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German Pages [321] Year 2022
Gunther Wenz (Hg.)
Was ist der Mensch? Zu Wolfhart Pannenbergs Anthropologie Pannenberg-Studien
Band 9
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Pannenberg-Studien
Band 9
Herausgegeben von Gunther Wenz
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Gunther Wenz (Hg.)
Was ist der Mensch? Zu Wolfhart Pannenbergs Anthropologie
Vandenhoeck & Ruprecht
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© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg
Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Hubert & Co. BuchPartner, Göttingen Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2367-4369 ISBN 978-3-666-56076-7
Inhalt
Gunther Wenz Vorwort................................................................................................
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Joachim Ringleben Pannenberg und Hegel ........................................................................... 15 Gunther Wenz Ohnmächtiger Wille zur Macht. Kontexte Pannenberg’scher Nietzschekritik... 39 Gunther Wenz Sich vorweg. Zu einigen Heideggerbezügen in Pannenbergs Identitäts- und Persontheorie .................................................................. 79 Klaus Vechtel Sind wir von Natur aus religiös? Pannenbergs theologische Bestimmung des Menschen und das Phänomen der religiösen Indifferenz .... 101 Gregor Etzelmüller Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive........................................................................ 123 Jörg Noller Leben, Narrativität und Transzendenz. Pannenbergs Begriff der menschlichen Person ............................................................................. 137 Josef Schmidt Ersetzung oder Erfüllung des Subjektbegriffs durch das Konzept der Einheit von Ich, Selbst und Person...................................................... 145 Friederike Nüssel Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle? Zur Rolle des affektiven Lebens in Wolfhart Pannenbergs Anthropologie ........................................ 153 Thomas Oehl Zur Dialogförmigkeit der Offenbarung ..................................................... 169
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Inhalt
Felix Körner Legitimität und Repräsentation, christlich und islamisch. Zur politischen Theologie nach Pannenberg .............................................. 183 Johanne Stubbe Teglbjærg Kristensen Anxiety between Innocence and Sin? A Precondition for a Constructive Approach? Wolfhart Pannenberg’s Doctrine of Sin, His Criticism of Søren Kierkegaard’s Concept of Anxiety and Its Contemporary Constructive Implications ................................................. 201 Dirk Ansorge Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper ............................................................ 223 Paul Schroffner Würde und Elend des Menschen. Zur Pröpper-Pannenberg-Kontroverse um den theologischen Stellenwert der menschlichen Freiheit ...................................................... 245 Harald Fritsch Jesus Christus als Schöpfungsmittler im Denken Wolfhart Pannenbergs ....... 273 Michael Murrmann-Kahl Geschichte in theologischer Perspektive? Zum Geschichtsverständnis in Wolfhart Pannenbergs Anthropologie ............ 285 Gunther Wenz Die Bildung des Menschengeschlechts. Zu Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie............................................................................ 297 Autorinnen und Autoren ........................................................................ 317
Gunther Wenz
Vorwort
Fast auf den Tag genau zehn Jahre vor seiner Pannenberg-Lecture an der Münchner Hochschule für Philosophie hielt Joachim Ringleben am 20. Oktober 2011 in Hannover einen Vortrag vor der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft zum Thema „Leibniz und Hegel“. Beide Denker, so Ringleben, habe „der Glaube an die Macht der Vernunft“1 verbunden, wenngleich beider Begriff von dieser durchaus unterschiedlich gewesen sei. An ihrer Ichtheorie trete die gegebene Differenz signifikant zutage. Anders als in Leibnizens monadologischer Konzeption gebe es bei Hegel kein in sich reflektiertes Fürsichsein, „das nicht zugleich, um es selbst zu sein, den Bezug auf das Andere seiner an ihm selbst hätte“ (35). Für ihn sei „erst ‚die Einheit des Fürsichseins und des Für-ein-Anderes-Sein‘ ein wahrer Gedanke“ (ebd.). An der Hegel’schen Lehre von der Ichheit des Ich lasse sich dies paradigmatisch ersehen. Ich bin, was ich als Ichwesen zu sein bestimmt bin, nicht in der Weise unmittelbarer Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung, sondern im Modus der Selbstexplikation im anderen, als „eine sich durch Verschiedenes durchhaltende Einheit“ (37), als eine Identität von Identität und Differenz. Unmittelbar auf sich selbst insistierend hat, was Ich heißt, als in sich verkehrt zu gelten, wie Ringleben in seinem wissenschaftlichen Erstling an „Hegels Theorie der Sünde“ eigens deutlich gemacht hat.2 Zu wahrer Identität und Einheit mit sich selbst gelangt das Ich nur durch Entäußerung an Anderes. Auch nach Pannenbergs Lehre von Ich und Selbst, wie er sie im Kontext der Subjektivitäts- und Identitätsthematik seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ breit entfaltet hat3 , bilden Für-sich-sein und Sein-für-anderes eine differenzierte Einheit. Darin stimmt der Systematische Theologe mit dem Absolutheitsphilosophen überein. Zweifelhaft aber war bzw. wurde Pannenberg, ob Hegel die besagte Identität der Identität und der Nichtidentität wirklich als eine „sich selber und ihr eigenes Gegenteil“ (43) umfassende Einheit, mithin so zu denken vermochte, dass das Anderssein des Anderen dem Einen gegenüber zu paritätischer Geltung
1 J. Ringleben, Leibniz und Hegel, in: Studia Leibnitiana. Zeitschrift für Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften 45 (2014), 32–45, hier: 32. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 2 Vgl. ders., Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin/New York 1977. 3 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 151–303.
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gelangt. Pannenberg Zweifels betrafen dabei nicht nur Hegels Anthropologie, sondern im Kern seine Absolutheitstheorie, also seine Theologie als den Basisgrund der Theorie des subjektiven Geistes bzw. der Lehre vom Menschen. Man lese dazu etwa den exemplarischen „Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels“ „Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre“, der fast zeitgleich mit Ringlebens Dissertation publiziert wurde. Darin kritisiert Pannenberg, dass Hegel wie in vergleichbarer Weise auch Barth die trinitarischen Bestimmungen, denen zufolge das einige Wesen Gottes eine hypostatische Trias in sich berge und bewahre, aus einem vorgefassten Subjektbegriff hergeleitet und dementsprechend der Offenbarungsgeschichte vorgeschaltet habe, was theologisch unangemessen sei. Verbunden wird die Pannenberg’sche Hegelkritik mit der Annahme, dass mit der Vorstellung von einer Selbstentfaltung Gottes als Subjekt „dann auch von selber die Behauptung logischer Notwendigkeit eines solchen Prozesses“4 fällt. Denn diese und die Idee, dass der Prozess in der Logik des Begriffs abschließend zu begreifen und auf den Begriff des Begriffs zu bringen sei, hänge von der – nach Pannenbergs Urteil unhaltbaren – Prämisse ab, dass die Struktur des Subjekts und diejenige des Begriffs identisch bzw. analog zu fassen seien.5 „I never became a Hegelian“, konstatiert Pannenberg in einer autobiografischen Notiz aus dem Jahr 1988.6 Trotz offenkundiger Nähe zur Hegel’schen Philosophie war er eigenen Angaben zufolge nie ein theologischer Hegelianer. Alles menschliche Begreifen, auch das theologische, sei proleptisch, der Begriff mithin nicht als absolut, sondern als ein Vorgriff zu verstehen, der in seiner Vorläufigkeit einen hypothetischen, auf Prüfung seiner Sachhaltigkeit angelegten Charakter trage. Das konstruktive Ziel der Pannenberg’schen Kritik der Absolutheitsphilosophie Hegels besteht entsprechend darin, deren Gedankenbestimmungen an sich selbst als antizipativ zu erweisen. Mit Pannenbergs eigenen Worten zu reden: „Auch der Begriff – so sehr er auch Begriff einer Sache ist – ist nur ein Vorgriff auf die Wahrheit, nämlich auf die Einheit seiner selbst und seines Gegenstandes.“7
4 Ders., Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, in: KuD 23 (1977), 25–40; wieder abgedruckt in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Göttingen 1980, 96–111, hier: 107 (bei P. kursiv). 5 Vgl. a.a.O., 106. 6 Ders., An Autobiographical Sketch, in: C. E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg, Minneapolis 1988, 11–18, hier: 16. 7 Ders., Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 275. Dazu: J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Göttingen 2015, 177–202.
Vorwort
Nicht alle, auch nicht alle seine Schüler haben sich von Pannenbergs Hegelkritik überzeugen lassen.8 Wie Joachim Ringleben sich in diesem spannenden Zusammenhang positioniert, geht aus seiner Pannenberg-Lecture hervor, die er – nach Vorlesungen von Prof. Dr. Kurt Kardinal Koch, Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck und dem ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Prof. Dr. Wolfgang Huber, in den vergangenen Jahren – im Rahmen des Pannenberg-Kolloquiums 2021 vor größerem Publikum gehalten hat. Mit dem Text seines Vortrags setzt der vorliegende Dokumentationsband ein. Ringleben, emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Göttingen, seit 1997 Ordentliches Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften und von 2000 bis 2016 Abt des Klosters Bursfelde bei Hannoversch Münden im Weserbergland, ist nicht nur ein ausgewiesener Hegel- und Pannenbergkenner, sondern auch in anderer Hinsicht zu internationaler Bedeutung gelangt. Was die christliche Ökumene betrifft, so verdient besondere Erwähnung, was Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. im Vorwort des zweiten Teils seines Jesusbuches über Ringlebens Monografie „Jesus. Ein Versuch zu begreifen“9 geschrieben hat: „Wer die beiden Bücher liest, wird einerseits den großen Unterschied der Denkformen und der prägenden theologischen Ansätze sehen, in denen sich die unterschiedliche konfessionelle Herkunft der beiden Autoren konkret ausdrückt. Aber zugleich erscheint die tiefe Einheit im wesentlichen Verständnis der Person Jesu und seiner Botschaft. In unterschiedlichen theologischen Ansätzen wirkt der gleiche Glaube, findet Begegnung mit demselben Herrn Jesus statt. Ich hoffe, dass beide Bücher in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrer wesentlichen Gemeinsamkeit ein ökumenisches Zeugnis sein können, das in dieser Stunde auf seine Weise dem grundlegenden gemeinsamen Auftrag der Christen dient.“10 Joseph Ratzinger hat Ringlebens Jesusbuch „einen ökumenischen Bruder“11 des seinen genannt. Es wäre gewiss eine Freude, wenn weitere Geschwister, vor allem Schwestern, hinzutreten könnten. Doch davon ein anderes Mal, denn jetzt schalten wir um! „Ansage: Hier ist der Norddeutsche Rundfunk auf Ultrakurzwelle – angeschlossen ist uns Radio Bremen. Verehrte Hörer! Die Geistesgeschichte der Neuzeit ist gekennzeichnet von
8 Zu Falk Wagner (und Pannenberg) vgl. u. a. die bei Christine Axt-Piscalar erstellte Göttinger Dissertation von M. Schnurrenberger, Der Umweg der Freiheit. Falk Wagners Theorie des christlichen Geistes, Tübingen 2019; dazu kritisch M. Murrmann-Kahl in: Journal for the History of Modern Theology. Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 28 (2021), 158–163. 9 J. Ringleben, Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2008. 10 J. Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2011, 10. 11 Ebd.
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einem tiefen Erschrecken über die schrankenlose Freiheit des modernen Menschen. Der Mensch versteht die Welt in zunehmendem Maße nicht mehr als sein Zuhause, sondern immer mehr nur noch als Material für seine planende Tätigkeit, eine Tätigkeit, die in immer weitere Räume ausgreift und die auch den Menschen selbst in umfassendem Sinne in Mitleidenschaft zieht. Angesichts dieser Situation, angesichts der gestaltenden Freiheit des Menschen gegenüber der Welt, erhebt sich heute mit besonderer Dringlichkeit die Frage, wer denn der Mensch selbst sei. In der gegenwärtigen Theologie wird der Versuch unternommen, alle wesentlichen Teilaspekte gegenwärtiger Erkenntnis des Menschen zusammenzufassen und die Erfahrungen der außertheologischen anthropologischen Wissenschaften mit dem christlichen Verständnis menschlichen Daseins zu konfrontieren. Professor Dr. Wolfhart Pannenberg, Mainz, der in diesen Bemühungen an führender Stelle steht, wird in elf Vorträgen das Ergebnis dieser Zusammenfassungen und seiner Auseinandersetzung der Öffentlichkeit vortragen. Der Titel unserer Sendereihe lautet: ‚WAS IST DER MENSCH? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie.‘ Sie hören diese Vorträge ab heute jeweils freitags von 10.00 bis 10:30 Uhr auf der Ultrakurzwelle des Norddeutschen Rundfunks. Das Thema des heutigen, ersten Vortrages von Professor Pannenberg lautet: ‚Weltoffenheit und Gottoffenheit‘.“
Soweit das NDR-Sendeprotokoll vom Freitag, 1. Dezember 1961 (UKW 48. Woche, Nr. 7).12 Kurz vor dem 60. Jubiläum der Sendereihe „‚Was ist der Mensch?‘ Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie“, die auf Vorlesungen zurückgeht, die 1959/60 in Wuppertal und 1961 in Wuppertal und Mainz gehalten worden sind, fand an der Münchner Hochschule für Philosophie am 22./23. Oktober 2021 das 8. Pannenberg-Kolloquium statt. Die Kosten für das Treffen wurden wie in den Vorjahren von der Hilke und Wolfhart Pannenberg-Stiftung getragen, die auch die alljährlich erscheinenden Pannenberg-Studien sowie das an der Jesuitenhochschule angesiedelte Pannenberg-Forschungsinstitut finanziert, wofür der Stifterin, Frau Hilke Pannenberg, samt dem Stiftungsvorstand herzlich gedankt sei. Thema des Kolloquiums von 2021 war Pannenbergs Lehre vom Menschen, wesentliche Textgrundlage die auf die Radiosendungen des NDR zurückgehende sog. Kleine Anthropologie von 196213 sowie die große „Anthropologie in theologischer Perspektive“, die gut zwanzig Jahre später, 1983, erschienen ist.14 Folgende
12 Der Fund der insgesamt 11 Sendeprotokolle ist Herrn Archivar Sönke Treu vom NDR in Hamburg zu verdanken. Durch Vermittlung von Frau Elena Turba, Heidelberg, gelangten die Protokolle an die Münchner Pannenberg-Forschungsstelle. 13 W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Licht der Theologie, Göttingen 3 1968. Der erste Satz des ersten Vortrags lautet: „Wir leben in einem Zeitalter der Anthropologie.“ (5) 14 Ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983.
Vorwort
Referate wurden gehalten: Klaus Vechtel, Sind wir von Natur aus religiös? Pannenbergs theologische Bestimmung des Menschen und das Phänomen religiöser Indifferenz; Gregor Etzelmüller, Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive; Jörg Noller, Pannenbergs Theorie der menschlichen Person; Josef Schmidt, Ersetzung oder Erfüllung des Subjektbegriffs durch das Konzept der Einheit von Ich, Selbst und Person; Friederike Nüssel, Die Rolle des affektiven Lebens in Pannenbergs Anthropologie; Thomas Oehl, Vom Geist des Gesprächs. Überlegungen zur Bedeutung dialogischen Sprechens; Felix Körner, Legitimität und Repräsentation. Politische Theologie nach Pannenberg; Johanne Stubbe T. Kristensen, Pannenbergs Sündenlehre im Hinblick auf das Angstkonzept und seine Kritik an Søren Kierkegaard; Dirk Ansorge, Sich verwandeln lassen. Ich-Identität, Freiheit, Glaube und Gnade nach Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper; Paul Schroffner, Würde und Elend des Menschen. Zur Pannenberg-Pröpper-Kontroverse um die Freiheit des Menschen. Die Vorträge sind in z. T. modifizierter Form im vorliegenden Band dokumentiert und zwar in der Reihenfolge, in der sie gehalten wurden. Beigegeben sind zwei Texte von Kollegen, die verhindert und dankenswerterweise dennoch einen thematischen Beitrag zu leisten bereit waren (Harald Fritsch /Michael Murrmann-Kahl). Ich selbst habe mich zum Thema in einer umfangreichen Monografie geäußert, die 2021 als 7. Band der Pannenberg-Studien erschienen ist.15 Auf ein eigenes Referat wurde daher verzichtet. Vorbereitet wurden hingegen zwei Tischvorlagen zu Bezügen der Pannenberg’schen Anthropologie zu den philosophischen Konzeptionen von Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger, die dem Dokumentationsband im Anschluss an die Pannenberg-Lecture Joachim Ringlebens beigegeben sind. Nach Urteil von Jörg Lauster, dem nach Wolfhart Pannenberg und mir dritten Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie mit den Schwerpunkten Religionsphilosophie, Dogmatik und Ökumene an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, zählt die Pannenberg’sche „Anthropologie in theologischer Perspektive“ „zu dem Anregendsten…, was die deutschsprachige protestantische Nachkriegstheologie hervorgebracht hat“16 . Den Kontext dieses – pneumatisch zu nennenden – Urteils bilden Überlegungen zu Herder und seiner geschichtsphilosophischen Idee einer werdenden Gottebenbildlichkeit, von der Pannenberg in seiner Anthropologie „produktiven Gebrauch“17
15 G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Hegel und Pannenberg, Göttingen 2021. 16 J. Lauster, Der heilige Geist. Eine Biographie, München 2021, 163. 17 Ebd. Dass die Lehre vom Hl. Geist als Inbegriff der Pannenberg’schen Theologie fungiert, wurde unlängst zurecht hervorgehoben: „Die Pneumatologie umgreift in Pannenbergs Theologie das ganze Handeln des trinitarischen Gottes in und an der Welt – von der Schöpfung über die Versöhnung und Erlösung bis zu ihrer Vollendung.“ (Chr. Axt-Piscalar, Das Wirken des Geistes in Schöpfung und
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gemacht habe. U.a. daran erinnert der Abschlussartikel des Bandes in Form einer Festrede, die der Herausgeber bei der Feier zum 250. Jubiläum des Beginns von Herders Wirken in Bückeburg in der dortigen Schlosskirche gehalten hat. Ihr Gegenstand ist Herders Essay „Auch eine Philosophie der Geschichte der Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts“ (Riga 1774). Ein prominenter Autor hat unlängst bereits im Titel und dann auch im Inhalt seines großangelegten Alterswerkes direkt auf die Bückeburger Herderschrift Bezug genommen, Jürgen Habermas.18 Ich erlaube mir diesen Hinweis, dem in dem angezeigten Jubiläumsartikel eigens nachgegangen wird, am Schluss des Vorworts mit einem weiteren zu verbinden, der mit der ökumenischen Ausrichtung der Veranstaltung zu tun hat. In einem Rückblick auf sein Projekt „Auch eine Geschichte der Philosophie“, in dem er „Rechenschaft über den Sinn eines über mehr als zehn Jahre verfolgten Unternehmens ablegen“19 will, hat Habermas vermerkt, seine Generation sei noch daran gewöhnt gewesen, „die Lernprozesse während jener tausend Jahre, als die philosophischen Diskurse fast ausschließlich in der Obhut der römisch-katholischen Kirche und ihrer Theologie geführt worden sind, als unwesentlich zu ‚überspringen‘ – so, als habe die maßgebende griechische Philosophie eine ernstzunehmende wissenschaftliche Fortsetzung erst im frühneuzeitlichen Humanismus gefunden“20 . Diese Feststellung ist durch das Eingeständnis zu ergänzen, dass die evangelische Theologie lange Zeit den Eindruck erweckt hat und gelegentlich bis heute erweckt, als gehe sie die geistesgeschichtliche Entwicklung – sagen wir – von Augustin bis zur Frühzeit Luthers wenig oder gar nichts an. Bei Außenstehenden wie Habermas konnte sich dadurch die Meinung bilden, diese Jahrtausendphase sei exklusiv als römisch-katholisch zu qualifizieren, obwohl der Katholizismus recht eigentlich
Eschaton. Einige Aspekte zur Besonderheit von Wolfhart Pannenbergs Pneumatologie als Beitrag zum Gespräch mit der orthodoxen Theologie, in: D. Munteanu [Hg.] „Ökumene ist keine Häresie“. Theologische Beiträge zu einer ökumenischen Kultur, Paderborn 2021, 196–209, hier: 198) 18 J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 2019; Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019. Vgl. dazu G. Wenz, Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Zur Philosophiegeschichte von Jürgen Habermas, in: KuD 66 (2020), 343–354. 19 J. Habermas, Rückblick eines Autors, in: DZPhil 96 (2021), 231–240, hier: 231. Ein zentrales Problem seines Projekts hat Habermas folgendermaßen beschrieben: „mit der Überzeugungskraft der religiösen und metaphysischen Weltbilder entfällt der Glaube an die durch Gott oder die kosmische Ordnung verbürgte Autorität einer rettenden Gerechtigkeit; und damit entfällt eine wichtige Quelle für jene Motivationen, die die schwache Motivation guter Gründe für die strikte Sollgeltung, d. h. die kategorisch verpflichtende Kraft universalistischer Handlungsnormen so lange unterstützt hatten.“ (238) Vorausgesetzt ist bei dieser Problembeschreibung, dass die sog. postmetaphysische Lage des Geistes der Zeit evident und irreversibel sei. Dem ist mit Gründen zu widersprechen. 20 A. a. O., 233.
Vorwort
erst im Zuge des Prozesses der Konfessionalisierung der westlichen Christenheit in Teilen stricte dictu römisch geworden ist. Wie auch immer: so wie eine Kirche, die erst im 16. Jahrhundert ihren Anfang genommen hätte, keine wäre, so müsste eine Theologie, die beispielsweise die ganze mittelalterliche Scholastik als für sie irrelevant beiseite ließe, als unevangelisch gelten. Dies hat Pannenberg in der ihm eigenen Entschiedenheit und Klarheit deutlich gemacht und zwar auch in anthropologischer Hinsicht. München, 16. März 2022
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Pannenberg und Hegel
Als ich1 Wolfhart Pannenberg etwa zwei oder drei Jahre vor seinem Tode zum letzten Mal besuchte und er noch gesund war, klagte er darüber, dass seine Theologie in Deutschland kaum mehr beachtet werde und drückte das mit dem bekannten Dictum aus: „Ich werde hierzulande behandelt wie ein toter Hund“.2 Man darf sagen, dass diese Situation sich glücklicherweise nach seinem Tode 2014 gründlich geändert hat, d. h. nach der Gründung der Pannenberg-Stiftung und infolge der – dank des unermüdlichen Wirkens von Prof. Wenz – jährlich stattfindenden Pannenberg-Tagungen (seit 2014) und auch durch das regelmäßige Erscheinen der Tagungsbände als Pannenberg-Studien (inzwischen 8 Bände) sowie nicht zuletzt durch die alle zwei Jahre gehaltene öffentliche Pannenberg-Lecture, die heute zu geben ich die Ehre habe. Pannenbergs damalige Klage über die mangelnde Resonanz seiner Theologie bei uns, sieht man einmal von der fraglosen sachlichen Bedeutung seiner großangelegten theologischen Konzeption ab, die in ihrer Originalität auf keinen Fall der Nichtbeachtung anheimfallen soll, hat vielleicht auch den persönlichen Aspekt gehabt, dass eine Lebensarbeit von so unermüdlichem wissenschaftlichen Fleiß, hinter der ein geradezu asketisches Leben stand, es doch wohl verdient hat, auch weiterhin größere Beachtung zu finden. Was der Apostel Paulus über sich schrieb: „Ich habe mehr gearbeitet als sie alle“ (1Kor 15, 10; cf. 2Kor 11, 23), das trifft im 20. Jahrhundert in der Theologie wohl auf niemanden sonst so zu wie auf Wolfhart Pannenberg – nimmt man etwa noch E. Hirsch und K. Barth aus. Hinzu kommt – noch abgesehen vom inhaltlichen, ganz eigenständigen Profil seiner Theologie – ein sachlicher Zug, der sein Denken und Schreiben in seltener Konsequenz auszeichnet und den ich selber in seinen Schriften immer ganz besonders schätze, obwohl ich auch inhaltlich seiner Theologie recht nahe stehe; ich meine
1 Pannenberg-Lecture, gehalten am 22. Oktober 2021 in München. Vorbemerkung: Während der Ausarbeitung der folgenden Darlegungen habe ich oft gewünscht, sie mit Wolfhart Pannenberg diskutieren zu können. Gleichzeitig hat mir die (antikritische) Beschäftigung mit seiner Kritik an Hegel dazu verholfen, mein eigenes Verständnis der hier anstehenden Fragen in mancher Hinsicht zu präzisieren. 2 So z. B. Lessing über Spinoza (cf. Hegel, Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe). Frankfurt a.M. 1970ff. Band 20, 316f; zukünftig nur mit Band- u. Seitenzahl angeführt) wie auch Marx über Hegel (cf. G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel. Göttingen 2021 (Pannenberg-Studien Band 7), 56).
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die für Pannenbergs Texte bestimmende Eigenart, dass er auf jede Frage, die er sich auf dem Wege seines Denkens stellt, auch eine wirkliche, sachhaltig-argumentative Antwort zu geben bemüht ist. Bloße Rhetorik, die Sachfragen theologischer oder philosophischer Art durch verbale Strategien ausweicht, wird man bei ihm nicht finden. Ich gestehe, dass schon dieser Charakter seiner theologischen Arbeit mir Pannenberg sympathisch gemacht hat. Doch nun zu meinem heutigen, sehr komplexen Thema.
I.
Der Hegel-Kenner Pannenberg
Dass mein eigenes Denken dem Pannenbergs in gewisser Hinsicht nahe ist, hängt neben manchen wichtigen anderen Aspekten insbes. damit zusammen, dass auch Wolfhart Pannenberg seine Theologie in so enger Tuchfühlung zum Denken Hegels ausgeformt hat, dass er bei anderen Theologen vielfach als „Hegelianer“ verschrieen war.3 Zunächst aber gilt tatsächlich, dass die genaue, einlässliche Beschäftigung mit Hegels Philosophie ihn sein ganzes Leben und Schreiben hindurch begleitet hat.4 So hat er beispielsweise fünfmal sein Seminar allein Hegels Religionsphilosophie gewidmet.5 Auch in den späteren gemeinsamen Seminaren mit dem Philosophen D. Henrich, einem Hegel-Kenner ersten Ranges, wird mit Sicherheit das Denken Hegels immer wieder zur Sprache gekommen sein. Vor allem aber gibt es in Pannenbergs Schriften vier längere Texte, die sich detailliert mit Hegel befassen; unter ihnen ragt der große Vortrag heraus, den er zu Hegels 200. Geburtstag auf dem Internationalen Hegel-Kongress 1970 in Stuttgart vor den versammelten Philosophen des In- und Auslands unter dem Titel: „Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels“ gehalten hat.6 Hinzu kommen zahllose spezifische Ein-
3 Cf. aber „I never became a Hegelian“ (1988) und dazu Wenz, a.a.O. 65ff. 4 Das gilt von nur wenigen Theologen des 20. Jahrhunderts; immerhin – sieht man von Falk Wagner als einem Sonderfall einmal ab – sind entfernt auch E. Jüngel und J. Moltmann (und in bestimmter anderer Weise auch K. Barth) hier zu nennen, die sich auf Hegel eingelassen haben, wenn auch nicht in der Intensität wie Pannenberg. 5 Zu einer einschlägigen Vorlesung s. Wenz, a.a.O. 51 A. 11. 6 Erschienen in: W. Pannenberg, Gottesgedanke und menschliche Freiheit. Göttingen 2 1978 (Slg. Vandenhoeck), 78–113 (= Vortrag). Ein weiterer Vortrag kam auf dem Stuttgarter Hegelkongress 1999 Die Weltgeschichte – das Weltgericht? dazu: „Präsentische Eschatologie in Hegels Geschichtsphilosophie“ (a.a.O. 312– 322). Hinzu kommen folgende einschlägige Texte: Der Geist und sein Anderes. In: D. Henrich / R.-P. Horstmann, Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes. (Stuttgart 1984), 151–159 (= GusA.); Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen K. Barth und der Philosophie Hegels. In: GSTh 2. (Göttingen1980), 96–111; Hegels Systemgedanke. In: ThuPh. Göttingen 1996 (UTB 1925), 257–293
Pannenberg und Hegel
lassungen zu Hegel in den sonstigen Werken Pannenbergs. Außerdem sind einige hervorragende, kritische Dissertationen über Hegel unter seiner Ägide entstanden.7 Dass Hegels Denken und insbes. seine Religionsphilosophie, aber auch die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik für das Selbstverständnis von Pannenbergs Theologie ständig eine herausragende Rolle als Gesprächspartner gespielt haben, nimmt nicht Wunder, wenn man sich klar macht, dass er hier eine konsequent ausgearbeitete Christentumsphilosophie finden konnte, die eine unübersehbare, bleibende Herausforderung für die christliche Theologie und besonders die Trinitätslehre darstellt.8 Das hängt natürlich auch mit Hegels eigenen theologischen Anfängen zusammen.9 Für Pannenberg war es fraglos so, dass die Theologie Hegel überhaupt viel zu verdanken hat, und zwar mehr als jeder anderen Philosophie einschließlich der I. Kants.10 Hinzu kommt, dass Hegel mit seiner kritischen, spezifisch neuzeitlichen Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Theologie und Dogmatik von theologischer Bedeutung gewesen ist.11 Denn Hegel hat u. a. die Theologie seiner Zeit nachdrücklich daran erinnert, dass das christliche Denken weder in aufgeklärter historischer Kritik noch in Moraltheologie noch auch in einer Gefühlstheologie Schleiermacherscher Provenienz stecken bleiben darf.12 Auch hat er demgegenüber den unabgegoltenen gedanklichen Gehalt der grundlegenden altkirchlichen Dogmen herauszuarbeiten unternommen, was insbes. die Trinität und die Inkarnation betrifft, die Hegel begrifflich zu durchdringen und philosophisch zu rechtfertigen bemüht gewesen ist.13 Auch wenn Pannenberg letztlich in den Grundfragen Hegelschen Denkens zu einer kritischen Stellungnahme findet, die sogleich näher zu betrachten sein wird, gilt doch für ihn dabei immer die Maxime Hegels selber: „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke
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(10. Kap.); Religion und Christentum bei Hegel. In: Probl. Göttingen 1997 (UTB 1979), 260–276; Die Problematik von Hegels Gottesidee. A.a.O. 276–289. Tr. Koch, Differenz und Versöhnung. Eine Interpretation der Theologie G.W.F. Hegels nach seiner „Wissenschaft der Logik“ (Gütersloh 1967). F. Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel (Gütersloh 1971). P. Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegel’schen Schule (Göttingen 1971); (s. dazu auch Wenz a.a.O., 50ff. u. 61f.) sowie R. Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel (Göttingen 1975). STh II, 33; Barth zur Trinität cf. Probl. 255. Cf. Vortrag 79. ThuPh 291f. Ebd. 290. Hegel ist in Pannenbergs Sicht für die Theologie keineswegs problematischer als etwa Schleiermacher (ThuPh 282); zu dessen transzendentaler Gefühlstheologie und Hegel cf. Anthr. 503 A. 110. Cf. überhaupt ThuPh 249ff und Probl. 46ff (Kap. 1). Cf. ThuPh 276f.
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stellen“.14 Diesem Grundsatz hat nun auch eine kritische Auseinandersetzung mit Pannenbergs Hegel-Kritik wie die von mir im Folgenden versuchte bei einem so genauen Kenner, wie Pannenberg es war, zu entsprechen – hat er doch in seiner subtilen Argumentation auch mögliche Einwände dagegen stets mit bedacht und hätte eventuell eine Antwort bereit gehabt, die zeigen würde, er (Pannenberg) hat es noch besser verstanden als man selbst. Geht man von dem großen Vortrag von 1970 aus,15 so wird der Grund für Pannenbergs starkes Interesse an Hegels Christentumsphilosophie klar ersichtlich. Hegel hat etwas unternommen, das auch für jede zeitgemäße Theologie bis heute unerlässlich ist: den Versuch, den Zwiespalt zwischen dem überkommenen kirchlichen Christentum und der modernen Lebenswelt zu versöhnen.16 Dabei geht es um nichts Geringeres, als den aufgeklärten Geist der Moderne mit seinem Säkularismus für die Tiefe der religiösen Wahrheit zu öffnen bzw. diese unter jenen Bedingungen einleuchtend zur Geltung zu bringen.17 Zugleich aber ist als ein unaufgebbares Erbe der Reformation18 die Trennung von Kirche und Staat, Geistlichem und Weltlichem auch für Hegel festzuhalten.19 Mit der Reformation unterstreicht weiterhin auch Hegel, dass die subjektive Freiheit des Menschen nicht ohne Gott zu begreifen ist.20 Und nicht zuletzt ist Hegel für Pannenberg darum von besonderer Relevanz, weil er den Wahrheitsanspruch des Christentums zu seinem Thema gemacht hat – so anders Pannenberg selber den Begriff der Wahrheit fasst.21 Jedenfalls war Hegel auch dadurch der zeitgenössischen Theologie überlegen, dass er die „vernünftige Allgemeinheit des Christentums“ gedanklich ernst nahm.22 Dieser Hochschätzung des Hegel-Kenners Pannenberg entspricht es auch, dass er dessen häufig missverstandene Philosophie zunächst einmal sachlich gegen verbreitete vulgäre Vorwürfe verteidigt: Sie sei kein Pantheismus (oder Akosmismus)
14 Hegel; 6, 250. 15 Cf. dazu M. Puder, Diskussionsbeitrag zu Pannenbergs Vortrag. In: Hegel-Studien. Beih. 11 (1974), 215–218. 16 Vortrag 78f u. 86; ähnlich das Programm Schleiermachers, die (von E. Hirsch so benannte) „Umformungskrise“ zu bewältigen; cf. die bekannte eindringliche Frage Schleiermachers 1829: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“. In: Schleiermachers Sendschreiben an Lücke (Hg. H. Mulert). Gießen 1908 (St.z.Gesch. d. neueren Protest.), 37 (2. Sendschreiben); cf. dazu I. Kant über die Metaphysik: KrV, Vorrede z. 2. Auflage. In: Kant’s Werke (Akad.-Ausgabe), Band III (1904). B 2, 11,6–9. 17 Vortrag 79; 87; 89; 113 u. 114ff sowie Probl. 276. 18 Cf. auch STh III, 68f u. 683; ThuPh 269. 19 Cf. Anthr. 162 A. 19 (u. 467). 20 Vortrag 89 u. ö.; s. u. Anm. 91. 21 Cf. a.a.O. 81 mit 113 und den bekannten Aufsatz: Was ist Wahrheit? In: GSTh 1, 202–222. 22 A.a.O. 91.
Pannenberg und Hegel
und identifiziere keineswegs die Welt mit Gottes Sohn oder gar die immanente Trinität mit der Schöpfung.23
II.
Die Problematik des Subjekt-Begriffs
Ich beginne meine Diskussion der Hauptpunkte von Pannenbergs Hegel-Kritik24 mit dem Thema Subjekt, das sowohl im Blick auf den Menschen wie auf Gott grundlegend wichtig ist. Nach Pannenberg hat Hegel – in einer gewissen Modifikation von Fichtes IchBegriff25 – das menschliche Subjekt als ein soz. sich fertig vorgegebenes schon vorausgesetzt, das allenfalls sich noch weiter entfalten bzw. realisieren kann.26 Mir fällt es schwer, diese Kritik zu verstehen, die dann auch auf den Gottesbegriff ausgedehnt wird. Hegels ganzes Denken geht nirgends von einem festen Ursprungsbegriff aus, sondern begreift demgemäß auch das Subjekt weder als ein „feststehendes“, sondern als sich in seiner Tätigkeit zu sich herausarbeitendes – darin besteht gerade seine Bestimmung zur Freiheit27 – noch als eine in sich geschlossene Subjektivität.28 Das gilt insbes. deswegen, weil, wie Pannenberg selber feststellt: „Der Begriff des Subjekts … bei Hegel identisch mit dem Begriff des Begriffs [ist], dem höchsten Gedanken der Logik Hegels“.29 Pannenbergs Kritik an einem vorausgesetzten Subjekt unterstellt eine Unmittelbarkeit, die Hegels Gedanken von der Selbsthervorbringung des Begriffs in einem
23 Cf. a.a.O. 96–99; zur Pantheismusdebatte cf. auch Probl. 276f u. 278; ThuPh 278 u. 277ff. Über Fehlinterpretationen Hegels cf. Probl. 304 (Feuerbach u. Br. Bauer; D.F. Strauß) und 309f (A.E. Biedermann). 24 Vorweg sei bemerkt: nicht alle meine kritischen Anfragen an Pannenbergs Sicht auf Hegel liegen soz. auf einer Ebene; zumindest ist zu unterscheiden zwischen einer Kritik, nach der Hegel nicht richtig aufgefasst oder wiedergegeben sei, und solchen Bemerkungen, die gegen Pannenberg auf eine Vereinbarkeit seiner Ansichten mit Hegels Denken abzielen. Cf. auch M. Schulz, Zur Hegelkritik Wolfhart Pannenbergs und zur Kritik am „Antizipationsgedanken“ Pannenbergs im Sinne Hegels. In: MThZ 43 (1992), 197–227. 25 Probl. 289 u. 304; cf. Wenz a.a.O. 591f u. Anthr. 198. 26 Das ist Pannenbergs Standardvorwurf; cf. z. B. Probl. 283; 286 u. 287; GSTh 2, 11 A. 34; 107 u. ö. 27 Hegel schreibt schon in der Phänomenologie-Vorrede über das Subjekt: es sei „nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche. … Es ist das Werden seiner selbst“ (3, 23). 6, 488 wendet er sich ausdrücklich gegen eine Metaphysik der Seele, bei der „die Vorstellung des Geistes aus dem empirischen Bewußtsein als Subjekt zu Grunde gelegt“ wurde. Cf. auch: der subjektive Geist ist kein „feststehendes Subjekt“, „sondern seine Thätigkeit ist seine Substantialität, die Actuosität ist sein Seyn“ (Gesammelte Werke. Band 15 (Hg. F. Hogemannn / Chr. Jamme): Schriften und Entwürfe I (1817–1825), 249,16f u. 19f. 28 Cf. so auch J. Schmidt bei Wenz a.a.O. 491 A. 7. 29 Probl. 284.
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Prozess30 fundamental widerspricht.31 Denn diese ganze Logik Hegels ist so angelegt, dass der (absolute) Begriff und seine Subjektivität erst an ihrem Ende zu sich gelangt, und d. h. erst am Ende ist erreicht, was in Wahrheit – dann! – ihr eigentlicher Grund und Anfang ist.32 Das Spätere ist das absolute Zuvor und dies mithin kein undialektisch Vorausgesetztes; mit Hegels Worten: „daß das zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes Gestellte vielmehr das absolute Prius dessen ist, durch das es vermittelt erscheint und … als dessen Wahrheit auch gewußt wird“ (8, 355; § 552 Anm.).33 Für Hegel ist „die Wahrheit nur das Zu-sich-selbst-Kommen durch die Negativität der Unmittelbarkeit“ (6, 571), und man kann sich gar nicht „unmittelbar … im Absoluten befinden“ (ebd.). Hegel denkt die Einheit des Ich, das nicht ohne dialektischen Widerspruch und Selbstvermittlung zu sich selber kommt, als eine Einheit der Gegensätze „aus ihrem Resultat“ und so gerade nicht als ursprünglich bzw. Fichtisch.34 Das formuliert Hegel so: „das Selbstbewußtsein [ist] aber der daseiende, also empirisch wahrnehmbare, reine Begriff, die absolute Beziehung auf sich selbst …, welche als trennendes Urteil sich zum Gegenstande macht und allein dies ist, sich dadurch zum Zirkel zu machen“ (6, 490; gegen Kant; letzte Hervorh. J.R.).35
30 Es geht vielmehr um die Bewegung, „sich zum Subjekte [zu] machen“ (6, 566), d. h. um eine „Einheit, die sich mit sich selbst vermittelnde Bewegung und Tätigkeit ist“ (6, 565). 31 „Ein solches äußerliches und fixes Subjekt“ ist, „statt für letzte[s], sicher zugrunde Liegenbleibende[s] angesehen werden zu können, vielmehr selbst als ein Unmittelbares, eben ein solches [sc. erst nur] Vorausgesetztes und Anfangendes zu betrachten, das … an und für sich selbst der Dialektik unterliegen muß“ (6, 560; Hervorh. J.R.). 32 Im Ganzen dieser Philosophie ist nicht einmal die Logik die „erste“ Wissenschaft, sondern sie kann ebenso als die „letzte“ zu stehen kommen (6, 496). 33 Daher gilt, „daß … das rückwärtsgehende Begründen das Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben ineinander fällt und dasselbe ist“ (6, 570); cf. dazu J. Ringleben, Rückwirkende Konstitution. Zu einem spekulativen Gedanken Pannenbergs. In: G. Wenz, Die Christologie Wolfhart Pannenbergs. Göttingen 2021 (Pannenberg-Studien 6), 53–68. Zu den dort in Abschn. IV angeführten sonstigen philosophischen Belegen für diesen Gedanken kann hier ein weiterer nachgetragen werden, der sich bei H. Bergson zu seinem Begriff von „Schöpfung“ findet: „In demselben Maße wie die Wirklichkeit sich erschafft als etwas Unvorhersehbares und Neues, wirft sie ihr Bild hinter sich in eine bestimmte Vergangenheit; sie erscheint so als zu jeder Zeit möglich gewesen, aber erst in diesem Augenblick beginnt sie, es immer gewesen zu sein, und gerade darum sage ich, daß ihre Möglichkeit, die ihrer Wirklichkeit nicht vorausgeht, ihr vorausgegangen sein wird, sobald die Wirklichkeit aufgetaucht ist“ (Das Mögliche und das Wirkliche. In: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge (Hg. F. Kottje). Meisenheim 1948, 120f (Hervorh.n J.R.). Wenn auch Pannenberg den Gedanken der retroaktiven Begründung teilt, trägt er gegen Hegel die Kritik am fertig vorauszusetzenden Subjekt vor, obwohl diese rückwirkende Bewegung spezifisch von einer allererst sich hervorbringenden Subjektivität zu verstehen ist. 34 Meine Formulierungen im Anschluss an D. Henrich bei Wenz a.a.O. 336f A. 35. 35 Cf. 6, 253: Das Ich als der daseiende Begriff.
Pannenberg und Hegel
Von hier aus ist einerseits nicht nachvollziehbar, dass nach Pannenberg Hegel im Ansatz auf dem Boden der Transzendentalphilosophie geblieben sein soll.36 Andererseits aber ist Pannenbergs eigene Sicht des menschlichen Seins – mit dem Titel der ausführlichen Darstellung von G. Wenz gesprochen als „im Werden begriffen“37 – der Hegelschen Sicht vom begrifflichen Dasein des Ich als „Werden zu sich“ unübersehbar nahestehend, wie in dem Buch von Wenz an zahllosen Stellen deutlich wird.38 Wenn es, um nur einen Satz aus der Pannenberg-Darstellung von Wenz zu zitieren, vom Menschen heißt: „sein Sein in der Zeit [sei] als ein Werden zu begreifen, das dazu bestimmt ist, in der Gänze seiner zeitlichen Erstreckung zur Vollendung in Gott zu gelangen und eben dies in vollendeter Selbständigkeit“,39 so hätte Hegel diesem Satz voll zustimmen können. Gilt für Pannenberg: „Das Ich ist, was es ist, auf dem Wege zu sich selbst“,40 so erkennt man darin unschwer das Hegelsche Theorem eines Werdens zu sich wieder.41 Hegel kritisiert ausdrücklich den Missverstand, „als ob das natürliche Prinzip oder der Anfang, von dem … in der Geschichte des sich bildenden Individuums ausgegangen wird, das Wahre und im Begriffe Erste sei“ (6, 260). Wenn aber dieser Werdestand des Ich auf dem Wege zu seinem wahrhaften Selbst für jenes nur einen proleptischen Status hat und es, statt schon der „Begriff “ an und für sich selber (im Sinne Hegels) zu sein, nur erst ein „Vorbegriff “ dessen ist, so fällt er damit m. E. nicht aus der Konstellation heraus, die Hegel Begriff nennt; denn auch der „Vorschein“ ist (zumindest auch) ein Reflexionsphänomen und wohnt so noch innerhalb des Hegelschen Begriffs.
36 Anthr. 197; STh I, 111 sowie auch MuG 98 A. 7(!). Diese These ist natürlich mit der von einem vorangestellten Subjekt verbunden (cf. auch o. bei Anm. 25). Pannenbergs Bezug auf Hegels einzelne Bemerkung 6, 254 in Anthr. ist aus dem insgesamt Kant-kritischen Kontext herausgegriffen. Hegels Kritik am transzendentalphilosophischen Ansatz Kants ist, insbes. was den Begriff des Ichs angeht (s. o. bei Anm. 35), unübersehbar; cf. die Kant-kritischen Stellen 6, 490; 505 u. ö. sowie Pannenberg zu Schleiermacher (!) ThuPh 85f. Auch die Frage nach der „Bedingung der Möglichkeit“ von etwas passt nicht in ein dialektisches Denken wie das Hegels. Cf. auch Wenz a.a.O. 338f. 37 S.o. Anm. 2; cf. STh I, 422. Pannenberg fasst im Anschluss an Röm 5 das Menschsein überhaupt als „Geschichte“ – vom ersten zum zweiten Adam; cf. Wenz a.a.O. 119ff und Anthr. 152; 172f; 446 A. 166 u. 51. 38 Cf. z. B. Wenz a.a.O. 14 u. 343 (= Anthr. 205). 39 Wenz a.a.O. 477; zur menschlichen Identität als einer nur in Gott zu findenden cf. STh II, 208. Diese Thematik setzt sich in der Eschatologie fort; s. u. Abschn. VI. 40 Wenz a.a.O. 342. Cf. das vorhergehende Pannenberg-Zitat (ebd.). Auch die Identität der Dinge ist noch nicht abgeschlossen (MuG 76f). 41 Cf. U. Guzzoni, Werden zu sich. Eine Untersuchung zu Hegels ‘Wissenschaft der Logik´. Freiburg i.Br. 1963 (Symposion 16).
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III.
Antizipation
Freilich muss man sich hier kurz auf das Pannenberg’sche Thema der Antizipation einlassen.42 In der vorhin angeführten Doppelbewegung von der vorwärts gehenden Weiterbestimmung, die dialektisch zugleich ein rückwärtiges Begründen ist (6, 570),43 liegt, dass die Wahrheit des Begriffs erst am Ende erreicht und im Anfang nur antizipiert ist. Hegel sagt von der „Realisierung des Begriffs“, dass sie „nicht im Anfange selbst liegt, sondern vielmehr das Ziel und Geschäft der ganzen weiteren Entwicklung [sc. des Erkennens] ist“ (6, 545).44 Pannenberg drückt das so aus: „Jede Stufe im Gedankengang der Logik Hegels ist eine Antizipation des Begriffs … und auch der Begriff selbst ist als Begriff seiner Sache, der dieser Sache nicht äußerlich sein soll, nur Antizipation, welche erst durch die Idee eingelöst ist“, und zwar durch diese als den endgültig realisierten Begriff.45 In diesem Sinne bleibt für Pannenberg bei Hegel hier „aller Begriff … bloßer Vorgriff “.46 Denn es erweisen sich „die Hegelschen Gedankenbestimmungen in ihrer dialektischen Natur an ihnen selbst als antizipatorisch“.47 Das soll in Hegels Augen selber aber spezifisch für die übliche Rede von Gott gelten, bei der es gewöhnlich nur zu einer unberechtigten (weil nicht als solche erkannten) „Antizipation“ des göttlichen Subjektes kommt und gerade nicht für sein eigenes Denken: „Jene Antizipation, daß das Absolute Subjekt ist, ist daher nicht nur nicht die Wirklichkeit dieses Begriffs, sondern macht sie sogar unmöglich; denn jene setzt ihn als ruhenden Punkt, diese aber ist Selbstbewegung“ (3, 27).48 Nur von daher – in der Bewegung vom abstrakten Anfang, der sich durch sich selbst aufhebt, hin zur endgültigen Realisierung, mithin als Werden zu sich – ist es richtig begriffen, dass, 42 Cf. o. Anm. 24 und Pannenbergs Abhandlung „Begriff und Antizipation“ (MuG 66–79). 43 S.o. Anm. 33. Cf. Probl. 273. 44 Wenn Pannenberg aber sagt, Hegels „Begriff “ sei nach dessen eigener Einsicht selber eine bloße Antizipation (ThuPh 286), so meint er damit, dass Gott selbst auch den absoluten Begriff noch einmal übersteigt – letztlich unerreichbar. Seine Aussage, dass auch die absolute Idee der Logik nur eine „abstrakte Antizipation der Wahrheit“ ist (a.a.O. 274), beschreibt freilich das Verhältnis von Logik und Realphilosophie nicht zureichend; s. u. Abschn. V. bei Anm. 104. 45 ThuPh 272f; cf. MuG 68 (der philosophische Begriff selbst als Antizipation). A.a.O. 72 indes heißt es: „Die Denkform der Antizipation tritt der des Begriffs nicht alternativ gegenüber“ und dann weiter: „Die Kennzeichnung des Begriffs als Antizipation [sc. bei Pannenberg selber!] … intendiert ein Mehr an Rationalität gegenüber einer Beschreibung [sc. wie bei Hegel], der der wahre Begriff einer Sache mit der Sache selbst in eins fällt“ (ebd.). Für Hegel enthält aber der „wahre Begriff “ einer Sache ihr Werden zu sich! 46 Vortrag 111 A. 96; cf. ThuPh 275. 47 Ebd. 48 Bei Pannenberg ThuPh 274 A. 37 angeführt. Es geht hier um das Theorem des „spekulativen Satzes“; cf. dazu J. Ringleben, Sätze über Gott und spekulativer Satz. In: Arbeit am Gottesbegriff II (Tübingen 2005), 192–209.
Pannenberg und Hegel
wie Pannenberg schreibt, „Hegels Logik des Begriffs in allem Ernst als Logik des Subjekts und zwar des absoluten Subjekts, Gottes, gelesen sein will“.49 Von Hegel aus gesehen besagt das alles, dass dasjenige, was Pannenberg hier als Antizipation in Anspruch nimmt, in der Logik Hegels als das wesens- bzw. reflexionslogische Sich-Voraussetzen zu stehen kommt (cf. 6, 25–28). Man kann auch sagen: Was Pannenberg Antizipation nennt, entspricht weithin dem, was Hegel logisch mit dem Begriff des An-sich-seins denkt.50
IV.
Gott und seine Dreieinigkeit
Für Hegel galt schon 1802: Gott sei „absolut an die Spitze der Philosophie zu stellen … als das einzige principium essendi und cognoscendi“.51 Nach Pannenberg hat Hegel aber eigentlich nur den Begriff der endlichen Subjektivität des Menschen auf das Absolute übertragen.52 Ist in Pannenbergs Sicht von Hegel der Begriff des Subjektes überhaupt seiner Entfaltung immer schon vorausgesetzt,53 so auch der Begriff von Gottes Subjektivität, um dann logisch in zweiter Linie, d. h. im „Nacheinander von Grund und Folge“, erst in seine notwendige Selbstentfaltung einzutreten.54 Hier wird von Pannenberg Hegel zu Unrecht vorgeworfen, was von ihm zu Recht gegen K. Barths Gotteslehre eingewandt worden ist.55
49 Vortr. 100. 50 ThuPh 275; cf. GusA 152. 51 Zitiert nach Probl. 261. Dem entspricht Hegels Verständnis des ontologischen Gottesbeweises (272); cf. auch Hegel, 5, 79! Wenz schreibt zu Recht: „Hegels Religionsphilosophie ist mithin zugleich spekulative Theologie und umgekehrt“ (a.a.O. 499; cf. MuG 33). Ist nach Hegel die Philosophie wahre Theologie (Wenz 520), so muss umgekehrt die Theologie immer auch philosophisch sein (cf. 526; aber auch 528 A. 38). 52 Probl. 304; auch nach MuG 31 ist der Hegelsche Begriff des Geistes eine Art metaphorischer „Steigerung des am Selbstbewußtsein orientierten idealistischen Subjektivitätsgedankens“ (Hervorh. J.R.). Für Hegel hingegen ist das Absolute (als absolute Idee) „die eine, allgemeine Substanz …, aber ihre entwickelte, wahrhafte Wirklichkeit ist, daß sie als Subjekt und so als Geist ist“ (8, 368; § 213 Anm.; cf. 3, 23 und ebd.: „das Werden seiner selbst“). Oder auch: sie ist die prozessuale Instanz, „die den Begriff zu ihrer Substanz hat“ und „durch ihre immanente Dialektik sich in die Subjektivität zurückführt“ (8, 372; § 215). 53 GSTh 2, 107 u. Probl. 286–288. Nach Probl. 288 ist bei Hegel das Subjektsein Gottes sogar seiner trinitarischen Differenzierung vorgeordnet. Das ist evidentermaßen unzutreffend; zum eigentlichen trinitarischen Gedanken Hegels cf. J. Ringleben, Der lebendige Gott. Tübingen 2018 (DoM 23), 795ff. 54 GTh 2, 105f u. 107 (präziser 107 A. 30); Probl. 283 u. 287; ThuPh 289f.; MuG 34–51. Cf. J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch. In: Pannenberg-Studien. Band 1, 177–202; hier: 195 u. 200f. 55 Cf. STh I, 459; GSTh 2, 99f; Probl. 250f u. 287.
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In der Sache scheint mir dabei Pannenberg Hegels Konzept einer Selbsthervorbringung Gottes (als causa sui) zu verkennen,56 nach dem das Absolute nur im Werden zu sich ist, d. h. im Zusichkommen aus seiner durch es selbst sich vorausgesetzten Andersheit allererst soz. „am Ende“ wahrhaft bei sich und es selbst ist:57 die absolute Subjektivität als ihr eigenes Resultat.58 Genau darum ist Gott lebendiger Geist, weil er im Unterschied von sich wahrhaft eins mit sich ist,59 d. h. im internen Gegenstoß bzw. Sichabstoßen von seiner selbstgesetzten Voraussetzung seiner selbst, mithin ewig zu sich selbst kommend, er selber ist.60 Pannenberg hingegen bestreitet in seiner Theologie, die Ewigkeit als causa sui und als aus der Zeit sich hervorbringend denken zu sollen.61 Die „Wissenschaft der Logik“ Hegels aber ist die Logik sich hervorbringender , absoluter Subjektivität, indem sie diese als göttliches Leben und Selbstbewegung auf sich zu begreift.62 Wegen dieses allgegenwärtigen Lebens Gottes sind für Hegel trinitarische Strukturen (bzw. vestigia) bis in alle Wirklichkeit hinein identifizierbar, und das dreieinige Leben Gottes ist für ihn der Gedanke, der die Wahrheit aller Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. So konnte Hegel durch seine spekulative Interpretation dieses christliche Hauptdogma gegen das verendlichende Verstandesdenken der Aufklärung wieder in Geltung setzen63 und es auch philosophisch als zentral begreifen.64 In der Trinitätslehre fand er auch die Selbstoffenbarung Gottes und die aus der innergöttlichen Selbstdifferenzierung abgeleitete Selbständigkeit der Geschöpfe.65 Von Hegel ist nach Pannenberg so auch zu lernen, dass die Trinitätslehre „nicht nur ein Anhängsel an die allgemeine Gotteslehre“ ist, „sondern auf das engste
56 Cf. besonders Probl. 287. 57 Zum logischen Konzept der causa sui im Anschluss an Hegel cf. genauer J. Ringleben, a.a.O., wie o. Anm. 53, 192–221. 58 6, 196; cf. 6, 555f: Nicht ist „das Anfangende in Wahrheit schon das Absolute; das Fortgehen besteht vielmehr darin, daß das Allgemeine sich selbst [sc. auch rückwärts!] bestimmt und für sich das Allgemeine, d. h. ebensosehr Einzelnes und Subjekt ist. Nur in seiner Vollendung ist es das Absolute“. Bei Hegel finden sich Sätze wie: „Wäre die göttliche Subjektivität als Resultat, als sich selbst erschaffend [sic] bestimmt, so wäre sie als konkreter Geist gefaßt. Wäre das vom absoluten Subjekt Geschaffene dieses selbst, so wäre in diesem Unterschied der Unterschied ebenso aufgehoben, das letzte Subjekt das aus sich resultierende“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion (W. Jaeschke), Band 4, 565). 59 Zum Setzen und Aufheben von Unterschieden in Gott cf. Probl. 275f. 60 Nicht hinreichend berücksichtigt: Probl. 252f. 61 GSTh 2, 107; cf. auch Probl. 287. Zur Ewigkeit ohne Geschichte bei Kierkegaard cf. Probl. 181f. Anders J. Ringleben, a.a.O., wie o. Anm. 53, 510ff (§ 9). 62 Cf. die zusammenfassenden Formulierungen 6, 563 und Pannenberg, Vortrag 100. 63 Cf. Probl. 254. 64 GSTh 2, 98. 65 Probl. 274f. Zu dieser Frage s. auch u. Abschn. VI.
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mit dem christlichen Verständnis der Wirklichkeit Gottes überhaupt zusammenhängt“.66 Gleichwohl kritisiert Pannenberg Hegels Rekonstruktion der Trinität fundamental. In der Konsequenz seiner dargelegten Kritik am Begriff des Subjektes bzw. absoluter Subjektivität erklärt er, Hegel habe die trinitarische Struktur lediglich aus dem Begriff Gottes als Subjekt und Geist heraus entwickelt.67 Nun sei aber der Begriff des so verstandenen „Geistes“ nicht identisch mit dem christlichen (trinitarischen) Gottesgedanken.68 Vielmehr komme es bei Hegel zur Übertragung des Selbstbewusstseins-Modells auf Gott; also sei dessen Behauptung von Gottes Persönlichkeit anthropomorph.69 Pannenbergs eigene, groß angelegte Trinitätslehre, die hier nicht ausführlich dargestellt werden kann, setzt demgegenüber geschichtlich, beim Verhältnis Jesu zu seinem himmlischen Vater an,70 und sie gelangt so zu einer ursprünglichen Pluralität71 von drei göttlichen Personen.72 Deren Verhältnis ist vom Gedanken der wechselseitigen Liebe her zu begreifen.73 Diese Bedeutung ewiger Liebe gilt freilich für Hegel von Anfang an nicht weniger,74 was von Pannenberg auch emphatisch gerühmt wird.75 Nun scheint mir, dass der von Pannenberg an Hegel kritisierte Begriff absoluter Subjektivität zu abstrakt gefasst ist, um Hegels eigentlicher trinitarischer Konzeption gerecht zu werden.76 Hat Hegel tatsächlich, wie Pannenberg zugesteht, „die
66 ThuPh 284; cf. auch 290. 67 GSTh 2, 101; cf. auch Probl. 289 und genauer ThuPh 289f sowie Wenz a.a.O. 400f (auch zu Barth; s. o. bei Anm. 55). Zu eingehender Kritik cf. F. Wagner, a.a.O., wie u. Anm. 78, 211f (auch gegen das schon Vorausgesetztsein) u. 213f. 68 GusA 153f. Hegel folge damit der problematischen Linie, die bei Augustin und Anselm angelegt sei (a.a.O. 154); so auch Chr. 184 A. 155; GSTh 2, 101; MuG 32. 69 Probl. 283f u. MuG 31 – weil eben am menschlichen Selbstbewusstsein orientiert (cf. STh I, 459f), das immer nur monologisch strukturiert ist (GSTh 2, 108 A. 32). Cf. auch GSTh 2, 101 u.107 (zu Barth). S.o. bei Anm. 52. 70 STh I, 318; GusA 154; MuG 32. Liest man das ThuPh 284 u. 291 Gesagte, so scheint sich der Unterschied zwischen Pannenberg und Hegel in dieser Frage zu relativieren, insofern beide Jesu Geschichte, diese aber nur von der jeweils anderen Seite her in den Blick nehmen (cf. aber 292). 71 Gegen Monarchismus: GSTh 2, 110 u. 111 (cf. 100) sowie STh I, 298ff. 72 Probl. 289. Nach GSTh 2, 100 ist die Persönlichkeit Gottes als „Resultat“ der drei innergöttlichen Instanzen, nicht aber – wie angeblich bei Hegel – als dessen vorausgesetzte „Wurzel“ zu verstehen. Die Frage, wie aus drei Personen eine Persönlichkeit entstehen kann, mag hier auf sich beruhen bleiben. 73 Chr. 183 u. 347; STh I, 460 u. ö.; GSTh 2, 108. Cf. auch Probl. 252f mit A. 26. 74 Cf. STh I, 322; bei Hegel noch in der „Logik“: (das Allgemeine als) „die freie Liebe und schrankenlose Seligkeit“ (6, 277). 75 Cf. Chr. 183f mit Hegel 17, 232. 76 Auch für die absolute Subjektivität Gottes gilt, dass sie weder einfach vorauszusetzen ist noch als Resultat für sich allein aufgefasst werden darf. Denn: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber
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Einheit in der Dreiheit als Einheit wechselseitiger Selbsthingabe“ verstanden,77 so hat er damit spekulativ vollkommen eingeholt, was Pannenberg von der Trinitätslehre fordert, nämlich „daß für jede der trinitarischen Personen die andern beiden Personen und die Beziehung zu ihnen konstitutiv sind“.78 Daher ist weder der – theologisch ohnehin problematische – Begriff einer göttlichen „Person“79 noch der von „absoluter Subjektivität“ (abstrakt genommen) entscheidend, sondern vielmehr das logische Konzept, das Hegel hierfür anbietet: nämlich das einer „Mitte“, die sich an ihre jeweils zwei anderen Extreme entäußert, wobei diese Extreme je selber auch zu einer solchen Mitte werden. Das führt, ohne dass ich das hier weiter ausführen kann, zu dem trinitarischen Strukturmodell eines als solches sich selber tragenden, dreidimensionalen Relationengefüges, bei dem drei zugleich eins sind und das Hegels eigentliche Rekonstruktion der Trinität ermöglicht.80
V.
Notwendige Schöpfung?
Im direkten Anschluss an den Gottesbegriff sind zwei große Themen zu diskutieren: der Schöpfungsgedanke und die Eschatologie. Die Frage, wie Hegel das Verhältnis des Absoluten bzw. Gottes zur Schöpfung logisch-spekulativ begreift, gehört zu den kontrovers verhandelten Problemen der Hegel-Deutung überhaupt. Pannenberg vertritt in diesem theologischen Herzstück eine dezidiert antihegelische Position. Seiner Ansicht nach führt bei Hegel „das innere Leben des trinitarischen Gottes mit logischer Notwendigkeit zur Hervorbringung der Welt“.81 Das bedeutet die
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ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen“ (3, 24). Im Werden zu sich ist das göttliche Leben für Hegel auch ein „Schluß“; cf. 6, 373; 401 u. 351ff. Chr. 183. STh I, 408. Cf. (auch Pannenberg-kritisch) F. Wagner, Religiöser Inhalt und logische Form. Zum Verhältnis von Religionsphilosophie und ‘Wissenschaft der Logik´ am Beispiel der Trinitätslehre. In: Die Flucht in den Begriff. (Hgg. F.W. Graf / F. Wagner). Stuttgart 1982 (Deutscher Idealismus 6), 196–227. Cf. dazu J. Ringleben, a.a.O., wie o. Anm. 53, 788–791. Cf. a.a.O. 794–808 und die trinitätstheologische Durchführung 808–881. Dieser trinitätstheologische Ansatz wird auch von F. Wagner (a.a.O. wie o. Anm. 78) nicht direkt berücksichtigt; cf. aber ähnlich zur logisch-kategorialen Rekonstruktion 222–224. Vortrag 99. Der Satz geht indes weiter: „mit der Notwendigkeit nämlich, derzufolge das in Gott gesetzte Anderssein sein Recht, nämlich das Recht der Verschiedenheit erhalten muß“ (ebd.); cf. 103.
Pannenberg und Hegel
„Notwendigkeit der Setzung der Welt aus dem göttlichen Wesen“ überhaupt.82 Das steht nun in krassem Widerspruch zu dem in der Theologie seit eh und je behaupteten freien Entschluss Gottes, ohne innere Nötigung eine Welt zu erschaffen.83 Ja, Pannenberg steht nicht an, von der „irrationalen Freiheit“ des biblischen Gottesgedankens zu sprechen.84 Dabei fragt man sich allerdings, ob man von „Freiheit“ überhaupt reden könne, ohne einen Begriff mit ihr zu verbinden.85 Pannenberg wendet sich auch deswegen gegen die Hegel unterstellte logische Notwendigkeit der Schöpfung, weil es ihm selber um die offene Zukunft Gottes geht.86 Nun hat Hegel, soweit ich sehe, nirgends ausdrücklich von einer solchen Notwendigkeit der Schöpfung durch Gott gesprochen. Pannenberg scheint diese angebliche Notwendigkeit bei Hegel aus der logisch notwendigen Selbstentfaltung und Selbstrealisierung von Gottes absoluter Subjektivität zu folgern.87 Spezifisch ebene der Geist-Begriff Hegels den unendlichen qualitativen Unterschied von Gott und Geschöpflichkeit ein.88 „Logisch“ sei jene Notwendigkeit insbes. durch die Herrschaft des Hegelschen „Begriffs“ bedingt, der „die ins Offene treibende, geschichtliche Bewegung der Vernunft“ verdecke.89 Andererseits sieht Pannenberg selber: „Das göttliche Wesen kann nicht mehr als beziehungslose Identität jenseits der Welt gedacht werden“,90 und er stimmt auch darin entschieden mit Hegel überein, dass die subjektive Freiheit des Menschen in Wahrheit nicht ohne Gott denkbar sei.91 Grundsätzlich erkennt Pannenberg auch den Sachverhalt an, dass für Hegel Freiheit und Notwendigkeit einander nicht
82 A.a.O. 104; cf. ThuPh 280. Demnach gehört es im Sinne Hegels zu Gottes „Natur“, eine Welt endlicher Dinge hervorzubringen (a.a.O. 285). Zum Verhältnis von Gottes Natur und seiner Freiheit cf. GSTh 1, 343. 83 Cf. nach GSTh 1, 340: Iren. II, 5, 4 u. ö.; Clem. Alex. Strom. VII, 7. 84 A.a.O. 342. Zur „Kontingenz“ in diesem Zusammenhang cf. 343 (und u. Anm. 106). Im Vortrag hält er Hegel vor, die göttliche Freiheit auf die „Logizität des Begriffs“ festgelegt zu haben (108). Was wird dabei unter „Begriff “ und seiner Logik verstanden, der doch nach Hegel selber das Reich der Freiheit allererst eröffnet (6, 251) – als die „Wahrheit der Notwendigkeit“ (246 u. 249)? 85 Pannenberg will die Freiheit Gottes in seiner unableitbaren Selbstoffenbarung verorten: Probl. 258 (gegen Hegel: 259); cf. auch STh I, 104; 107 u. 244f. 86 Dazu s. u. Abschn. VI. Pannenberg weist auch auf die seit der Aufklärung nicht mehr übergehbare Freiheitsthematik überhaupt hin (WuTh 434 A. 821). 87 Vortrag 103; STh I; 43; GSTh 2, 102f (cf. 110 A. 34); ThuPh 292; Probl. 281f u.283. Hier schlägt wieder Pannenbergs Annahme von einem Vorausgesetztsein des göttlichen Subjekts durch; cf. Probl. 283 u. 286 (s. o. Abschn. II). 88 Chr. 330; cf. Anthr. 506 u. STh II, 501 mit A. 148 sowie den ganzen Aufsatz GusA (a.a.O. wie o. Anm. 6). 89 GSTh 1, 248 und Probl. 281 (J. Müller). 90 STh I, 397; MuG 29. 91 Vortrag 89 und ThuPh 287; cf. Anthr. 246 A. 33 sowie Vortrag 5.
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ausschließen müssen.92 Wir haben also zu fragen: Wie stellt sich Pannenbergs Kritik, wenn doch Hegel selber den logisch notwendigen Übergang von absoluter Notwendigkeit zur Freiheit behauptet und nachweist, für das Thema „Schöpfung“ dar? Ich muss hier gegen Pannenberg zwei Überlegungen ins Spiel bringen. 1. Zwar kann man einmal bei Hegel lesen: „Ohne Welt ist Gott nicht Gott“ (16, 192).93 Dieser Satz gilt aber zum einen von der Welt nur als vergehender. Denn für Hegel ist das Wesen der Welt „wesentlich diese in sich zurückkehrende Bewegung des Insichzurückgekehrten“ (19, 84), und genau das meint der Satz: „Das Nichtsein des Endlichen ist das Sein des Absoluten“ (6, 80).94 Das besagt, die Welt gehört nur als aufgehoben in das Sichhervorbringen und Werden zu sich des lebendigen Gottes, der in sich und für sich der von ihr absolut Freie ist, also gerade nicht von ihr „abhängig“. Die Welt ist für Gott immer nur das logisch Vergangene (und mithin vertritt Hegel keinen „Akosmismus“), und Gottes Freiheit ist „schöpferische Macht“ allein als „die absolute Negativität, die sich auf sich selbst bezieht“ (6, 272). Zum anderen gilt der zitierte Satz (16, 192) bei Hegel allein im religiösen Bewusstsein (16, 198) und bezieht sich auf den in seiner schöpferischen Liebe gegenwärtigen Gott, der von sich aus an seiner Schöpfung festhält. 2. Bekanntlich erklärt Hegel am Ende der „Wissenschaft der Logik“, der Übergang der absoluten Idee in die Natur bestehe darin, „daß die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer [sc. selbst] absolut sicher und in sich ruhend“ (6, 573).95 So ist die Idee „absolute Befreiung“ (ebd.). Daher kann es auch heißen: „Die höchste, zugeschärfteste Spitze ist die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befaßt und hält, weil sie sich zum Freisten macht“ (6, 570). Für die Einschätzung von Pannenbergs Kritik an der „logischen Notwendigkeit“ der Schöpfung für Gott bringt das alles die folgende Alternative mit sich: Entweder muss er schon Hegels Logik des dialektischen Übergangs vom Notwendigen zur Freiheit, d. h. die Freiheit als Wahrheit der Notwendigkeit (cf. 6, 216f u. 540), triftig widerlegen (was er nicht getan hat) oder er hat diesen Übergang in der sich
92 Vortrag 99 A. 60; cf. bei Hegel 6, 216f sowie Freiheit als die (logische) Wahrheit der Notwendigkeit (246 u. 249). Zum Begriff der Notwendigkeit bei Hegel cf. auch Vortrag 106f. 93 Cf. Wenz a.a.O. 513. 94 Von Pannenberg angeführt: ThuPh 280; aber nur auf die „Erhebung zu Gott“ bezogen. Cf. auch u. bei Anm. 124 u. 125. 95 Cf. 8, 393 (§ 244). Dazu Pannenberg: Vortrag 100 mit A. 62. Zum freien Entlassen cf. auch 6, 217 u. ö.
Pannenberg und Hegel
realisierenden absoluten Subjektivität bei Hegel ausgeblendet,96 um die Welt als „notwendiges“ Moment von Gottes Zusichkommen und so eine abstrakte Notwendigkeit der Schöpfung behaupten zu können. Bei Hegel ist Notwendigkeit, allgemein gesprochen, zunächst und übergreifend nichts anderes als Gottes Werden zu sich und so selber eins mit Gottes Freiheit, mithin kein äußerer Zwang.97 Genauer: die diskutierte „logische Notwendigkeit“ ist als der dialektische Weg98 der Logik der Begriffe bzw. des absoluten Begriffs – Hegel kann ihn auch den „göttlichen Begriff “ nennen (6, 572) -, bei dem bestimmte Negation, qualitative Unterschiede und dialektische Sprünge eine wesentliche Rolle spielen,99 der Weg des Zusichkommens der absoluten Idee, die sich in ihrer Vollendung in das Andere der Natur „frei entläßt“.100 Dies freie Sich-Entlassen (oder auch: dieser „Entschluß“; 6, 573; cf. 459) kann seinerseits nicht mehr als notwendig im Sinne der Logik-immanenten Begriffsentwicklung angesehen werden. Kurz: die „logische Notwendigkeit“ endet logisch genau da, wo die Schöpfung beginnt.101 Darin kommt konsequent zur Geltung, was Hegel gleich zu Anfang seiner „Logik“ in der bekannten Formulierung zum Ausdruck gebracht hat: ihr Inhalt sei „die Darstellung Gottes …, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endliche Geistes ist“ (5, 44). Ich meine also, die Selbstvermittlung von Gottes Leben ist nicht durch die Welt und ihre Geschichte bedingt und davon abhängig, sondern vielmehr zugleich mit deren Aufhebung.102 Gott setzt schaffend die Welt nur so aus sich heraus, dass er – soz. sich von ihr abstoßend – zugleich und als er selbst bei sich ist. Dafür nehme ich auch den folgenden (johanneisch inspirierten) Satz aus dem Schlusskapitel der Logik in Anspruch: „Die Logik stellt daher die Selbstbewegung der absoluten Idee nur als das ursprüngliche Wort dar, das eine Äußerung ist, aber eine solche, die als
96 S.u. Anm. 100. 97 Zur Einheit von Gottes eigener Notwendigkeit mit seiner höchsten Freiheit bei Luther cf. Vortrag 107 A. 87. 98 Pannenberg beruft sich zustimmend auf Hegels Dialektik von Wesen und Eigenschaften Gottes: STh I, 390 A. 53. Zur Dialektik cf. auch Chr. 328–331 (K. Rahner). 99 Weil für Hegel, wie Pannenberg sieht, die Schöpfung keine „Emanation“ (im neuplatonischen Sinne) ist (Vortrag 99f), hat er selber sich gegen ein Verständnis des Übergangs der Idee zur Natur als ein „Fließen“ gewandt (6, 569). 100 Am Ende der Begriffslogik wiederholt sich mithin der frühere Übergang der logischen Kategorie der Notwendigkeit in die Freiheit des Begriffs am Ende der Wesenslogik. 101 Die Schöpfung der Natur ist ihrerseits nur ein Vorgriff auf die des Menschen und des Geistes und von daher letztlich erst begründet. 102 Cf. o. bei Anm. 94 sowie R. Rothe, nach dem das Sein Gottes, als solches „schlechthin aus und durch sich selbst heraus schlechthin vollzogen, keines Anderen außer sich (praeter se) bedarf, um auf absolut vollendete Weise Gott zu sein“. In: Theologische Ethik. Erster Band (Wittenberg 2 1869), 150 (§ 39).
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Äußeres unmittelbar wieder verschwunden ist, indem sie ist“ (6, 550).103 Diesem Sich-in-sich-Zurückziehen der Idee entspricht unmittelbar das Freigelassenwerden (oder -sein) der Natur.104 Darin ist die Welt ebenso selbständig als das ganz Andere zu Gott105 wie auch als das an sich Vergehende. Gottes Zusichkommen ist also nicht bedingt durch seine Selbstunterscheidung von der Welt; sondern seine Freiheit von der Schöpfung (bzw. dass er „sich zum Freisten macht“; 6, 570) ist eodem actu deren (relative) Selbständigkeit und eigene Freiheit ihm gegenüber.106 Dies Gegenüber der Freiheit beider von einander in ihrem Unterschied kann man kaum ein Bedingungsverhältnis nennen. Gott bleibt in seiner Schöpfung zugleich frei von ihr und ihr gegenüber und kann sie so in schöpferischer Vorsehung begleiten und erhalten – in einem freien Mitsein oder Mitgehen, bei dem nicht aus-, sondern eingeschlossen ist, dass er auch Neues wirkt.107
VI.
Der gegenwärtige oder der kommende Gott? (Präsentische und futurische Eschatologie)
„Offenbarung als Geschichte“ – bereits diese Programmschrift von 1961 hat wegen ihrer universalgeschichtlichen Sicht Pannenberg den Ruf eingetragen, ein Hegelia-
103 Das „Überschreiten“ der reinen Logik in Richtung auf die Realphilosophie (der Natur und des Geistes) ist ein Immer-schon-überschritten-Haben (also nicht in einsinniger Richtung zu lesen), indem sie sich diese (als von sich logisch bestimmt) voraussetzt. Cf. dazu MuG 73f und bei Rohls 187. 104 Cf. den ersten o. bei Anm. 94 zitierten Satz (19, 84) sowie 6, 279: Gottes Freiheit als „die schöpferische Macht als absolute Negativität, die sich auf sich selbst bezieht“. Cf. auch Formulierungen wie: „das sich in die einfachste Tiefe Zurücknehmende“ (6, 570). 105 Cf. den nicht zu überlesenden Satz: Die Natur ist als „die Form ihrer [sc. der Idee] Bestimmtheit ebenso schlechthin frei“ (6, 573)! 106 Cf. die vorige Anm. Die von Pannenberg immer wieder betonte Kontingenz in unserer menschlichgeschichtlichen Erfahrung wäre von hier aus zu thematisieren. Dabei ist zu beachten: 1. Hegel hat Zufälligkeit als wesentliche Moment der (absoluten) Notwendigkeit gedacht (cf. 6, 231ff), und er hat 2. für die Natur, die den Begriff nicht vollkommen festhalten kann, und für die Geschichte Kontingenzen durchaus eingeräumt. Cf. auch u. Anm. 164. 107 In meiner Gotteslehre (wie o. Anm. 53) habe ich mit spezifisch Hegelschen Mitteln und im Sinne dessen, was Hegels System-Denken gleichwohl an Offenheit an sich hat (cf. Wenz a.a.O. 105), eine differenzierte Reformulierung des Gottes- und Schöpfungsgedankens versucht, die im Horizont von Gottes Sichhervorbringen auch eine Bestimmung von Theologie ermöglicht, in der Pannenbergs Anliegen, die eschatologische Zukunft Gottes gegenüber einer konzeptionellen Abgeschlossenheit zu behaupten, zu ihrem Recht kommen kann.
