorder«, »lesion« oder »syndrom« 16. Mit dem Begriff des Gebrechens geht zugleich eine normative Konnotation einher: »Gebrechen sind etwas Schlechtes – etwas, das vermieden werden sollte.« 17 Eine Person, die unter einem Gebrechen leidet, ist von einem Übel betroffen oder sieht sich in der Ebd., S. 92. K. Danner Clouser/Charles M. Culver/Bernart Gert: »Malady«, in: James M. Humber/Robert F. Almeder (Hg.), What is Disease?, New York 1997, S. 173–217, hier S. 177. 17 K. Danner Clouser/Charles M. Culver/Bernart Gert: »Gebrechen: Eine neue Betrachtung der Krankheit«, in: Thomas Schramme (Hg.), Krankheitstheorien, Berlin 2012, S. 111–134, hier S. 116. 15 16
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Gefahr, durch ein Übel gefährdet zu sein. Als grundlegende Übel betrachten Gert, Culver und Clouser Tod, Schmerz und Behinderung, aber auch die Einschränkung von Freiheiten oder den Verlust von Freude. All diese Aspekte sind »Übel und werden von jeder rational handelnden Person vermieden, solange kein Grund besteht, anders zu handeln« 18. Unter einem Grund verstehen Gert, Culver und Clouser eine »bewusste Überzeugung […], die irrationale Handlungen rechtfertigen und sie damit zu rationalen machen kann.« 19 Diese Bemerkung zeigt, dass die betroffenen Personen durchaus selbst beeinflussen können, ob ein Übel tatsächlich als Bestandteil eines Gebrechens verstanden wird oder nicht. Denn Personen haben manchmal gute Gründe, Freiheitseinschränkungen, Schmerzen oder sogar den Tod auf sich zu nehmen – etwa um andere Personen zu schützen. Nicht jedes Übel ist ungewollt, und es gibt Übergangsbereiche, in denen die Verfügbarkeit eines rationalen Grundes nicht offensichtlich, aber durchaus möglich ist, etwa in einigen religiös-kulturellen Kontexten. Diese Definition des Gebrechens ist noch sehr weit gefasst. Um Arten des Leidens auszuschließen, die extern verursacht sind – z. B. durch Umweltkatastrophen –, kommt ein weiterer, zentraler Aspekt hinzu: Ein Gebrechen liegt nur dann vor, wenn »das entsprechende Übel nicht auf eine von der betroffenen Person klar unterschiedene fortdauernde Ursache zurückzuführen ist« 20. Anders ausgedrückt: Die Ursache des Gebrechens muss in der betroffenen Person selbst zu finden, sie muss »Teil der Person« 21 bzw. »[a] Condition of the Individual« 22 sein. So hat ein Mensch, der sich in einem mit Rauch durchzogenen Zimmer aufhält, Atmungsprobleme, jedoch leidet er nicht an einem Gebrechen. Wenn ein Mensch allerdings bei Abwesenheit derartiger Umstände dennoch Atmungsprobleme hat, so liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Gebrechen vor, das durch die physische Konstitution der Person bedingt ist. Ein Gebrechen definieren die Autoren daher folgendermaßen: Eine Person hat genau dann ein Gebrechen, wenn sie aufgrund eines Zustands, der weder in einer rationalen Überzeugung noch einem solchen 18 19 20 21 22
Ebd., S. 117. Ebd., S. 115. Ebd., S. 118. Ebd., S. 119. Clouser/Culver/Gert: »Malady«, S. 186.
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Wunsch besteht, ein Übel (Tod, Schmerz, Behinderung, Einschränkung der Freiheit beziehungsweise von Möglichkeiten oder der Verlust von Freude) erleidet oder ein erhöhtes entsprechendes Risiko besteht und keine separate aufrechterhaltende Ursache vorliegt. 23
Hier gibt es Übergangsbereiche, etwa beim Verschlucken einer Giftkapsel, bei dem unklar ist, ab wann das Übel Teil der Person ist und bis wann eine von der Person unterschiedene Ursache vorliegt. Auch eine Schwangerschaft wird von Gert, Culver und Clouser zunächst als Grenzfall betrachtet, schließlich aber doch der Klasse der Gebrechen zugeordnet: [P]regnancy is a malady since it is clearly a condition of the individual, other than her rational belief or desire, such that the individual is suffering, especially in the last several months, some pain and disability. Also, throughout pregnancy she is at a significantly increased risk of incurring these harms. […] Certainly pregnancy has not been regarded as a disease nor, for that matter, as a disorder, a trauma, or an injury. None of those terms seems quite right. On the other hand, illness, nausea, and »feeling terrible,« are terms frequently associated with pregnancy, and medical insurance pays for their treatment. 24
Eine Schwangerschaft sei oft mit Unannehmlichkeiten und Schmerzen verbunden und auch, wenn diese Beschwerden nicht direkt vorliegen, so erhöhe sich im Laufe der Schwangerschaft dennoch die Wahrscheinlichkeit, dass diese (oder andere) Beschwerden auftreten werden. Allein das Vorliegen eines Übels oder die erhöhte Wahrscheinlichkeit, an einem Übel zu leiden, machen aus einer Schwangerschaft jedoch noch kein Gebrechen. Hinzukommen muss, dass Schwangerschaft eine ›condition of the individual‹ ist und keine externe Ursache vorliegt, die das Übel hervorruft. Da das ungeborene Kind biologisch mit der Mutter verbunden ist und nur durch einigen Einsatz von ihr getrennt werden kann, ist mit Gert, Culver und Clouser im Fall der Schwangerschaft jedoch gerade keine externe Ursache gegeben: Some might be tempted to regard the fetus as an internal distinct sustaining cause, in which case pregnancy, carrying the fetus to term, would not be a malady. Although eventually the fetus becomes distinct, during most of the pregnancy it is not only biologically integrated in the body of the pregnant
23 24
Clouser/Culver/Gert: »Gebrechen«, S. 131. Kursiv im Original. Clouser/Culver/Gert: »Malady«, S. 205 f.
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woman, but it is not easily and quickly removable without special skill, technology, and training. Therefore […] the fetus cannot be an internal distinct sustaining cause, and so if one decided on purely theoretical grounds, pregnancy would be a malady. 25
Damit berücksichtigen Gert, Culver und Clouser im Gegensatz zu Boorse, dass die Schwangerschaft zwar primär ein »Zustand der betroffenen Frau« ist, jedoch zugleich ein weiteres Individuum – das ungeborene Kind – beteiligt ist –; diese Relation als »doppelte[n] Einheit« 26 wird später noch eine Rolle spielen. Dennoch überzeugt ihre Begründung, warum Schwangerschaft ein Gebrechen darstellt, nicht. Unklar ist zunächst, ob tatsächlich die Schwangerschaft als solche ein Gebrechen ist oder vielmehr einige ihrer Symptome wie z. B. Übelkeit oder Kurzatmigkeit. Weil Gert, Culver und Clouser den Begriff des Gebrechens vage halten und als Sammelbegriff für eine Reihe an Zuständen verwenden, die für sie mit dem Krankheitsbegriff einhergehen, kann diese Unklarheit auch nicht wirklich beseitigt werden. Wenn jedoch die Schwangerschaft als solche ein Gebrechen darstellt, ergeben sich irritierende Konsequenzen: Denn setzt man voraus, dass ein Gebrechen möglichst beseitigt werden sollte, damit die betroffene Person nicht mehr an dem Übel leidet, das das Gebrechen konstituiert, so ergäbe sich die Pflicht, eine Schwangerschaft zu beenden, denn nur so kann die Ursache des ›Gebrechens‹ Schwangerschaft beseitigt werden. Diese Konsequenz ist jedoch höchst problematisch, denn zumindest einige, vielleicht sogar viele Frauen stehen ihrer Schwangerschaft positiv gegenüber und nehmen die mit einer Schwangerschaft verbundenen Einschränkungen in Kauf, weil ihnen daran gelegen ist, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. An dieser Stelle zeigt sich, dass Gert, Culver und Clouser einen zentralen Aspekt übersehen, den sie selbst betonen: Eine Frau kann durchaus einen rationalen Grund oder eine rationale Überzeugung haben, warum sie die mit einer Schwangerschaft verbundenen Übel auf sich nimmt, nämlich der Wunsch oder das Interesse daran, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Diese rationale Einstellung der Frauen zu ihrem Zustand macht aus einer Schwangerschaft eben gerade kein Gebrechen. Die Autoren müssten ihre Theorie also dahingehend präzisieren, dass nur ungewollte Schwangerschaften ein Gebrechen darstellen, denn in Ebd., S. 206 f. Verina Wild: Arzneimittelforschung an schwangeren Frauen. Dilemma, Kontroversen und ethische Diskussion, Frankfurt/New York 2010, S. 21.
25 26
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diesem Fall hat die betroffene Frau keinen rationalen Grund, der aus dem Erleiden des Übels kein Gebrechen macht. Was sich im Fall einer ungewollten Schwangerschaft also ändert, ist die Haltung der Frau zur Schwangerschaft, nicht jedoch der biologische Zustand als solcher. Es ist daher auch klar, weshalb Boorse ausgehend von seinem naturalistischen Ansatz keinen Unterschied zwischen einer gewollten und einer ungewollten Schwangerschaft macht. Die Tatsache, dass eine Schwangerschaft ungewollt ist, macht aus der Schwangerschaft keine Krankheit; die Medizin ist unabhängig von der Frage, ob Schwangerschaft eine Krankheit ist, für deren Begleitung zuständig. Gleichwohl macht Boorse keine Angaben dazu, an welchen Kriterien sich eine medizinische Begleitung der Schwangerschaft ausrichten sollte. Auch findet sich bei ihm lediglich die Feststellung, dass Schwangerschaft keine Krankheit ist – eine darüber hinausgehende Begründung, warum dem so ist, fehlt und muss ausgehend von Boorses eigener Position extern rekonstruiert werden. Bei genauerer Betrachtung verwundert es jedoch nicht, dass die Fragen, ob und warum Schwangerschaft eine Krankheit ist oder nicht, wie sich medizinische Ziele auf die Supervision von Schwangerschaften übertragen lassen und wie die medizinische Begleitung der Schwangerschaft als solcher zu rechtfertigen ist, nur zögerlich behandelt werden. Denn der Versuch einer Beantwortung dieser Fragen verstrickt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, zwangsläufig in Widersprüche, die mit dem Begriff der Schwangerschaft als solchem zusammenhängen.
2.
Die Regulierung von Schwangerschaften und die Grenzen medizininhärenter Zielsetzungen
Als Phänomen, das zwei Individuen betrifft, von denen sich eines in einem radikalen Abhängigkeitsverhältnis zum anderen befindet, stellt die Schwangerschaft eine Herausforderung für die Medizin dar. Denn auch wenn eine Schwangerschaft ein Zustand ist, der aus der Perspektive einer leiborientierten Phänomenologie als ›doppelte Einheit‹ beschrieben wird und in dem, so Claudia Wiesemann, eine Frau »zwangsläufig für zwei denkt und empfindet« 27, so sind Mutter und
Claudia Wiesemann: Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen. Eine Ethik der Elternschaft, München 2006, S. 49.