Pannenberg und Hegel
ner zu sein.108 Aber gerade hier behauptet Pannenberg einen unüberbrückbaren Gegensatz seiner Theologie zur Philosophie Hegels, und dieser grundsätzliche Unterschied betrifft die Eschatologie. Pannenbergs Vorwurf besteht im Wesentlichen darin, dass Hegel nur eine rein präsentische Eschatologie kenne und sie sogar haben müsse, weil in seiner Philosophie die absolute Idee bzw. der absolute Geist endgültig zu sich gekommen und sich vollkommen durchsichtig geworden sei.109 Damit habe er die absolute Zukunft des kommenden Gottes und die theologisch unaufgebbare „Offenheit“ der Vernunft nicht mehr denken können.110 Vielmehr hat Hegel demnach „die Spannung des eschatologischen Bewußtseins der Christenheit zur gegenwärtigen Welt … einseitig aufgelöst“.111 Von Hegel aus sind an Pannenbergs eschatologisches Denken, das selber hier ebenfalls nicht in extenso referiert werden kann,112 zwei entscheidende Fragen zu stellen. 1. Wie ist die Behauptung Pannenbergs von einer „absoluten Zukunft“, die nicht vorweg zu nehmen ist, und der ihr entsprechenden offenen Vernunft im Lichte des Hegelschen Denkens zu beurteilen? Für Hegel hat die Philosophie die Wahrheit dessen zu begreifen, was geschieht, und nicht nur zu konstatieren, was als ein bloßes Geschehen erscheint (6, 260). Ist die Pannenberg’sche Vorstellung von einer „Zukunft“ Gottes113 also nur eine soz. empirisch-tatsächliche Abschattung114 dessen, was bei Hegel das göttliche Werden
108 Zur Ausweitung der Offenbarungsgeschichte auf die Gesamtheit allen Geschehens cf. Wenz a.a.O. 106. Zu der damit zusammenhängenden Frage nach der Religionsgeschichte cf. STh I, 145 u. 183 A.134 (mit 192) sowie den einschlägigen Aufsatz von 1962 (in GSTh 1, 252–295) und dazu meine Darlegungen zur Frage. „Gibt es eine Logik der Religion?“ (in Pannenberg-Studien. Band 8 (Göttingen 2021), 35–51; dort insbes. Abschn. III). Zum Thema der wahren Religion cf. STh I, 144f; 189–192; 244f und WuTh 371 A. 688. 109 Diese These steht in deutlichem Zusammenhang mit den ausführlichen Untersuchungen der Dissertation von P. Cornehl (s. o. Anm. 7). Cf. auch STh I, 251 A. 98. Cf. auch den Vortrag von 1999 (wie o. Anm. 6), a.a.O. 318–320 u. 321. 110 Cf. bei Pannenberg die Rede von einer „ins Offene treibende(n), geschichtliche(n) Bewegung der Vernunft“ (GSTh 1, 248), die, obwohl derart unbestimmt, immer noch Vernunft sein soll. 111 STh III, 404 A. 815. 112 Cf. STh III, 569–694 (Kap. 15). 113 Cf. 3, 574 (zitiert GusA 157). 114 Gilt der Gedanke Hegels vom „ursprünglichen Wort“ [d. h. dem göttlichen Logos], das in seiner Äußerung „als Äußerung unmittelbar wieder verschwunden ist, indem es ist“ (6, 550), so wie für die Schöpfung (s. o. Abschn. V bei Anm. 104 und Kontext) nicht ebenso für sein Mitgehen in der unmittelbaren Realität überhaupt und so auch in der sich unabsehbar ereignenden Zukunft? S. auch o. Anm. 107.
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zu sich bzw. des im Werden begriffenen Begriffs ist?115 Entspricht also das, was für Pannenberg eine offene Zukunft ist, bei Hegel der Einsicht in die Rückkehr des Absoluten aus seinem Sich-Vorlaufen in den sich selbst voraus gesetzten Anfang?116 Immerhin steht bei beiden Denkern der Gottmensch für den Punkt der Umkehr in der geschichtlichen Bewegung (s. u. 2.). Auch Pannenberg denkt wie Hegel den Gedanken, dass das „Ende der Geschichte als Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung ihrer Begebenheiten“ fungiert,117 und das heißt, auch er denkt wesentlich eine „rückwärtige Konstitution“.118 Pannenberg will dabei „das Wesen Gottes selbst aus der absoluten Zukunft der Freiheit … verstehen“.119 Hierbei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass es sich um die (auch geschichtlich verlaufende) Selbstkonstitution von Gottes eigenem Wesen handelt, der so nur zu sich selber kommt. Das heißt: die Pannenberg’sche „offene Zukunft“ muss damit zusammengedacht werden, dass Gott seine eigene Zukunft ist. Die absolute Zukunft – als Inbegriff seiner absoluten Freiheit – ist er selbst in seinem ewigen Leben. Derart ist unbedingt festzuhalten, dass Gottes eigenes Leben in alle Zukunft und im kommenden Eschaton doch es (bzw. er) selbst bleibt – im Werden zu sich.120 Das ist auch für den Gedanken der „Vorsehung“ mit in Anschlag zu bringen (cf. 8, 365).121 Natürlich gilt auch für Pannenberg, dass die Verherrlichung Gottes das Ziel der Geschichte ist122 und das Ziel der Welt und ihrer Geschichte daher Gott „näher“ ist als ihr Anfang.123
115 Für Pannenberg gilt: Der h. Geist vollendet sich nicht im „Begriff “ (GsuA 157). 116 Für den endlichen Geist stellt es sich nach Hegel in folgender Weise dar: „so erscheint es ihm in empirischer Weise, was Gott ist. Aber indem das Göttliche in dieser Geschichte für ihn hervortritt, so verliert sie den Charakter, äußerliche Geschichte zu sein; sie wird göttliche Geschichte, die Geschichte der Manifestation Gottes selbst“ (17, 217). 117 Was Pannenberg allerdings (mit Berufung auf OaG 95ff) als Korrektiv an Hegel festhalten möchte. Auch hier schlägt sich Pannenbergs problematische, einseitige These von einem immer schon Vorausgesetztsein der absoluten Subjektivität bei Hegel nieder (s. o. Abschn. II). 118 S. die Nachweise in meinem o. Anm. 33 genannten Aufsatz. In Chr. 403 ist demgemäß von der „ontologisch-konstitutiven Bedeutung des Eschaton für das Ganze der Geschichte“ die Rede. So ist auch „Der ewige Schöpfungsakt Gottes … erst im Eschaton ganz in der Zeit entfaltet“, a.a.O. 407). Nach Hegel kann das Ende, das der Ewigkeit entspricht, „in einer zeitlichen [bzw. geschichtlichen] Entwicklung“ nicht schon von Anfang an (abstrakt) „antizipiert“ werden (6, 570), ist also nur als im Werden zu sich zu begreifen. 119 Vortrag 110. 120 Zum Verhältnis: Idee und Geschichte cf. Probl. 320. Auch in der Religionsphilosophie liest man: „Geist ist die göttliche Geschichte, der Prozeß des Sichunterscheidens, Dirimierens und dies[es] in sich Zurücknehmens“ (17, 214; zitiert Probl. 252). Cf. auch o. Anm. 116. 121 Cf. STh III, 563ff und o. bei Anm. 107. 122 STh I, 422f und ThuPh 268 A. 28. 123 STh I, 422.
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Mit dieser Frage der Eschatologie hängt auch die nach dem Status des endlichen Menschen als Einzelnem zusammen. Für Hegel steht fest, dass „das Nichtsein des Endlichen … das Sein des Absoluten“ ist (6, 80), und es mithin „das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben“, so dass „die Stunde ihrer Geburt … die Stunde ihres Todes“ ist (5, 140) – das alte nascendo morimur.124 Denn weil das Einzelne für sich seinem Begriff (noch) nicht entspricht, macht eben „diese Beschränktheit seines Daseins … seine Endlichkeit und seinen Untergang aus“ (8, 368; § 213 Anm.).125 Pannenberg indes will die „Endlichkeit des Menschen“ gegen Hegel zurückfordern.126 Zwar habe Hegel den unendlichen Wert des Individuums als die große Idee des Christentums erkannt,127 aber er sieht die Gefahr, dass das einzelne menschliche Individuum bei Hegel im Allgemeinen des Begriffs aufgehoben sei128 und somit zu einem bloßen „Durchgangspunkt“129 für die Realisierung des absoluten Geistes herabsinke.130 Dabei ist zunächst zu fragen, wie Pannenbergs Rettung des endlichen Daseins von einem falschen Festhalten der Endlichkeit (in ihrer Unwahrheit) zu unterscheiden sei. Für Hegel jedenfalls gilt: Nur was als Moment der Idee respektiert wird, ist in seiner Wahrheit; und weiterhin: „wenn dieß Allgemeine verletzt wird, [-] es [sc. das Allgemeine] ist fest in der Idee [-], so kehrt es sich als Feind gegen das Individuum“.131 Für Pannenberg ist entschieden an der Selbständigkeit des Daseins der Geschöpfe in ewiger Gemeinschaft mit Gott festzuhalten:132 „In dieser christlichen Perspektive ist das Endliche gerade nicht ein vergehendes Moment, sondern Gegenstand der unendlichen Affirmation der göttlichen Liebe, die sich … in der eschatologischen Verherrlichung der Schöpfung vollendet als ewige Bejahung des selbständigen Daseins der Geschöpfe, das nur möglich ist durch deren Gemeinschaft mit dem ewigen Gott“.133 Nach Pannenbergs Theologie steht aber – wie für Hegel – diese Wahrheit des Endlichen hier und jetzt noch aus, gemäß dem Satz aus dem 1. Joh.Brief (3, 2): „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber:
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Cf. überhaupt 5, 139f. S.o. im Text nach Anm. 94. ThuPh 296. S. auch für das Erkennen u. Abschn. VII. Anthr. 161; STh III, 683 A. 327. Anthr. 169; cf. 174 sowie STh III, 683 A. 325. Das ist ein gängiger Topos der Hegel-Kritik. Cf. STh III, 574; Probl. 280; ThuPh 292 und Rohls a.a.O. 199. Fraglich ist hier schon das „nur“ (sc. ein Durchgangspunkt), denn jedes Individuum trägt auch zum Reichtum des Geistes bei. 131 Gesammelte Werke. Band 25/1 (Hg. Chr.J. Bauer): Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes (1822 u. 1825), 371; zitiert bei Wenz a.a.O. 177 A. 17. 132 Probl. 280f; ThuPh 292; cf. aber o. Anm. 105. 133 GusA 158. Diese Gemeinschaft kommt aber durch den Tod des Einzelnen zustande, und sie bedeutet auch ein Teilhaben am allgemeinen göttlichen Leben.
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wenn es [oder: er] erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“.134 Ich meine, das hätte auch Hegel akzeptieren können. 2. Die zweite, m. E. grundlegende Frage an Pannenbergs eschatologische HegelKritik betrifft dessen angebliche Verabsolutierung der präsentischen Eschatologie, also die Behauptung von einer vollständigen, d. h. zukunftslosen Gegenwart des Absoluten im Jetzt der spekulativen Idee.135 Hierzu möchte ich darauf hinweisen, dass auch bei Pannenberg die These vom noch Ausstehen der Zukunft Gottes (und sogar entscheidend) zurückgebunden bleibt an die neutestamentliche Dialektik von „Schon“ und „Noch nicht“,136 wodurch die Rede von einer „absoluten“, d. h. absolut offenen Zukunft (s. o.) relativiert, zumindest aber präzisiert wird.137 Pannenberg selber besteht von daher ausdrücklich auf der einen Wahrheit von Gegenwart und Zukunft bzw. Glaube und Vernunft.138 Entscheidend hierbei ist, dass in der Schöpfungsmittlerschaft Christi „das Ganze des Weltprozesses, der von seinem Ende her, das in der Geschichte Jesu schon vorweg erschienen ist, seine Einheit und seinen Sinn empfängt“.139 Die vor der Welt noch verborgene Zukunft ist mithin am Orte Jesu Christi „schon offenbar“.140 Das eben 134 Cf. STh III, 573 bei A. 22 u. 649f. Zu meiner eigenen eschatologischen Deutung dieses Verses cf. a.a.O., wie o. Anm. 53, 897ff. Dort versuche ich, zu diesen Fragen von der Selbsthervorbringung Gottes bzw. des Absoluten her einen Zugang zu gewinnen (a.a.O. 192ff u. 211–244; zu Pannenbergs Ablehnung des causa-sui-Theorems cf. a.a.O. 247 und STh I, 423; s. auch o. zur Ewigkeit bei Anm. 61) und so den Konflikt zwischen Pannenberg und Hegel im Ansatz zu überwinden: „Die Lebendigkeit des Lebendigen ist, sich entstehen zu machen, und es ist schon“ (17, 497). Dabei spielt die intrinsische Lebendigkeit Gottes (Joh 5, 26a) eine entscheidende Rolle (a.a.O. 837–839). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Thema Tod auch für Hegel von geradezu zentraler Bedeutung ist, den er wie kaum ein anderer Philosoph zu begreifen versucht hat (cf. D. v Engelhardt (Hgg.), Sterben und Tod bei Hegel. Würzburg 2015). Das hat natürlich auch Pannenberg gesehen (Anthr. 176 A. 65), der sich über den Tod des Einzelnen und die Antizipation der letzten Zukunft (zur Unsterblichkeit Gottes: Anthr. 70) beispielsweise GSTh 1, 249 äußert. Dass Hegel die Endlichkeit aller Dinge und unserer selbst philosophisch so stark beschäftigt hat, hängt auch damit zusammen, dass er (von Anfang an) ein Philosoph des Lebens war; das setzt sich bis in die „Wissenschaft der Logik“ hinein fort. Für Hegel ist der Begriff des Lebens mindestens so aufschlussreich wie der der Subjektivität. So begreift er „das logische Leben“ (6, 470) und von daher auch „Geist“, und das ist für eine Theologie des lebendigen Gottes von großer Bedeutung. Außerdem gibt es beim „Leben“ kein undialektisches „Voraus“. 135 Cf. STh III, 575 und o. bei Anm. 109. 136 Cf. J. Ringleben, Jesus. Ein Versuch zu begreifen (Tübingen 2008), 113–126. 137 Cf. MuG 69f u. 75. Nicht einleuchtend finde ich Pannenbergs Behauptung, die wahre Bedeutung dieser Antizipation hänge vom künftigen Ausgang des Erfahrungsprozesses ab (70). 138 GSTh 1, 237f. 139 Chr. 407 (Hervorh. J.R.). 140 GSTh 1, 22; zitiert bei Wenz a.a.O. 119.
Pannenberg und Hegel
hat auch Hegel zum Ausgangspunkt genommen. Spezifisch in der Auferstehung Jesu als der Prolepse des Eschaton ist dieses als schon gegenwärtig zugleich auch noch zukünftig zu denken; aber eben nicht nur als zukünftig.141 Es ist der Glaube, der in seiner gegenwärtigen Gewissheit sich zur Zukunft verhält (cf. Hebr 11, 1)142 und als „Antizipation der endgültigen Wahrheit“ für die Zukunft offen ist,143 also Abgeschlossenheit und Offenheit zu vermitteln vermag.144 In der Spannung zwischen dem Schon und dem Noch-nicht ist eine Offenheit mitgesetzt, die (wie schon im Joh.-Evangelium) eine restlose Verabsolutierung der Gegenwart bzw. der präsentischen Eschatologie nicht zulässt (christlich bei Pannenberg wie auch philosophisch bei Hegel), sofern das Eschaton in der Auferstehung antizipiert, d. h. als ebenso vollendet wie noch offen für ein Zusichkommen in der Zeit, mithin als im Werden zu sich begriffen ist.
VII.
Das Endliche und das Unendliche
Zum Schluss sei noch ein Gedanke angesprochen, bei dem sich Pannenbergs volle Zustimmung zu Hegel gleichwohl mit einer Hegel-kritischen Folgerung verbindet. Hegel hat in seiner Logik die Dialektik des Begriffs vom Unendlichen aufgewiesen, wonach eine vermeintlich dem Endlichen nur gegenüberstehende Unendlichkeit selber verendlicht gedacht werde, während das wahre Unendliche nur es selbst ist, indem es auch das Endliche übergreift und in sich schließt.145 Dies Konzept des „wahrhaft Unendlichen“, das sein Gegenteil als Moment so in sich hat, dass es darin auch bei sich selbst ist,146 wird von Pannenberg an vielen Stellen seiner Schriften mit Zustimmung angesprochen.147 Dass das wahre Unendliche nicht nur
141 Cf. Wenz a.a.O. 107 (A. 6). 142 MuG 71. Cf. J. Ringleben, Wort und Geschichte. Kleine Theologie des Hebräerbriefs (Göttingen 2019), 56–60. 143 STh III, 190f. Pannenberg zitiert an dieser Stelle Hegel: „Das subjektive Bewußtsein des absoluten Geistes ist wesentlich in sich Prozeß, dessen unmittelbare und substantielle Einheit der Glaube in dem Zeugnis des Geistes als die Gewißheit von der objektiven Wahrheit ist“ (10, 366f; § 555); cf. GSTH 2, 255. 144 Cf. Wenz a.a.O. 118 A. 20 (zu K. Rahner). 145 Cf. 5, 149; 151ff u. 158 mit 163. Dieser Gedanke ist von E. Mühlenberg in seiner (bei Pannenberg entstandenen) Dissertation schon in der Patristik nachgewiesen worden: Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa (Göttingen 1966), 113; es gilt freilich diese als unbegreifbar zu begreifen (a.a.O. 116; 143; 162; 167). Cf. auch E. Mühlenberg, Zur Herkunft des Gedankens der Unendlichkeit Gottes. In: Pannenberg-Studien 1 (2015), 141–175. 146 Cf. auch ThuPh 288. 147 Z.B. STh I, 430 A. 129; 432; 441; II, 225; cf. auch GSTh 2, 104f; MuG 21; Probl. 279f; ThuPh 266 u. 287f; GusA 153.
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im Gegensatz zum Endlichen gedacht werden darf,148 legt sich theologisch auch, wie Pannenberg mehrfach betont, durch den christlichen Gedanken der Menschwerdung Gottes nahe, bei der dieser Gegensatz versöhnt ist.149 Inkarnation besagt eben: finitum capax infiniti.150 Angesichts dieses Sachverhalts ist es nun irritierend, wenn Pannenberg mehrfach als einen Haupteinwand gegen Hegel hervorhebt, in dieser Philosophie sei die unüberwindliche Endlichkeit des menschlichen Denkens und seiner Gedankenbestimmungen illegitim übersprungen.151 Demgegenüber sei – so Pannenberg – das denkende Subjekt des reflektierenden Philosophen in seiner Endlichkeit nicht spekulativ zu überholen,152 und daher nicht wie bei Hegel mit der „Selbstbewegung des Begriffs“ bzw. seiner dialektischen Selbstentfaltung zu vermitteln.153 Hegel hat sich nun gerade mit seiner logischen „Idee“ gegen das bloß Subjektive unseres Denkens und seiner sachhaltigen, methodisch erarbeiteten Gedanken immer wieder argumentativ ausgesprochen.154 148 Vortrag 103. Wäre das Unendliche durch Endliches von außen begrenzt, wäre es nicht mehr unendlich. 149 A.a.O. 84. 150 A.a.O. 89; ThuPh 288. 151 Cf. GSTh 2, 106 u. 107; ThuPh 283 u. 286; Probl. 285. Zu Kant cf. STh II, 176f A. 414. Für Pannenberg ist Hegels Begriff des absoluten Begriffs oder Subjektes allenfalls ein „Gleichnis“ (Chr. 329 A. 89). 152 MuG 67f; ThuPh 293. Kritisch wiederum dazu Chr. Glimpel, Gottesgedanke und autonome Vernunft (Göttingen 2007), der Pannenberg eine Verendlichung des Denkens vorhält (a.a.O. 19; zitiert bei Wenz a.a.O. 16 A. 15). Nach Pannenberg ist sogar die Konzeption der absoluten Idee selber ein Produkt des denkenden Philosophen (ThuPh 296). Ist es aber nur das, bzw. wird hier nicht der Wahrheitsgehalt eines Gedankens (oder sogar der der Summe aller logischen Gedankenschritte) einseitig an das denkende Subjekt zurückgebunden? 153 ThuPh 273f u. 275 (!) und GSTh 2, 106; cf. MuG 92 A. 2. Für Pannenberg handelt es sich bei Hegels „Begriff “ nur um die Selbstbewegung des menschlichen Denkens (GSTh 2, 98; cf. auch u. Anm. 160); andernfalls findet eine falsche Überhöhung des Begriffs statt (Chr. 186). Hegel hat aber bekanntlich, statt den Begriff als bloß subjektives Konstrukt zu fassen, das Ich oder reine Selbstbewusstsein selber als den „daseienden Begriff “ verstanden (cf. 6, 253; dazu Probl. 285). Damit scheint mir Pannenbergs These, dass der Gottesgedanke auch in der Theologie „hypothetisch“ bleibt (WuTh 302) unverträglich (cf. auch a.a.O. 343 A. 63; zum hypothetischen Anfangen (in der Philosophie) cf. Hegel; 6, 570). Ebenso ist es für mich nicht plausibel, wenn Pannenberg die bleibende „Strittigkeit des Daseins und Wesens Gottes in dieser Welt“ (STh I, 69; 107; cf. 193) nicht nur empirisch, sondern grundsätzlich behauptet – eine Strittigkeit, die sich erst im Eschaton auflöse (cf. a.a.O. 26). Denn man kann nicht die Lösung eines Problems unter Bedingungen postulieren, in denen eo ipso dies Problem gar nicht mehr auftritt; zur problematischen Rolle des Glaubens dabei cf. J. Ringleben, Pannenbergs Systematische Theologie. In: ThR 63 (1998), 339f. 154 Cf. z. B. 6, 463: „Wenn die Gedanken etwas bloß Subjektives und Zufälliges sind, so haben sie allerdings keinen weiteren Wert [sc. für das Denken von Wahrheit]“. Denn sie fixieren unser Denken in seiner Endlichkeit und machen Wahrheit unerreichbar. Pannenberg will aber mit Hegel nicht die abstrakte These vertreten, man könne von Gott überhaupt nichts wissen (STh I, 365 A. 1). Denn Gott ist (wie bei Kant und Hegel) so etwas wie ein notwendiger Vernunftgedanke
Pannenberg und Hegel
Pannenberg aber insistiert auf der Endlichkeit denkender Reflexion, obwohl er einerseits mit Hegel auch sieht, dass „der Bezug der exzentrischen Existenz des Menschen zum Unendlichen oder Unbedingten jeweils nur in Vermittlung durch einen endlichen Inhalt gegeben ist“,155 und andererseits sogar sagen kann: „daß wir der Gegenwart der Wahrheit als göttlicher und so auch absoluter in unserm Bewußtsein und in den Behauptungen unseres Denkens gewahr sind“.156 Ist es aber richtig, wie Hegel behauptet hat, dass die eigene Grenze zu erkennen, logisch bedeutet, sie in gewisser Weise auch schon überschritten zu haben,157 so ist im faktisch endlichen, philosophischen Denken, insofern es sich vom Unendlichen auch unterscheidet und so bei sich ist,158 darin das Unendliche (Unbedingte) selber gegenwärtig. Die Sachfrage lautet mithin: Wie kann das Unendliche und Absolute in unserm Denken und da bei sich selber sein,159 ohne dass das Denken an dem Absoluten auch teilhat,160 und dies so, dass es das erkennt – also in einer Selbstunterscheidung seiner (durchaus bestehenden) eigenen Endlichkeit von dem Unbedingten, zu dem es denkend immer auch einen (endlichen) Zugang gewinnt?161
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(STh I, 103; gegen die Unerkennbarkeit Gottes cf. die Hegel-Zitate Probl. 282f). Wie passt dazu Pannenbergs Rede von den „Phantasieleistungen“ produktiver Einbildungskraft im synthetisch voranschreitenden Denken der Hegelschen Logik (GSTh 1, 248)? Anthr. 67; cf. MuG 93 A. 10. ThuPh 286. Doch auch so soll der Begriff bloße Antizipation bleiben (ebd.). Pannenberg findet es gleichwohl sogar überzeugend, dass Hegel gezeigt hat, „daß keine Position um die Behauptung einer Wahrheit herumkommt, die als nicht nur subjektiv gültig angenommen wird“ (ebd.). Oder meint „Behauptung“ hier doch nur etwas Subjektives, so dass Pannenberg lediglich die formale Konsequenz bei Hegel überzeugend findet? 5, 145; 8, 144 (§ 60 Anm.). Cf. WuTh 309 u. MuG 21 (als überzeugend eingestuft). Cf. Probl. 283. Cf. o. bei Anm. 146 (ThuPh 288). Dies freilich dergestalt, dass das Absolute von sich aus an und für sich „bei uns“ sein will und ist (cf. 3, 69 u. 168). Daraus aber folgt „die Selbstbewegung der Wahrheit“ (cf. dazu Probl. 248: K. Barth, der ebenfalls an der Subjektivität des menschlichen Denkens festhält). Anders forderte z. B. S. Kierkegaard gegen die in der absoluten Idee angeblich verflüchtigte Endlichkeit des Denkers diese entschieden zurück (cf. ThuPh 296). Er tut dies u. a. mit dem Hinweis darauf, dass Hegel selber im Vorwort noch 1831 die erforderliche Nötigung, seine „Wissenschaft der Logik“ sogar „siebenundsiebzigmal durchzuarbeiten“, d. h. darstellerisch zu verbessern (5, 33) und zwar wegen ihrer faktisch „unvollkommenen Ausführung“ (6, 243), einräume und so doch keinen Anspruch auf Absolutheit dieser Logik erheben dürfe; cf. z. B.: Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Zweiter Teil: „Wenn Hegel seine Logik unter dem Titel: Das reine Denken herausgegeben hätte ohne Verfassernamen, ohne Jahreszahl, ohne Vorwort, ohne Anmerkungen, ohne dozierenden Selbstwiderspruch, ohne störende Erklärung für das, was sich nur selbst erklären könnte, … als die eigenen Bewegungen des reinen Denkens: das wäre griechisch gehandelt gewesen“ (In: Gesammelte Werke (Hirsch). 16. Abteilung (H.M. Junghans). Düsseldorf / Köln 1958, 35f; cf. auch Die Tagebücher (H. Gerdes). Erster Band (a.a.O.
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Ein Paradigma dafür stellt Hegels nachkantische Neuinterpretation der traditionellen Gottesbeweise als „Erhebung“ über das Endliche zum Unendlichen und Unbedingten dar.162 Hatte F.H. Jacobi die Gottesbeweise kritisiert, weil in ihnen als rationalen „Beweisen“ das endliche Denken ins Absolute verlängert, weil zugrunde gelegt werde, so ist dabei gerade das übersehen, worauf es hier ankommt, nämlich die dialektische „Umkehrung“ des Denkens,163 das sich in solcher Erhebung als Ort einer Selbstvergegenwärtigung des Absoluten begreift.164 In diesem Sinne ist das Nichtsein (bzw. Nichtmehrsein) des Endlichen das Sein des Absoluten (6, 80).165 Andererseits aber sieht Hegel dabei von Jacobi auch schon wahrgenommen, dass, während die Methode der Demonstration „in den Kreis der starren Notwenigkeit des Endlichen gebunden bleibt“, die „Freiheit, d.i. der Begriff und damit alles, was wahrhaft ist, jenseits derselben liegt“ (6, 539f). Denn „das Prinzip der Philosophie (ist) der unendlich freie Begriff und aller ihr Inhalt (beruht) allein auf demselben“ (ebd.).
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165
1962), 338 (Pap. V A 73)). Das ist freilich ein oberflächlicher Einwand; denn in Hegels Sinn besteht die Absolutheit des Gedachten trotz oder gerade auch in der Unzulänglichkeit seiner empirisch vorliegenden, sprachlichen Darstellung als Text. Cf. STh I, 97; 103f; 107 u. 119. Cf. Probl. 261 u. 270 und GSTh 2, 105. Cf. Hegel gegen Jacobi 6, 79: „so besteht der wahre Schluß von einem Endlichen und Zufälligen auf ein absolut-notwendiges Wesen nicht darin, daß von dem Endlichen und Zufälligen als dem zum Grunde liegenden und liegen bleibenden Sein, sondern … von einem nur fallenden, sich an sich selbst widersprechenden Sein aus auf ein Absolut-Notweniges geschlossen wird oder vielmehr aufgezeigt wird, das zufällige Sein gehe an sich selbst in seinen Grund zurück, worin es sich [sc. als Endliches und faktischer Ausgangspunkt] aufhebt. … Die Wahrheit aber ist, daß darum, weil das Endliche … nicht ist, das Absolute ist“. Die im Gottesbeweis erreichte Unmittelbarkeit des Gottesgedankens ist nur als sich aufhebende Vermittlung diese „Erhebung“. Dazu Probl. 280. In Wahrheit wird gerade so jegliche Verabsolutierung der Endlichkeit verhindert (cf. a.a.O. 283).
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Ohnmächtiger Wille zur Macht Kontexte Pannenberg’scher Nietzschekritik Gehört Religion konstitutiv und unerlässlich zum Menschsein des Menschen oder trägt sie im Gegenteil dazu bei, den Menschen von sich und seiner Bestimmung zu entfremden? Von dieser zentralen Frage sind alle Einzeluntersuchungen der großen, 1983 erschienenen „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von Wolfhart Pannenberg bewegt. Nach Urteil des Autors entscheidet sich vorrangig auf dem Boden der Anthropologie, ob Religion und christlicher Glaube humane Allgemeingültigkeit legitimerweise beanspruchen können oder ob die Bestreitung dieses Anspruchs durch neuzeitliche Religionskritik und modernen Atheismus im Recht ist, die sich ihrerseits primär in anthropologischen Kontexten zu plausibilisieren suchen.1 Als ein mittlerweile klassisch zu nennendes Beispiel für eine religionskritischatheistische Positionierung führt Pannenberg neben Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Sigmund Freud Friedrich Nietzsche (1844–1900) an. Nicht nur Nietzsches Polemik gegen die Leibfeindlichkeit, die er der christlichen Moral attestierte, oder seine mit der Freud’schen verwandte Beschreibung des Gewissens als einer Instanz, die durch Erzeugung von Schuldgefühlen den Menschen knechte und alle Lebenslust unterdrücke, seien „mit breitester öffentlicher Wirkung“2 verbunden gewesen und noch verbunden. Von noch grundsätzlicherer Bedeutung sei sein Verständnis des Menschen als des radikal autonomen, absolut seiner selbst mächtigen Wesens, das bereits den Kern der Feuerbach’schen Religionskritik gebildet habe, um vom Röckener Pastorensohn dann auf der Basis einer Metaphysik des Willens zur Macht zum „Grundzug des modernen Atheismus“3 stilisiert und prinzipialisiert zu werden. So hat es Pannenberg bereits in dem frühen Text über „Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung“ konstatiert, der erstmals Anfang Dezember 1960 bei einer Dozentenfreizeit der Hamburger Theologischen Fakultät vorgetragen wurde, wobei er zugleich unter Berufung auf Martin Heidegger seiner Überzeugung Ausdruck verliehen hat, „daß Nietzsches Metaphysik des Willens
1 Vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 15. 2 Ders., Systematische Theologie. Band 2, Göttingen 1991, 267. 3 Ders., Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung (1963), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen (1967) 2 1971, 347–360, hier: 353.
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die wesentliche Konsequenz aus dem Ansatz der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität gewesen“4 sei. Prägender noch als Heideggers Nietzschedeutung ist für Pannenbergs eigene Auffassung diejenige geworden, die der Heideggerschüler Karl Löwith entwickelt hat. Pannenberg hat ihn neben Nicolai Hartmann und Karl Jaspers zu seinem wichtigsten philosophischen Lehrer erklärt. Löwiths Werk über „Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ bildet, wenn man so will, den engeren Kontext Pannenberg’scher Nietzschekritik. Auch für die Erschließung des weiteren Kontextes ist eine Löwith-Monographie in hohem Maße bedeutsam, nämlich die großangelegte Studie über den revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts „Von Hegel zu Nietzsche“. Mit ihr und ihrer historiographischen Grundthese, dass der Weg der nachhegelschen Philosophie durch eine fortschreitende Anthropologisierung gekennzeichnet sei, soll im Folgenden eingesetzt werden (2.), nachdem zuvor der Zusammenhang von Tod Gottes und menschlicher Selbstapotheose, auf den Pannenbergs gesamte Nietzscheinterpretation angelegt ist, in wenigen Strichen skizziert worden ist (1.). Wesentliche Anstöße für die Ausbildung seines Denkens hat Nietzsche laut eigenen Angaben von Arthur Schopenhauer erhalten. Die Lektüre von „Die Welt als Wille und Vorstellung“ hat ihn „tief beeindruckt“5 . Dies hebt auch Löwith in seiner Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts bei Gelegenheit hervor, was zum Anlass genommen werden soll, auf Schopenhauers Hauptwerk etwas genauer einzugehen (3.), um dann erst Löwiths – von Pannenberg intensiv studierte – Nietzschearbeit in den Blick zu nehmen (4.), die 1935 erstmals, 1956 in bearbeiteter Form erschienen ist. Damit ist die Basis gelegt für die Würdigung der Wendung (5.), die Pannenberg schon früh und in Kenntnis der Löwith’schen Deutung zur Kurzformel von Nietzsches philosophischem Programm erklärt hat: Der Wille zur Macht als „Grund der Subjektivität“6 , dessen Wertsetzung aller Wahrheit einschließlich derjenigen Gottes vorgeordnet sei (vgl. 355). In seiner Proklamation des Menschen „als des absolut seiner selbst mächtigen Wesens“ (353) und „nicht erst in der atheistischen Umwertung der Werte der religiösen und insbesondere der
4 A.a.O., 354 unter Bezug auf M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, 193–247. Vgl. St. Günzel, Nietzsche in Heideggers Texten. Eine Konkordanz, in: A. Denker u. a. (Hg.), Heidegger und Nietzsche (Heidegger-Jahrbuch 2), Freiburg i.Br./München 2005, 45–92. Zum Zusammenhang der Philosophie Nietzsches mit der Subjektivitäts- und Emanzipationsproblematik der Moderne vgl. auch G. Rohrmoser, Nietzsche und das Ende der Emanzipation, Freiburg i.Br. 1971 (Pannenberg-Bibliothek 02209). 5 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 316. 6 Ders., Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, 354f.; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz.
Ohnmächtiger Wille zur Macht
christlichen Tradition“ (355) habe man „die Wurzel des Atheismus bei Nietzsche zu sehen“ (ebd.). Entsprechendes gelte in Bezug auf Nietzsches Nihilismus (6.), den seine Verherrlichung des gottlosen Übermenschen (7.) nicht überwinde, sondern bestätige.7
1.
Tod Gottes und menschliche Selbstapotheose
Sils-Maria: das klingt wie eine Verheißung, welche die Erfüllung, die sie verspricht, bereits in sich trägt. Im Falle Friedrich Nietzsches verhielt es sich so. Er hatte den Ort, der die Reize des Südens mit denen des Nordens verbindet und Italien und Finnland eins werden lässt, im Sommer 1881 für sich entdeckt. Die Engadiner Landschaft erheiterte sein Gemüt und versetzte ihn in eine Hochstimmung, die auch noch im darauf folgenden Winter anhielt. Die im Januar 1882 und noch im selben Jahr in erster Gestalt erschienene Abhandlung „Die fröhliche Wissenschaft“ („La Gaya Scienza“)8 gibt davon beredtes Zeugnis. Indes findet sich der eigentliche Grund für die neu gewonnene Heiterkeit und dafür, was der Philosoph im ersten Abschnitt des vierten Buches „amor fati“ nennt, nicht in Sils-Maria. Beide verdanken sich im Wesentlichen nicht äußeren Eindrücken, sondern der inneren Einsicht in ein Ereignis von welt- und menschheitsgeschichtlicher Bedeutung: Gott ist tot! „Der tolle Mensch“ (Nr. 125) hatte vom Tode Gottes schon zu Beginn des dritten Buches frohe Kunde gegeben, wobei er das Ereignis nicht nur als Faktum registrierte, sondern zugleich die Ursache seines Zustandekommens angab: „Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“ (Ebd.) Mögen dadurch die Welt und das Dasein des Menschen in ihr auf den ersten Blick dunkler geworden sein, sodass man schon am helllichten Vormittag eine Laterne anzünden muss, um zu sehen, so ist das Ereignis der Tötung Gottes nach Nietzsches Urteil doch von höchster Notwendigkeit und um des Menschseins des Menschen willen unbedingt erforderlich und zu begrüßen. Der Mensch ist es Nietzsche zufolge sich selbst schuldig, Gott zu töten, um sich an seine Stelle zu setzen.
7 Nietzsches Streben war auf die Destruktion des christlichen Bewusstseins angelegt, um den Untertitel der bei Karl Löwith angefertigten Dissertation Eugen Bisers zu zitieren (E. Biser, „Gott ist tot“. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins, München 1962). Man sollte ihm daher „die Zumutung ersparen, als ein ‚Erneuerer‘ des Christentums angesehen zu werden“ (V. Gerhardt, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?, in: M. Thurner [Hg.], Eugen Biser. Die Hauptwerke im Diskurs, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2020, 285–309, hier: 306). 8 Der Text findet sich in der Pannenberg-Bibliothek unter der Signatur 02200: F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. La Gaya Scienza. Mit einem Nachwort von A. Baeumler, Stuttgart 1965. Die nachfolgenden Nummernverweise im Text beziehen sich hierauf; Sperrungen werden durch Kursivierung wiedergegeben.
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Gottlosigkeit ist die Möglichkeitsbedingung menschlicher Selbstapotheose. Mit der Gottheit Gottes geht zugleich, wie es am Anfang des fünften Buches „Die fröhliche Wissenschaft“ heißt, „unsere ganze europäische Moral“ (Nr. 343) unter und die jüdisch-christliche Tradition, auf der sie im Verein mit dem antiken Platonismus in ihren Grundfesten basiert. Was Jesus, Paulus und die frommen Juden „Sünde“ genannt haben (vgl. Nr. 135ff.), wird es nicht mehr geben, oder zutreffender gesagt: zu sündigen und unmoralisch zu leben wird von nun an zur obersten Menschenpflicht. Die im Unterschied zum vermeintlich auserwählten Volk wahrhaft und wirklich Erwählten wissen schon jetzt darum und verhalten sich entsprechend. Sie fühlen sich „bei der Nachricht, daß der ‚alte Gott tot‘ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt“ (Nr. 343). Mit dem „Volksaberglauben des christlichen Europa, daß das Charakteristikum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-SelbstOpfernden oder im Mitgefühle, im Mitleiden (g)elegen sei“ (Nr. 345), wird es, so Nietzsche, bald ein prinzipielles Ende haben. Mitleidlose Selbstaffirmation wird und soll an seine Stelle treten im Sinne jenes Willens zur Macht, der nach Nietzsche „eben der Wille des Lebens ist“ (Nr. 349), welchen es ohne Vorbehalt und ohne Rücksicht zu bejahen gelte. Unnötig zu betonen: „Wir sind keine Humanitarier“ (Nr. 377). Der neue Mensch, der nach Nietzsche aus dem Tode Gottes hervorgehen und fröhliche Urständ feiern wird, ist ein erklärter Antihumanist jenseits von Gut und Böse und an Maximen der Verallgemeinerungsfähigkeit grundsätzlich uninteressiert. Wie es in dem – mit dem Titel „Sternenmoral“ versehenen – Schlussgedicht des „Vorspiels in deutschen Reimen“ heißt, welches der „Fröhlichen Wissenschaft“ als Motto vorangestellt ist: „Vorausbestimmt zur Sternenbahn, / Was geht dich, Stern, das Dunkel an? // Roll’ selig hin durch diese Zeit! / Ihr Elend sei dir fremd und weit! // Der fernsten Welt gehört dein Schein: Mitleid soll Sünde für dich sein! // Nur Ein Gebot gilt dir: sei rein!“ (Vorspiel, Nr. 63) Um es einstweilen bei wenigen Nietzschezitaten zum Thema „Tod Gottes und menschliche Selbstapothese“ bewenden zu lassen und nur noch dieses hinzuzufügen: Am 3. Januar des Jahres 1889 erlitt der Philosoph in Turin einen geistigen Zusammenbruch, von dem er sich bis zu seinem Tod im Alter von 55 Jahren am 25. August 1900 nicht mehr erholt hat. Man erzählt, er habe in den Tagen, in denen „(d)ie Geschichte seines Denkens endet(e)“9 , ein Droschkenpferd umarmt, um es vor den Schlägen des Kutschers zu schützen.10 Die Szene erregt Mitleid und ist wohl bewusst darauf angelegt, Sym-Pathie zu erzeugen. Aber Mitleid wäre das Letzte, was Nietzsche für sich in Anspruch genommen oder gar gewünscht hätte. Man sollte es ihm daher samt sonstiger sentimentaler Anwandlungen ersparen und stattdessen
9 R. Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens, München/Wien 2000, 330. 10 Vgl. a.a.O., 388.
Ohnmächtiger Wille zur Macht
vorurteilsfrei vernehmen, was er am 6. Januar 1889 mit dem ihm eigenen Witz an seinen Basler Kollegen und Freund Jacob Burckhardt geschrieben hat: „Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt.“11 Statt diese Zeilen unter der Rubrik „Wahnzettel“ abzuheften, scheint es geraten, sie ernst zu nehmen und im Zusammenhang mit jenen beiden Streitschriften zu lesen, die Nietzsche wenige Monate vor seinem geistigen Zusammenbruch in programmatischer Absicht konzipiert hat: „Der Antichrist“ und „Ecce homo“. Unter dem Titel der letztgenannten autobiographischen Abhandlung wurde dem Buch „Die fröhliche Wissenschaft“ folgendes Gedicht beigegeben: „Ja! Ich weiß, woher ich stamme! / Ungesättigt gleich der Flamme / Glühe und verzehr’ ich mich. / Licht wird alles, was ich fasse, / Kohle alles, was ich lasse: / Flamme bin ich sicherlich!“ (Vorspiel, Nr. 62) Man muss kein Freund des Dichtens und Denkens Nietzsches sein, um sich von diesen Zeilen anrühren zu lassen. Hundert Jahre nach dessen Geburt hat Wolfhart Pannenberg, damals knapp sechzehn Jahre alt, durch einen Zufallsfund das Werk Friedrich Nietzsches für sich entdeckt. Im März 1944 waren er und seine Familie in einem westlichen Vorort Berlins im Zuge US-amerikanischer Luftangriffe ausgebombt worden. „We barely escaped and spent the next couple of months with relatives in Pomerania. It was there that I chanced upon my first philosophical book, while searching the public library for some reading in music. The intriguing title of a hitherto unknown author – unknown to me, of course – ran: ‚The Birth of Tragedy from the Spirit of Music.‘ During the following months I devoured everything written by Nietzsche that I could get hold of.“12 „Die fröhliche Wissenschaft“ mit ihrer Proklamation des Todes Gottes war gewiss unter den schon vom jungen Pannenberg gelesenen Nietzschewerken, für deren künftige Wertung indes weniger die erste Leseerfahrung als die „Kehre“ im Zusammenhang eines Erlebnisses am 6. Januar 1995 entscheidend war, von dem Pannenberg in den zitierten autobiographischen Notizen im unmittelbaren Anschluss an die frühe Nietzschebegegnung berichtet. Die Faszination bleibt, aber sie verbindet sich mit einem Schauder und der wachsenden Einsicht, dass der Nietzsche’sche Atheismus und Nihilismus in einen
11 Zit. n. ebd.; bei S. kursiv. 12 W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, in: C.E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg, Minneapolis 1988, 11–18, hier: 12. Auch den „Zarathustra“ dürfte Pannenberg früh gelesen haben. In seiner Bibliothek (02201) befindet sich folgende Ausgabe: Nietzsches Werke. Klassiker-Ausgabe. Sechster Band: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Leipzig o. J. (1919). Von der Taschenausgabe der Nietzsche’schen Werke (Leipzig 1906) besaß Pannenberg die Bände 2, 3, 5 und 8, von „Der Wille zur Macht. Eine Auslegung alles Geschehens“ die von Max Brahn besorgte Ausgabe Leipzig 1917 (Genaueres in Anm. 19).
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Abgrund führt und nur dadurch zu überwinden ist, dass der Boden der Metaphysik des Willens zur Macht verlassen und die neuzeitspezifische Theorie der Subjektivität, aus der heraus diese entwickelt wurde, auf eine andere Basis gestellt wird. Dass dies auch theologische Revisionen mit sich führen muss, ist Pannenberg bald klar geworden, wie die Auseinandersetzung mit Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann und Martin Kähler sowie Karl Barth und Rudolf Bultmann im Zuge seiner Nietzschekritik in dem 1960 erstmals vorgetragenen Text zu „Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung“ zeigt.13 Keine denkbare Form eines theologischen Supranaturalismus biete gegenüber Nietzsche und der von ihm ins Extrem gesteigerten und in die äußerste Konsequenz getriebenen Subjektivitätstheorie der Moderne einen Ausweg. Dieser könne nur gefunden werden, wenn die theologische Frage nach dem Sein Gottes als Frage nach demjenigen Sein gestellt werde, „das der Mensch gerade in seiner Subjektivität immer schon voraussetzen muß, … – als Frage nach dem Sein, auf das er angewiesen ist als auf den jeweiligen (sic!) Grund der Möglichkeit seiner Freiheit gegenüber der Welt“14 . Zu fragen ist, ob nicht auch noch das auf der Proklamation des Todes Gottes basierende Projekt des Übermenschen als religiös motiviert zu gelten hat. Ist Gott wirklich tot oder soll er nicht am Ende in der Gestalt des auf menschliche Selbstapotheose abgestellten Übermenschen mehr oder minder fröhliche Urständ feiern? Nimmt „der Übermensch nicht heimlich die Stelle Gottes“15 ein? Bernard Lauret, ein Promovent Pannenbergs aus den ersten Münchener Jahren, hat in seiner 1973 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München angenommenen Dissertation „Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud“ genau diese Problematik ins Zentrum seiner Untersuchung gestellt und auf breiter Basis die These seines Doktorvaters zu belegen versucht, dass Nietzsches Denken durchgängig von einem Prinzip bestimmt sei: „Dieses Prinzip scheint uns das der radikalen Selbstbestimmung zu sein.“16 Es präge seine Religions- und Christentumskritik und führe ihn mit inne-
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Vgl. W. Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, 355f. A.a.O., 356. B. Lauret, Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud, München 1977, 233. A.a.O., 33. Diese Grundthese suchte Lauret in dreifacher Hinsicht zu belegen und zwar zunächst in Bezug auf die Kunstmetaphysik, welche der junge Nietzsche in dem Werk „Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus“ entwickelt hat. Sie verortet sich zwar außerhalb der christlichen Tradition, gebe den Anspruch auf „religiöse totale Sinnerfahrung“ (110), wie es heißt, aber nicht auf, sondern sei bemüht, ihn ästhetisch zu revitalisieren: „In der tragischen Bejahung der Welt wird die erste Philosophie des Willens zu Macht, der ewigen Wiederkunft und der Unschuld angedeutet durch die Begriffe der restlosen Bejahung, des Dionysos und des Spiels.“ (69) Dem ernsten Spiel dionysischer Selbst- und Weltbejahung wird sodann kontrastiert, was Nietzsche insbesondere in den beiden Schriften „Jenseits von Gut und Böse“ (1886) und „Zur Genealogie der Moral“ (1887) über die nach seinem Urteil aus dem Ressentiment geborene Sklavenmoral der jüdisch-christlichen Tradition
Ohnmächtiger Wille zur Macht
rer Konsequenz zu einem atheistischen Nihilismus, dem nichts von grundsätzlicher Bedeutung bleibe außer jener absoluten Autonomie, die sich aus einem unmittelbar in sich selbst gründenden Willen heraus, der sich mit Selbstverständlichkeit als eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung setzt, zu sich selbst und dazu ermächtigt, aller Dinge Herr zu sein.
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Von Hegel zu Nietzsche
„Die Wendung zur Anthropologie“ ist das vorletzte Kapitel in Wolfhart Pannenbergs Werk über „Theologie und Philosophie“ überschrieben, das er dem Andenken seiner philosophischen Lehrer Nicolai Hartmann, Karl Jaspers und Karl Löwith gewidmet hat.17 Das Folgekapitel (vgl. 359–367) enthält Bemerkungen über das aktuelle Verhältnis beider Disziplinen, im vorausgehenden wird ausführlich Hegels Systemgedanke thematisiert (vgl. 257–293) mit dem Ergebnis, dass das „Konzept der sich selbst entäußernden und aus ihrer Entäußerung wieder in die Einheit mit sich zurückgehenden absoluten Idee keinen Raum läßt für ein definitiv selbständiges Dasein der Geschöpfe“ (292). Darin liegt nach Pannenbergs Urteil trotz überragender und bleibender Bedeutung die Grenze der Hegel’schen Philosophie des Absoluten und das Wahrheitsmoment der anthropologischen Wende begründet, die zur „Signatur der nachhegelschen Philosophie“ (294) werden sollte. Weil das Kontingente, das Individuelle und das Singuläre sich in Hegels Denken trotz redlichen Bemühens, es realphilosophisch zu würdigen, tendenziell in die Logizität des Begriffs auflöse, „konnte die nicht in die Bewegung der absoluten Idee zu verflüchtigende Endlichkeit des einzelnen und seiner Existenz, sowie nicht zuletzt auch die Endlichkeit des begreifenden Denkens selber, nur gegen Hegel zur Geltung gebracht“ (293) werden. Im Zuge dessen sei der Mensch „in einem neuen, radikalen Sinne das Basisthema der Philosophie geworden“ (300), und auch für die Theologie fungiere in nachhegelschen Zeiten nicht mehr die Kosmologie, sondern die Anthropologie als philosophische Fundamentaldisziplin. An den „wichtigs-
ausführt, um einer dem Willen zur radikalen Selbstermächtigung entsprechenden Herrenmoral das Feld zu bereiten. Ihr Trägersubjekt ist der von Nietzsche projektierte Übermensch. Zu ihm soll der Mensch künftig werden: „Wie ist das möglich?“ (233) Mit dieser Frage setzen Laurets Nietzscheanalysen in ihrem dritten Teil ein. 17 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen, 1996, 294. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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ten in der Ablösung von Hegel hervorgetretenen Positionen“ (301)18 wird dies in „Theologie und Philosophie“ beispielhaft dargelegt, um „sodann die im Anschluß daran für die Neubestimmung der Situation des Menschen maßgeblich gewordenen Richtungen“ (ebd.) des 19. und 20. Jahrhunderts in Auswahl zu erörtern: Neben Heidegger und dem Existenzialismus (vgl. 325–337) sowie der sog. Philosophischen Anthropologie (vgl. 337–345) wird dabei Nietzsche, dem „Philosoph(en) des Nihilismus“ (316) besondere Aufmerksamkeit zugewandt.19 Ähnlich wie Pannenberg selbst hat sein philosophischer Lehrer Karl Löwith die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts als einen – die Entwicklung des 20. Jahrhunderts wesentlich bestimmenden – Prozess der Transformation von Theologie und
18 Zu Arthur Schopenhauer, den Pannenberg nur im Zusammenhang mit Nietzsche erwähnt, vgl. A. Schmidt, Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels, München/Wien 1988; ders., Schopenhauer und der Materialismus, in: ders., Drei Studien über Materialismus. Schopenhauer. Horkheimer Glücksproblem, München/Wien 1977, 21–79. 19 „Der Mensch ist etwas, was überwunden werden soll“, sprach Zarathustra zum Volke (Vorrede 3), um den Übermenschen zum Sinn der Erde zu erklären und die Brüder zu beschwören, der Erde treu zu bleiben. Die, wie es scheint, ältesten Unterstreichungen in Pannenbergs Handexemplar von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ (Nietzsches Werke, Klassiker-Ausgabe. Sechster Band; das Exemplar trägt den Stempel der Bibliothek des Gymnasiums von Friedeberg/Neumark]) heben diese Aussagen eigens hervor. Später, so steht zu vermuten, haben die Aussagen über den Leib als große Vernunft und das leibhafte Selbst, das über das Ich lacht und hinter seinem Geist wirksam ist, sowie über den Willen zur Macht (167: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht“) in den Abschnitten „Von den Verächtern des Leibes“ (I, 4) und „Von der Selbst-Überwindung“ (II, 12) besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Von der zehnbändigen Taschen-Ausgabe von Nietzsche’s Werken (Leipzig/C.G. Naumann Verlag 1906) befinden sich die Bände II (Unzeitgemäße Betrachtungen. Aus dem Nachlaß 1873–1875), III (Menschliches, Allzumenschliches I. Aus dem Nachlaß 1874–1877), V (Morgenröthe. Aus dem Nachlaß 1880–1881) und VIII (Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Aus dem Nachlaß 1885/86) in der Pannenberg-Bibliothek (02198ff.). Das Buch über „Die Fröhliche Wissenschaft“ („La Gaya Scienza“) ist, wie erwähnt (Anm. 8) in einer jüngeren Ausgabe vertreten (Stuttgart 1965). Es wurde nach Ausweis der Unterstreichungen im Handexemplar durchgängig gelesen, ebenso wie die „Genealogie der Moral“, der Pannenberg eine besondere Bedeutung im Oeuvre Nietzsches beimaß. Zur Nietzsche-Debatte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. das von Pannenberg in Teilen intensiv studierte G. Rohrmoser, Nietzsche und das Ende der Emanzipation, Freiburg i.Br. 1971 (Pannenberg-Bibliothek 02209). Nicht nachzuzeichnen ist im gegebenen Zusammenhang die Geschichte der Nietzsche-Ausgaben beginnend mit denjenigen des Nietzsche-Archivs über die Ausgabe von Karl Schlechta bis hin zur Colli-Montinari-Ausgabe (KGW: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli / M. Montinari, Berlin/New York 1967ff.; KGB: Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli / M. Montinari, Berlin/New York 1975ff.; KSA: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. G. Colli / M. Montinari, Berlin/New York [1980] 2 1988; KSB: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli / M. Montinari, Berlin/New York 1986). Es genügt die Feststellung, dass das Erscheinen der Colli-Montinari-Ausgabe „der Nietzscheforschung erstmals eine verläßliche philologische Grundlage gegeben“ hat (H. Ottmann [Hg.], Nietzsche-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, IX).
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Philosophie in Anthropologie beschrieben, die nun zur wissenschaftlichen Fundamentaldisziplin avanciere. Was Wissenschaft im eigentlichen Sinne sei, entscheide sich an der Lehre vom Menschen, die mehr und mehr auch zum Basisgrund der Naturwissenschaften erklärt werde. Die, wie er es nennt, konstruktive „Vermenschlichung“20 wissenschaftlichen Denkens hat nach Löwith den „Zusammenbruch des letzten Systems der klassischen Philosophie“21 , der Absolutheitsphilosophie Hegels, zur negativen Voraussetzung. Durch ihre Destruktion sei der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts bzw. der Transformationsprozess motiviert, der in dem bekannten Werk „Von Hegel zu Nietzsche“22 im Einzelnen beschrieben ist. Der Weg, der vom Absolutheitsphilosophen zum Philosophen des Nihilismus führt, ist nach Löwith im Wesentlichen durch die Junghegelianer gewiesen, „die Hegels System zu einer geschichtlichen Wirkung brachten, indem sie es als solches zersetzten“ (223). Nach dem junghegelianischen Umsturz der Hegel’schen Philosophie (vgl. 87–157) finden schließlich Marx, den Nietzsche allerdings kaum gelesen habe, und Kierkegaard das System absoluter Vermittlung aufgelöst und zwar durch Geltendmachen von Interessen, die in ihrer Unmittelbarkeit begrifflich unaufhebbar seien (vgl. 177–222), bis sodann derjenige auf den Plan getreten sei, der mit dem Ende des Hegelianismus dasjenige des idealistischen Denkens
20 K. Löwith, Kierkegaard und Nietzsche (1933), in: ders., Sämtliche Schriften. Bd. 6: Nietzsche, Stuttgart 1987, 75–99, hier: 76. 21 Ebd.; vgl. ders., Sämtliche Schriften. Bd. 5: Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhunderts – Max Weber, Stuttgart 1988, 1–323. 22 Ders., Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, in: ders., Sämtliche Schriften. Bd. 4: Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1988, 1–490; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Der Titel der Untersuchung könnte auch „Von Hegel über Kierkegaard zu Nietzsche“ heißen. Denn Kierkegaard und Nietzsche markieren abgesehen vom Marxismus nach Löwiths Urteil in ihrer Kontrastharmonie den Skopus, auf welchen die geistigen Entwicklungslinen des 19. Jahrhunderts hinauslaufen, wenn man in der Anthropologie ihre Leitwissenschaft und in „Leben“ und „Existenz“ ihre charakteristischen Grundbegriffe sieht. Beide Begriffe werden „ursprünglich geprägt durch Nietzsche und Kierkegaard. Nietzsches Philosophieren kreist beständig um das Phänomen des ‚Lebens‘, Kierkegaards denkerische Bewegung vertieft sich fortschreitend in das Problem der ‚Existenz‘. Beider Interesse richtet sich damit vorzüglich und fast ausschließlich auf den Menschen, auf das menschliche Leben und die menschliche Existenz. Ihre Philosophie ist daher kein geschlossenes metaphysisches System, welches unter anderem auch eine Anthropologie enthält, sondern die innere Systematik ihrer philosophischen Bewegungen beruht ganz und gar auf dieser Zusammenfassung aller Fragen in der einen Grundfrage: ‚Was ist der Mensch?‘ und was aus ihm geworden ist.“ (Ders., Kierkegaard und Nietzsche, in: ders., Sämtliche Schriften. Bd. 6: Nietzsche, 75. Vgl. ders., Kierkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus (1933), in: a.a.O, 53–74, hier: 53) Selbst für den Marxismus, der andere Wege ging, blieb Löwith zufolge die Frage nach dem „Wesen“ des Menschen die entscheidende.
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überhaupt proklamiert habe. Als ein Vorgänger Nietzsches in dieser Richtung wird Arthur Schopenhauer erwähnt, auch wenn seine Rolle im Entwicklungszusammenhang von Hegel zu Nietzsche weitaus geringer veranschlagt wird als diejenige der Junghegelianer einschließlich Kierkegaards. Dies entspricht nur bedingt Nietzsches eigener Einschätzung, sofern dieser bei allen Vorbehalten gegenüber Schopenhauer emphatisch den großen Eindruck bezeugt hat, den die Lektüre der beiden – von ihm im Oktober 1865 antiquarisch erworbenen und dann in einem Zug durchgelesenen – Bände von „Die Welt als Wille und Vorstellung“ auf ihn gemacht habe. In den Briefen der Folgejahre „bekundet sich eine Haltung der Ergriffenheit, fast könnte man es eine Bekehrung nennen. Daß das Wesen der Welt, ihre Substanz, nicht etwas Vernunftartiges, Logisches ist, sondern ein dunkler, vitaler Trieb, das leuchtete ihm sofort ein. Was aber das Wichtigste war: er fühlte sich in seiner Leidenschaft für die Musik bestätigt durch Schopenhauers Idee von der Erlösung durch die Kunst.“23 In der Begegnung mit Schopenhauer ist in bestimmter Weise bereits das Wagnererlebnis antizipiert, wenngleich Löwith mit Recht auf den Unterschied beider Einflüsse verweist: „Schopenhauers moralische Beurteilung und unhistorische Anschauung der Welt ist noch im ‚Ancien Régime‘ verwurzelt, wogegen Wagners literarisches Pathos dem revolutionären Hegelianismus der 40er Jahre entstammt. Demnach ist auch ihre Wirkung auf Nietzsche zu unterscheiden. Was von Schopenhauers Gedanken in Nietzsches Philosophie positiv einging, ist die naturphilosophische Anschauung der ewigen Wiederkehr eines wesenhaft Gleichen im scheinbaren Wechsel der geschichtlichen Welt. Dagegen haben Wagners reformatorische Pläne auf Nietzsches zeitlichen Willen zur Zukunft gewirkt.“ (223f.) Diese Kontrastierung hat ihre momentane Berechtigung, darf aber erstens nicht unberücksichtigt lassen, dass Richard Wagners Weltanschauung nach eigener und Nietzsches Einschätzung deutlich von derjenigen Schopenhauers geprägt wurde und dass dessen, wie Löwith sagt, naturphilosophische Annahme einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, welche dem Wechsel der geschichtlichen Abläufe zugrunde liege und ihn als scheinbar erweise, untrennbar zusammengehört mit seiner Lehre vom Willen als einer vorbewusst und präreflexiv wirksamen Vitalkraft. Hieraus ergibt sich der zentrale Bezug zu Nietzsche. Zwar macht es die aphoristische Gestalt seiner Philosophie dem Interpreten nicht leicht, ihren systematischen Zusammenhang strukturell zu erfassen. Dennoch gibt sich bei näherem Zusehen ein gleich einer regulativen Idee fungierendes organisatorisches Prinzip deutlich zu erkennen: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (KGW VII/3, 339) Es ist die Willenslehre, welche die innere Mitte von Nietzsches Denken markiert und zugleich die grundlegende Beziehung zu demjenigen Schopenhauers erkennen
23 R. Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens, 36.
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lässt, so unterschiedlich der einheitsstiftende Gedanke bei diesem und jenem auch gefasst ist.24 Ohne Verständnis der Nietzsche’schen Lehre vom Willen lässt sich weder die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen25 , derzufolge Selbst und Welt in einem ständig sich wiederholenden Prozess des Werdens und Vergehens ohne endgültiges Ziel begriffen sind, noch diejenige vom Übermenschen verstehen, mit der Nietzsche einen weiteren „‚konstruktiven‘ Grundgedanken“26 zu entwickeln sucht, nachdem er „die Destruktionsarbeit an den Fundamenten europäischer Tradition“27 glaubt vollendet zu haben. Wie fundamental sich Nietzsches Übermensch in seinem vorbehaltlosen Ja zur Welt und in seinem durch entschlossene Selbstaffirmation gekennzeichneten Willen zur Macht von demjenigen unterscheidet, was Schopenhauer für ethisch geboten hielt: der untergründig wirksame Vitaltrieb bestimmt in Kritik oder Konstruktion bei beiden den Dreh- und Angelpunkt allen Philosophierens.28 24 Zur Schwierigkeit, beide Denker unmittelbar ins Verhältnis zu setzen, vgl. G. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus, München/Leipzig 2 1920. Weil ihre Weise, Gedanken zu formulieren, sehr unterschiedlich sei, werde ein Vergleich zwischen Schopenhauer und Nietzsche „von einander entgegengesetzten Bedenklichkeiten getroffen“ (III). Der klaren Diktion, deren sich der eine befleißigt, steht der in Teilen außerordentlich kryptische Stil des anderen gegenüber. „Ist so die bloße logische Interpretation für Schopenhauer nicht nötig, so ist sie umgekehrt für Nietzsche nicht möglich.“ (Ebd.) Der formalen Differenz korrespondiere eine inhaltliche: „Für Schopenhauer ist das Leben, weil es an sich selbst Wille ist, in letzter Instanz zur Wert- und Sinnlosigkeit verurteilt, es ist dasjenige, was schlechthin nicht sein sollte.“ (5) Anders Nietzsche; er proklamiere die geschichtliche Steigerung der Lebensintensität als definitiven Wert. „Wie Schopenhauer nur einen einzigen absoluten Wert kennt: Nicht-Leben – so kennt Nietzsche gleichfalls nur einen: Leben.“ (195) Der Wille bildet für beide das tertium comparationis und die Basis jener coincidentia oppositorum, zu der sie sich kontrastharmonisch vereinen. 25 K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935), in: ders., Sämtliche Schriften. Bd. 6: Nietzsche, 101–384, hier: 130ff. 26 M. Fleischer, Nietzsche, Friedrich (1844–1900), in: TRE 24, 506–524, hier: 517. 27 A.a.O., 512. Zu Zarathustras Lehre vom Übermenschen vgl. u. a. R. Safranski, Nietzsche, 267ff., hier: 280: „Der Übermensch repräsentiert einen höheren biologischen Typus, er könnte das Produkt einer zielstrebigen Züchtung sein; er ist aber auch ein Ideal für jeden, der Macht über sich selbst gewinnen und seine Tugenden pflegen und entfalten will, der schöpferisch ist und auf der ganzen Klaviatur des menschlichen Denkvermögens, der Phantasie und Einbildungskraft zu spielen weiß. Der Übermensch realisiert das Vollbild des Menschenmöglichen, und darum ist Nietzsches Übermensch auch eine Antwort auf den Tod Gottes.“ Zu Konsequenzen, „die vom Übermenschen-Denken nichts Gutes erahnen lassen“ (277), vgl. 277ff.; zur Wiederkunftslehre und zur Lehre vom Willen zur Macht vgl. 283ff. 28 „Die Hauptthese seiner (sc. Schopenhauers) Metaphysik, die als Prämisse in alle anderen Bestandstücke dieser Metaphysik eingeht ist der Satz, daß das Wesen der Welt Wille sei.“ (U. Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, Frankfurt a.M. 1982, 59) Warum die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Lebens die Kunst sei, deren Vorrang vor der Philosophie im Sinne Schopenhauers anerkannt werden müsse, begründet Pothast a.a.O., 57ff., hier: 61: „Die Kunst ermöglicht den direkten Zugang zu einer
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Arthur Schopenhauer29 gehörte nicht zu den Denkern, mit denen sich Wolfhart Pannenberg vorzugsweise und eingehend beschäftigt hat. Die Pannenberg’sche Privatbibliothek weist nur einen Band aus Schopenhauers Werken auf, nämlich den zweiten der kleinen philosophischen Schriften „Parerga und Paralipomena“ in einer gebundenen Reclam-Ausgabe (Pannenberg-Bibliothek 02197). Gelesen wurde das Exemplar, wie es scheint, nicht, weil sich keine einzige der sonst üblichen Anstreichungen findet. Dies schließt nicht aus, dass Pannenberg Schopenhauertexte anderweitig studiert hat. Aber allzu intensiv oder gar mit der Intensität vergleichbar, mit welcher er sich dem Werk Hegels oder auch demjenigen Nietzsches widmete, war das Studium offenkundig nicht, wie ein Blick auf die eher raren Bezugnahmen im Gesamtoeuvre bestätigt. Völlig klar war sich Pannenberg aber darüber, wie „tief beeindruckt“30 sich Nietzsche von Schopenhauer gezeigt hatte. Signifikanterweise hat er das einzige Buch, das er von Schopenhauer besaß, in seiner Bibliothek unmittelbar vor die Reihe mit Werken von Nietzsche und über ihn (Pannenberg-Bibliothek 02198ff.) platziert. Entsprechend deutlich wird in „Theologie und Philosophie“ der Eindruck hervorgehoben, den die Lektüre des Werkes
jenseits der Erscheinung liegenden und in angebbarem Sinn ursprünglicheren Realität, den die Philosophie in dieser Form und Vollständigkeit nicht vermitteln kann.“ (bei P. kursiv) Kritisch mit Schopenhauers Thesen zur Autonomie der Kunst und mit dem Anspruch seiner Ästhetik, philosophische Einsicht zu transzendieren, setzt sich auseinander B. Neymeyr, Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik, Berlin/New York 1996 29 Zur Lebensgeschichte Schopenhauers vgl. D. Schubbe/M. Koßler (Hg.), Schopenhauer – Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2014, 1–17. Die geringe Anerkennung, die Schopenhauer, der sich als Schüler und Vollender Kants verstand (vgl. a.a.O., 215ff.), zu seinen Lebzeiten zuteil wurde, steht in krassem Missverhältnis zur enormen Wirkungsgeschichte, die seine Philosophie posthum zeitigte (vgl. a.a.O., 259ff.; zu Nietzsche, a.a.O., 286ff. Zum Versuch einer akademischen Karriere, zur Lehrtätigkeit in Berlin und zum Verhältnis zu Hegel vgl. a.a.O., 15ff. und 237ff.: „Vom Wintersemester 1826/27 bis zum Wintersemester 1831/32 hat Schopenhauer, immer genau zu der Zeit, in der Hegel sein Hauptkolleg las, regelmäßige Vorlesungen über die ‚prima philosophia‘ angeboten. Keine davon fand statt.“ (16) 1833 ließ sich Schopenhauer endgültig in Frankfurt a.M. nieder, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. – Zu Schopenhauers Biographie und Werkgeschichte vgl. ferner u. a. den 9. Band von K. Fischers „Geschichte der neuen Philosophie“: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 4 1934; W. Abendroth, Arthur Schopenhauer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1967; R. Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie: Eine Biographie, München 1987; S. Appel, Arthur Schopenhauer. Leben und Philosophie, Düsseldorf 2007. 30 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 316.
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„Die Welt als Wille und Vorstellung“ auf den jungen – mittlerweile „von der inneren Unwahrheit des Christentums“31 überzeugten – Nietzsche machte. Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ist 1818/9 erstmals und 1844 in einer umfangreich ergänzten Zweitauflage erschienen.32 Es enthält
31 Ebd. 32 A. Schopenhauer, Sämtliche Werke (=SW). Textkritisch bearbeitet und hg. v. W. Frhr. v. Löhneysen, Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 1: Vier Bücher nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält, Darmstadt 1961; Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band II, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält, Darmstadt 1961. Bd. 3 der „Sämtlichen Werke Schopenhauers“ (Darmstadt 1962) enthält kleinere Schriften, darunter die über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (5–189), Bd. 4 und 5 (Darmstadt 1963/74) „Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften I und II“ und ein Register zu den Bänden 1–5. Der handschriftliche Nachlass ist in fünf Bänden hg. v. A. Hübscher, Frankfurt a.M. 1966ff. – Während die Erstauflage ziemlich erfolglos blieb, war der Zweitauflage großer Erfolg beschieden: „Der Philosoph der Welt als Wille und Vorstellung, der so energisch, so desillusioniert klargelegt hat, daß es mit der Welt und in ihr nichts ist, nichts sein kann und auch besser nach wie vor nichts wäre, ist mit seinem Buch endgültig zur Welt gekommen. Der tausendfach abgeleierte Satz von den Schicksalen, die die Bücher haben, zeigt seinen ironischen Gehalt.“ (L. Lütkehaus, Das Buch als Wille und Vorstellung. Arthur Schopenhauers Briefwechsel mit Friedrich Arnold Brockhaus, München 1996, 22) – Zur Entwicklung des Hauptwerks, zu konzeptionellen Problemen und Interpretationsansätzen sowie zur inhaltlichen Analyse der vier Teile (Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie; Metaphysik; Ästhetik; Ethik) vgl. D. Schubbe/M. Koßler (Hg.), Schopenhauer-Handbuch, 32ff. Ihrer Erscheinung nach ist die Welt Vorstellung, ihrem Wesen nach Wille. Vorstellig wird die Objektivität all dessen, was der Welt zugehörig ist, in Bezug auf erkennende Subjekte. Ohne Subjektrelation kann von der Gegenständlichkeit von weltlichen Gegenständen nicht die Rede sein. Damit ist nicht gesagt, dass das Sein des Seienden durch Subjektivität gesetzt sei. Dennoch stellt diese die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, dass die Welt in Erscheinung tritt und vorstellig wird. Soweit geht Schopenhauer mit Kant konform, jedoch mit der eindeutigen Tendenz, ihn zu detranszendentalisieren. – Das „Ich denke“ muss alle meine Vorstellungen begleiten können, sagt Kant, um hinzuzufügen, dass von der erkenntnistheoretisch notwendigen Annahme eines Transzendentalsubjekts, welches als Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung fungiert, nur ein regulativer, kein objektiver Gebrauch zu machen ist. Probleme bietet die Frage, wie sich das transzendentale zum empirischen Ich verhält. Schopenhauer greift sie beherzt auf und stellt durch ihre „realistische“, auf die Detranszendentalisierung ausgerichtete Beantwortung die Weichen für sein Gesamtsystem. Den Ausgangspunkt der Argumentation bildet die Einsicht, dass das leibhafte Real-Ich sich selbst auf zweifache Weise gegenwärtig ist, als Gegenstand der Selbsterfahrung und als ein präreflexives Datum, das von seiner Präsenz auch ohne Vermittlung von Bewusstsein ein Empfinden hat. Von dieser Präsenz her wird Schopenhauer auf ein vor- und unterbewusstes Drängen und Treiben schließen, welches er das Wesen der Welt als Wille nennt. Alle weiteren Systemaspekte ergeben sich aus dieser Grundkonstellation, wie denn auch das ganze Schrifttum Schopenhauers nur die eine These variiert, die im Titel seines Hauptwerks bündig zum Ausdruck gebracht ist. – Einen fortlaufenden Kommentar zum Hauptwerk bieten die Beiträge in dem von O. Hallich und M. Koßler herausgegebenen Sammelband: Die Welt als Wille und Vorstellung, Berlin 2014. Zur „Genese des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung“, so der Untertitel der Untersuchung, vgl. Y. Kamata, Der junge Schopenhauer, Freiburg i.Br./München 1988. Kamata
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sein philosophisches System, das in vier Büchern entwickelt wird und auf das alle seine sonstigen Schriften inhaltlich bezogen sind.33 Unter „Welt“ versteht Schopenhauer keinen realen Gegenstand der Erfahrung, sondern den Inbegriff aller möglichen Erfahrungen. Vom Weltbegriff kann mithin kein objektiver, sondern nur ein regulativer Gebrauch gemacht werden. Nicht nur in dieser Auffassung erweist sich Schopenhauer als gelehriger Schüler Kants, dessen Erkenntnistheorie er in Grundzügen und in vereinfachter Form übernimmt, um mit dem, was Kant das „Ding an sich“ nennt, einen in, mit und unter allen Vorstellungen der Erscheinungswelt wirksamen Willen zu assoziieren, der das Wesen der Welt ausmacht. So gesehen kommt alles Weltliche in zwei Perspektiven in Betracht: erstens als Vorstellung, also unter dem Aspekt, wie es dem erkennenden Subjekt erscheint und sich ihm zu Bewusstsein bringt, um gegenständlich zu sein, sowie zweitens als Wille, der das Wesen der Erscheinungen ausmacht und das Ansichsein dessen, was für uns ist. Letzterer Gesichtspunkt wird im zweiten und vierten, ersterer im ersten und dritten Buch von „Die Welt als Wille und Vorstellung“ thematisiert, sodass sich folgende Reihung ergibt: 1. Erkenntnistheorie bzw. Erscheinungslehre34 ; 2. Lehre von der Wesensnatur der Dinge bzw. Willensmetaphysik; 3. Ästhetik als die Theorie ideal vorgestellter Welterscheinungen35 und 4. Ethik als Lehre von der zeigt am Werdegang Schopenhauers, dass dessen „Philosophie auf dem Boden der nachkantischen Philosophie, insbesondere des Deutschen Idealismus zusammenwuchs“ (5), wenngleich sie ihre Wirkung erst in nachidealistischer Zeit entfaltete. 33 „Mit der Vollendung des Hauptwerkes ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘, das 1818 erscheint, ist das System durchdacht und fertig, und er (sc. Schopenhauer) hat ihm bis 1860 nur Anwendungen, Nachträge und Ausbauten hinzugefügt.“ (A. Gehlen, Die Resultate Schopenhauers, in: J. Salaquarda [Hg.], Schopenhauer, Darmstadt 1985, 35–59, hier: 36) Gehlen ist der Auffassung, dass der ganze metaphysische Anspruch Schopenhauers zugunsten jener Resultate aufgegeben werden müsse, die „durchweg auf anthropologischem Gebiet“ (37) liegen. 34 Zu Schopenhauers Wissenschaftstheorie und zur Schrift „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund“ vgl. die Beiträge von D. Birnbacher (Hg.), Schopenhauers Wissenschaftstheorie: Der „Satz vom Grund“, Würzburg 2015. 35 „Über Schopenhauers metaphysischen Hintergrund der Kunstanschauung“, so der Untertitel der Arbeit, informiert M.W.T. Maia, Jenseits des Willens zum Leben, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1989. Indem sich in der Kunst Erscheinung zur idealen Darstellung bringt, wird das anschauende Subjekt von allem Sinnen und Trachten des Willens entlastet und in einen willenlosen Quietismus versetzt, der beruhigt und einen ästhetischen Eindruck hervorruft, der das Gemüt angenehm berührt. – Zu Schopenhauers „Rechtfertigung des Desengagements aus dem Geist der kontemplativen Ästhetik“ vgl. H.-D. Bahr, Das gefesselte Engagement. Zur Ideologie der kontemplativen Ästhetik Schopenhauers, Bonn 1970, 45ff. (vgl. auch das Vorwort E. Blochs, V). Nach Urteil von G. Lukács, Arthur Schopenhauer, in: R. Haym/K. Kautzky/F. Mehring/G. Lukács, Arthur Schopenhauer, Berlin 1955 (mit einem Vorwort von W. Harich), 206–264 begegnet „in Schopenhauer zum erstenmal – nicht nur innerhalb der deutschen Philosophie, sondern auch im internationalen Maßstab – die rein bürgerliche Abart des Irrationalismus“ (206). Seit der fehlgeschlagenen 1848er Revolution verdränge
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Überwindung des Willens mit dem Ziel einer Nihilierung von Selbst und Welt. „Das letzte Wort von Schopenhauers Hauptwerk lautet ‚Nichts‘.“36 Schopenhauer ist Nihilist, aber ein Nihilist mit, wenn man so will, soteriologischen Absichten. Er plädiert für das Nichts im Sinne einer Negation jenes die Welt durchwaltenden, ihr und aller Entitäten Wesen präreflexiv bestimmenden Lebenswillens, den er für die Omnipräsenz des Leiden verantwortlich macht. Wie werde ich dieses Willens gewahr, wenn er sich doch in seinem eigenartigen Wesen dem unmittelbaren Zugriff des Bewusstseins entzieht, um es, wie Schopenhauer meint, aus dem Untergrund heraus umso direkter und drängender zu bestimmen? Antwort: auf leibliche Weise.37 Der Mensch wird seiner selbst nicht nur und auch nicht zuerst vorstellungshaft gewahr, sondern er ist seiner auf ursprünglichere Weise inne, nämlich ganz unmittelbar durch die leibhaften Regungen in ihm, die ein unaufhörliches Streben erzeugen bzw. als präbewusstes Begehren wirksam sind. Schopenhauer führt diese Regungen auf einen nicht etwa vernunftförmigen Willen, sondern auf
er, wie das Beispiel Richard Wagners zeige, „Feuerbach aus der ideologischen Führung des Bürgertums“ (207). Vgl. ferner die Beiträge in dem von H. Ebeling und L. Lütkehaus hg. Sammelband, Schopenhauer und Marx. Philosophie des Elends – Elend der Philosophie?, Königsstein/Ts. 1980, der auch den zitierten Text von G. Lukács enthält (60–83). Zu Schopenhauers Ästhetik des Schönen und Subtilen vgl. B. Vandenabeele, The Sublime in Schopenhauer’s Philosophy, London/New York 2015 sowie ders. (Ed.), A Companion to Schopenhauer, Oxford 2012, 163ff. 36 Zum Thema „Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche“ vgl. den gleichnamigen, von D. Birnbacher u. A.U. Sommer hg. Sammelband, Würzburg 2013; ferner: M. Fleischer, Schopenhauer als Kritiker der Kantischen Ethik. Eine kritische Dokumentation, Würzburg 2003. Zu Schopenhauers Mitleidsethik und seiner metaphysischen Negation des Leidens am Leben vgl. M. Hauskeller, Vom Jammer des Lebens. Einführung in Schopenhauers Ethik, München 1998. Zu den Prämissen und Konsequenzen der von Schopenhauer geforderten „Aufhebung des Leidens durch die freiwillige Selbstverneinung des Willens“ vgl. das gehaltvolle Werk v. R. Malter, Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens, Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, hier: 395. Ferner: L. Hühn/Ph. Schwab, Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling), Würzburg 2006, bes. 23ff. und 149ff. 37 Zum Zusammenhang von Leib und Wille bei Schopenhauer und Feuerbach vgl. den von M. Koßler und M. Jeske hg. Sammelband „Philosophie des Leibes. Die Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach“, Würzburg 2012; Zum „Leib als Schlüssel zur Wirklichkeit“ bei Schopenhauer und zur Umkehr des Cartianismus und der Fichteschen Ichphilosophie zu einer Willensmetaphysik unter dem Primat der Leiblichkeit vgl. H. Schöndorf, Der Leib im Denken Schopenhauers und Fichtes, München 1982. Das unmittelbare Empfinden eigener Leiblichkeit, das sich von der Wahrnehmung von Körpern in der vorstellungshaft präsenten Erscheinungswelt elementar unterscheidet, bildet für Schopenhauer „A Key to the World“ vgl. M. Peters, Schopenhauer and Adorno on Bodily Suffering. A Comparative Analysis, London/New York 2014, 36–52, hier: 37. Zu „Schopenhauer im Umkreis der Kritischen Theorie“ vgl. auch W. Schirmacher (Hg.), Schopenhauers Aktualität. Ein Philosoph wird neu gelesen, Wien 1988, 133ff. Zu „Schopenhauer in der Postmoderne“ vgl. das gleichnamige Buch, das W. Schirmacher 1989 (Wien) herausgegeben hat.
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einen formlos-ungeformten Trieb zurück, der die ganze Welt so durchwirkt, wie er im ursprünglichen Leibgefühl wirksam ist. Der triebhaft, prärational und un- bzw. unterbewusst wirkende Wille ist nach Schopenhauer ontologisch primär, die verständig-vernünftige Erkenntnis hingegen sekundär und eine Funktion des vorhergehenden Triebwillens, in dessen Dienst sie wesentlich steht. Nicht das Ich ist die Wahrheit des Es; vielmehr bestimmt das Es recht eigentlich das Ich, das wie die ihm erscheinende Vorstellungswelt als Epiphänomen eines hinter- und untergründigen Triebwillens zu gelten hat. Der Wille leibhaften Lebens ist stärker als alle Vernunft und zugleich der Urgrund namenlosen Leids, das nur durch konsequenten Verzicht auf jeden Lebenswillen überwunden werden kann. Nur in sich versunken ist der Wille zur Ruhe gekommen und in seinem Sein eins mit dem Nichts. Bewusstseinsphänomene erscheinen auf sinnliche Weise und lassen sich von leibhaften Vorgängen im Menschenkörper nicht trennen. Zwar leugnet Schopenhauer die spezifische Seinsweise der Welt des Bewusstseins ebenso wenig wie die Unterscheidbarkeit seelischer von körperlichen Prozessen. Der Mensch ist beseelter Leib und die leibhafte Objektwelt nicht ohne Subjektivität gegeben, welche sie wahrnimmt. Doch existiert keine Welt außer der sinnlichen, und von einer leiblosen Menschenseele kann nach Schopenhauer nicht die Rede sein. Nach seinem Urteil haben im Gegenteil leibhafte Vollzüge als Basis des Seelenlebens und die Erscheinungen der Bewusstseinswelt als Epiphänomene einer Wirklichkeit zu gelten, die auf leibanaloge, nämlich vor- bzw. unterbewusste Weise wirkt. Nur wer sich in sich versenkt und die Bewusstseinswelt untergehen lässt, wird jenes abgründigen Grundes gewahr, der alles, was ist, aus sich hervortreibt und in dem Selbst und Welt ungeschieden eins sind. Der abgründige Grund, in dem alles gründet und dem alles verfällt, ist für Schopenhauer Trieb. Dass er den blinden Lebensdrang, der allem Wissen und Tun, Denken und Handeln zugrunde liegt, Wille nennt, darf nicht zu dem Missverständnis führen, als statte er ihn mit intentionalem Bewusstsein aus. Der Urwille ist nichts als triebhafter Drang und allein darauf aus, sich zu instinktiver Geltung zu bringen. Obwohl an sich selbst gänzlich unbestimmt, ist alles Bestimmte von ihm bestimmt. In seiner Unbestimmtheit ist er die alles bestimmende Wirklichkeit und nimmt daher eine Stelle ein, die in der metaphysischen Tradition durch Gott bzw. das Absolute besetzt wurde. Schopenhauers Willenslehre ist Antimetaphysik und Metaphysik in einem. Ihr antimetaphysischer Affekt ist auf konsequente Naturalisierung des Geistes ausgerichtet, der zu einer Funktion der Physis herabgesetzt wird. Zugleich stattet Schopenhauer die Physis mit Prärogativen aus, die nicht nur metaphysisch anmuten, sondern metaphysisch sind. Wie Spinozas natura naturans alles naturiert, so durchherrscht der Schopenhauer’sche Wille alles Seiende, um im Lebenstrieb lebendiger Entitäten manifeste Gestalt anzunehmen, ohne deshalb
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seine Abskondität zu verlieren. Der Wille ist nur als verborgener offenbar. Sein Wesen entzieht sich jeder Aufklärung. Je bewusstere Gestalt das Leben annimmt, desto unbewusster wird ihm sein Grund. Doch scheint es nur so, als würde dies dessen Wirken minimieren. In Wahrheit wirkt er aus dem Hinter- und Untergrund nur umso wirkungsvoller, um gerade in der Verstellung seine Macht zu erweisen. Gerade indem das Bewusstsein versucht, den Drang urtümlichen Lebenswillens zu verdrängen, sitzt es ihm auf und erliegt seiner Versuchung. Verdrängung schränkt die Macht des Dranges nicht etwa ein, sondern steigert sie. Je mehr, noch einmal, der Trieb in den Hintergrund gedrängt wird, desto hintergründiger und effektiver wirkt er. Im scheinbar lichten Walten des Bewusstseins ist der Lebenstrieb nur umso dunkler am Werke, um gleichsam aus der Deckung heraus zu agieren und seinen blinden Willen auf blendende Weise zur Durchsetzung zu bringen. Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Verstand und Vernunft, zweckorientiertes Handeln und alle Vollzüge menschlicher Selbsttätigkeit sind abgeleitete Modi jenes drängenden Triebes, den Schopenhauers Leitmetapher bezeichnet. Ohne es zu wissen und zu wollen, steht der bewusste Wille im Dienst des unbewussten, dessen Reflex er ist.38 Selbst die Moral ist nichts weiter als Ausgeburt des Triebes. Wie alle scheinbar intelligiblen Vollzüge erweist sie sich als List der Natur, unter Menschheitsbedingungen das Überleben der Gattung zu sichern. Nicht der Intellekt schreibt der Natur vor, was der Fall ist, vielmehr hat die Natur als fundierende Basis des Intellekts zu gelten. Analoge Beschreibungen ließen sich in Fülle beibringen. Leben heißt Leiden. Der rauschhafte Lebensdrang, der dem Schopenhauer’schen Urwillen eignet, treibt immer neue Lebensgestalten hervor, die in mehr oder minder antagonistische Verhältnisse zueinander treten und sich aus Lebenswillen heraus wechselseitig Schmerz und Tod bereiten. Zugleich ist jedes einzelne Lebewesen mit sich selbst uneins, insofern der bewusstlos in ihm wirkende Wille Selbstzentriertheit und Exzentrizität in einem bewirkt. Der tiefste Grund der Entzweiung liegt im Willen selbst begründet, sofern der Trieb seinem Wesen nach nie Erfüllung finden kann. Die Gier nach Befriedigung schmachtet, statt sich zufrieden zu geben, im Genuss nach neuer Begierde. In sich zwieträchtig erzeugt der Urwille, der Selbst und Welt zugrunde liegt, durch Leben Leiden und durch Leiden Leben. Erlösung aus diesem Widerstreit und Behebung der negativen Dialektik des Willens, in dem Leben und Tod koinzidieren, ist möglich nur durch Negation seiner Negativität, will heißen: durch willentliche Selbstverneinung des Willens. Willen zur Willenlosigkeit lautet die Maxime, die Schopenhauers Ästhetik und Ethik bestimmt. 38 Unbewusster und bewusster Wille „bilden eine Aktionseinheit“ (R. Röhr, Mitleid und Einsicht. Das Begründungsproblem in der Moralphilosophie Schopenhauers, Frankfurt a.M./Bern/New York 1985, 32), wobei ersterer letzterem das Aktionsfeld absteckt: „Letzterer stellt gleichsam die Exekutive, ersterer die Legislative dar.“ (33)
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Malum ist für Schopenhauer keine Privation und nicht lediglich ein Mangel an bonum, geschweige denn ein Nichtiges, welches einen bloßen Schein von Realität erzeugt. Es ist im Gegenteil von einer Positivität, die sich im Unterschied zu demjenigen, was gut zu nennen ist, in evidenter und nicht falsifizierbarer Weise fühlbar macht. Durch den triebhaften Willen zum Leben, der alles durchwaltet, ist das malum in leibhafter Unmittelbarkeit gesetzt. Zu beheben ist es nur durch radikale Verneinung des Lebenswillens. Nur durch Verzicht auf ihn lassen sich Übel und Leid beseitigen. Die Übung des Verzichts erklärt Schopenhauer programmatisch zur ethisch-ästhetischen Grundaufgabe; „sie tritt an die Stelle der Theodizee“39 .
4.
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Die meiste Zeit seines Studiums hat Pannenberg in Heidelberg zugebracht, wo er Anfang Mai 1953 das Fakultätsexamen ablegte, wenige Tage später zum Dr. theol. promovierte sowie Ende 1955 auch habilitiert und zum Dozenten ernannt wurde.40 Zum wichtigsten philosophischen Lehrer in der Heidelberger Zeit wurde Karl Löwith41 , der durch Vermittlung von Hans Georg Gadamer an die RupprechtKarls-Universität berufen worden war und dort seit 1952 bis zu seiner Emeritierung lehrte. Löwith war Schüler Martin Heideggers, entfernte sich aber rasch von dessen existential-ontologischer Philosophie, um eigene Denkwege einzuschlagen, die auf den Versuch einer Renaissance antiker Kosmosfrömmigkeit unter den Bedingungen der Moderne hinausliefen. In Friedrich Nietzsche erkannte Löwith zeitig einen Vorläufer, der sein Bestreben im Grundsatz geteilt, wenngleich nicht konsequent verfolgt habe. Bereits 1935 hatte Löwith „Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ und seiner Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins im Ganzen eine eigene Untersuchung gewidmet. Einundzwanzig Jahre
39 W. Sparn, Leiden – Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, München 1980, 95. „Es geht um ein Grundproblem: die Einsicht in die Negativität der Welt, und damit zusammenhängend um die Frage, welche Möglichkeit es gibt, diese Einsicht tragbar zu machen, ohne sie zu negieren.“ (W. Schulz, Metaphysik und Negativität. Die Sonderstellung Schopenhauers in der Philosophie, in: V. Spierling, Schopenhauer im Denken der Gegenwart. 23 Beiträge zu seiner Aktualität, München/Zürich 1987, 15–26, hier: 24. Vom Herausgeber des Sammelbandes stammt die lesenswerte Broschüre „Arthur Schopenhauer zur Einführung“ (Hamburg 4 2015). 40 Vgl. G. Wenz, Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 13–47, hier: 20ff. 41 Vgl. ders., Karl Löwith. Heideggerschüler und philosophischer Lehrer Pannenbergs, in: ders., Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018, 381–403.
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später, 1956, erschien der Text unter gleichem Titel in umgearbeiteter und ergänzter Fassung noch einmal.42 Pannenberg studierte die Neufassung zeitig und hat dem Werk, in dem er „eine Darstellung der Philosophie Nietzsches von ihrem Zentralgedanken her“43 erkannte, noch nach Jahrzehnten eine herausragende Stellung in der „Flut der Nietzscheliteratur“44 zuerkannt. Während die Darstellungen von K. Jaspers (vgl. 219ff.) und M. Heidegger (vgl. 222ff.) „hauptsächlich als Zeugnisse für das Verhältnis ihrer Autoren zu Nietzsche von Interesse“45 seien und – so die von Pannenberg geteilte Auffassung Löwiths – ihr „eigenes Denken in das von Nietzsche“ (222) hineindeuteten, bleibe Löwiths Monographie als authentischer Kommentar „grundlegend“46 . Zwar kann man fragen, ob nicht auch Löwith mit Nietzsche’schen Gedanken eigene mehr oder minder unmittelbar verbindet, etwa wenn er seine These einer „antichristliche(n) Wiederholung der Antike auf der Spitze der Modernität“ (vgl. 113ff.) „in immer neuen Varianten seiner NietzscheInterpretation durch(spielt)“47 . Dies ändert indes nichts an der Plausibilität der auch für Pannenbergs Auslegung basal bleibenden interpretatorischen Grundannahme Löwiths, wonach die Nietzsche’schen Destruktionen „in der originellen Verbindung der Lehre vom Willen zur Macht mit der Lehre von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen“48 ihren konstruktiven Zielpunkt finden. 42 K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956 (PannenbergBibliothek 02208). Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zum Werk und zu seiner Druckgeschichte vgl. K. Löwith, Sämtliche Schriften. Bd. 6: Nietzsche, Stuttgart 1987, 100–384 sowie 539–541. Bereits Löwiths unveröffentlicht gebliebene Münchner Dissertation von 1923 war Nietzsche gewidmet: Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen (vgl. a.a.O. 535–538). Zur Geschichte von Löwiths Auseinandersetzung mit Nietzsche vgl. 553ff. Von besonderem Interesse ist seine Auseinandersetzung mit Karl Schlechta (vgl. 510–523), wobei auch Schlechtas Argumente ein Anrecht haben, ernst genommen zu werden (vgl. 544–552). 43 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 316 Anm. 48. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2019, 55. 48 Ebd. Nach Habermas möchte Löwith, wie seine Nietzscheinterpretation belege, von der durch ihn für notwendig erachteten „Rückkehr zum antiken Naturverständnis alles Forcierte und feierliche Exaltierte abstreifen, jenen Gestus elitärer Selbstinszenierung, den er vor allem an Lehre und Verhalten, an Charakter und Gesinnung seines Lehrers Martin Heidegger zu verabscheuen gelernt hatte“ (a.a.O., 56). „Wenn man freilich nach dem philosophischen Gewinn der Abkehr von den Prämissen des geschichtlichen Bewusstseins der Moderne fragt, findet man nicht viel mehr als die Formel vom absoluten Vorrang der organisch in sich kreisenden Natur vor der Menschenwelt …“ (ebd.; vgl. ders., Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewusstsein, in: ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a.M. 3 1969, 352–370). Auch Pannenberg war
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Nach Löwiths Deutung bietet Nietzsches Philosophie „weder ein einheitlich geschlossenes System noch eine Mannigfaltigkeit von auseinanderfallenden Aphorismen, sondern ein System in Aphorismen“ (15). Sein Denken, dessen innere Bewegtheit sich aus dem von der Gottesbeziehung abgeschnittenen Spannungsverhältnis von Mensch und Welt ergebe, stelle „mehr ein versuchendes Experimentieren als ein erkennendes Ausführen“ (14) dar. Aus dem „grundsätzlichen Experimentalcharakter seines Philosophierens (sei) auch der einfache Sinn seiner mehrfachen Wandlungen zu verstehen“ (15). Löwith schlägt eine „Unterscheidung von Nietzsches Schriften nach drei Perioden“ (26) vor. „Die erste Periode umfaßt an von ihm selbst veröffentlichen Schriften die Geburt der Tragödie und die Unzeitgemäßen Betrachtungen; die zweite die Schriften der ‚Pflugschar‘: Menschliches-Allzumenschliches, Morgenröte und die vier ersten Bücher der Fröhlichen Wissenschaft. Die dritte Periode beginnt auf dem Grunde des Gedankens der ewigen Wiederkehr mit dem Zarathustra und endet mit Ecce homo. Sie allein enthält Nietzsches eigentliche Philosophie.“ (Ebd.)49 Indes
nicht gewillt, der Abkehr seines philosophischen Lehrers vom modernen Geschichtsbewusstsein und seinen Grundlagen zu folgen. Im Gegenteil: Er rezipierte Löwith gegenläufig zu dessen Intentionen im Sinne einer Vergeschichtlichung der Natur. Diese Gegenläufigkeit der Rezeptionsabsicht betrifft selbstverständlich auch Löwiths Nietzscheinterpretation, was nichts daran ändert, dass diese grundlegend für Pannenbergs Verständnis des Philosophen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und für seine Kritik an ihm war und blieb. Zu Pannenbergs Einschätzung der Löwith‘schen Verhältnisbestimmung von Theologie und Geschichtsphilosophie vgl. seine Studie: Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt (1992), in: W. Pannenberg, Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Bd. 2: Beiträge zur Systematischen Theologie, Göttingen 2000, 283–294. 49 Vgl. dazu die Anordnung der Werke Nietzsches in chronologischer Reihenfolge in H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, 61–181. Im Anschluss an die Jugendschriften der Jahre 1852 bis 1869, als es u. a. zur „Begegnung mit Schopenhauer“ (66; vgl. 418f.) kam, werden unter den zu Lebzeiten Nietzsches veröffentlichen Werken folgende Gruppierungen vorgenommen, die denen bei Löwith entsprechen: 1. „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872), „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern“ (1872) und „Unzeitgemäße Betrachtungen in vier Teilen“, nämlich „David Strauß der Bekenner und Schriftsteller“ (1873), „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ (1874), „Schopenhauer als Erzieher“ (1874) und „Richard Wagner in Bayreuth“ (1876). 2. Die sog. Pflugscharschriften (vgl. 92) der Jahre 1878 bis 1882, in denen die aphoristische Form der Darstellung bestimmend wird: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“ (1878/79); „Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile“ (1881); „Die fröhliche Wissenschaft“ (1882). 3. Die Werke der dritten Periode bis 1889: „Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen“ (1883–1885); „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ (1886); „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“ (1887); „Der Fall Wagner“ (1888) sowie „Nietzsche contra Wagner“ (1889); „Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt“ (1889); „Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum“ (1888); „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ (1888/89); „DionysosDithyramben“ (1888/89). Zum Nachlass der Jahre 1872–1876, 1880–1885 und 1885–1888 vgl. 87–90, 138–149, zu den Gedichten, Philologica, Briefen und Kompositionen vgl. 150–181. Zum Problem,
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verharrt das systematische Ergebnis Löwith zufolge nicht bewegungslos in sich, sondern behält den Prozess seines Resultierens dauerhaft in sich, ja greift am Ende auf den Anfang zurück, um in ständiger Wiederholung sich des Sinns des Ganzen zu vergewissern. Der einheitsstiftende Grundgedanke in Nietzsches Philosophie lässt sich nach Löwiths Interpretation nicht axiomatisch, sondern nur als ein in stetiger Wandlung begriffener begreifen, worauf das unauflösliche Ineinander von Systematik und Aphoristik förmlich verweise. Der der Periodisierung seiner Schriften entsprechende Dreischritt des Gedankens sei wiederholt zu durchlaufen, um des Ganzen gewahr zu werden. Der erste Schritt vollzieht in der Weise nihilistischer Destruktion die Ablösung von allen moralischen und religiösen Verbindlichkeiten und die, mit Löwith zu reden, „Befreiung vom ‚Du sollst‘ zum ‚Ich will‘“ (31; bei L. kursiv). Der zweite Schritt zielt auf die radikale Selbstermächtigung des sich selbst wollenden Ich, welches seine Sache, um es im Anklang an eine Wendung Max Stirners zu formulieren, entschlossen auf Nichts bzw. nichts baut, um sich allein in sich selbst zu gründen. Der dritte Schritt, mit dem sich der zu beschreitende Weg zu einem neuen Beginnen vollendet, führt Löwith zufolge vom „Ich will“ zum „Ich bin“, welches bewusst und gelassen einstimmt in das Immerseiende der kosmischen Natur und des menschlichen Wesens, um das, was ist, sein zu lassen und sich das eigene Seinsgeschick im Sinne eines amor fati gefallen zu lassen, damit man werde, was man ist (vgl. 127ff.).50 Nach Löwith hat Nietzsche die Notwendigkeit des letzten Schritts zwar angezeigt sowie die Überführung des Willens zu unmittelbarer Selbstbehauptung und Selbstbestimmmung in die von der Einsicht in die ewige
welcher Stellenwert Nietzsches Nachlass beizumessen ist, vgl. 138f., wo festgestellt wird, „daß N. seine Gedanken im Nachlaß thetischer formuliert, was viele Interpreten dazu verleitet, aus den isolierten Notizen ‚letzte Lehren‘ zu rekonstruieren und zu Dogmen zu verdinglichen. Im publizierten Werk kommen diese vermeintlichen Lehren, wenn überhaupt, ästhetisch kontextualisiert vor und werden dadurch zumeist auf vielfältige Weise ironisiert, gebrochen und unterlaufen“ (138), sodass zu gelten habe: „Den veröffentlichten Schriften eignet somit qua ein Reflexionsgrad mehr als den nachgelassenen Aufzeichnungen.“ (139) Nichtsdestoweniger wird kein Interpret umhin können, präzise auf den Begriff zu bringen, was er für den Sinngehalt einer Aussage Nietzsches hält, auch wenn diese in aphoristischer Form vorgetragen wird, was zu bedenken zu einer sachgemäßen Auslegung gewiss hinzugehört. Die Forderung nach Begriffsklarheit darf nicht vorweg dem Verdacht dogmatischer Verdinglichung ausgesetzt werden, was immer dies genau heißen mag. 50 Vgl. dazu die Rede „Von den drei Verwandlungen“ (4,29) im „Zarathustra“: „Man ist zuerst Kamel, beladen mit lauter Du sollst. Das Kamel verwandelt sich in einen Löwen. Der kämpft gegen diese ganze Welt des Du sollst. Er kämpft, weil er sein Ich will entdeckt hat. Doch weil er kämpft, bleibt er negativ ans Du sollst gefesselt. Sein Seinkönnen verbraucht sich im Zwang zur Rebellion. In diesem Ich will ist noch zu viel Trotz und Selbstversteifung, hier gibt es noch nicht die wahrhafte Gelöstheit des schöpferischen Wollens, noch ist man nicht bei sich selbst, bei seinem Lebensreichtum angekommen. Das gelingt erst, wenn man zum Kind wird, auf neuer Stufe die erste Spontaneität des Lebendigen wieder erreicht…“ (R. Safranski, a.a.O., 287)
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Wiederkehr des Gleichen getragene Seinsgelassenheit des Ich zum Skopus seines aphoristischen Systems erklärt. Konsequent beschritten habe er den von ihm selbst gewiesenen Weg allerdings nicht. „Sein Versuch, aus dem endlichen Nichts des sich selber wollenden Ich in das ewige Ganze des Seins zurückzufinden, mündet schließlich in der Verwechslung seiner Selbst mit Gott, um den herum alles zur Welt wird.“ (14) Um das grundlos in sich gründende Ich davor zu bewahren, dem bodenlosen Abgrund des Nichts zu verfallen, und um den Nihilismus zu überwinden, erinnert sich Nietzsche nach Löwith in protologischer Anamnese der Ursprünge abendländischer Philosophie, um sie in der Weise philosophischer Weisheitssprüche, die Wahrheit und Dichtung, Aphorismus und System kontrastharmonisch verbinden, zu vergegenwärtigen und ihnen ein bleibendes Gedächtnis zu stiften. Aber der Wille zur Selbstaffirmation des Ich sei zu übermächtig, als dass er in das ewig wiederkehrende Sein alles Seienden einwilligen und sich ihm gelassen ergeben könnte. Der Wille zur Selbstaffirmation des Ich bleibe in seiner Grenzenlosigkeit das vorbehaltlose Ja zum Sein schuldig und steigere den Nihilismus, statt ihn zu überwinden, ins Extrem einer Negativität, die alles negiere, außer sich selbst. Genau an dieser Stelle greift Pannenberg den Faden der Löwith’schen Nietzscheinterpretation auf, indem er dessen Philosophie als „Atheismus der menschlichen Freiheit“51 deutet, um sie weniger vom kosmologischen Ursprungsdenken der Vorsokratiker her als aus dem Kontext der modernitätsspezifischen Subjektivitätstheorie zu erklären. Habe die neuzeitliche Metaphysik die Subjektivität des Menschen weit über Descartes hinaus „immer nur unter Voraussetzung eines Gottes … denken können“ (353), so breche sich in der Religionskritik der Junghegelianer wie beispielsweise in derjenigen Feuerbachs „ein Verständnis des Menschen als des absolut seiner selbst mächtigen Wesens“ (ebd.) Bahn, um in Nietzsches Lehre vom Übermenschen auf die äußerste Spitze getrieben zu werden. Dieser habe „die Feuerbachsche Religionstheorie auf den Boden seiner Metaphysik des Willens zur Macht“ (ebd.) verpflanzt. Die Anstöße, die von der Schopenhauer’schen Willenslehre ausgingen, fügen sich gut in diesen Zusammenhang ein, in den Nietzsche „auf den Grund der Subjektivität als Wille gestoßen war“ (354f.), um alle Werte und jede Wahrheit auf ihn zurückzuführen und zu seiner Funktion zu erklären. Was wahr und wert heißt, ist durch den Willen gesetzt, der traditionelle Gottesattribute wie Aseität und Absolutheit für sich beansprucht mit der Folge, dass Atheismus „zu einer Sache des Willens, der Selbstbejahung“ (354) wird. Zum Beleg führt Pannenberg die Schlußsentenz des ersten Teils des „Zarathustras“ an: „Tot sind
51 W. Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung (1963), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen (1967) 2 1971, 347–360, hier: 353. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe – dies sei einst am großen Mittage unser letzter Wille.“ Ähnlich wie in dem frühen, 1960 erstmals vorgetragenen und drei Jahre später veröffentlichten Text über „Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung“ hat Pannenberg auch im Nietzscheabschnitt seines 1996 erschienenen, dem Andenken seiner philosophischen Lehrer Nicolai Hartmann, Karl Jaspers und Karl Löwith gewidmeten Werkes „Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte“ wiederholt auf die Untersuchung Löwiths Bezug genommen. Dieser hatte Nietzsche als den ersten und exemplarischen Repräsentanten eines konsequenten Nihilismus gekennzeichnet und diese Kennzeichnung zum Ausgangspunkt seiner Darstellung genommen. Am Anfang war der Tod Gottes, mit dem alles zunichte wurde, was einst Halt und Bindung gab. Nihilismus und Atheismus gehören zusammen und bilden füreinander jeweils die implizite Prämisse und die entsprechende Konsequenz. Begleitet werden sie von einer Zersetzung der Moral und einem Zunichtewerden dessen, was einst als wahr galt. Theorie und Praxis verlieren ihre Basis und verfallen dem nihilistischen Nichts, um in ihm zu vergehen. Was bleibt, ist der Wille, der lieber das nihilistische Nichts in seiner Sinnlosigkeit wählt, als sich binden zu lassen. Er begreift Atheismus und Nihilismus als Chancen zu unmittelbarer Selbstaffirmation und Selbstdurchsetzung; er fordert von sich, was er für seine Bestimmung hält, nämlich entschiedenen Mut zum Nichts: „im Mut zum Nichts vollendet und überwindet sich am Ende der Nihilismus zum Über-mut des Übermenschen, aus dem heraus Nietzsche die ewige Wiederkehr lehrt.“52 Wie die „Umkehr des Willens zum Nichts in das Wollen der ewigen Wiederkehr“ (60; bei L. gesperrt) zu denken ist, hat Löwith in eingehenden Analysen vor allem der Gleichnisreden des Zarathustra deutlich zu machen versucht, um das Projekt einer antichristlichen Erneuerung der Antike auf der Spitze der Modernität (vgl. 113ff.) zu plausibilisieren. Dabei stelle sich dann allerdings das Scheitern von Nietzsches Versuch heraus, „die Antike zurückzuholen“ (117) und affirmativ auf die vorsokratische Philosophie zurückzugreifen. Seine „Sucht nach der Zukunft und der Wille sie zu schaffen, um die Entfremdung der Welt rückgängig zu machen“ (125), sei zutiefst ungriechisch und Indiz eines ungebrochenen Nachwirkens jüdisch-christlicher Traditionsbestände, die er abzustoßen trachtet, ohne von ihnen wirklich frei zu werden. „Nietzsche hat die Verwandlung des biblischen ‚Du sollst‘ in das moderne ‚Ich will‘ zu Ende gelebt und gedacht, aber nicht den entscheidenden Schritt vom ‚Ich will‘ zum ‚Ich bin‘ des kosmischen Welten-Kindes vollbracht,
52 K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956, 63; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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welches Unschuld ist und Vergessen.“ (126) Letztere Annahme läßt Pannenberg dahingestellt, ersterer stimmt er entschieden zu, um Nietzsches Gedanken, die er „im Laufe von zwei Jahrzehnten bis in die letzten Konsequenzen entwickelt hat“ (126; vgl. 127ff.), im Kontext der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie (vgl. 142ff.), insbesondere aus dem Zusammenhang einer radikalisierten Subjektivitätstheorie zu begreifen. Der Streit um den Philosophen des Nihilismus entscheidet sich nach Pannenberg primär nicht an der Frage, ob er die antike Ansicht von der Welt auf der Spitze der Modernität zu teilen und die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen einschließlich derjenigen von der Wiederholung des Selben (vgl. 161ff.) konsequent durchzuführen vermochte, sondern in theanthropologischen Kontexten, in die er vor allen kosmologischen Bezügen gehörte, um in ihnen ausgetragen zu werden. Niemand, so Pannenberg, habe den antichristlichen und atheistischen Sinn der nachhegelschen Wende des Menschen „tiefer erfaßt und auf seine Konsequenzen hin bedacht als Nietzsche“53 , „(d)er Philosoph des Nihilismus“ (316; bei P. kursiv). Christliche Theologie habe die Auseinandersetzung mit ihm daher im Wesentlichen nicht unter kosmologischen, sondern unter anthropologischen Gesichtspunkten aufzunehmen. Zwar sei die Beziehung von Anthropologie und Kosmologie unaufhebbar, weil ein menschliches Selbst ohne Welt nun einmal nicht denkbar sei. Doch der Streit um die atheistischen Voraussetzungen des Nietzsche’schen Nihilismus und die Frage, ob sie haltbar oder revisionsbedürftig seien, muss nach Pannenberg aktuell im Rahmen der Lehre vom Menschen ausgetragen werden, weil er da zu entscheiden sei. Das Programm des großen Werkes über „Anthropologie in theologischer Perspektive“ erschließt sich von dieser Aufgabenstellung her.
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Dass ein präreflexiver, unterbewusst waltender und das Wesen von Selbst und Welt bestimmender triebhafter Lebenswille als alles bestimmende Wirklichkeit und damit wie ein Gott zu achten sei, lehrt Nietzsche wie Schopenhauer. Während indes jener die ethische Forderung erhebt, dem vitalen Lebenswillen um der Leidvermeidung willen möglichst abzusterben, um schließlich ins Nichts, ins Nirwana einzugehen54 , plädiert dieser mit emphatischer Entschlossenheit dafür, ihn zu affir-
53 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 315. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 54 Zu Schopenhauers Quellen indischer Weisheit vgl. U.W. Meyer, Europäische Rezeption indischer Philosophie und Religion. Dargestellt am Beispiel von A. Schopenhauer, Bern/Berlin/Frankfurt a.M./ New York/Paris/Wien 1994. Ferner: M. Nicholls, The Influence of Eastern Thought on Schopenhauer’s Doctrine of the Thing-in-Itself, in: Chr. Janaway (Ed.), The Cambridge Companion to
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mieren und zwar auch und gerade in Situationen tragischer Ausweglosigkeit. Nicht resignative Willensabkehr, sondern vorbehaltlose Bejahung des Willens zum Leben auch im Leiden sei dem zu übermenschlichem Sein bestimmten Menschen aufgegeben und auch ermöglicht. Statt sich der Sehnsucht nach Auflösung im Nichts passiv zu ergeben, sei der Wille zum Leben aktiv und mit Entschiedenheit zu ergreifen, um auf diese Weise Macht zu gewinnen über Selbst und Welt.55 Zwar ist „Der Wille zur Macht“56 „kein Buch Friedrich Nietzsches“57 sondern eine posthum kompilierte Textsammlung, welche die Schwester des Philosophen „aus Nachlaßfragmenten zusammenstückeln ließ und als authentisches Werk ausgab“58 , was es nicht war. Den Titel indes, den Nietzsche selbst für ein geplantes, aber nicht zur Durchführung gelangtes Projekt wählte, wird man Authentizität nicht absprechen können, weil mit besagter Wendung das philosophische Programm, das Nietzsche verfolgte, in formelhafter Kürze umschrieben ist und zwar zutreffender als mit derjenigen von der ewigen Wiederkehr des Gleichen im Titel von Löwiths Buch. Mit diesem Einwand ist weder die Zusammengehörigkeit der Lehre vom Willen zur Macht mit derjenigen von der ewigen Wiederkehr des Gleichen noch die tatsächliche Richtigkeit der Löwith’schen Periodisierung von Nietzsches Schriften bestritten. Der atheistisch-nihilistischen Destruktion folgt
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Schopenhauer, Cambridge 1999, 171–212. Ferner: Chr. Ryan, Schopenhauer’s Philosophy of Religion. The Death of God and the Oriental Renaissance, Leuven/Paris/Walpole, MA 2010; T. Tran, Asiatische Philosophie. Schopenhauer und Buddhismus, Nordhausen 2007 sowie K.W. Wilhelm, Zwischen Allwissenheitslehre und Verzweiflung, Hildesheim/Zürich/New York 1994, 172: „Im ganzen kann festgestellt werden, daß sich in der indischen Tradition Theoreme finden lassen, die einen kontinuierlichen Zusammenhang von Religion und Philosophie, wie er für Schopenhauers transitorisches Denken erforderlich ist, denkbar und dadurch philosophisch legitimierbar machen.“ (172) Zum Begriff des „Transitorischen“ und zu Schopenhauers Atheismus vgl. 120ff. Dazu auch R. Singh, Schopenhauer and Indian Thought, in: ders., Death, Contemplation and Schopenhauer, Burlington 2007, 55ff. Schopenhauers Nihilismusphilosophie verspricht sich, was traditionell Erlösung heißt, von einem zeitlos-ewigen Nichts absoluter Indifferenz, in der sich die Notwendigkeit, wollen zu müssen, definitiv erledigt hat, weil es nichts mehr zu wollen gibt. Nietzsche hingegen sucht sein Heil in der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die jeden Zukunftswillen erübrigt, weil alles, was ist und sein wird, immer schon war und immer gewesen sein wird. Wer sich dem Immerseienden fügt und es willig affirmiert, dem stellt sich Nietzsche zufolge die Frage nicht mehr, was das Gewese soll. F. Nietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werte, Leipzig 1906. D. Fuchs, Der Wille zur Macht. Die Geburt des „Hauptwerks“ aus dem Geiste des Nietzsche-Archivs, in: Friedrich Nietzsche. Hg. v. Chr. Niemeyer u. a., Darmstadt 2014, 108–131, hier: 108. Das posthum aus Nachlassnotizen kompilierte Buch „Der Wille zur Macht“, das Pannenberg in der Ausgabe Max Brahns besaß, hatte u. a. Martin Heidegger zum Hauptwerk des Philosophen erklärt. Dass diese Behauptung falsch und irreführend ist, zeigt u. a. W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist. Aus dem Amerikanischen übersetzt von J. Salaquarda, Darmstadt 1982, 479ff. (Pannenberg-Bibliothek 02206). D. Fuchs, ebd.
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das konstruktive Geltendmachen des Willens zur Macht, den entschieden zu wollen die übermenschliche Bestimmung des Menschen nach dem Todes Gottes ist, die sich in der willentlichen Affirmation der Wiederkehr des Gleichen und der Wiederholung des Selben vollendet, in dem das Ich die immerseiende Selbigkeit seiner selbst und aller Welt finden soll. Zu einer entsprechenden Vollendung ist Nietzsches Denken nach Löwiths Urteil nicht gelangt, womit er indirekt selbst bestätigt, dass der einheitsstiftende Grundgedanke in der organischen Mitte des aphoristischen Systems derjenige des Willens zur Macht ist. Dieser wiederum hat seinen zentralen Sitz im Menschenleben im Leib, welcher das eigentliche Selbst des Ich ausmacht. Wie es im „Zarathustra“ (I,4) heißt: „Hinter deinem Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“ Pannenberg hat diese Sentenz in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ eigens zitiert und zum Gegenstand weitreichender Reflexionen zur Verhältnisbestimmung von Ich und Selbst im Rahmen der Erwägungen zur Identitätsproblematik gemacht.59 Statt hierauf näher einzugehen60 , sei das Zitat zum Anlass genommen, erneut auf Nietzsches Verhältnis zu Schopenhauer Bezug zu nehmen.61 Nietzsche blieb, auch nachdem sich die anfängliche Begeisterung über „Die Welt als Wille und Vorstellung“ gelegt hatte und einer gemäßigteren Einschätzung gewichen war, Schopenhauer zeitlebens als „des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen ich mich zu rühmen habe“62 , eingedenk. So bekennt er es selbst zu Beginn des dritten Stücks der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, das Schopenhauer als Erzieher gewidmet ist. Noch 1874 erklärt er sich zu denjenigen Lesern Schopenhauers gehörig, „welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit 59 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 198f. 60 Vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel, Göttingen 2020, 323ff. 61 Nach Georg Simmel gelangen Schopenhauer und Nietzsche bei „Gleichheit ihres Ausgangspunktes“ (G. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, 11), nämlich „der Verneinung des absoluten Seinszweckes“ (ebd.), zu völlig konträren Ergebnissen: Schopenhauer verurteile, wie bereits vernommen, das Leben als sinn- und wertlos und als dasjenige, was zu negieren sei wie der Wille, der es hervortreibe. Nietzsches Denken und Dichten sei im Gegensatz dazu von einem aufs höchste zugesteigerten Vitalitätsempfinden und von einem Begriff des Lebens getragen, das keinen absoluten Seinszweck außerhalb seiner bedürfe, weil es diesen ganz und allein in sich gefunden habe. Zur Entstehungsgeschichte des Simmeltextes vgl. G. Simmel, Gesamtausgabe. Bd. 10, Frankfurt a.M. 1995, 419–421; der Text selbst sich a.a.O., 167–408. 62 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. G. Colli / M. Montinari, Bd. 1 (=KSA 1), München 1980, 335–427, hier: 341. Geschrieben wurde die dritte der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ im Frühjahr/Sommer 1874. Sie „gibt ein Portrait Schopenhauers in seiner Zeit: es ist unverkennbar als Modell philosophischer Existenz überhaupt (etwa dem platonischen Sokratesbild vergleichbar) gezeichnet.“ (H. Ottmann [Hg.], Nietzsche-Handbuch, 82–84, hier: 82)
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Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt“, wie Nietzsche hinzufügt, „noch dasselbe wie vor neun Jahren.“ (KSA 1, 346) Dieses Vertrauen konzentrierte sich vorzugsweise auf die Willenslehre, wie sie im zweiten Buch von Schopenhauers Hauptwerk grundgelegt ist, welches von Anfang an Nietzsches besonderes Interesse auf sich zog. Was den Einfluss Schopenhauers auf den Nihilismusphilosophen Nietzsche anbelangt, so gehen die Meinungen der Gelehrten auseinander. Pannenberg führt unter Berufung auf M. Montinari eine „erste und tiefreichende Erschütterung“63 des angestammten Glaubens auf die Lektüre von Feuerbachs „Wesen des Christentums“ und die Schriften anderer junghegelianischer Religionskritiker zurück, um erst im Anschluss daran Schopenhauer zu erwähnen. Andere veranschlagen dessen Einfluss auf Nietzsches Weg zum Atheismus und Nihilismus höher. Man wird sich mit der Feststellung begnügen dürfen: „Ob Nietzsche den Schritt zur völligen Loslösung vom christlichen Offenbarungsglauben und damit auch zur Preisgabe eines Theismus, der den Schöpfungsglauben einschließt, schon vor dieser Lektüre oder unter ihrem Einfluss getan hat, ist eine schwer zu beantwortende Frage.“64 Evident hingegen ist der Einfluss Schopenhauers auf Nietzsches Voluntarismus und das enge Verhältnis, welches er zwischen Wille und Leib in Anschlag bringt. „Mein Leib und mein Wille sind eines“, schrieb Schopenhauer am Ende des für das Gesamtwerk weichenstellenden § 18 des zweiten Buches der Zweitauflage von „Die Welt als Wille und Vorstellung“, um hinzuzufügen: „was ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, sofern ich desselben auf eine ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichende Weise mir bewußt bin, meinen Willen.“ (SW I, 161) Alles, was Objekt der Erfahrung und Wissenschaft ist, präsentiert sich dem erkennenden Subjekt als Vorstellung. Die Bewusstseinswelt hat als Inbegriff dessen zu gelten, was auf erkennbare Weise vorstellig wird. Auch der eigene Leib des Erkenntnissubjekts wird im Akt der Erkenntnis objektiv, als Gegenstand unter Gegenständen und als Körper vorgestellt, der wie alle anderen Entitäten auch den Verstandesgesetzen unterworfen ist, wie sie im Satz vom zureichenden Grund
63 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 316. 64 E. Düsing, Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, München (2006) 2 2007, 108. Nietzsche las Schopenhauer Ende Oktober/Anfang November 1865: Hat er „den Schritt von der Loslösung vom Christentum zur Preisgabe des Theismus unter dem Einfluß Schopenhauers vollzogen? Oder hatte er zuvor schon, ausgehend von der Identifizierung von Gott und Welt, den Theismus verlassen?“ (O.J. Most, Zeitliches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers, Frankfurt a.M. 1977, 124; zu den religiösen Krisen Nietzsches bis 1865 und zur expliziten Christentumskritik seiner späteren Jahre vgl. 105ff. und 137ff.)
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fundiert sind. Doch ist der eigene Leib dem erkennenden Subjekt, welches als Individuum unteilbar eins mit ihm ist, nicht nur vorstellungshaft, sondern auch und simultan auf eine ganz andere Weise gegeben, „nämlich als jenes jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet“ (SW I, 157). Jeder Willensakt ist eine Aktion des Leibes, wobei die Differenzierung beider Aktionen nur in der Anschauung des Verstandes und in der Erkenntnis für ihre verständigen Vorstellungen statthat, wohingegen sie im ursprünglichen Erleben unmittelbar koinzidieren. „In der Reflexion allein ist Wollen und Tun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie eins. Jeder wahre, echte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes; und diesem entsprechend ist andererseits jede Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch Einwirkung auf den Willen; sie heißt als solche Schmerz, wenn sie dem Willen zuwider; Wohlbehagen, Wollust, wenn sie ihm gemäß ist.“ ( SW I, 158) Lust und Unlust müssen, um gewiss zu sein, nicht reflexiv präsentiert und vorgestellt werden; sie vergegenwärtigen sich vielmehr präreflexiv, um in nicht falsifizierbarer Weise wahrgenommen zu werden. Löst man nicht das erkennende Subjekt als Transzendental-Ich vom empirischen Ich ab, sondern hält beide, wie Schopenhauer dies fordert, individuell zusammen, dann stellt sich die Einsicht folgerichtig ein, dass der eigene Leib für das Individuum auf gänzlich verschiedene und zugleich identische Weise da ist, nämlich zum einen als körperliches Objekt der Erkenntnis und als Gegenstand unter Gegenständen in der Vorstellungswelt, zum anderen als eine Wirklichkeit, deren es unmittelbar und in präreflexiver Gewissheit inne ist, sei es auf lustvolle oder schmerzliche, auf aktive oder erleidende Weise. Die Erkenntnis, die wir von der Wirklichkeit unseres eigenen Leibes haben, ist nach Schopenhauer eine doppelte, aber in ihrer Duplizität untrennbar zusammengehörige: eine objektive, vorstellungshaft gegebene und durch verständige Anschauung vermittelte, sowie eine unmittelbare, der in ihrer Unmittelbarkeit eine nicht falsifizierbare Evidenz zukommt, die keiner weiteren Begründung bedarf, um gewiss zu sein. Diese aus der Selbstwahrnehmung individueller Subjekte hervorgehende Doppelerkenntnis dient Schopenhauer als Schlüssel zum Verständnis der Welt insgesamt, die beides, wenngleich auf völlig heterogene Weise zugleich und in einem sei: „(A)lle Objekte, die nicht unser eigener Leib, daher nicht auf doppelte Weise, sondern allein als Vorstellung unserm Bewußtsein gegeben sind“ (SW I, 164), sollen nach Analogie jenes Leibes beurteilt werden.65 Es sei anzunehmen, „daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin ihm gleichartig sind,
65 „Mittels dieser Leib-Welt-Analogie kommt Schopenhauer seiner Forderung nach, wir müssten die Natur verstehen lernen aus uns selbst und nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur.“ (D. Schuppe/M. Koßler [Hg.], Schopenhauer-Handbuch, 56) Zur Problematik dieses Schlusses vgl. E. Zimmermann, Der Analogieschluss in der Lehre von der Ich-Welt-Identität bei Artur Schopenhauer, München (Diss. phil.) 1970.
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auch andererseits, wenn man ihr Dasein als Vorstellung des Subjekts beiseite setzt, das dann noch Übrigbleibende seinem inneren Wesen nach dasselbe sein muß, als was wir an uns Wille nennen“ (ebd.).
6.
Der Philosoph des Nihilismus
Zu dem „vielleicht bedeutendsten philosophischen Werk“66 Nietzsches hat Pannenberg die drei Abhandlungen der Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“ erklärt, die im Frühsommer 1887 binnen dreier Wochen entstanden und – nach vorhergehender Überarbeitung der dritten – im November selbigen Jahres erschienen sind; sie gehören zugleich zu den von Pannenberg am intensivsten studierten Nietzschetexten. Die Lektüre erfolgte auf der Basis des VIII. Bandes der Taschen-Ausgabe von Nietzsches Werken aus dem Jahr 190667 und konzentrierte sich auf die zweite Abhandlung und die Frage, „wer überhaupt die Erfindung des ‚schlechten Gewissens‘ auf dem Gewissen hat“ (366). Nietzsches Antwort: „der Mensch des Ressentiment!“ (Ebd.) Ihn erklärt er zu dem im eigentlichen Sinne des Begriffs schlechten Menschen, der alles schlecht mache und ins Böse kehre, was naturgemäß gut zu nennen sei: „frage man sich doch, wer eigentlich ‚böse‘ ist, im Sinne der Moral des Res-
66 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 319. In dem Werk hat Nietzsche die sittlichen Verbindlichkeiten der jüdisch-christlichen Tradition als Ausdruck des Ressentiments und als Funktion des Willens Unterlegener gedeutet, die Überlegenen in Schranken zu weisen und um ihre Stärke zu bringen. Die moralische Unterscheidung von Gut und Böse, auf deren Destruktion die erste Abhandlung ausgerichtet ist, sei eine Folge dieses Bestrebens und durch die moralisch indifferente von Gut und Schlecht zu ersetzen, welche einen aristokratischen Lebensstil der Denkungs- und Verhaltensart der Masse und des Pöbels kontrastiere. Die zweite Abhandlung bietet eine Entstehungsgeschichte von Schuldbewusstsein, schlechtem Gewissen und Verwandtem mit dem Ziel, sie als Krankheit zu erweisen, die den Gesunden von vitaler Selbstdurchsetzung abhalte. Das Gemeine am Empfinden der Schuld bestehe darin, dass die Sklavenmoral von Judentum und Christentum den Freien und Starken nicht lediglich äußerlich, sondern von innen her zu binden und zu knechten suche. Dem sei durch ein beherztes Ja zur Sünde zu widerstehen. Vergleichbarer Widerstand sei gegen kommende asketische Ideale angebracht, die in der dritten Abhandlung erörtert werden. Zwar sei Askese als Mittel der Zucht, ohne die niemand Herr seiner selbst und anderer zu sein vermöge, nicht zu verachten. Doch beraube das asketische Ideal denjenigen, der ihm vorbehaltlos folge, zugleich der herrlichen Freiheit, die sie zu geben verspricht, indem sie diese spiritualisiert und um ihre Leibhaftigkeit bringt. Demgegenüber macht Nietzsche die Freiheitsrechte des geknechteten Leibes geltend, ohne den, was Leben genannt zu werden verdiene, nicht denkbar sei. Das Gegenteil zu behaupten, sei nichts anderes als Ausdruck eines Widerwillens gegen das Leben, dem mit leibhaftiger Willensmacht zu widerstreben sei. 67 Nietzsches Werke. Taschenausgabe. Band VIII: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Aus dem Nachlaß 1885/86, Leipzig 1906, 281–484 (Pannenberg-Bibliothek 02199). Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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sentiment. In aller Strenge geantwortet: eben der ‚Gute‘ der andern Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment“ (321). Was seinem giftigen Blick als böse und gewissenlos erscheine, stelle sich bei ungetrübtem Zusehen als gut, ungeduldig und gewissenhaft dar, jedenfalls im Sinne jener, mit Nietzsche zu reden, „Unschuld des Raubthier-Gewissens“ (322), wie sie u. a. der „prachtvolle(n) nach Beute und Sieg lüstern schweifende(n) blonde(n) Bestie“ (ebd.) eigne. Um Nietzsches „Hypothese über den Ursprung des ‚schlechten Gewissens‘“ (378) im Kontext seiner „Genealogie der Moral“ mit seinen Worten „zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu vertiefen“ (378f.): Das schlechte Gewissen ist Indiz und Manifestationsgestalt einer schweren Krankheit, die sich der Mensch in Folge einer Hemmung seiner nach außen gerichteten Triebe beim Übergang vom animalischen zum humanen Zustand zugezogen hat. Es handelt sich, wenn man so will, um eine Art von Autoimmunerkrankung, bei der sich die dem Selbsterhalt des Organismus dienende Abwehrkraft nicht gegen von außen andringende Feinde, sondern gegen das Ureigene richtet, um es mit Aggressivität anzugehen und nach Möglichkeit zu vernichten. Waren und sind die tierischen Instinkte und auch noch diejenigen des „wilden freien schweifenden Menschen“ (380) nach außen gerichtet und äußerer Feindabwehr dienlich, so wird sich im Zuge seiner Domestikation durch Sitte und Moral der Mensch selbst zum Feind, damit er seine Ursprungsinstinkte bekämpfe, niederhalte oder durch Radikalaskese auslösche. Zwar will Nietzsche keiner Reanimalisierung des Menschen das Wort reden, wohl aber der, wie er sagt, „gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit“ (380f.) des homo sapiens ein Ende bereiten, damit dieser wahrhaft weise werde und dem Tier in ihm bei Gelegenheit ungezügelten Lauf lasse, um sich gerade so als Herrscher im eigenen Hause zu erweisen statt in selbstverkehrten Gewissenqualen zu vergehen. Sei Herr und nicht Knecht deiner Moral, lautet die sittliche Maxime, die aus der Umwertung überkommener Werte folgt, damit der „Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht)“ (383) das Leben bestimme. Soll es dazu kommen, muss der göttliche Garant der Sklavenmoral umgebracht werden: „Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zu einander.“ (388) Das „Thier Mensch“ (482) muss Gott los werden, um wahrhaft selbstbestimmt zu sein und zum eigentlichen Sinn seiner Existenz zu gelangen. Wer den Menschen daran hindere, wie in aller Regel die verfassten Gestalten der Religion und insbesondere das Christentum, der habe im eigentlichen Sinne als inhuman, amoralisch und nihilistisch zu gelten. Nicht sein Kritiker, sondern der Christ sei derjenige, der mit Recht Nihilist genannt zu werden verdiene. Pannenberg hat die drei Abhandlungen zur „Genealogie der Moral“ zum vielleicht Bedeutendsten erklärt, was Nietzsche geschrieben habe. Der Autor selbst bestätigte diese Einschätzung. Man lese dazu die autobiographischen Ausführungen in „Ecce homo“ unter der Überschrift „Warum ich so gute Bücher schreibe“. Die drei
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Texte seien weichenstellende Vorarbeiten zur Umwertung aller Werte und basierten auf der Einsicht, dass der Nihilismus Folge der aus dem Geiste des Ressentiments geborenen jüdisch-christlichen Religion sei. Der Widerwille zum Leben, wie er sich im asketischen Lebensideal, im ressentimentinduzierten schlechten Gewissen und im Dual von Gut und Böse manifestiere, mittels dessen die Schwachen der Starken hinterhältig Herr zu werden suchten, macht nach Nietzsche in Wahrheit offenbar, was nihilistisch sei. Nihilistisch seien nicht die Antimoralisten und die atheistischen Kritiker der jüdisch-christlichen Tradition, welche die herrschende Moral generiert habe, sondern diese selbst. Pannenberg hebt diesen „Ertrag der Untersuchungen zur Genealogie der Moral für das Verständnis des europäischen Nihilismus“68 nachdrücklich hervor: „War zuvor der Nihilismus die Folge des Todes Gottes gewesen, so wurde diese Diagnose nun dahin vertieft und erweitert, daß das Christentum und sein Gott selber schon vom Ursprung her nihilistisch sind.“ (321) Anmerkungsweise notiert Pannenberg, dass die „Unterscheidung dieser beiden Phasen in Nietzsches Gebrauch der Ausdrücke ‚Nihilismus‘ oder ‚nihilistisch‘ … in der Literatur oft vernachlässigt“ (321 Anm. 66) werde. Sie sei „aber erforderlich, weil es nicht dasselbe ist, ob der Nihilismus – wie in einigen der frühesten Belege – als Folge des Todes Gottes beschrieben wird, oder ob das Christentum und sein Gott selber schon als Ausdruck einer nihilistischen Tendenz aufgefaßt werden.“ (Ebd.) Letztere Auffassung stellt, wie man annehmen darf, die eigentliche Pointe des Nihilismusverständnisses von Nietzsche dar. Danach ist der Nihilismus primär nicht Folge des Atheismus, sondern dieser eine Reaktion auf einen Gottesgedanken, der lebenswidrige Konsequenzen zeitige. Es verdient bemerkt zu werden, dass Pannenberg eine der Wurzeln dieser Auffassungen auf Schopenhauer zurückführt, wenngleich diesen die Diagnose zu anderen Heilsvorschlägen veranlasst habe. Was Nietzsche betrifft, so plädiert er wider den Widerwillen gegen das Leben, den er im jüdisch-christlichen Glauben und seiner Moral am Werke sieht, für eine „neue Lebensbejahung“ (321) und einen Willen, der die leibhafte Existenz affirmiert und zu einem vitalen Dasein ermächtigt. „Darauf beziehen sich die drei Stichwörter der positiven Botschaft Nietzsches seit ‚Also sprach Zarathustra‘ (1883/84), nämlich das Bild vom Übermenschen, den es zu schaffen gelte, nachdem Gott tot sei, die Formel vom Willen zur Macht und die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen.“ (321f.) Für das Bild vom Übermenschen und die Formel vom Willen zur Macht ist nach Pannenberg grundlegend, was Nietzsche „Selbstüberwindung“ (322) nennt. Sie zielt nicht auf Selbstlosigkeit, sondern auf ein Selbstsein, das unter allen
68 W. Pannenberg, a.a.O., 321. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf das Werk Pannenbergs über „Theologie und Philosophie“.
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Lebensumständen zu bestehen vermag und den Gegensatz dessen, was landläufig Glück oder Unglück heißt, ebenso transzendiert wie den von Gut und Böse.69 Jenseits von Gut und Böse, Glück und Unglück fügt sich der Übermensch in sein Geschick und ergreift es mit der Macht des Willens als das seine, um dem amor fati zu huldigen. Im Gedanken der Wiederkehr des Gleichen findet die grenzenlose Lebensbejahung ihren „äußersten Ausdruck“ (ebd.), wie Pannenberg unter Bezug auf Karl Löwiths Studie zum Thema deutlich macht. Dabei wird u. a. auf den Einwand Löwiths verwiesen, „daß Zarathustras Verbindung des Gedankens der ewigen Wiederkehr mit dem zukunftsgerichteten Programm einer Umwertung aller Werte christlichem Geist verhaftet“ (323) geblieben und keineswegs genuin griechisch sei. Wie immer man diesen Vorbehalt zu beurteilen hat: Potentiell bedeutsam für die christliche Theologie bleibt Nietzsche nach Pannenberg in jedem Fall, sofern er ihr Anlass gibt, die Gründe einer nicht nur in pietistischen Kreisen verbreiteten Sünden- und Bußmentalität zu bedenken, die tatsächlich lebensdestruktive Folgen zu zeitigen vermöge. Nietzsches „Abneigung gegen die protestantische Bußgesinnung“ (324) ist Pannenberg zufolge ein wesentliches Motiv seiner „Hinwendung zum Atheismus“ (ebd.) gewesen. Diese Motivationslage mache zugleich „verständlich, was sonst rätselhaft bleibt, daß nämlich Nietzsche die Schärfe seines intellektuellen Zweifels niemals gegen die Argumente des modernen Atheismus und seine gesellschaftlichen Bedingungen gerichtet hat. Die Tugend der Wahrhaftigkeit, der er sich rühmte, ist von ihm faktisch doch recht einseitig und partiell geübt worden, und diese Tatsache bedarf einer Erklärung wie der soeben angedeuteten. Dennoch sollte das Christentum für den Spiegel, den Nietzsche ihm vorgehalten hat, dankbar sein, wenn es auch ein Zerrspiegel ist.“ (325)
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Gottloser Übermensch
Pannenberg hat Nietzsches Denken unter der Überschrift abgehandelt: Philosophie des Nihilismus. In der Tat bildet „N(ietzsche)s Entwurf des Nihilismus-Komplexes
69 Nachdem das Christentum sich, wie er meint, erledigt und als größter Irrtum der Menschheitsgeschichte erwiesen hat, findet sich Nietzsche im Nihilismus in einer völligen Sinnlosigkeit wieder, der er gleichwohl Sinn dadurch abzutrotzen strebt, dass er die Abwesenheit von Sinn zum ursprünglichen Wesen der Wirklichkeit erklärt, das es aus Wahrhaftigkeitsgründen anzuerkennen und zu affirmieren gelte. Der Übermensch als ekstatischer Nihilist soll sich dazu als fähig erweisen und mit der Macht eines Willens, der nur sich selbst will, das eherne Gesetz der Notwendigkeit bejahen und das Schicksal in seiner Fatalität lieben lernen. Ob dieses Ansinnen menschlich ist, darf füglich bezweifelt werden. Christlich ist es nicht und will es erklärtermaßen nicht sein.
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… die Mitte im Rahmen seiner wichtigsten Philosopheme“70 , nämlich des Willens zur Macht, der ewigen Wiederkehr des Gleichen und des Übermenschen. Die Konstruktion besagter Theoreme setzt die nihilistische Destruktion des bisherigen Seinsverständnisses und namentlich die Zersetzung der im Gottesgedanken fundierten Werte voraus, die als Endwerte zu gelten hatten. Das christlich-platonische Werte- und Wahrheitsverständnis hat seine Verbindlichkeit verloren, der Gottesgedanke seine Plausibilität eingebüßt. Wo einst das Sein selbst waltete, herrscht nun das Nichts als nihil pure negativum, in dem jeder Sinn zu vergehen scheint. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der zufolge alles schon einmal da gewesen ist und sich künftig auf gleiche Weise wiederholen wird, scheint den Eindruck einer alternativlosen Sinnlosigkeit und Nichtigkeit zu bestätigen. Nietzsche hat sie selbst in einem nachgelassenen Fragment vom Juni 1887 „die extremste Form des Nihilismus“ (KSA 12, 213) genannt. Ewig dieselbe Leier: von Nichts zu Nichts und wieder Nichts. Das Dasein zielt zuletzt auf nichts denn auf das Nichts, ohne dass ein weitergehender Sinn erkennbar wäre. Ein teleologisches Finale steht nicht zu erwarten, da Ende und Anfang unmittelbar koinzidieren. Ist eine mögliche Negation der von Nichts zu wieder Nichts führenden Negativität der ewigen Wiederkehr des Gleichen denk- und vollziehbar, die den Nihilismus überwindet? Nach Nietzsche nur unter der Voraussetzung, dass er nicht geflohen, sondern konsequent und willentlich durchgehalten wird, dergestalt, dass die Sinnund Ziellosigkeit der Existenz und die Nichtigkeit des Daseins samt der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht lediglich hingenommen und passiv erlitten, sondern affirmiert und ebenso vorbehaltlos wie rücksichtslos bejaht wird. Schopenhauer habe sich dem Kreislauf der Dinge passiv ergeben und die Negativität des Nihilismus nicht auf sich selbst angewandt, um die ewige Wiederkehr zu begreifen und aktiv herbeizuwünschen. Statt die Permanenz des Immergleichen in seiner Sinn- und Ziellosigkeit beherzt zu affirmieren, habe er es vorgezogen, einen Pessimismus der definitiven Nichtigkeit zu pflegen, aus dessen nihil heraus nichts mehr hervorgehen soll und in dem das Rad des Seins zum Stillstand kommt, ohne sich je noch zu bewegen. Nietzsche hat Schopenhauers Philosophie als Vorstufe in seine „Genealogie des Nihilismus“71 aufgenommen. Als Nihilist vom halben Wege habe der pessimistische Denker den Nihilismus nur von seiner negativen Seite genommen, um ihn unmittelbar zu negieren, statt ihn durch Selbstanwendung seiner Negativität dergestalt zu vollenden, dass dem Welt- und Lebenskreislauf von Nichts zu Nichts und wieder Nichts ein Sinn beigemessen wird, der allein auf sich selbst beruht und keiner Teleologie äußerer Ziele und Zwecke mehr bedarf. In der Weise der Lehre
70 E. Kuhn, Nihilismus, in: H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, 293–298, hier: 293. 71 A.a.O., 294.
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von der ewigen Wiederkehr des Daseins in sich gerundet muss der Nihilismus nicht länger passiv erduldet werden, er kann vielmehr aktiv ergriffen und in seiner Permanenz als förmlich erstrebenswert und befreiend empfunden werden. Die Wiederkunft des ewig Wiederkehrenden72 rundum zu begrüßen und gut zu heißen, ist nach Nietzsche die Bestimmung dessen, den er den Übermenschen nennt. Gott ist für den Übermenschen tot und längst gestorben. Der Übermensch ist gottloser Atheist und ein Nihilist aus Überzeugung, dem nichts von dauerhaftem Wert ist außer der Dauer, welche die ewige Wiederkehr des Gleichen dem irdischen Dasein verleiht. In vorbehaltloser Treue zur Erde sucht er sein Verweilen auf ihr keinem äußeren Zweck zu unterstellen, sondern auf selbstzweckliche Weise und im Modus permanenter Selbststeigerung zu gestalten. Der Übermensch ist exzentrisch und selbsttranszendent und stets über sich hinaus, ohne auf ein Jenseits zu zielen, das außer ihm selbst läge. Der Übermensch ist sein eigenes Jenseits, und in dem Augenblick, in dem er über sich hinausgeht, was er stetig tut, ist er schon wieder bei sich, um Einkehr zu halten ins Ureigene. „Die dem Übermenschen eigene Wahrheit wird eins im Akt des unablässigen Überwindens. In diesem ständigen Überwinden gibt es nie einen bestimmten Endzweck. Es ist ein Überwinden im Sinne eines Schaffens ohne Zweck.“73 Motivation zu permanenter Selbsttätigkeit des Übermenschen, die ihren Zweck allein in ihr selbst sucht und zu finden beansprucht, bietet der Wille zur Macht, aus dem übermenschliches Schaffen seine Kraft bezieht. Wille zur Macht ist mehr und anderes als bloßer Wille zum Leben oder Überleben im Sinne des Triebs der Selbsterhaltung. Zwar enthält der Wille zur Macht den Selbsterhaltungstrieb als ein Moment, hebt ihn als solchen aber zugleich auf, um über alles Gegebene einschließlich der Gegebenheit des Selbst hinauszudrängen. Der Wille zur Macht ist der Wille zur Selbststeigerung durch permanentes Transzendieren alles dessen, was ist, einschließlich des eigenen Selbstseins. Volker Gerhardt hat in detaillierten Untersuchungen zu zeigen versucht, dass Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht „aus dem Erfahrungszusammenhang der kulturellen Selbstproduktion schöpferischer Individuen“74 stammt. Die ästhetische Selbsterfahrung „des sich in der Selbstproduktion selbst überwindenden Genies“75 bilde die Basis der programmatischen Wendung, welche „die gleicherma-
72 Zum terminologischen Verhältnis von Wiederkunft und Wiederkehr bei Nietzsche vgl. M. Skirl, Ewige Wiederkunft, in: H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, 222–230. 73 G. Penzo, Übermensch, in: a.a.O., 342–345, hier: 342. 74 V. Gerhardt, Wille zur Macht, in: a.a.O., 351–355, hier: 351. Vgl. ders., Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996. 75 Ders., Wille zur Macht, 354.
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ßen innere wie äußere Bedingung der Möglichkeit des ‚Übermenschen‘“76 bezeichne. Vergleichbar interpretiert Heinrich Meier die Nietzsche’sche Philosophie, die weder mit der Doktrin der Ewigen Wiederkehr und des Willens zu Macht noch mit sonst einer Lehre gleichzusetzen sei. „Nietzsche entscheidet sich bewußt gegen das ‚System‘.“77 Sein Philosophieren sei vielmehr auf die Kunst der Selbstverständigung, Selbstvergewisserung und Selbststeigerung des Philosophen ausgerichtet, damit er werde, was zu sein er von sich aus bestimmt sei, nämlich jener Übermensch, der sich und alle Welt transzendiert, ohne dafür auf Transzendenz angewiesen zu sein. Der Philosoph philosophiert, um gleich einem Kunstgenie sich selbst zu übertreffen und um ein welttranszendierendes Leben zu führen, wodurch seine Existenz religiöses Format gewinnt, ohne Religion im überkommenen Stile zu pflegen. Man hat in Bezug auf den abtrünnigen Pfarrerssohn wie analog in Bezug auf Schopenhauer von einer „gottlose(n) Frömmigkeit“78 gesprochen. Dass diese Wendung Richtiges trifft, zeigen mehr noch als die vorhergehenden Bücher Nietzsches „das ‚Zweigespann‘, in dem sein Oeuvre zum Abschluss kommt“79 , „Ecce homo“ (KSA 6, 255–374) und „Der Antichrist“ (KSA 6, 165–253). Die beiden Bücher sind der Religion und der Theologie gerade durch den Gegensatz verbunden, in den sie sich zu ihnen setzen. Die Rede von einer antichristlichen bzw. antireligiösen Religion und einer Theologie ohne bzw. gegen Gott hat deshalb ihre Richtigkeit. Nietzsches Devise lautet: „Dionysos gegen den Gekreuzigten…“ (KSA 6, 374) Die Schrift „Der Antichrist“, die am 30. September 1888 fertiggestellt, aber erst sechs Jahre später herausgegeben wurde, sollte ursprünglich mit dem Titel „Umwerthung aller Werte“ versehen werden. Daraus wurde „Fluch auf das Christentum“. An der Leitidee ändert dieser Wechsel nichts. Was unter christlichen Bedingungen als wertvoll galt, soll jetzt für nichts erachtet werden, weil es aus unwerter Schwäche
76 A.a.O., 353. 77 H. Meier, Was ist Nietzsches Zarathustra? Eine philosophische Auseinandersetzung, München 2017, 234; vgl. ders., Nietzsches Vermächtnis. Ecce homo und Der Antichrist. Zwei Bücher über Natur und Politik, München 2019. 78 H. Schülke, Nietzsches gottlose Frömmigkeit, Hamburg 1946. Zur immanenten Religiosität des Schopenhauer‘schen Systems vgl. die dem Andenken Max Horkheimers gewidmete Schrift A. Schmidts, Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Schopenhauers Religionsphilosophie, München 1986. Ferner: ders., Religion als Trug und als metaphysisches Bedürfnis. Über den Zusammenhang von Ethik und Religionsphilosophie bei Arthur Schopenhauer, in: ders., Tugend und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze über die Philosophie Schopenhauers (1960–2003), Frankfurt a.M. 2004, 205–229. 79 H. Meier, Nietzsches Vermächtnis. Ecce homo und Der Antichrist. Zwei Bücher über Natur und Politik, München 2019, 9. Vgl. im Einzelnen: Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Hg. v. d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 6/2: A.U. Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, Berlin/Boston 2013.
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stammt und daher in Wahrheit als schlecht, ja als böse zu beurteilen ist. Recht und gut zu sein, kann nur das Starke bzw. dasjenige beanspruchen, was dem menschlichen Willen zur Macht und zur Selbststeigerung verhilft. So steht es in den ersten der insgesamt 25 Kapitel des Pamphlets zu lesen. Mitleid mit den Schwachen und Verständnis für ihre Schwäche, wie sie die verkommene Religion des Christentums (unter Einschluss des einst hoch geachteten Schopenhauer) propagiere, sind Nietzsche ein Gräuel. Sie liefen schnurstracks auf die Verneinung des Lebens hinaus und seien ungesund. Wenn er heilen wolle, müsse der Arzt „hier unerbittlich sein, hier das Messer führen“ (KSA 6, 174). Nur wer dem Mitleid den Abschied gebe, könne gesunden und für das Leben wiedergewonnen werden. Fluch deshalb dem Christentum und Aufruf zur antichristlichen Umwertung aller Werte: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“ (KSA 6,170) Und weiter: „Was ist schädlicher als irgend ein Laster? – Das Mitleiden der That mit allen Missrathnen und Schwachen – das Christenthum…“ (Ebd.) Bewusst wird das überkommene Verhältnis von gut und schlecht verkehrt – unter christlichen Bedingungen wird man sagen müssen: pervertiert. „Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.“ (Ebd.) Daraus ergibt sich folgerichtig der Begriff des Schlechten: „Alles, was aus der Schwäche stammt.“ (Ebd.) Wo der Wille zur Macht fehlt, da führen, wie es heißt, „nihilistische Werthe unter den heiligsten Namen die Herrschaft“ (KSA 6, 172). Nihilist ist nach Nietzsche nicht der Antichrist, nihilistisch sind das Christentum und die Mitleidsethik, die es vertritt. „Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus.“ (KSA 6, 173) „Mitleiden überredet zum Nichts!“ (Ebd.) Noch einmal deshalb: „Nichts ist ungesünder, inmitten unserer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer! – – –“ (KSA 6, 174) Nach altgriechischer Sage handelt es sich bei den Hyperboreern um ein im hohen Norden wohnendes glückliches Volk. Wo man das paradiesische Land Hyperborea zu lokalisieren und wie man den Bezug seines Namens zu Boreas, dem Gott des Nordwinds, genau zu deuten hat, ist seit antiken Zeiten strittig. Doch darauf kommt es im gegebenen Zusammenhang nicht an: Für den Altphilologen Nietzsche fungieren die sagenhaften Hyperboreer als Identifikationsfiguren für abseits lebende Unzeitgemäße, als Symbole für die Übermenschen in ihrer erhabenen Einsamkeit jenseits alles Gewohnten, als, wenn man so will, antichristliche Sakramente, als Wirkzeichen des Antichristen, dessen Künder oder Repräsentant zu sein Nietzsche sich selbst erkor. Dass der Antichrist eine Antitheologie erfordert, die ihm entspricht, versteht sich von selbst. Die christliche Theologie kennzeichne „der Wille zum Ende, der nihilistische Wille“ (KSA 6, 176), und diese Ausrichtung sei zugleich charakteristisch
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für die hierzulande herrschende Philosophie: „Man hat nur das Wort ‚Tübinger Stift‘ auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist – eine hinterlistige Theologie…“ (Ebd.) Auch Kant stelle in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar; im Gegenteil: „Der fehlgreifende Instinkt in Allem und Jedem, die Widernatur als Instinkt, die deutsche décadence als Philosophie – das ist Kant! –“ (KSA 6, 178) Sein kategorischer Imperativ mit der Forderung, Verallgemeinerungsfähigkeit zur sittlichen Handlungsmaxime zu erheben, sei dem Selbstermächtigungsgesetz des Willens zur Stärke diametral entgegengesetzt und nichts als ein nihilistisches Zeichen der Schwäche, die als inhuman, weil dem Übermenschen widerstrebend, zu gelten habe. Auf die am Beispiel Kants und einiger Repräsentanten des Deutschen Idealismus belegte These, wonach „(d)er protestantische Pfarrer… Grossvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihr peccatum originale“ (KSA 6, 176) sei, folgen Kapitel zur Kritik des christlichen Gottesbegriffs, jenes „Monotono-Theismus“ (KSA 6, 185), dem Nietzsche mit schierer Verachtung begegnet, und nach Zwischenbemerkungen zum vergleichsweise günstig beurteilten Buddhismus kritische Erwägungen zur „Entstehung des Christenthums“ (KSA 6, 191) in seinem Verhältnis zur jüdischen Religion. Laufe schon die Geschichte Israels auf eine „Entnatürlichung der Natur-Werthe“ (KSA 6, 193) hinaus, so werde dieser Prozess im Christentum in seine äußerste Konsequenz getrieben mit dem Ergebnis einer unnatürlichen, widernatürlichen, gegen alle gesunden Strebungen des Menschen gerichteten nihilistischen Afterreligion. Schon Jesus, dem Nietzsche in seiner „Psychologie des Erlösers“ (KSA 6, 198) zumindest einige bemerkenswerte Charakterzüge zuerkennt (KSA 6, 202: „interessanteste(r) décadent“), sei im Grunde seiner Existenz von einem „Instinkt-Hass gegen die Realität“ (KSA 6, 200) bestimmt und damit das gerade Gegenteil jenes genialen Heros gewesen, als den ihn Ernst Renan in seinem „Vie de Jésus“ von 1863 gekennzeichnet habe. Ein Held stellt sich der Wirklichkeit, um sie gegebenenfalls aktiv zu bekämpfen; Jesus dagegen erduldet sie nur, um sein passives Dasein als Leidensmann am Kreuz zu beenden. Im Glauben an den zum österlichen Christus stilisierten Gekreuzigten, wie ihn Paulus (KSA 6, 215: „Gegensatz-Typus zum ‚frohen Botschafter‘, das Genie im Hass“) „mit dem Logiker-Cynismus eines Rabbiners“ (KSA 6, 218) propagiert habe, setze die jesuanische Passionsgeschichte fort und bestätige, dass „im Instinkt-Hass gegen jede Wirklichkeit das treibende, das einzig treibende Element in der Wurzel des Christenthums“ (KSA 6, 212) begründet liege. Mag man die urchristliche Realitätsverweigerung als bloße Krankheit ansehen; unter den Bedingungen einer zum Wissen gelangten und ihrer selbst bewussten Zeit sei daraus schiere Unanständigkeit geworden: „es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel.“ (KSA 6, 210) Nietzsche wendet sich mit Grauen ab: „was für eine Missgeburt von Falschheit muss der moderne Mensch sein, dass er sich … nicht schämt, Christ noch zu heissen! – – –“ (KSA 6, 211)
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Genug der ständigen Wiederholung des Gleichen. Was gesagt werden sollte, ist gesagt: „das Christenthum war bisher das grösste Unglück der Menschheit“ (KSA 6, 232); „Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloss…“ (KSA 6, 247). Warum? Weil der Christ „das Schwergewicht des Lebens nicht in’s Leben, sondern in’s ‚Jenseits‘ verlegt – in’s Nichts!“ (KSA 6, 217), ob nun dieses nihil Gott oder Seinsgrund oder wie auch immer heiße. Gebrochen werden könne der auf Gleichschaltung, Egalisierung und Allnihilierung ausgerichtete christliche Nihilismus nur durch Selbstanwendung seines Prinzips, also dadurch, dass man das Christentum an sich selbst zugrunde gehen lasse. „Cesare Borgia als Papst“ (KSA 6, 251): „das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange“ (ebd.), schreibt Nietzsche. Doch „(w)as geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance…“ (Ebd.) „Fluch auf das Christenthum“ (KSA 6,165): Kurz nach der Schmähschrift „Der Antichrist“, die er „am Tage des Heils, am ersten Tage des Jahres Eins ( – am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung)“ (KSA 6, 254) abgeschlossen hatte, begann Nietzsche mit autobiographisch orientierten Aufzeichnungen, deren Titel Joh 19, 5 entlehnt ist: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist.“ (KSA 6, 255) Auf ein Vorwort, das ein freiwilliges Hyperboreerleben „in Eis und Hochgebirge“ (KSA 6, 258) anmahnt, und nach einem elegisch-heiteren Prolog (KSA 6, 263: „Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr…“) folgen drei Abschnitte, in denen Nietzsche Auskunft gibt, warum er 1. so weise (KSA 6, 264–277) und 2. so klug (KSA 6, 278–297) ist und warum er 3. so gute Bücher schreibt (KSA 6, 298–308). Eine Rezension besagter Bücher durch ihren Autor in zehn Kapiteln unter weitgehender Einhaltung der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens schließt sich an, von den „vier Unzeitgemäßen“ (KSA 6, 316) bis zum „Fall Wagner“ (KSA 6, 357). Am Ende steht die Frage, „(w)arum ich ein Schicksal bin“ (KSA 6, 365). Bereits in der Besprechung der „Götzendämmerung“ wurde die Antwort „allen Ernstes“ (KSA 6, 355) so gegeben: „Niemand wusste vor mir den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an giebt es wieder Hoffnung, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Cultur – ich bin deren froher Botschafter… Eben damit bin ich auch ein Schicksal. – –“ (Ebd.) „– Hat man mich verstanden – Dionysos gegen den Gekreuzigten…“ (KSA 6, 374) Also sprach Friedrich Nietzsche, welche Sentenz im gegebenen Zusammenhang nur noch durch folgenden Spruch zu ergänzen ist: „Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? Du suchst Anhänger? – Suche Nullen! –“ (KSA 6, 61) An Nullen in Nietzsches Anhängerschaft, die Minuswerte bis an die Grenze des Indefiniten potenzierten, hatte es von Anfang an keinen Mangel. Dies spricht nicht notwendigerweise gegen den Meister, sollte aber von denen bedacht werden, die sich heute berufen fühlen, wie dieser mit dem Hammer zu
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philosophieren. In der Hand von machtwilligen Lehrlingen kann besagtes Gerät, wie man weiß, sehr großen Schaden anrichten.