27
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Kind gleichwohl verschiedene Lebewesen. Allerdings ist nur eines dieser Lebewesen – die Mutter – vollständig individuiert: Sie kann ohne das Kind, das Kind jedoch nicht ohne die Mutter überleben. Diese Konstitution erschwert es, die Grundlagen des klassischen medizinischen Selbstverständnisses auf die Schwangerschaft zu übertragen. Denn in Konfliktsituationen, wenn es gilt, das Leben der Mutter zulasten des Kindes zu retten oder umgekehrt, kann sich ein Arzt nicht an den Handlungsgeboten der Therapie, des Nichtschadens oder des Instrumentalisierungsverbotes orientieren. Im Ernstfall, wenn nicht die Belange beider Individuen berücksichtigt werden können, muss die Medizin gegen ihre eigenen Prinzipien handeln und die Interessen eines Individuums zurückstellen – ein Verweis auf normative Standards wie das Heilungsgebot, die der medizinischen Praxis inhärent sind, ist in diesem Fall unmöglich. Dies verdeutlicht sich ebenso bei Präventionsfragen: Präventive Maßnahmen intendieren nicht notwendigerweise das Wohl beider Individuen, sondern zielen auch darauf ab, Risikozustände der Mutter oder des Kindes zu vermeiden, sodass sich Mediziner ggf. mit dem Dilemma konfrontiert sehen, nicht beiden gleichermaßen helfen zu können. Diese Gegensätze, denen Mediziner in der Begleitung von Schwangerschaften ausgesetzt sind, zeigen sich nicht nur in Extremsituationen, sondern auch in ›alltäglicheren‹ Entscheidungen. Treten vorzeitige Wehen auf oder besteht ein Oligohydramnion, wird die Autonomie der Frau zugunsten des Kindeswohls eingeschränkt, Gleiches gilt im Fall einer Schwangerschaftsdiabetes oder einer Plazentainsuffizienz. Sind Einschränkungen unzumutbar, riskiert die Mutter durch den Fortbestand der Schwangerschaft ihr Leben oder hat andere triftige Gründe, das Kind nicht auszutragen, wird die Schwangerschaft zulasten des Fötus abgebrochen. All diese Abwägungen zeigen aber, dass medizininhärente Handlungsvorgaben des Nichtschadens, der Heilung oder des Instrumentalisierungsverbotes diese Situationen nicht normieren können, sondern vielmehr externe, auch gesellschaftliche Moralvorstellungen dabei eine Rolle spielen müssen, wie die Relation von Mutter und ungeborenem Kind zugunsten der einen oder des anderen jeweils zu gewichten ist. 28 Boorse spricht diese exEin ähnliches Phänomen, bei dem Mediziner in Kauf nehmen müssen, einer Person ein Übel zuzufügen, um das Leben einer anderen Person zu retten, ist die Lebendspende, die wiederum nur dann legitim ist, wenn die spendende Person dem Eingriff zustimmt.
28
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ternen Faktoren an, indem er darauf hinweist, dass eine Schwangerschaft wie andere, nicht genuin pathologische Fälle (etwa der Körperoptimierung) dennoch durch die Medizin ›behandelt‹ wird. Dies zeigt sich insbesondere bei Schwangerschaftsabbrüchen, die gerade nicht aus einem inhärenten ethischen Selbstverständnis der Medizin heraus legitimiert werden können. Gert, Culver und Clouser scheinen ebenso um die Bedeutung externer Wertungen zu wissen, wenn sie Schwangerschaft als ein Übel betrachten, das auch von der subjektiven Empfindung der Betroffenen abhängt. Und auch die zahlreichen eingangs unter dem Stichwort der Medikalisierung der Reproduktionsmedizin genannten Maßnahmen – Möglichkeiten der Geschlechtsbestimmung, der Selektion kranker Embryonen oder der Forschung an und mit embryonalen Stammzellen – würden in ihrer Tragweite nicht so umfassend diskutiert, wenn sich sämtliche ethischen Probleme der Reproduktionsmedizin ausschließlich durch ein der Medizin inhärentes ethos lösen ließen. Doch auch hier kollidieren das Nichtschadensgebot und der Lebensschutz des Embryos mit anderen Erwartungen, die mit der Forschung an embryonalen Stammzellen verbunden sind, z. B. dem Ziel, Therapiemöglichkeiten für neurodegenerative Erkrankungen zu entwickeln, die ihrerseits wieder ein medizinisches Ziel erfüllen, nämlich die Heilung von Krankheiten oder Linderung von Krankheitsverläufen. Reproduktionsmedizinische Techniken ausschließlich deshalb abzulehnen, weil sie zur Zerstörung von Embryonen oder möglicherweise zu Dammbrüchen führen und deshalb mit dem medizinischen ethos nicht vereinbar seien, hieße, die Heilungsziele, die mit der Embryonenforschung ebenfalls verbunden sind, zu unterlaufen und der Komplexität der Entscheidungssituation nicht gerecht zu werden.
3.
Die konservative Position – Stärkung der medizinischen Zuständigkeit
Diese Kollision zwischen den Zielen und Heilaufträgen medizinischen Handelns führt zu einer gewissen Orientierungslosigkeit im Umgang mit medizinischen Entscheidungen, die die Schwangerschafts- und Reproduktionsmedizin betreffen. Denn zahlreiche Bereiche der Schwangerschafts- und Reproduktionsmedizin werden, wie gezeigt, gerade deshalb so kontrovers diskutiert, weil sich viele ihrer Maßnahmen gerade nicht durch ein der Medizin inhärentes 319 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
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ethos normieren lassen. Dies betrifft auch die sogenannte ›wunscherfüllende‹ Reproduktionsmedizin: Forderungen nach ›Designerbabys‹ oder anderen ›Angeboten‹, aber auch die Durchführung von Abtreibungen ließen sich ohne großen argumentativen Aufwand zurückweisen, wenn derartige Maßnahmen durch inhärente Normierungen der medizinischen Praxis abgelehnt werden könnten. Weil die Medizin in den hier diskutierten Handlungsbereichen jedoch gerade nicht durch ein solches ethos gekennzeichnet sein kann, ergibt sich umfassender Orientierungsbedarf, der auch in den kontroversen und heterogenen Standpunkten, die in medizinethischen Diskursen über Präimplantations- und Pränataldiagnostik, Abtreibung und Embryonenforschung vertreten werden, durchscheint. Im Rahmen medizinethischer Auseinandersetzungen zu Schwangerschaftskonflikten zeigt sich dabei eine vor allem in konservativen Positionen verfolgte Strategie, die den primär ärztlichmedizinischen Anspruch zur Entscheidung über schwangerschaftsbedingte Konfliktfälle zu untermauern und die Bandbreite externer Einwirkungen zu verringern sucht. Motiviert ist diese Strategie, die Verina Wild in ihrer Auseinandersetzung mit Arzneimittelforschungen an schwangeren Frauen ausführlich diskutiert, durch eine gezielt feto-protektive Orientierung, die den moralischen Status des Embryos aufwertet und dabei, zumindest partiell, die Einwilligungsfähigkeit der schwangeren Frau in Frage stellt. Der Problemkontext, mit dem sich Wild beschäftigt, ist die mangelnde Integration schwangerer Frauen in Arzneimittelstudien. Denn auch in der Arzneimittelforschung zeigt sich das oben beschriebene Dilemma zwischen den Belangen des ungeborenen Kindes und denen der Mutter. 29 Es gibt Situationen – etwa eine mütterliche Erkrankung –, in denen nicht gleichermaßen das Wohl der Mutter und das des Kindes berücksichtigt werden können; zugunsten des Kindeswohls wird in diesen Fällen eine medikamentöse Therapie bei schwangeren Frauen oft unterlassen. Dabei ist die medikamentöse Versorgung schwangerer Frauen, so Wild, in Deutschland auch deshalb unzureichend, weil keine ausIn der Arzneimittelforschung wird dieses Dilemma, so Wild, oft zulasten der betroffenen Frau gelöst: »Möglicherweise ist mit den embryonaltoxikologischen Erkenntnissen durch Thalidomid auf allzu einseitige Art und Weise der Schutz des Fetus ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei wird die scheinbar selbstverständliche Erwartung an die Frau gestellt, Unannehmlichkeiten, die ihr selbst entstehen, zu dulden.« (Verina Wild: »Plädoyer für einen Einschluss schwangerer Frauen in Arzneimittelstudien«, Ethik in der Medizin 1 (2007), S. 7–23, hier S. 9)
29
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reichenden klinischen Studien existieren, so dass oft präventiv gegen eine Medikamentengabe entschieden wird. 30 Explizit gegen die Integration schwangerer Frauen in Arzneimittelstudien spricht sich z. B. Monika Bobbert aus, die die Entscheidungsfähigkeit der betroffenen Frauen in Frage stellt und den Zuständigkeitsbereich der behandelnden Mediziner betont. Gegen eine von Biller-Andorno erhobene Forderung der Verbesserung der medikamentösen Therapie von Schwangeren, die mit einer Ausweitung pharmazeutischer Studien auf Schwangere einhergehen solle, hält Bobbert fest, dass sich allein mit dem Hinweis auf die Autonomie der Schwangeren und dem Hinweis auf ein Wissensdefizit, was die Teratogenität von Arzneimitteln auf den Embryo bzw. Fötus anbetrifft, die Forschung an Schwangeren mit dem Risiko einer Schädigung des Embryos nicht rechtfertigen lässt. Vielmehr darf keine unzulässige Verlagerung der Verantwortung für die Risiko-Nutzen-Abwägung von den Forschenden auf die Versuchsteilnehmerinnen geschehen. Letztere können die Konsequenzen einer experimentellen Therapie im Unterschied zu den Experten nicht hinreichend beurteilen. 31
Diese sicherlich wohlwollend gemeinte Forderung nach einer Entlastung schwangerer Frauen von zentralen Entscheidungen hat folgenreiche Konsequenzen, werden schwangere Frauen doch damit, so Wild, zu Mitgliedern sogenannter vulnerabler Gruppen gemacht. Da sie nicht die entsprechenden Bedingungen für eine informierte Entscheidungsfindung erfüllen, gelten Mitglieder vulnerabler Gruppen als nicht urteilsfähig; ihnen kommt daher ein besonderer Schutz vor Missbrauch durch andere zu. 32 Indem sie schwangeren Frauen Urteilsfähigkeit hinsichtlich möglicher medikamentöser Therapien abspricht, macht Bobbert schwangere Frauen nicht nur zu Mitgliedern vulnerabler Gruppen, sondern wertet gleichzeitig die Entscheidungskompetenz des medizinischen Personals – hier der Ärzte und Pharmazeuten – auf. Sie allein seien es, die Nutzen-Risiko-Abwägungen angemessen einschätzen und ein potentiell schädigendes Verhalten für den Fötus ausschließen können. Über den spezifischen Kontext der pharmazeutischen Forschung an schwangeren Frauen hinaus verVgl. Wild: Arzneimittelforschung, S. 13. Monika Bobbert: »Frauenheilkunde und Geburtshilfe«, in: Monika Bobbert/ Uwe B. Brückner/Hans Lilie: Gutachten ›Probanden- und Patientenschutz in der medizinischen Forschung‹, erstellt im Auftrag der Enquete-Kommission ›Ethik und Recht der modernen Medizin‹ des Deutschen Bundestages, S. 55–69, hier S. 56. 32 Vgl. Wild: Arzneimittelforschung, S. 131–132. 30 31