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Sich vorweg Zu einigen Heideggerbezügen in Pannenbergs Identitäts- und Persontheorie
1.
Zwei Texte, ein Titel: Sein und Zeit
Im Frühjahr 1986 hielt Wolfhart Pannenberg am „Istituto Italiano per gli Studi Filosofici“ in Neapel eine Reihe von Vorträgen, die ihm nach eigenem Bekunden die Gelegenheit gaben, „die in meinen bisherigen Veröffentlichungen mehr am Rande oder implizit begegnenden Beziehungen zu philosophischen Themen zum Anlaß ausdrücklicher Erörterungen zu nehmen“1 . Die Texte sind 1988 unter dem Titel „Metaphysik und Gottesgedanke“ veröffentlicht worden. Der vorletzte ist mit der Überschrift „Sein und Zeit“ versehen und endet in einer intensiven Auseinandersetzung mit dem gleichnamigen Jahrhundertbuch Martin Heideggers von 1927. In ihr sind in Kritik und konstruktiver Affirmation die wesentlichen Gesichtspunkte zusammengefasst, die für Pannenbergs Rezeption der Heidegger’schen Daseinsanalytik bestimmend wurden und die zeigen, welche Bedeutung „Sein und Zeit“ für seinen eigenen anthropologischen Ansatz und insbesondere für das Verständnis von Ich, Selbst und Person haben. Um unter Konzentration auf die Identitätsproblematik und Personalitätstheorie einige der wichtigsten Bezugsaspekte zu benennen, so ist als erstes die von beiden Denkern geteilte Auffassung zu erwähnen, dass das Ich keine fertige Gegebenheit darstellt, sondern in einem Entstehungsprozess begriffen ist, aus dem seine personale Identität und sein Selbstsein resultieren. Diese Annahme wird u. a. gegen Kant geltend gemacht. Anders als dieser, so Pannenberg, bringe Heidegger kein „immer schon mit sich identisches Ich“2 in Anschlag und zwar weder „als den Ort des Zeitbewußtseins“ (61) noch in sonstiger Hinsicht. Das Sein des Ich werde von ihm vielmehr als zeitliches Dasein gedacht und nicht als eine ständige Größe von gleichsam zeitloser Selbigkeit. Eng verbunden mit diesem Hinweis ist des Weiteren Pannenbergs Zustimmung zu der Kritik, die Heidegger an der Kant’schen Verhältnisbestimmung von transzendentaler und empirischer Subjektivität übt, die mit innerer Konsequenz zur Annahme eines weltlosen Ich tendiere. Gegenüber
1 W. Pannenberg, Vorwort, in: ders. Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 5 f., hier: 5. 2 Ders., Sein und Zeit, in: ders., a.a.O., 52–65, hier: 61. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf.
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dieser bei Kant oder zumindest bei Kantadepten zu registrierende Tendenz sei zurecht geltend gemacht worden, dass Dasein konstitutiv durch In-der-Welt-Sein gekennzeichnet sei. Ins Konstruktive gewendet formierte sich die Kritik an der Vorstellung eines welttranszendenten Ichsubjekts von zeitlos-überzeitlicher Identität bei Heidegger zu dem Gedanken, dass das Dasein im Werden zu sich selbst begriffen sei und antizipativ existiere, woraus sich der Primat der Zukunft für sein Sein in der Zeit ergebe. Damit ist die für Pannenbergs Heideggerrezeption entscheidende Argumentationsfigur benannt, deren zentrale Bedeutung er stets und unbeschadet erheblicher Vorbehalte gegenüber ihrer konkreten Ausgestaltung betont hat. Heidegger habe recht, wenn er sage, „daß die Zukunft als Ursprung der Ganzheit des endlichen Seienden und dessen Sein als Antizipation seiner Zukunft zu denken“ (64) sei. Allererst von der Zukunft her werde die Identität des Seienden und namentlich desjenigen Seienden konstituiert, das Heidegger das daseinsmäßig Seiende nenne. Nur indem es antizipativ existiere und proleptisch auf Künftiges vorgreife, könne das Dasein recht eigentlich zu sich selbst und zur Ganzheit seines Seins gelangen. Diese Argumentation wird von Pannenberg strukturell affirmiert, wie jeder auch nur halbwegs Kundige schnell einsehen wird. Probleme ergeben sich in Bezug auf Heideggers Verhältnisbestimmung von daseinsmäßig und nichtdaseinsmäßig Seiendem, woraus Fragen bezüglich des Verhältnisses von Daseinsanalytik und Ontologie insgesamt hervorgehen. Damit ist ein weiterer für Pannenbergs Heideggerrezeption relevanter Problemaspekt benannt. Der wichtigste aber bezieht sich auf die Näherbestimmung des Zukunftsprimats sowie auf die Art und Weise proleptischer Antizipation, welche dem Dasein die Möglichkeit erschließen soll, als Ganzes zu sein. Dieses Ganzheitsvermögen soll sich nach Heidegger aus dem Sein des Daseins zum Tode ergeben. Denn im Vorlauf zum definitiven Ende seines eigenen begegne dem Dasein jenes Künftige, in dem es in seinem eigenen Seinkönnen dergestalt auf sich zukomme, dass ihm die Möglichkeit eigentlichen Existierens eröffnet werde. Dieser These folgt Pannenberg nicht nur nicht, auf sie ist vielmehr seine gesamte Heideggerkritik konzentriert. Abwegig sei die Idee, „daß von der Zukunft des eigenen Todes her das Dasein im ganzen in seiner Endlichkeit erschlossen“ (61) werde und zwar so, dass ihm hieraus die Möglichkeit eigentlichen Existierens entstehe. Davon könne nicht die Rede sein. Zwar leugnet Pannenberg keineswegs, dass dem menschlichen Dasein ein Wissen von seinem bevorstehenden Tod und ein Bewusstsein eigener Endlichkeit eigne, wenngleich er die in diesem Zusammenhang entwickelte Phänomenologie der Angst für theologisch nicht unbedenklich hält. Entschieden bestritten aber wird die These, dass aus einem wie auch immer verfassten Wissen um den eigenen Tod sich „das Ganze des Daseins als eines endlichen Seins“ (62) und die Möglichkeit eigentlichen Existierens erschließe, die es entschlossen und entschieden zu ergreifen gelte. „Wird das Dasein denn wirklich durch den Tod in seine Ganzheit gebracht?
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Wird nicht eher das Dasein im Tode abgebrochen, fragmentiert? Geht die mögliche Ganzheit des Daseins nicht immer hinaus über das, was der Tod aus ihm macht?“ (Ebd.) Die Antwort auf diese rhetorischen Fragen hatte Pannenberg bereits im Zusammenhang seiner sog. Kleinen Anthropologie gegeben, die aus Vorlesungen erwachsen ist, die er 1959/60 in Wuppertal und 1961 in Wuppertal und Mainz gehalten hat: „Die Auffassung Heideggers von einem möglichen Ganzsein des Menschen im verstehenden, ‚Vorlaufen‘ auf den eigenen Tod muß bezweifelt werden. Zwar gehört zum Menschen das Wissen, dass er selbst sterben muß. Insofern kann auch der Gedanke, daß mit dem Tode mein Dasein als Ganzes ausgestaltet ist (jedenfalls soweit es mein eigenes Verhältnis zu mir selbst betrifft), gefasst werden. Aber niemand kann in Gedanken an den eigenen Tod die Gesamtgestalt seines eigenen Daseins wahrnehmen.“3 Ohne religiöses Verhältnis zur Ewigkeit, in welcher die Zeit dessen, der das Zeitliche segnet, gut aufgehoben ist, bleibt die Ganzheit des Daseins unerreichbar. Sie kann daher, „wenn sie uns überhaupt zuteilwerden soll, … nur als ein Ereignis jenseits des Todes vorgestellt werden“4 . Durch den Vorlauf zum eigenen Tod wird dem Dasein nach Urteil Pannenbergs die Möglichkeit von Ganzheit und eigentlicher Existenz ebenso wenig erschlossen wie das Sein des nichtdaseinsmäßig Seienden Integrität durch Antizipation des Nichts erhält. An diesem Zentraleinwand gegen die in „Sein und Zeit“ entwickelte Seins- und Daseinsanalytik wird von der ersten bis zur letzten Äußerung zu Heidegger entschieden festgehalten. Indes spricht die besagte Fundamentalkritik nicht gegen die Relevanz, die der Heidegger´schen Existenzialphilosophie für Pannenbergs Anthropologiekonzept zukommt. Dass sie trotz kritischer Vorbehalte in hohem Maße gegeben ist, habe ich bereits mehrfach und unter verschiedenen Gesichtspunkten deutlich zu machen versucht.5 Ergänzt seien die einschlägigen
3 W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen (1962) 3 1968, 110. 4 A.a.O., 57. 5 Ausführlich dargestellt ist die Rezeption der Philosophie des frühen Heidegger und seines Jahrhundertbuchs durch Pannenberg in: G. Wenz, Geschichte versus Geschichtlichkeit. Pannenberg und der frühe Heidegger, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018 (Pannenberg-Studien 4), 269–345. Vgl. in diesem Zusammenhang ferner: ders., Von der Kunst, Hermeneutik zu verstehen. Zur Frage nach dem Sinn des Ganzen beim Heideggerschüler Gadamer und bei Pannenberg, in: a.a.O., 347–379, ders., Karl Löwith, Heideggerschüler und philosophischer Lehrer Pannenbergs, in: a.a.O., 381–403. Zum Besuch Pannenbergs und einiger Mitglieder seines Kreises in Heideggers Schwarzwaldhütte am 16. August 1952 vgl. ders., Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016 (Pannenberg-Studien 2), 15–70, bes.: 15–20 sowie ders., Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger, in: a.a.O., 71–87.
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Studien im gegebenen Zusammenhang durch einige erläuternde Explikationen zu Heideggerbezügen in einem der zentralsten Kapitel in Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von 1983, nämlich in demjenigen zur Identitätsproblematik, in dem Pannenberg seine Theorie von Ich, Selbst und Personalität entwickelt.6 Als primärer Referenztext fungiert allerdings nicht die Pannenberg´sche Anthropologie, sondern Heideggers „Sein und Zeit“ 7 , aus dessen Argumentationszusammenhang heraus der springende Punkt der Kritik Pannenbergs konstruktiv entwickelt werden soll. Dem Ich eignet nach Pannenberg keine abstrakte Selbigkeit und kein atomistischer Status, wurde gesagt; es ist, was es als es selbst ist, nicht losgelöst von all dem, was Welt heißt. In diesem Sinne stimmt Pannenberg Heideggers Fundamentalthese zu, wonach Dasein auf elementarste Weise In-der-Welt-sein sei. Mit der Annahme, dass das In-der-Welt-sein überhaupt als die Grundverfassung des Daseins zu gelten habe und der Selbst-Welt-Zusammenhang nicht aufgelöst werden könne, setzen entsprechend die nachfolgenden Überlegungen ein, um eine – bei allen Unterschieden, die sich schon hier zeigen – gemeinsame Ausgangsbasis für den Vergleich beider Denker zu gewinnen. (2.) Das In-der-Welt-sein des Daseins ist Heidegger zufolge unveräußerlich Mit- und Selbstsein. Diese Auffassung teilt auf seine Weise auch Pannenberg, sofern er einerseits betont, dass das Ich realiter durch seine Um- und Mitwelt geprägt und ausgebildet ist, ohne deshalb in seinem Selbstsein ein bloßes Epiphänomen soziokultureller Zusammenhänge zu sein. Zwar ist das Ich keine ständige, sondern eine im Werden begriffene Größe und als es selbst sozial-, menschheits- und weltgeschichtlich mediatisiert, mithin Sein in der Zeit. Gleichwohl ist das Ich zu identischem Selbstsein und dazu bestimmt, nicht im Man aufzugehen, sondern zur Unverwechselbarkeit des Jemeinigen zu gelangen. Die mannigfachen Probleme, die in der Thematik von Dasein und Selbstsein (3.) latent angelegt sind, treten offen dort zutage, wo Heidegger von der Sorge als dem Sein des Daseins, als deren ontologischer Sinn ihm die Zeitlichkeit gilt, und von dem möglichen Ganzsein des Daseins handelt, wie es sich durch den Vorlauf zum Tod erschließen soll (4.). Zum Vorschein kommen wesentliche Differenzen zwischen Heidegger´s Daseinsanalytik und Pannenbergs Lehre von Ich, Selbst und menschlichem Personsein in einer „Zweideutigkeit“ (Anthr., 205), die „Sein und
6 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive (= Anthr.), Göttingen 1983, 185–235, bes. 194 ff. 7 Zitiert wird Heideggers „Sein und Zeit“ nach der von Pannenberg benutzten 5. Auflage, Halle 1941 (Pannenberg – Bibliothek 02950), auf die sich die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen, sofern keine Zusatzangaben gemacht sind; Sperrungen werden durch Kursivierung wiedergegeben. (Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, in: ders., Gesamtausgabe [=GA]. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977. Die Korrespondenz zur Paginierung aller bisherigen Auflagen der Einzelausgabe ist durch Seitenmarginalien hergestellt.)
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Zeit“ nach Pannenbergs Urteil kennzeichnet, dass nämlich das aus der Zukunft seines Seins zu denkende Dasein „doch auch schon als das sich zu dieser Zukunft verhaltende beschrieben“ (ebd.) ist. Diese Zweideutigkeit wird durch Heideggers Scheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Dasein nicht beseitigt (5.). Wie Pannenberg sie zu beheben sucht, soll zum Schluss anhand einer frühen Schrift skizziert werden, die den Rahmen seines anthropologischen Konzepts in einsichtiger Weise absteckt und zugleich geeignet ist, die Ausrichtung von „Sein und Zeit“ auf eine universale Ontologie in Erinnerung zu bringen (6.).
2.
Dasein als In-der-Welt-sein
Hauptthema der vorbereitenden Fundamentalanalyse in Heideggers „Sein und Zeit“ ist das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins. Es gilt: „Dasein ist nie ‚zunächst‘ ein gleichsam in-seins-freies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine ‚Beziehung‘ zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt ist nur möglich, weil Dasein als In-der-Welt-sein ist wie es ist.“ (57) Sein phänomenaler Bestand wäre mithin durch den „Ansatz eines zunächst gegebenen Ich und Subjekts… von Grund aus verfehlt“ (46). Um einen solchen Fehlansatz zu vermeiden, muss In-der-Welt-sein als einheitliches Grundphänomen des Daseins analysiert werden. Zum Dasein als dem Sein des Seienden, das wir selbst je sind, gehört es wesenhaft, in der Welt zu sein. In-der-Welt-sein hat mithin als die Fundamentalstruktur des Daseins zu gelten, die es ursprünglich, ständig und in seiner Gänze bestimmt. Unter der Voraussetzung, man behält das je vorgängige Ganze im Blick, lassen sich konstituierende Momente des In-der-Welt-seins des Daseins phänomenologisch abheben und zum Gegenstand existenzialer Daseinsanalyse machen: Die Welt in ihrer Weltlichkeit, das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein, das In-Sein als solches. Das Sein des Daseins ist nicht anders da denn als Insein in der Welt. Dasein ist Insein: Dessen inne zu werden ist der Primärmodus des Erkennens, sofern Erkennen an sich selbst eine Seinsweise des Daseins als In-der-Welt-sein ist. Zur Selbsterkenntnis des Daseins gehört die Erkenntnis seines Seins in der Welt wesentlich hinzu. Erkannt ist das In-der-Welt-sein des Daseins indes nur, wenn es vom Vorhandensein von Gegenständen in der Welt und vom Vorkommen von Dingen in ihr kategorial unterschieden wird. Die Faktizität des Daseins in der Welt ist von grundlegend anderer Art als die Tatsächlichkeit ontischer Gegebenheiten. In ein Verhältnis zu ihnen und zu welthaften Entitäten überhaupt zu gelangen, setzt das In-der-Welt-sein des Daseins als elementares Grunddatum bereits voraus. Das faktische Gegebensein des Daseins in der Welt ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass von weltlichen Gegebenheiten überhaupt die Rede sein kann.
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Ohne Einsicht in die Grundgegebenheit des In-der-Welt-seins des Daseins gibt es keine Erkenntnis des Gegebenseins von weltlich Seiendem. Damit ist nicht behauptet, dass die Welt als Welt einseitig daseinsbedingt sei. Ist das Dasein doch an sich selbst durch Weltlichkeit, nämlich durch sein für es konstitutives Sein in der Welt bestimmt. Dasein existiert weltlich. Die Weltlichkeit der Daseinswelt ist aber nicht durch Verobjektivierung, sondern als ein Existenzial zu erfassen und zwar als ein apriorisches, das aller existenziellen Welterfahrung zu Grunde liegt. „Weltlich“ meint sonach „terminologisch eine Seinsart des Daseins und nie eine solche des ‚in‘ der Welt vorhandenen Seienden. Dieses nennen wir weltzugehörig oder innerweltlich.“ (65) Dasein ist im Umgang mit weltzugehörigem und innerweltlichem Seienden begriffen, dessen Seinsmodus als Zuhanden- bzw. Vorhandensein zu bestimmen ist, ohne je selbst ein Zuhandenes oder Vorhandenes zu sein. Auch seine ursprüngliche Welterkenntnis lässt sich epistemologisch nicht nach Maßgabe des Gegenstandsbewusstseins fassen, welches lediglich eine abgeleitete Weise des Weltumgangs darstellt. Aus dem genuinen Verhältnis des Daseins zu innerweltlichem, weltzugehörigem Seienden ergibt sich die Einsicht, dass dieses primär nicht gegenständlich-dinghaft, sondern, wie Heidegger sagt, als Zeug im Sinne von Sachen gegeben ist, die jeweils zur Hand sind und mit denen auf eine Weise umgegangen wird, welche die Griechen praxis nannten. Aus dem solchermaßen praktischen Umgang des weltlichen Daseins mit Sachzeug hinwiederum erschließt sich jene Umsicht, welche die Weltlichkeit der Welt als Umwelt und als den Raum erscheinen lässt, in dem es, das Dasein, existiert. Räumlichkeit ist, so gesehen, ein Existenzial und nicht lediglich eine apriorische Anschauungsform oder eine allumfassende Leerstelle, in der einzelne Entitäten nachträglich platziert und lokalisiert werden. Letztere Annahme ergibt sich nach Heidegger erst in der Folge einer Abstraktion, welche davon absieht, dass das Zuhandensein von Sachzeug dem Vorhandensein von objektiven Dingen ontologisch ebenso vorgeordnet ist wie das weltliche Da des Daseins der Vorstellung des Raumes als eines von allem entleerten Alls. Phänomenologischer Betrachtung zeigt sich der Weltraum konkret als die Sphäre, in der das Dasein da ist. Der Daseinsraum ist immer schon erfüllt mit zuhandenem Zeug, das innerweltlich begegnet, ohne vorweg dinghaft erfasst zu sein. Als vorhanden und gegenständlich bestimmbar wird das unthematisch gegebene Sachzeug erst dann wahrgenommen, wenn der selbstverständliche praktische Umgang mit ihm unterbrochen und eine Betrachtung aus theoretischer Distanz erzwungen wird. Erst dann mag die Welt als Inbegriff von res corporeae vel externae erscheinen, die dem Subjekt als res cogitans objektiv gegenüberstehen. Indes handelt es sich bei dem namentlich durch Descartes grundgelegten Weltbild der wissenschaftlich geprägten Welt nach Heideggers Urteil um eine abstrakte Vorstellung, welche die spezifische Weltlichkeit des Daseins notorisch verkennt, obwohl sie sie zu ihrer Voraussetzung hat. Denn konkret gegeben ist nur die Welt des Daseins als Welt
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des Zuhandenen, welches als das zur Hand seiende Umliegende je seinen Platz einnimmt und die Umgebung schafft, die den ursprünglichen Raum darstellt, in dem das Dasein anwest.8 Es wäre ein Kapitel für sich, das Thema der Weltlichkeit der Welt im Zusammenhang der Heidegger´schen Phänomenologie des In-der-Welt-seins des Daseins im Einzelnen zu erörtern. Darauf muss verzichtet werden. Vermerkt sei nur, dass Pannenberg die Entgegensetzung von existenzerschließender Mitteilung und objektivierender Aussage (vgl. etwa Anthr., 381) und die Herabsetzung der Aussage zu einem abkünftigen Modus der Sprache nicht teilt, was sowohl für das Weltverständnis als auch für das Verständnis dessen bedeutsam ist, was Ich, Selbst bzw. Dasein als Selbstsein genannt wird.
3.
Dasein und Selbstsein
Das Ich ist im Werden begriffen, die Identität von Ich und Selbst nicht etwas unmittelbar Gegebenes, sondern ein Künftiges. Allein durch Antizipation und proleptischen Vorgriff auf Kommendes, soll das Selbstbewusstsein des sich wissenden Ich und jene Gegenwart des Selbst im Ich Ereignis werden, die Pannenberg „Personalität“ (Anthr., 230) nennt. Das Person- und mithin das eigentliche Selbstsein des Ich werde verkannt und gleichsam um sich gebracht, wenn das Ich als vorhanden und „von vornherein fertig gegeben“ (Anthr., 205) veranschlagt wird. Es scheint zum Wesen des Ich zu gehören, dass es sich zu sich selbst verhält und ein Bewusstsein seiner selbst hat. Dennoch wäre es Pannenberg zufolge – in sich – verkehrt, Selbstbewusstsein als eine unmittelbare Gegebenheit oder Fertigkeit
8 Das räumliche Anwesen des Daseins ist anderer Art als die Präsenz des Zu- bzw. Vorhandenen. Denn erst von der Räumlichkeit des Daseinraumes her wird den Sachen und Dingen ihr jeweiliger Platz eingeräumt und die Stelle gewiesen, die ihnen zukommt. An-Näherung durch Ent-Fernung nennt Heidegger die Weisen, in denen das Dasein räumliche Orientierung schafft, um durch leibhafte Ausrichtung lokale Befindlichkeiten im Sinne von vorne und hinten, unten und oben, rechts und links festzustellen. – Die Raumlehre von „Sein und Zeit“, die dessen Verständnis von Zeitlichkeit grundiert, ergibt sich phänomenologisch aus der Umhaftigkeit der Umwelt als der Alltagswelt des Daseins, in der dieses zu existieren gewohnt ist, ohne sich seines Existierens recht eigentlich bewusst zu sein. „Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr ‚in’ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat. Der Raum befindet sich nicht im Subjekt, noch betrachtet dieses die Welt, ‚als ob’ sie in einem Raum sei, sondern das ontologisch wohlverstandene ‚Subjekt’, das Dasein, ist räumlich. Und weil das Dasein in der beschriebenen Weise räumlich ist, zeigt sich der Raum als Apriori. Dieser Titel besagt nicht so etwas wie vorgängige Zugehörigkeit zu einem zunächst noch weltlosen Subjekt, das einen Raum aus sich hinauswirft. Aprioriät besagt hier: Vorgängigkeit des Begegnens von Raum (als Gegend) im jeweiligen umweltlichen Begegnen des Zuhandenen.“ (111)
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zu beanspruchen. Statt fertig gegeben zu sein, ist das mit sich selbst identische Ich „Resultat eines Entstehungsprozesses“ (ebd.) in der Zeit. Ich ist keine zeitinvariante Größe. Wenn es sich als Sein in der Zeit versteht, wird es anzuerkennen haben, unveräußerlich In-der-Welt-sein zu sein. Mit dieser Einsicht ist nach Pannenberg die Scheidung zwischen einem empirischen und einem transzendentalen Ich unmöglich und „die transzendental-philosophische Vorstellung des Ich oder jedenfalls eine verbreitete Deutung der Vorstellung vom transzendentalen Subjekt“ (ebd.) als einer unmittelbar selbstidentischen und sich von sich aus verstehenden Größe obsolet geworden. Dies erkannt und aus seiner Erkenntnis philosophisch Schlüsse gezogen zu haben, wird Heidegger als Verdienst angerechnet. Heideggers Daseinsanalyse weise über die „Subjektphilosophie des transzendentalen Idealismus (hinaus), der das Ich und seine Identität als letzte transzendentale Grundlage aller Bewußtseinsleistungen behauptet. Die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich kann“, so wird hinzugefügt, „keine gänzliche Verselbstständlichung und Ablösung des ersteren vom letzteren vollziehen, ohne den Ausgangspunkt der transzendentalen Reflexion selber – das anschauende, vorstellende und urteilende Bewußtsein – unter den Füßen zu verlieren.“ (Anthr., 206) Heidegger hätte dieser These nicht widersprochen. Dies zieht die Frage nach sich, wie er das Dasein als Selbstsein verstanden wissen will. Lassen sich Berührungspunkte zur Anthropologie Pannenbergs aufzeigen, und wo genau trennen sich beider Wege? Das In-der-Welt-sein des Daseins ist räumlich verfasst, insofern ihm Umweltliches zugehört, das ihm zuhanden ist, hieß es. Das Dasein selbst ist weder ein Zuhandenes noch ein Vorhandenes, weil es im Unterschied zur Zeug- und Dingwelt für sich erschlossen ist und eben deshalb Welt hat, was für Sachzeug und Dinge nicht gilt. Sie gehören als innerweltlich Seiendes zum Dasein, ohne selbst Dasein zu haben wie dieses. Eine andere Daseinszugehörigkeit ist mit demjenigen angesprochen, was Heidegger Mitsein nennt. Obwohl vom Dasein signifikanterweise kein Plural gebildet werden kann, ist sein In-der-Welt-sein ohne das Mitdasein anderer, die anderes sind als Sachzeug und Dinge, nicht zu erfassen. Dasein ist nicht als das all-eine Dasein da, sondern als Mitsein, zu dem das Dasein anderer und zwar anderer von daseinsmäßigem Charakter hinzugehört. „Die Welt des Daseins gibt demnach Seiendes frei, das nicht nur von Zeug und Dingen überhaupt verschieden ist, sondern gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-seins ‚in‘ der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet. Dieses Seiende ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist so, wie das freigebende Dasein selbst – es ist auch und mit da.“ (118) Ist das Verhältnis des Daseins zum Zuhandenen und Vorhandenen durch umsichtiges Besorgen bestimmt, so dasjenige zum Mitdaseienden durch nachsichtige und rücksichtsvolle Fürsorge, wie Heidegger sagt.
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Das gewöhnliche Mitsein des Daseins, welches sein gewohntes In-der-Weltsein prägt, nennt Heidegger das „Man“, um mit dieser Wendung zugleich das alltägliche Selbstsein des Daseins zu umschreiben. „Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, d. h. eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.“ (129) Das Selbstsein des eigentlichen Selbst unterscheidet sich Heidegger zufolge vom Man-selbst nicht wie die Ausnahme von der Regel oder das Außerordentliche vom gewohnheitsmäßig Geordneten, es hat vielmehr als „eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials“ (130) zu gelten. Was aber die Selbigkeit des sein Selbstsein eigens ergreifenden Selbst betrifft, so legt Heidegger Wert auf die Feststellung, dass sie „von der Identität des in der Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich“ (ebd.) durch eine Kluft getrennt ist. Nach Heideggers Urteil verkennt die im Anschluss an Descartes ausgebildete Ich-Philosophie das Selbstsein des Selbst und seine Selbigkeit zwangsläufig, weil sie das In-der-Welt-sein des Daseins nicht angemessen zu erfassen vermag. Sie trennt, was ursprünglich zusammengehört: Selbst und Welt. Was die Modi des für das Dasein und sein Selbstsein konstitutiven In-der-Welt-seins betrifft, so erschließen sie sich einer existenzialen Analyse des Inseins als solchem, was nur möglich ist, weil das Dasein sich selbst erschlossen ist. Als charakteristische Momente der Daseinserschlossenheit erweisen sich Heidegger Befindlichkeit, Verstehen und Rede. In seiner jeweiligen Befindlichkeit, die mit Räumlichkeit des Existierens zusammenhängt, ohne in ihr aufzugehen, ist das Dasein so oder so gestimmt. Stimmung und Gefühl sind mithin Weisen daseinsmäßiger Welt- und Selbsterschlossenheit: Alles erscheint in einem trüben, heiteren, zum Strahlen bringenden etc. Licht. Mittels des Gestimmtseins, in dem es sich befindet, wird das Dasein von der Welt angegangen und auf verschiedene Weise betroffen, wobei die Betroffenheit von der Stimmung abhängt und umgekehrt. Nüchtern betrachtet stellt sich die Welt anders dar als in berauschter Stimmung, die einen rationalen Weltumgang allenfalls ansatzweise zulässt. Je nach Gefühlslage rührt die Welt unterschiedlich an. Die Furcht als ein wesentlicher Modus von Daseinsbefindlichkeit belegt dies, wobei als ihr innerer Abgrund die Angst fungiert, die sich vor nichts Bestimmtem, sondern vor dem Nihil in seiner Unbestimmtheit fürchtet und gerade so unheimliches Grauen erzeugt. Ein weiteres Strukturmoment des In-seins des Daseins und seiner weltlichen Existenz ist neben und im Verein mit der Befindlichkeit das Verstehen. Die Grundvoraussetzung aller Verständigkeit ist nach Heidegger darin zu suchen, dass das Dasein sich darauf versteht, da zu sein. Es hat die Möglichkeit, sich zu sich zu verhalten, woraus sich alle seine sonstigen Vermögen ergeben. Zwar findet sich das Dasein immer schon vor und ist daher in der Wahrnehmung seiner Möglichkeiten an die Faktizität seiner Existenz gebunden. Aber das existenzielle Geworfensein ins Dasein hebt die Möglichkeit nicht auf, dieses zu entwerfen.
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Alles Verstehen gründet in der Möglichkeit des Daseins zum Entwurf seiner selbst. Nur weil sich das Dasein darauf versteht, sich zu entwerfen, kann es überhaupt verstehen. Besteht die Ursprungsform des Verstehens des Daseins im Vertrautsein mit sich und seiner Welt, deren Bekanntschaft präreflexiv gegeben ist, so nimmt das Verständnis in Gestalt der Auslegung explizite Gestalt an, wobei nach Heidegger die Aussage nur ein Modus der Auslegung und zwar nicht der primäre, sondern ein abkünftiger ist. Damit ist zusammen mit Befindlichkeit und Verstehen bereits die Rede als der dritte Modus selbsterschlossener Weltexistenz des Daseins angesprochen und der Bezug zu Heideggers Sprachlehre hergestellt. Reden und Hören gehören zusammen, wie denn auch das Schweigen beredsam sein und etwas zur Sprache bringen kann. Es bestätigt sich Heidegger, dass die Aussage keineswegs die einzige Weise der Verständigung ist. Sie ist, wie er meint, vielmehr ein abgeleiteter und für den Fall seines vorrangigen Gebrauchs ein defizienter Sprachmodus. Zum Ausdruck verfallenen Daseins wird die Sprache dann, wenn sie zum Gerede verkommt. In der Folge depraviert das Verstehen zur Neugier, die statt an Ort und Stelle zu verweilen und beständige Einsicht zu nehmen in das Gegebene, nur Zerstreuung sucht und ohne Aufenthalt von einem zum anderen hetzt, um „überall und nirgends“ (173) zu sein. Das Gefühl universaler Zweideutigkeit stellt sich ein. Man weiß am Ende nicht mehr, was richtig und falsch, recht und unrecht, wahr oder verlogen ist. Als verkehrte Vollzüge des Daseins bestimmen Gerede, Neugier und Zweideutigkeit dessen existenzielle Faktizität. Faktisch und in seiner gewohnt-alltäglichen Verfassung befindet sich das Dasein in statu corruptionis, obwohl sein Fall ins Verkehrte aus dem Datum seines Geworfenseins in die weltliche Existenz nicht zu deduzieren ist. Dem Verfallensein des Daseins eignet keine zwingende Notwendigkeit. Es ist Konsequenz des durch seine Erschlossenheit ermöglichten Entschlusses, eigentliches Existieren schuldig zu bleiben, sich zu veräußern und verloren zu geben, was Daseinsbestimmung ist. Das Medium, diesen Zustand zu beenden, ist die Angst. Angst ist nach Heidegger die ausgezeichnete Befindlichkeit des Daseins, das durch sein eigenes Sein vor es selbst gebracht wird. Das Bewusstsein des Daseins um sich, welches seine existenziale Grundverfassung ausmacht, wird in der Angst manifest. In ihr wird das Dasein seiner selbst gewahr und dessen inne, was es mit seinem Sein in der Welt auf sich hat. Das Wovor der Angst, „die ihrerseits Furcht erst möglich macht“ (186), ist Heidegger zufolge „völlig unbestimmt“ (ebd.). Die Angst ängstigt sich nicht vor diesem oder jenem, sondern recht eigentlich vor nichts, vor dem Nichts und der möglichen Nichtigkeit des Seins in der Welt. Insofern gilt: „wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst.“ (187) Meint man im alltäglichen Bewusstsein das Dasein aus der gewohnten Welt und ihren üblichen Angelegenheiten heraus verstehen zu können, wird der Existenz in der Angst diese Möglichkeit entzogen, und das Dasein fällt ganz auf sich selbst
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zurück. „Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ein ‚solus ipse‘. Dieser existenziale ‚Solipsismus‘“, fügt Heidegger hinzu, „versetzt aber so wenig ein isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens, daß er das Dasein gerade in einem extremen Sinne vor seine Welt als Welt und damit es selbst vor sich selbst als In-der-Welt-sein bringt.“ (188) Es ist die Grundbefindlichkeit der Angst, so wurde gesagt, in der sich dem Dasein auf ausgezeichnete Weise seine Ganzheit erschließt. Steht es im Modus gewohnter Alltäglichkeit in Gefahr, sich in Gänze an seine Um- und Mitwelt zu veräußern und es selbst nur im uneigentlichen Sinne des Man-selbst zu sein, so bekommt es das Dasein in der Angst mit sich selbst dergestalt zu tun, dass ihm die Ausweglosigkeit seines In-der-Welt-seins aufgeht. Indem es sich ängstigt, wird ihm auf unmittelbare und nicht falsifizierbare Weise seine ungeteilte Gänze und mit dieser die Unvergleichlichkeit und Unvertretbarkeit seines individuellen Seins in der Welt offenbar. In der Unheimlichkeit der Angst, die aus dem alltäglich Gewohnten herausreißt, wird dem Dasein das schiere Daß seiner Existenz und die unausdenkbare Möglichkeit gewärtigt, nicht zu sein. Ohne solches Gewahrwerden kann das Dasein nicht zu eigentlichem, wahren Selbstsein vordringen. Mit Heidegger zu reden: „Die Angst benimmt … dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ‚Welt‘ und der öffentlichen Angelegenheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können.“ (187) In der Unheimlichkeit der Angst, in der es kein Zuhause zu finden gibt, fühlt sich das Dasein ganz auf sich gestellt, vereinzelt und allein: „solus ipse“ (188). In der Angst zeigt sich dem Dasein „in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion“ (191) an, ganz sich selbst überlassen und vor die Entscheidung gestellt zu sein, die Möglichkeit zu eigenem und eigentlichem Selbstsein zu ergreifen oder die Flucht vor sich ins „Man“ anzutreten, was ebenfalls eine Möglichkeit ist, aber eine sich selbst verwirkende. In der Hingabe an das „Man“ macht sich das Dasein durch Entzug seiner Eigentlichkeit selbst unmöglich. Mit der existenzialen Interpretation der Angst meint Heidegger einen phänomenalen Boden gewonnen zu haben „für die Beantwortung der leitenden Frage nach dem Sein der Ganzheit des Strukturganzen des Daseins“ (ebd.).
4.
Die Sorgestruktur des Daseins und der Vorlauf zum Tod
Als In-der-Welt-sein ist Dasein zugleich Selbstsein und zwar Sein eines Selbst, das für sich da ist und ein Bewusstsein des Daseins in seiner Jemeinigkeit hat. Weil dem nach Heidegger so ist, kann seine Phänomenologie des Daseins Pannenberg zufolge „als korrigierende Fortsetzung der klassischen philosophischen Analysen des Selbstbewußtseins“ (Anthr., 203) verstanden werden. Als „Theorie des Selbst-
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bewußtseins“ (ebd.) lässt sie sich allerdings nur lesen, wenn „die Zukunft, um die das Dasein besorgt ist und die es ,zu sein hat‘“ (ebd.), als seine eigene auszuweisen ist, mehr noch: wenn sich zeigen lässt, dass das aktuelle Sein des Daseins „fundiert ist aus der Zukunft, um die es ihm in seinem ,Zu-sein´ geht“ (ebd.). Die entscheidende Frage muss daher lauten: „Inwiefern geht es dem Dasein im Verhältnis zu den von ihm zu ergreifenden Möglichkeiten um sein eigenes Sein schlechthin?“ (ebd.). Nur wenn diese Frage zu beantworten und aufzuweisen ist, dass es sich beim Verhältnis zu Künftigem „um ein Verhältnis zum eigenen Selbstsein handelt, das mit dem gegenwärtig existierenden Dasein (und auch mit seiner Vergangenheit) in irgendeinem Sinne ,identisch´ ist“ (Anthr., 204), kann Heideggers Daseinsanalytik „als Beitrag zum Thema Selbstbewußtsein aufgefaßt werden“ (ebd.). Dasein ist Sein in der Zeit, wobei der Zukunft der Primat unter den Tempora zuzuerkennen ist. Dasein existiert im Aussein auf Künftiges. Wie ist es zu denken, dass im exzentrischen Vorgriff auf dieses das Dasein zu sich kommt und zu seinem eigenen, eigentlichen Selbstsein findet? Heidegger beantwortet diese Frage, indem er die Zukunft des Daseins mit dem Ende der Existenz assoziiert und den Vorlauf zum Tod mit der Erschließung der Möglichkeit eigentlichen Selbstseins verbindet, das – im Doppelsinn des Begriffs von Selbstbewusstsein – selbstbewusst seines Selbsts bewusst ist. Allein durch Antizipation der Zukunft des Todes und des Endens seiner Endlichkeit wird es dem Dasein ermöglicht, entschieden bei sich zu sein und entschlossen zu sich zu stehen. Diesem Argumentationszusammenhang ist nachzugehen und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Sorgestruktur des Daseins, weil sich hierauf einer der zentralen Einwände Pannenbergs gegenüber Heidegger bezieht. Massiv kritisiert wird dessen Versuch, Antizipation „ursprünglich von der Sorge her zu verstehen“ (Anthr., 510f., Anm. 129). Diese Kritik betrifft auch das Verständnis der „Angst als Paradigma für die von der Sorge um sich selber bestimmte Grundstruktur des menschlichen Daseins in der Welt“ (Anthr., 99). Pannenberg gibt folgende Begründung für seine Vorbehalte: „Grundstruktur des Lebensvollzuges kann die Sorge um sich selber… nur dann sein, wenn das Ich sich selbst als Inbegriff seines Daseins will, da also, wo der amor sui das Zentrum der menschlichen Existenz ist. Sofern wir von der Sorge um uns selbst, im Sinne der besorgenden Umsicht Heideggers, beherrscht werden, leben wir schon nicht mehr aus einem unser Verhalten tragenden Vertrauen, sondern im Streben nach Sicherung.“ (Anthr., 99f.) In der Angst, so Heidegger, wird manifest, dass das Dasein in Sorge um sich begründet ist. Sorge ist das Sein des Daseins, das sein Wesen ausmacht. Beschränkt sich Heidegger im Schlussteil des ersten Abschnittes von „Sein und Zeit“ im Wesentlichen darauf, die formale Struktur der Sorge (192: „Sich-vorweg-schon-sein-in[der-Welt-] als Sein-bei [innerweltlich begegnendem Seienden]“) zu kennzeichnen und diese Charakteristik mit Erwägungen zum Realitätsproblem und zum Problem der Beweisbarkeit der sog. Außenwelt, der Frage nach der Wahrheit und
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ihrem Begriff zu verbinden, so sucht er im zweiten Abschnitt das Phänomen der Sorge als der grundlegenden Seinsverfassung des Daseins an sich selbst so zu erfassen, dass ihr Sinn und damit der Sinn des Seins des Daseins erschlossen wird. Den Schlüssel hierzu bieten Analysen der existenzialen Phänomene Tod und Endlichkeit, Gewissen und Schuld, bis dann die „Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge“ (323) aufgewiesen wird. In dem diesbezüglichen Paragraphen wiederholt Heidegger die Strukturformel, mit der er die Sinnganzheit des Daseins als Sorge umschrieben hatte: „Sich-vorweg-schon-sein-in (einer Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).“ (327) Diese formale Charakteristik soll gleichermaßen die Existenzialität, die Faktizität und die Verfallenheit des Daseins, also seine Selbsthingabe an das Man, umfassen. Das Dasein existiert sich vorweg im Über-sich-hinaus seines Seinsentwurfs; es ist dabei faktisch immer schon da, ins Dasein geworfen und in der Welt. In der Welt da ist das Dasein dem innerweltlich begegnenden Seienden dergestalt hingegeben, dass es nicht eigentlich, sondern selbstvergessen bzw. so existiert, wie man als Manselbst existiert, bis die Unheimlichkeit der Angst die alltägliche Gewohnheit zerreißt und das Dasein vor sich selbst stellt, um dessen Sinnganzheit als Sorge manifest werden zu lassen. Nun geht es Heidegger darum, die ursprüngliche „Einheit der Ganzheit der Strukturmannigfaltigkeit“ (ebd.) freizulegen, die das Sorgephänomen in Gestalt ihrer konstitutiven Elemente Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit bestimmt. Sie liegt in der Zeitlichkeit begründet: „Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-sein-in … bekundet in sich die Gewesenheit. Das Sein-bei … wird ermöglicht im Gegenwärtigen.“ (Ebd.) Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft will Heidegger dabei nicht zeithaft im temporalen Sinne von jetzt, nicht mehr bzw. noch nicht jetzt verstehen. Die Zeitlichkeit, in welcher die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt, lässt sich nicht auf ein chronologisches Maß festlegen, das sich allererst aus ihr ergeben soll, sondern enthüllt sich als der Sinn der Sorge, indem sie, wie Heidegger sagt, „zeitigt und zwar mögliche Weisen ihrer selbst. Diese ermöglichen die Mannigfaltigkeit der Seinsmodi des Daseins, vor allem die Grundmöglichkeit der eigentlichen und uneigentlichen Existenz.“ (328) Was die von der Zeitlichkeit des Daseins gezeitigten Modi der Zeit angeht, so erkennt Heidegger der Zukunft insofern Priorität zu, als das, wie es heißt, in ihr „gründende Sichentwerfen auf das ‚Umwillen seiner selbst‘… ein Wesenscharakter der Existenzialität“ (327) sei. Unter Zukunft ist dabei primär nicht chronologisch Ausstehendes zu verstehen, „sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt“ (325). Wie aber die Existenzialität des Daseins dessen Faktizität in Anspruch nimmt, so setzt die Zukunft die Vergangenheit als die Stetigkeit jenes Gewesenseins des Daseins voraus, ohne die dessen Wesen nicht zu denken ist; das Dasein, das – sich vorweg – in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt, ist immer „schon-sein-in (einer Welt)“ (327) und insofern stets gewesen. Im Gegenwärtigen hinwiederum vollzieht sich das „Sein-bei (innerweltlich begeg-
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nendem Seienden)“ (ebd.), wie es sich in dem als Verfallenheit gekennzeichneten, aber dadurch nicht einfach abqualifizierten Zustand gewohnter Alltäglichkeit in der Weise uneigentlichen Existierens manifestiert. Die Möglichkeit eigentlichen Existierens meldet sich, wie gesagt, in der Angst, in der das Dasein der Endlichkeit seiner Existenz und damit dessen gewahr wird, dass seine Zeit nicht endlos fortgeht, sondern endet. Indem sich das Dasein ängstigt, wird ihm die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge, die sein Sein bestimmt, enthüllt und offenbar, dass ihm der Tod als seine Zukunft bevorsteht. Im Tod kommt, wenn man so will, die endende Endlichkeit seines Existierens auf das Dasein zu, und die „Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit“ (329) seiner selbst wird ihm präsent. Am Verhältnis des Daseins zur Möglichkeit seiner schlechthinnigen Unmöglichkeit entscheidet sich nach Heidegger, ob es eigentlich existieren oder in der uneigentlichen Existenz verharren möchte, der es im Alltag verfallen ist. Die Möglichkeit zu beidem denkt Heidegger dem Dasein zu, auch wenn er das entschlossene Ergreifen der Existenz im Angesicht ihres bevorstehenden Endes und Nichtmehrdaseins als außerordentlich und als die Ausnahme von der Regel qualifiziert. Um den schwierigen Argumentationsgang wiederholend zusammenzufassen: Das Sein des Daseins ist Sorge, der ontologische Sinn der Sorge die Zeitlichkeit, als deren Primärgestalt hinwiederum die Zukunft zu gelten hat, in welcher auf die Existenz das mögliche Nichts ihrer selbst zukommt. Die Möglichkeit eigenen Nichtseins des Daseins gilt es entschlossen wahrzunehmen, um eigentliches Existieren zu erschließen und wahrhaftes Seinkönnen des Daseins möglich zu machen. Erst im mutigen Verhalten zur eigenen Nichtigkeit kommt das Dasein wahrhaft zu sich selbst, um eigentlich es selbst zu sein und sein Selbstsein in unverwechselbarer Einmaligkeit zu realisieren. Zu Selbst-ständigkeit und einer Selbigkeit, die individuelle Identität genannt zu werden verdient, gelangt das Dasein Heidegger zufolge nur durch entschiedenes Ergreifen eigener Endlichkeit und entschlossenes Vorlaufen zum Tode. Nur als Sein-zum-Ende ist das Dasein, was zu sein es bestimmt ist, und nur in Affirmation seiner Endlichkeit gelangt es zu jener Vollendung, die es in seiner Vor-läufigkeit antizipiert. Dasein ist stetig auf sich selbst bezogen, sodass gilt: Dasein ist Selbstsein. Dies schließt nicht aus, dass im üblichen, gewohnten und alltäglichen Fall des Existierens das Dasein, wenn man so will, sein Dasein selbstvergessen und weltverfallen fristet. Es ist dann der Mit- und Umwelt dergestalt hingegeben, dass es recht eigentlich nicht bei sich, sondern beim Anderen ist, worin es sich versenkt. Wahrhaft zu sich und zur Eigentlichkeit seiner Existenz kommt das Dasein Heidegger zufolge nur, wenn es sich selbst angesichts seiner in der Angst offenbaren Endlichkeit, die bevorstehendes Enden in sich schließt, entschlossen ergreift, um entschieden es selbst zu sein und sonst nichts. In dem berühmten Paragraphen über den „Existenziale(n) Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode“ (260) hat Heidegger dargelegt, was er unter
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jenem entschiedenen Existieren zu verstehen gedenkt, das im antizipatorischen Vorgriff auf sein Ende und in proleptischer Wahrnehmung seiner Nichtexistenz in affirmativer Entschlossenheit zu sich selbst steht. Der Paragraph bildet den Skopus von Erörterungen zum möglichen Ganzsein des Daseins, die mit der Feststellung scheinbarer Unmöglichkeit einer ontologischen Erfassung und Bestimmung des daseinsmäßigen Ganzseins beginnen. Dasein ist, wenn es ist, nie abgeschlossen und ganz; sobald es aber ganz und abgeschlossen ist, ist Schluss mit ihm und das Dasein nicht mehr da. So scheint es unmöglich zu sein, das Ganzsein des Daseins zu erfassen und zu bestimmen. Denn um dies zu leisten, müsste das Dasein im Status seines Beendetseins erfasst und bestimmt werden, was in sich unmöglich ist, da das Dasein die Bedingung der Möglichkeit allen Verstehens darstellt, das Nichtsein des Daseins mithin nicht verstehbar ist. Nun könnte man auf den Gedanken verfallen, das Ende des Daseins und mithin sein Nichtsein sei vermöge seines Mitseincharakters am Ende des Daseins Mitseiender ablesbar. Indes ist dieser Gedanke nach Heidegger ein Indiz der Verfallenheit des Daseins, den zu denken zwar üblich und gewohnt ist, aber im Sinne daseinsvergessener Hingabe ans Man. Zwar sind Sterben und Tod anderer, worin deren Dasein zu Ende geht und Schluss mit ihnen ist, objektiv wahrnehmbar, aber eben nur in gegenständlicher Äußerlichkeit und Uneigentlichkeit, die das eigentliche Dasein im Kern nicht betreffen, da das Sterben und der Tod auch im Falle der Allernächsten deren Ende und nicht das eigene ist, welches das konstitutiv durch Jemeinigkeit ausgezeichnete Dasein beendet und insofern abgeschlossen und ganz macht. Der Daseinsverlust, den wir tatsächlich erleiden, wenn nahestehende Mitdaseiende nicht mehr da sind, ist ein Verlust im Dasein, aber nicht der Verlust des Daseins, welches die Voraussetzung dafür ist, den Verlust anderer überhaupt wahrzunehmen. Die Wahrnehmung des Endes und des Abschlusses des Lebens von Mitmenschen kann selbst bei höchstem Mitgefühl keinen eigentlichen Begriff vom Nichtdasein und mithin vom eigenen Tod vermitteln. Er steht immer aus und wenn er Gegenwart wird, ist das Dasein nicht mehr da. Schlicht gesagt: Den eigenen Tod hat noch keiner erlebt. Daher scheint es in sich unmöglich zu sein, ihn und damit das beendete, zum Schluss und zu seiner Gänze gelangte Dasein daseinsmäßig zu erfassen. Wie das Dasein existenzial durch Jemeinigkeit gekennzeichnet ist, so stellt sein Ende keine transmissible Angelegenheit dar, die gegebenenfalls stellvertretend übernommen werden könnte. Der Tod, in dem das Dasein endet, ist strictissime durch Unvertretbarkeit charakterisiert. Die Angst weiß darum und zwar auf nicht falsifizierbare Weise, die jedem bewussten Wissen vorhergeht. Als Nichtigkeitsangst muss sie von der Furcht, die auf einen bestimmten Gegenstand bezogen ist, elementar unterschieden werden. Mit der Furcht vor dem Ableben und seinen Begleitumständen darf die Todesangst daher nicht verwechselt werden. Zwar mag sie von Lebenskrisen verursacht sein, aber im Grunde bedarf sie keiner Ursache,
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weil in ihr nichts anderes zur Wirkung kommt als das abgründige Innesein möglichen Nichtseins des eigenen Daseins. In der Todesangst wird das Dasein seiner Endlichkeit und dessen gewahr, dass es ein Ende mit ihm haben muss. Wenn es Schluss mit ihm ist, wird das Dasein abgeschlossen und insofern ganz, aber zugleich nicht mehr da sein, also kein Dasein, sondern nicht mehr sein. Die Todesangst erweist sich somit als Nihilismusangst, die sich vor dem Nichts ängstigt, welches dem Dasein nicht nur ein äußeres Ende zu setzen, sondern es von innen heraus zu zersetzen und auf eine gleichsam retroaktive Weise zu nihilieren droht dergestalt, dass es scheint, als sei es von Anfang an und insgesamt nichtig und nichts gewesen. Wird das Dasein aus dem gewohnten „Man“ herausgerissen und in Todesangst versetzt, dann ist es ganz allein und nur sich selbst ausgesetzt, um alternativlos als solus ipse zu existieren. Dies ist nach Heidegger die Situation der Entscheidung, in der das Dasein vor sich selbst gestellt ist und von sich aus darüber zu befinden hat, entweder die Angst zu fliehen, sich ins „Man“ zurückfallen zu lassen und uneigentlich zu existieren oder die Angst Angst sein zu lassen, ihr zu trotzen und das endliche Dasein in Affirmation seines Endens in mutiger Entschlossenheit zu ergreifen und aus ihm zu machen, was möglich ist. Worin gründet dieser Daseinsmut zum Sein unter den Bedingungen bevorstehenden Nichtseins? Antwort: In nichts als dem Entschluss und einer Entschiedenheit, die alle Indifferenz einschließlich derjenigen eines liberum arbitrium hinter sich lässt, um eigentlich zu existieren und darin wahrhaft frei zu sein. Mit Heidegger zu reden: „Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.“ (263) Die äußerste Möglichkeit des Daseins besteht Heidegger zufolge in der Freiheit zum Tode. Wird sie entschlossen ergriffen, was gerade nicht im Suizid, sondern in entschiedener Affirmation des Daseins geschieht, dann gelangt das Dasein zur eigentlichen Existenz und existiert wahrhaft. Wenn es ums Ganze geht, entscheidet sich die Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit der Existenz. Mithin gehört die Frage nach der „Ganzheit des eigenen Daseins“ (Anthr., 227) untrennbar zusammen mit derjenigen „nach dem eigentlichen Selbstsein“ (ebd.).
5.
Eigentliches und uneigentliches Dasein
Ist Wahrheit phänomenologisch betrachtet im ursprünglichsten Sinne Erschlossenheit des Daseins, so wird dessen Wahrhaftigkeit und Freiheit, die es von unwahrem Existieren scheidet, in der Entschlossenheit zu sich offenbar. Auch was Heidegger über die existenzial-ontologischen Fundamente des Gewissens, seinen Rufcharakter sowie über Anruf, Verstehen und Schuld ausführt, gehört in diesen Kontext, der umschließt, was traditionell theoretische und praktische Vernunft heißt und beider Differenz aufzuheben bestimmt ist. „Die Entschlossenheit ist ein ausgezeichneter Modus der Erschlossenheit des Daseins.“ (297) Mit ihr ist „die ursprünglichste,
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weil eigentliche Wahrheit des Daseins gewonnen“ (ebd.). Dies ist deshalb der Fall, weil sich in, mit und unter der Entschlossenheit eigentliches Seinkönnen sowohl als vom Dasein gefordert als auch als daseinsmäßig gegebene Möglichkeit erweist. „Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen.“ (268) Damit ist nicht nur gesagt, dass das Dasein in der Entschlossenheit für sich allein demjenigen folgt, was es sich selbst schuldig ist, sondern zugleich behauptet, dass das Vermögen zu eigentlichem Existieren nirgends als im Dasein selbst gelegen ist. Was über das Dasein kommt, wenn es sich zu sich selbst entschließt, kommt aus ihm, aber aus einem Aus, welches das Dasein über sich hinausweist. Es ist nach Heidegger das Gewissen, was beides in einem bezeugt.9 Ist das uneigentliche, dem Man verfallene Dasein stets unganz und nie ganz es selbst, so treten Eigentlichkeit und Ganzheit der Existenz im existenziellen Sein zum Tode zu Tage, das durch existenziale Analyse ans Licht zu bringen nach Heidegger die Voraussetzung dafür ist, das Sein des Daseins als dasjenige zu erfassen, was es ursprünglich ist: Zeitlichkeit. Im existenzialen Begriff der Zeitlichkeit ist derjenige der Sterblichkeit – und der Geburtlichkeit wie man hinzufügen darf – konstitutiv mitgesetzt. Auf die Welt gekommen und in der Welt seiend ist das Dasein in seiner Jemeinigkeit Sein zum Tode, wobei der Tod nicht nur den Endpunkt des Daseins markiert, sondern ihm von Anfang an zugehört, um sein gesamtes Beginnen zu prägen. Er „ist als Ende des Daseins im Sein dieses Seienden zu seinem Ende“ (259): „Seiend zu seinem Tode, stirbt es faktisch und zwar ständig, solange es nicht zu seinem Ableben gekommen ist.“ (Ebd.) Dasein ist stets Sein zum Ende. Im Tode steht es sich selbst bevor und zwar in seinem Ureigensten. Von diesem Ausstand aus, der seine Zukunft ausmacht, bestimmen sich die Herkunft des Dasein sowie seine Gegenwart als die Modi der Zeit, in der sich, wie Heidegger sagt, die Zeitlichkeit zeitigt und als der ontologische Sinn der Sorge als des Seins des Daseins erweist. Wie die Weisen der Zeit, denen ihre als Sich-vorweg-Sein, als Schon-sein-in und als Sein-bei umschriebene
9 Im Ruf des Gewissens bezeugt sich nach Heidegger daseinsmäßig die Möglichkeit eigentlichen Seins. Wird der Gewissensruf gehört und als Anruf des Daseins auf sein ureigenstes Selbstseinkönnen verstanden, dann erweist sich das Dasein als dergestalt erschlossen, dass es entschlossen zu sich selbst steht und sich entschieden darauf versteht, wahrhaft und eigentlich es selbst zu sein. Die Stimme des Gewissens, in der das Dasein, wie Heidegger sagt, sich selbst ruft, stellt vor die Entscheidung, sie zu hören oder zu überhören, um entweder man selbst oder nicht man selbst zu sein, kurzum: entschieden sein zu wollen oder nicht. Entscheidet sich das Dasein gewissenhaft für die Entschiedenheit, um entschlossen es selbst zu sein, dann hat es das wahllos gegebene „Man“ hinter sich gelassen, die Wahl gewählt und willentlich eingestimmt in die Bestimmung des Daseins zum eigentlichen Sein. Diese Willenswahl zu treffen ist sich das Dasein selbst schuldig; sie schuldig zu bleiben macht seine Urschuld aus, in der es sich in seiner Alltagsbefindlichkeit immer schon vorfindet. Alle Einzelverschuldungen ergeben sich aus dieser abgründigen Grundschuld, in der sich die Verfallenheit des Daseins manifestiert.
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trinitarische Struktur entspricht, findet die Sorge ihre ursprüngliche Einheit in der Zeitlichkeit des Daseins, in welcher ihr Sinn und damit derjenige des Daseins überhaupt begriffen ist. Das gilt auch für das Selbstsein des Daseins, wie Heidegger u. a. in dem Paragraphen über „Sorge und Selbstheit“ (316) verdeutlicht. Gerade die ursprüngliche Einheit des Selbstseins des Daseins liegt in der Zeitlichkeit und nicht etwa in einem zeitinvarianten Ich begründet. Ist doch das Ich es selbst nur in der Zeit. Aus diesem Grund kann sein Sein nach Heidegger nicht im Sinne der Selbigkeit eines immer schon gegebenen, also weder als Substanz einer res cogitans noch als beständiges, den Lauf der Zeit überdauerndes Subjekt aufgefasst werden. Die Selbstheit des Ich und die Ichheit des Selbst werden gleichermaßen verkannt, wenn sie von der Zeitlichkeit des Daseins abgekoppelt werden. Ich ist nie zeitlos es selbst. Sein Selbstsein vollzieht sich in der Zeit, weil es Inder-Welt-sein ist und weil sich im Ich-sagen „das Dasein als in-der-Welt-sein“ (321) ausspricht und nicht ein Subjekt, das von der Welterfahrung abgehoben werden könnte – und sei es auch nur, um auf transzendentale Weise zur Bedingung ihrer Möglichkeit erklärt zu werden. Weil aber das daseinsmäßige Selbstsein nie ohne Welt zu denken ist, ist es Sein in der Zeit. Eigentliches Sein in der Zeit erlangt das Dasein, indem es entschlossen sich selbst und sein Selbstsein als ein zeitliches ergreift, statt auf einem Ich = Ich zu insistieren, wodurch es zwangsläufig sich selbst verfehlt und seine Selbstständigkeit einbüßt statt sie zu gewinnen. Selbstständig und eigentliches Selbst ist das Dasein nicht, indem es ein ständiges Ichsein beansprucht, sondern in der Weise der Vor-läufigkeit, des Seins zum Tode und der Entschlossenheit, seine Zeitlichkeit zu segnen und zwar nicht erst, wenn es an der Zeit ist, sondern zu allen Zeiten des Lebens. Es fällt nicht schwer, Berührungspunkte zwischen Heideggers und Pannenbergs Argumentationen aufzuweisen, wenn man die Mühe nicht scheut, sich in beide zu vertiefen. „Von der Zukunft her erschließt sich das bleibende Wesen der Dinge, weil erst die Zukunft entscheidet, was wahrhaft beständig ist.“ (Anthr., 510f.) Dieser Pannenberg´sche Grundsatz könnte auch von Heidegger formuliert sein. Es überrascht daher nicht, dass sich Parallelen zwischen der Daseinsanalytik des Philosophen und der Anthropologie des Theologen aufzeigen lassen und zwar nachgerade in dem für Pannenbergs Lehre vom Menschen zentralen Themenfeld von Ich, Selbst und Person. Personalität ist Pannenberg zufolge zu bestimmen „als Gegenwart des Selbst im Ich“ (Anthr., 230). Ein Ich sind wir stets, zum Selbst, das zu sein wir bestimmt sind, und zu seiner entsprechenden Identität sind wir noch unterwegs. „Dennoch sind wir auch im gegenwärtigen Augenblick schon irgendwie wir selbst: Insofern sind wir Personen. Das Wort ‚Person‘ bezieht das die Gegenwart des Ich übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossen individuellen Lebensgeschichte auf den gegenwärtigen Augenblick des Ich. Person ist die Gegenwart des Selbst im
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Augenblick des Ich, in der Beanspruchung dieses Ich durch unser wahrhaftes Selbst und im vorwegnehmenden Bewußtsein unserer Identität.“ (Anthr., 233) Nach Heidegger soll die Vorwegnahme, durch die dem Dasein seine Ganzheit und sein eigentliches Selbstsein gegenwärtig wird, in der Weise des Vorlaufs zum Tode und der Antizipation des eigenen Endes statthaben. Nicht dass der Philosoph das Problem verkennen würde, das an dieser Stelle offenkundig besteht: Ist das Dasein da, ist es nicht ganz; ist es ganz, dann ist es nicht mehr da. Pannenberg zitiert einige der einschlägigen Stellen (vgl. Anthr., 231) und markiert zugleich den Ausweg, den Heidegger aus der bestehenden Aporie gefunden zu haben glaubt: Im antizipativen Wissen um den eigenen Tod sei die Möglichkeit angelegt, sich der Ganzheit des Daseins zu vergewissern und zu eigentlichem Selbstsein zu gelangen. Diese Vergewisserung und der Appell zur Eigentlichkeit erfolge konkret durch das Gewissen, in welchem das Dasein sich selbst rufe und sich dazu bestimme, rufverstehend seiner eigensten Existenzmöglichkeit gehorsam und hörig zu sein, so dass gilt: „Es hat sich selbst gewählt“ (287). Pannenberg kennt und zitiert die entsprechenden Passagen, kommt aber zu dem Schluss: „Doch wie das Selbst des Gewissensrufes mit dem vorlaufenden Wissen vom eigenen Tode und der in ihm erreichten Ganzheit des Daseins verbunden ist, bleibt dunkel.“ (Anthr., 231) Vermutlich schon bei der Erstlektüre von „Sein und Zeit“ hatte Pannenberg zum berühmten § 53 von „Sein und Zeit“ und dem dort entwickelten existenzialen Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode handschriftlich am Rand notiert: „Das Ganzsein des Daseins gibt es nur als sein Sein in der Erkenntnis Gottes … im Glauben.“10 Der Tod hingegen „bringt das Leben nicht in seine Ganzheit, sondern bricht es ab, zerstört seine Ganzheit“ (Anthr., 136).
6.
Ankunft des Zukünftigen
Sein und Zeit: zwei Texte, ein Titel – nach Maßgabe des Vortrags, den Pannenberg 1986 in Neapel zum Thema gehalten hat, ist Heidegger durch die Art und Weise der Durchführung seiner Daseinsanalyse im berühmten Werk von 1927 von dem ursprünglich intendierten Weg abgebracht worden, Existenz nicht nur als exzentrisch verfasst, sondern als in der Externität des Seins selbst gegründet zu erfassen. Der Meisterphilosoph habe dies selbst erkannt und die Notwendigkeit einer „Kehre“ eingesehen, die er schließlich auch vollzogen habe. Wohin sie ihn und
10 Zu Heideggers Bestimmung des Gewissensrufes als eines Rufes, mit dem sich das Dasein selber ruft, sowie zu seinem Verständnis dessen, was das Dasein sich selbst schuldig ist, vgl. Anthr., 293–295 sowie 300f.; zur Stimmung, in der das Ganze des Daseins gefühlsmäßig erschlossen ist, vgl. Anthr. 243, Anm. 28 sowie 244, Anm. 29: Genauer gekennzeichnet wird der Stimmungsbegriff Heideggers sowie der „Vorrang der Angst“ (Anthr., 248) in der Analyse der Stimmungen in Anthr. 247–249.
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sein Denken führte, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Es soll genügen, den Punkt identifiziert zu haben, an dem die „Kehre“ erfolgte bzw. von dem her die Nötigung zu ihr ausging. Zum Schluss sei nur noch eine Lektüreempfehlung gegeben und auf einen frühen Vortrag Pannenbergs verwiesen, dessen Titel „Erscheinung als Ankunft des Zukünftigen“ auch von Heidegger stammen könnte. Das Wort „Erscheinung“ ist zweideutig. „Einerseits bedeutet Erscheinen soviel wie Dasein. Andererseits verweist die Erscheinung, als solche verstanden, auf ein sie übersteigendes Sein.“11 Beheben lässt sich die Ambivalenz des Erscheinungsbegriffs nur, wenn man das existente Dasein auf seine Wesensbestimmung ausrichtet und seine zeitliche Erscheinung als Ankunft des Zukünftigen versteht, in dem es seine Vollendung finden wird. Wie dieser Zusammenhang präzise zu denken ist, hat Pannenberg in dem erwähnten Vortrag dargelegt, den er am 2. November 1965 in Basel auf Einladung der dortigen Philosophischen Gesellschaft gehalten hat. Barth spielte bei der Entwicklung der Argumentationen eine zentrale Rolle, allerdings nicht Karl, sondern Karls Bruder Heinrich Barth, der 1947/59 in zwei Bänden eine großangelegte Philosophie der Erscheinung publizierte12 , deren theologisches Anliegen unschwer zu erkennen ist. Heinrich Barths Phänomenologie erweist sich der Heidegger´schen nach Pannenberg darin verbunden, dass sie Erscheinen als Dasein allem Wassein gegenüber erkenntnistheoretisch priorisiert. Zugleich werde an einer Differenz von Erscheinung und Sein bzw. Wesen insofern festgehalten, als den Phänomenen Ereignisund Widerfahrnischarakter zuzuerkennen sei. Entsprechend verweist das Dasein nach Barths Urteil auf ein Sein und Wesen, welches es transzendiert. Im Verhältnis von Sein bzw. Wesen und Erscheinung zeigen sich mithin Identität und Differenz als zusammengehörig. Pannenberg bringt diesen Befund mit der Zeitlichkeit des besagten Verhältnisses in Verbindung, um Erscheinung als Ankunft des Zukünftigen zu deuten, welches ihr Wesen bestimmt. Heideggerbezüge lassen sich unschwer herstellen, wobei für Pannenbergs Konzeption die „Kehre“, deren Vollzug dem Heidegger von „Sein und Zeit“ noch bevorsteht, als bereits vollzogen in Anschlag zu bringen ist. Wohlgemerkt: Pannenbergs Feststellung, dass die sog. Kehre dem Heidegger von 1927 noch bevorsteht, leugnet nicht, dass dieser damals schon intendierte, das Dasein als seins- und wesenskonstituiert und die Zukunft der Existenz als Ereignis mit Widerfahrnischarakter zu denken. Tatsächlich ist von ihm genau dies in einer Selbstanzeige von „Sein und Zeit“ explizit zum Ausdruck gebracht worden. Ziel des auf Fortsetzung angelegten Buches sei es, so heißt es dort, „das Sein des 11 W. Pannenberg, Erscheinung als Ankunft des Zukünftigen, in: ders., Theologie und Reich Gottes, Gütersloh 1971, 79–91, hier: 79f. 12 H. Barth, Philosophie der Erscheinung. Eine Problemgeschichte. Bd. 1: Altertum, Basel/ Stuttgart 1947; Bd. 2: Neuzeit, Basel/ Stuttgart 1959.
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Seienden zu verstehen und auf Begriffe zu bringen“ (GA I/14, 125) und zwar durch die „kategoriale Auslegung des Seinsverständnisses“ (ebd.). Die Daseinsanalytik war also von vorneherein auf das Verständnis von Sein und Sinn des Seins als solchem und damit auf eine universale Ontologie hingeordnet. Alles weitere ergibt sich aus dieser Programmatik. Für das ontologische Vorverständnis dessen, worauf sich die Frage nach dem Sein und seinem Sinn richtet, kam, wie sich zeigte, der Analyse des Seinsmodus desjenigen Seienden, das wir jeweils selbst sind, fundamentalontologische Bedeutung zu: Dem Dasein in seiner Jemeinigkeit (vgl. 42 f.). Dies ist deshalb der Fall, weil „das Seiende vom Charakter des Daseins“ (8), wie es in der Einleitung von „Sein und Zeit“ heißt, „zur Seinsfrage selbst einen – vielleicht sogar ausgezeichneten – Bezug“ (ebd.) hat. Anders gesagt: „Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, dass es ontologisch ist.“ (12) Dasein als das Sein des Seienden, das wir selbst je sind, existiert und versteht sich, wie Heidegger sagt, „immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein“ (ebd.): „Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. Die Frage der Existenz ist immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen. Das hierbei führende Verständnis seiner selbst nennen wir das existenzielle.“ (Ebd.) Von Existenz bzw. von Existenzialität hinwiederum spricht Heidegger in Bezug auf den Zusammenhang der Strukturen, die das existierende Dasein elementar und grundlegend prägen. Fundamentaltheologische Bedeutung gewinnt die Daseinsanalyse mithin als Existenzanalytik, welche die das existierende Dasein strukturierenden Grundverfassungen erhebt. Zu erfolgen hat dies gemäß Heidegger auf phänomenologische Weise, wobei unter Phänomenologie kurz und bündig folgendes zu verstehen ist: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“ (34) Die Reminiszenzen in Bezug auf den Konzeptionsplan von „Sein und Zeit“ bestätigen, was Pannenberg sagt: Die „Kehre“ des Denkens lag bereits in der Intention des Werkes von 1927. Dass sich Heidegger gleichwohl vom Ansatz von „Sein und Zeit“ abkehrte, indem er die geplante Fortsetzung des ersten durch einen weiteren Teil unterließ, hat nach Pannenberg seinen wesentlichen Grund in dem – vom Autor selbst eingesehenen – Misslingen des Versuchs, die Aporien der Subjektivitätsphilosophie durch eine Theorie zu beheben, welche das mögliche Ganzsein des
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Daseins, seine Identität mit sich und sein eigentliches Selbstsein aus dem Vorlauf zum Tode und dem Sichverhalten des Jemeinigen zu ihm zu begründen sucht.13 Diese Theorie kann nach Pannenberg unter ihren eigenen Prämissen keinen Bestand haben. Nehme man ernst, was Heidegger über das bestimmungsgemäße Sich-vorweg-sein des Daseins ausführe, dann lasse sich der Grund von dessen möglichem Ganzseinkönnen „nicht in ihm selber“ aufspüren. Das Dasein findet den Grund seiner selbst und der Möglichkeit, ganz zu sein, nur „außer sich“ und im religiösen Verhältnis. So hat es Pannenberg auf Seite 259 seines Handexemplars von „Sein und Zeit“ am Rand notiert, um hinzuzufügen, dass im gegebenen Zusammenhang alles auf die „Auffassung des Sich-vorweg“ ankomme.
13 Zu einem ähnlichen Resultat kommt K. Lehmann in seiner voluminösen Dissertation: Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers. Versuch einer Ortsbestimmung (1962). Hg. v. A. Raffelt, Mainz/Feiburg (2003) ²2006.
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Sind wir von Natur aus religiös? Pannenbergs theologische Bestimmung des Menschen und das Phänomen der religiösen Indifferenz
Einleitung Die Auseinandersetzung mit der Religionskritik und dem neuzeitlichen Atheismus prägt Pannenbergs rationale Verantwortung des christlichen Glaubens. Im Kontext der neuzeitlichen Anthropozentrik geht nicht nur eine philosophische Begründung der Wirklichkeit Gottes entschieden vom Menschen aus, auch die neuzeitliche atheistische Religionskritik hat ihre Argumentation auf die Anthropologie konzentriert. Sowohl die philosophische Begründung als auch die Bestreitung des Gottesgedankens vollzieht sich auf dem „Boden der Deutung des Menschseins […], in der Auseinandersetzung um die Frage, ob Religion unerlässlich zum Menschsein des Menschen gehört oder im Gegenteil dazu beiträgt, den Menschen sich selber zu entfremden“1 , weshalb für Pannenberg die christliche Theologie unter neuzeitlichen Bedingungen „ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen gewinnen“2 muss. Schwieriger wird es für die Theologie jedoch, wenn sowohl Affirmation als auch Bestreitung ausbleiben, wenn „die Frage nach Gott gar nicht mehr als sinnvoller Gegenstand einer Auseinandersetzung empfunden wird“3 . Die Erfurter Dogmatikerin Julia Knop hält im Anschluss an Charles Taylor fest, dass Säkularität nicht primär einen Rückgang, sondern eine qualitative Veränderung des Religiösen in den modernen Gesellschaften in dem Sinne darstellt, dass Gott vorkommen kann oder auch nicht, der Glaube also eine Option neben anderen darstellt. Für den „homo areligiosus“ (eine Wortschöpfung von Eberhard Tiefensee) der Gegenwart stelle, anders als für den Atheisten einer älteren Generation, die Existenz Gottes keine Frage mehr dar: „Ihm ist ‚Gott‘ kein ‚Sehnsuchtswort‘. Glaube sagt ihm nichts; er muss nicht einmal dagegen sein. Die Gottesfrage ist ihm keines Streites wert, weil sie ihm keine Frage ist.“4 Das Phänomen der Areligiösität bzw. der religiösen 1 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 15. 2 Ebd. 3 M. Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt. Religiöse Indifferenz als Herausforderung systematischer Theologie, in: IkaZ Communio 50 (2021), 4–21, hier 4. 4 J. Knop, Gott – oder nicht. Theologie und Kirche angesichts des Nichtglaubens ihrer Zeit: Ein Paradigmenwechsel, in: ThG 60 (2017), 141–154, hier 150; vgl. auch Dies. (Hg.), Die Gottesfrage zwischen
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Indifferenz stellt eine theologische Herausforderung dar, die die Theologie dazu drängt, ihre Plausibilisierungskonzepte des Glaubens, vor allen Dingen die Frage der Rationalität und der universalen Relevanz des Glaubens an Gott, zu überdenken. Während für Julia Knop die Wahrnehmung der Nicht-Selbstverständlichkeit der Gottesfrage und ihrer Relevanz „eher in den Fragehorizont der Gnadentheologie als in den Explikationskontext der Anthropologie“5 hinein führt, plädiert Magnus Lerch für eine kontingenzsensible Glaubensverantwortung, die allerdings die universale Rationalität und Relevanz der Gottesfrage nicht aufgeben will.6 Für Pannenbergs Anthropologie steht der Mensch nicht erst nachträglich zu seiner eigenen Selbst- und Welterfahrung mit der Gottesfrage und der Religion in Kontakt.7 Ist ein solcher Anspruch mit der hier skizzierten Fragestellung der religiösen Indifferenz/Areligiösität vermittelbar? Muss das Ziel von Pannenbergs Anthropologie, den Menschen von seiner Wesensnatur her religiös zu verstehen, revidiert werden? Oder stellt umgekehrt die Anthropologie Pannenbergs ein Korrektiv gegenüber einer (zu leichtfertigen oder schwermütigen?) Relativierung einer universalen Relevanz des Gottesglaubens dar? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen.
1.
Pannenbergs theologische Bestimmung des Menschen
Angesichts des Raums, den die Veröffentlichungen zur Anthropologie seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Werk Pannenbergs einnehmen und die in dem großen Entwurf der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ kulminieren, mag Pannenbergs Zustimmung zu Barths Kritik an der Anthropozentrik der Theologie des 19. Jh. seit Schleiermacher überraschen. In seinem kleinen autobiographischen Bericht „An intellectual Pilgrimage“ schreibt Pannenberg: „I considered Barth’s opposition against anthropocentrism in theology to be correct“8 , wiewohl er dann allerdings fortfährt, „… but, still, talk about God has to be related to concern about human beings and about human nature“9 . Eine anthropologische Grundlegung ist der Theologie nicht nur von außen, angesichts der neuzeitlichen Anthropozentrik auferlegt, sondern ist Konsequenz des
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Umbruch und Abbruch. Theologie und Pastoral unter säkularen Bedingungen (Quaestiones disputatae 297), Freiburg i.Br. 2019. Knop, Gott – oder nicht, 152. Vgl. Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt, 5, 12f. Vgl. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, Paderborn 2018, 78–82. W. Pannenberg, An intellectual Pilgrimage, in: Dialog. A Journal of Theology 45 (2006), 184–191, hier 190. Ebd.
Sind wir von Natur aus religiös?
christlichen Gottesgedankens. Deshalb versteht Pannenberg seine anthropologischen Überlegungen nicht im Gegensatz zu Barths Betonung der Priorität Gottes als Thema der Theologie. Mit Karl Rahner, dessen anthropologische Fundierung der Theologie Pannenberg als exemplarisch für die katholische Theologie bezeichnet, ist der christliche Gottesglaube durch den Gedanken der Menschwerdung Gottes und in den Implikationen der christlichen Vorstellung der Inkarnation – durch die Heilsfrage – auf den Menschen bezogen.10 Die theologische Anthropologie muss zur Grundlegung der Theologie im Ganzen beitragen und ist deshalb „als fundamentaltheologische Anthropologie zu bezeichnen“11 . Eine anthropologische Fundierung der Theologie erweist sich als Implikation des biblischen Gottesglaubens, der beansprucht allgemeingültige Aussagen über den Menschen zu machen. Dies entspricht Pannenbergs Überzeugung, dass das Sprechen von Gott als dem Schöpfer der Welt im Kontext metaphysischer Reflexion begründet sein muss12 : „die Wahrheit christlichen Redens von Gott dem Schöpfer [hängt] daran, dass die Wirklichkeit des Menschen mit Recht als durch sich selbst schon auf Gott bezogen in Anspruch genommen werden kann“13 . Die daraus folgende „Generalhypothese“14 , die Pannenbergs Anthropologie bestimmt und die sich in den Einzeluntersuchungen bestätigen muss, lautet: An den Phänomenen und Befunden, die die Humanwissenschaften als charakteristisch für den Menschen beschreiben, muss sich eine religiöse Grunddimension des Menschseins aufzeigen und philosophisch absichern lassen. Die religiöse Dimension des Menschseins „muss sich an den anthropologischen Phänomenen selber zeigen“15 . Die säkulare Perspektive auf den Menschen erweist sich damit nicht als falsch, wohl aber als vorläufig und bedarf der theologischen Vertiefung.16
10 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 11–12; vgl. zu Rahners und Pannenbergs anthropologischer Fundierung der Theologie auch G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre des Menschen bei Pannenberg und Hegel (Pannenberg Studien Bd.7), Göttingen 2021, 112–118. 11 Pannenberg, Anthropologie, 21. 12 Vgl. W. Pannenberg, Religion und Metaphysik, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie Bd.1, Philosophie, Religion, Offenbarung, Göttingen 1999, 45–57; vgl. dazu auch K. Vechtel, Thomas von Aquin in der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie bei Wolfhart Pannenberg (1928–2014), in: B. Dahlke / B. Knorn, Eine Autorität für die Dogmatik? Thomas von Aquin in der Neuzeit (FS L. Hell), Freiburg i.Br. u. a. 2018, 169–183. 13 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Philosophisch-theologische Grundlinien, in: Ders. (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös? Düsseldorf 1986, 87–133, hier 92. 14 Pannenberg, Anthropologie, 19; vgl. auch Wenz, Im Werden begriffen, 115. 15 Pannenberg, Anthropologie, 19; vgl. Ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, 92, 94. 16 Vgl. Lerch/Langenfeld, Theologische Anthropologie, 79; Pannenberg, Anthropologie, 19; vgl. auch W. Pannenberg, Christentum in einer säkularisierten Welt, Freiburg i.Br. 1988, 67–68.
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Methodisch lässt sich Pannenbergs Vorgehen als fortschreitende „Abstraktion von Abstraktionen“17 verstehen. Ausgehend von der modernen Anthropologie wird die Eigenart des einzelnen Menschen durch dessen Stellung in der Natur und gegenüber den nächstverwandten Tieren beschrieben. Eine Konkretion gegenüber einer solchen Sichtweise bietet die Sozialpsychologie und die Soziologie, die nicht vom Einzelwesen ausgehen, sondern vom gemeinschaftlichen Charakter des menschlichen Wesens. Der Skopus von Pannenbergs Lehre besteht darin, den Menschen als Geschichte zu begreifen. Humanbiologie, Psychologie und Sozialpsychologie, Soziologie und Kulturwissenschaften werden in ihrer relativ abstrakt bleibenden Beschreibung des Menschen aufgehoben in die Geschichtswissenschaft, die die konkrete Lebenswirklichkeit des Menschen am ehesten erreicht.18 Der Anthropologie kommt nur in methodischer, nicht in sachlicher Hinsicht eine fundamentale Bedeutung zu. Sachlich gilt, dass Gott nur durch sich selbst seine Existenz erweisen kann, womit Gott und sein Selbsterweis mit dem Offenbarungsgedanken in engster Beziehung stehen: „Der Sache nach kann nur Gott und seine Offenbarung in Jesus Christus das Fundament [des Glaubens] sein.“19 Die Vermittlung von fundamentaltheologischer Anthropologie und (dogmatisch-)systematischer Theologie geschieht auf dem Boden einer Geschichtstheologie. Bei dieser Vermittlung nehmen die klassischen Themen einer dogmatischen Anthropologie wie die Lehre von der Gnade und der Rechtfertigung des Menschen in Pannenbergs theologischer Anthropologie keinen Raum ein, während die Lehre von der Gottebenbildlichkeit und der Sünde des Menschen in den Mittelpunkt einer kritischen Aneignung der Humanwissenschaften durch die Theologie rücken.20 Die biologische Natur des Menschen kann im Unterschied zur Umweltgebundenheit des Instinktverhaltens in der Weltoffenheit (A. Gehlen) bzw. in der „exzentrischen Position“21 (H. Plessner) gesehen werden. Die Besonderheit des Menschen lässt sich somit in seiner Selbstreflexivität festmachen.22 Diese begründet zugleich die menschliche Fähigkeit, „von den Dingen Abstand zu nehmen, sie als Objekte, als Dinge zu nehmen“23 . Die Theologie knüpft an diese Beschreibung der Besonderheit 17 Wenz, Im Werden begriffen, 120. 18 Vgl. Pannenberg. Anthropologie, 21–23. 19 W. Pannenberg, Schlussdiskussion, in: Ders. (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös? A.a.O., 134–166, hier 165. 20 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 19–21; Ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, 90–93; vgl. auch W. Pannenberg, Humanbiologie – Religion – Theologie. Ontologische und wissenschaftstheoretische Prämissen ihrer Verknüpfung, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie Bd.2. Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung, Göttingen 2000, 99–111, hier 99–103. 21 Pannenberg, Anthropologie, 34. 22 Zur relativen Kontinuität der menschlichen Entwicklung im Evolutionsgeschehen vgl. Pannenberg, Humanbiologie, 105–106. 23 Pannenberg, Anthropologie, 35.
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des Menschen an. Mit der Offenheit seiner Verhaltensstruktur korrespondieren nicht nur Traditions- und Kulturbildung des Menschen, sondern auch die Feststellung, dass der Mensch das Wesen ist, das Religion hat: „Die Offenheit für die Gegenstände der Erfahrung impliziert zugleich eine Offenheit über jeden solchen Gegenstand hinaus, nämlich über seine Endlichkeit hinaus. Der Sinn der Weltoffenheit liegt insofern in der Offenheit über die Welt hinaus auf das Göttliche hin.“24
Die exzentrische Struktur des menschlichen Lebensvollzuges impliziert eine Offenheit über die Dinge der Welt hinaus zum Unendlichen, eine Zuwendung zur göttlichen Wirklichkeit „irgendwie außerhalb oder jenseits der Welt“25 , die jedoch nur in der Vermittlung über einen endlichen Inhalt gegeben ist26 . Ausgehend von einer solchen theologischen Aneignung humanwissenschaftlicher Phänomene widerspricht Pannenberg einem linear-teleologischen Verständnis von Säkularisierung, wonach mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Modernisierung auch eine zwangsläufige Verdrängung von Religion einhergeht. Pannenberg formuliert: „Auch in einer säkularen Welt ist die Dimension einer nur religiös zu nennenden Ergriffenheit in der Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen von Anfang an zumindest implizit gegenwärtig und wirksam.“27 Eine solche „Ergriffenheit“ sieht Pannenberg in seiner Auseinandersetzung mit Sozialpsychologie und Philosophie in der Identitätsbildung des Ich gegeben. In Sozialpsychologie, Soziologie, Kulturanthropologie und Geschichtswissenschaft bleibt die Identität des Menschen letztlich offen. Die Stabilität des Ich steht dabei nicht von vornherein fest, sondern verwirklicht sich in einem Prozess der Verinnerlichung von Urteilen, Erwartungen und Normen der sozialen Umgebung. Für die Identitätsbildung entscheidend ist das Phänomen des Grundvertrauens. Das Grundvertrauen geht in seiner Unbegrenztheit über jede menschliche Instanz hinaus auf ein „unbestimmtes Ganzes, das von Anfang an alle Abgrenzungen übersteigt“28 . Im Phänomen des Grundvertrauens wird die formal-offene Struktur der Selbstüberschreitung, die sich prinzipiell auch im Modus einer schlechten Unendlichkeit vollziehen kann, jedoch als ein personales Geschehen inhaltlich konturiert und
24 Pannenberg, Humanbiologie, 106. 25 Pannenberg, Anthropologie, 63. 26 „Erst so kommt der Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen oder vielmehr zwischen diesen beiden Seiten eines und desselben Phänomens in den Blick.“ Ebd. 27 W. Pannenberg, Religion und menschliche Natur, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie Bd.2, a.a.O., 260–270, hier 268. 28 Ebd., 269.
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religiös bestimmbar durch die Nähe zur fiducia.29 Das Grundvertrauen steht in einem Beziehungsverhältnis zum Anderen, der angesichts des uneingeschränkten Vertrauens Gott lediglich „vertritt“30 . Das Grundvertrauen korrespondiert nicht nur mit ersehnter, sondern auch empfangener Liebe, weshalb das „Selbstsein des Menschen in der Liebe des andern“31 gründet. Gerade angesichts der Angreifbarkeit und Verletzlichkeit, die dem Grundvertrauen innewohnt, lässt sich festhalten: Dass die religiöse Dimension des Menschseins sich „verwirklichen“ kann auf Gott hin – ein religiöses Verhältnis zu Gott sozusagen „glückt“ –, geht über das „Naturhafte“ hinaus und ist angewiesen auf personal-freie Vollzüge des Menschseins und somit von Umständen der Anerkenntnis und Annahme abhängig. Pannenberg nimmt in einer Fortschreibung der Gedanken Descartes’ eine präreflexive, intuitive, auf der Ebene der Gefühlswelt angesiedelte Intuition des Unendlichen an, die sich als konstitutiv für die Identitätsbildung des personalen Ich erweist und die jedoch vermittelt ist über die personal-dialogische Welterfahrung des Menschen.32 Pointiert hält Pannenberg fest: „Der Mensch ist von Natur aus religiös. Religion – in welcher Form auch immer – ist eine notwendige Dimension seines Lebens, und wo sie verkümmert, muss man mit folgenreichen Verformungen der dem Menschen möglichen Entfaltung seines Lebens rechnen.“33 Pannenbergs theologische Bestimmung des Menschen hat zu Rückfragen geführt, insofern er in der exzentrischen Offenheit des Menschen einerseits „die göttliche Wirklichkeit mitbejaht“34 sieht, andererseits jedoch daran festhält, keinen Gottesbeweis zu vertreten.35 Warum stellt eine Mitbejahung der göttlichen Wirklichkeit keinen Gottesbeweis dar? Was bedeutet es, wenn Pannenberg von einer impliziten Mitbejahung der göttlichen Wirklichkeit spricht?36 Was folgt aus dieser Konzeption für den Umgang mit Phänomenen wie einer zunehmenden religiösen Indifferenz, die in modernen Säkularisierungsprozessen greifbar wird? Diesen Fragestellungen soll im Zusammenhang mit der Kritik an Pannenbergs Denken nachgegangen werden. Dabei soll eine Klärung seiner Position erfolgen, die Pannenbergs oben zitierte Aussagen zur modernen Säkularität einer differenzierenden Sichtweise unterzieht. 29 Vgl. W. Pannenberg, Einsicht und Glaube, in: Ders., Grundfragen zur Theologie Bd.1, Göttingen 1967, 223–236, hier 230: „Das Heil wird nur im Akt des Vertrauens empfangen, das seinem Wesen nach Selbsthingabe ist“; vgl. auch W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd.3, Göttingen 1993, 160–163. 30 Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 269. 31 Pannenberg, Anthropologie, 223. Vgl. zum Ganzen: ebd., 217–235. 32 Vgl. W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 20–33. 33 Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 270. 34 Pannenberg, Anthropologie, 66. 35 Vgl. ebd., 70; vgl. Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 270; 36 Vgl. O.H. Pesch, „Frei sein aus Gnade“. Hinweise zu einer theologischen Anthropologie, in: W. Pannenberg (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös? A.a.O., 106–13, hier 132.
Sind wir von Natur aus religiös?
2.
Verborgenheit und Strittigkeit Gottes
Die fundamentaltheologische Methodik der Anthropologie hat zum Ziel, die Offenheit der Identitätsfrage des Menschen in den Human- und Geschichtswissenschaften zum Vorschein zu bringen und für eine theologische Aneignung in Beschlag zu nehmen. Die komplexen Phänomene von Identitätsbewusstsein, Identitätsbildung und -findung bleiben in ihrer jeweiligen Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit offen für eine Vollendung von Gott her. Problematisch dabei – so Overbeck in seiner profunden Pannenberg-Studie – sei jedoch nicht die Intention, eine Gottbezogenheit des Menschen mittels der anthropologischen Phänomene aufzuweisen, sondern bereits eine, wenn auch unthematische Wirklichkeit Gottes „in ihrer Tatsächlichkeit innerhalb der menschlichen Phänomene“37 zu erheben. Ein Aufweis der Tatsächlichkeit der Wirklichkeit Gottes an den Phänomenen des Menschseins überfordere die Befunde von Philosophie und Humanwissenschaften und führe zugleich zu einer Unterbestimmung der Theologie und deren Sichtweise einer gnadenhaften Gottbezogenheit des Menschen: „Die Gottbezogenheit des Menschen scheint als so unveräußerliches Implikat menschlichen Verhaltens, dass Alternativen zum religiösen Glauben nur in Gestalt von Ersatzgebilden vorstellbar sind.“38 Wird nicht vorschnell die Fraglichkeit und Ambivalenz menschlicher Selbst- und Welterfahrung zugunsten einer theologischen Antwort übersprungen?39 Lassen sich die Phänomene wie Unglauben und religiöse Indifferenz überhaupt als in der Wirklichkeit und Welterfahrung des Menschen verankerte Freiheitsmöglichkeiten des Menschseins verstehen? Oder, so Overbeck, schlägt eine als autonom anerkannte Philosophie um in eine „theonome Anthropologie“40 ? Angesichts dieser Kritik erweist sich m. E. Thomas Oehls Pannenberg-Deutung als weiterführend, insofern Oehl auf die Spannung zwischen dem Wirklichkeitsbezug des Menschen zu Gott bei einer gleichzeitigen Strittigkeit Gottes aufmerksam macht und diese spannungsreichen Aussagen Pannenbergs einer klärenden Bestimmung unterzieht.41 Folgende Ebenen einer impliziten Wahrnehmung der göttlichen Wirklichkeit sind demnach zu unterscheiden: 37 F.J. Overbeck, Der gottbezogene Mensch. Eine systematische Untersuchung zur Bestimmung des Menschen und zur „Selbstverwirklichung“ Gottes in der Anthropologie und Trinitätstheologie Wolfhart Pannenbergs (Münsterische Beiträge zur Theologie Bd.59), Münster 2000, 227. Ähnlich fragen Lerch/Langefeld, wie sich eine mögliche Gottesfrage und eine tatsächliche Gottesverbundenheit des Menschen noch unterscheiden lassen. Vgl. Lerch/Langefeld, Theologische Anthropologie, 82, 156–157. 38 Overbeck, Der gottbezogene Mensch, 238. 39 Vgl. Lerch/Langenfeld, Theologische Anthropologie, 82. 40 Overbeck, Der gottbezogene Mensch, 238; vgl. zum Ganzen ebd., 226–240. 41 Vgl. zum Folgenden Th. Oehl, Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie, in: G. Wenz (Hg.), Offenba-
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Eine intuitive Ebene des präreflexiven und gefühlsmäßigen Bewusst- bzw. Gewahrseins des Unendlichen, dessen Gewissheitscharakter kein propositionales Wissen darstellt und aus diesem Grund nicht falsifiziert werden kann. • Eine philosophisch-explizite Ebene, auf der das Unendliche als Unendliches gewusst und propositional gewusst wird, „dass es das Unendliche gibt“42 . Das Unendliche ist nicht nur ein durch das endliche Subjekt gebildeter Begriff, sondern eine Wirklichkeit, „durch deren Einschränkung […] das Endliche ist“43 . • Eine theologisch-explizite Ebene, auf der die Intuition des Unendlichen bzw. das unthematische Wissen von Gott erst als Wissen von Gott bestimmt werden kann. Gott in der Geschichte seiner trinitarischen Offenbarung wird als identisch mit dem Unendlichen behauptet. Gegenüber der Kritik, Pannenberg versuche die Wirklichkeit Gottes in ihrer Tatsächlichkeit an den menschlichen Phänomenen aufzuweisen, lässt sich festhalten: Weder ist das intuierte Unendliche innerhalb des präreflexiven unthematischen Gottesbewusstseins als Gott erfahrbar noch lässt sich das Unendliche auf philosophischer Ebene aufgrund seiner Unbestimmtheit als „Gott“ benennen.44 Eine Identitätsbehauptung zwischen dem implizit gewussten Unendlichen und Gott ist erst auf einer offenbarungstheologischen Ebene möglich. Erst im Rahmen des religionsgeschichtlich explizit werdenden Gottesglaubens und schließlich des christlichen Offenbarungsglaubens kann erkannt werden, dass das Unendliche, auf das sich der Mensch in seinem unthematischen Gottesbewusstsein bezieht, Gott ist. Zwischen dem intuierten Unendlichen und Gott besteht somit ein Verhältnis von Nichtidentität und Identität. Weil Gott sich geschichtlich offenbart, ist er nicht instantan in der Form eines zeitlos-ungeschiedenen Gewahrseins eines unendlichen Ganzen offenbar. Oehl spricht von einer „Abskondität Gottes im unthematischen Gottesbewusstsein (und der Philosophie/Metaphysik)“45 , wobei diese Abskondität für eine offenbarungstheologische Inanspruchnahme offen ist. Gott wird in der
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rung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms (Pannenberg Studien Bd.4), Göttingen 2018, 119–134. Ebd., 123. Ebd. Erst im „Prozess der Erfahrung im weitesten Sinne des Wortes […], der Erfahrung der Welt und der in ihr wirkenden, die Dinge der Welt übersteigenden Mächte, der Religionsgeschichte also“ (Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd.1, Göttingen 1988, 128) kann jenes unmittelbare Bewusstsein als Gottesbewusstsein bestimmt werden. Oehl, Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott, 125.
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Geschichte antizipativ – und somit strittig – und an deren Ende endgültig offenbar, im Unterschied zu seiner „instantanen“ Verborgenheit.46 Diese Differenz-Einheit zwischen dem präreflexiv intuierten Unendlichen, dem unthematischen Gottesbewusstsein als Ausdruck der Verborgenheit Gottes einerseits und dem geschichtlich-strittigen Offenbarsein des verborgenen Gottes andererseits verbürgt für Pannenberg zwei Sachverhalte: Erstens kann Pannenberg dem Menschen aufgrund der Intuition des Unendlichen eine unveräußerliche religiöse Dimension zuschreiben, die zugleich in ihrer geschichtlich-konkreten Realisation und ihrer expliziten theologischen Inanspruchnahme bezüglich ihres Wahrheitscharakters strittig bleibt.47 Im 1973 veröffentlichten Werk „Wissenschaftstheorie und Theologie“ heißt es entsprechend, dass Gottes Wirklichkeit mitgegeben sei „in subjektiven Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit“48 , d. h. in Sinnerfahrungen, die als Vorgriff auf eine Sinntotalität verstanden werden können. Diese bleiben geschichtlich dem Fortgang von Erfahrung ausgesetzt und sind damit durch den Charakter des Hypothetischen ausgezeichnet.49 Zweitens lässt sich aufgrund der Differenzierung von unthematischem Gottesbewusstsein und expliziter Gotteserkenntnis, so Oehl, für Pannenberg der Wissenschaftscharakter der Theologie ausweisen: Die Strittigkeit Gottes und der Hypothesencharakter theologischer Aussagen kann sinnvoll nur auf ein Unstrittiges bezogen werden, „das diese Wissenschaft zur Wissenschaft macht, ihr eine Einheit qua Gegenstand, auf den sie sich primär richtet, gibt“50 . Damit ermöglicht es die Unstrittigkeit des intuierten Unendlichen und die darin implizierte Unveräußerlichkeit der religiösen Dimension, wissenschaftstheoretisch vom Hypothesencharakter der Wirklichkeit Gottes zu sprechen und mildert diesen Hypothesencharakter zugleich ab. Intuiertes Unendliches und unthematisches Gottesbewusstsein verbürgen nicht nur die religiöse Dimension des Menschseins und garantieren wissenschaftstheo-
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Vgl. ebd., 124–126. Vgl. Pannenberg, Schlussdiskussion, 145. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, 312. Oehl macht darauf aufmerksam, dass Pannenbergs Unendlichkeitsvorstellung die Probleme vermeidet, die mit dem Gedanken einer Sinntotalität verbunden sind: Dass es eine Sinntotalität gebe, so Oehl, lasse sich nicht an der Sinnerfahrung selbst aufweisen, sondern nur, „wenn man den Sinn als Realisation des begrifflichen Zusammenhangs von Endlichem und Unendlichem aufweist“. Oehl, Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott, 132. Vgl. zum Ganzen: ebd., 130–134. 50 Ebd., 126. Das intuitiv „gewusste“ Unendliche bildet den „Gegenstandsgaranten“ (Ebd., 127.), der Verifikation bzw. Falsifikation theologischer Sätze erlaubt. Verifizierbar bzw. falsifizierbar sind Sätze wie z. B.: „Das intuierte Unendliche, das laut philosophischer Reflexion existiert, ist Gott und als solcher so-und-so bestimmt“ (ebd.).
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retisch einen Gegenstandsbezug der Theologie, sondern spiegeln wesentlich die Verborgenheit Gottes wider. Ließe sich davon sprechen, dass die Möglichkeit des menschlichen Zweifels und Unglaubens und auch eine mögliche Indifferenz des Menschen gegenüber Gott einen Anhalt haben an dieser Dimension der Verborgenheit Gottes? Hat das Phänomen, dass dem Menschen die Gottesfrage nicht (mehr) zum Problem wird, somit einen genuin theologischen Bezugspunkt in Gottes Verborgenheit, die auch durch sein Offenbarsein nicht aufhoben wird? Pannenberg hält an einer Einheit des verborgenen mit dem offenbaren Gott fest, die „manifest [wird] in der Einheit des Vaters mit dem Sohne“51 . Für eine solche mögliche Deutung, die mit Pannenberg Phänomene der religiösen Indifferenz einzuholen versucht, würde m. E. sprechen, dass Pannenberg selbst betont: Die Bedingtheit der göttlichen Wirklichkeit innerhalb geschichtlicher Sinnerfahrungen muss verstanden werden als ein „Selbstbedingen Gottes“52 . Der bleibende Hypothesencharakter des Gottesgedankens und die Strittigkeit des Gottesglaubens, aber auch die Möglichkeit der Anfechtung und des Glaubenszweifels sind im Zusammenhang dieser Selbstbestimmung bzw. Selbstbedingung Gottes zu verstehen. Damit ließe sich fragen, ob auch Zweifel und Unglaube nicht allein auf eine menschliche Selbstverschließung zurückzuführen, sondern theologisch begründet sind. Die Verborgenheit Gottes ist als Ausdruck seiner Freiheit, seiner Erhabenheit und Unverfügbarkeit deutlich zu unterscheiden von einer Abwesenheit Gottes in der modernen Kultur, die als solche Folge einer emanzipativen Verselbständigung des Menschen ist und die Pannenberg mit dem biblischen Gerichtsgedanken konnotiert.53 So richtig es ist, dass es eine solche menschlich herbeigeführte und gegebenenfalls verschuldete „Abwesenheit“ Gottes gibt, lässt sich m. E. in dem Gedanken einer Abskondität Gottes eine bleibende Fraglichkeit und Ambivalenz der menschlichen Welterfahrung festmachen, die einen theologischen Grund in Gott und in seinem Verhältnis zum Menschen hat. Pannenbergs Anliegen, eine implizite religiöse Dimension des Menschen an den Phänomenen aufzuzeigen, auf die sich die Humanwissenschaften beziehen, differenziert zwischen einem unthematischen Bezug des Menschen auf eine alles Endliche übersteigende Wirklichkeit und einer expliziten, offenbarungstheologisch fundierten Bestimmung Gottes. Wie lässt sich Pannenbergs Entwurf auf dem Hintergrund neuerer Diskussionen um die Gottbezogenheit des Menschen verstehen? Dem ist in einem dritten Punkt nachzugehen.
51 Pannenberg, STh I, 368; vgl. zum Ganzen ebd., 365–376. 52 Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 313. 53 Vgl. W. Pannenberg, Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes in der modernen Kultur, in: Ders. (Hg.), Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes in der modernen Kultur, Göttingen 1984, 9–24.
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3.
Anthropologischer Gottesbezug und religiöses Verhältnis
3.1
Religiosität als Deutungsmöglichkeit des Menschseins?
Angesichts der Phänomene religiöser Indifferenz und Areligiösität plädiert der Kölner Systematiker Magnus Lerch – ähnlich auch zusammen mit Aaron Langenfeld in deren Theologischer Anthropologie – für eine „kontingenzsensible[n] Glaubensverantwortung“54 , die den historischen und soziokulturellen Umständen aus der Perspektive der systematischen Theologie Rechnung trägt. Bemerkenswert ist, dass Lerch dabei nicht auf das „universalistische Moment“55 , den Aufweis einer universalen Vernünftigkeit der Gottesfrage verzichten will. Eine universalistische und kontingenzsensible Glaubensverantwortung kann für ihn eine religiöse Dimension des Menschseins nicht dergestalt aufzeigen, dass die Wirklichkeit Gottes als Konstante des Menschseins ausgewiesen wird: „Derart wird sich dem säkularen Bewusstsein seine unausweichliche Religiösität kaum noch andemonstrieren lassen“56 . Eine rationale Glaubensbegründung im Anschluss an Thomas Pröpper läuft dennoch – wie auch Lerch kritisch einräumt – auf eine Notwendigkeit Gottes zu: „diesmal zwar nicht der Existenz Gottes, wohl aber der Frage nach ihm.“57 Der Gottesbezug des Menschen zeigt sich „in dessen Ausgriff nach einer Sinnbedingung seines freien Vermögens“58 , „im Fragenkönnen nach einem Grund […], dessen Wirklichkeit dem Sinn seines freien Vermögens verbürgen könnte“59 , wobei damit nicht entschieden ist, ob der Möglichkeit des Fragens nach Gott auch die Wirklichkeit Gottes entspricht. Die Ansprechbarkeit des Menschen für Gott ist somit ausgewiesen als eine universale Bestimmung des Menschseins, die sich im Ausgriff und Fragen des Menschen „nach einer Sinnbedingung seines freien Vermögens, nach einem guten Grund seines Daseins“60 zeigt. Die damit implizierte rationale Notwendigkeit der Gottesfrage soll für Lerch allerdings unterschieden werden von deren existenzieller Relevanz. Letztere hängt davon ab, inwieweit in jeweils biographischen und kulturellen Umständen die Frage nach Gott als dem Sinnhorizont menschlicher Freiheit angesichts der fragmentarischen Verwirklichung und potenziellen Absurdität der Freiheit überhaupt gestellt wird. Möglich
54 Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt, 13. 55 Ebd. 56 Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt, zitiert an dieser Stelle Th. Pröpper, Theologische Anthropologie Bd.1, Freiburg i.Br. 2011, 436. 57 Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt, 17. 58 Lerch/Langenfeld, Theologische Anthropologie, 150. 59 Ebd., 146f. 60 Ebd., 150.
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ist hier ein Aufschieben und ein Außer-Acht-Lassen dieser Frage angesichts der Unmöglichkeit, diese letztgültig vernünftig beantworten zu können.61 Ausgehend von Lerchs Überlegungen lässt sich zunächst festhalten, dass Pannenberg das „universalistische Moment“ der theologischen Glaubensverantwortung mit der anthropologischen Begründbarkeit der Rationalität und Relevanz der Gottesfrage betont. Der sachgemäße Umgang mit einer säkularen Kultur liegt für ihn exakt im Ringen um eine rationale anthropologische Plausibilisierbarkeit der Gottesfrage im Unterschied zu einer äußerlich-autoritativen Kritik am Säkularismus oder einer unkritischen Anpassung gegenüber der modernen Kultur und Gesellschaft.62 Der Kern der Kritik von Lerch und Langenfeld besteht nun darin, dass Pannenberg den Gottesbezug des Menschen nicht primär aus einem Frage- und Sinnbedürfnis herleitet, bei dem philosophisch offenbleibt, ob Gott existiert; vielmehr „dreht [Pannenberg] den Spieß um“63 . Durch die Unterschiedenheit zwischen präreflexivem Bewusstsein des Unendlichen und reflexivem, durch die Religionsund die biblische Offenbarungsgeschichte thematisierten Gottesgedanken könne Pannenberg eine unthematische „Gottverbundenheit“64 im Menschen begründen, bevor wir uns als reflektierende und frei handelnde Wesen erfassen. Auch wenn Pannenberg sich durch diese Betonung des unthematischen, nur intuierten Gottesbezugs von einem cartesischen Gottesbeweis kritisch absetze, muss er sich für Lerch/Langenfeld – ähnlich wie für Overbeck – fragen lassen, inwieweit humanwissenschaftliche und philosophische Befunde „doch zu unvermittelt theologisch interpretiert“65 werden. Die unthematische Intuition des Unendlichen, so wurde bereits gezeigt, kann nicht als „tatsächliche[n] Gottverbundenheit“66 verstanden werden. Offen ist in diesem Zusammenhang allerdings noch die Frage, welcher erkenntnistheoretische Status der im Bereich der Humanwissenschaften und der Philosophie phänomenal aufgewiesenen religiösen Dimension des Menschseins zukommt. Werden hier, wie es die kritischen Rückfragen andeuten, Befunde der Humanwissenschaften zu unbefangen für theologische Aufweise in Beschlag genommen? Pannenberg hält fest: Der Aufweis, dass sich das Menschsein ohne die religiöse Dimension nicht unverkürzt darstellen lasse, „ist […] strittig“67 und Gegenstand der Auseinanderset-
61 Vgl. Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt, 15–18. 62 Instruktiv ist hierfür das letzte Kapitel von Pannenberg, Christentum in einer säkularisierten Welt, 55–76. 63 Lerch/Langenfeld, Theologische Anthropologie, 82. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 93 (Hervorhebung von KV). Vgl. zum Ganzen ebd., 93f.
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zung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder Weltanschauungen. Ist mit der bleibenden Strittigkeit dessen, was sich an anthropologischen Phänomenbeschreibungen aufzeigen lässt, gemeint, dass der Aufweis einer religiösen Dimension des Menschseins eine Interpretationsmöglichkeit neben anderen darstellt; eine Deutung aus theologischer Perspektive, neben der es andere, nicht-religiöse bzw. nicht-theologische Deutungen geben kann? M. E. beansprucht Pannenbergs Vorhaben, die religiöse Dimension des Menschseins an den humanwissenschaftlichen Phänomenen aufzuzeigen, mehr als eine mögliche Deutung aus der Perspektive des Glaubens und seiner theologischen Reflexion zu sein. Pannenberg intendiert, einen objektiv und rational überprüfbaren Aufweis der religiösen Dimension des Menschseins zu erbringen. Zugleich muss dieser Aufweis – und darin liegt das Moment seiner Strittigkeit begründet – im Kontext der geschichtsphilosophischen und -theologischen Prämissen Pannenbergs sowie seiner erkenntnistheoretischen Grundlagen situiert werden. Pannenberg schreibt dem Charakter von Sinnerfahrungen eine antizipatorische Struktur zu. Einzelerfahrungen erhalten ihre Bestimmtheit im Zusammenhang eines Bedeutungsganzen. Aus diesem Grund setzt der Erfahrungsbegriff für Pannenberg bereits den Gedanken einer Totalität der Wirklichkeit voraus, die als Sinntotalität in einzelnen Erfahrungen implizit antizipiert wird und somit einen hypothetischen Charakter besitzt, „der sich im Fortgang der Erfahrung bestätigen muss oder erschüttert werden wird“68 . Für Pannenberg sind geisteswissenschaftlichphilosophische Verfahrensweisen wie auch das durch die Bildung und Überprüfung von Hypothesen gekennzeichnete Vorgehen der Realwissenschaften im Kern antizipatorisch: „Das hypothetische Denken ist vielmehr antizipatorisch, indem es auf empirische Konstellationen vorgreift mit Behauptungen, die eine Bestätigung oder Widerlegung durch Erfahrung herausfordern.“69 Die Denkform der Antizipation lässt ein das begriffliche Denken bzw. das Urteil als solches kennzeichnendes Element hervortreten: Die Bewährung an der im Begriff und Urteil intendierten Sache, ohne dass damit die Antizipation dem Inhalt, auf den sie sich richtet, äußerlich bliebe. Die Antizipation ist durch eine gleichzeitige Identität und Differenz im Blick auf die intendierte Sache charakterisiert. Sie hält an der im Begriff und im Urteil beanspruchten Identität mit der intendierten Sache bzw. dem Sachverhalt fest, jedoch – und darin wird das Moment der Differenz verankert – unter einem zeitlichen Vorbehalt: „unter Voraussetzung des künftigen Inerscheinungtretens der Sache in ihrer Vollgestalt ist in der Antizipation die Sache schon anwesend“70 . Die Antizipation ist dem Inhalt, auf den sie sich richtet, aus
68 Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 312. 69 Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 68. 70 Ebd., 75.
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dem Grund angemessen, weil die Wirklichkeit als solche geschichtlich offen zu denken ist und eine Verwiesenheit auf die Zukunft auch alles Seiende kennzeichnet. „Nicht nur unser Erkennen, sondern auch die Identität der Dinge selbst ist im Prozess der Zeit noch nicht abgeschlossen vorhanden“71 . Welche Folgerungen ergeben sich aus dieser Verwiesenheit des Erkennens und der geschichtlichen Wirklichkeit auf die Zukunft hin für den Aufweis einer religiösen Dimension des Menschseins? Das exzentrische Weltverhältnis des Menschen impliziert für Pannenberg ein unthematisches Gewahrsein des Unendlichen, das für ihn das Sprechen von einer religiösen Dimension des Menschseins rechtfertigt. Für Pannenberg ist es damit gegenüber dem Projektionsverdacht Feuerbachs berechtigt zu sagen, dass der Mensch nicht „ein rein säkular zu beschreibendes Wesen [ist]“72 , das nachträglich zu seinem eigentlichen Wesensvollzug Gottesvorstellungen entwirft und „in einen imaginären Himmel“73 projiziert. Allerdings ist festzuhalten, dass auch das exzentrische Weltverhältnis des Menschen essentiell durch eine Zeitstruktur bestimmt ist, „und zwar von der Antizipation der Zukunft her. Von der Zukunft her erschließt sich das bleibende Wesen der Dinge, weil erst die Zukunft entscheidet, was wahrhaftig beständig ist“74 . Die exzentrische Struktur des Menschseins begründet ein selbstbewusstes Sein beim Anderen als einem Anderen. Weil der Mensch das Andere von sich selbst als Anderes unterscheidet, indem er es in seiner Unterschiedenheit und Besonderheit im Horizont eines Allgemeinen und Ganzen erfasst, ist er auch in der Lage, das Gegenwärtige vom Zukünftigen zu unterscheiden. Die Kontinuität eines zeitüberbrückenden Bewusstseins ist begründet in der Antizipation der Zukunft.75 Für die Bestimmung der religiösen Natur des Menschen ergibt sich hieraus, dass auch diese eine antizipatorische Struktur hat, die einer zukünftigen Bewahrheitung oder Falsifikation noch entgegengeht. Das unthematisch erfasste Unendliche wird auf einer bewussten bzw. begrifflich-philosophischen Ebene in seiner Wirklichkeit nur antizipiert. Erst die Zukunft entscheidet über das Wesen des Unendlichen und somit auch über die endgültige Wahrheit der religiösen Dimension des Menschseins. Pannenberg hält in seinen Publikationen einschließlich der „Systematischen Theologie“ an der Möglichkeit fest, dass der Mensch in seiner religiösen Dimension
71 Ebd., 76. Vgl. zum Primat der Zukunft in Sein und Erkennen K. Vechtel, Trinität und Zukunft. Zum Verhältnis von Philosophie und Trinitätstheologie im Denken Wolfhart Pannenbergs (FTS 62), Frankfurt a.M. 2001, 31–43. 72 Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 270. 73 Ebd. Vgl. dazu auch die früher liegende Veröffentlichung W. Pannenberg, Anthropologie und Gottesfrage, in: Ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 9–28, hier 16ff., sowie Pannenberg, STh I, 104ff., 167ff. 74 Pannenberg, Anthropologie, 510f. 75 Vgl. ebd., 507–510.
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in eine „natürliche Illusion“76 verstrickt sein könne. Ein religiöses Verständnis des Menschseins bleibt im Verlauf menschlicher Welterfahrung hinsichtlich seiner wirklichkeitserschließenden Kraft dem Prozess einer fortlaufenden Bewährung bzw. Bewahrheitung ausgesetzt. Die Frage nach der Wahrheit einer religiösen Behauptung über Gott kann nur im Blick auf die Welterfahrung des Menschen beantwortet werden, wenn sich der im Gottesgedanken implizierte Anspruch, dass Gott die alles bestimmende Wirklichkeit sei, an der Welterfahrung des Menschen in ihrer geschichtlich-universalen Struktur je neu bewährt.77 Der Vorwurf, Pannenberg versuche die Wirklichkeit Gottes als Konstante des Menschseins auszuweisen, scheint mir von daher nicht zutreffend zu sein. Weder kann der Mensch in seiner religiösen Dimension das Wesen Gottes adäquat bestimmen noch kann er aufgrund der Endlichkeit seines Erkennens in einer geschichtlich offenen Wirklichkeit Gottes Dasein mit theoretischer Gewissheit erweisen, weshalb Pannenberg in diesem Zusammenhang auf die von Kant hervorgehobene Beschränkung der Gottesbeweise auf eine praktische Gültigkeit verweist.78 Während Pannenberg das Ziel verfolgt, eine notwendig religiöse Dimension des Menschseins in der Exzentrizität und dem Phänomen des Grundvertrauens aufzuzeigen, versuchen freiheitstheoretische, an Th. Pröpper geschulte Ansätze den Gottesgedanken als Schlussstein der Reflexion auf den Menschen als Wesen der Freiheit zu begründen. Dabei geht es auch um den Aufweis, dass das Fragenkönnen des Menschen nach einem Grund, der den Sinn seines freiheitlichen Wesens verbürgt, den Menschen wesentlich auszeichnet.79 Gilt freiheitstheoretisch, dass sich mit diesem Aufweis eine letzte Absurdität des menschlichen Daseins noch nicht ausschließen lässt, weil über die Wirklichkeit der Gottesbeziehung des Menschen noch nicht entschieden ist, bleibt auch für Pannenberg die in Exzentrizität und Urvertrauen intendierte Wirklichkeit Gottes fraglich: „Die Allgemeinheit der Anlage zur Religion [erweist] noch nicht die Wirklichkeit einer Gottheit“80 . Bei aller Unterschiedlichkeit kommen eine freiheitstheoretische Begründung der Gottesfrage und Pannenbergs Denken somit doch zu recht ähnlichen Einsichten. Ein m. E. bedeutender Unterschied, der zwischen Pannenbergs Denken und eine 76 Pannenberg, STh I, 172; vgl. auch Religion und menschliche Natur, 270; Anthropologie und Gottesfrage, 25. 77 Vgl. Pannenberg, STh I, 174–175. „Im positiven Fall der Bewährung oder Bewahrheitung dieses Anspruchs handelt es sich daher um den Selbsterweis des geglaubten Gottes im Medium der Welterfahrung. Im Falle der Nichtbewährung hingegen muss der geglaubte Gott als ein bloß menschlicher Gedanke, als bloß subjektive Vorstellung des Menschen erscheinen.“ Ebd., 175. Dieser Selbsterweis Gottes bleibt in einer geschichtlich offenen Wirklichkeit einer eschatologischen Bewährung ausgesetzt. 78 Vgl. Pannenberg, Schlussdiskussion, 145–146; ausführlich Pannenberg, STh I, 93–108. 79 Vgl. Lerch/Langenfeld, Theologische Anthropologie, 145–147. 80 Pannenberg, STh I, 173.
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Bestimmung der Gottesfrage des Menschen aus Sicht der Analyse der transzendentalen Freiheit besteht, liegt darin, dass Pannenberg das Reden von Gott in der „außersubjektiven Wirklichkeit“81 des Menschen festmachen will. Weil eine allein vom menschlichen Subjekt ausgehende Begründung der Gottesfrage die Möglichkeit einer Illusion nicht ausschließen kann, will er dem menschlichen Gottesbezug einerseits über die phänomenologische Ebene der Humanwissenschaften und andererseits über die metaphysische Reflexion „objektive“ Anhaltspunkte sichern. Dem intuierten Unendlichen kommt nicht nur eine noetische, sondern eine ontologische Priorität für die Erfassung des Endlichen als Endlichen und für die menschliche Identitätskonstitution zu, ohne dass damit eine Bestimmung Gottes, wie sie durch den Offenbarungsglauben gegeben ist, möglich wäre.82 Für Pannenberg kann die Theologie um ihres Rationalitätsanspruchs willen nicht auf metaphysische Reflexion verzichten.83 Allerdings ist dabei zu beachten, dass Metaphysik nicht mehr 81 Anthropologie und Gottesfrage, 26; vgl. STh I, 106; vgl. dazu auch Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 44–45. 82 Vgl. W. Dietz, Das vere ens infinitum bei Descartes, Hegel und Pannenberg, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg (Pannenberg Studien Bd.2), Göttingen 2016, 123–140, hier 123–124, 130–131: Während die noetische Priorität transzendentalphilosophisch darauf beruht, dass alles Endliche im Horizont eines Unendlichen erfasst werden kann, besagt die ontologische Priorität, „dass im Blick auf das Sein selbst das Ich nachrangig ist gegenüber dem Unendlichen, das früher ist als jedes Ich“ (ebd., 131). Mit Levinas betont Pannenberg die Umkehrung des cartesischen Ansatzes, insofern die Vorstellung des eigenen Ich schon die des Unendlichen voraussetzt. Der Gedanke des Ich „ist selber eine Einschränkung des Unendlichen“ (Metaphysik und Gottesgedanke, 23). Vgl. auch Oehl, Gottes strittige Wirklichkeit, 133: „Pannenberg realisiert, dass sich der Begriff des Unendlichen und Endlichen sowohl welt- als auch menschseitig aufweisen lässt.“ 83 In diesem Zusammenhang wäre zu diskutieren, inwieweit eine subjekt- und freiheitstheoretische Begründung des menschlichen Gottesbezugs Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Systematischer Theologie folgen könnte. Ließe sich zwischen beiden Ansätzen eine Verständigungsmöglichkeit erzielen im Blick auf Holm Tetens Überlegungen zu einer philosophischen Begründung des Gottesgedankens und deren Inanspruchnahme metaphysischer Grundannahmen? Tetens spricht im Anschluss an Kant von metaphysischen Fragen („Sinnfragen“), die die menschliche Vernunft nicht zum Schweigen bringen kann. Gegenüber der Alternative, diese Fragen entweder definitiv oder gar nicht zu beantworten, verfolgt Tetens das Vorhaben, eine rationale Theologie auf epistemischen Zwischenlösungen aufzubauen, die den Gottesgedanken im Zeitalter einer kulturellen Hegemonie des Naturalismus als Postulat der praktischen Vernunft aufweisen. Das Postulat, anthropologisch positive Antworten auf die Sinnfragen zu geben, vor die der Mensch immer wieder gestellt ist, impliziere „die Existenz einer Entität […], der typische Gottesprädikate zukommen“. H. Tetens, Gott als Antwort auf die Fragen, die wir nicht loswerden. Zur programmatischen Idee einer rationalen Theologie, in: C. Böhr / H.-B. Gerl-Falkowitz (Hg.), Gott denken. Zur Philosophie von Religion, Richard Schaeffler zu Ehren, Wiesbaden 2019, 275–294, hier 288. Vgl. auch: Ders., Der Gott der Philosophen darf nicht sterben. Über die Unvermeidlichkeit von Metaphysik für den religiösen Gottesglauben, in: B.P. Göcke / Ch. Pelz, Die Wissenschaftlichkeit der Theologie Bd.3. Theologie und Metaphysik, Münster 2019, 235–247. Zur neueren Diskussion um die Relevanz
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den Charakter einer begrifflich konstruierten Letztbegründung von Sein und Erkennen haben wird und auch eine Begründung des Gottesgedankens ohne Bezug zur geschichtlichen Wirklichkeit von Religion von ihr nicht zu erwarten ist.84 Bei aller notwendigen Bezugnahme der Theologie auf metaphysisches Denken kann die Metaphysik – das liegt schon in ihrer notwendigen methodischen Abstraktion vom Geschichtlich-Konkreten begründet – wohl über die religiöse Tradition „aufklären“, diese aber „nicht prinzipiell einholen oder überholen“85 . Die Intuition des Unendlichen „ist deshalb nicht als klarer Verweis auf Gott lesbar“86 . Die Stärke der Unendlichkeitskonzeption bei Pannenberg, so W. Diez, liegt darin, dass sie ein breites Spektrum an religionsphänomenologischen, -psychologischen und religionsphilosophischen Anknüpfungspunkten und Deutungsmöglichkeiten eröffnet.87 Wie – in Lerchs Terminologie – „kontingenzsensibel“ erscheint damit Pannenbergs universalistische, auf den Aufweis einer notwendig religiösen Dimension des Menschseins abzielende Glaubensverantwortung? Pannenbergs Unendlichkeitskonzeption kann – so ließe sich im Anschluss am Diez sagen – Deutungsmöglichkeiten des Religionsphänomens eröffnen. Damit könnte Pannenbergs Behauptung einer religiösen Natur des Menschen – über ihren grundsätzlichen Strittigkeitscharakter innerhalb eines universalgeschichtlichen Verstehenshorizontes hinaus – m. E. relativiert bzw. modifiziert werden. Zu fragen ist, ob eine solche Relativierung dem beeindruckenden anthropologischen Entwurf Pannenbergs eher guttun würde, als dass sie ihm schadet. Muss wirklich notwendigerweise überall dort, wo Religion im Leben von Menschen – aus Gründen, die sie nicht verschuldet haben – keine Rolle spielt, mit folgenreichen Verformungen des menschlichen Lebens gerechnet werden?88 Lässt Pannenbergs Denken eine vorsichtigere, die bloße Möglichkeit einer religiösen Beziehung zu Gott eröffnenden Bestimmung des Menschen zu? Dazu eine abschließende Überlegung.
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metaphysischen Denkens in der Theologie vgl. H.-J. Höhn u. a. (Hg.), Analytische und kontinentale Theologie im Dialog (QD 314), Freiburg i.Br.2021; B.P. Göcke / Th. Schärtl (Hg.), Freiheit ohne Wirklichkeit? Anfragen an eine Denkform, Münster 2020. Dazu gehört auch, dass metaphysische Reflexion Kriterien des vernunftgemäßen Sprechens von Gott bedenken kann. Vgl. Pannenberg, STh I, 106–108. Metaphysisches Denken wird als solches in einem geschichtlich offenen Wirklichkeitsverständnis für Pannenberg die „Form konjekturaler Rekonstruktion annehmen, die sich von der intendierten Wahrheit unterscheidet, sich zugleich aber als vorläufige Gestalt dieser Wahrheit weiß“. Metaphysik und Gottesgedanke, 68. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 54. Dietz, Das vere ens infinitum bei Descartes, Hegel und Pannenberg, 139. Vgl. ebd., 139–140. Vgl. die unter Punkt 1 zitierte Spitzenaussage Pannenbergs, Religion sei eine notwendige Dimension des menschlichen Lebens, deren Verkümmerung zu folgenschweren Verformungen der Entfaltung des menschlichen Lebens führe.
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Das religiöse Verhältnis und der Selbstunterscheidungsgedanke
Christine Axt-Piscalar betont, dass es auf der Ebene der im Gefühlsleben angesiedelten unbestimmten Intuition des Unendlichen, dem unthematischen „Gottesbewusstsein“, für Pannenberg nicht zu einer angemessenen Wahrnehmung des Absoluten kommen kann, „insofern hier vom religiösen Bewusstsein seine Unterscheidung vom Absoluten nicht angemessen vollzogen, sprich nicht in einer dem Grundsein des Grundes entsprechenden Weise wahrgenommen wird“89 . Aus diesem Grund bleibt Pannenberg kritisch gegenüber Fichtes Gedanken, dass das Absolute als Konstitutionsgrund des Selbstbewusstseins zugänglich sein soll über den Weg der transzendentalen Reflexion bzw. durch den religiösen Vollzug einer „Mystik der Selbsteinkehr“90 , einer unmittelbaren Zugänglichkeit des Absoluten „durch Einkehr in das Selbstbewusstsein“91 , aber auch gegenüber D. Henrichs Analysen über den „Grund im Bewusstsein“92 und deren monistischen Implikationen.93 Damit der unthematische Gottesbezug, das intuierte Unendliche in einer ihm angemessenen Weise präsent sein kann, bedarf es einer „Selbstunterscheidung des religiösen Bewusstseins von seinem Grund“94 . Diese dem Woraufhin des impliziten menschlichen Gottesbezugs angemessene Selbstunterscheidung wird im religiösen Bewusstsein der positiven Religionen und letztlich im christlichen Offenbarungsglauben verwirklicht.95 Erst aufgrund dieser religiösen Selbstunterscheidung wird die Differenz von Mensch und Gott von Seiten des Menschen anerkannt und kann ein Verhältnis des Menschen zu Gott realisiert werden, das eine Gemeinschaft von Gott und Mensch anerkennt und von Seiten des Menschen konstituiert. Weil der Gottesbezug des Menschen erst durch diese Form der Selbstunterscheidung
89 Chr. Axt-Piscalar, Das religiöse Bewusstsein und sein Grund. Zum Verhältnis von Religion und Offenbarung in STh I, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung (Pannenberg Studien Bd.1), Göttingen 2015, 113–129, hier 116. 90 W. Pannenberg, Fichte und die Metaphysik des Unendlichen, in: Ders., Beiträge zur systematischen Theologie Bd.1, a.a.O., 32–44, hier 43. 91 Ebd. Nach Pannenberg ist der „metaphysische Monismus Fichtes und die damit verbundene Ablehnung geschöpflicher Selbständigkeit der endlichen Erscheinungen“ (ebd., 41) der heikelste Punkt der Fichteschen Philosophie im Verhältnis zum christlichen Glauben. 92 Axt-Piscalar, Das religiöse Bewusstsein und sein Grund, 118; vgl. ausführlich zum Ganzen Pannenberg, Anthropologie, 194–217. 93 Vgl. dazu etwa Klaus Müllers Henrich-Rezeption und deren monistische bzw. panentheistische Konsequenzen in: K. Müller, Gottes Dasein denken. Eine philosophische Gotteslehre für heute, Regensburg 2001, 159–178; umfassend: Ders., Gott jenseits von Gott. Plädoyer für einen kritischen Panentheismus (hg. v. F. Schiefen), Münster 2021. 94 Axt-Piscalar, Das religiöse Bewusstsein und sein Grund, 117. 95 Vgl. ebd., 120–125.
Sind wir von Natur aus religiös?
des Menschen in einer seinem Gegenstand entsprechenden Form vollzogen wird, bleiben alle vom Menschen ausgehenden religiösen Vollzüge aus diesem Grund „immer von der Zweideutigkeit bedroht, dass es dem Menschen im Verhältnis zur Gottheit doch um das eigene Ich gehen könnte“96 . Die Bestimmung des menschlichen Gottesbezuges lässt in seiner Ambivalenz die Möglichkeit zu, dass der Mensch einer zentrischen Position, die in ihrer Konsequenz sündhaft ist, verhaftet bleibt.97 Die Realisierung des religiösen Verhältnisses beruht auf einer Personalität und Freiheit implizierenden Selbstunterscheidung des Menschen. Diese Konzeption legt die Deutung nahe, dass eine universale, in der menschlichen Exzentrizität angelegte Möglichkeit eines religiösen Daseinsvollzuges durch eine Selbstunterscheidung des religiösen Bewusstseins von seinem Grund explizit realisiert wird. Sieht man in der impliziten anthropologischen Verwiesenheit eine notwendig-universale Möglichkeit zu einem religiösen Gottesverhältnis, das eine vertrauend-glaubende Selbstunterscheidung von Gott vollzieht und dessen Realisation von kontingenten, biographischen und kulturellen Umständen abhängig ist, so würde Pannenberg diese, von Umständen abhängige Realisation eines religiösen Verhältnisses, sicher einräumen. In einer Weiterführung von Pannenbergs Gedanken ließe sich jedoch
96 Pannenberg, STh I, 202; vgl. Axt-Piscalar, Das religiöse Bewusstsein und sein Grund, 120. 97 Umstritten dürfte in diesem Zusammenhang vor allen Dingen die Annahme Pannenbergs sein, dass die Selbstverfehlung des Menschen, die Verkehrung des menschlichen Verhältnisses zu sich selbst, zur Welt und zu Gott, „nicht nur etwas Moralisches, sondern eng verflochten mit den Naturbedingungen unseres Daseins“ (Pannenberg Anthropologie, 104) ist. Dennoch liegt es nicht in der Natur des Menschen, sündhaft zu sein, insofern der Mensch seiner geschöpflichen Natur nach durch ein exzentrisches Wesen, durch die Verwandlung seiner Naturbedingungen in deren Transzendierung, ausgezeichnet ist. Erst wenn der Mensch sich seiner Wesensbestimmung verweigere und das Natürliche nicht übersteigt, verfällt er der Sünde. Dies ist faktisch bei allen Menschen der Fall, womit Pannenberg dezidiert an der christlichen Erbsündenlehre festhält. Vgl. zum Ganzen: ebd., 105ff., Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 98–101.Thomas Pröpper hat demgegenüber eingewendet, Pannenberg verzichte darauf, Sünde wesentlich als Freiheitsgeschehen zu verstehen. Möglichkeit und Anfang der Sünde wären in das Selbstverhältnis des Menschen zu setzen, „in das Sichverhalten zu der Synthesis, als die er [der Mensch] existiert und die zu realisieren ihm aufgegeben ist: Die Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Notwendigkeit und Möglichkeit“ (Thomas Pröpper, Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs, in: ThQ 170 (1990), 267–289, hier 277). Pannenbergs Sündenlehre, und darin liegt der tiefere Grund der Kritik Pröppers, lässt das „unbedingte Moment menschlicher Freiheit“ (ebd., 281) vermissen. Pannenbergs Replik setzt sich neben den Anfragen an eine für ihn bei Pröpper nicht mehr einholbare Erbsündenlehre insbesondere mit der Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Ich und seines freien Vollzuges auseinander. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität – eine Antwort an Thomas Pröpper, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie Bd.2, a.a.O., 233–243. Zur Debatte zwischen Pannenberg und Pröpper vgl. Wenz, Im Werden begriffen, 478–486, sowie in diesem Band die Beiträge von Dirk Ansorge und Paul Schroffner.
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davon sprechen, dass es sich dem Menschen auch ohne ein schuldhaftes Verhaftetsein in einer zentrischen, auf sich fixierten Position, nicht einfachhin nahelegen muss, eine Selbstunterscheidung von Gott zu vollziehen, die für ein explizites und angemessenes religiöses Verhältnis des Menschen konstitutiv ist. Weil Pannenberg dem exzentrischen Wesen des Menschen eine zeitlich-geschichtliche Struktur zuschreibt, ist die Strittigkeit eines religiös zu beschreibenden Woraufhin ihres Vollzuges so ernst zu nehmen, dass eine nicht-religiöse Deutung des Menschseins bzw. eine Neutralität gegenüber dieser Frage nicht per se als eine Art Unterbestimmung des menschlichen Daseinsvollzuges verstanden werden können. Pannenberg spricht im Zusammenhang des Phänomens menschlichen Grundvertrauens von einer konkrete Abgrenzungen übersteigenden Ganzheitsintuition; ebenso verdanken sich zeitlich-geschichtliche Prozesse der Identitätsbildung der Antizipation eines Ganzen von Sinn und Geschichte.98 Bedarf es bei dieser für Pannenberg insbesondere im Gefühl angelegten Intuition eines Ganzen einer „Weite […], die nur die Religion ihm [dem Menschen] offenhält, über die Familie, über die Gesellschaft, über diese Welt hinaus“99 ? Angesichts der Ambivalenz und Offenheit der lebensgeschichtlichen Wirklichkeit von Menschen ist auch eine Beschränkung auf ein endliches Ganzes etwa im Blick auf die familiäre oder gesellschaftliche Lebenswelt in menschlichen Sinnentwürfen denkbar, die nicht als defizitär oder schuldhaft zu kennzeichnen wären. Umgekehrt wäre der christliche Glaube dadurch gekennzeichnet, Gott als Grund des Ganzen bzw. als das „Ganze des Ganzen“ zu verstehen, ohne damit jeder Antizipation eines Sinnganzen einen impliziten Glauben unterlegen zu müssen.100 Ähnlich konnte schon für die mit dem Ganzheitsbegriff verbundene Intuition des Unendlichen festgehalten werden, dass diese erst im Kontext des (christlichen) Offenbarungsglaubens als Gott benennbar wird. Mit einer solchen Modifikation von Pannenbergs religiöser Verortung des Menschseins wäre immer noch eine Art „anthropologisches Universal“101 gegeben,
98 Vgl. Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 269; Ders., Anthropologie, 488–501, insbesondere 497–550. 99 Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 270. 100 Veronika Hoffmann knüpft in diesem Sinne an Charles Taylors Verständnis des Begriffs der „Fülle“ an, auf den verschiedene Formen und Arten, das eigene Leben zu verstehen, nach Taylor hin orientiert sind. Säkularität wäre demnach gekennzeichnet durch einen Wandel im Verständnis dessen, was in Taylors Terminologie unter „Fülle“ verstanden wird bzw. inwieweit das Verständnis einer „Fülle“ des Lebens auf Transzendenz hin orientiert sein muss. Vgl. dazu V. Hoffmann, Eine Leerstelle, die nur Gott füllen? Zur Frage nach der anthropologischen Relevanz des Glaubens angesichts religiöser Indifferenz, in: J. Knop, Die Gottesfrage zwischen Umbruch und Abbruch, a.a.O., 145–160. 101 Hoffmann, 153; eine solche Konzeption schließt für Hoffmann die Bestimmung von Kriterien dessen ein, was der Bezeichnung „Fülle“ anthropologisch gerecht wird; vgl. ebd., 155–157.
Sind wir von Natur aus religiös?
das nicht notwendig in der Transzendenz verortet werden muss, bzw. ein „gemeinsames Feld“102 markiert, auf dem um den Gottesgedanken gerungen werden kann. Pannenbergs vor allen Dingen an humanwissenschaftlichen und philosophischen Phänomenbeschreibungen orientierte theologische Anthropologie ließe sich so fortsetzen, dass die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Phänomene in die anthropologisch-religiösen Strukturerhebungen stärker eingeht. Im Zusammenhang neuerer theologischer Überlegungen, die eine anthropologische Fundierung des christlichen Gottesglaubens im Kontext des Phänomens einer zunehmenden religiösen Indifferenz thematisieren, wurde Pannenbergs Anliegen, Religion als notwendige Dimension des Menschseins aufzuweisen, einer differenzierenden und Pannenbergs These vorsichtig relativierenden Relecture unterzogen. Die Möglichkeit zu einer solchen Relecture bietet Pannenbergs Denken selbst: Erstens erhält die für die Begründung der religiösen Dimension des Menschseins essentielle exzentrische Daseinsstruktur durch den Bezug zum Phänomen des Grundvertrauens eine personale Konturierung, die über eine rein formale Bestimmung einer religiösen „Natur“ des Menschen hinausgeht: Dass sich ein im Letzten auf eine göttliche Instanz ausgerichtetes Grundvertrauen entwickeln und wachsen kann, ist von personal-freien Vollzügen der Anerkenntnis und Annahme von Menschen abhängig. Zweitens ist zu unterscheiden zwischen einem intuitiv-unthematischen Gewahrsein des Unendlichen und dem thematischen Gottesbezug im Offenbarungsglauben der christlichen Religion. Eine darin implizierte Abskondität Gottes im unthematischen Gottesbewusstsein lässt es zu, Phänomene wie Glaubenszweifel und auch menschliche Indifferenz gegenüber Gott theologisch einzuordnen. Drittens ist Pannenbergs These von der notwendigen religiösen Dimension des Menschseins nicht nur als strittig innerhalb eines universalgeschichtlichen Verstehenskontextes zu situieren, sondern als eine ihrem Woraufhin entsprechende Ausrichtung bedingt durch den Vollzug einer freien Selbstunterscheidung des Menschen von seinem göttlichen Grund. Im Menschsein wäre damit eine universale Möglichkeit zur Religion gegeben, deren Realisation jedoch von personalen und gesellschaftlichen Umständen abhängig ist. Inwieweit damit Religion und Glaube, wie es Magnus Lerch im Anschluss an Hans-Joachim Höhn formuliert, notwendig möglich sind, bedarf einer weiteren Diskussion.103
102 Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt, 18. 103 Lerch, Wenn ohne Gott nichts fehlt, 14; vgl. H.-J. Höhn, Gottes Wort – Gottes Zeichen. Systematische Theologie, Würzburg 2020, 65–75. Für Höhn besteht die Aufgabe der Theologie exakt darin, Gott jenseits einer funktionalen Notwendigkeit für ein angemessenes Selbstverständnis des Menschen und seiner Lebenswirklichkeit zu denken. In diesem Zusammenhang profiliert er eine verhältnisontologische Gott-Welt-Bestimmung, in der das Wort Gott den Unterschied zwischen Sein und Nichtsein markiert, ohne den nichts sein könnte: „In einer solchen ‚verhältnisontologischen’ Bestimmung des Gott/Welt-Verhältnisses findet die Kategorie der Zweckdienlichkeit keine
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Verwendung. Stattdessen steht hier die Logik wohltuender Grundlosigkeit im Zentrum.“ H.-J. Höhn, Der „totgeglaubte“ Gott. Provokation des „neuen“ Atheismus. Theologie im Format der Bestreitung, in: J. Knop (Hg.), Die Gottesfrage zwischen Umbruch und Abbruch, a.a.O., 306–324, hier 322. In diesem Zusammenhang wäre darauf aufmerksam zu machen, dass Pannenbergs Anthropologie sicher nicht darauf hin ausgelegt ist, den Gottesgedanken in ein Zweckdienlichkeitsverhältnis einzuspannen.
Gregor Etzelmüller
Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive
Wolfhart Pannenbergs Anthropologie in theologischer Perspektive1 hat für jede zukünftige theologische Anthropologie den Maßstab gesetzt, dass diese im Dialog mit den Natur- und Sozialwissenschaften entfaltet werden muss. Das bedeutet aber zugleich, dass die theologische Anthropologie im interdisziplinären Gespräch beständig weiter- und umgeschrieben werden muss. Wer das Programm „einer theologischen Interpretation und Integration der in den Humanwissenschaften aufgedeckten Phänomene des Menschlichen“2 ernst nimmt, der wird als Theologin bzw. Theologe die Entwicklungen in den Humanwissenschaften mit Lernbereitschaft verfolgen.3 Zehn Jahre nach dem Erscheinen von Pannenbergs Anthropologie wurde in den USA das Werk von Francisco Varela und Evan Thompson The Embodied Mind publiziert,4 das heute als Grundlagenwerk und Klassiker des aktuellen Verkörperungsdiskurses5 dient. Der Neurobiologe Varela und der Philosoph Thompson plädieren dafür, die naturwissenschaftlich-neurologische Beschreibung der menschlichen Kognition gleichsam aus der Perspektive der dritten Person mit der gewöhnlichen Erfahrung, d. h. der Perspektive der ersten Person, zu verschränken. Gegenüber dem Missverständnis, dass sich Kognition im Inneren des Menschen vollziehe, werde dann einsichtig, „dass sensorische und motorische Vorgänge, Wahrneh-
1 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 2 A.a.O., 8. 3 Dabei geht es im interdisziplinären Gespräch darum, „to […] rethink and reconstruct [the own beliefs and traditions]“ und „to pursue overlapping concerns and identify shared problems, and even parallel research trajectories“; „no one disciplinary voice, and no one set of judgements, practices, or principles, will be able to claim absolute priority over, or be foundational for, any other.“ (Wentzel van Huyssteen, Alone in the World? Human Uniqueness in Science and Theology [The Gifford Lectures. The University of Edinburgh. Spring 2004], RThN 6, Göttingen 2006, 16.40f.). 4 Francis Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch, The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, MA 1993. 5 Vgl. dazu einführend Jörg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, Einleitung, in: dies. (Hg.), Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013, 9–102; weiterführend Gregor Etzelmüller/Thomas Fuchs/Christian Tewes (Hg.), Verkörperung – Eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin/Boston 2017.
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men und Handeln in der lebendigen Kognition fundamental untrennbar sind.“6 Wahrnehmung und Bewegung, vermeintlich leibliche und vermeintlich seelische Prozesse sind nicht voneinander zu trennen, sondern bedingen sich wechselseitig. Der Mensch reagiert nicht nur auf seine Welt, sondern gestaltet diese durch seine leiblich situierte Kognition mit. Klassische Grenzziehungen zwischen Objekt und Subjekt, Reiz und Reaktion, Wahrnehmung und Bewegung, Ich und dem Anderen sind immer nur sekundäre Abstraktionen einer vorgängigen Einheit.7
1.
Die Verkörperung des Menschen in der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs
Die wesentliche Einsicht des modernen Verkörperungsparadigmas findet sich bereits in Wolfhart Pannenbergs Anthropologie Was ist der Mensch? von 1962. Dort kann man lesen: „Es gibt keine dem Leibe gegenüber selbstständige Wirklichkeit ‚Seele‘ im Menschen, ebensowenig aber auch einen bloß mechanischen oder bewußtlos bewegten Körper. Beides sind Abstraktionen. Wirklich ist nur die Einheit des sich bewegenden, sich zur Welt verhaltenden Lebewesens Mensch.“8 Diese Einsicht findet sich dort, wo von Anfang an das Christentum sich am stärksten zur Leiblichkeit des Menschen bekannt hat, nämlich in den Ausführungen zur Eschatologie. Mit den altkirchlichen Vätern wendet sich Pannenberg gegen die „griechische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele“:9 „Das Innenleben unseres
6 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Markus Wild, Francis Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch, Enaktivismus – verkörperte Kognition, in: J. Fingerhut u. a. (Hg.), Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013, 293–327, 318. 7 Der Begriff der Verkörperung führt schnell zu einem Missverständnis. Verkörperung könnte bedeuten, dass etwas primär Körperloses sekundär verkörpert wird. Zurecht betont Philipp Stoellger: Die „Theoriemetapher als Figur des Dritten gegenüber Dualisierungen zu begreifen, ist keineswegs selbstverständlich. Ist doch das gängige Vorverständnis von Verkörperung gerade von der Vorstellung bestimmt, etwas zuvor Körperloses wie eine ‚Idee‘ werde sekundär verkörpert. Damit würde die Verkörperung genau das wiederholen und bestätigen, was sie als Problem zu überwinden suchen sollte: den Dual von körperlosen Ideen (oder Seelen, Göttern, Geistern etc.) und deren körperlicher Gestalt“ (Philipp Stoellger, Vom dreifaltigen Sinn der Verkörperung – im Blick auf die Medienkörper des Geistes, in: G. Etzelmüller/A. Weissenrieder [Hg.], Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, TBT 172, Berlin/Boston 2016, 289–316, 291). Mit dem Begriff der Verkörperung soll aber gerade das Gegenteil zum Ausdruck gebracht werden: Das Sekundäre ist das Primäre, der menschliche Geist ist immer schon verkörpert. Die Trennung von Leib und Geist ist demnach eine sekundäre Abstraktion. 8 Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 7 1985, 36. 9 A.a.O., 34.
Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive
Bewusstseins ist so gebunden an unsere leiblichen Funktionen, dass es unmöglich für sich allein fortdauern kann.“10 Indem Pannenberg dem Zusammenhang der großen eschatologischen Symbole – Auferstehung des Leibes, Reich Gottes, Neuschöpfung – nachdenkt, erkennt er die Einheit von Ich, Leib, Gemeinschaft und Welt. „Die Lebewesen und ihre Welt als Einheit aufzufassen, gehört zu den Ausgangspunkten der neuen Biologie und Anthropologie. Dann ist aber eine Verwandlung der Menschen auf die Erfüllung ihrer Bestimmung hin nur sinnvoll zu denken in Verbindung mit einer Neuschöpfung der ganzen Welt.“11 Das Christentum hat in seiner Lehre von der Hoffnung, also dort, wo man die Eschatologie nicht hat verkümmern lassen, immer um die zentralen Einsichten des modernen Verkörperungsparadigmas gewusst: Der Mensch ist innig an seinen Leib gebunden – und mittels seines Leibkörpers sowohl zwischenleiblich immer schon beim Anderen als auch in seine Welt eingebettet.12 Blickt man von dieser Einsicht aus zurück auf Pannenbergs Anthropologie, stellt sich die Frage, warum in dieser – trotz der Einsicht, dass nur die Einheit des sich zur Welt verhaltenden Lebewesens Mensch wirklich ist – so wenig vom Leib und noch weniger vom Körper die Rede ist. In Pannenbergs Anthropologie wird der Leib seiner Körperlichkeit entkleidet und als Kern des Selbst verstanden.13 Konsequenterweise fehlt im Stichwortregister von Pannenbergs Anthropologie das Stichwort Körper. Günter Boss behauptet in seiner 2005 in Fribourg eingereichten Dissertation sogar, dass bei Pannenberg „‚Ich‘ und ‚Selbst‘ gewissermaßen körperlos“ blieben.14 Meines Erachtens hängt das Verschwinden des Körpers mit Pannenbergs Orientierung an der Philosophischen Anthropologie zusammen. Einerseits gehört die Philosophische Anthropologie zur Vorgeschichte des heutigen Verkörperungsdiskurses. Pannenberg formuliert: „Die ‚philosophische Anthropologie‘ teilt mit dem Behaviorismus und mit der deutschen Verhaltensforschung den Grundsatz, den Menschen von seiner Leiblichkeit her zu deuten […]. Sie stimmt weiter mit der deutschen Verhaltensforschung und der Sozialpsychologie G.H. Meads gegen den klassischen Behaviorismus darin überein, das Verhalten schon der Tiere, erst recht 10 A.a.O., 37. 11 A.a.O., 38. 12 Vgl. dazu umfassend Gregor Etzelmüller, Gottes verkörpertes Ebenbild. Eine theologische Anthropologie, Tübingen 2021, 316–326. 13 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band 2, Göttingen 1991, 210 Anm. 16, wo Pannenberg sich indirekt zur These bekennt, „daß der Leib den Kern („nucleus“) des Selbst bildet“. Mit dem Bekenntnis zur personalen „Einheit von Leib und Seele“ (vgl. a.a.O., 209–232) geht das Verschwinden des Körpers, der im Gegensatz zum Leib nur noch als „toter Körper“ (a.a.O., 216) erscheint, einher. 14 Günter Boss, Verlust der Natur. Studien zum theologischen Naturverständnis bei Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg, IThSt 74, Innsbruck/Wien 2006, 251.
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aber des Menschen als ein Sichverhalten, als Äußerung eines Subjektzentrums also, zu verstehen.“15 Mit dem modernen Verkörperungsparadigma teilt die Philosophische Anthropologie zwei zentrale Einsichten: 1. Wir können den Menschen nur von seiner Verkörperung her verstehen – und eben deshalb nur im Durchgang durch die Biologie. 2. Der Körper ist mehr als das, was eine wissenschaftliche Beschreibung desselben, die sich an allgemeinen Gesetzen orientiert, erkennen kann. Denn dem Körper, der deshalb unterscheidend vom allein biologisch beschriebenen Körper Leib genannt wird, ist Subjektivität eingeschrieben. Zurecht fährt Pannenberg fort: Die philosophische Anthropologie „unterscheidet sich aber sowohl vom Behaviorismus als auch von der Verhaltenswissenschaft […] dadurch, dass sie dem Menschen eine Sonderstellung im Bereich des animalischen Lebens zuerkennt“.16 Insbesondere bei Max Scheler dient das Studium der Biologie letztlich dazu, den Menschen vom biologischen Leben abzugrenzen. Scheler formuliert: „Das neue Prinzip, das den Menschen zum Menschen macht, steht außerhalb alles dessen, was wir Leben […] im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist ein allem Leben überhaupt entgegengesetztes Prinzip“.17 Indem Pannenberg an die Philosophische Anthropologie anschließt,18 wird der belebte Körper zugunsten des Selbstbewusstseins abgeblendet. Als Geist tritt der Mensch, obwohl „mit seinem Leibe identisch“,19 „dem eigenen Körper und in ihm dem Inbegriff seiner Antriebe und ihres Luststrebens gegenüber.“20 Anstatt mit Paulus den Leib als Tempel des Heiligen Geistes zu würdigen, schreibt
15 Pannenberg, Anthropologie, 33. 16 Ebd. 17 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von W. Henckmann, Darmstadt 2018, 46f. 18 Pannenberg kritisiert an Scheler nicht dessen Geistbegriff als solchen, sondern den Sachverhalt, dass nach Scheler der Geist „gleichsam von außen in den Prozeß der Evolution eingreift“ (Pannenberg, Anthropologie, 34): Scheler verkenne, dass auch der Geist „den Charakter einer Geschichte“ habe (a.a.O., 39). Der Geistbegriff ermögliche aber, die „Weltoffenheit“ des Menschen und dessen „Verhältnis zu Gott“ konstruktiv aufeinander zu beziehen (vgl. Wolfhart Pannenberg, Humanbiologie – Religion – Theologie. Ontologische und wissenschaftstheoretische Prämissen ihrer Verknüpfung [1988], in: ders., Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. 2, Göttingen 2000, 99–111, 99.105; Anja Lebkücher, Theologie der Natur. Wolfhart Pannenbergs Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften, Neukirchen-Vluyn 2011, 174). Zu Pannenbergs Rezeption der Philosophischen Anthropologie vgl. Gunther Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel, Pannenberg-Studien 7, Göttingen 2021, 185–209.215f. 19 Pannenberg, Anthropologie, 82. 20 A.a.O., 81. Scheler und Pannenberg sind gemeinsam der Auffassung, dass „der Mensch als Geist sich nicht nur dem Leben im Allgemeinen, sondern auch seinem eigenen, individuellen Leben entgegensetzt [!] und entgegensetzen muss, um seiner humanen Wesensbestimmung zu entsprechen“ (Wenz, Im Werden begriffen, 193).
Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive
Pannenberg am Ende seiner Anthropologie: „Das menschliche Bewusstsein ist dem Wirken des Geistes […] darum besonders nahe, weil […] der Mensch vornehmlich in seinem Bewusstseinsleben seine exzentrische Seinsart realisiert.“21 Es gibt in Pannenbergs Anthropologie eine kurze, spannende Reflexion des Sachverhalts, dass eine moderne Anthropologie den Leibkörper als „Kern des Selbst“ verstehen könnte.22 Diese Reflexion setzt ein mit Nietzsches Wort: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“23 Pannenberg erkennt also die Möglichkeit, das Selbst als prinzipiell verkörpert zu denken, befürchtet aber, dadurch die Freiheit und Subjektivität des Menschen zu verspielen. Weil Pannenberg meint, dass derjenige, der vom Leib spricht, den Menschen letztlich wieder auf „äußerlich beobachtbares Verhalten“ reduziere,24 deshalb will er Leib und Selbst konsequent unterscheiden. Hätte Pannenberg nicht primär den Anschluss an die Philosophische Anthropologie, sondern stärker an den amerikanischen Pragmatismus,25 die (französische) Phänomenologie26 und die medizinische Anthropologie27 gesucht, hätte die Entwicklung seiner Anthropologie möglicherweise einen anderen Gang genommen. Von Maurice Merleau-Ponty hätte er lernen können, dass dem Leib, der ich bin, immer schon Subjektivität eingeschrieben ist. „Wenn meine rechte Hand meine
21 Pannenberg, Anthropologie, 509. 22 A.a.O., 198; vgl. 197f. 23 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I–IV, KSA 4, Berlin/New York 2 1988, 40, zitiert bei Pannenberg, Anthropologie, 198. 24 Pannenberg, Systematische Theologie II, 209f. 25 Vgl. John Dewey, Körper und Geist (1928), in: ders., Philosophie und Zivilisation, Frankfurt a.M. 2003, 292–309, 292: „Es gibt eine zeitgenössische philosophische Bewegung, die als Pragmatismus bekannt ist, die, unzufrieden mit der üblichen Trennung von Theorie und Praxis, Erkenntnis und Handlung, das Denken und die daraus hervorgehenden Überzeugungen selber als Formen des Handels betrachtet und sich bemüht, sie unter dem Aspekt der Verhaltenslenkung zu sehen.“ Deshalb aber löste der Pragmatismus den Dualismus von Geist und Körper auf. Denn in „genau dem Grad, in dem Handeln, Verhalten, zum Zentrum gemacht wird, brechen die traditionellen Schranken zwischen Geist und Körper zusammen und lösen sich auf.“ (A.a.O., 295). Zum Pragmatismus als Vorläufer des aktuellen Verkörperungsdiskurses vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild, Einleitung, 32–43. 26 Zur Phänomenologie (auch Edmund Husserls und Martin Heideggers) als dem anderen Vorläufer der gegenwärtigen Philosophie der Verkörperung vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild, Einleitung, 25–32: „Husserl zufolge ist also der Leib als bewegliches Zentrum eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Objekten im Raum. Er ist sich dabei im Klaren darüber, dass er den Körper zum Lokus bestimmter Aspekte der Kognition macht“ (a.a.O., 26). 27 Vgl. grundlegend Viktor von Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie, Gesammelte Schriften 5, Frankfurt a.M. 1987; einführend Gregor Etzelmüller, Der kranke Mensch als Thema theologischer Anthropologie. Die Herausforderung der Theologie durch die anthropologische Medizin Viktor von Weizsäckers, in: ZEE 53 (2009), 163–176, 164–166.
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linke berührt, empfinde ich sie als ein ,physisches Ding‘, aber im selben Augenblick tritt, wenn ich will, ein außerordentliches Ereignis ein: Auch meine linke Hand beginnt meine rechte Hand zu empfinden, das Ding verändert sich, es wird Leib, es empfindet. Das physische Ding belebt sich – oder genauer, es bleibt, was es war […]. Ich berühre mich also berührend, mein Leib vollzieht ‚eine Art Reflexion‘.“28 Von John Dewey und Viktor von Weizsäcker hätte Pannenberg sich darauf aufmerksam machen lassen können, dass Wahrnehmung und Bewegung beständig interagieren und sich wechselseitig prägen, ohne dass man sagen könnte, wer angefangen hat.29 Schon 1896 hat John Dewey in Philosophie und Zivilisation kritisiert, dass wir den sensorisch-motorischen Schaltkreis von Empfindung, Idee und Handlung verkennen; „der ältere Dualismus von Leib und Seele findet ein entferntes Echo in dem aktuellen Dualismus von Reiz und Reaktion. Statt den Charakter von Empfindung, Idee und Handlung aus ihrer Stellung und Funktion im sensorisch-motorischen Schaltkreis zu interpretieren, neigen wir immer noch dazu, den Letzteren aus unseren vorgefassten und vorformulierten Ideen, zwischen Empfindungen, Gedanken und Akten bestehe ein starrer Unterschied, zu interpretieren.“30 Wenn wir etwa auf ein Geräusch reagieren, reagieren wir nicht auf einen bloßen Reiz, sondern auf einen „Akt des Lauschens“, an dem „ein gewisser definiter motorischer Apparat“ beteiligt sei; „die Bewegung und Haltung des Kopfes, die Spannung der Ohrmuskeln sind für die ‚Aufnahme‘ des Geräusches notwendig. Es ist genauso wahr zu sagen, die Geräuschempfindung entstehe aus einer motorischen Reaktion, wie das Weglaufen sei eine Reaktion auf das Geräusch.“31 Das bedeutet aber, dass geistige Aktivitäten nicht nur physiologische voraussetzen, sondern vielmehr, „dass die organische Reaktion, das Verhalten des Organismus, den Inhalt des Bewusstseins beeinflusst.“32 50 Jahre später formuliert Weizsäcker: „Wenn ich so jetzt die Medizin meines Lebensabschnittes, von 1906 bis 1946, überblicke, so ist das, was mir den größten Eindruck macht, die Übermacht der körperlichen Situation des Menschen. Es ist die Abhängigkeit des Geistes vom Leibe, der Seele vom Triebe; aber auch die Klugheit
28 Maurice Merleau-Ponty, Zeichen, auf der Grundlage der Übersetzungen von B. Schmitz u. a. kommentiert und mit einer Einleitung hg. von C. Bermes, Hamburg 2007, 243. 29 Vgl. entsprechend auch ders., Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Phänomenologischpsychologische Forschungen 7, Berlin 1966, 137: „Wahrnehmung und Bewegung bilden nur ein System, das als Ganzes sich modifiziert.“. 30 John Dewey, Die Elementareinheit des Verhaltens (1896), in: ders., Philosophie und Zivilisation, Frankfurt a.M. 2003, 230–244, 230. 31 A.a.O., 235. 32 Ders., Der praktische Charakter der Realität (1907), in: ders., Philosophie und Zivilisation. Frankfurt a.M. 2003, 38–57, 47.
Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive
dieser Leiblichkeit […]; die Weisheit, die in der Materie waltet; die Hilfe, die die Natur dem Geiste bringt […]. Dieser Blick auf den Menschen ist’s, welcher die Trennung von Natur und Geist […] vereitelt.“33 Vielleicht könnte man sagen: Pannenberg hat zwar die Abhängigkeit des Bewusstseins vom Leib erkannt, nicht aber die Weisheit, die im Leib waltet, und die Hilfe, die der Leib dem Geist bringt.
2.
Die Weisheit des Leibes als gute Schöpfungsgabe Gottes
Wo man die Verkörperung des menschlichen Geistes wahrnimmt, erschließt sich zugleich die Weisheit des Leibes.34 Der Leib ist nicht einfach ein Objekt, zu dem ich mich verhalte, sondern er lotet mich als der Leibkörper, der ich bin, durch meine Welt. Er erschließt mir meine Welt, er öffnet mich für andere, reagiert oftmals intuitiv angemessen – und lässt mich auch geistig rege sein. Einer der führenden Verkörperungstheoretiker der Gegenwart, Shaun Gallagher, betont, dass „the normal and healthy subject can in large measure forget about her body in the normal routine of the day. The body takes care of itself, and in doing so, it enables the subject to attend, with relative ease, to other practical aspects of life. To the extent that the body effaces itself, it grants to the subject a freedom to think of other things.“35 Der Leib entlastet uns davon, alle Schritte unseres Lebens bewusst zu steuern, und verschafft dem Menschen so die Freiheit, Bewusstsein in komplexere Sachverhalte und Beziehungen jenseits alltäglicher Routinen zu investieren. Indem der Leibkörper zahlreiche Handlungen gleichsam im Modus des Autopiloten vollzieht, ermöglicht er dem Menschen, intentional zu handeln. Unser Leib befreit uns, unser Bewusstsein auch über unsere unmittelbare Umgebung hinaus zu richten. Der Leibkörper erschließt sich beeindruckend differenzierend und dennoch zugleich Gestaltzusammenhänge wahrnehmend nicht nur die gewordene Welt, sondern reagiert immer schon auf deren Affordanzen. Mein Verhalten passt sich meiner Umwelt an, bevor ich mir diese bewusst erschlossen habe. In dieser oftmals unbewussten Vernünftigkeit des Leibes, die in der ständigen Wechselwirkung von Wahrnehmung und Bewegung gründet, ist auch unsere Intelligenz fundiert.
33 Viktor von Weizsäcker, Die Medizin im Streit der Fakultäten, in: ders., Grundfragen medizinischer Anthropologie. Allgemeine Medizin, Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a.M. 1987, 197–211, 202. 34 Vgl. dazu umfassend Etzelmüller, Gottes verkörpertes Ebenbild, 57–221. 35 Shaun Gallagher, How the Body Shapes the Mind, Oxford 2 2013, 55.
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2.1
Die Weisheit des Leibes – eine andere Deutung der Libet-Experimente
Die Experimente von Benjamin Libet (1916–2007) zu bewussten Willensakten zählen zu den in der Philosophie am häufigsten diskutierten empirischen Untersuchungen. Libet bat seine Versuchspersonen, ihr Handgelenk zu einer Zeit zu bewegen, die sie selbst bestimmen konnten. Die Probanden sollten sich den genauen Zeitpunkt merken, an dem sie sich entschlossen, ihr Handgelenk zu beugen. Sie berichteten, dass sie diese Absicht etwa 200 Millisekunden vor dem Beginn der Bewegung hatten. Libet maß ebenfalls das ‚Bereitschaftspotential‘ im Gehirn, welches mit Hilfe eines EEG messbar ist. Dieses Bereitschaftspotential trat ungefähr 550 Millisekunden vor dem Bewegungsbeginn auf.36 Scheinbar leitet also das Gehirn eine Handlung ein, bevor wir uns des Wunsches zu handeln bewusst sind. Der Neurologe Wolfgang Prinz folgert: Nicht der Mensch entscheidet, was er tut, sondern unbewusste neuronale Prozesse determinieren, was ein Mensch will. „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“37 Diese gängige Auslegung der Experimente leidet an der eingespielten Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Prozessen. Weil die Handlung nicht auf mein Bewusstsein zurückgeführt wird, wird sie einem in der dritten Person beschreibbaren Körperorgan, dem Gehirn, zugeschrieben. Meines Erachtens wäre es sinnvoller, diese Entscheidung dem Leibkörper zuzuschreiben, der unterbewusst agiert, dabei aber auf die Intention des Probanden bezogen ist. Der Proband soll handeln – und deshalb bereitet sein Leibkörper diesen Prozess vor. Bedenkt man zudem das Setting des Experiments, wird deutlich, dass der Proband einer Stresssituation ausgesetzt ist. Er muss sich darauf konzentrieren, wann genau er die Entscheidung trifft. In dieser Stresssituation zeigt sich erneut die Leistungskraft des Leibkörpers, indem dieser dem Probanden die völlig banale Entscheidung, seine Hand zu bewegen, abnimmt. Insofern belegen die Libet-Experimente nicht die Aussage, dass wir durch neuronale Prozesse determiniert sind. Die Experimente belegen vielmehr die Leistung des Leibkörpers, gleichsam mitzudenken, vorausgehend zu handeln und so Stress zu reduzieren. Sie dokumentieren die „vorreflexive Intentionalität des menschlichen Körpers“38 .
36 Vgl. Stephen M. Kosslyn, Vorwort, in: Benjamin Libet, Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, stw 1834, Frankfurt a.M. 2007, 9–16, 10. 37 Wolfgang Prinz, Freiheit oder Wissenschaft, in: M. v. Cranach/K. Foppa (Hg.), Freiheit des Entscheidens und Handelns. Ein Problem der nomologischen Psychologie, Heidelberg 1996, 86–103, 87. 38 Dieser im Anschluss an den amerikanischen Pragmatismus gebildete Begriff findet sich bei Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, stw 1248, Frankfurt a.M. 4 2012, 256, vgl. 255–265.
Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive
Libet selbst hat aus seinen Experimenten keine Widerlegung der Willensfreiheit abgeleitet. Er meinte (auch experimentell nachweisen zu können), dass der Mensch, nachdem ihm die Absicht bewusst geworden sei, noch 100 ms Zeit habe, die initiierte Bewegung abzubrechen. „Der freie Wille initiiert also keinen Willensprozess; er kann jedoch das Resultat steuern, indem er den Willensprozess aktiv unterdrückt und die Handlung selbst abbricht oder indem er die Handlung ermöglicht“, also selbst nicht eingreift.39 Ob Libet wirklich die Existenz dieser Veto-Möglichkeit aufgedeckt hat, ist umstritten.40 Dennoch scheint mir Libets Beschreibung nachvollziehbar zu sein. Interpretiert man seine Experimente so, wie er es vorschlägt, dann würden sie zeigen, dass unser Leibkörper mitdenkt und dadurch unsere Handlungen ermöglicht, ohne unser Handeln vollständig zu determinieren. Der Leib ermöglicht uns, in einen Bewusstseinsmodus umzuschalten, das leibliche Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern. 2.2. Der Beitrag des Leibes zur Lösung von Konflikten – die Weisheit des Leibes nutzen Selbst in Krankheiten lässt sich die Weisheit des Leibes erkennen. Ich möchte diesen Punkt hier besonders herausstellen, weil in Pannenbergs Anthropologie mit dem Leib auch die menschliche Vulnerabilität ausgeblendet wird. Die medizinische Anthropologie lehrt, auch in Krankheitsverläufen die Leistungskraft und Weisheit des Leibes zu erkennen. Die Wandlung eines seelischen Konfliktes in eine körperliche Krankheit kann zur Genesung des ganzen Menschen beitragen. Viktor von Weizsäcker beschreibt diesen Prozess wie folgt: Der Mensch „flieht aus einer unerträglichen Situation unbewusst in die Krankheit“, ersetzt „den seelischen Konflikt durch eine körperliche Unterwerfung […] und der Körper leistet ihm den Dienst – weiterzuleben, zu genesen und neu anzufangen.“41 Indem der Leib durch sein Handeln psychische Konflikte zum Ausdruck bringt, kann er zudem Bewusstseinsentwicklungen anstoßen. Krankheit kann als „Anerbietung eines Wissens um die Wahrheit“ erfahren werden.42 Eben deshalb fordert Weizsäcker 39 Benjamin Libet, Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, stw 1834, Frankfurt a.M. 2007, 183. 40 Vgl. nur Simone Kühn/Marcel Brass, Retrospective Construction of the Judgement of Free Choice, in: Conscious Cogn 18 (2009), 12–21, 20; doch legen neuere Untersuchungen von John-Dylan Haynes die Annahme einer solchen Veto-Möglichkeit nahe; vgl. Matthias Schultze-Kraft u. a., The Point of No Return in Vetoing Self-initiated Movements, in: Proc Natl Acad Sci USA 113 (2016), 1080–1085. 41 Viktor von Weizsäcker, Von den seelischen Ursachen der Krankheit, in: ders., Körpergeschehen und Neurose. Psychosomatische Medizin, Gesammelte Schriften 6, Frankfurt a.M. 1986, 399–417, 409. 42 Ders., Krankengeschichte, in: ders., Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie, Gesammelte Schriften 5, Frankfurt a.M. 1987, 48–66, 65.
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eine veränderte Einstellung zur Krankheit in der Medizin: „Die alte Einstellung ‚Weg damit‘ muß ersetzt werden durch ein ‚Ja, aber nicht so‘. Ja zu dem, was der Körper sagen will, und das aber nicht so zu dem, wie er es sagt, in der stellvertretenden Form der Krankheit nämlich.“43 Die alte Einstellung zur Krankheit, die auf die Beseitigung eines Defektes ziele, könne die Chance der Krankheit als Krise verspielen. In den letzten Jahren lässt sich eine verstärkte Tendenz erkennen, die Weisheit des Leibes in therapeutischen Kontexten bewusst zu nutzen. Dabei geht es nicht nur um Körperübungen, die Stress reduzieren, bestimmte Emotionen hervorrufen und so bestimmte kognitive Prozesse erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen, sondern darum, den Leibkörper selbst im Therapieprozess mitsprechen zu lassen. Indem Menschen ihren Leib aufmerksam wahrnehmen, erschließt sich ihnen, wie sie sich eigentlich fühlen. Über ihren Leib vermittelt treten sie (für manche Menschen in der Therapie das erste Mal im Leben) mit ihren eigensten Wünschen und Empfindungen in Kontakt. Indem der eigene Leib einem Menschen Zugang zu sich selbst verschafft, vermittelt er dem Menschen „Sicherheit und Identität, Realbezüge und Kontrollmöglichkeiten“. Patienten, die sich nur noch als „fremdbestimmte Marionette“ empfunden haben, gewinnen so „im leibhaftigen Wahrnehmen und daraus entstehendem Handeln“ Gestaltungsmöglichkeiten zurück.44 Die Leibwahrnehmung erschließt sich als Ressource der Problemlösung. Doch nicht nur in explizit therapeutischen Kontexten gilt es, sich für die Weisheit des Leibes offen zu halten. Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas rät: Bei der Lösung eines Problems sollte man sich „nicht auf eine Handlungsweise versteifen, sondern […] sich freisetzen für die Einfälle und neuen Handlungsansätze, die sich aus der vorreflexiven Intentionalität des menschlichen Körpers ergeben.“45 Entsprechend plädiert der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs für eine „neue Diätetik, eine Kunst leiblicher Lebensführung“, die in der Bereitschaft bestehe, „sich auf das spontane Werden des Leibes einzulassen, statt alles machen zu wollen“.46 Obwohl solche Formulierungen protestantischen Ohren fremd klingen,47 sind sie zutiefst Bestandteil unserer eigenen Tradition. Das Gebot der Nächstenliebe ruft
43 Ders., Das Problem des Menschen in der Medizin, in: ders., Allgemeine Medizin. Grundfragen medizinischer Anthropologie, Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a.M. 1987, 366–371, 369f. 44 Vgl. Claudia Böttcher, Burnout, in: A. Künzler u. a. (Hg.), Körperzentrierte Psychotherapie im Dialog. Grundlagen, Anwendungen, Integration. Der IKP-Ansatz von Yvonne Maurer, Heidelberg 2010, 193–204, 201. 45 Joas, Die Kreativität des Handelns, 248f. 46 Thomas Fuchs, Zwischen Leib und Körper, in: M. Hähnel/M. Knaup (Hg.), Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, Darmstadt 2013, 82–93, 92. 47 Trügt mein Eindruck – oder liege ich richtig mit der Vermutung, dass man in Pannenbergs Oeuvre ein Lob der spontanen Aktivität des Leibes vergeblich sucht?
Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive
dazu auf, die zwischenleiblich fundierte, affektive Teilnahme am Leiden der anderen das eigene Handeln prägen zu lassen. Das wird deutlich, wenn man die Erzählung vom barmherzigen Samariter betrachtet: Dass dieser dem Zusammengeschlagenen hilft, ist darin begründet, dass er ihn nicht nur sah, sondern „Mitleid fühlte/ esplagchnisthē“ (Lk 10,33). Er lässt sich durch das Leid des anderen berühren – und dieses Berührt-Werden ist ein körperliches Ergriffensein. Denn das entsprechende Substantiv splagchnon, das immer nur im Plural begegnet, bezeichnet die inneren Organe. Der Samariter spürt also das Leiden des anderen am eigenen Leib. Er handelt anders als die Vorübergehenden, weil er dieses leibliche Erleben sein Handeln prägen lässt.
3.
Der Mensch als sarx und als sōma pneumatikon – Sünde und Bestimmung des Menschen
Die christliche Theologie hat den Menschen nie nur in seiner Beschaffenheit wahrgenommen, sondern stets auch dessen Bestimmung thematisiert.48 Nach Luther kennt die Philosophie „den ganzen und vollständigen Menschen“ gerade deshalb nicht, weil sie nicht um den Zweck des Menschen wisse, von Gott gerechtfertigt und zum Bild Gottes vollendet zu werden.49 Nach Calvin ist der Mensch zur Verherrlichung Gottes geschaffen, d. h. dazu, Gottes gute Intentionen für seine Schöpfung, Gottes Gerechtigkeit und Liebe, in dieser Welt zu spiegeln.50 Reformatorisch ist der Mensch nur von seinem Ziel her zu begreifen. „Was ihm an Gaben mit seiner Erschaffung verliehen ist, kommt daher keinen Augenblick als ein Bestand in Frage, der in sich selbst sinnvoll wäre, sondern ist von vorneherein teleologisch ausgerichtet. Dem ‚qualis‘ seiner natürlichen Ausstattung korrespondiert ein ‚quorsum‘, ein wohin?, wozu?, zu welchem Zweck?“51 Weil der menschliche Leib zur Verherrlichung Gottes geschaffen, von diesem Ziel aber „noch gar weit entfernt“ ist,52 verorten die biblischen Überlieferungen den
48 Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen in der neueren Theologiegeschichte, SBAW.PH 8, München 1979. 49 Martin Luther, Disputatio D. Martini Lutheri de homine/Disputation D. Martin Luthers über den Menschen (1536), in: ders., Der Mensch vor Gott, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Band 1, hg. von W. Härle, Leipzig 2006, 663–669, 667; vgl. die Thesen 19f., 13f., 32, 38. 50 Vgl. Johannes Calvin, Der Genfer Katechismus von 1545, in ders., Gestalt und Ordnung der Kirche, Calvin Studienausgabe. Band 2, hg. von E. Busch u. a., Neukirchen 1997, 1–135, 17: Gott hat uns „in diese Welt gestellt, um in uns verherrlicht zu werden.“ (Antwort auf Frage 2). 51 Christian Link, Die Finalität des Menschen. Zur Perspektive der Anthropologie Calvins, in: ders., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen 2009, 123–144, 127. 52 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Im Auftrag des Reformierten
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Leib an der Schnittstelle von Leben und Tod, Gut und Böse. Schon das – biblischkanonisch betrachtet – erste Menschenkind, Kain, steht in der Spannung, entweder der Sünde, die vor seiner Tür lauert, zu verfallen und seinen Bruder aus Neid zu töten, oder aber gut zu handeln und so den Blick frei aufrichten zu können. Indem Gott Israel die Tora gibt, stellt er das Volk in die Spannung von Leben und Tod: „Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Gute vor, den Tod und das Böse.“ (Dtn 30,15) Nach Paulus kann der sterbliche Leib entweder von der Sünde beherrscht (vgl. Röm 6,12) oder von Gottes Geist durchdrungen zum „Tempel des Heiligen Geistes“ werden (1. Kor 6,19). Der Leib steht zwischen Sünde und göttlichem Geist, so dass Paulus die Gläubigen aufrufen kann: „Gebt nicht der Sünde eure Glieder hin als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern gebt euch selbst Gott hin als solche, die tot waren und nun lebendig sind, und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit.“ (Röm 6,13) In dieser Wahrnehmung des menschlichen Leibes liegt nach dem Philosophen Donn Welton der entscheidende Beitrag der biblischen Überlieferungen zu einem sachangemessenen Verständnis des menschlichen Leibes. Die biblischen Überlieferungen „place the body at the intersection of good and evil, life and death, addressing issues that we are only beginning to formulate.“53 Sie führen uns zur Frage nach der Bestimmung und der Zukunft des leiblichen Lebens. Zurecht hält Welton dabei fest: „The New Testament does not argue for a rejection of the body but for its redemption and its transformation into a site of moral and spiritual disclosure.“54 Der Leib ist dazu bestimmt, zu einem Ort der Offenbarung Gottes, zu einem Tempel des Heiligen Geistes zu werden, der Gottes gute Absichten für seine Schöpfung erfahrbar werden lässt.55 Doch der Mensch kann diese Bestimmung auch verfehlen – und er verfehlt sie de facto immer wieder. Anstatt sich an Gottes guten Intentionen für seine Schöpfung zu orientieren, der Welt als Bild Gottes dessen Gerechtigkeit, Liebe und Menschenfreundlichkeit zu vermitteln, investiert der Mensch seine Lebensenergie in die vermeintliche Steigerung der eigenen Lebensmöglichkeiten auf Kosten anderer. Er verfällt dem, was er im fleischlichen, d. h. biologischen Leben, als vermeintliches Lebensgesetz erkennt: dem Kampf um die Durchsetzung der eigenen Interessen. Die Spannung, mit der auch Pannenberg ringt, dass die „Ichhaftigkeit [einerseits] zu Gottes guter Schöpfung“ gehört, andererseits aber zur Sünde werden kann,56
53 54 55 56
Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2 2009, 375: Inst. III,6,5. Donn Welton, Biblical Bodies, in: ders. (Hg.), Body and Flesh. A Philosophical Reader, Oxford 1998, 229–258, 229. A.a.O., 255. Vgl. dazu Etzelmüller, Gottes verkörpertes Ebenbild, 261–309. Pannenberg, Was ist der Mensch, 47.
Verkörperung als Thema einer interdisziplinären Anthropologie in theologischer Perspektive
lässt sich auflösen, wenn man biologisch ansetzt: Als Organismus ist der Mensch genötigt, sich von organischem Material zu ernähren, lebt er also immer auf Kosten anderen Lebens. Aber der Mensch ist nicht genötigt, das Gesetz des Stoffwechsels auch sein soziales Leben prägen zu lassen – also sich in seinem Verhalten am biologischen Leben, mit Paulus gesagt: am Fleisch, zu orientieren. Der christliche Glaube markiert dabei eine zentrale Differenz: Obwohl alle Menschen gemäß dem Fleisch leben, gehört der Sachverhalt, dass der Mensch der Sünde verfällt, nicht zur conditio humana. Der Mensch ist von Natur aus endlich, verletzlich und in seiner Weltwahrnehmung begrenzt, aber nicht Sünder. Diese Differenz erschließt sich dem christlichen Glauben im Blick auf Jesus Christus, der in derselben leiblich-fleischlichen Verfasstheit gelebt hat wie wir, ohne der Macht der Sünde zu verfallen. Indem Christus ein leibliches Leben geführt hat, das nicht von der Sünde geprägt war, hat er die scheinbar unlösbare Kopplung von Fleisch und Sünde als eine Täuschung erwiesen. Man kann auch im Fleisch ein Leben führen, das Gottes Willen entspricht. Eben deshalb erkennt der christliche Glaube in Jesus Christus die Bestimmung des Menschen: Der Mensch ist dazu bestimmt, an Gottes Auseinandersetzung mit der Sünde teilzunehmen, indem er wie Jesus Christus Glaube, Liebe und Hoffnung kommuniziert.57 Er soll sein leibliches Verhalten durch den Geist Jesu Christi prägen lassen – und so zu einem sōma pneumatikon (1. Kor 15,44) werden. Weil Gott selbst aber für diese Bestimmung einsteht, impliziert sie eine Verheißung für das leibliche Leben: Dieses kann durch das Wirken des Heiligen Geistes zu einem Agenten von Glaube, Liebe und Hoffnung werden und so an der Gestaltung des ewigen Lebens mitwirken. Deshalb ist das ewige Leben nicht nur eine zukünftige Größe, die in radikaler Diskontinuität zum gegenwärtigen, leiblichen Leben steht. Wo das leibliche Leben von Gottes Geist bestimmt wird, wird das ewige Leben schon hier und jetzt erfahren. Oder mit Pannenberg gesprochen: Die Zukunft der Vollendung „wirkt durch den Geist schon in die Gegenwart der Menschen hinein. […] Wenngleich Sünde und Tod erst in der eschatologischen Vollendung endgültig überwunden sein werden, so ist doch der Sieg über beide im gegenwärtigen Wirken des Geistes und vor allem in seiner Gegenwart als Gabe in den Glaubenden schon auf dem Plan.“58 Insofern unsere Leiber Tempel des Heiligen Geistes sind, „sind wir also schon jetzt identisch mit dem Leben, zu dem wir künftig auferweckt werden.“59
57 Vgl. Günter Thomas, Die Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung als Gestalt christlichen Lebens, in: JBTh 29 (2014), 283–301. 58 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band 3, Göttingen 1993, 596. 59 Ders., Was ist der Mensch, 57.
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Leben, Narrativität und Transzendenz Pannenbergs Begriff der menschlichen Person
1.
Theorie der Person?
Der Begriff der Person darf als ein Schlüsselbegriff gelten, sowohl für die Philosophie wie auch für die Theologie. Denn in ihm konvergieren ontologische Fragen nach Substanz und Identität und praktische Fragen nach Würde und Verantwortung derart, dass immer auch die Rolle anderer Personen für die Person bedeutsam wird.1 Ziel dieses Beitrags ist es, Wolfhart Pannenbergs Begriff der menschlichen Person zu systematisieren und zu kontextualisieren, wie er ihn vor allem in seinem Aufsatz „Person und Subjekt: Zur Überwindung des Subjektivismus im Menschenbild und im Gottesverständnis“ (1976) dargelegt hat.2 Darüber hinaus beziehe ich mich auf seine Anthropologie in theologischer Perspektive (Anthr.) und den zweiten Band seiner Systematischen Theologie (STh, II). Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass Pannenberg in diesen Schriften nicht nur eine Ideengeschichte des theologischen Personbegriffs bietet, sondern auch Ansätze einer Theorie der menschlichen Person, die aber nur implizit vorliegt. Unter dem stark rezeptiven und ideengeschichtlichen Gestus seiner Schriften finden sich Spuren einer systematischen Theorie der menschlichen Person. Diese Theorie soll im Folgenden mit Rekurs auf klassische und neuere Theorien der Person in ein systematisches Gespräch gebracht werden, um so noch deutlicher an Profil gewinnen zu können. Um Pannenbergs Begriff der menschlichen Person zu systematisieren und kontextualisieren, werde ich in einem ersten Schritt Pannenbergs Begriff der Person von subjektivitätstheoretischen Ansätzen im Ausgang von John Locke abgrenzen. In einem zweiten Schritt werde ich Pannenbergs Begriff des Lebens exponieren, der den Begriff der Person fundiert. Dieser Lebensbegriff lässt sich durch den Begriff der Lebensgeschichte auf narrativistische Ansätze personaler Identität beziehen. Als unterscheidendes Merkmal für Pannenbergs Personbegriff erweist sich dabei jedoch sein Begriff der Transzendenz. Dieser zeigt an, dass unser Leben und
1 Zur historisch-systematischen Bedeutung des Personbegriffs vgl. J. Noller: Artikel „Person“ (dt./engl). In: Online-Lexikon-Naturphilosophie. https://doi.org/10.11588/oepn.2019.0.65542. 2 In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 18/2 (1976), 133–148; leicht verändert nachgedruckt unter dem Titel „Person und Subjekt“ in GSTh 2, 80–95.
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unsere Lebensgeschichte nicht in sich selbst gegründet sind, sondern über sich hinausweisen.
2.
Subjekt vs. Person
Pannenbergs Begriff der menschlichen Person gewinnt sein Profil in Abgrenzung vom Begriff des menschlichen Subjekts. Auch wenn beide Begriffe häufig bedeutungsgleich gebraucht werden, so weist Pannenberg zurecht darauf hin, dass der Begriff der Person wesentlich komplexer als der Begriff des Subjekts ist. Pannenberg argumentiert dafür, Subjektivität „als ein Moment der Personalität“ zu verstehen, so dass sie im Hegel’schen Sinne „aufgehoben in das Personsein“3 ist. Inwiefern ist aber Subjektivität in Personalität aufgehoben? Pannenberg schreibt, dass die Person das Subjekt transzendiert, sofern es im Sinne einer „bloßen Tatsache eines Ichbewußtseins“4 gefasst wird. Ebenso kann die Person nicht in einem bloß „punktuell auftretende[n] Ich“5 bestehen. Pannenberg grenzt sich hier direkt von Kants Begriff der Person in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ab. Kant hatte dort unter dem Titel „Vom Bewußtsein seiner Selbst“ geschrieben: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person“6 . Pannenberg kritisiert daran, dass der Mensch „nicht dadurch schon Person [ist], daß er Selbstbewußtsein besitzt und das eigene Ich von allem anderen zu unterscheiden und festzuhalten vermag“, und fährt fort: „Er hört auch nicht auf, Person zu sein, wo solche Identität im Selbstbewußtsein nicht mehr besteht, noch ist er ohne Personalität, wo sie noch nicht vorhanden ist.“7 Extensional ist also Personalität deswegen nicht identisch mit selbstbewussten Zuständen, da Personalität prinzipiell auch für kleine Kinder oder demente Menschen gelten kann. Pannenberg bestimmt Personalität insofern als gegenüber bloßer Subjektivität transzendent: „Personalität ist begründet in der Bestimmung des Menschen, die seine empirische Realität immer übersteigt.“8 Es gilt hier freilich genauer zu bestimmen, wie genau diese Transzendenz der Person zu verstehen ist. In der Geschichte der Philosophie hat insbesondere John Locke versucht, Personalität über Selbstbewusstsein zu bestimmen. Es ist nach Locke nicht entscheidend,
3 4 5 6 7 8
A.a.O. 94. A.a.O. 91. A.a.O. AA VII, 127. STh II, 227. A.a.O., 227 f.
Leben, Narrativität und Transzendenz
ob dasselbe Selbst in derselben (same) oder in verschiedenen (diverse) Substanzen weiterbesteht. Denn da das Bewußtsein (consciousness) das Denken (thinking) stets begleitet und jeden zu dem macht, was er sein Selbst (self ) nennt und wodurch er sich von allen anderen denkenden Wesen (thinking things) unterscheidet, so besteht hierin allein die Identität der Person. […] Soweit nun dieses Bewußtsein rückwärts auf vergangene Taten oder Gedanken ausgedehnt werden kann, so weit reicht die Identität dieser Person.9
Für Locke steht nur in Frage, „was die Identität der Person ausmacht, nicht aber, ob es dieselbe identische Substanz ist, die immer in derselben Person denkt. Letztere Frage ist für unsern Fall völlig belanglos.“10 Es ist insofern nach Locke auch „gleichgültig, ob dies Bewußtsein lediglich an eine Einzelsubstanz (individual substance) geknüpft ist oder in einer Aufeinanderfolge (sucession) verschiedener Substanzen fortbestehen kann.“11 Nach Locke gilt deswegen, dass sich die Identität der Person „nicht weiter als das Bewußtsein“12 erstreckt. Locke hypostasiert jedoch mit dem Bewusstsein ein Vermögen der Person, setzt also bereits als geklärt voraus, was dieses Vermögen dann erst erklären soll. Dieser Zirkularitätseinwand wurde bekanntlich von Lockes Zeitgenossen Joseph Butler 1736 formuliert, der Locke einen „wonderful Mistake“ nachzuweisen versuchte: [A] Person has not existed a single Moment, nor done one Action, but what he can re-member; indeed none but what he reflects upon. And one should really think it Selfevident, that Consciousness of personal Identity presupposes, and therefore cannot constitute, personal Identity, any more than Knowledge in any other Case, can constitute Truth, which it presupposes.13
Damit sich die Person zum Zeitpunkt t2 an t1 erinnern kann, muss sie bereits als mit sich identisch existieren, ohne dass ihr ein reflexiver Erinnerungsakt vorausgegangen ist. Pannenbergs Kritik am selbstbewusstseinstheoretischen Zugriff auf die Person hat also bereits in der Geschichte der Philosophie Vorgänger, auch wenn seine Kritik durch seinen Begriff der Transzendenz noch darüber hinaus geht.
9 John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. 1. Übers. v. C. Winckler. Hamburg 1981, 420. 10 A.a.O., 421. 11 A.a.O. 12 A.a.O., 425. 13 Joseph Butler: The Analogy of Religion, Natural and Revealed, London 1906, 258.
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3.
Person und Leben
Wenn Subjektivität und Selbstbewusstsein nicht die Identität der Person konstituieren können, weil Personalität diese übersteigt, so stellt sich die Frage nach einem anderen Begriff, der der Identität der Person gerecht wird. Pannenberg fundiert die menschliche Person nicht in ihrer Subjektivität, sondern in ihrem Leben: Das Wort Person bezieht sich auf das ganze Leben eines Individuums. Ein Ich sind wir immer schon. Person werden wir noch, obwohl wir es immer auch schon sind. „Person“ bezieht sich auf das die Gegenwart des Ich übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen Totalität seiner einmaligen Lebensgeschichte.14
Der Begriff des Lebens erlaubt es also im Gegensatz zum Begriff des Selbstbewusstseins, die Person als in einer dynamischen Entwicklung begriffen zu denken. Die transzendente Dimension der Person gegenüber dem Ich besteht in ihrer Geschichte, und geschichtlich ist eine Person nur durch ihr Leben. Doch ist dieses Leben nicht nur in einem biologisch-natürlichen Sinne zu verstehen, sondern vielmehr in einem reflexiven, gestalterischen: „Jede Interpretation der Wirklichkeit des Menschen muß der Tatsache Rechnung tragen, daß der Mensch sein Leben bewußt vollzieht und führt.“15 Ein solches Verständnis kann im Unterschied zum biologischen Begriff des Lebens als biographischer Lebensbegriff bezeichnet werden.16 In der analytischen Philosophie der Person hat der Begriff des Lebens besondere Beachtung für die Bestimmung der Person gefunden – sowohl in biologischer wie auch in biographischer Hinsicht. Eric T. Olson bestimmt die Identität der Person ausschließlich über ihr biologisches Leben: „When I say that we are animals, I mean that each of us is numerically identical with an animal. There is a certain human organism, and that organism is you. You and it are one and the same.“17 Der Preis, den Olson dafür zahlt, ist freilich der, dass er dieses Leben nicht unter normativen Gesichtspunkten gegenüber dem Leben anderer Tiere auszeichnen kann.
14 A.a.O. (Fn. 2), 91. 15 A.a.O. (Fn. 7), 209. 16 Vgl. zu dieser Unterscheidung: Thomas Buchheim/Jörg Noller: „Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen? Zu Robert Spaemanns philosophischer Bestimmung der Person“, in: Die Person – ihr Selbstsein und ihr Handeln. Zur Philosophie Robert Spaemanns, hg. v. Josef Kreiml / Michael Stickelbroeck, Regensburg 2016, 145–179. 17 Eric T. Olson: „An Argument for Animalism“, in: Personal Identity, hg. v. Raymond Martin / John Barresi, Oxford u. a. 2003, 318–334, 318–
Leben, Narrativität und Transzendenz
Robert Spaemann hat dafür argumentiert, Personen als „Lebewesen jeweils einer bestimmten Art“ zu verstehen.18 Entscheidend ist nun aber, dass Personen nicht nur artbestimmt existieren, sondern einer Gemeinschaft angehören, „die nicht prinzipiell auf die Angehörigen einer einzigen Art beschränkt ist, in der aber jeder, der ihr angehört, einen einmaligen, einzigartigen und genau durch ihn definierten Platz einnimmt“19 . Damit verweist Spaemann auf eine transzendente Dimension personalen Lebens, welches immer auf andere Personen gerichtet ist – seien sie Mitglieder derselben oder einer anderen Art. Marya Schechtman bestimmt die Identität der Person ebenfalls über ihr Leben, welches sie nicht biologisch, sondern biographisch versteht: „To be a person is to live a person life; particular persons are individuated by individuating person lives; and sameness of person over time is defined in terms of the sameness of a person life.“20 Ähnlich wie Spaemann argumentiert sie dafür, dass personales Leben immer verwiesen ist auf eine Gemeinschaft – einen „person space“21 – innerhalb dessen die Person einen individuellen Platz zugewiesen bekommt. Pannenberg bestimmt die Person zwar als wesentlich intersubjektiv ausgerichtet. Es genügt nach Pannenberg jedoch nicht, Personen nur hinsichtlich der Natur als transzendent zu bestimmen. Die Transzendenz der Person gilt auch ihrer Intersubjektivität: „Durch seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott […] ist schon der Mensch als solcher und also jeder einzelne Mensch über die Naturwelt und in bestimmtem Sinne auch über die Gewaltverhältnisse der sozialen Lebenswelt, in die er gestellt ist, hinausgehoben.“22 Intersubjektive und transsubjektive Relationalität schließen sich jedoch nach Pannenberg nicht aus: „Beide Arten von Beziehungen sind so oder so konstitutiv für das Personsein des einzelnen.“23
4.
Person und Narration
Eng mit Pannenbergs Begriff des Lebens zusammen hängt sein Begriff der „Lebensgeschichte“, durch welchen Pannenberg der holistischen Dimension der Person besonders gerecht werden möchte. Pannenberg betont jedoch, dass „in unserer
18 Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 1996, 11. 19 A.a.O., 12. 20 Marya Schechtman: Staying Alive. Personal Identity, Practical Concerns, and the Unity of a Life, Oxford 2014, 7. 21 A.a.O. 114. 22 A.a.O. (Fn. 7), 204. 23 A.a.O. (Fn. 7), 230.
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Lebensgeschichte unser Selbstsein nie schon abschließend zur Erscheinung gekommen“24 ist. Durch seinen Begriff der Lebensgeschichte lässt sich Pannenbergs Theorie der Person mit narrativistischen Theorien der Person in eine systematische Beziehung bringen. Denn eine Lebensgeschichte der Person ereignet sich nicht einfach ohne unser eigenes Zutun, gewissermaßen passiv, sondern muss aktiv gestaltet werden. Pannenberg rekurriert hierbei auf den Begriff der Authentizität, den er aufs Engste mit dem Begriff der Identität der Person verbindet, und der einen bloßen subjektivitätstheoretischen Zugang erweitern soll: „So vollzieht sich in der Persongegenwart die Integration der eigenen Lebensmomente in die Identität authentischen Selbstseins.“25 Im biographisch-authentischen Leben manifestieren Personen so ihre individuelle Autonomie. In der Debatte um personale Identität verfolgt Marya Schechtmans „narrative self-constitution view“ ein ähnliches Anliegen wie Pannenbergs Begriff der Person. Schechtman bestimmt die narrative Identitätskonstitution der Person folgendermaßen: [A] person’s identity is created by a self-conception that is narrative in form. Most broadly put, this means that constituting an identity requires that an individual conceive of his life as having the form and the logic of a story— more specifically, the story of a person’s life—where ‘story’ is understood as a conventional, linear narrative.26
Einen praktischen Selbstkonstitutions-Ansatz vertritt in der angelsächsischen Debatte Christine Korsgaard. Ihre These lautet dabei: „[T]here is no you prior to your choices and actions, because your identity is in a quite literal way constituted by your choices and actions“27 . Korsgaards praktische Konstitutionstheorie ist jedoch von denselben Problemen wie Lockes Bewusstseinstheorie belastet. Denn damit sich ein Subjekt praktisch konstituieren kann, muss es bereits in einer bestimmten Form vorliegen. Indem Person und Handlung sich gleichermaßen voraussetzen („you constitute yourself as the author of your actions in the very act of choosing them“28 ), stellt sich folgende Frage, die Korsgaard auch als das „paradox of self-constitution“ bezeichnet: „How can you constitute yourself, create yourself, unless you are already there?“29 Pannenberg kritisiert die praktische Selbstkonstitutions-These mit Verweis auf das Zirkularitäts-Argument: „[D]ie Identität des Handlungssubjekts [muss] schon konstituiert sein, damit Handeln stattfinden kann. Die Identität der 24 25 26 27 28 29
A.a.O. (Fn. 7), 230. A.a.O. (Fn. 7), 230. Marya Schechtman: The constitution of selves, Ithaca/London 1996, 96. Christine Korsgaard: Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity, Oxford 2009, 19. A.a.O., 20. A.a.O.
Leben, Narrativität und Transzendenz
Person aber ist erst im Werden auf dem Weg durch ihre Lebensgeschichte […] Einheit und Integrität des Lebens werden in einer anderen Sphäre konstituiert, die allem Handeln vorausliegt.“30 Pannenberg versteht Personalität als einen unabgeschlossenen Prozess, der sich selbst nicht in seiner Identität konstituiert. Es handelt sich bei der menschlich-personalen Narration immer um eine „unabgeschlossene[] Geschichte eines Individuums auf dem Wege zu sich selbst, zu seiner Bestimmung.“31 Hier, in dieser Unverfügbarkeit der definitiven Selbst-Konstitution sieht Pannenberg die „eigentliche Würde“ der Person begründet. Pannenbergs Kritik am Selbstkonstitutions-Ansatz der Person ist jedoch auch normativ begründet. Er spricht diesbezüglich von einem „verführerische[n] Selbstmißverständnis der menschlichen Selbständigkeit, das die eigentümliche Gebrochenheit und Verkehrung der menschlichen Subjektivität und Lebensführung bedingt.“32 Personale Selbständigkeit ist nach Pannenberg nicht mit absoluter Autonomie zu verwechseln, sondern immer relativ zu verstehen, sei es intersubjektiv oder transsubjektiv. Diese transzendente Relativierung der Selbständigkeit ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Beschränkung der Person, sondern verweist vielmehr auf ihre Erweiterung, die sich als Dimension ihrer Würde verstehen lässt.
5.
Schlussbetrachtung
Pannenbergs Begriff der menschlichen Person lässt sich in vielerlei Hinsicht auf klassische und neuere Theorien der Person beziehen und erhält so weiter an Profil. Dieses spezifische Profil wird vor allem durch zwei Abgrenzungen weiter geschärft. Zum einen durch die Abkehr von subjektivitätstheoretischen Ansätzen, die für die gesamte Existenz der Person zu kurz greifen. Zum anderen durch die Abkehr von Selbstkonstitutions-Ansätzen, welche ihre eigenen Voraussetzungen nicht weiter begründen können. Pannenberg führt beide Male seinen Begriff der Transzendenz an, der diese Abkehr motiviert. Zum einen transzendiert Personalität bloße Subjektivität, indem sie diese umgreift und fundiert. Zum anderen transzendiert die Person aber auch sich selbst und ihre Intersubjektivität theologisch, wodurch ihre Würde begründet werden kann.
30 A.a.O. (Fn. 7), 231 f. 31 A.a.O. (Fn. 2), 92. 32 Anthr. 514.
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Ersetzung oder Erfüllung des Subjektbegriffs durch das Konzept der Einheit von Ich, Selbst und Person
1.
Die Geschichte des Begriffs personaler Subjektivität und seine Klärung mit und gegen Hegel
„Im modernen Denken hat sich die Auslegung der eigenen Identität vorwiegend an den Begriffen des Subjekts und der Subjektivität orientiert”. Dieser Befund ist nach Pannenberg nicht überraschend, denn durch diese Begriffe ist jene reflexive Einheit zum Ausdruck gebracht, „die im Begriff des Subjekts immer schon als gegeben angenommen wird” (GsTh II, 80)1 . In dem eben zitierten Artikel „Person und Subjekt” (zunächst veröffentlicht 1976 / 79) geht Pannenberg auf die Geschichte des Bedeutungsgehaltes dieses Begriffs ein. Sie beginnt mit der sokratisch /platonischen Entdeckung der apriorischen Reflexionsstruktur des menschlichen Erkennens. Die Anamnesis, an die sie geknüpft war, konnte Platon nur als durch eine vorweltliche Erkenntnis der ewigen Ideen ermöglicht denken, wodurch für ihn auch die Unsterblichkeit der Seele begründet war. Augustinus rezipierte diese Lehre, modifizierte sie aber. Die vorweltliche Schau machte nach ihm die Anamnesis noch von einer Äußerlichkeit abhängig. Sie musste somit ganz in den Selbstbezug der Seele hineingenommen werden, „demzufolge die Seele in sich selbst ein Wissen von den Ideen besitzt” (82). Dieses In-sich-Stehen der Seele und damit der menschlich geistigen Existenz ergab sich für Augustinus aus dem Schöpfungsbegriff. Aber damit war das Fundament für die spätere Bedeutung der menschlichen Subjektivität und Kreativität (so bei Cusanus) gelegt. Einen wichtigen Schritt tat das Mittelalter in der kritischen Rezeption der aristotelischen Seelenlehre (82). Nach Aristoteles ist nur der an die Sinnlichkeit gebundene „passive Intellekt” der Seele als solcher zugehörig, der aber mit dem Tod des Menschen als sinnliches Lebewesen endet. Die abstraktiv ideelle Erkenntnis jedoch, das Vermögen des „aktiven Intellektes”, kommt als göttlich ewiger Geist „von außen” in den Menschen hinein und ist von dessen Tod nicht betroffen. Bei Albertus Magnus wird im 13.Jahrh. dieser „aktive Intellekt” zusammen mit seiner Ewigkeitsperspektive dem gottgeschaffenen Menschen zugeordnet.(82 Anm 4). Es ist „die christliche Auszeichnung der menschlichen Individualität”, die sie so entschieden in sich selbst stehen lässt (82). Dies macht sie zur „Person”. Für dieses 1 GsTh II: Grundfragen systematischer Theologie II, Göttingen 1980.
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Verständnis steht die einflussreiche Definition des Boethius „est autem persona rationalis naturae individua substania” (82). Von Aristoteles wurde „ousia” mit „hypostasis”, wie damals üblich, synonym gebraucht. Beides konnte mit „substantia” übersetzt werden, wobei hypo-stasis auch dem lat. sub-jectus” entspricht. Mit der Trinitätslehre war allerdings der Eigenstand der Person begrifflich zu differenzieren Die innergöttlichen Personen mussten, ganz gegen die Lehre des Aristoteles, für den die Relationen zu den Akzidenzen gehören, die dem Eigenstand der Substanz äußerlich bleiben, gerade in ihrer Eigenständigkeit als relational begriffen werden und dies innerhalb der Wesenseinheit Gottes. Die Formel, die sich herauschristalisierte, war die der drei Hypstasen in der einen Usia oder der drei Personen in der einen Substanz. Mit der weiterhin üblichen Boethianischen Definition blieb sie freilich in einer gewissen Unausgeglichenheit. Erst von Richard von St Viktor (gest. 1173) wird ein allgemeiner, nach dem trinitarischen Urbild gestalteter Personbegriff formuliert. Die Person muss in ihrer Selbständigkeit als absolut einmalig begriffen werden. Das hatte Boethius mit seiner Definition wohl schon angezielt. Richard spricht es deutlicher mit dem Wort „incommunicabilis (unmitteilbar, also: nicht übertragbar, nicht delegierbar)” aus. Die Person kann in keiner allgemeinen Funktion oder Rolle („persona” bedeutete in der Antike auch dies) aufgehen, „sed sola individua vel incommunicabilis dicatur persona” (de trinitate IV, 13). Zugleich ist sie bis in diese ihre incommunicable Mitte hinein relational. Richard definiert „Person” nicht mehr als „substantia” (bzw. modifiziert deren Bedeutung), sondern als „existentia”, wobei es ihm auf die Bestandteile dieses Wortes, das „ex (aus”) und das „sistere (stehen), ankommt. Seine Erklärung ist die: „quid est enim existere, nisi ex aliquo sistere, hoc est substantialiter ex aliquo esse (was ist existieren anderes als von einem Anderen her standfinden, dies ist substantiell von einem Anderen her sein)” (IV, 12) (dazu Pannenberg: „Person” im RGG). In der Neuzeit ist, ausgehend vom Cogito sum des Descartes und der Leibnizschen Lehre von der Perzeption und Apperzepition einer monadologischen Ontologie der Subjektbegriff schließlich von Kant in die Mitte der Philosophie gerückt worden. Mit ihm ist für ihn die die theoretische Erkenntnis ermöglichende Einheit des Selbstbewusstseins gegeben, wobei dieses auch sich selbst bloße Erscheinung bleibt gleich aller äußeren Erkenntnis. Die Erscheinung auf ein Ansich zu durchdringen ist dem Subjekt nicht möglich. Angeregt von dem kritischen Argument des „Aenesidemus” (1792), dass für Kant sein transzendentales System selbst nicht nur Erscheinung sein kann, kommt Fichte zu einem umfassenderen SubjektBegriff, in dessen Reflexivität auch das An-sich-Sein enthalten sein muss. In seiner „Wissenschaftslehre” von 1794 konzipiert Fichte diese grundlegende Reflexivität als Selbstsetzung des Ich. Doch führt ihn die Aporie im Begriff der Selbstsetzung, die sich ebenso hervorbringen wie voraussetzen muss, in seine Spätphilosophie, nach der die Selbstsetzung nicht letztes Prinzip sein kann, sondern in ihrer Eigenständigkeit Manifestation des Absoluten sein muss. Dieses Absolute kann aber nach
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Fichte nicht mehr Person genannt werden, weil dieser Begriff Begrenzung besagt. Hegel schließt sich de facto an diese Gesamtkonzeption an, doch beurteilt er jene Begrenzung anders. Die Grenze zu erkennen bedeutet auch, sie zu überschreiten. Das Argument findet sich zwar schon in Fichtes WL von 94. Aber Hegel überträgt es auf die Bestimmung der Person. Diese erfasst sich gerade in ihrer zugespitzten Eigenständigkeit als begrenzt. Das bedeutet aber, dass ihre Selbsttranszendenz von dieser Mitte ausgehen muss. Sie kann also nur auf ein gleichrangig Anderes gerichtet sein. Die Interpersonalität ist somit für Hegel eine ontologische Notwendigkeit. Aufschlussreich ist, dass Hegel diese Interpersonallehre innerhalb der Trinitätslehre seiner Religionsphilosophie entwickelt. Damit ist er der erste neuzeitliche Denker, der diesen theologisch-philosophischen Zusammenhang neu entdeckt. Einige Zitate:„ Die „Persönlichkeit spricht aus, daß der Gegensatz absolut [...] zu nehmen sei, und gerade auf dieser Spitze hebt er sich selbst auf. Es ist der Charakter der Person, des Subjekts vielmehr, seine Isolierung, Abgesondertheit aufzuheben. Die Sittlichkeit, Liebe ist, seine Besonderheit, besondere Persönlichkeit aufzugeben, zur Allgemeinheit zu erweitern, – ebenso Familie, Freundschaft; da ist diese Identität eins mit dem anderen vorhanden. Indem ich recht handle gegen den anderen, betrachte ich ihn als identisch mit mir. In der Freundschaft, in der Liebe gebe ich meine abstrakte Persönlichkeit auf und gewinne sie dadurch als konkrete. Das Wahre der Persönlichkeit ist also eben dies, sie durch dies Versenken, Versenktsein in das Andere zu gewinnen“ (TW 17, 233).2 „Wenn man sagt: ‚Gott ist die Liebe‘, so ist es sehr groß, wahrhaft gesagt; aber es wäre sinnlos, dies nur so einfach als einfache Bestimmung aufzufassen, ohne es zu analysieren, was die Liebe ist. Denn die Liebe ist ein Unterscheiden zweier, die doch füreinander schlechthin nicht unterschieden sind. Das Gefühl und Bewußtsein dieser Identität ist die Liebe, dieses, außer mir zu sein: ich habe mein Selbstbewußtsein nicht in mir, sondern im Anderen, aber dieses Andere [...] hat sein Selbstbewußtsein nur in mir, und beide sind nur dieses Bewußtsein ihres Außersichseins und ihrer Identität“ (TW 17, 221 f). Pannenberg meint allerdings, dass Hegel der Aporie der Selbstsetzung des frühen Fichte nicht entgeht: Denn wenn das Ich im Anderen zu sich selbst kommt, geht dieses entweder im Selbstbezug des Ich auf oder das Ich verliert sich im Anderen (GsTh II, 87). Dagegen ist aber einzuwenden, dass dann der Begriff des Selbstseins im Anderen unter seinem logischen Niveau bleibt. Es fehlt dann gerade die Pointe des Verhältnisses, um die es Hegel geht. Denn der Andere begriffen als Anderer kann logisch nicht in den Selbstbezug des Ich aufgehen, sobald er in seinem Selbstsein, seinem Eigensein begriffen wird. Ansonsten ist er eben nicht der Andere zum Ich, sondern nur dessen projektive Selbstverdoppelung.Verschwindet aber das Ich im Objekt dann findet das Ich nicht „sich” im Anderen. Ich kann die hier vorliegende
2 TW: Hegel, Theorie-Werkausgabe 20 Bde, Frankfurt a.M. 1969 ff.
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Fehldeutung Pannenbergs nur verstehen von seinem vielfach geäußerten Generalverdacht her, dass Hegels System in der Reduktion auf Subjektivität gefangen bleibt, so dass sie in ihrer Beziehung auf das Objekt nie aus ihrer perspektivischen Einschränkung herauskommt, also auch nie zum Anderen in sich selbst gelangen kann. Kant war hiervon überzeugt, und hat deshalb dem Subjekt die Erkenntnis des An-sich-Seins versagt. Doch hat Fichte mit seiner Kant-Korrektur und schließlich mit seiner Selbstkorrektur durch die Spätphilosophie diese Subjektlastigkeit überwunden. Dieser Überwindung stimmt Pannenberg eigentlich zu. Denn auch für ihn gilt, dass die Erkenntnis des Seienden als solchen ohne Ermächtigung durch das Absolute nicht zu denken ist. Dies muss nach ihm in besonderer Weise auch das personale Selbstsein im Anderssein betreffen. Zu bezweifeln ist aber, dass Hegel diesen Zusammenhang übersehen hat. In der „Phänomenologie des Geistes” ist es gerade die Interpersonalität, die den tragenden Grund des Absoluten erscheinen lässt. „Das versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das darin sich gleich bleibt, und in seiner vollkommenen Entäußerung und Gegenteile die Gewissheit seiner selbst hat – es ist der erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen” (TW 3, 494). Was Pannenberg übrigens an der ganzen Subjektphilosophie vermisst, nämlich die prozessuale, geschichtliche Dimension, ist in diesem Werk Hegels die methodische Gesamtperspektive. In Hegels „Enzyklopädie” (TW 10) heißt es vom „absoluten Geist”, er sei „ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität” (§ 554). Er „manifestiert sich”, indem er responsorisch auf uns bezogen ist. Denn „der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist” (§ 564). Wichtig ist hier auch Hegels „Wissenschaft der Logik”. Sie mündet am Ende in das in sich personal strukturierte Absolute, in die „absolute Idee. „Die absolute Idee als der vernünftige Begriff [...] ist nicht nur Seele, sondern freier subjektiver Begriff, der für sich ist, und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für ich bestimmte, objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjektivität ist, der aber ebenso nicht ausschließende Einzelheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen ist und in seinem Anderen seine eigene Objektivität zum Gegenstande hat [...] Die absolute Idee ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit” (TW 6, 549). Eine gegenseitige Unterordnung in dieser Allgemeinheit ist ausgeschlossen. Sie wäre kein wahres Anderssein zur Mitte des Selbstseins.
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2.
Eine zeitgenössisch fällige, empirisch fundierte Anthropologie in theologischer Perspektive
Für sein weit ausgreifendes Werk „Anthropologie – in theologischer Perspektive” (1983)3 nennt Pannenberg den „Leitfaden der Identitätsthematik, der die vorliegende Darstellung in allen ihren Teilen durchzieht” (8). Diese Identität ist dem Menschen nicht angeheftet, sondern entspricht seinem Selbstverhältnis, ist also ohne den Selbstbezug nicht zu denken. Der Behaviorismus versuchte vergeblich, diesen Selbstbezug in ein Außenverhältnis aufgehen zu lassen (26 f). Das gilt auch für den Versuch etwa von Konrad Lorenz, das Apriori des Bewusstseins in ein irreflexives biologisches Faktum aufzulösen (29 f). Diese Versuche laufen stets auf einen performativen Widerspruch hinaus. Denn bereits in der Beschreibung des aufzulösenden Sich-Verhaltens ist das Verhältnis zu sich selbst im Spiel. Weiterhin gilt jedoch: Der Mensch ist in seinen Selbstbezug keineswegs eingeschlossen. Denn solches zu erkennen impliziert eine Abstandnahme zu sich selbst, eine ichspezifische „Exzentrizität” (Helmuth Plessner) d. h. „die Fähigkeit des Menschen, zu sich selbst Stellung zu nehmen, die Fähigkeit zur Selbstreflexion” (35). Hier ist eine Anschlussfähigkeit an die Einsicht des Idealismus (Fichte, Hegel) erkennbar, dass ein Erfassen der eigenen Grenze auch deren Transzendieren besagt. Zu Ende gedacht heißt dies freilich, dem Idealismus gemäß, dass diese Selbsttranszendenz auch von dem Bewusstsein der eigenen Begrenztheit überhaupt gilt, dass also das Bewusstsein sich von vornherein, d. h. apriori, in der Sphäre des strukturell und damit in sich selbst Unbegrenzten, also des Absoluten, bewegt. Diese Einsicht hätte auch den Begriff der „Weltoffenheit” bei Scheler und Gehlen radikaler zu durchdenken geholfen. Auch Pannenberg lässt die Transzendenzfähigkeit des Menschen nicht in einem horizontal endlichen Bereich aufgehen, wie etwa Gehlen. „Noch im Hinausgehen über alle Erfahrung oder Vorstellung wahrzunehmender Gegenstände bleibt der Mensch exzentrisch, bezogen auf ein anderes seiner selbst, nun aber auf ein Anderes jenseits aller Gegenstände seiner Welt, das zugleich diese ganze Welt umgreift und so dem Menschen die mögliche Einheit seines Lebensvollzuges in der Welt und trotz der Mannigfaltigkeit und Heterogenität ihrer Einwirkungen verbürgt. Ein bloßer allgemeinster Horizont aller Gegenstände hätte für sich kein Dasein. Im Ausgriff auf den alles Einzelne tatsächlicher und möglicher Wahrnehmung umgreifenden allgemeinsten Horizont verhält sich aber der Mensch exzentrisch zu einer ihm vorgegebenen Wirklichkeit, und daher ist in diesem Ausgriff implizit die göttliche Wirklichkeit mitbejaht, auch ohne als solche schon thematisch oder gar schon in dieser oder jener besonderen Gestalt erfasst zu sein” (66).
3 Alle Zitatangaben, die nicht anderweitig zugeordnet sind, stammen aus diesem Buch.
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Der vorzügliche Ort des menschlichen Bei-sich-Seins ist das „Gewissen”. Pannenberg weist darauf hin, dass „Gewissen” ursprünglich (griech.. syn-eidesis, lat. con-scientia) ein Mit-Wissen besagt (151 f Anm 2). „Es handelt sich dabei um die Erfahrung, dass ich nicht nur im andern, sondern auch in mir selber einen Mitwisser meiner Gedanken und Handlungen habe” (151 f). Es entspricht der von Plessner herausgestellten „Exzentrizität”, die das Ich bis im Innersten seines Beisichseins, in seinem Wesen also, charakterisiert. Pannenberg verfolgt nun detailliert die Diskussion um die Genese dieses Zusammenhanges, zunächst in Psychologie und Sozialwissenschaften. So löst Freud in seiner späteren Lehre das ursprünglich narzisstische Ich in den Trieb des Es auf und setzt diesem als kritische Instanz das Über-Ich oder Ideal-Ich gegenüber. Doch „diese Instanz im Ich entsteht erst im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung” durch eine „Internalisierung von Erwartungen und Tadel der Eltern” (187). Damit „entspricht es [das Ideal-Ich] weitgehend Georg Herbert Meads Begriff des Selbst als eines sozialen Faktums” (ebd.). „Meads Deutung der Genese des Selbst aus einem Sichhineinversetzen in den andern, insbesondere in die Erwartungen des andern mir selbst gegenüber, lässt sich dabei ungezwungen auf Freuds Begriff des ‚Ideal-Ich’ anwenden” (ebd.). Was bei Mead allerdings fehlt, ist die Antwort auf die differenzierende Frage „welcher andere Mensch mir vorzugsweise zum Anlass einer normativen Vorstellung meines Selbsts wird” (ebd.). Hier ist mit Freud zu sagen, dass es die Eltern sind, die das normative Selbst repräsentieren. Erik Erikson hat, vermittelt durch den aus der New Yorker Freudschule stammenden Heinz Hartmann (190), „diese Fragestellung in sozialpsychologischer Akzentuierung weiterentwickelt!” (ebd.). Er spricht von einer „Ichsynthese” (ebd.), in der das Ich in Entwicklungsstufen die verschiedenen Lebensfaktoren durch Aneignung zur Identität bringt (193). Wenn allerdings in diesem Zusammenhang von Entfaltung oder Selbstdifferenzierung die Rede ist, wird, wie schon bei Hartmann und Mead zu beobachten, stets von einem zugrundeliegenden Subjekt ausgegangen. (193). Doch wird dabei „die Tiefe der Problematik einer Entstehung und Entwicklung des Ich verdeckt” (193). Denn offenbar kommt man nicht los von der Vorstellung eines schon bestehenden substantiellen Ichs, das sich in seiner Entwicklung die näheren Bestimmungen gibt. „An dieser Stelle kann nur eine vertiefte Besinnung auf das Verhältnis von Ich und Selbst weiterhelfen” (194). Es geht um die Überwindung der Denkfigur der Selbstsetzung des Ich, die Fichte bereits als aporetisch erkannte (194 ff). Auch die behavioristisch ausgerichtete Sprachphilosophie versuchte die Selbstbezüglichkeit des Ich mit ihren latenten Aporien loszubekommen, indem sie das Ich nur als „Indexwort” belassen wollte, „durch das ‚der jeweilige Sprecher sich selbst bezeichnet‘” (200), d. h. sich als Gegenstand unter anderen Gegenständen identifiziert. Dabei bleibt allerdings die Frage unbeantwortet, wie „ich” dazu komme von „meiner” Person zu reden. Diese Unumgänglichkeit setzt offensichtlich einen Bezug auf mich selbst voraus. In diese
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Ungereimtheit fällt auch die Selbstzuschreibung eigener Zustände im Index-Modus. Der Selbstbezug ist dabei immer im Spiel (201 ff). Doch dieses hartnäckige „immer schon” des Selbstbezuges scheint wiederum in die Fichtesche Aporie der Selbstsetzung zu führen. Heidegger versuchte deshalb, das Ich von sich selbst dadurch zu lösen, dass er dessen Setzung aus der Zukunft zu verstehen suchte. Allderdings: „Das Dasein, das nach Heidegger aus der Zukunft seines Seins zu denken ist, wird doch auch schon als das sich zu dieser Zukunft veraltende beschrieben” (205). Mit seiner sogenannten „Kehre” wollte Heidegger das Ich aus dem das Dasein immer schon umfassenden und begründenden Sein schlechthin verstehen. Doch vermochte es Heidegger nicht, in seiner nun „anderen”, eher poetisch-änigmatischen Sprache, die neue Sicht, unter Mitnahme seiner differenzierten Analysen zur „Temporalität” in „Sein und Zeit”, „in begrifflicher Argumentation zu vollenden” (206). An Sartres Philosophie (206 ff) würdigt Pannnberg die Totalitätsperspektive. Sie sollte die zerstreuten „momentanen Erlebnissen des Ich” integrieren (209). Doch ist nach Sartre ein Zusammenschluss in einem „Für sich” auf diesem Wege nicht zu erreichen. Das Bei-sich-sein des Ich bleibt somit eine Illusion (208) und seine Behauptung eine Selbsttäuschung. Der kognitiven Entfremdung wäre somit nicht zu entkommen. Doch hat sich Pannenberg schon früher gegen eine solche Permanenz grundsätzlicher Nicht-Identität ausgesprochen: „Das Wissen um Nichtidentität selber enthält immer schon, sofern es sich um die Nicht-Identität mit dem ‚eigenen‘ Sein handelt, ein mitgegebenes Wissen von Identität” (151). Dies gilt von jeder Entfremdungserfahrung. Aber wie lässt sich dann die immer noch latent anwesende Selbstbewusstseinsaporie überwinden? Ein Blick auf die Entwicklungspsychologie von Erik Erikson kann hier weiterhelfen. Erikson sieht nämllich die Identitätsbildung des Menschen grundgelegt in einer „symbiotischen Verbundenheit” des Kindes mit der Mutter. Von seiten des Kindes ist dieses Verhältnis ein noch unthematisches unbedingtes Vertrauen. Erikson nennt es „Grundvertrauen (basic trust)” (219). „Das Vertrauen richtet sich anfänglich auf die Mutter als Mittler und Inbegriff von Welt und Leben überhaupt. Später tritt neben die Mutter die schützende und Sicherheit gewährende Gegenwart des Vaters, der den Lebenszusammenhang der Familie mit der umgebenden Welt vermittelt, jedenfalls bei traditioneller Rollenverteilung innerhalb der Familie. Je mehr das Kind aber dann zur Selbständigkeit gegenüber den Eltern heranwächst, desto weniger bleiben die Mutter und die Familie insgesamt ihm Inbegriff des Lebens überhaupt [...]. Soll das Grundvertrauen nicht verloren gehen, dann bedarf es der Ablösung von der Bindung an die Mutter und an die Eltern überhaupt. Es muss eine neue Orientierung erhalten, die es dem heranwachsenden Kinde erlaubt, das Vertrauen auf eine unbegrenzte Geborgenheit trotz aller Gefährdungen und Widrigkeiten des Lebens zu bewahren. Die Aufgabe, das den Lebensmut nährende Grundvertrauen von der anfänglichen Bindung an die Eltern abzulösen und neu zu orientieren, fällt besonders der religiösen Erziehung
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zu; denn der Gott religiösen Glaubens vermag über die begrenzte Tragfähigkeit menschlicher Autorität hinaus unbegrenzte Geborgenheit zu gewähren, und zwar gerade auch in Situationen von Leid, Not und weltlicher Ungeborgenheit” (220). Das „Selbstsein” des Kindes ist von Anfang an vorhanden, „denn der Vertrauende verlässt ‚sich‘ auf die Beständigkeit und Verlässlichkeit dessen, worauf er sein Vertrauen setzt” (223). Aber dieses „sich” ist keine mit den Fichteschen Aporien behaftete „Selbstsetzung” des Ich. Warum nicht? Eben weil dieses „sich” von Anfang an getragen und ermöglicht ist von einem umgreifenden absoluten Selbstbezug, der in der religiösen Sprache Gott genannt wird. Ohne dieses metaphysische Apriori ist, nach dem späten Fichte, das menschliche Selbstbewusstsein nicht zu denken, und ebenso ist nach Hegel unser Selbstbewusstsein eine Manifestation des absoluten Geistes „für den Geist” (TW 10, § 564). Unser menschlicher Geist ist nicht vollkommen aus sich selbst. Er ist keine absolute Selbstsetzung. Er ist von einem tieferen Selbstsein abhängig. Doch diese Abhängigkeit ermöglicht unser Selbstsein, weil es die Abhängigkeit vom Schöpfer ist, der uns unser Selbstsein gönnt und ermöglicht. Sein personaler Anspruch an uns konstituiert uns in unserer Selbständigkeit und Freiheit. Aus diesem Grunde ist für Pannenberg die ins Religiöse gehende Explikation des Grundvertrauens so entscheidend. Wichtig ist aber zugleich die Explikation dieses Grundvertrauens nach seiner Temporalität, die Pannenberg im Idealismus nicht genügend berücksichtigt sieht und welche die empirische Anthropologe mit Recht in den Blick gebracht hat. Daraufhin kann Pannenberg die Lehre von der Subjektivität mit Recht kritisch erneuern, sozusagen „aufheben” im doppelten Sinn des Wortes, und die Begriffe „Ich”, „Selbst” und „Person” einander neu zuordnen: „Ein Ich sind wir immer schon, in jedem Augenblick unseres Daseins. Wir selbst werden wir noch, denn wir sind noch unterwegs zu uns selbst in der Ganzheit unseres Daseins. Dennoch sind wir auch im gegenwärtigen Augenblick schon irgendwie wir selbst: Insofern sind wir Personen [...]. Person ist die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich, in der Beanspruchung dieses Ich durch unser wahrhaftes Selbst und im vorwegnehmenden Bewusstsein unserer Identität” (233).
Friederike Nüssel
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle? Zur Rolle des affektiven Lebens in Wolfhart Pannenbergs Anthropologie „Gefühle sind ein zentraler Bestandteil des menschlichen Lebens. Sie färben unsere innere Welt, sie veranlassen uns zu Handlungen und signalisieren, was wichtig oder bedeutsam für uns ist.“1 Mit diesem Satz eröffnen Roderich Barth und Christopher Zarnow eine interdisziplinäre Studie zur Theologie der Gefühle im Jahr 2015. Sie geben mit diesem Band und seinen Beiträgen einem Thema Raum, das in der Systematischen Theologie im 20. Jahrhundert nicht eben stark bedacht wurde. Während Gefühle, Empfindungen und Emotionen in anderen Disziplinen, insbesondere in der Psychologie und Kognitionswissenschaft2 zu einem wichtigen Forschungsfeld geworden sind, stand dieses Themenfeld in der Systematischen Theologie lange am Rande. Zwar rezipierte Friedrich Schleiermacher den in der Aufklärungszeit entstandenen Begriff des Gefühls3 in prominenter Weise, indem er ihn in seinen Reden über die Religion4 und später in der Glaubenslehre5 zur Wesensbestimmung und Erklärung der Selbständigkeit der Religion bzw. der Frömmigkeit heranzog. Doch die Vielfalt des affektiven Lebens, welches bis dahin in der mittelalterlichen Theologie zunächst in der Differenzierung und Beschreibung der Leidenschaften (passiones)6 , dann in der Affektenlehre7 erfasst wurde, trat damit
1 Roderich Barth/Christopher Zarnow, Theologie der Gefühle, Berlin 2015, 1. 2 Vgl. die Übersicht in Achim Stephan, Sven Alter, Handbuch Kognitionswissenschaft, Stuttgart/ Weimar 2013, siehe hier insbesondere den Artikel „Emotionen“ von Rainer Reisenzein, Robert C. Roberts, Girgio Coricelle, Mateus Joffily und Jonathan Cratch, a.a.O., 258–274. 3 Vgl. dazu Ursula Franke/Günter Oesterle, Art. „Gefühl“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (1974), 82–89. 4 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1999, hier bes. Kap. 2. 5 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite Auflage (1830/31), hg. von Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008, hier: § 3, 19–32. 6 Thomas von Aquin unterscheidet in der theologischen Summe zwischen den passiones virtutis concupiscibilis (amor, odium, concupiscentia, delectatio, tristitia et dolor) und den passiones virtutis irascibilis (spes et desperatio, timor, audacia, ira), siehe Thomas von Aquin, Summa theologica, I/II, q 22–48, in: Deutsche Thomas-Ausgabe Bd. 10, hg. von Bernhard Ziermann, Heidelberg/Graz/Wien/ Köln 1955. 7 Vgl. Karl-Heinz zur Mühlen, Art. „Affekt II. Theologiegeschichtliche Aspekte“, in: TRE 1, 599–612.
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Friederike Nüssel
zugleich in der dogmatisch-theologischen Explikation des christlichen Glaubens in den Hintergrund. Diese Entwicklung korrespondiert mit der Entdifferenzierung von Gefühlswelt und religiöser Erfahrung, die sich in der Aufklärungszeit in der Bestimmung des Gefühlsbegriffs im Deutschen und später in der Ausbildung des englischen Begriffs der emotions8 niederschlägt.
1.
Das affektive Leben in Wolfhart Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“
Während dem Gefühlsleben des Menschen in Gestalt von Affekten, Leidenschaften, Emotionen in modernen evangelischen Dogmatiken im 20. Jahrhundert wenig Beachtung geschenkt wird9 , erörtert Wolfhart Pannenberg in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ das affektive Leben in einem eigenen Kapitel10 und weist ihm einen zentralen Stellenwert im Gang der anthropologischen Argumentation zu. Um diesen nachzuvollziehen, sei zunächst kurz an das Programm erinnert, das Pannenberg in der Anthropologie in theologischer Perspektive verfolgt. Im Rahmen der Gesamtaufgabe der Systematischen Theologie, die nach Pannenberg den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu entfalten und zu begründen hat11 , ist es die spezifische Aufgabe der Anthropologie, die Allgemeingültigkeit des christlichen Wahrheitsanspruchs zu begründen, und zwar „auf dem Boden der Deutung des Menschseins […] in der Auseinandersetzung um die Frage, ob Religion unerläßlich zum Menschsein des Menschen gehört oder im Gegenteil dazu beiträgt, den Menschen sich selber zu entfremden.“12 Die Erörterung der Religiosität des Menschen kann dabei nicht allein in Auseinandersetzung mit der Philosophie erfolgen, sondern muss ebenso auch anthropologische Erkenntnisse aus anderen Bereichen einbeziehen, insbesondere der Psychologie und der Soziologie.
8 Vgl. Thomas Dixon, From Passions to Emotions: The Creation of a Secular Psychological Category, Cambridge 2003. 9 Siehe exemplarisch nur Wilfried Härle, Dogmatik, 5. Aufl. Berlin/New York 2018, hier: 65. 10 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, Kap. 6: Identität und Nichtidentität als Thema des affektiven Lebens, 236–303, kurz: AL. 11 Vgl. dazu Friederike Nüssel, „Dogmatik als Systematische Theologie!“ Zur Aktualität des DogmatikVerständnisses bei W. Pannenberg, in: Gunther Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung, Pannenberg-Studien Bd. 1, Göttingen 2015, 57–74. 12 AL, 15. Entscheidend ist dabei allerdings, dass die Erkenntnisse nichttheologischer Anthropologie nicht unbesehen übernommen werden dürfen, sondern vielmehr kritisch angeeignet werden müssen, um theologisch in Anspruch genommen werden zu können, vgl. (AL, 19).
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle?