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deutlicht sich diese feto-protektive Orientierung auch in weiteren konservativen Positionen zur Abtreibung oder zur Forschung an embryonalen Stammzellen. Nicht immer geht dabei die Aufwertung des moralischen Schutzstatus des Embryos mit einer Abwertung der Entscheidungskompetenz der schwangeren Frau einher. Dennoch wird oft auf medizininterne normative Grundlagen, z. B. das Tötungsund Instrumentalisierungsverbot von Ärzten, verwiesen, um die moralische Fragwürdigkeit bestimmter Praktiken aufzuzeigen. 33 Wie gerechtfertigt ist eine derartige Argumentation, auch und insbesondere unter Berücksichtigung der begrifflichen Implikationen einer Schwangerschaft? Diese Frage soll abschließend mit Blick auf den problematischen Identitätsstatus von schwangerer Frau und ungeborenem Kind diskutiert werden. Es wird sich zeigen, dass das Problem der numerischen Identität des ungeborenen Kindes nicht abschließend geklärt werden kann. Dies gilt jedoch nicht für die Identität der Frau – sowohl in numerischer Hinsicht als auch im Sinne eines »evaluativ-normativen Selbstverhältnisses« 34. Berücksichtigt man den Identitätsstatus der Frau, ergibt sich nicht nur eine Aufwertung der Entscheidungskompetenz der schwangeren Frau in Schwangerschaftskonfliktsituationen, sondern es lassen sich auch Grundlagen zur Konstruktion eines externen ethos ausmachen, das die medizinische Supervision von Schwangerschaften normiert.
4.
Numerische Identität, externes ethos und die Aufwertung der Frau als moralische Akteurin
Bereits oben wurde betont, dass die Relation zwischen schwangerer Frau und ungeborenem Kind von asymmetrischer Art ist. 35 Diese Asymmetrie zeigt sich in einer physischen Abhängigkeit des Kindes vom Körper der Mutter, die existenziell ist: Ohne den Körper der Mutter kann das ungeborene Kind nicht überleben. Die von Wild So diskutieren z. B. Pellegrino und Thomasma die Herausforderungen, die mit Maßnahmen wie Abtreibungen oder Sterbehilfe sowohl für das medizinische Selbstverständnis als auch die private Autonomie des Arztes verbunden sind. Vgl. dazu Edmund D. Pellegrino/David C. Thomasma: The Virtues in Medical Practice, Oxford 1993, S. 15, S. 96. 34 Michael Quante: Person, Berlin 22012, S. 8. 35 Vgl. dazu Nancy Davis: »Abortion and Self-Defense«, Philosophy & Public Affairs 13/3 (1984), S. 175–207, hier S. 181. 33
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und Wiesemann verwendete Charakterisierung von Schwangerer und Fetus als »doppelte Einheit« ist damit in gewisser Hinsicht widersprüchlich, da sie die Einheit von zwei ontologisch gleichwertigen Entitäten suggeriert. Insbesondere hinsichtlich der numerischen Identität des Fetus ist diese Einheit jedoch keinesfalls gegeben. Denn während die Mutter vollständig individuiert ist, gilt dies nicht für das Ungeborene: Es befindet sich im Körper der Mutter und ist (noch) nicht von diesem losgelöst. Zwar hat es bereits in den frühen Entwicklungsstadien eine eigene Gestalt, jedoch weist diese Gestalt aufgrund seiner ›Inhärenz‹ mit dem mütterlichen Körper noch keine numerische Eigenständigkeit auf. Numerische Eigenständigkeit ist jedoch, so betont Wiesemann mit Verweis auf zusammengewachsene Zwillinge, eine essentielle Bedingung dafür, dass Lebewesen individuelle Rechte zugesprochen werden und sie diese eigenständig wahrnehmen können. 36 Ausgehend von dieser Perspektive relativiert sich damit auch der Schutzstatus des Embryos: Weil er nicht vollständig individuiert ist, kann der Embryo nicht als ein Lebewesen verstanden werden, das einen fundamentalen Rechtsanspruch auf vorgeburtlichen Schutz hat. Wiesemann selbst lehnt eine individualrechtliche Auslegung des Verhältnisses von Schwangerer und ungeborenem Kind ab und argumentiert zugunsten einer Beziehungsethik, in der Mutter und Kind per se als leibliche Einheit betrachtet werden und relational aufeinander Bezug nehmen. 37 Dabei verschleiert der Begriff der ›doppelten Einheit‹ ebenso wie der Verweis auf die leibliche Einheit von Mutter und Fetus jedoch, dass es letztendlich der Körper der Mutter ist, ihre physische Gestalt, der das ungeborene Kind ›inhäriert‹ und von der das Kind abhängt. Trotz der leiblichen Gebundenheit von Mutter und Kind ist es der mütterliche Körper, der zentral ist, die numerische Identität der schwangeren Frau, an deren Körper das ungeborene Wiesemann berichtet mit Verweis auf Michael Barilan u. a. von zusammengewachsenen Schwestern, von denen die eine eine Heirat eingehen wollte, was die andere jedoch ablehnte. Das Recht auf physische Selbstbestimmung ist an dieser Stelle problematisch, da die Selbstbestimmung explizit auch den Körper der Zwillingsschwester mitbetrifft, mithin nicht autonom ausgeübt werden kann. Um den Fall zu lösen, wurde ersatzweise angenommen, dass eine vollständige Individuation zwischen beiden Schwestern gegeben ist: Der zuständige Richter entschied zugunsten der heiratswilligen Frau, da diese körperlich kräftiger sei als ihre Schwester. Vgl. Wiesemann: Eine Ethik der Elternschaft, S. 91–92. 37 Vgl. ebd., S. 35, 66, 126. 36
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Kind gebunden ist. Diese Asymmetrie zwischen der Schwangeren und dem ungeborenen Kind verstärkt sich, wenn man den Begriff der Identität nicht numerisch, sondern qualitativ als dasjenige versteht, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht und sein Selbstbild konstituiert. 38 Denn die Ausbildung eines evaluativen Selbstverhältnisses, die Entwicklung einer »Persönlichkeit als Lebensform« 39, ist aktual nur der Mutter, nicht aber dem ungeborenen Kind möglich. Sie ist es, die Vorstellungen über ein für sie gelingendes Leben entwickeln, die Entscheidungen über ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes treffen kann, die aktiv in ihre Umwelt hineinwirkt. Dabei wird sie sicherlich oft die Belange des ungeborenen Kindes berücksichtigen. Sie muss jedoch nicht, wie von Wiesemann behauptet, »ihr Leben und ihren Leib für das Leben des Kindes einsetz[en] und in dieser Zeit zwangsläufig für zwei denk[en] und empfinde[n]« 40. Ebenso wenig sind, wie Wiesemann mit Verweis auf Iris Marion Young festhält, »Ich und Du […] in dieser Zeit [der Schwangerschaft, D. R.] eins« 41. Diese Sichtweise unterläuft die Perspektive der leiblichen, relationalen Gebundenheit von Mutter und ungeborenem Kind, für die Wiesemann argumentiert. Sie orientiert sich stattdessen am ontologischen Status der Schwangerschaft als zutiefst asymmetrischem Zustand, in dem es letztendlich sowohl in physischer als auch in evaluativer Hinsicht der Status der Frau ist, an den die Existenz des Embryos bzw. des Fetus gebunden ist. Argumentationen, die den Schutzstatus des ungeborenen menschlichen Lebens betonen und aufwerten, die in feto-protektiver Absicht reproduktionsmedizinische Maßnahmen kritisieren oder die Entscheidungskompetenz schwangerer Frauen in Frage stellen, sind Versuche, mit dieser Asymmetrie umzugehen oder sie einzuebnen. Berücksichtigt man jedoch den konstatierten ontologischen Zustand der Schwangerschaft als einen grundlegend asymmetrischen Zustand, so ist primär der schwangeren Frau die Entscheidungszuständigkeit für sich und das ungeborene Kind zuzusprechen. 42 Es obliegt ihr (und vermittelt auch dem jeweiVgl. zu diesem Verständnis Quante: Person, S. 136–157. So die Überschrift des Kapitels, in dem sich Quante mit der Ausbildung eines evaluativ-praktischen Selbstverständnisses beschäftigt, das Personen jeweils individuell generieren. Vgl. ebd., S. 135. 40 Wiesemann, Eine Ethik der Elternschaft, S. 49. 41 Ebd., S. 46. 42 Zu diesem Ergebnis kommt auch Verina Wild, obwohl sie Wiesemanns Sichtweise 38 39
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ligen Partner) zu entscheiden, ob und, wenn ja, welche pränataldiagnostischen Maßnahmen ergriffen werden sollen, ob eine Abtreibung vorgenommen werden soll oder nicht und auf welche Gründe sie sich dabei beruft (bzw. berufen). Gegen Ansätze, die wie z. B. Pellegrino und Thomasma zugunsten einer der medizinischen Praxis inhärenten Moral argumentieren, betont Robert M. Veatch, dass die »rightness or wrongness of the surgeon’s actions depends not on any goals of medicine, but rather on the correctness of the society’s broader cultural beliefs and rituals« 43. Dies gilt mit Veatch auch für Fragen nach der Legitimität von Abtreibungen als zentrale schwangerschaftsbezogene medizinische Intervention. Die in diesem Beitrag vorgenommene Analyse stützt die Argumentation Veatchs, grenzt sich in zentraler Hinsicht jedoch von ihr ab: Es sind zwar auch gesellschaftlich-soziale Vorstellungen, die bei der Beantwortung von Fragen nach der Legitimität schwangerschaftsmedizinischer Praktiken berücksichtigt werden müssen. Vor allem gilt es jedoch, die Entscheidungskompetenz der schwangeren Frau aufzuwerten. Diese Aufwertung der schwangeren Frau als Entscheidungssubjekt ermöglicht dabei auch einen Umgang mit den am Beginn dieses Beitrages angesprochenen Maßnahmen der Medikalisierung der Schwangerschaft: Ob und, wenn ja, welche reproduktionsmedizinischen Maßnahmen oder welche pränatalen Untersuchungsmöglichkeiten ergriffen werden sollen, hängt wesentlich von der Entscheidung der betroffenen Frau ab. Dabei sind nicht nur befürchtete Strategien, die vom »bloßen Anbieten über gesellschaftliches Propagieren und Erwarten zum Erzwingen« von reproduktionsmedizinischen Maßnahmen führen, dringend zu vermeiden. 44 Auch Interventionen, die der feto-protektiven Grundhaltung zahlreicher medizinischer und medizinethischer Auffassungen entgegenstehen, jedoch die Autonomie der schwangeren Frau stärken, sind zu bedenken – selbst wenn dies, so Schöne-Seifert, Positionen stützt, die der Schwangerschaft als doppelter Einheit teilt. Vgl. Wild: Arzneimittelforschung, S. 21. 43 Robert M. Veatch: »Impossibility«, S. 634. 44 Bettina Schöne-Seifert: »Präimplantationsdiagnostik und Entscheidungsautonomie. Neuer Kontext – altes Problem«, Ethik in der Medizin 11 (1999), S. 87–98, hier S. 90. Schöne-Seifert listet in Anlehnung an Beauchamp Kategorien für eine autonome Entscheidungsfindung hinsichtlich präimplantationsdiagnostischer Maßnahmen auf, betont jedoch auch, dass die Indikatoren für befürchtete Fremdbestimmung durch Kritiker der PID letztendlich nicht repräsentativ sind. Vgl. ebd., S. 93.