Pannenberg entwickelt seine Argumentation in der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ in drei Teilen. Im ersten Teil erörtert er unter dem Titel „Der Mensch in der Natur und die Natur des Menschen“ die Sonderstellung des Menschen in der Natur und die Bestimmung des Menschen als Menschen in seiner leibseelischen Verfasstheit. Dies geschieht in diesem ersten Teil gezielt unter Absehung „von der Tatsache, daß das Dasein des menschlichen Individuums immer schon durch Sozialbeziehungen bestimmt ist“13 . Im zweiten Teil der Anthropologie wird unter dem Titel „Der Mensch als gesellschaftliches Wesen“ sodann die Sozialität des Menschen in den Blick genommen, und hier finden sich im letzten der drei Kapitel die Ausführungen zum affektiven Leben. Im zweiten Teil wird dabei die Sozialität des Menschen noch unter Absehung von ihrer gesellschaftlichen und institutionellen Dimension erörtert. Erst im dritten Teil der Anthropologie wendet sich Pannenberg der gemeinsamen Welt der Menschen zu, wobei er die Kulturwelt des Menschen im Rekurs auf den kulturellen Sinngehalt der gesellschaftlichen Institutionen als den „vorläufigen Ort der Identität des Individuums“14 erschließt. Die Erörterung des affektiven Lebens im zweiten Teil der Anthropologie verbindet Pannenberg mit der schon in der Überschrift des Unterkapitels markierten These, dass Thema des affektiven Lebens die Spannung von Identität und Nichtidentität sei. Dies setzt den Argumentationsgang des gesamten ersten Teils der Anthropologie voraus, in dem Pannenberg die das Selbstbewusstsein kennzeichnende Relation von Ich und Selbst als Signatur der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit aufschlüsselt und zugleich die Möglichkeit und Wirklichkeit der Sünde als Verfehlung und Verkehrung der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit erschließt. Den Ausgangspunkt für diesen Argumentationsgangs bildet die Herausforderung des Behaviorismus in seiner einseitigen Konzentration auf das Verhalten15 , die Pannenberg mit der philosophischen Anthropologie und ihrer Charakterisierung der Sonderstellung des Menschen durch die Weltoffenheit des Menschen16 konfrontiert. In der bewusstseinsphilosophischen Analyse der Weltoffenheit in Form der Selbsttranszendenz und Exzentrizität des Menschen im Sein beim andern17 entwickelt Pannenberg zum einen die Auffassung, dass die Weltoffenheit de facto eine Gottoffenheit sei. Denn in der exzentrischen Struktur des Lebensvollzuges greife der Mensch „über die Gesamtheit aller gegebenen und möglichen Wahrnehmungsgegenstände, also über die Welt, hinaus“18 auf einen „alles Einzelne tatsächlicher
13 14 15 16 17 18
AL, 154. Siehe AL, 236f. Vgl. AL, 26–29. Vgl. AL, 32–39. Vgl. AL, 63. AL, 65.
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und möglicher Wahrnehmung umgreifenden allgemeinsten Horizont“19 und bejahe der Mensch implizit und unthematisch die göttliche Wirklichkeit als den Grund der Ganzheit und des Ausgreifens.20 Zum anderen erschließt Pannenberg die in der Welterfahrung sich realisierende Exzentrizität als den Ausgangspunkt für die Selbsterfahrung des Menschen.21 Denn im exzentrischen Sein beim andern bzw. beim andern seines Leibes in der Welterfahrung konstituiere sich „das Ich oder die Person“22 , das sich dann allerdings als „Ich in seiner Identität mit ‚sich selbst‘ auch wieder dem andern“23 entgegensetze und darin seine Zentralität realisiere. In der Totalisierung solcher Entgegensetzung, in der „alles andere nur noch als Mittel seiner Selbstbehauptung dem Ich dienstbar gemacht werden soll“24 , kommt es nach Pannenberg zur Dominanz der Zentralität. Dies bedeutet den Bruch mit der das Ich konstituierenden Exzentrizität und darin die „Verfehlung des eigenen Selbst“25 , die theologisch Sünde genannt wird. Während im ersten Teil der Anthropologie die „Natur des Menschen“ in ihrer Weltoffenheit und in der Spannung von Exzentrizität und Zentralität unter Ausblendung der Sozialität betrachtet wird, thematisiert der zweite Teil der Anthropologie diese Natur und Situation des Menschen konkret in der Beschreibung des Menschen als gesellschaftlichem Wesen und entwickelt „das Verständnis des sozialen Lebenszusammenhangs menschlichen Verhaltens“26 . Die Ausführungen münden in die Erörterung des affektiven Lebens, wobei die Störungen der Sozialbeziehungen in Form von Sünde und Schuld zum dritten Teil über die gemeinsame Welt und die Bedeutung der gesellschaftlichen Institutionen überleiten. Methodisch operiert Pannenberg im zweiten Teil dabei wie schon im ersten Teil mit einer Abstraktion, indem er die soziale Konstitution des einzelnen Individuums zunächst in der Beziehung zu „den anderen einzelnen“27 bzw. zu dem Du der Bezugsperson(en) betrachtet und noch nicht in Bezug auf die Gesellschaft. Im Argumentationsgang des zweiten Teils setzt er mit der Erörterung des Zusammenhangs von Subjektivität und Gesellschaft ein und beschreibt zuerst den Antagonismus von Individuum und
19 AL, 66. 20 AL, 67: „Der Mensch verwirklicht nicht prometheisch sich selbst durch Selbststeigerung aus eigener Kraft. Er bleibt angewiesen darauf, daß seine über die Welt der endlichen Dinge hinausweisende Bestimmung ihm zuteil wird im Umgang mit den Dingen seiner Welt, die als gemeinschaftlich bewohnte Lebenswelt immer schon vermittelt ist durch die gesellschaftlichen Beziehungen, in denen das Individuum steht.“ 21 Vgl. AL, 69. 22 AL, 82. 23 AL, 82. 24 AL, 82. 25 AL, 151. 26 AL, 154. 27 AL, 174.
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle?
Gesellschaft. Diesem stellt er in den weiteren Überlegungen die soziale Vermitteltheit der Identitätsbildung entgegen, wie sie zuerst in der Konstitution des Ich aus der Beziehung zum Du bzw. den Mitmenschen28 und der sozialen Vermitteltheit des individuellen Selbstbildes29 erhellt wird. Im nächsten Schritt konkretisiert er die soziale Bedingtheit des Ich im Rekurs auf die psychoanalytische Forschung30 und überführt sie in die Frage nach der Einheit von Ich und Selbst31 . In Auseinandersetzung mit verschiedenen Ich-Philosophien ist es hier Pannenbergs Anliegen zu zeigen, dass der Prozess der Identitätsbildung ein Bildungsprozess ist, der nicht von einem schon vorgegebenen Ich seinen Ausgang nimmt, sondern in dem sich mit dem Selbst auch das Ich bildet und mithin „Identität und Kontinuität des Ich im Selbst gründen“.32 Die Fähigkeit zur Identifizierung mit dem sozial vermittelten und individuell modifizierten Selbstbild ist nach Pannenberg dabei grundgelegt in dem Phänomen des Grund- oder Urvertrauens33 , das „den ontogenetischen Ausgangspunkt der menschlichen Exzentrizität“34 bildet und in dem der Mensch seine Weltoffenheit bewahrt35 . Die Pointe des Argumentationsgangs liegt darin, das Personsein des Menschen von dem Selbstwerdungsprozess des Ich in der Lebensgeschichte und der erst in der Zukunft zu erreichenden Ganzheit her zu verstehen und die religiöse Dimension der Personalität des Menschen freizulegen. Diese gründet nach Pannenberg in der „Offenheit der Person über die Schranken jeder endlichen Realisierung hinaus auf ihre göttliche Bestimmung“36 . Sie begründet nach Pannenberg zugleich „die Unantastbarkeit des Individuums“37 , die wiederum „im Gedanken der Personwürde ausgedrückt“38 werde. Mit dieser Aufschlüsselung der Identitätsbildung und ihrer religiösen Dimension wird der zu Beginn des zweiten Teils beschriebene Antagonismus von Individuum und Gesellschaft auf der Theorieebene aufgelöst, insofern der gesamte Gedankengang zeigt, dass die Identitätsbildung sozial konstituiert und vermittelt ist. Doch in der Wirklichkeit besteht der Antagonismus nach Pannenberg weiter und zeigt sich in den „mannigfachen Erscheinungsformen menschlicher Sünde, die die Ganzheit der Person und ihrer Welt der Partikularität des jeweiligen Ich unterstellt und
28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
AL, 173–178. AL, 179–184. AL, 185–194. AL, 194–217. Vgl. AL, 216. AL, 219f. AL, 219. Vgl. AL, 221. AL, 234. AL, 234. AL, 234.
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damit das Verhältnis von Ich und Selbst verkehrt“39 . Dass es zu solcher Verkehrung kommen kann, hat damit zu tun, dass schon das affektive Leben, welches sich auf der präreflexiven Ebene der Innerlichkeit des Menschen vollzieht, durch die Spannung von Exzentrizität und Zentralität bestimmt ist. Wenngleich Pannenbergs Rekonstruktion des affektiven Lebens darauf zuläuft, die Möglichkeit und Wirklichkeit der Sünde in Gestalt der Selbstzentrierung und Verkehrung in den Sozialbeziehungen aufzuweisen, gehört für ihn das affektive Leben „keineswegs nur zur Thematik der christlichen Sündenlehre.“40 Vielmehr geht es ihm in der Behandlung des affektiven Lebens um die positive Bedeutung desselben für die Realisierung der religiösen Bestimmung des Menschen. Die Analyse soll zeigen, dass trotz der durch die Sünde verkehrten Situation des Menschen und „inmitten solcher Gebrochenheit die Ganzheit des Daseins im Leben der Menschen, sowohl in der einzelnen Person als auch im Zusammenleben der Individuen“41 präsent ist, und zwar auf der Ebene der Innerlichkeit des Menschen in dem Phänomen ursprünglicher und unmittelbarer Selbstvertrautheit. Entsprechend zielen Pannenbergs Ausführungen darauf, den „Horizont ursprünglicher Vertrautheit genauer zu bestimmen, in welchem sich das personale Leben vollzieht“.42 Dabei lassen sich drei Grundanliegen ausmachen. Erstens geht es darum, das affektive Leben über das Gefühl als Horizont der Selbstvertrautheit und als vorreflexive Form der Vorwegnahme des Lebensganzen zu erschließen. Zweitens soll damit verbunden die die Geistigkeit des Menschen bestimmende Struktur von Exzentrizität und Zentralität auf der Ebene der Innerlichkeit bzw. der unmittelbaren Selbsterfahrung aufgewiesen werden. Drittens möchte Pannenberg in Auseinandersetzung mit der philosophischen und psychologischen Debatte das affektive Leben des Menschen in seiner konkreten Wirklichkeit, also im Rekurs auf die einzelnen Stimmungen und Leidenschaften, die Menschen erleben, erschließen. Mit Blick auf das Spektrum der Begriffe, die in den modernen Debatten über das Verständnis des affektiven Lebens anzutreffen sind, hält Pannenberg fest: „Das Verhältnis von Gefühl und Stimmung zueinander ebenso wie zur Empfindung, zu Emotion und Affekt kann bis heute nicht als geklärt gelten. Dem uneinheitlichen Sprachgebrauch entsprechen stark differierende Zugangsweisen zu den Phänomenen selber.“43 Diese Diagnose von 1983 dürfte auch heute noch zutreffen. Wenngleich es Pannenberg im Rahmen des übergeordneten Argumentationsziels der Anthropologie nicht darum geht, die einzelnen Termini zu definieren und voneinander abzugrenzen, bringt er sie doch in eine systematische Ordnung. Der 39 40 41 42 43
AL, 236. AL, 247. AL, 236. AL, 236. AL, 238.
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle?
Gefühlsbegriff, der erst bei David Hume „zum anthropologischen Grundbegriff “44 geworden sei, gewinnt in Pannenbergs Rekonstruktion des affektiven Lebens eine Schlüsselstellung. Wie schon die Überschrift des Kapitels „Das Gefühl, seine Stimmungen und Leidenschaften“45 anzeigt, werden dem Gefühlsbegriff die Stimmungen46 und Leidenschaften zugeordnet. Im Gang des Kapitels werden dann die Leidenschaften mit den Affekten zusammengenommen.47 Wenngleich Pannenberg die Begriffe nicht eigens definiert, werden im Argumentationsgang Stimmungen als Gemütszustände, Affekte und Leidenschaften hingegen als Gefühlserregungen und Gemütsbewegungen verstanden. Die fundamentale Rolle des Gefühls als eigenständiger „Grundkraft der Seele neben Verstand und Willen“48 erschließt Pannenberg im Rekurs auf die Ausarbeitung des Gefühlsbegriffs bei Moses Mendelssohn und Johannes Nikolaus Tetens sowie dessen Rezeption bei Immanuel Kant. Mit Kant stellt Pannenberg den Selbstbezug im Gefühl heraus, der sich „in der Lust- oder Unlustqualität des Gefühls“49 bekundet.50 Entsprechend rechnet Pannenberg die Gefühle wie Kant nicht zu den Objekten, sondern versteht sie als „Bestimmungen des Subjekts“51 , die nicht nur äußere Eindrücke begleiten, „sondern auch die Tätigkeit der Einbildungskraft, insbesondere im geselligen Verkehr der Individuen“52 . Während Kant aber dem Gefühl keine die Einheit des Subjektes konstituierende Funktion zuweisen konnte, weil der Mensch das Gefühl mit den Tieren teilt, verbindet Pannenberg mit dem Gefühl genau diese Funktion. Im Rekurs auf Friedrich Heinrich Jacobi und Friedrich Schleiermacher versteht er das Gefühl als präreflexives Bewusstsein, für das der Ausgriff auf das Lebensganze konstitutiv ist. Der das Gefühl kennzeichnende Ausgriff auf das Lebensganze geht nach Pannenberg dabei „dem gedanklichen Unterscheiden und Korrelieren immer schon voraus“53 . „Im Gefühl sind wir mit uns selbst im Ganzen unseres Seins vertraut, ohne schon eine Vorstellung unseres
44 AL, 237. 45 AL, 237, Hervorhebung FN. 46 Vgl. AL, 247–250. Pannenberg vermerkt, dass der Begriff der Stimmung erst in der phänomenologischen Tradition aufgekommen sei, AL, 237. Er weise dabei „auf den des Gefühls zurück, weil dasjenige, was so oder so gestimmt ist, eben das Gefühl als ‚unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins‘ ist.“ (AL, 243) 47 Vgl. zu den Affekten AL, 250–254, zu den Leidenschaften, die erst am Schluss des Kapitels thematisiert werden, AL, 254–258. 48 AL, 238. 49 AL, 244: „Das Gefühl ist immer durch Lust und Unlust bestimmt“. 50 AL, 244. 51 AL, 239. 52 AL, 239. 53 AL, 245.
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Selbst zu haben oder ihrer zu bedürfen.“54 Zugleich ist der Mensch im Gefühl auf symbiotische Weise mit seiner Welt vertraut und der Zusammengehörigkeit von Selbst und Welt unmittelbar gewahr. Das Gefühl ist so der Ort „der symbiotischen Seinsgewißheit“ und der Horizont, „in welchem das Auseinandertreten von Weltund Selbstbewußtsein (aber auch von Welt- und Gottesbewußtsein) verständlich wird, in dem sie zugleich aufeinander beziehbar bleiben.“55 Auch wenn Pannenberg „weitreichende Korrekturen an Schleiermachers Konzeption des Verhältnisses von Denken und Religion, von Philosophie und Theologie“56 für nötig hält, weil sich das Gefühl in seiner Eigenart nur im Medium des Gedankens erfassen lasse, ist für ihn Schleiermachers Gefühlsbegriff schlechterdings grundlegend, weil er als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit den Bezug auf das Lebensganze enthält. Dieser Bezug auf das Lebensganze im Gefühl ist zugleich „die Möglichkeitsbedingung spezifisch religiöser Gefühle“57 . Ihre Besonderheit besteht darin, „daß in ihnen die Ganzheit des menschlichen Lebensvollzuges thematisch wird, die im Gefühl als solchem immer schon präsent ist.“58 In seinem Bezug auf das Lebensganze ist das Gefühl also religiös gestimmt, wenngleich die religiöse Stimmung „durch andere Faktoren überdeckt sein kann, insbesondere durch die Dominanz des auf die endlichen Dinge gerichteten, verständigen Alltagsbewußtsein.“59 Über Schleiermacher hinausgehend ist Pannenberg aber in seiner Beschreibung des affektiven Lebens daran gelegen, in die theologische Interpretation des Gefühls als Ausgriff auf die Ganzheit des Lebens die Stimmungen, Affekte und Leidenschaften einzuzeichnen, die Schleiermacher nicht berücksichtigt habe, obwohl sie „ebenso in der theologischen wie in der philosophischen Anthropologie traditionell einen zentralen Platz hatten.“60 Die negative Bewertung der Leidenschaften bei Schleiermacher und zuvor aber vor allem in der stoischen Philosophie konnte und kann sich das christliche Denken nach Pannenberg schon deshalb nicht zu eigen machen, „weil in der Schrift immer wieder von Betrübnissen und Freude der Frommen die Rede ist.“61 Das Bestreben, von den Affekten frei werden zu wollen, verkennt ihre grundlegende Bedeutung für den menschlichen Lebensvollzug, die Pannenberg im Anschluss an Augustin festhält: „Auf unserm
54 55 56 57 58 59 60 61
AL, 244. AL, 244. AL, 245. AL, 244. AL, 244, Hervorhebung FN. AL, 245. AL, 247. AL, 252.
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle?
Wege zu Gott sind die Affekte die Füße, die uns entweder Gott näherbringen oder uns von ihm entfernen, ohne die wir aber den Weg nicht gehen können.“62 Gemeinsam ist Stimmungen, Affekten und Leidenschaften das ekstatische Moment. Denn in den Stimmungen nimmt das Individuum „an der Atmosphäre seiner Welt und am Geist und Leben der Gemeinschaft“63 teil, und ebenso ist es auch durch die Affekte „ekstatisch auf Welt und Mitwelt bezogen“64 . Insofern kann Pannenberg im Anschluss an Aristoteles die Affekte allgemein als Ausdruck der „Selbsttranszendenz und Zeitlichkeit des Lebens“65 ansehen. Anhand der ekstatischen Dimension der Affekte, in denen der Mensch auf seine Umwelt und Mitwelt bezogen ist, kann Pannenberg dann zwischen positiven und negativen Affekten, Stimmungen und Leidenschaften unterscheiden. Positive Affekte sind solche, „in denen das Individuum sich seiner Welt öffnet“66 und sich ekstatisch in die zwischenmenschlichen Beziehungen einlässt. Dies geschieht in Sympathiegefühlen, insbesondere aber in der Freude und Hoffnung. Demgegenüber sind negative Affekte wie Furcht, Angst, Hochmut, Traurigkeit, Neid und Hass durch Isolierung und Vereinzelung des Individuums gegenüber seiner Umwelt und Mitwelt gekennzeichnet.67 Pannenbergs Analyse zufolge sind die Stimmungen, Affekte und Leidenschaften in ihrer ekstatischen Dimension bestimmend in den sozialen Beziehungen des Menschen. Zugleich sind sie aber, wie Pannenberg nur sehr knapp andeutet, durch ihren temporalen Charakter mit dem Gefühl verbunden. Der temporale Charakter der Stimmungen und Affekte ist zum einen mit der Ereignishaftigkeit gegeben, die allerdings bei den Affekten stärker als bei den Stimmungen hervortritt. Zugleich können die Affekte wie etwa das Verlangen nach dem Guten oder die Furcht vor einer Gefahr auf die Zukunft bezogen sein, wobei der Zukunftsbezug aber wiederum durch das Gedächtnis vermittelt wird.68 Darin sind sie nach Pannenberg „Ausdruck einer ‚vorgreifenden Erwartung‘ […], in der der Mensch weiß um die positive oder negative ‚Vollendung, in die sein Werdesein notwendigerweise mündet‘“69 , wie Pannenberg in Aufnahme eines Ausdrucks von Stephan Strasser formuliert. In ihrer temporalen Struktur vermögen die Stimmungen und Affekte das lebendige Verhalten des Menschen zu motivieren. Dafür und für das latente Wissen um die Vollendung ist nach Pannenberg aber „die Gegenwart eines den jeweiligen Moment
62 63 64 65 66 67 68 69
AL, 252. AL, 253. AL, 253. AL, 253. AL, 254. Vgl. AL, 257. Vgl. AL, 253. AL, 257.
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übersteigenden Lebensganzen im Gefühl“70 vorausgesetzt. Mit dieser Überlegung macht Pannenberg zum einen deutlich, dass die motivierende Bedeutung der Affekte und Leidenschaften „die Berechtigung und Notwendigkeit einer Psychologie des Erlebens und seiner Formen neben der Beobachtung des Verhaltens“71 ist und gibt der „Zurückweisung der behavioristischen Reduktion der Psychologie“72 recht. Zum anderen bringt er zur Geltung, dass die motivierende Rolle des Erlebens von Stimmungen und Affekten den im Gefühl gegebenen Ausgriff auf das Lebensganze impliziert, wobei er allerdings den genauen Zusammenhang der Stimmungen und Affekte mit dem Gefühl nicht näher entfaltet.
2.
Kritische Rückfragen und Überlegungen zu einer dogmatischen Erörterung der Gefühle
Dass Religion unerlässlich zum Menschsein des Menschen gehört, lässt sich allgemeingültig nach Pannenberg nur behaupten, wenn sich zeigen lässt, dass der Prozess der Identitätsbildung in der Spannung von Nichtidentität und Identität konstitutiv für das Menschsein des Menschen ist und nicht zuerst durch menschliche Selbsttätigkeit ermöglicht wird. In seiner Rekonstruktion des affektiven Lebens erschließt Pannenberg die ekstatische Konstitution der Identitätsbildung des Menschen in der Unterscheidung von Ich und Selbst und in der Spannung von Exzentrizität und Zentralität als eine solche, die schon auf der Ebene des unmittelbaren Lebensvollzugs und damit präreflexiv im Gefühl und seinen Stimmungen und Affekten gegeben ist. Vor dem expliziten Identitätsbildungsprozess in der Ausbildung des Selbstbewusstseins und der Unterscheidung von Ich und Selbst ist der Mensch auf unmittelbarer Ebene mit sich selbst vertraut und im Gefühl auf die künftige Ganzheit seines Lebens bezogen. Das Gefühl ist der Horizont, in dem der Mensch in seinen Stimmungen, Affekten und Leidenschaften im Verhältnis zu seiner Umwelt und seinen Mitmenschen die Spannung von Identität und Nichtidentität unmittelbar erlebt. Zugleich zeigt sich im affektiven Leben die konstitutive Bedeutung der Beziehung zum andern für die Innerlichkeit des Menschen und sein seelisches Erleben. Pannenberg entwickelt sein Verständnis des affektiven Lebens zwar dabei in der Auseinandersetzung mit außertheologischen Anthropologien und gezielt nicht im Ausgang von den biblischen Aussagen. An bestimmten Stellen wie zum Beispiel bei der Erörterung der Stimmung der Freude bei Martin Heidegger stellt
70 AL, 253. 71 AL, 253. 72 AL, 253.
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle?
er aber Verbindungen her. Sowohl Pannenbergs Würdigung der Vielfalt der Stimmungen, Affekte und Leidenschaften wie auch seine Unterscheidung von positiven und negativen Affekten greift der Sache nach biblisches Reden auf. Wenngleich Pannenberg dem affektiven Leben wieder eine theologische Bedeutung zuweist, stellen sich Anfragen an die These, dass im Gefühl das Ganze des Lebens unthematisch präsent sei. Diese Bestimmung ist nicht zu verwechseln mit einem unthematischen Streben nach Ganzheit und Vollkommenheit. Pannenberg geht es vielmehr um die unthematische Präsenz des individuellen Lebensganzen im Gefühl. Die anthropologische Funktion dieses Gefühlsbegriffs besteht darin, die Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit im Sinne der Identität mit dem Selbst auf der Ebene des unmittelbaren Lebensvollzuges gewissermaßen als gegebenen Richtungssinn festmachen zu können. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass sich auf das Gefühl nur im Medium des Gedankens zugreifen lässt, wie Pannenberg selbst in seiner Kritik an Schleiermacher festhält. Dass im Gefühl auf die Ganzheit des Lebens unmittelbar ausgegriffen wird, lässt sich gedanklich zwar postulieren. Aber im Unterschied zu den Stimmungen, Affekten und Leidenschaft, die erlebt werden und der Selbstbeobachtung zugänglich sind, ist das Gefühl als Ausgriff auf das Lebensganze der Selbstwahrnehmung nicht zugänglich. Von daher ist zu fragen, wie begründet werden kann, dass mit „Gefühl“ nicht nur ein unmittelbares Lebensgefühl oder eine unmittelbare Daseinsgewissheit bezeichnet werden kann, sondern der unthematisch präsente Ausgriff auf das Ganze des Lebens. Psychologisch unterfüttert Pannenberg die These im Verweis auf die Studie von Felix Krueger zum Wesen der Gefühle von 1928.73 Auf eine in der Psychologie verbreitete Auffassung kann er hier aber nicht zurückgreifen. Die Rückfrage lautet darum, ob der Gefühlsbegriff so gefasst und argumentativ eingespannt werden kann, wie Pannenberg dies tut. Damit soll nicht bestritten werden, dass eine Hoffnung auf Ganzheit und Vollendung des individuellen Lebens den Menschen in seinem Lebensgefühl bestimmt und wie eine Stimmung begleiten kann. Aber zu fragen ist, ob eine solche Ausrichtung nicht kulturell und sozial vermittelt ist und damit in dem Bildungsprozess wächst, in dem sich nach Pannenberg auch ich und Selbst herausbilden. Damit verbindet sich eine zweite Rückfrage, die den Stellenwert der einzelnen Momente des affektiven Lebens in Pannenbergs Argumentation betrifft. Es ist zwar das Verdienst von Pannenbergs Behandlung des affektiven Lebens, dass er die Vielfalt der verschiedenen Gemütszustände und Gefühlserregungen in Gestalt von Stimmungen, Affekten und Leidenschaften in den Blick nimmt. Aber sie werden nur unter der Frage behandelt, inwiefern in ihrer ekstatischen Struktur das Thema der Identitätsbildung auf unthematische Weise und auf unmittelbarer
73 Vgl. AL, 281.
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Ebene ausfindig gemacht werden kann. Im Rahmen des Argumentationsziels der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ geht es nicht darum, den einzelnen Affekten und Leidenschaften in der christlichen Frömmigkeit und Lehre nachzugehen.74 Entsprechend behandelt Pannenberg auch die motivationale Rolle von Stimmungen, Affekten und Leidenschaften in der Anthropologie nur knapp. Dieses Thema spielt hingegen in der neueren Kognitionsforschung in ihren verschiedenen Teildisziplinen und in daran anknüpfenden philosophischen Ansätzen eine wichtige Rolle. Für eine dogmatische Glaubensauslegung im interdisziplinären Gespräch erscheint es darum heute angezeigt, die Rolle des affektiven Lebens nicht nur im Zusammenhang der fundamentaltheologischen Frage nach der Bedeutung von Religion für das Menschsein des Menschen zu erörtern, sondern zu fragen, wie der christliche Glaube das affektive Leben prägt und welche Bedeutung diesem für die Entwicklung eines christlichen Ethos zukommt. Damit verbunden lässt sich dogmatisch auch fragen, ob bzw. in welchem Sinne einzelne Affekte oder Emotionen wie Freude, Dankbarkeit, Reue und Mitleid75 , die in der christlichen Tradition zentral sind, als Geistwirkungen zu verstehen sind, wie es biblische Aussagen nahelegen (vgl. z. B. Gal 5,22f). Eine fruchtbare Ausgangsbasis für eine dogmatische Erörterung der religiösen Gefühle und Empfindungen bieten die Arbeiten von Robert C. Roberts. Hinsichtlich der Begrifflichkeit gibt er dem Begriff der Emotion den Vorrang gegenüber der traditionellen christlichen Unterscheidung zwischen Leidenschaften und Affekten76 und spricht von „spiritual emotions“77 . In kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit den nach seinem Verständnis essentialistischen Ansätzen von Friedrich Schleiermacher und Rudolf Otto vertritt er im Anschluss an William James die Auffassung, dass religiöse Gefühle nicht eine Sondergruppe von Gefühlen sind, die sich durch eine spezifisch religiöse Qualität oder Essenz auszeichnen und darin von allen anderen Gefühlen unterscheiden. Vielmehr geht er davon aus, dass religiöse Gefühle durch die Vorstellungen des Göttlichen bestimmt sind, die in der religiösen Tradition bzw. Lehre vermittelt werden. Religiöse Gefühle wie z. B. Dankbarkeit, Mitleid und Reue erhalten ihren distinkten Charakter nach Roberts durch ihren der religiösen Lehre entspringenden Inhalt und durch ihre propositionale Struktur.78
74 Auch in der Systematischen Theologie spielen die Affekte und Leidenschaften keine Rolle. 75 Diese Emotionen stellt Robert C. Roberts in seinem Artikel „Emotions in the Christian Tradition“ (überarbeitete Fassung von 2021) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy vor, siehe https:// plato.stanford.edu/entries/emotion-Christian-tradition/#CritWorkReliEmot, hier den Abschnitt 1.1 über „Emotions in the New Testament“ und Abschnitt 3 „Some Christian Emotions“. 76 Vgl. Roberts, a.a.O., Abschnitt 1.2 „Passions, affections, and emotions“. 77 Robert C. Roberts, Spiritual Emotions, Grand Rapids, Michigan/Cambridge 2007. 78 Vgl. Robert C. Roberts, Emotions in the Christian Tradition, Abschnitt 4: „The Christian emotions are given their distinctive character by their doctrinal content.“
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle?
Gleichwohl sind Emotionen nicht auf ihren propositionalen Gehalt zu reduzieren, sondern vielmehr „a sort of concern-based impression or perception or construal of the situation“79 . Sie sind zwar bestimmt durch einen propositionalen Gehalt, den sie aber nach Roberts zugleich transzendieren, und zwar in der gleichen Weise wie dies noch in jeder „actual perception“ wie z. B. einer „visual perception“ der Fall ist.80 Wie Roberts am Beispiel der Betrachtung eines Rembrandt-Bildes verdeutlicht, kann ein solches Bild durch viele beschreibende Aussagen charakterisiert werden, und manche propositionalen Beschreibungen führen dazu, dass man bestimmte Aspekte wahrnimmt, die man sonst nicht gesehen hätte. Aber keine propositionale Beschreibung des Bildes kann das Betrachten des Bildes selbst ersetzen. In der gleichen Weise übersteigt auch das Erleben eines Gefühls den propositionalen Gehalt. Das Erleben von Dankbarkeit erschöpft sich nicht im Wissen um die erfahrene Wohltat, das Erleben von Reue nicht in dem Bewusstsein der begangenen Untat. Christliche Emotionen sind nach Roberts mithin durch Lehre bzw. Verkündigung vermittelte „construals“, in denen sich die empfindende Person z. B. als dankbar erfährt. Sie bestimmen das Selbstbewusstsein der empfindenden Person, weshalb er religiöse Gefühle auch nicht wie Schleiermacher auf der Ebene der reinen Unmittelbarkeit im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit angesiedelt verstehen kann. Roberts entwickelt sein Verständnis christlicher Emotionen aus der Analyse von einzelnen Selbstzeugnissen und deren Rekurs auf die christliche Glaubensauslegung (Lehre, Verkündigung). Auch wenn es in den biblischen Schriften noch keine zusammenfassenden Begriffe für das gibt, was später Leidenschaft und Affekt und modern Emotion genannt wird, erscheint seine Analyse doch treffend mit Blick auf solche biblisch benannten „Emotionen“ wie Ehrfurcht, Freude oder Dankbarkeit, die auf eine Gotteserfahrung zurückgeführt werden, die ihrerseits durch eine sprachlich vermittelte Manifestation und Vorstellung des göttlichen Wesens vermittelt ist. Die Pointe, die Roberts mit dieser Analyse verbindet, liegt dabei darin, christliche Emotionen als Disposition von Tugenden zu verstehen. Für ihn ist die christliche Religion überhaupt eine solche „whose theology is an ethics, an ethics of justice, truthfulness, compassion for the poor and suffering, and of mutual love in the community“.81 Das wirft die Frage auf, ob damit die Bedeutung der christlichen Emotionen zu einseitig in der ihre Handlungen motivierenden Funktion gesehen wird. Des Weiteren kann man fragen, ob der Schritt von der Emotion über die Tugend zur Handlung nicht komplexer ist. 79 Vgl. Robert C. Roberts, a.a.O., Abschnitt 4. Den Zusammenhang von religiösen Empfindungen und religiöser Lehre untersucht auch Mark Wynn, Emotional Experience and Religious Understanding, Cambridge 2004. Siehe außerdem Ders., Renewing the senses, Oxford 2013, 27–33. 80 Vgl. Robert C. Roberts, a.a.O., Abschnitt 4. 81 Vgl. Robert C. Roberts, a.a.O., Abschnitt 2.
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Unter beiden Gesichtspunkten erscheint die Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Johannes Fischer lohnend, der in früheren Arbeiten die These entfaltet hat, dass religiöse Narrative in ihrer narrativen Struktur die Wahrnehmung von ethischen Entscheidungs- und Handlungssituationen prägen.82 In seinem Beitrag zu dem eingangs erwähnten Band „Theologie der Gefühle“ untersucht er den Zusammenhang von Emotionen und der religiösen Dimension der Moral und argumentiert für ein nicht auf Handlung reduziertes Verständnis von Moral.83 Ähnlich wie Roberts geht er von einer „emotionalen Fundiertheit der Moral“84 aus, verbindet diese Auffassung aber mit der These, dass in der moralischen Erfahrung eine religiöse Dimension angelegt ist. Diese findet er in „der Erfahrung atmosphärischer Präsenz, wie sie sich in emotional bestimmtem Verhalten in seinen vielfältigen Ausprägungen vermittelt.“85 Religiös ist diese durch Verhalten vermittelte atmosphärische Präsenz, weil sie dem Handeln unverfügbar vorangeht und zugrunde liegt. Atmosphärisch ist sie, indem sie anziehend oder abstoßend wirkt und darin orientierend. Was mit dem unbestimmten Ausdruck „atmosphärische Präsenz“ bezeichnet werden soll, wird deutlicher, wenn man ihn als abstrakte Kennzeichnung für den Geist versteht, der in Verhaltensformen erfahren wird, die etwa von Menschlichkeit, Liebe oder Vergebung geprägt sind. Ohne die Position von Fischer hier genauer rekonstruieren zu können, lässt sich ihr doch als Aufgabe für die dogmatische Beschäftigung mit Emotionen entnehmen, die Rolle narrativer Überlieferung für die emotionale Codierung menschlichen Verhaltens in der christlichen Glaubensauslegung in den Blick zu nehmen. Dabei kann die exzentrische Struktur des affektiven Lebens, das Pannenberg in einer identitätspsychologischen Argumentation allgemein für Stimmungen, Affekte und Leidenschaften in Anschlag gebracht hat, konkret für einzelne Emotionen erörtert werden. Die Aufgabe einer solchen dogmatischen Erörterung z. B. in der Pneumatologie wäre es zwar nicht, die unveräußerliche Religiosität des Menschen schon auf der Ebene unmittelbarer Lebensvollzüge unter Absehung religiöser Inhalte zu erschließen. Aber es könnte deutlich werden, dass eine Lebensform, in der die Anerkennung des anderen als anderen, Vergebungsbereitschaft und selbstlose Zuwendung zum Nächsten
82 Vgl. Johannes Fischer, Zum narrativen Fundament der sittlichen Erkenntnis. Metaethische Überlegungen zur Eigenart theologischer Ethik. In: Ders., Sittlichkeit und Rationalität: zur Kritik der desengagierten Vernunft, Forum Systematik Bd. 38, Stuttgart 2010, 146–171. Zur interdisziplinären Anwendung der These vgl. Friederike Nüssel, Narrative Codierung von Werten, in: Thomas Rausch und Bernd Schneidmüller (Hgg.), Bericht des Marsiliuskollegs 2017/2018, Heidelberg 2018, 140–147. 83 Vgl. Johannes Fischer, Emotionen und die religiöse Dimension der Moral. Zum Reflexionsgegenstand einer Theologischen Ethik, in: Barth/Zarnow, a.a.O., 191–205. 84 Fischer, a.a.O., 191. 85 Fischer, a.a.O., 199.
Religiös im Gefühl oder religiöse Gefühle?
bestimmend sind, von einer narrativ vermittelten Verheißung lebt, die Menschen nicht nur intellektuell, sondern emotional anzusprechen vermag.
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Zur Dialogförmigkeit der Offenbarung
Kann der Gedanke, dass Gott sich dem Menschen offenbart, auch so ausgedrückt werden, dass Gott zum Menschen spricht – in einer dialogförmigen, zweitpersonalen An-Rede des Menschen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der vorliegende Text, in Gestalt einer Gegenüberstellung von Franz Rosenzweigs und Wolfhart Pannenbergs Antworten auf diese Frage. Während Rosenzweigs – bejahende – Antwort auf diese Frage geradezu ein Kernstück seines Denkens (in seinem Hauptwerk Der Stern der Erlösung) darstellt, ist Pannenbergs Antwort weniger unmittelbar ersichtlich und muss daher zunächst aus seinen Werken rekonstruiert werden – und zwar sowohl aus der Systematischen Theologie, den Offenbarungsbegriff selbst betreffend, als auch aus der Anthropologie, Pannenbergs Verständnis von Sprache und seine Bewertung von Dialogizität betreffend. Ziel ist es freilich, mit einer solchen Gegenüberstellung von Rosenzweig und Pannenberg ein Licht auf das Verhältnis von Offenbarung und Sprache zu werfen – und Gründe offenzulegen, die für oder gegen eine genuin sprachliche, näherhin dialogische Auffassung dessen sprechen, was in johanneischer Tradition das „Wort“ („logos“) genannt wird, durch welches sich die Offenbarung Gottes letztlich ereignet.
I. Der Anfang ist mit einer Szene aus der Ostererzählung des Evangelisten Johannes zu machen: „[Maria] wandte sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!“ (Joh 20,14–16)
Zunächst ist ein wesentlicher Punkt dieser Szene herauszustellen, mit dem sich die hier anzustellenden Überlegungen zur Dialogförmigkeit der Offenbarung einleiten lassen: Maria sieht ein Gegenüber, das in Wahrheit Jesus ist – und weiß dennoch nicht, dass dieses Gegenüber Jesus ist, sondern meint irrig, es sei der Gärtner; die Form, wie Jesus sie aus diesem Irrtum befreit, ist nun bemerkenswerterweise weder
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die einer drittpersonalen, erklärenden Rede – indem Jesus sagt: „Dies und dies ist der Fall!“ – noch die einer erstpersonalen Selbstvorstellung – indem Jesus sagt: „Ich bin’s: Jesus!“ Sondern die einer zweitpersonalen An-Rede mit dem Eigennamen: „Maria!“ – So offenbart er, wer er ist.1
II. In dieser Szene wird in dichter (und christologisch vertiefter) Form ein Gedanke dargestellt, der das Zentrum des philosophischen Denkens von Franz Rosenzweig bildet: nämlich, dass Offenbarung Gottes wesentlich das zweitpersonale beimNamen-Rufen des Menschen durch Gott ist2 ; und, dass sich (solche) Offenbarung auch im zweitpersonalen beim-Namen-Rufen eines Menschen durch einen anderen Menschen ereignen kann.3 Beide Akte des beim-Namen-Rufens sind Akte der
1 In diesem Sinne legt auch Joachim Ringleben diese Perikope aus: „[S]o legt sich die Erscheinung des Erhöhten […] für Maria Magdalena sprachlich aus: sie verwirklicht sich allererst in der persönlichen Anrede (16a) und dem erkennenden Hören und Antworten (16b).“ (Ringleben 2014, 397) 2 Rosenzweig fasst die Offenbarung zunächst alttestamentlich: „„Wo bist Du?“ Es ist nichts als die Frage nach dem Du. […] Wo überhaupt gibt es ein Du? Diese Frage nach dem Du ist das einzige, was von ihm schon bekannt ist.“ (Stern der Erlösung, 195) Wie sich Jesu beim-Namen-Rufen Marias als Erfüllung des alttestamentlichen Wortes aus Jesaja – „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43,1b) – lesen lässt (vgl. dazu auch Ringleben 2014, 397), lässt es sich auch als Stellen und Beantworten der Frage Gottes an den Menschen – „Wo bist Du?“ – verstehen. Dass das Beantworten der Frage durch Jesus ihr (neues) Stellen nicht obsolet macht, wird daran deutlich, dass mit der Offenbarung Jesu, dass er nicht der Gärtner ist, Maria neu gerufen ist, sich zu dem zu verhalten, zu dem sie sich nicht hätte verhalten müssen, wenn er wirklich der Gärtner gewesen wäre. Ihre demütige An-Rede – „Meister!“ – bedeutet zunächst genau dies: da Gott sich so offenbart hat, dass er als Gegenüber ist und an-sprechbar ist, entfällt der naheliegendste Grund, sich ihm nicht hinzugeben: die Zweifelhaftigkeit, ob da wirklich (noch) jemand ist, der sich überhaupt mit „Du“ anreden lässt. Rosenzweig zeigt sehr schön, dass dies der Moment ist, wo die Liebe gar zum Gebot werden kann, und auch der Moment, an dem die Offenbarung sich in ihr Letztes steigern kann, in die Möglichkeit wirklichen Gebets: „Die Seele kann mit offenen Augen und ohne zu träumen sich in der Welt umtun; immer bleibt sie nun in Gottes Nähe. Das „Du bist mein“, das ihr gesagt ist, zieht einen schützenden Kreis um ihre Schritte. Sie weiß nun, daß sie nur die Rechte auszustrecken braucht, um zu fühlen, daß Gottes Rechte ihr entgegenkommt. Sie kann nun sprechen: mein Gott, mein Gott. Sie kann nun beten. Das ist das Letzte, was in der Offenbarung erreicht wird, ein Überschießen des höchsten und vollkommensten Vertrauens der Seele: das Gebet.“ (Stern der Erlösung, 205) 3 Rosenzweig fasst den Zusammenhang unter anderem so: „Die Liebe kann gar nicht „rein menschlich“ sein. Indem sie spricht – und sie muß sprechen, denn es gibt gar kein andres aus sich selber Heraussprechen als die Sprache der Liebe – indem sie also spricht, wird sie schon ein Übermenschliches; denn die Sinnlichkeit des Worts ist randvoll von seinem göttlichen Übersinn; die Liebe ist, wie die Sprache selbst, sinnlich-übersinnlich.“ (Stern der Erlösung, 224)
Zur Dialogförmigkeit der Offenbarung
Liebe; und von der Liebe gilt, dass Gott die Liebe ist und Menschen in Gott sind, die in Liebe zueinander stehen – wie sich wiederum johanneisch sagen lässt4 . Der innere Zusammenhang von „An-Rede“ und „Liebe“ zeigt sich wesentlich auch darin, dass beide punktuelle Ereignisse sind, in der eine besondere Form der Gegenwart eintritt, „reine, unvermischte Gegenwart“5 , wie Rosenzweig sagt – und weiter: „Gottes Liebe ist stets ganz in dem Augenblick und an dem Punkt, wo sie liebt“6 . Um ein plastisches, lebensweltliches Beispiel dafür zu geben, das die skizzierten Zusammenhänge noch einmal verdeutlicht: Einem Liebespaar, das sich fürchterlich gestritten hat, kann das daraus erwachsene Eis gerade brechen, indem nicht die inhaltliche Auseinandersetzung fortgeführt wird, hoffend, so würde die Sache geklärt, sondern indem eine:r der beiden, durch das Aufwallen ihrer Liebe, sagen kann: „Maria!“ – und Maria in seine Arme schließt. Es ist ja auch ein Auseinandersein – zwar nicht durch Streit, aber durch das Grab und die Verkennung nach der Auferstehung –, das zwischen Jesus und Maria Platz gegriffen hat und das von Jesus durch seine An-Rede gebrochen wird. Soviel, in der notwendigen Kürze, zur Dialogförmigkeit der Offenbarung, wie sie von Rosenzweig plastisch zur Darstellung gebracht wird. Wolfhart Pannenberg hält ein solches Verständnis von Offenbarung als zweitpersonales beim-Namen-Rufen, als zweitpersonal-dialogische An-Rede, mit seiner Auffassung von Offenbarung für nur sehr eingeschränkt kompatibel. Es wird sogleich zu fragen sein, warum dem so ist. Dass dem so ist, macht Pannenberg jedenfalls deutlich – und zwar gerade durch die Rolle, die Rosenzweigs (Sprach-)Denken in seiner Anthropologie spielt: Pannenberg bespricht Rosenzweigs Auffassung des Ich-Du-Verhältnisses dort durchaus differenziert und hebt, im Anschluss an Michael Theunissen, einen Vorzug von Rosenzweigs Denken hervor: dass es gewisse Aporien der kantischen und nachkantischen Subjektphilosophie zu überwinden sucht7 ; dabei erwähnt Pannenberg jedoch nicht, dass Rosenzweigs Auffassung des Ich-Du-Verhältnisses sich wesentlich anhand der zentralen theologischen Kategorien von „Offenbarung“ und „Liebe“ expliziert. Diese Lücke ist wohl nicht damit zu erklären, dass Pannenberg diesen zentralen Aspekt von Rosenzweigs Denken nicht zu Kenntnis genommen hätte; vielmehr erscheint ihm Rosenzweigs interne Verbindung von zweitpersonaldialogischer Anrede auf der einen und Offenbarung und Liebe auf der anderen Seite als theologisch nicht adäquat; so urteilt Pannenberg – einigermaßen polemisch –, dass bei Rosenzweig „das „Gespräch“ allzusehr zum Zauberschlüssel“8 werde.
4 „Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1 Joh 4,16) 5 Stern der Erlösung, 184. 6 Stern der Erlösung, 183. 7 Vgl. Anthr., 174 ff. 8 Anthr., 176.
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Es steht also begründet zu vermuten – und diese Vermutung soll im Folgenden ausgeführt und bestätigt werden –, dass sich Pannenberg zufolge Offenbarung als Gottes handelnde Selbstmitteilung durch die Geschichte gerade nicht primär als sprach- oder genauer: anredeförmig verstehen lässt; dass also in dieser Selbstmitteilung gerade eine Form liegt, die sich wesentlich von Sprach- oder Anredeförmigkeit unterscheidet.9
III. Was an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden soll, ist, dass die Behandlung dieser Problematik auch für die theologiegeschichtliche Einordnung Pannenbergs hilfreich ist. Denn auch wenn – schon vom Begriff „logos“ her – unstrittig ist, dass die zweite Person der Trinität und die Offenbarung Gottes so etwas wie ein sprachliches Moment haben, so ist doch sehr umstritten, wie sich dieses Moment zu anderen Momenten verhält, die mit dem Begriff „logos“ ebenso wesentlich verbunden sind: So muss die Vernehmbarkeit, die im „logos“ gedacht wird, nicht primär sprachförmig aufgefasst werden; sie kann auch genuin denk- oder handlungsförmig aufgefasst werden – und dies macht einen Unterschied selbst dann, wenn man zugibt, dass
9 Interessant und lohnend wäre, die hier verfolgte Fragestellung auszuweiten auf drittpersonales dialogisches Sprechen, also dialogisches Sprechen und Nachdenken über etwas. Pannenberg scheint dem „Geist“ solchen Gesprächs weitaus mehr theologische Bedeutung zuzuerkennen als der dialogischen An-Rede – was sowohl durch dessen Behandlung in der Anthropologie als auch durch die (auch im vorliegenden Beitrag noch herauszustellende) Logik seines Offenbarungsbegriffs nahegelegt ist. Deutlich und greifbar wird dies auch in Pannenbergs Aufsatz „Sprechakt und Gespräch“ (Pannenberg 1996), der – im Kontext eines Sammelbandes zum „Gespräch“ des Kreises Poetik und Hermeneutik – einen Gedankenstrang der Anthropologie herausgreift und für sich zur Geltung bringt. Gunther Wenz weist in seinem daran unmittelbar anschließenden Beitrag „Sprechen und Handeln“ allerdings auf den äußerst bedeutsamen und eigentlich evidenten, doch zugleich leicht zu vergessenden Punkt hin, dass das drittpersonale Gespräch die zweitpersonale Anrede zum wesentlichen initialen Moment hat: „Wer ein wirkliches Gespräch beginnen will, fängt […] keineswegs mit sich selbst an. Vielmehr ist der Gesprächsanfang stets mitbestimmt durch eine mehr oder minder vertrauensvolle Antizipation der erwarteten Entgegnung. Bleibt sie aus und die Anrede unerwidert, fällt das erste Wort auf sich selbst zurück, um peinlich zu verstummen.“ (Wenz 1996, 78) Das bedeutet: Sollte sich zeigen lassen, dass Offenbarung die Form des drittpersonalen Gesprächs aufweist (oder eine jedenfalls dazu analoge), wäre ihr – zumindest initial – wohl auch die Form des Dialogischen (bzw. eine dazu analoge), der „Anrede“, wesentlich. Diese um die Dimension drittpersonaler Gesprächsförmigkeit ausgeweitete Fragestellung – also die Frage danach, ob Offenbarung die Form solchen Gesprächs habe (oder jedenfalls eine, die dieser analog ist) – kann im Rahmen des vorliegenden Textes leider nicht verfolgt werden, sondern würde eine eigene Abhandlung erfordern.
Zur Dialogförmigkeit der Offenbarung
Denken und Handeln nicht ohne Sprache möglich wären. Um diesen theologiegeschichtlich zu verfolgenden Streit etwas konkreter aufzuweisen: Es gibt Theologen, die in einem sehr starken Sinne die Sprachförmigkeit der Offenbarung und damit der Theologie insgesamt vertreten; neben dem schon erwähnten philosophischen Theologen Rosenzweig zählt auf evangelischer Seite hierzu gewiss Ingolf Dalferth, der in seinem Buch „Religiöse Rede von Gott“10 gar behauptet, „daß es für die Theologie in ihrem konstitutiven Bezug auf das zur Sprache gekommene Wort Gottes kein angemesseneres Sachproblem gibt als das Sprachproblem“11 .12 Sodann gibt es Positionen, die die Sprachförmigkeit der theologischen Sache zwar stets mit bedenken, ohne die Sprache dadurch aber selbst für das zentrale Sachproblem der Theologie zu halten; ein herausragender Vertreter dieser Art von Position ist Joachim Ringleben, der „von der Sprache her“ denkt13 , aber doch ganz entschieden – mit Hegel und Pannenberg – daran festhält, dass Gott selbst der Gegenstand der Theologie schlechthin ist und bleiben muss.14 Er zerstreut damit klar den Verdacht, dass eine an der Sprache geschulte Theologie unter der Hand das Thema wechseln und Gott gleichsam hinter der Sprache verbergen müsste. Obwohl dieser Verdacht also zerstreut werden kann, scheint Pannenberg dem Gegenstand der Theologie nur bedingt an sich selbst Sprachförmigkeit – noch dazu Dialogförmigkeit – zuzuerkennen. Dass und warum dies so ist, ist im Folgenden zu zeigen.
IV. Zunächst sind dazu wesentliche Bestimmungsmomente von Pannenbergs Offenbarungsbegriff anzugeben, die geradezu gegensätzlich zu den Bestimmungsmomenten des sprach- und dialogförmigen Offenbarungsbegriffs Rosenzweigs stehen. Ein
10 Vgl. Dalferth 1981. 11 Dalferth 1981, 14. 12 In meinem Aufsatz Theologie als Grammatik (Oehl 2015) habe ich anhand der Spätphilosophie Wittgensteins zu zeigen versucht, dass Theologie, die sich als Grammatik, als Explikation grammatischer Regeln religiöser Sprache, versteht, dadurch nicht die Sprache anstelle von Gott zum Gegenstand der Theologie machen muss, auch wenn sie dadurch – was theologisch adäquat ist – sensibler für die Bedeutung von Sprache als solcher wird. Dabei habe ich diese Überlegungen in Ansätzen auch schon auf Pannenbergs Theologie bezogen. 13 So lautet der sprechende Titel eines seiner Bücher: „Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her“ (Ringleben 2010). 14 So heißt es im Vorwort zu seinem Werk Der lebendige Gott. Gotteslehre als Arbeit am Begriff : „In diesem Buch soll es um Gott gehen und nur um Gott selber. Damit treiben wir Theo-logie im eigentlichen Sinne, denn Gott ist das fundamentale und allumfassende Thema der christlichen Theologie. Alles, was hier zur Sprache kommen soll, wird also im Blick auf Gott und seine Wirklichkeit zur Sprache kommen müssen“ (Ringleben 2018, VII).
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geeigneter Ausgangspunkt dafür ist das Folgende: Wenn die zweitpersonale Anrede – wie bei Rosenzweig – als Offenbarung und Liebe gedacht wird, so besagt dies, dass die Fülle des Wesens Gottes in dieser Anrede begegnet. Zwar ist auch Rosenzweig bewusst, dass sich eine solche Begegnung nicht in sich selbst erschöpft, sondern nach einer Fortsetzung ruft, und diese Fortsetzung erschöpft sich ihrerseits nicht darin, eine diskrete Reihe solcher Anreden zu sein; vielmehr muss sie eine Art kohärente gemeinsame Lebens-Geschichte werden, die sich von einer solchen Begegnung herschreibt. Hierin berührt sich seine Konzeption durchaus mit derjenigen Pannenbergs: Auch Pannenberg ist der Auffassung, dass eine unmittelbare Begegnung mit Gott der Ent-Wicklung, der Deutung bedarf. Eine gewichtige Differenz zu Rosenzweig besteht jedoch dennoch und wird gerade vor dem Hintergrund dieser initialen Gemeinsamkeit deutlich – und zwar in zweifacher Hinsicht. (a: Zum Verhältnis von Gegenwart und Geschichte) Rosenzweig ist der Auffassung, dass der Ort der Liebe und der Offenbarung die zweitpersonale Anrede ist. Deren Fortschreibung in einer gemeinsamen Geschichte ist zwar notwendig, um diesen Ort nicht von vornherein zu beschränken oder einzuengen; aber das ändert nichts daran, dass er der eigentliche Ort der Offenbarung ist – und, so die dialektische Volte, aufgrund der Fülle, die in ihm ist, eben an sich selbst schon nicht bloß ein punktueller Moment ist, der an sich noch keine Weite, nichts in sich Fortsetzendes hätte. Anders gesagt: Rosenzweig zufolge ist dieser Ort eine Gegenwart, die nicht einfach vergeht („Ewigkeit“), sodass seine lebendige Fortschreibung – Geschichte – nicht nach, sondern in dieser neu aufgestoßenen Gegenwart der Offenbarung ist: Die Beziehung der Liebenden entfaltet sich im Akt der Liebe, nicht nach ihm. Für Pannenberg hingegen ist es theologisch durchaus entscheidend, dass die Gegenwart der Offenbarung – und damit auch Marias Begegnung mit dem auferstandenen Gekreuzigten – nicht einfach eine neue Gegenwart ist, die nicht auch ihrerseits zur Vergangenheit würde und so in der Geschichte verbleibt; dass – mit anderen Worten – der gewöhnliche Sinn von Geschichte durch die Offenbarung nicht einfach aufgehoben wird, sodass sich gar nicht mehr eigentlich von „Offenbarung als Geschichte“ reden ließe. Zwar lässt auch Pannenbergs Konzeption von Jesu Gegenwart als Antizipation des Endes der Geschichte unseren gewöhnlichen Sinn von Geschichte nicht einfach unberührt; aber anders als Rosenzweig denkt Pannenberg solche Gegenwart nicht an sich selbst als Ewigkeit, sondern als Antizipation der Ewigkeit, wodurch sie – trotz und gerade auch wegen dieses Antizipationscharakters – nicht einfach bruchlos an sich selbst Ewigkeit ist. (b: Zum Verhältnis von Verborgenheit und Offenbarung) Pannenberg zufolge ist die Deutung der Gegenwart Gottes nicht die Deutung einer Gegenwart, von und in der jedoch schon diesseits der Deutung immerhin gewiss ist, dass sie Begegnung in Form zweitpersonaler Anrede ist. Für Pannenberg ist der Ausgangspunkt der Deutung weit weniger bestimmt: Seine Auffassung besagt, dass Gott in einem radikalen Sinne strittig ist – und zwar nicht deshalb, weil er nicht für alle gegenwärtig
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– da – wäre, sondern deshalb, weil die Form seiner universalen Gegenwart und seines Daseins für alle eine ist, in der noch nicht einmal seine Bestimmung als personales Gegenüber mit gegeben ist. Es gilt also nicht nur deutend zu explizieren, wer oder was das personale Gegenüber ist, das sich mir in zweitpersonaler Anrede zuwendet; sondern auch und logisch zuvor, welche Art von Wesen dasjenige ist, was qua seiner Unendlichkeit von mir immer schon intuiert wird und in diesem Sinne Gegenwart hat, eine Gegenwart des noch nicht personal Bestimmten. Diese Gegenwart ist als solche also auch noch nicht unmittelbar in Form dialogischer Anrede bewusst; das in ihr Gegenwärtige ist unmittelbar in ihr noch nicht als Personales gegenwärtig.15 Es lohnt hier eine noch weiter ausgreifende Bemerkung: Das eben dargestellte Festhalten Pannenbergs an der noch unbestimmten Gegenwart Gottes ist ein Aspekt seiner konkreten, aneignenden Ausgestaltung der (lutherisch inspirierten) Lehre von der Abskondität Gottes. Für Pannenberg stellt der deus absconditus keinen undialektischen Gegensatz zum deus revelatus dar. Vielmehr ist der deus revelatus wesentlich auch als verborgener offenbar; in der Offenbarung, so sie als geschichtliches Handeln des trinitarischen Gottes verstanden wird, ereignet sich das Verhältnis zwischen dem verborgenen und dem offenbaren Gott, hin zu ihrer Einheit – was aber zunächst ihre Differenz voraussetzt, sodass diese Einheit nicht schon unmittelbar mit dem Stattfinden von Offenbarung überhaupt gegeben ist.16 Der Ort seiner Offenbarung, die Geschichte, ist der Ort der Deutung dessen, was wir von Gott – qua seines verborgenen Daseins – immer schon intuieren17 ; das aber bedeutet, dass es gar keine Offenbarung als Geschichte geben könnte, wenn es nicht auch das Gefälle zwischen dem ungedeuteten Faktum des Daseins des deus als absconditus und seiner Deutung als dreieinigen Gott, als deus revelatus, geben würde. Dieses dialektische Verhältnis von Offenbarung/Gegenwart und Verborgenheit Gottes ist für Pannenbergs theologisches Denken also durchaus zentral; und
15 Vgl. zu diesem schwierigen, für Pannenbergs Theologie aber entscheidenden Gedanken meinen Aufsatz zur Intuition des Unendlichen (Oehl 2018). 16 Vgl. STh I, 368: „[D]ie Unterscheidung zwischen verborgenem und offenbarem Gott findet in den trinitarischen Beziehungen selber statt. Luther sah die Einheit des verborgenen mit dem offenbaren Gott in Joh 14,9 bezeugt: Qui enim me videt, inquit Christus, videt et patrem ipsum (WA 43, 459, 30 f.). Damit ist implizit auch ein Zusammenhang der Beziehung zwischen Vater und Sohn mit der Unterscheidung zwischen verborgenem und offenbarem Gott vorausgesetzt. Nicht so, als ob der Vater identisch wäre mit dem verborgenen Gott, so wie der inkarnierte Sohn der offenbare Gott ist. Aber im Offenbarungsgeschehen wird der verborgene Gott als der Vater Jesu Christi offenbar, und die Einheit des verborgenen mit dem offenbaren Gott wird manifest in der Einheit des Vaters mit dem Sohne. Wenn nach Luther die Einheit des verborgenen mit dem offenbaren Gott erst im Lichte der eschatologischen Herrlichkeit endgültig offenbar sein wird, dann heißt das, daß im Prozeß der Geschichte die Einheit des trinitarischen Gottes selbst noch verborgen ist.“ 17 Vgl. Fn. 15.
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Pannenberg scheint Karl Barths wie auch Franz Rosenzweigs Offenbarungsbegriffe für ungenügend dafür zu halten, diese Dialektik in sich aufnehmen zu können.
V. Noch ein weiterer Punkt der Differenz zwischen Rosenzweig und Pannenberg ist anzusprechen, der sich klar an das schon Gesagte anschließt. Für Pannenbergs Auffassung von Offenbarung ist es wesentlich, dass Offenbarung auch in dem Sinne wesentlich Geschichte ist, dass das, was in ihr sich ereignet, die Form objektiver Tatsächlichkeit hat. Bekanntlich soll dies nach Pannenberg auch ohne Ausnahme der Auferstehung Jesu Christi selbst gelten. Gewiss bedürfte es einer logisch exakten Explikation, welche Form objektiver Tatsächlichkeit genauer hier vorliegen soll – und wie sie sich zu mutmaßlich doch andersartigen Formen objektiver Tatsächlichkeit verhält, etwa derjenigen der sogenannten „exakten Wissenschaften“ oder gar der apriorischen wie der reinen Mathematik. Doch das muss hier nicht diskutiert werden; vielmehr ist auf etwas Anderes, Grundsätzlicheres hinzudeuten: Für Pannenberg liegt in der Form objektiver Tatsächlichkeit dessen, was in der Geschichte ist, begründet, dass das, was in der Geschichte ist, Verbindlichkeit hat. Bekanntlich hat Pannenberg bereits in seiner Programmschrift Offenbarung als Geschichte formuliert, dass es keiner besonderen Glaubenseinstellung bedarf, mit welcher man den einschlägigen geschichtlichen Tatsachen begegnen müsse, um diese als (verbindliche) Tatsachen anzuerkennen; vielmehr stellt umgekehrt die Verbindlichkeit der Tatsachen an sich selbst den Grund dafür bereit, sich an dieses Tatsächliche zu binden und so einen entsprechenden religiösen Glauben auszubilden.18 Der Grund, warum viele dies nicht tun, liegt also nicht in den Tatsachen und ihrer Form selbst begründet – etwa, dass sie nichts Objektives, Verbindliches wären –, sondern darin, dass diese Tatsachen mich existentiell angehen, daher unbequem sind und in meinem Hang, mich selbst unangetastet sein zu lassen, einem offensiven Aberkennungsversuch ausgesetzt sind. Hier liegt nun eine zweifache Differenz zu Rosenzweig: (i) Die Verbindlichkeit der Wahrheit des Glaubens und damit auch der Theologie ist für Pannenberg also eine Verbindlichkeit im Sinne einer Objektivität der Tatsachen. Dies kann bei Rosenzweig nicht der Fall sein; er sieht – ähnlich wie schon Kierkegaard und Buber – die Verbindlichkeit gerade in der Verbindung gründen, die in der Begegnung mit dem Gegenüber (in der dialogischen Anrede) gestiftet ist; diese aber ist nicht objektiv, sondern nur für den, der in ihr steht, verbindlich. Dies hat zur Konsequenz, dass die Form ihrer Theorie selbst – ihrer Theologie
18 Vgl. OaG, 100 f.
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oder Philosophie – eine ganz andere als bei Pannenberg ist: Während Pannenberg zufolge Systematische Theologie wesentlich nüchterne, durchaus auch (im nicht-pejorativen Sinne) pedantische Auffindung, Deutung und Zusammenhangsexplikation von gegebenen Tatsachen ist, finden wir bei Rosenzweig das Erbe von Kierkegaards „indirekter Mitteilung“. Deren Form kann man pointiert so charakterisieren: Gleich wie die Verbindlichkeit der Verbindung mit dem Gegenüber nicht auf den Umgang mit objektiven Tatsachen zu reduzieren ist, ist die Rede von diesem Gegenüber nicht eine Rede über Tatsächliches, sondern die Mit-Teilung einer Verbindung, die gerade der Form nach deutlich machen muss, dass das, was sie mitteilt, nichts Tatsächliches ist – und doch im eminenten Sinne Wirklichkeit. (ii) Für Pannenberg tut sich etwas der dialogischen Anrede zumindest Analoges gerade durch die Tatsachen auf. Es ist gerade die Tatsache (etwa der Auferstehung), von der mit Recht gesagt werden kann, dass sie mich anspricht, nämlich im Sinne eines mit der Autorität des Tatsächlichen vorgetragenen Aufrufs, umzukehren und mein Leben nach dieser Tatsache auszurichten. Anders als bei Rosenzweig sind Tatsachen für Pannenberg also nicht die geronnene oder zur Vergangenheit gewordene Wirklichkeit der dialogischen Gegenwart, sondern vielmehr der lebendige Grund einer solchen. Hier tut sich also eine grundsätzliche Alternative in der theologischen Bewertung von „objektiver Tatsächlichkeit“ auf, welche (neu) zu diskutieren wäre.
VI. Damit ist noch einmal deutend auf die eingangs angeführte Szene aus dem Johannesevangelium zurückzukommen: Rosenzweig kann sich, wie wir eingangs sahen, für seine Auffassung durchaus darauf stützen; aber Pannenberg, dem Anschein entgegen, auch – und in bestimmter Hinsicht noch mehr, wie wir nach dem nun Gesagten feststellen können: Die Szene enthält nämlich noch zwei Volten, auf die wir bislang nicht zu sprechen gekommen sind und die sich gerade mit Pannenbergs Theologie gelingend deuten lassen: (i) Maria meint, das Gegenüber, das sie sieht, sei der Gärtner; damit, so könnte es scheinen, ist Johannes insofern näher an Rosenzweig, als der auferstandene Gekreuzigte zumindest als personales Gegenüber (wenn auch als ein anderes) offenbar ist. Doch in Wahrheit liegt darin wohl eine noch radikalere Form der Abskondität Gottes: wenn er nicht nur als (noch) apersonal intuiertes Unendliches, sondern sogar als eine andere Person als die, die er ist, erscheinen kann: als Gärtner. Dies lässt sich theologisch gerade durch die vorher skizzierte Dialektik von deus revelatus und deus absconditus denken, wie Pannenberg sie exemplarisch durchführt. Diese aber ist bei Pannenberg in einen größeren, wiederum geschichtlichen Rahmen eingezeichnet: nämlich in die Religionsgeschichte, welche Pannenberg als Erscheinungsgeschichte
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des apersonal intuierten Unendlichen auffasst. Das Ende der Religionsgeschichte, wie es in der johanneischen Szene dicht zur Darstellung gebracht wird, besteht in ihrer letzten Erscheinung, die erst im eigentlichen Sinne „Offenbarung“ zu nennen ist; die Identität, in der der Offenbarer mit allen vorherigen Erscheinungen des Unendlichen, das er ist, stehen muss, ist also eine Identität mit vorläufigen Erscheinungen, die an sich selbst noch nicht den Wahrheitsgehalt der Offenbarung haben. In diesem Lichte lässt sich sagen, dass es mehr als nur eine narrative Pointe ist, dass der auferstandene Gekreuzigte Maria als der Gärtner erscheint – denn damit wird deutlich, dass die vollgültige Identität des Offenbaren eine Identität mit dem an sich (noch) Unwahren einschließt.19 (ii) Als sich das Gegenüber durch die zweitpersonale Anrede „Maria!“ als Jesus Christus offenbart, verändert sich instantan der räumliche Ort dieses Gegenübers. Während es als Gärtner vor Maria stand, muss sie sich nun umwenden, um den zu sehen, der sie mit „Maria!“ anspricht. Daran wird deutlich: der geistliche Leib des Auferstandenen ist nicht einfachhin räumlich kontinuierlich verortbar, wie dies für unseren natürlichen Leib gilt. Dass dies für unseren natürlichen Leib gilt, ist ein wesentlicher Grund, warum wir unser Gegenüber auch dann noch als dieses Gegenüber identifizieren können, wenn gewisse Formen der Begegnung – auch die der zweitpersonalen Anrede – nicht mehr stattfinden können (so etwa bei bewusstlosen oder schwer kranken Menschen). Mit anderen Worten: In Gottes Offenbarung ist eine viel abgründigere Form der Nichtidentität, die wiederum mit der Differenz von deus revelatus und deus absconditus zu tun hat, möglich als in einer rein menschlichen Existenz mitsamt ihren existentiellen Extremen.
VII. Am Ende dieses Beitrags, der ja ein Beitrag zu einem Sammelband über Pannenbergs Anthropologie ist, soll schließlich noch eigens danach gefragt werden, was die – primär am Begriff der Offenbarung geführte – Gegenüberstellung Pannenbergs und Rosenzweigs für die theologische Bedeutung der Anthropologie (bei Pannenberg und darüber hinaus) austrägt oder nahelegt. Zusammenfassend und ausblickend drei aufeinander aufbauende Punkte hierzu: (i) Pannenbergs Diagnose scheint zu sein, dass die Anthropologie uns lehrt, dass die liebende Begegnung zwischen Menschen doch in einem entscheidenden Punkt disanalog zur liebenden Begegnung des Menschen mit Gott ist: nämlich eben darin, dass Gott nicht von vornherein als Gegenüber feststeht – und auch
19 Eine genauere Auseinandersetzung dieses dialektisch hoch komplexen Gedankengefüges habe ich in Oehl 2021 vorgelegt.
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dort, wo er sich als Gegenüber offenbart, eine Differenz zwischen seinen Erscheinungen hat, die kategorial größer und somit andersartig ist, als es die Differenz zwischen Erscheinungsformen eines Menschen je sein kann. Damit lehrt Anthropologie „in theologischer Perspektive“ gerade, die Theologie nicht dadurch zur Anthropologie werden zu lassen, dass Formen zwischenmenschlicher Verhältnisse – anthropomorph – auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott übertragen werden. Erkennen kann man dies nur, wenn man den Menschen in all seinen Existenzdimensionen genau erforscht. So wird Anthropologie zu einer differentiellen Anthropologie nicht nur im üblichen Sinne, dass des Menschen Differenz zum Tier dargestellt wird, sondern auch in dem Sinne, dass Gott im Unterschied zum Menschen dargestellt wird, als der er auch und gerade als menschgewordener Gott dargestellt werden muss. Denn auch die Menschwerdung ist zutiefst dialektisch: So wahr es ist, dass dieser Gott dem Menschen nahe ist, so wahr ist auch, dass gerade ein dem Menschen so naher Gott dem Menschen viel ferner ist; denn nahe liegt dem Menschen – jedenfalls seinem Verstand – gerade eine Vorstellung von Gott, dergemäß Gott alles bloß kein Mensch ist. Während Rosenzweig gegen die Philosophie „von Ionien bis Jena“ opponiert, da sie ein Vernunftdenken ist, das Gott nicht ernsthaft als Offenbarung und Liebe denken kann, stimmt Pannenberg dem nur bedingt zu: Zwar kritisiert auch er die idealistische Subjektphilosophie für ein defizitäres Verständnis personaler Kategorien wie Offenbarung und Liebe – aber gerade deshalb, weil diese Offenbarung auch wesentlich Offenbarung von Abskondität ist, muss Gott wesentlich auch in Kategorien gedacht werden, die in der philosophischen Tradition „von Ionien bis Jena“ beheimatet sind und die in einer Umwandlung der Denkform vom Vernunftdenken in – wie Rosenzweig es nennt – „Sprachdenken“ ihrerseits womöglich verloren zu gehen drohen. Die Gefahr (von der hier nicht behauptet werden soll, dass Rosenzweig ihr tatsächlich erliegt) ist diese: Gottes Gegenwart wird dann zu ausschließlich als eine zu uns sprechende vorgestellt – und zu wenig als eine, die uns auch still umfängt. Dies leitet über zum zweiten Punkt. (ii) Dass Sprache und Sprechen kanonische Themen der Anthropologie sind, dürfte unstrittig sein – und ist von Pannenberg vollends anerkannt und eingelöst. Doch bedarf es zugleich einer Reflexion auf das, was „das Negative“ des Sprechens genannt werden kann, das Schweigen20 : Doppeldeutig am Schweigen ist, dass es gute Gründe gibt, es – naiv – als nicht-Sprechen, als dem Sprechen äußerlich, aufzufassen, und ebenso gute Gründe, es innerhalb der Sprache als das negative Gegenüber des positiven, lauten Sprechens zu verstehen: in eben diesem Sinne sprechen wir da-
20 Ich danke Joachim Ringleben für seine diesbezügliche geistreiche Nachfrage im Anschluss an meinen Vortrag im Rahmen des 8. Pannenberg-Kolloquiums (2021), die mich zum Anstellen und Skizzieren der folgenden Überlegungen angeregt hat.
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von, dass mit Schweigen mehr als mit vielen Worten gesagt werden kann, und auch vom „beredten Schweigen“. Das logisch komplexe, ebenfalls dialektische Verhältnis zwischen Sprechen und Schweigen, das sich in diesen Überlegungen andeutet, zu fassen, ist schwierig genug – und eine vertiefende Aufgabe für die Anthropologie, die sich über das Schweigen traditionell eher ausschweigt. Eine weitere Komplexität tritt hinzu, wenn gefragt wird, wie sich das Schweigen in Bezug auf Gottes Offenbarung, wie Pannenberg sie fasst, verhält; denn wenn gesagt wird, dass Gott in einem Sinne spricht, der der dialogförmig-liebenden Anrede zwischen Menschen in wesentlichen Punkten disanalog ist, so drängt sich umso mehr die Frage auf, worin ein Schweigen Gottes bestehen könnte. Zugespitzt gesprochen: Wenn Gottes Sprechen Züge des menschlichen Schweigens hat, wie ist dann Gottes Schweigen zu denken – und wie ein, gemäß der soeben angegebenen zweiten Möglichkeit ja denkbarer, Sinn von „Sprache“, der Gottes Sprechen und sein Schweigen noch einmal umfassen kann? Möglicherweise lässt sich die vielbesagte Mehrdeutigkeit des johanneischen Worts „logos“ im Lichte dieser Problemstellung (neu) verstehen. (iii) Schließlich wird so deutlich, dass ein umfassender Begriff von „Sprechen“, der dessen vom Menschen wie dessen von Gott zu prädizierenden Sinn erfassen will, ein analoger zu sein scheint. Die Frage ist sodann, ob er durch und durch ein analoger ist oder ob eine Univozität von „Sprechen“ vorauszusetzen ist. Das „Sprechen“ steht damit im selben Fragenhorizont, in dem die Frage nach dem „Sein“ und dessen Prädikationen vom Menschen und von Gott steht, dem Fragehorizont der Analogielehre – ein Fragenhorizont, der gerade den frühen Pannenberg so intensiv beschäftigt hat und den Pannenberg spät, durch seine weit nachträgliche Publikation seiner Habilitationsschrift, die in diesem Fragenhorizont steht, in seiner Bedeutung noch einmal unterstrichen hat.21 Diese Bedeutung genauer zu verstehen, vor allem im Hinblick auf die Systematische Theologie Pannenbergs im Ganzen und die (ebenfalls) früh grundgelegte Programmatik von „Offenbarung als Geschichte“, ist und bleibt eine große Herausforderung. Ihr kann im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr nachgegangen werden; vielleicht aber kann die Richtung der Aufgabe in einer Hinsicht präzisiert und greifbarer (wenngleich dadurch nicht unbedingt einfacher) gemacht werden: Womöglich ist es gerade der mehrdeutige Sinn von „Sprechen“, an dem sich die abstrakt und scholastisch erscheinende Debatte rund um die Analogielehre in ihrer Dringlichkeit und zugleich in ihrer (anthropologischen) Anschaulichkeit vermitteln lässt. Doch dies ist nicht viel mehr als ein vorläufig orientiertes Tasten in einem Dunkeln, welches es erst noch zu erhellen gilt.
21 Vgl. AuO.
Zur Dialogförmigkeit der Offenbarung
Literatur [mit Angabe und Zuordnung der verwendeten Siglen]
Dalferth, Ingolf (1981): Religiöse Rede von Gott. München: Kaiser. Oehl, Thomas (2015): „Theologie als Grammatik“, in: Kerygma und Dogma 61 (2), 120–156. – (2018): „Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie“, in: Gunther Wenz (Hg.): Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms [Pannenberg-Studien Bd. 4]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 119–134. – (2021): „Thesen gegen Feuerbach. Systematische Überlegungen zu Pannenbergs Auffassung der Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses“, in: Gunther Wenz (Hg.): Theologie der Religionsgeschichte. Zu Wolfhart Pannenbergs Entwurf [Pannenberg-Studien Bd. 8]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/Brill, 53–83. Pannenberg, Wolfhart et al. (2 1963): Offenbarung als Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [= OaG]. Pannenberg, Wolfhart (1983): Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [= Anthr.]. – (1988): Systematische Theologie. Band 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [= STh I]. – (2 1996): „Sprechakt und Gespräch“, in: Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hgg.): Das Gespräch. München: Fink, 65–76. – (2007): Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [= AuO]. Ringleben, Joachim (2010): Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her. Tübingen: Mohr Siebeck. – (2014): Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens. Tübingen: Mohr Siebeck. – (2018): Der lebendige Gott. Gotteslehre als Arbeit am Begriff. Tübingen: Mohr Siebeck. Rosenzweig, Franz (1988): Der Stern der Erlösung: Frankfurt a.M.: Suhrkamp [= Stern der Erlösung]. Wenz, Gunther (2 1996): „Sprechen und Handeln“, in: Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hgg.): Das Gespräch. München: Fink, 77–84.
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Legitimität und Repräsentation, christlich und islamisch Zur politischen Theologie nach Pannenberg Die Anthropologie1 Wolfhart Pannenbergs gliedert sich bekanntlich in drei Teile: I. Der Mensch in der Natur und die Natur des Menschen; II. Der Mensch als gesellschaftliches Wesen; III. Die gemeinsame Welt. In diesem dritten Teil findet sich das Kapitel 8: „Der kulturelle Sinngehalt der gesellschaftlichen Institutionen“. Dessen vierter Abschnitt behandelt „Politische Ordnung, Recht und Religion“. Sein dritter und letzter Unterpunkt erörtert „Legitimität und Repräsentation“ (S. 449–460). Pannenberg fragt, auf welcher – noch vor allem positiven Recht liegenden – Berechtigungsgrundlage eine gegebene politische Herrschaft handelt. Seine eigene Antwort darauf gibt erst der fünfte und letzte Abschnitt des Kapitels. Wie in vielen anderen Begründungsgängen der Anthropologie wird seine Antwort die vorgeordnete Rolle von Religion erweisen. Der hier folgende Beitrag vollzieht Pannenbergs Antwort nach, untersucht dabei auch den Gedankenweg, auf dem er zu seiner Antwort gelangte, und versucht anschließend, sie fortzuschreiben.2
1.