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den moralischen Schutzstatus von Embryonen geringer veranschlagen als den von geborenen Menschen. 45 Dies alles erfordert, schwangere Frauen als zentrale moralische Akteure aufzuwerten, sie für Entscheidungsprozesse, die mit schwangerschafts- und reproduktionsmedizinischen Maßnahmen einhergehen, zu sensibilisieren, umfassend zu beraten und durchaus auch informierte Entscheidungen einzufordern. Dafür ist es notwendig, so betont Klaus Steigleder, der Frau einen »normativ geschützten Entscheidungsspielraum« 46 zuzusprechen, in dem sie angesichts der Grauzonen, die mit der Erwägung des moralischen Schutzstatus von Embryonen verbunden sind, eigenständige Entscheidungen über ihre Schwangerschaft treffen kann. Dieser Entscheidungsspielraum müsse rechtlich offen gehalten werden und Schwangerschaftsabbrüche auch für solche Fälle zulassen, in denen das Leben oder die Gesundheit der Frau bei einer Fortführung der Schwangerschaft nicht gefährdet sind. 47 Mit einer derartigen, die Autonomie der Frau aufwertenden Strategie ist es nicht zu vereinbaren, der medizinischen Profession per se die Zuständigkeit für Entscheidungen zu überlassen, die eine schwangere Frau, unterstützt durch umfassende Beratung, in der die Medizin natürlich eine zentrale Rolle einnimmt, selbst treffen kann. Unvereinbar ist zudem das in § 219a StGB festgehaltene Informationsverbot über Schwangerschaftsabbrüche, dessen Legitimität durch die Petition der Gießener Ärztin Kristina Hänel derzeit hinterfragt wird: Umfassende Aufklärung in schwangerschaftsbezogenen Angelegenheiten ist nur dann realisiert, wenn sie objektiv betrieben wird, also nicht nur Informationen vermittelt werden, die im Falle einer möglichen Abtreibung von dem Bemühen geleitet sind, »die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen« 48. Auch sollte der Frau durch eine Beratung nicht vorgegeben werden, wie eine »verantwortVgl. ebd., S. 93. Auch wenn die Perspektive eines geringeren moralischen Schutzstatus des Embryos von Kritikern nur ungern zur Kenntnis genommen würde, so ist sie mit Schöne-Seifert in zahlreichen Regelungen präsent, u. a. im § 218, der am uneingeschränkten Lebensschutz des Embryos festhält, die Bestrafung von Abtreibungen jedoch aussetzt. 46 Klaus Steigleder: »Ethische Probleme am Lebensbeginn«, in: Stefan Schulz/Klaus Steigleder/Heiner Fangerau/Norbert W. Paul (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt am Main 32012, S. 316–340, hier S. 330. 47 Ebd. 48 § 219, Abs. 1 StGB. 45
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liche und gewissenhafte Entscheidung« 49 auszusehen hat: Eine Aufwertung der Frau als autonomes Entscheidungssubjekt ist mit einer potenziellen moralischen Fremdbestimmung durch § 219, der seitens der Frau das Bewusstsein einfordert, dass das Ungeborene zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft ein eigenes Recht auf Leben hat, nicht vereinbar. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass die Entscheidungszuständigkeit der Frau sich nicht aus moralischen Grundannahmen legitimiert, deren Plausibilität fraglich ist. Vielmehr ergibt sich diese Zuständigkeit aus dem ontologischen Gefüge der Schwangerschaft als eines dezidiert asymmetrischen Zustands, aus dem sich Verbindlichkeiten für all diejenigen ableiten lassen, die unmittelbar und mittelbar mit schwangerschaftsbezogenen Entscheidungen konfrontiert sind – die betroffene Frau, ihren Partner und das medizinische Fachpersonal. Bereits der Gegenstandsbereich, in dem medizinische Handlungen situiert sind, stellt damit Anhaltspunkte zu seiner ethischen Regulierung bereit. Im Fall der Schwangerschaft bedeutet dies, der Medikalisierung schwangerschaftsbezogener Maßnahmen mit einer Aufwertung der Entscheidungskompetenz der betroffenen Frau als zentraler moralischer Akteurin zu begegnen. Diese Aufwertung sollte entscheidender Bestandteil jener externen Moralprinzipien sein, die der Normierung schwangerschaftsbezogener medizinischer Maßnahmen dienen und die selbstverständlich zusätzliche Prinzipien – etwa das Verbot der Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik zur biologischen Geschlechtsbestimmung – umfassen können und sollen.
Ebd. Während § 219a StGB derzeit in der Öffentlichkeit umfassend diskutiert wird, so ist der nicht nur moralisch, sondern auch in seiner sprachlichen Formulierung durchaus problematische Gehalt von § 219, Abs. 1 StGB bisher noch nicht zum Gegenstand öffentlicher Kontroversen geworden.
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Über die Autorinnen und Autoren
Dieter Birnbacher, Prof. Dr. phil. Dr. h. c., war von 1996 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012 Professor für Philosophie an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf und ist Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen ethische und anthropologische Grundlagenund Anwendungsprobleme der modernen Medizin (Organtransplantation, Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe, Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitssystem, Stammzellforschung, Gentechnik) sowie ethische Probleme im Spannungsfeld von Transhumanismus und Biokonservativismus. 2012 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Cornelius Borck, Prof. Dr. med., war von 2004–2007 Associate Professor und Canada Research Chair in Philosophy and Language of Medicine an der McGill University/Kanada, seit 2007 ist er Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Medizinische Visualisierungsstrategien, die Zeitgeschichte der Medizin sowie Hirnforschung zwischen Medientechnik und Neurophilosophie. Fritz Dross, Prof. Dr. phil, ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie der Technischen Universität München. Nach seiner Habilitation 2010 hat er kommissarisch die Abteilung Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin an der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg (2013/14) sowie das Medizinhistorische Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn geleitet. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozialgeschichte der Medizin der Frühen Neuzeit, der Geschichte von Hos-
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Über die Autorinnen und Autoren
pital und Krankenhaus sowie der Geschichte frauenärztlicher Fachgesellschaften im 20. Jahrhundert. Tobias Eichinger, Dr. phil., ist Oberassistent am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. Er ist dort Lehrkoordinator und leitet ein Projekt zur Entwicklung einer E-Learning-Lernplattform für Medizinethik. Er forscht zu ethischen und anthropologischen Fragen der modernen Medizin und des Gesundheitsbegriffs, zu Zielen der Medizin, Enhancement und Medikalisierung. Jörg Frommer, Prof. Dr. med., Psychoanalytiker (DPR, IPV) ist Gründer und Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und war langjähriger Vorsitzender des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Magdeburg e. V. Seine Forschungsund Arbeitsschwerpunkte liegen in der medizinischen Narrationsund Interaktionsforschung einschließlich Mensch-Maschine-Kommunikation, der Psychoonkologie und Psychotraumatologie. Peter Hucklenbroich, Prof. Dr. med. Dr. phil, war von 1995 bis 2003 zunächst kommissarischer, dann bis 2015 ordentlicher geschäftsführender Direktor des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) (im Wechsel mit Bettina Schöne-Seifert). Er ist zudem Gründungsund Vorstandsmitglied des Zentrums für Wissenschaftstheorie sowie Gründungsmitglied des Centrums für Bioethik der WWU. Weiterhin ist er Mitglied des Klinischen Ethikkomitees des Universitätsklinikums Münster (seit 1998). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Theorie der Medizin und der Medizinethik, der Künstlichen Intelligenz und Wissensmodellierung in der Medizin sowie in der Allgemeinen Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften. Kerrin A. Jacobs, Dr. phil., ist Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen und Gastdozentin an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Phänomenologie, der Philosophie der Psychiatrie und der Gefühle. In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit Sozialpathologien. 330 https://doi.org/10.5771/9783495817247 .
Über die Autorinnen und Autoren
Matthias Kettner, Prof. Dr. phil., ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit ausgewählten Problemen der angewandten Ethik (insbesondere Wirtschaftsethik und Medizinethik) auf der Grundlage einer realistischen Diskursethik sowie mit einer Transformation der Kritischen Theorie in der Epoche der Digitalisierung. Holger Lyre, Prof. Dr. phil., ist Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Leiter des Studiengangs Philosophie-NeurowissenschaftenKognition. Seine Forschungsgebiete liegen im Bereich der Wissenschaftsphilosophie und Philosophie des Geistes mit den Arbeitsgebieten Wissenschaftstheorie der Neurowissenschaften, Philosophie der Physik sowie Kognitions- und Neurophilosophie. Insbesondere forscht er zum mentalen Externalismus, Symmetrien in der Physik, Reduktionismus, Multirealisierbarkeit und Modellen der Neurokognition. Heiner Raspe, Prof. Dr. med. Dr. phil., Arzt für Innere Medizin – Rheumatologie – Sozialmedizin ist Gastwissenschaftler am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Universität Münster. Aus der Klinik von F. Hartmann (Hannover) kommend, war er von 1989 bis zu seiner Pensionierung 2010 Direktor des Instituts für Sozialmedizin der Universität zu Lübeck, danach ebenda bis 2015 Seniorprofessor für Bevölkerungsmedizin. Er ist Gründungsmitglied der Akademie für Ethik in der Medizin und des Deutschen Netzwerks für Evidenz-basierte Medizin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Rehabilitations- und Versorgungsforschung, in der Bevölkerungs- und Versorgungsepidemiologie chronischer somatischer Krankheiten und in der Geschichte, Theorie und Ethik der klinischen Medizin und Forschung. Daniela Ringkamp, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ihre Forschungsinteressen sind die Politische Philosophie und die Philosophie der Menschenrechte sowie die Medizintheorie und -ethik (insbesondere Ethik der Demenz und normative Regulierungen von Schwangerschaftskonfliktsituationen), zudem ar-
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Über die Autorinnen und Autoren
beitet sie an einem Habilitationsprojekt über Demenz, Personalität und Ethik. Daniel Schäfer, Prof. Dr. med. Dr. phil, ist Außerplanmäßiger Professor und Akademischer Oberrat am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte des Todes und die Thanatoethik, Geschichte und Ethik der Gynäkologie und Geburtshilfe, Gesundheitskonzepte der Medizin sowie die Geschichte des Alter(n)s. Thomas Schramme, Prof. Dr. phil, ist Professor für Philosophie an der Universität Liverpool. Seine Forschungsinteressen liegen in der Philosophie der Medizin, der Ethik und Politischen Philosophie sowie in der Bio- und Medizinethik, insbesondere zum Konflikt zwischen Paternalismus und Selbstbestimmungsrecht Héctor Wittwer, Prof. Dr. phil., ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Forschungsgebiete sind die Normative Ethik, die Metaethik und die Medizintheorie und -ethik sowie die Rechtsphilosophie und die Philosophie des Todes.
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