Macht, Herrschaft, Führung
Pannenbergs Einstieg in die Thematik der Legitimität ist eine Auseinandersetzung mit Max Webers Soziologie der Herrschaft.3 Webers idealtypische Unterscheidung von traditionaler, charismatischer und bürokratischer Herrschaft ist einprägsam und einleuchtend. Pannenberg moniert allerdings – mit früheren Weber-Kritiken – zurecht, dass damit illegitime Herrschaft gar nicht in den Blick kommt. Der Soziologe beschrieb nämlich bloß Herrschaftstypen. Es genügte Weber, zu untersuchen, wie sich eine Legitimitätsbehauptung von Herrschaft bei den Beherrschten durchsetzt. Daher sprach er lediglich vom Legitimitätsgefühl. Er fragte gar nicht normativ weiter. Die Wert- und Wahrheitsfrage blieb bei ihm ungestellt, und zwar bewusst
1 Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Im Text oben beziehen sich eingeklammerte Zahlen auf Seiten aus diesem Werk. 2 Es handelt sich also erneut um den Versuch, eine theologische Frage „nach“ Pannenberg zu behandeln: secundum und post. 3 Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen ⁵1972 (entstanden zwischen 1909 und Webers Todesjahr 1920, postum veröffentlicht), S. 122–176.
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und absichtlich. Denn er hielt sie für unwissenschaftlich.4 Wenn Pannenberg Weber – kaum überraschend – eine Legitimitätslücke ankreidet, schließt er sich übrigens einer Weberkritik von Jürgen Habermas5 an: Als legitim kann man Herrschaft doch erst bezeichnen, wenn man sie ethisch befragt hat. Bevor Pannenberg nun der Legitimitätsfrage weiter nachgeht, legt er dar, was Herrschaft formal ist. Nehmen wir dies zum Anlass, einige Begriffsbestimmungen vorzunehmen. Denn dabei wird sich eine im Folgenden entscheidende Kategorie erstmalig melden. Max Weber hatte zunächst nicht „Herrschaft“ definiert, sondern „Macht“: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“6 Dass Weber im Zusammenhang mit politischer Ordnung von „Chance“ spricht, verwundert. Denn „Chance“ hört sich nach einer einmaligen, zufällig günstigen Gelegenheit an, die aber durchaus nicht sicher zum Ziel führt. Weber wählt das Wort allerdings nicht beliebig; dafür verwendet er es zu häufig. Warum spricht er statt von „Chance“ nicht von „Möglichkeit“ der Durchsetzung? Zwei Vermutungen liegen nahe: Ihm wäre das Wort „Möglichkeit“ in Definitionen von Macht-Typen wohl einerseits wegen der Bedeutungsnähe von „Möglichkeit“ zu „Potential“ und „Potenz“, also zu Macht-Wörtern, tautologisch vorgekommen. Andererseits kann „Möglichkeit“ auch „tatsächlich genutzte Gelegenheit“ bedeuten;7 vom Durchsetzungserfolg will Weber hier allerdings gerade nicht sprechen. Solche Bedenken gegen den Gebrauch der Kategorie „Möglichkeit“ genügen aber m. E. nicht für deren Vermeidung; gerade weil der zweite Einwand auch gegen das Wort „Chance“ vorgebracht werden könnte. Bei unserer eigenen Typisierung werden wir daher durchaus mit dem Wort „Möglichkeit“ arbeiten. Doch nochmals zurück zu Max Weber. Weber hatte im Anschluss an seine Bestimmung von „Macht“ festgelegt: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.8 Der Unterschied besteht für Weber also darin, dass der Verfügungsbereich von Herrschaft genauer bestimmbar ist als bei „Macht“.
4 Vgl. Max Weber, „Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904). 5 Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, S. 133–135. 6 Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Teil, Kapitel I, § 16 (Max Weber Gesamtausgabe digital: https:// mwg-digital.badw.de/wirtschaft-und-gesellschaft/1/#editionstext_1_1_2, Zugriff am 12. Februar 2022, Hervorhebung in der Vorlage). 7 Als Beispiel ließe sich eine alltägliche Aussage anführen wie: „Ich hatte dann aber die Möglichkeit, sie doch erneut zu sehen“. 8 Dies ist bei Weber der Satz, der dem oben bei Fußnote 6 zitierten unmittelbar folgt.
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Man könnte dies so verdeutlichen: Der Herrscherwille hat eine bestimmte Grundlage (Legimitätsgefühl), eine bestimmte Ausdrucksform (Befehl), eine bestimmte Gerichtetheit (auf gewisse Personen) und eine bestimmte Reaktionserwartung (Gehorsam). Nun bringt Pannenberg en passant noch einen von Weber nicht erwähnten Gedanken ein. Ist der Gegenbegriff zu „Herrschaft“ „Führung“? Denn wo Führung geschieht, identifizieren sich die Gehorchenden doch mit dem Befehlenden und seinem Befehl. Ist Führung dann also Herrschaft entgegengesetzt? So fragt Pannenberg; und antwortet: Nein. Führung sei vielmehr lediglich eine Sonderform von Herrschaft. Das in Webers Macht-Definition noch erwähnte mögliche Widerstreben besteht hier nun nicht mehr: Die Besonderheit von Führung liegt nach Pannenberg darin, dass der Gehorsam hier „freiwillig und mit Zustimmung erfolgt“ (S. 450). Ohne es so deutlich auszusprechen, sieht Pannenberg offenkundig die politischen Grundkategorien dreistufig. Man könnte dies wie folgt ausdrücklich machen: Es gibt drei Möglichkeiten der Willensverwirklichung, nämlich Macht, Herrschaft und Führung. Macht ist die Möglichkeit der Willensverwirklichung mittels Durchsetzung – und damit der allgemeinste der drei Begriffe. Herrschaft ist die Möglichkeit der Willensverwirklichung durch Anordnung – und damit klarer umgrenzt. Ein Sonderfall davon ist die Möglichkeit der Willensverwirklichung aufgrund von Anerkennung – und dies nennt Pannenberg „Führung“. Ob man diese Stufung und Begriffsfestlegung aufrechterhalten muss, ist für den vorliegenden Zusammenhang unwichtig. Entscheidend ist vielmehr etwas anderes. Hiermit hat sich nämlich unversehens ein Erkenntnisgewinn ergeben: Es gibt eine Form von Herrschaft, in der ein zwar mächtiger Wille doch durch Anerkennung verwirklicht wird (S. 400).9 Darauf müssen wir später zurückkommen.10 Zunächst aber sei nun auf die oben bereits gestellte Frage eingegangen, wie Herrschaft sich als nicht nur gefühlt legitimiert, sondern als wahrhaft legitim erweisen kann. Pannenberg nimmt hierfür die ordnungshistorischen Untersuchungen Eric Voegelins zu Hilfe. Er übernimmt auch den einschlägigen Voegelin’schen Begriffsvorschlag: „Repräsentation“. In der Geschichte sei Legitimität von Herrschaft stets mittels der Frage überprüft worden, „welche von ihr schon vorauszusetzende wahre Ordnung der Dinge durch die politische Ordnung zur Darstellung kommt und ob sie hinreichend adäquat dargestellt wird“ (S. 453f.). Dabei habe in den Imperien des antiken Orients die herrschende Person genau besehen zweierlei repräsentiert,
9 Vgl. Felix Körner, Politische Religion. Theologie der Weltgestaltung – Christentum und Islam, Freiburg i.Br. 2020, S. 288–307; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Berlin ⁹2016; ders., Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018. 10 Vgl. unten S. 196.
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nämlich die Ordnung der Welt als göttliche Manifestation sowie die Einheit des Volkes als Kollektivpersönlichkeit. Der repräsentationstheoretische Diskurs des späten 20. Jahrhunderts habe diese Doppelung in einer bestimmten Weise fortschreiben können: Gewählte Volksvertreter*innen repräsentieren einerseits das Gemeinwohl, andererseits den Volkswillen. Die Ausrichtung von Entscheidungen auf das Wohl der Allgemeinheit komme aber in der Parteiendemokratie zu kurz, so Pannenberg. Er meint offenbar, ein Parlament richte sich heute nicht nach dem Gewissen der Gewählten, sondern nach den Machtverhältnissen, die das Wahlergebnis festlegt (S. 455, Fußnote 203). Wieso hält Pannenberg die Voegelin’sche – ja zunächst auch bloß historischdeskriptive – Kategorie der Repräsentation für weiterführend auf der Suche nach einer normativen Legitimitätsbegründung von politischer Herrschaft? Weil er alle anderen Begründungen für zirkulär hält: Wenn diejenige Herrschaft legitim ist, die rechtmäßig an die Macht gekommen ist bzw. gerecht handelt, dann wird sie ja mit solcherlei Maßstäben beurteilt, wie sie sie doch selbst zu setzen hat. Denn wer legt denn fest, was ein „rechtmäßiges“ Verfahren ist? Ein solcher Zirkel lasse sich nur vermeiden, wenn der politischen Macht eine – sich in ihr nun manifestierende – Ordnung vorgegeben ist; und genau das ist ja der Repräsentationsgedanke Voegelins! Er lautet in Pannenbergs Wortwahl: Herrschaft, die das Sinnuniversum11 abbildet. Wie lässt sich politische Herrschaft aber nun konkret über die Kategorie der Repräsentation als legitim erweisen? Wie kommt das Sinnuniversum denn in den Blick? Es hatte sich längst angedeutet, dass Pannenberg der Religion hier ihren politischen Ort zuweisen will – allerdings gerade nicht ihre politische Funktion! Dann wäre sie ja dem Funktionieren und Fungieren der Politik doch wieder untergeordnet, statt vorgeordnet. Und was genau hat politische Herrschaft nun zu repräsentieren, also abzubilden und stellvertretend in der Welt gegenwärtig werden zu lassen? Erst ganz am Ende des Kapitels gibt Pannenberg preis, wen oder was politische Herrschaft repräsentieren soll. Nach seinem Vorschlag nämlich „könnte die institutionelle Ordnung der Gesellschaft sich als Darstellung der Ordnung Gottes selber, seines Rechtswillens, begreifen“ (S. 471). Weiter hat dies Wolfhart Pannenberg selbst nicht ausgeführt. Hier können wir einsetzen. Der Zielsatz von Pannenbergs politischer Theologie – unsere Gesellschaftsordnung soll Gottes Rechtswillen darstellen – lässt sich nämlich kritisch weiterführen mit von ihm selbst anderswo gebrauchten Begriffen.
11 Diesen Begriff führt erst Pannenberg ein, S. 461, Fußnote 223 (in der Erstauflage der Anthropologie fälschlich – wie die darauffolgende Fußnote – als 224 nummeriert; „Sinnuniversum“ auch bereits S. 394), und zwar im Anschluss an Schleiermacher. Dieser hatte – in seiner zweiten und fünften Rede Über die Religion zwar nur von „Universum“ gesprochen, aber eben mit der Betonung auf dessen Sinneinheit.
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2.
Theonomie, Pneumatonomie und Rechtswille
Zunächst sind an zwei Stellen Verdeutlichungen anzubringen. Pannenberg sieht die Notwendigkeit, dass sich heutige säkulare Gesellschaften wieder ihren religiösen Quellen zuwenden. Damit erneuert er bewusst „Paul Tillichs Vision einer theonomen Kultur, die den Widerstreit zwischen Heteronomie und Autonomie in sich aufhebt und versöhnt“ (S. 470, vgl. S. 471). Nun hatte Pannenberg an einer früheren Stelle seiner Anthropologie, nämlich als er von der Arbeitsweise des Gewissens sprach, überraschend deutlich die menschliche Autonomie betont (S. 290). Ja er meinte dort sogar fragen zu müssen, ob Paulus nicht nach der Befreiung des Menschen vom Gesetz „mit der Bindung des christlichen Gewissens an die Christusbotschaft eine neue Heteronomie“ geschaffen habe (ebd.). Wenn Pannenberg aber Tillichs theonome Kultur als Überwindung der Rivalität von Autonomie und Heteronomie sieht, schwebt ihm selbstverständlich kein göttliches Diktat vor, das Menschen ohne deren Zustimmung steuert. Gott tritt hier nicht geschaffenen Subjekten als weiteres Subjekt gegenüber. Gott regiert vielmehr als Geist, und das heißt auch: Er herrscht durch überzeugte Herzen. Um Missverständnisse zu vermeiden, könnte man versuchen, die von Tillich und Pannenberg anvisierte theonome Kultur treffender zu bezeichnen, etwa als pneumatonom. Aber man sollte auch nicht bei jeder Gelegenheit neues Vokabular einführen, als könnte dies letzte Klärungen erbringen. Besser wäre es, klarzustellen, dass die erhoffte theonome Kultur dann weder heteronom noch totalitär oder theokratisch ist, wenn Gottes Herrschaft als sein Zu-sich-Kommen im anderen seiner selbst ist, also als Person, als Geist – nicht als ein Subjekt in Konkurrenz zu anderen Subjekten: als Leben in gegenseitiger Anerkennung. Nun zur zweiten Verdeutlichung, die anzubringen ist, wenn man irdische Herrschaftsordnung als Repräsentanz des göttlichen Rechtswillens fasst. Heißt das, Gott hat seine Regeln willkürlich gesetzt? Heißt das, etwas ist gut, weil es Gott will – und weil er es befiehlt? Nein. Mit der Erwähnung des Rechtswillens Gottes hat Pannenberg keiner divine command theory das Wort geredet. Was bedeutet „Rechtswillen Gottes“ dann? Gottes Heilswille für die Schöpfung besteht auch darin, dass das Recht herrscht, dass Gerechtigkeit geschieht. Nach diesen beiden Verdeutlichungen ist nun eine kritische Frage zu stellen. Warum fehlt in Pannenbergs Herrschaftslegitimation – Repräsentanz des göttlichen Rechtswillens – Christus? Zum einen, weil er die hier dargestellte politische Theorie ja im Rahmen seiner Anthropologie entwickelt; und eine Begründung irdischer Macht als Christusrepräsentanz wäre seinem anthropologischen Projekt zuwidergelaufen. Pannenberg wollte ja gerade zeigen, wie sich christlich-theologische Grundsätze mit Erkenntnissen empirischer Wissenschaften nachvollziehen und sogar weiterführend beleuchten lassen.
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Es gibt noch einen zweiten Grund zur Zurückhaltung gegenüber dem Versuch von Herrschaftslegitimation via der Vorstellung einer Christusrepräsentanz. Wenn es der Herrscher ist, der angeblich Christus vergegenwärtigt, kippt die politische Theologie leicht ins Absolutistische; nämlich dann, wenn damit alle übrigen Vergegenwärtigungen Christi dem irdischen Herrscher unterstehen, statt ihm gegenüberzustehen und ihn in Frage stellen zu können: der Arme, der Priester, der Bischof, das Evangelium, die Sakramente, die Kirche. Diese Gefahr bestand schon in den ersten christlichen Jahrhunderten. Die politische Theologie bereits des vorchristlichen römischen Kaisertums war zusehends monotheistischer geworden. Wenn der römische Kaiser aber dann getauft ist, legt sich bald nahe, ihn als Christusrepräsentanten zu verstehen. Der Gedanke diente allerdings lediglich der Herrschaftslegitimierung, nicht auch der Herrschaftsorientierung. Die Spätantike-Forschung spricht bei dieser Motivübertragung aus dem paganen Kaisertum ins christliche vom „imperialen Monotheismus“.12 Und Forschungen zum imperialen Monotheismus zeigen nun eine weitere Übertragung dieser politischen Theologie der Christusrepräsentanz: Die erste islamische Dynastie, die Umayyadenherrschaft (661–750), übernimmt bald diese Motivik. Selbstverständlich ist der – islamische – Herrscher nun allerdings nicht mehr Christusrepräsentant; aber er heißt – nach einem Prozess der Klärung ausdrücklich: Stellvertreter Gottes auf Erden (ḫalīfat Allāh). Dieser Anspruch soll allerdings seine Legitimität nur begründen; nicht auch bemessen – etwa nach dem Kriterium: Du herrschst nur insofern zurecht, als du auch wirklich so barmherzig und weise handelst wie der, den du zu repräsentieren hast.
3.
Entzogene Heiligkeit
Bevor wir zu Pannenberg zurückkehren, müssen wir die Entstehung der islamischen politischen Theologie nachzeichnen, zumindest in groben Linien. Denn eine solche Darstellung könnte der Begriffsbildung dienen. Tatsächlich lässt sich hieran ein kontrastierendes Begriffspaar entwickeln, das für den weiteren Argumentationsgang bedeutsam werden dürfte: remotio sacri vs. repraesentatio sacri. Das frühe religiöse Denken des Islam hatte es eigentlich schwer, Menschenmacht theologisch zu begründen. Denn Forschungen zum Koran ergeben: Er legt keine theologische Herrschaftslegitimation nahe; ganz im Gegenteil. Dennoch entstehen islamischerseits bald – und zahlreich – theologische Argumente für die Legitimität des Herrschers. Wie konnte das geschehen? Sehen wir genauer zu.
12 Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter, Frankfurt a.M. 2015.
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Die koranische Geste gegenüber sakralen Vergegenwärtigungen auf Erden war eine grundsätzliche Ablehnung. Das ergibt vor allem eine Untersuchung von Sure al-Isrāʾ : Nr. 17. Verkündet wird al-Isrāʾ in mittelmekkanischer Zeit, also vor 620 n. Chr. Nun darf man sich das damalige Mekka nicht als abgeschnittene Eigenwelt vorstellen, irgendwo entlegen in der Wüste. (Ost-)Römischer Kaiser ist in jener Zeit Herakleios (reg. 610–641); und was unter ihm in der Levante geschieht, hallt durchaus auch auf der arabischen Halbinsel wider. Im Jahre 614 hatten die Perser Jerusalem erobert und die Kreuzreliquie entführt: eine Katastrophe für die Christenheit. Die koranische Stellungnahme dazu ist die vielleicht entspannteste politische Theologie jener Jahre; und sie findet sich in Sure 17. Welche Stellung der Text bezieht, lässt sich allerdings erst dann heraushören, wenn man auch darauf achtet, was der Text gerade nicht sagt.13 Man muss seine „negative Intertextualität“ mithören. Der Aussageschwerpunkt der Sure liegt nicht auf angeblich heiligen Herrschern und Orten, sondern auf Prophetie. Die aus der Hebräischen Bibel bekannte Bezeichnung für den Propheten erscheint hier denn auch erstmals koranisch: nabī. In diesem Sinne kommt nun Moses nicht als Anführer zur Geltung, der sein Volk in die Freiheit führt, sondern als prophetischer Vermittler der Gebote (17:2.22). Ebensowenig kommt David als Gesalbter und König zur Geltung, sondern als prophetischer Psalmensänger (17:55); und Muh.ammad kommt hier nicht als machtvoller Herrscher zur Geltung, sondern als prophetisch Schauender und Hörender (17:1). Fazit: Gottes Handeln geschieht via Prophetie; und sie ist kein Weg zu kämpferischer Überlegenheit, sondern weist den Weg der Gebote und – damit – der Gebete. So verstanden aber sagt die Sure: Das angeblich Heilige auf Erden ist in Wirklichkeit zweitrangig; und alle irdisch-mächtige Sakralrepräsentanz widerspricht dem Gotteswillen. Grundaussage scheint zu sein: Das wahre Heiligtum ist nicht auf Erden. Damit jedoch nicht genug. Wenn sich Kaiser Herakleios in seiner Propaganda als neuer David, als siegreich gesalbter Kriegsherr verkünden lässt, antwortet die Sure mit einem Gegenprogramm. Auf Erden findet sich nichts Heiliges – im Sinne einer privilegierten Präsenz Gottes, im Sinne göttlich machtvoller Vergegenwärtigung, kein in diesem Sinne heiliger Tempel, Thron oder Messias: Prophetie ist hier heilige Entrückung (17:1) und Entrückung des Heiligen. Entsprechend heißt die Sure auch „der Auszug“, was zugleich auf den „Exodus“ hindeutet und „mystische Ekstase“ bedeuten kann (al-isrāʾ ). Die Sure vollzieht also das, was man eine „remotio sacri“ nennen könnte.
13 Das in den folgenden Zeilen Gesagte fasst Angelika Neuwirths einschlägige Forschungsergebnisse zusammen und macht Begriffsvorschläge dafür. Vgl. ausführlich: Angelika Neuwirth, Der Koran. Band 2/2: Spätmittelmekkanische Suren. Von Mekka nach Jerusalem – Der spirituelle Weg der Gemeinde heraus aus säkularer Indifferenz und apokalyptischem Pessimismus, Frankfurt a.M. 2021, S. 63–203, v. a. S. 107–109.
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Der koranisch-herrschaftskritische Grundgestus, der sich im Lichte einer solchen Untersuchung zu erkennen gibt, lässt sich in der Theologie des Politischen gut einsetzen. Mit dieser remotio sacri lässt sich irdisches Herrschaftsgebaren ja in seine Schranken weisen. Tatsächlich verlief die Geschichte des islamisch-politischen Denkens allerdings anders. Und das wirft Fragen auf: Schon unter den Umayyaden lieferten die Beamten nämlich sehr wohl theologische Herrschaftslegitimierungen. Dabei waren ihre Begründungen der jeweils zeitgenössischen Regierung auffällig wandlungsfähig. Für jedes Zustandekommen von Herrschaft und für jede Form von Machtausübung ließ sich schnell ein Begründungsgang nachreichen, der aufzeigen sollte, dass genau das jeweils „jetzige“ Herrschaftsverhältnis dem Gotteswillen entspreche – politische Theologie als Deckungsdenken:14 Man deckte das jeweils gegenwärtige Machtsystem; und man blieb damit in Deckung. Denn Denker, die sich herrschaftskritisch aus dem Fenster lehnten, riskierten ihren Kopf. – Soweit, so bekannt.15 Darauf lässt sich nun jedoch eine neue These aufbauen: Der Koran lehnt jederlei herrschaftslegitimierende Theologie ab: Nichts Irdisches ist heilig; heilig ist Gott allein (Stichwort: remotio sacri). Wenn dies zutrifft, weist die koranische Stellungnahme theologische Herrschaftsbegründungen zurück. Gerade diese herrschaftsrelativierende Sicht des Koran führte nun aber dazu, dass islamischpolitisches Denken in der Geschichte oft so unkritisch gegenüber der Obrigkeit war. Wie das? Indem der Koran sich auf keinerlei theologische Herrschaftsbegründung einließ, ließ er das gesamte Feld der politischen Theorie theologisch unbestellt. So konnten in der Folgezeit alle möglichen Theoriepflanzen darauf wuchern und Wurzeln schlagen. Da der Wind vormoderner Herrschaft jedoch kraftvoll, ja oft scharf weht, wucherten naturgemäß nur solche Ansätze, die dem Wind keinen Widerstand boten (Stichwort Deckungsdenken). Das könnte der Grund dafür sein, warum islamische Theologie politischer Herrschaft gegenüber kaum kritisch wurde und sich sogar zur Begründung „theokratischer“ Menschenherrschaft hergab. So der Deutungsvorschlag. Nun steht er zur Debatte; und sie kann sofort einsetzen. Drei Einwände sind zu erörtern. (1) Stimmt die These denn zunächst einmal in ihrem Faktenteil? Ist islamischpolitische Theorie denn grundsätzlich herrschaftsunkritisch? Das erscheint ja schon daher unwahrscheinlich, weil es in der islamischen Frühgeschichte doch ständig um
14 Den Begriff habe ich bereits in Band 3 (S. 175) der Pannenberg-Studien eingeführt und in deren Band 4 (S. 180) weiterverwendet; vgl. dann auch meine Politische Religion. Theologie der Weltgestaltung – Christentum und Islam, Freiburg i.Br. 2020, S. 189. 15 Die Klassiker zur frühen islamischen politischen Theologie sind: Erwin I. J. Rosenthal, Political Thought in Medieval Islam. An Introductory Outline, Cambridge (UK) 1958; Patricia Crone, Medieval Islamic Political Thought, Edinburgh 2004 (in den USA erschienen unter dem Titel God’s Rule – Government and Islam. Six Centuries of Medieval Islamic Political Thought) sowie Anthony Black, The History of Islamic Political Thought. From the Prophet to the Present, Edinburgh 2011.
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Herrschaftskritik ging. Die Frage, die die ersten Jahre nach dem Tod Muh.ammads durchprägte – und blutig durchtränkte –, war doch genau die: Wer herrscht denn jetzt rechtmäßig? Es waren allerdings lediglich Minderheiten, die die Regierung kritisierten. Zum einen taten dies die Kharidschiten (Ḫāriǧiten),16 und zwar radikal. Sie wollten Menschenherrschaft komplett delegitimieren, und dies mit der Begründung, dass doch Gott allein herrsche: lā h.ukma illā li-llāh, also etwa: „Gott soll allein entscheiden“. Macht auf Erden müsse daher via Gottesurteil erworben werden; und ein Gottesurteil ergehe nun einmal im bewaffneten Menschenstreit, nach dem Motto: Wer siegt, hat Recht – und regiert somit rechtmäßig. Zweitens ist die „Partei Alis“ zu erwähnen: die „Schiiten“ (šī‘at ‘Alī). Sie erklärten zwar ebenfalls die Herrschaft der ersten drei „Kalifen“ und dann der Umayyaden für illegitim, aber nicht jegliche menschliche Entscheidungsmacht. Eine solche sei jedoch nicht zu erwerben, weder via Verfahrenskorrektheit noch durch Leitungskompetenz; sondern wer legitim herrscht, das sei vorgegeben: durch nächste Verwandtschaft zum Propheten. Fazit: Ali und seine Nachkommen seien die einzig rechtmäßigen islamischen Herrscher. Allerdings, wenn in den ersten islamischen Jahrhunderten die – ja damals stets machtlosen – Schiiten „von Legitimation sprachen, so war dies alles Theorie; in der Praxis versuchten sie sich allenfalls an Revolten“.17 Sowohl die kharidschitischen als auch die schiitischen Stimmen brachte die – zumindest militärisch überlegene – islamische Mehrheit jedoch zum Schweigen; jene Mehrheit, die sich später „Leute der Tradition“ (ahl as-sunna) nannte: die Sunniten. Drittens aber gab es auch innerhalb der Herrschaft der Umayyaden zumindest eine Stimme, die die Obrigkeit kritisierte. Allerdings stellte auch sie tunlichst nicht die Rechtmäßigkeit der Umayyadenherrschaft infrage, aber immerhin deren Rechtschaffenheit. Darstellungen des islamisch-politischen Denkens schenken dieser Stimme m. E. zu wenig Aufmerksamkeit, obwohl sie hohes Ansehen findet, aber vor allem für ihre asketisch-geistliche Rhetorik. Es handelt sich um den Prediger-Kadi H.asan al-Bas.rī (gest. 728).18 Er tadelte die Obrigkeit in wünschenswerter Deutlichkeit und forderte sie zur moralischen Bekehrung auf. Ebenso aber forderte er seine Mit-Untertanen dazu auf, sich den nun einmal amtierenden Herrschern trotz deren Unwürdigkeit auch weiterhin zu unterwerfen. Immoralität des Herrschers bedeutete ihm zufolge also nicht dessen Illegitimität. Der klassisch-sunnitischen Theologie ist also tatsächlich ein ›Deckungsdenken‹ zu attestieren.
16 Karl-Heinz Pampus, Über die Rolle der Ḫāriǧīya im frühen Islam, Wiesbaden 1980. 17 Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band 4, Berlin 1997, S. 703. 18 Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band 2, Berlin 1992, S. 41–50.
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In den folgenden Jahrhunderten der islamischen Geschichte ist das religiöse Denken m.W. stets zu nah an der Obrigkeit, und auch zu dicht am Geldhahn des Staates, um sich herrschaftskritisch zu äußern. Im gegenwärtigen islamischen Denken gibt es zwar politisch-kritische Stimmen, sogar eine sich auch als solche bezeichnende islamische „Befreiungstheologie“; etwa bekannter- wie umstrittenermaßen vonseiten des Südafrikaners Farid Esack (geb. 1959).19 Meine eigenen Forschungen zur politischen Theologie in der Türkei, einem Land, von dessen akademisch-religiösem Denken man in den letzten Jahrzehnten Interessantes hören konnte, enttäuschten allerdings, wenn man kritisch Weiterführendes erwartete.20 (2) Die These besagte, dass der koranische Heiligkeitsentzug das Feld der politischen Theorie dermaßen unbestellt ließ, dass bald andere Lehren es überwuchern konnten. Die These setzt allerdings stillschweigend voraus, dass es der Koran und dann auch noch genau dessen „Theologie“ war, was die islamisch-politische Theoriebildung maßgeblich beeinflusste. Übersehen wird so die kraftvolle Wirkung, die das Verhalten Muh.ammads auf die Nachwelt hatte – und das heißt: die Nachrichten, die es ihr vermitteln sollten. Wichtiger als was aus Muh.ammads Mund über Herrschaft kam, war offenkundig, wie Muh.ammad gehandelt hatte. Diesbezügliche Nachrichten waren einerseits in H.adīṯen zu finden, die genau zu diesem Zweck erzählt (und zum Teil fraglos: erfunden) wurden; andererseits aber auch in koranischen Aussagen, aus denen sich ein Muh.ammadprofil rekonstruieren ließ, das sich dann als legitimierendes Vorbild für islamische Machthaber eignete. Selbstverständlich musste man für eine solche Nutzung auch entscheiden, inwiefern Herrscher überhaupt Rollen Muh.ammads einnehmen können, wenn sie sich schon als „Kalifen“ bezeichneten und damit ja beanspruchten, Muh.ammads „Stellvertreter“ oder „Nachfolger“ zu sein – denn das bedeutet ḫalīfa ja, wenn nicht gar, wie oben erwähnt, „Stellvertreter Gottes“. Nun lässt sich zwar historisch überzeugend einwenden, dass sich aus Muh.ammads Rollenverständnis keine religiös begründete Staatsmacht ableiten lässt; denn Muh.ammads Medina hatte kein so stabiles Institutionengefüge, dass man es als Staat bezeichnen könnte.21 Doch so historisch dachten die frühen islamischen Herrscher ja nicht! Sie konnten – sogar im Koran selbst – sehen, dass Muh.ammad als Schiedsrichter (4:59) aufgetreten war, Feldzüge geleitet hatte und seine
19 V.a. Farid Esack, Islam and Politics, London 1998. 20 Glaube in Gesellschaft. Ankaraner Stimmen zur Politischen Theologie (Buchreihe der GeorgesAnawati-Stiftung: Der Islam und die moderne Welt, Band 8), Freiburg i.Br. 2019. 21 Das war mein Argument in: Felix Körner, „Glaubensgemeinschaft und politische Ordnung. Pannenbergs Ekklesiologie im Gespräch mit islamischen Staatstheorien“, in: Gunther Wenz (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs (Pannenberg-Studien, Band 3), Göttingen 2017, S. 157–180, S. 177f.
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Vollmacht dafür von Gott bekommen hatte (3:123), ja Gott am Werk war, wenn Muh.ammad als Feldherr handelte (8:17). Warum dann nicht auch sie? Faktisch verlief die Sakralisierung ihrer Macht jedoch gar nicht über das Vorbild Muh.ammads. Die Kalifen beanspruchten nämlich keine prophetische Vollmacht. Sie behaupteten nicht, in ihrer Entscheidungsgewalt neue Offenbarung zu übermitteln. Ihre zunehmend sakralisierte Macht bezogen sie nicht aus Koran und H.adiṯ. Vielmehr übernahmen sie die bereits erwähnte Motivik des imperialen Monotheismus aus der römischen Kaiserideologie, nämlich aus Byzanz. Die Übernahme begann unter dem Umayyaden ‘Abd al-Malik (gest. 705). Von Damaskus aus wollte er so seine Überlegenheit zementieren, musste er doch seinen Gegenkalifen Ibn az-Zubayr in Mekka niederringen. Dazu waren ihm offenbar alle Mittel recht, auch die aus Metall (Münzen), aus Stein (Felsendom in Jerusalem) und die aus dem Stoff einer unkoranischen Ideologie. (3) Wie sollte denn der koranische Gestus des Heiligkeitsentzugs (remotio sacri) das politisch-theologische Feld unbestellt lassen? Er macht doch selbst eine klare politisch-theologische Aussage! Er besagt doch, dass nichts auf Erden göttliche Gegenwart beanspruchen kann: kein Tempel, kein Messias und eben auch kein Thron! Das ist doch eine deutliche politische Stellungnahme: Herrschaft lässt sich nicht sakral legitimieren. So lassen sich die Grundsatzaussagen des Koran verstehen; aber deutlich wird das nur, wenn man ihn in seiner „negativen Intertextualität“ versteht. Einem Beamtenapparat bot der Koran genug Material, das sich als Herrschaftslegitimierung eignete, wenn man überhaupt koranisch argumentieren wollte. Eine eindeutige, einheitliche politische Theologie war jedenfalls im Koran nicht zu erkennen. Auch die maßgeblichen Quellen für eine christliche Theologie des Politischen sind nicht eindeutig. Dementsprechend deutete man sie bekanntlich im Laufe der Jahrhunderte, wie es gerade zu passen schien. Man blicke nur in die politische Auslegungsgeschichte des lukanischen Jesuswortes, zwei Schwerter seien genug.22 Auch wenn die Quellen keine eindeutig-einheitliche Botschaft preisgeben, lassen sich jedoch einige Züge des christlichen Zeugnisses freilegen, die politisch-theologisch einschlägig sind; und dafür sei ein Begriff angeboten. Er legt sich in Entsprechung zur koranisch beobachteten ›remotio sacri‹ nahe: repraesentatio sacri.
22 Lukas 22,38. Vgl. François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Band 4/4), Neukirchen-Vluyn und Düsseldorf 2009, S. 285–289.
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4.
Vergegenwärtigte Heiligkeit
(1) Gottesreich. Jesus hat offenbar in einer Weise gesprochen und gehandelt, die der ›entzogenen Heiligkeit‹ gerade entgegenläuft: Er verkündigt das nahende Gottesreich; er versteht sich selbst als von seinem Himmlischen Vater bevollmächtigt: bevollmächtigt dessen heilendes Kommen erfahrbar zu machen; bevollmächtigt auch dazu, andere teilhaben zu lassen an dieser Vollmacht. Ob und inwiefern die politische Stellungnahme des Evangeliumszeugnisses eine repraesentatio sacri ist, lässt sich von vier weiteren Blickpunkten aus genauer klären. (2) Einsetzung. Eine für die politische Theologie des Neuen Testaments zentrale Stelle ist die Formel des Paulus, jede Obrigkeit sei von Gott eingesetzt. Er folgert: Widerstand gegen den Staat sei Widerstand gegen Gott (Römer 13,1f.). Hier wird offenbar eine Stellvertretung Gottes durch den Staat ohne jede Abtönung behauptet. Man sollte allerdings sogleich bedenken: (a) Paulus denkt immer geschichtstheologisch; auch das Ungerechte wird in der Weisheit Gottes Gutes bewirken. Der Völkerapostel hat also nicht gesagt, dass der Staat zwangsläufig nach Gottes Rechtswillen handelt; sondern nur, dass auch er zum Werkzeug von Gottes Heilswillen wird. (b) Paulus bringt sogleich den Gedanken ein, dass man sich nicht einfach fügen soll, weil die Staatsmacht am längeren Hebel sitzt und überlegen ist; sondern dass man auch durchaus innerlich überzeugt sein kann vom Sinn staatlichen Handelns. Das ist Gehorchen aufgrund des eigenen Gewissens (13,5). (c) Dass Paulus daraus nicht folgert, Staatsmacht müsse dann auch aus der geäußerten Überzeugung der Bürger*innen zustandekommen, sollte man ihm nicht ankreiden. Eine derart partizipative Herrschaft war ihm schlicht noch nicht im Blick. (d) Wenn Paulus lehrt, dass Menschenherrschaft von Gott eingesetzt ist, kann er damit auch andeuten: Sie ist nicht selbstverständlich, und nicht selbstermächtigt an die Macht gekommen. Wiederum folgert er daraus noch nicht ausdrücklich, dass sie dann auch den Kriterien Gottes untersteht. Doch bietet Paulus damit eine Begründung dafür, warum Menschenmacht nicht als absolut anzuerkennen ist: Weil sie der Herrscher nicht von sich selbst hat, sondern von Gott; und andere Stellen des Neuen Testamentes bieten sogar bereits Regierungskritik: (3) Unrecht. Nach dem Muster der Danielapokalypse (Daniel 7) zeichnet die Offenbarung des Johannes eine Abfolge von Regimes: eines bestialischer als das andere (Offenbarung 13). Das ist schärfste theologische Legitimitätsbestreitung bestimmter Formen politischer Macht. Man kann allerdings nicht sagen, hier lasse die Herrschaftskritik nichts an Offenheit zu wünschen übrig. Denn was hier zur Sprache kommt, ist stark verklausuliert. Man muss zwischen den Zeilen lesen können, um herauszufinden, dass hier Herrschaft kritisiert wird und wem genau die Kritik gilt. Die Tatsache selbst jedoch, dass die Offenbarungsworte eine versteckte Botschaft enthalten, wird ausdrücklich benannt: Am Kapitelende
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ergeht die Aufforderung, das Geheime zu entschlüsseln (13,18). Eine schwerwiegendere Herrschaftskritik kann man kaum anbringen. Denn so sagt man ja gleichzeitig, dass die Zustände derart beklagenswert sind, dass man nicht einmal mehr die Klage äußern kann. Wir haben nun also die Grundgeste des Evangeliums als repraesentatio sacri, deren mögliche politische Schlagseite einer unbedingten Unterwerfung und neutestamentliche Herrschaftskritik gesehen. Der Gedanke vergegenwärtigter Heiligkeit im machtvollen Menschenhandeln changiert offenbar zwischen obrigkeitshöriger Billigung und einem kaum noch verschlüsselten Aufschrei: Er deutet ja bereits an, dass es Kriterien zur Beurteilung von Herrschaft gibt. Wir versuchen hier, den Begriff vergegenwärtigter Heiligkeit zu klären. Bisher ergab die Untersuchung seiner politisch-theologischen Nutzbarkeit ein einigermaßen verwirrendes Bild. Weitere Klärung lässt sich jedoch möglicherweise herbeiführen, zunächst im Blick auf die Sozialgestalt des christlichen Zeugnisses; und schließlich durch eine vertiefte Begriffsarbeit. (4) Gemeinde. Was sich als die Sozialform des Christseins herausbildete, nannte sich ἐκκλησία/ekklēsia: Gemeindeversammlung, Kirche. Von Anfang an sah sie sich als grenzenüberwindende Gemeinschaft von Erwählten, die aber für die Gesamtmenschheit stehen, als von den Herrschern verfolgt und, aufgrund der Vollmachtsweitergabe Jesu, als dessen Repräsentant (Apostelgeschichte 9,5). Daher konnte sich auch ein politisch hochbedeutsames Selbstverständnis herausbilden: Die Christenheit qua Kirche sieht sich zugleich im Gegenüber zum jeweiligen Staat, aber nicht als seine systematische Unterwanderung; zugleich im Gegenüber zur gesamten Menschheit und als Bezeugung der zukünftigen Einheit aller Menschen. (5) Unterscheidung. Weist Jesus nicht jederlei Vorstellung zurück, Gott könne auf Erden vergegenwärtigt werden? Er lehnt doch sogar die Anrede „Διδάσκαλε ἀγαθέ/didaskale agathe—Guter Meister!“ für sich mit der Begründung ab: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein“ (Markus 10,17). An dieser Stelle zeigt sich schärfer, was christlicherseits mit Repräsentanz gemeint ist. Vergegenwärtigung ist keine Gleichsetzung. Selbstverständlich versteht sich Jesus nicht als identisch mit seinem himmlischen Vater. Jesus kann zum Vater ja auch flehend beten, um dann in den göttlichen Plan einzuwilligen.23 Umso mehr sind die von Jesus Beauftragten von Gott unterscheidbar. Weil sie dann aber keine Gotteskonkurrenz mehr bilden, dürfen sie gerade so die vollendete Wirklichkeit jetzt schon erfahrbar machen, in der Gott alles in allem ist (1
23 Markus 14,36. Auch wenn der johanneische Jesus bezeugt, er und der Vater seien „eins“, kann er doch sozusagen im selben Atemzug sagen, dass er in dessen Macht und Auftrag handelt (ἐκ τοῦ Πατρός, Johannes 10,30.32) oder zum Vater geht (17,11).
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Korinther 15,28). Wolfhart Pannenberg hat für dieses von Gott selbst geschenkte „Schon“ seiner Gegenwart bekanntlich den Begriff der Vorwegnahme angeboten: proleptische Antizipation.24 Wird Repräsentanz als Vorwegnahme verstanden, ermöglicht sie eine neue Verhältnisbestimmung von politischer Herrschaft und ihrer theologischen Kritik. Wie wäre sie zu fassen?
5.
Theoriepotentiale
An dieser Stelle lassen sich die verschiedenen bisher entwickelten Gedankenstränge mit anderen Theorieelementen Pannenbergs zusammenführen. Eric Voegelin hatte vorgeschlagen, irdische Herrschaft als Repräsentanz des Sinnuniversums zu verstehen. Als Wolfhart Pannenberg in seiner Anthropologie die Frage nach der Legitimitätsbegründung von Menschenherrschaft stellte, nutzte er den Voegelin’schen Repräsentanzgedanken weiter: Pannenberg schlug vor, die institutionelle Gesellschaftsordnung als Abbild des göttlichen Rechtswillens zu verstehen. Pannenbergs Interesse war dabei nicht, eine bestimmte Herrschaftsordnung zu legitimieren, sondern aufzuzeigen, dass die politische Theorie ohne den Gottesgedanken eine Legitimitätslücke hat. Die Kirche bestimmte er als Zeichen und Werkzeug des Gottesreiches.25 In ihr kommt die zukünftige Einheit der Menschheit zur Darstellung.26 Durch Christus ist das Gottesreich nahegekommen, im Ostergeschehen hat sich die Vollendung der Geschichte ergreifender als irgendwo anders vorwegereignet. Sendung der Kirche ist die Bezeugung dieser Vollendung, ohne selbst zu beanspruchen, bereits diese Vollendung zu sein: Antizipation der erfüllten Weltgeschichte. Die Kirche als Zeichen und Werkzeug des Gottesreiches bezeugt aber auch, dass dieses Reich nicht von Menschen hergestellt werden kann, ja dass keine menschliche Macht den Idealzustand menschlichen Lebens, die Erfüllung der Weltgeschichte hervorbringen kann. Dieses Zeugnis der Kirche ist den Herrschaftsordnungen gegenüber aber nicht fundamentalkritisch, sondern ihren Erfolgsverheißungen gegenüber relativierend.27 Das Gottesreich ist also kein Ergebnis irdischer Anstrengung oder gar staatlicher Durchsetzung. Es ist Wirkung und Wirklichkeit Gottes. Aber auch von Gott wird es selbstverständlich nicht etwa gewaltsam durchgesetzt, sondern es wächst
24 25 26 27
Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 2, Göttingen ²2015, S. 489f. Ebd., S. 65. Wolfhart Pannenberg, Thesen zur Theologie der Kirche, München ²1974. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 3, Göttingen ²2015, S. 62.
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in gegenseitiger Anerkennung.28 So ist das Gottesreich Geschenk des göttlichen Geistes. Nimmt man diese Theorieelemente zusammen, lässt sich Pannenbergs zunächst nur anthropologische Sicht auf Repräsentation und Legitimation mit seinen eigenen Mitteln systematisch theologisch ausbauen.
6.
Relativierung durch rekontextualisierende Repräsentanz
Eine politische Theologie, die irdische Herrschaft als Repräsentation göttlicher Ordnung legitimiert, läuft Gefahr, Menschenmacht aller Kritik zu entheben. Die im letzten Satz verwendeten Begriffe lassen sich aber so bestimmen, dass sie Elemente einer kritischen Theologie der Staatsmacht bilden, die Menschenherrschaft gerade nicht absolutsetzt. Repräsentation ist dann keine Gleichsetzung von Vergegenwärtigung und Vergegenwärtigtem, wenn sie sich als vorläufige Vergegenwärtigung versteht, die sich gegenüber dem Vergegenwärtigten selbst zurücknimmt. Die göttliche Ordnung, die Menschen zu repräsentieren haben, ist weder nur der – dann ja noch ganz unbestimmte – Rechtswille Gottes, noch auch die göttliche Dreifaltigkeit oder eine ihrer Personen. Was Menschen repräsentieren sollen, ist vielmehr das von Jesus bezeugte Reich Gottes. So ist es Sinn der Kirche, das kommende Gottesreich darzustellen. Dabei repräsentiert die Kirche die – bewusstermaßen noch nicht realisierte – Ordnung der Welt als jene Form von Leben, in dem niemand in der Weise der Selbstdurchsetzung herrscht: Das Gottesreich ist zwar durchaus ein Umgestaltungsprozess; jedoch geschieht dieser nicht durch äußeren Zwang, sondern durch gegenseitige Anerkennung. Was die Kirche bezeugt, ist wohlgemerkt nicht bloß die Zukunft einer gesellschaftlichen Sondergruppe; vielmehr ist Aufgabe der Kirche, die zukünftige Einheit der gesamten Menschheit darzustellen. Damit blickt die Kirche auch auf außerkirchliche Institutionen mit dem Anspruch, dass dort das kommende Gottesreich ebenfalls mehr und mehr zur Darstellung kommen soll. Deshalb fordert christliche Theologie auch vom Staat, den Werten des Gottesreiches zu dienen. Indem die Kirche also das kommende Gottesreich bezeugt, deutet sie auch die Dienstfunktionen weltlicher Ordnungen. Deren Aufgabe ist demzufolge nicht nur Repräsentation des göttlichen Rechtswillens, sondern des göttlichen Heilungswillens, der göttlichen Liebe. Damit steuert die Theologie ein Kriterium für gute irdische Ordnung bei: Sie ist insofern gut, als sie die Werte des Gottesreiches fördert und zugleich anerkennt, dass sie selbst den Idealzustand nicht herzustellen vermag.
28 Ebd., S. 43.
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Da das Gottesreich aber Leben in der Weise gegenseitiger Anerkennung ist, verlangt christliches Denken auch die Unterscheidung von Kirche und Staat. Denn dem Staat allein kommt per definitionem der Gebrauch physischer Gewalt zu; er muss mit der angedrohten Möglichkeit der Durchsetzung auch gegen den Willen Betroffener handeln. Aber er hat nicht darüber zu entscheiden, was die Menschen als ihre Zukunft, als den Sinn ihres Lebens sehen sollen. Er steht der Kirche in dem Bewusstsein gegenüber, dass er das von ihr bezeugte Gottesreich mit seinen Mitteln in den irdischen Lebensverhältnissen nicht voll verwirklichen kann und es damit auch nicht in die Überzeugung der Menschen einpflanzen kann – und diese Macht über die Herzen auch nicht anstreben darf. Die Kirche kann das Gottesreich ebenfalls nicht schon vollendet darstellen; sie kann es lediglich bezeugen und so auf seine wachsende Anerkennung in der Überzeugung der Menschen hoffen. Aus der Sicht christlicher Theologie soll also die Kirche das Reich Gottes – sich von ihm selbst unterscheidend, in der Weise des Zeugnisses – vergegenwärtigen; und ihm soll der Staat Raum zum weiteren Wachstum geben, indem er sich selbst nach den – immer klarer ins Bewusstsein rückenden –Werten des Gottesreiches richtet. So leben die Zeugnisgemeinschaft Kirche und die Ordnungsmacht Staat in gegenseitiger Anerkennung, aber auch, indem sie sich gegenseitig relativieren. Das Zeugnis der Kirche für das noch ausstehende Gottesreich und seine Werte führen dem Staat immer wieder seine Aufgabe und seine beschränkte Macht vor Augen. Das Zeugnis der Kirche soll auch dazu dienen, dass die Werte des Gottesreiches zunehmend deutlicher zu fassen sind, etwa die Anerkennung der Würde jeder Person und das Eintreten für die Schwächsten; aber zugleich muss dabei deutlich bleiben: die Erfüllung der Schöpfung ist im Kommen, jedoch von keiner Menschenmacht herstellbar. Dieses Zeugnis muss die Kirche immer wieder sich selbst vergegenwärtigen, aber auch allen Menschen, der Gesamtgesellschaft und dem Staat. Was diese Vergegenwärtigung im Zeugnis tut, ist also zunächst: zu relativieren, zu orientieren und durchaus auch zu kritisieren. Es besagt ja: Die Weltvollendung, das Gottesreich, ist zwar bereits angebrochen. Daher wird auch immer klarer, worin es konkret besteht; und Menschen können sich von ihm ergreifen lassen. Dieses Reich wahrer Gerechtigkeit und Liebe lässt sich aber nicht mit menschlichen Machtmitteln herstellen. Zur Geltung kommt es ja nicht im Modus der Durchsetzung, sondern der Anerkennung. Wenn der Kirche dieses relativierende, kritisierende, orientierende Zeugnis gelingt, kann sie nun jedoch auch etwas Weitergehendes leisten: Sie kann staatliches Handeln inspirieren, motivieren. Hier stellt sich aber die Frage, ob über die fünf erwähnten Sendungen der Kirche – bestehende Herrschaftsordnungen zu relativieren, zu kritisieren, orientieren, inspirieren und motivieren – hinaus die Kirche Menschenherrschaft auch legitimieren soll. Auf dem Weg zu einer Antwort ist zuerst die Gegenfrage zu stellen: Warum lässt man nach so viel Missbrauch religiöser Machtlegitimation die The-
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matik theologisch nicht einfach fallen? Hierbei zeigt sich nun etwas Zweites: Legt man der Theologie die Legitimitätsfrage von Herrschaftsordnungen vor, so muss sie tunlichst unterscheiden: Ist erfragt, welche Herrschaft legitim ist – abstrakt oder auch im Blick auf bestimmte Personen und Institutionen? Oder aber steht grundsätzlicher zur Debatte, ob es überhaupt berechtigt ist, dass Menschen über andere verfügen? Da diese Frage tatsächlich immer wieder auftaucht,29 sollte sich die Theologie anstrengen, Antworten beizusteuern, wie nur sie sie geben kann. Das Zeugnis und Denken des christlichen Glaubens kann hierauf zunächst dasselbe antworten wie andere religiöse – und auch bestimmte säkulare – Staatstheorien: Solche Macht ist berechtigt, weil und insofern sie nur dem Zusammenleben in einer Ordnung dient, die die Würde jeder Person zur Geltung bringt. In dieser – nur so zu bestimmenden – Weise kann Theologie auch ganz konkrete menschliche Machtordnungen legitimieren. Spezifisch und unersetzlich wird diese Theorie der Menschenmacht, wenn sie zugleich jegliche Macht – auch die Macht der Kirche – relativiert, orientiert und kritisiert. Dann kommt irdische Machtausübung in den Blick als Beteiligtsein der Geschöpfe am Wachsen des Gottesreiches als Leben in gegenseitiger Anerkennung und insofern sogar als Abbild der Ordnung Gottes, nämlich als Erfüllung der Bestimmung des Menschen zur Gottesgemeinschaft. Dabei muss die Kirche sich stets bewusst halten, dass sie sowohl vom Gottesreich unterschieden ist – sie ist unvollkommen – als auch vom Staat. Der Staat allein hat Aufgabe und Recht, gesamtgesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten, und zwar auch unter der – meist nur impliziten – Androhung physischer Machtmittel. Er muss hinwiederum eine ständige Selbstunterscheidung von der Kirche vollziehen – und von allen Religionsgemeinschaften; sonst ist er übergriffig, will die Herzen beherrschen. So relativiert, muss er sich bewusst halten, dass der Dienst des Staates darin besteht, das Leben der Menschen als Verhältnis gegenseitiger Anerkennung zu ermöglichen, ohne dass er dies selbst herstellen kann. Denn ihm stehen zwar die erwähnten Machtmittel zu. Verfügung über Wahrheit und über die Herzen der Menschen hingegen darf er nicht beanspruchen. Insofern ist er legitim; und dies im doppelten Sinne: Es muss so etwas wie Ordnungsmacht geben; und ein bestimmter, so dienender Staat soll diese Rolle auch weiterhin übernehmen. Die christliche Theologie kann damit anerkennen und begründen, warum weltliche Herrschaft legitim ist: als unverzichtbarer Dienst zur Wahrung einer Lebensordnung gegenseitiger Anerkennung. Ja, die christliche Theologie kann sogar anerkennen und begründen, warum Staat und Religionsgemeinschaft zwar einander gegenüberstehende, unterschiedene Geltungsbereiche darstellen – Erzwingungsmacht vs. Überzeugungsmacht –, dass ihre Machtsphären aber nicht
29 Vgl. z. B. Carl Levy und Matthew S. Adams (Hgg.), The Palgrave Handbook of Anarchism, Basingstoke 2018.
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getrennt voneinander sind. Wie die Kirche mit den Mitteln des Glaubens – als Zeugnis – die Macht staatlicher Herrschaft zu relativieren und zu orientieren hat, so hat die weltliche Ordnungsmacht mit den Mitteln des Rechtsstaates – bis zur physischen Freiheitsberaubung – etwaige Übergriffe und Verbrechen auch kirchlicher Mitarbeiter*innen zu untersuchen und zu ahnden. Nur wo die Ordnungsmacht klar gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstößt, haben Gemeinschaften das Recht, ihre Mitglieder dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Ob andere Religionsgemeinschaften wegen ihrer Grundbotschaft und Gründungsgeschichte ihre Rolle ebenfalls als relativierende, kritisierende und orientierende Bezeugung des angebrochenen Gottesreiches verstehen, müssen sie selbst beantworten. Das jüdische Volk wird beispielsweise einem solchen Begriffsvorschlag näher stehen als der Islam. Doch als Bezeugungsgemeinschaft göttlichen Rechtswillens werden sich beide verstehen können. Sie können sich als solche auch dem Staat als dessen Gegenüber zuordnen: als Gegenüber, das im Unterschied zum Staat rechtmäßig zwar geistlichen, also inspirierend-motivierenden Zugriff auf die Freiheit der Menschen hat, aber keinen physischen. Worin besteht nun also das Spezifische der Religionsgemeinschaft Kirche in ihrem Gegenüber zur menschlichen Macht? Sie verortet alles Geschehen – auch das jeweils gegenwärtige – in der Geschichte des kommenden Gottesreiches. Damit repräsentiert die Kirche wohlgemerkt keine andere Geschichte als die Globaloder Weltgeschichte. Sie bestreitet ja weder, was Naturwissenschaften über die Weltentstehung zu sagen haben, noch was die historische Forschung erarbeitet. Dennoch stellt sie das bisherige Weltgeschehen in einen anderen Zusammenhang: Die Kirche bezeugt ja das Gottesreich als die Zukunft der Menschheit, also die versöhnte Gemeinschaft in gegenseitiger Anerkennung. Am wirkkräftigsten daraufhin orientiert und motiviert wird die Menschheit, indem die Kirche in ihrem Zeugnis – gerade in ihren Feiern – die Osterfreude vermittelt: die Erfahrung, dass Christus von den Toten erstanden ist. Dies kann Menschen zu einer ungeahnten Liebesund Dienstfähigkeit befreien. Insofern versetzt die Kirche die Menschen doch in eine andere Geschichte. So lässt sich das hier Entwickelte bündeln in der Formel, dass die politische Sendung der Kirche diejenige ist, gesellschaftliches und staatliches Handeln zu kritisieren, zu inspirieren und motivieren: zu ›relativieren durch rekontextualisierende Repräsentanz‹. So ermöglicht die Kirche den Menschen, wohlgemerkt auch ihren Machthaber*innen, sich zu verstehen auf dem ihnen an Ostern eröffneten Weg in die Zukunft Gottes.
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Anxiety between Innocence and Sin? A Precondition for a Constructive Approach? Wolfhart Pannenberg’s Doctrine of Sin, His Criticism of Søren Kierkegaard’s Concept of Anxiety and Its Contemporary Constructive Implications
The Doctrine of Sin in Pannenberg’s Theology Even though all classical theological topics are typically characterized by being indispensable for theology as a whole, and even though it would be a fundamental mistake to make theological topics compete in importance, certain topics and themes might be more central to a specific theology than others. In Wolfhart Pannenberg’s theology, theological anthropology is just such a central topic, in the sense that it not only penetrates all the other topics, but also informs the very approach or method of his theology. Pannenberg’s theological anthropology is the implicit precondition of his program, without which it would not exist. A hint of this can already be seen in Pannenberg’s 1953 review of Hans Urs von Balthazar’s work on Barth’s concept of revelation and his related conception of the so-called “analogy of faith.” Pannenberg criticizes Barth’s conception of analogia fidei for failing to live up to its intention. The very concept of analogy is, so Pannenberg, an abstraction, and thus an invalid track for theology. It is more fantasy or speculation than fact. Instead, theology should proceed methodologically in concreto, through the particular historical situation in which God encounters the human being in his situation and destiny, namely, as created by God and marked by sin.1 In Offenbarung als Geschichte, we see the first clear methodological consequence of this view and how it relates to theological anthropology and the doctrine of sin. In the footnotes, Pannenberg emphazises that the concept of revelation is conditioned by the human situation, which is the situation of the sinner.2 The
1 Vgl. Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth. Eine Auseinandersetzung mit Urs von Balthasar, in ThLZ 78 (1953), 24. 2 Offenbarung als Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1961/1982, 99. See footnote 12: “Das Verhältnis des Offenbarungsgeschehens zur Sünde des Menschen kann hier nicht im einzelnen entfaltet werden. Der auf sich selbst zentrierte Mensch der Sünde ist nicht nur gegen Gott, sondern eben damit auch gegen die Wirklichkeit verschlossen, obwohl er selbst als Sünder noch von immer
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concept of revelation would make no sense if humans were in fact open to God and reality, since they would then be able to conceive and know God, the world, and know themselves by themselves and according to their destiny. They would not only need no revelation, but the very concept of revelation would make no sense at all. “Conceive,” in the context of the footnotes of Offenbarung als Geschichte, means perceiving (“wahrzunehmen”) without doubt (“unbezweifelbar”).3 Thus, apart from their apparent topics, these works concern the Lutheran issue of certainty. The same motif of certainty and truth informs Pannenberg’s Systematische Theologie, which begins by introducing the truth of Christian doctrine as the theme of systematic theology, with the explicit reason that all human speech about God is not about an object, but also about the inquiry, and therefore ambiguous. There is speech about God that fails, and is thus not primarily about God but about human sin, and is in that sense perverse. Such speaking of God is an expression of sin rather than of faith and truth.4 Accordingly, it is not surprising that this motif of sin emerges both in his early and late anthropological works, where it is thematized a matter of truth.5 It is thus possible to read Pannenberg’s entire theology from the perspective of the doctrine of sin.6 Such an approach would presuppose an analysis of Pannenberg’s own interpretation of the doctrine of sin as presented in his main anthropological
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neu zu empfangenden ‘Gegebenheiten’ lebt. Wo er genötigt wird, eine neue Gegebenheit, ein neues Datum zur Kenntnis zu nehmen, das in das gewohnte Schema seines Lebens und seiner Welt nicht hineinpaßt, da geschieht das immer im Gegensatz zur Tendenz des auf sich beharrenden Eigenwillens, aber kraft der unübersehbaren Realität des betreffenden Sachverhaltes oder Geschehens. So verhält es sich auch bei dem Gott offenbarenden Geschehen. Die Verkündigung davon soll den Hörer nötigen, dieses Geschehen in seiner unbezweifelbaren Wirklichkeit wahrzunehmen.” Ibid., 99. Ibid., 99. Systematische Theologie, vol. 1, Göttingen 1988, 1. Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, 5. Aufl., Göttingen 1976, 45: “Übereinstimmung von Ich und Wirklichkeit, das ist die alte Begriffsbestimmung der Wahrheit. Die Bestimmung des Menschen zielt also auf eine Existenz in der Wahrheit. Wer aus der Wahrheit leben könnte, dessen Leben wäre ein Ganzes, wäre heil, wäre im Frieden mit allen Dingen. Diese Wahrheit aber, zu der wir bestimmt sind, ist nicht unsere, sondern Gottes. Denn nicht aus uns selbst ist der Konflikt der Ichbezogenheit mit der Weltoffenheit zu überwinden. Die Übereinstimmung des Ich mit der Gesamtwirklichkeit kann nur von Gott her empfangen werden. Das Ich der Menschen lebt von sich aus nicht in der Wahrheit seiner Bestimmung.” See also the introduction to Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. This would imply emphasizing his dependency on and radical reception of Luther, as well as adding to the debate about his constructive reception of Barth and critique of particular Barthian scholars, such as Eberhard Jüngel. Put roughly, Pannenberg argues that neither Barth nor Jüngel has given sin adequate attention as a fact that characterizes theology not only abstractly-methodologically, but even affects their own historical and contextual situations. In other words, “Gotteserkenntnis durch Gott selbst” and justificatio sola fide receive both their radicality and their raison d’etre from the doctrine and situation of sin.
Anxiety between Innocence and Sin? A Precondition for a Constructive Approach?
works; and that is what this article aims to present. This concerns Pannenberg’s overall interpretation of the doctrine, i. e. his conception of sin in Was ist der Mensch, in Anthropologie in theologischer Perspektive, and in Systematische Theologie. In the first part of this article, I will consider Pannenberg’s conception of sin as a perversion of the human relation to God, self, and world. In the second part, I will reflect on the methodological consequences of this perversion in regard to Pannenberg’s reception and criticism of Søren Kierkegaard’s concept of anxiety and the broader theological debate on method. Finally, in the third part, I will take a closer look at the phenomenon and concept of anxiety in relation to the notion of desire, and summarize my analysis for further reflection. This concerns the relationship between systematic theology, phenomenology, and psychoanalysis and the ever-relevant issue of theology as faith seeking – or, according to Pannenberg, showing – understanding.
1.
Main Features of Sin: Sin as de facto Perversion of Relations
Pannenberg’s theological anthropology exhibits a high degree of coherence over time, consensus between the parts, and overall continuity. This is not unexpected, since according to Pannenberg’s own reflections these characteristics are signs of truth, and one can see them as preconditions in his doctrine of sin as well. This topic includes the themes of the human being as a unity of body and soul, the theme of imago dei, and the doctrine of sin. The doctrine of sin concerns the relation of the human being to God, to itself, and to the world. It concerns a factual perversion of these relations, which implies failure of the relations themselves, and of the identity of the involved. Since the Law, according to Pannenberg’s Lutheran theology, is given to protect these relationships, sin is per definition transgression of the law. Sin is the opposite of faith, hope, and love as the fulfilment of the law. According to Pannenberg, who stays in line with the Lutheran confession, this transgression of the law characterizes all human being from birth. The root of the transgression is unbelief as a perversion in the structure of the human relationality. This root is invisible, but it manifests as destruction, death, and evil. Thus Pannenberg emphazises that sin is radical, general, and structural. Therefore, the doctrine of sin prevents hypocrisy and moralism and brings to expression an unprecedented human solidarity. In Was ist der Mensch, Pannenberg describes human beings as a species characterized by a certain radical awarennes and openness to the world and to God, which is destined to be realized in freedom. The human lives as aware and self-aware, and is accordingly destined to live in mutual relationships, which means living in accordance with God, the world and itself, and thus experiencing itself as free in this relational sense of concordance. In Pannenberg’s thought, the destiny of
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freedom expresses independence with the presupposition that this independence is realised only in service of the world, and thus through dependency on God. This unity of personal independence and empowerment of others is the purpose of the human being. In Was ist der Mensch, Pannenberg terms this immediate purpose of freedom as independence in service as “Daseinsbewältigung mit Fantasie.”7 In Anthropologie in theologischer Perspektive, he calls it responsible “Herrschaft”; and in Systematische Theologie, he decribes this as reconciliation of the human being with God in the sense of incorporation through differentiation into the divine life (“vermittelte Einbeziehung”).8 Self-awareness and awareness of the other characterize the human being as a unity of body and soul. Self-determination and responsibility belong together in human freedom just as lordship and fellowship belong together in the community of love. In this way, Pannenberg’s perspective on sin is eschatological. That is to say, he approaches the human fact of sin by the anticipation of the human purpose as expressed in the law of love. Hence as Pannenberg describes the matter in Was ist der Mensch, the human being is – regarded from this perspective on its purpose – born into a situation where its relationship to self and world has fallen apart or become confused, due to the perversion of its relation to God. The human being is, in other words, born into this specific negativity of human experience. It is born with a negative experience, which is more accurately a non-experience in the sense that it is an implicit and unthematized attempt at creating concordance with God, self, and the world independently, and which works contrary to intention. Instead of making the human being independent, this non-experience only enhances the human being’s estrangement in itself and in its relation to others. Because it is based on itself, the human being’s attempt at producing accordance leads it further away from both itself and them. But this makes it try even harder – only to discover that this very trying simply makes everything worse. The human being thereby falls deeper and deeper into isolation and despair. It does not experience itself as free, but rather as enslaved and desperate. This is
7 “[…] das Streben des Ich, sich zur Welt zu erweitern, ist damit noch nicht falsch, daß es als unabschließbar erkannt wird. Es bleibt die Aufgabe des Menschen, die Einheit mit seiner Welt in immer neuer Gestalt wenigstens vorläufig zu verwirklichen, nicht nur durch geistige Bildung, sondern auch durch die fortschreitende technische Beherrschung seiner natürlichen Daseinsbedingungen. Mit Recht haben die Menschen immer wieder danach gestrebt, alles Wirkliche irgendwie in die Welt, die sie sich bauten, einzubeziehen. Denn der eigene Lebensraum und Lebensplan kann nur dann stabil sein, wenn er mit der Gesamtwirklichkeit in Einklang steht. Nur in einer Welt, die eine Einheit ist, kann unser Leben als Ganzes gelingen, kann es heil bleiben oder werden.” Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, 5th ed., Göttingen 1976, 44 8 Systematische Theologie, vol. 3, Göttingen 1993, 694.
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the experience of sin, which is in fact the inability to experience coherently i. e. in concordance with oneself and the world. This altogether is rooted in – or even identified as – the perversion of the relationship to God as the unity of the relation to self and world. In other words, the human being finds itself in the world as a creature who is perverted and estranged not only from its purpose, but even from the task of realizing this purpose. The human being has lost sight of its purpose and does not even realize that this is the case. Perversion runs deep. It is the suffering illusion of non-perversion. It is the situation of despair. It is a desperate situation and a vicious circle. Pannenberg describes this situation in important details already in Was ist der Mensch, where he points to an inborn human restlessness as a general expression of this issue of not being able to be able in regard to the relationship to the world. The human being must, as Pannenberg writes: … seine Bestimmung selbst suchen, sich klarwerden, was er will. Darum sucht er umfassende Orientierung in der Welt. Aber er findet weder in der Naturwelt, noch in der Gesellschaft einen letztverbindlichen Maßstab für sein eigenes Leben, nirgends den unzweifelhaft letzten Zweck, dem alle einzelnen Entscheidungen seines Lebens unterzuordnen wären. Die Frage nach seiner Bestimmung läßt ihn bei vorläufigen Antworten nicht zur Ruhe kommen und treibt ihn weiter voran.9
The human being is restless and, in its restlessness, seeks affirmation from others. Since the human being is destined to be with the other as another, and correspondingly destined for mutual relationships, this is, according to Pannenberg, a throughly legitimate longing. But it is also something that the human being cannot create or produce by itself, since it is itself and not the other person as other. Nevertheless, due to its embodiment and embodied openness, the human being approaches itself from the perspective of the other, which it identifies with and differentiates itself from. The human being is in this sense related deeply ambiguously to the other.10 In its attempt to achieve – i. e. on the basis of its own self – this affirmation and service, the human being comes further away from the other and itself just as it becomes – in the very same process of seeking the other – even more selfcentered. Thus, human behavior is according to Pannenberg, born to be immediately ambiguous not only in relation to itself and others, but even in its relation to time and space:
9 Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, 5th ed., Göttingen 1976, 40. 10 See Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 144.
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Daher rührt die Zweideutigkeit in allem menschlichen Verhalten. Sogar die Zeit und den Raum erfährt jeder nur in Bezug auf sich. Jeder ist Mittelpunkt seiner Welt; darum ist das Jetzt und Hier für jeden ein anderes. Solche Ichbezogenheit steht offenbar nicht in selbstverständlicher Harmonie mit der Weltoffenheit des Menschen.11
Sin is this lived, ego-fixated, ambiguity and tension between openness or eccentricity and the ego-centricity of the human being as a contradiction. It is thus a contradiction that the human being is not able to resolve, as any solution would depend on the other or the relationship to the other. Nevertheless, according to Pannenberg, the human being attempts to resolve the tension by creating a unity that dissolves the tension; but it thereby becomes only more affected by the tension.12 For the details of this dynamic, Pannenberg draws first and foremost, in Was ist der Mensch, on Augustine’s “tiefe Einsichten” in the “an sich und in ihrer weltlich besessenen Geschlossenheit als den eigentlichen Kern der Sünde.” On the very same passage, he refers to the description of sin in the Augsburg Confession as unbelief, desire, and lack of trust, and takes up Kierkegaard’s interpretation of sin and concept of anxiety.13 So far, Pannenberg’s interpretation of the doctrine of sin is not only situated in the context of certainty, but has three historical highlights: Augustine, the Confessio Augustana, und Kierkegaard. In this early text, Was ist der Mensch, Pannenberg credits Kierkegaard for having understood that the opposite of unthematized trust – which in its reflective appearance is faith – is anxiety, and for having discovered this anxiety in the self-relation of human beings. While unbelief concerns the relation of the human being to God, and desire concerns the human being in its relation to the world, anxiety concerns the human being in its self-relation. Naturally these relations cannot be separated, but neither are they to be confused. Rather, they are to be differentiated; and anxiety is central to this differentation, which is the condition for the possibility of thematized or reflective self-consciousness and freedom. The self-relation of the human being is, so Pannenberg, perverted already in anxiety, which is the unthematized condition for thematized fear. It is perverted yet not destroyed, and unfolds in desperation: Durch die Angst bleibt der Sünder auf seine unendliche Bestimmung bezogen. In der Verzweiflung aber trennt er sich von seiner Bestimmung, sei es, daß er an ihr verzagt,
11 Ibid. (fn. 9), 41. 12 Ibid., 43. 13 Ibid., 46.
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oder im Gegenteil, daß er sie von sich aus erringen und nur sich selbst verdanken will. Beide, Angst und Verzweiflung, offenbaren die Leere des um sich selbst kreisenden Ich.14
In this paragraph, Pannenberg follows Kierkegaard. In a footnote, he writes that the issue, which Kierkegaard has described better than anyone, is also reflected in psychoanalysis as the problem of self-identity, namely, the self ’s longing for identity. This presupposes that identity of the self is neither given – already achieved – nor not given, but is rather given negatively as a task. This task is negative, indirectly given, in the sense that it is for the self to receive, yet impossible to achieve. Psychoanalysis, Pannenberg writes, implies that the self finds itself in contradiction to its world and thus to itself, since this world is exactly the world of the self. It longs for an identity in accordance with the world and itself, since accordance is what identity is.15 Thus in psychoanalysis we see, according to Pannenberg, the legitimacy of the longing for an affirmative relation to the world and other human beings. Anxiety, according to Pannenberg, expresses an unthematized lack of concordance with the internal presence of the other, which manifests externally as well. For this reason, anxiety is also an expression of human self-consciousness as a self-relation, which implies a relation to another. For more details in Pannenberg’s interpretation of anxiety, we must proceed to Anthropologie in theologischer Perspektive. In Anthropologie in theologischer Perspektive, Pannenberg unfolds his view by refering to “Kants Lehre vom Bösen” as the first modern subjectivity-theoretical thematization of sin. This was after Confessio Augustana, according to Pannenberg, a step forward in understanding and became the presupposition for Kierkegaard’s subsequent conception. Of course, Pannenberg rejects Kant’s understanding of the human relation to God, which he claims based religion on morality; but in Kant’s
14 Ibid., 46. 15 “Der oben beschriebene Konflikt zwischen der weltoffenen Bestimmung des Ich und seiner Zentriertheit in sich berührt deutlich die Problematik der Psychoanalyse. Daß das Ich aus der Suche nach einer Identität erwächst, die das Individuum seiner Besonderheit in Übereinstimmung mit seiner sozialen Umgebung versichert, und wie es seine endgültige Identität erst gewinnt durch eine Integration der verschiedenen im Laufe seines Heranwachsens vollzogenen Identifikationen, sowie der jenen entgegenstehenden und nicht durch bloße Verdrängung zu bewältigenden Antriebe und Erfahrungen, ist das zentrale Thema der Psychologie von Erik H. Erikson (Identität und Lebenszyklus, 1966). Die Verbindung zum obigen Gedankengang ergibt sich leicht: Solange das Ich mit seiner Welt, vor allem mit seiner sozialen Umgebung, noch in Konflikt geraten kann, bleibt seine Identität (die ja in seinem Weltverhältnis gewonnen wird) gefährdet. Das Ich kann sie nur gewinnen, wenn es weder der vorfindlichen Welt verfällt und die eigenen, abweichenden Besonderheiten verdrängt, noch auf seiner Besonderheit gegen seine Welt beharrt, sondern sich versteht aus dem, was sein eigenes Dasein und das seiner Welt gemeinsam zu gründen vermag. Das bedeutet, daß die wahrhafte Integrität des Ich, als Einheit mit seiner Bestimmung, nicht ohne Rücksicht auf die religiöse Dimension des Menschseins zur Sprache gebracht werden kann.” Ibid., 108–109.
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subjectivity-theoretical thematization of sin he sees a clear continuation of the issue of personal human restlessness, which was already discussed by Augustine. Human restlessness expresses subjectivity negatively, i. e., as something that cannot be found as such and does not manifest in-itself. Restlessness instead expresses human self-consciousness as a mediated self-relation, and thus as a self-relation in a specific negative relation to the world and God.16 Hence for Pannenberg, the question is what this negative relation is really about. In order to understand this in even more detail, Pannenberg returns once more, in 1983, to Augustine’s preoccupation with desire as sin and to the scholastic discussion of whether desire – as the perversion of the human’s relation to God – is a consequence of sin or sin in itself. Yet as Pannenberg argues, this discussion is based on a false alternative. It is not either/or, but both or neither: Die Begehrlichkeit (cupiditas) ist selber Sünde, sofern sie eine perverse Form der Liebe oder des Willens darstellt. Diese perversa voluntas besteht in einer Verkehrung der Ordnung des Universums, da sie sich den niederen Gütern zuwendet und um ihretwillen die besseren und höheren preisgibt, nämlich Gott, seine Wahrheit und sein Gesetz.17
Under a specific condition, namely the perversion of the will, desire is consequence of sin and sin. Without perversion desire is good. It is only on the condition of the perversion of the human will that desire is sin. Only on condition of the perverted approach of the will. This again means that the human wish to live in accordance with oneself through concordance with the world is in principle a legitimate longing; yet it manifests itself negatively and destructively due to the human will, which is not able to be itself. The perverse will is the core of the perverse desire.18 Pannenberg calls it excessive self-affirmation and pride, and states in his earlier work that according to Augustine, this is different from the legitimate longing for affirmation and identity:
16 “Wäre ihm der Widerspruch im Selbstvollzug des Ich in seiner umfassenden Tragweite für alle Aspekte des menschlichen Verhaltens deutlich geworden, so hätte wohl auch Kants theoretische Philosophie mit ihrer Lehre von der transzendentalen Subjektivität zusätzliche Differenzierungen erfahren, die geeignet gewesen sein möchten, ihrer späteren Kritik durch Hegel im vorhinein zu begegnen. Die Zurückführung der moralischen Verkehrtheit des Ich auf eine allgemeine Verkehrung seines Weltverhältnisses liegt schon in der klassischen Durchführung der christlichen Lehre von der Sünde bei Augustin vor. Ihr hat sich die Untersuchung nun zuzuwenden.” Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 83. 17 Ibid., 84. 18 “Die Verkehrtheit des sündigen Begehrens ist nach Augustin in einer Verkehrtheit des Willens begründet, die darin besteht, daß der Wille das in der Rangordnung der Güter Höhere (Gott) zugunsten niederer (weltlicher) Güter zurücksetzt und es sogar als Mittel zur Erlangung der letzteren benutzt. Darin besteht das Maßlose des sündigen Willens.” Systematische Theologie 2, 279.
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… der Unterschied zwischen gutem und bösem Begehren hängt von dem Zweck (ab), um dessentwillen letztlich begehrt wird … Das Begehren ist nicht als solches böse, sondern nur dasjenige Begehren ist Sünde, das Ausdruck des die Ordnung der Natur verkehrenden Hochmuts ist.19
This perversion of the relation to God “vollzieht sich unausdrücklich, auf lange Strecken hin mehr oder weniger unbemerkt, als Implikat einer Verkehrung unseres Verhältnisses zur Welt und zu uns selber.”20
2.
Reception of Kierkegaard’s Concept of Anxiety: Sin as Separation of Relations
In Anthropologie in theologischer Perspektive, Pannenberg returns to Kierkegaard and the phenomena of anxiety and despair as expressions of this non-thematic perversion of desire through the will. Anxiety and despair manifest the human attempt to achieve identity as accordance with one self and to live as correspondingly free.21 The issue that the anxiety express is that the human being lives out of someone other than itself and thus cannot become who it is through itself – without the other.22 Since the human being makes its own finitude the basis of the relation to
19 Was ist der Mensch, 87–88. 20 Ibid., 90. 21 “Erst mit dem Verblassen der Vorstellung von einer Einordnung des Menschen in ein hierarchisch auf Gott hingeordnetes Universum und mit der Entwicklung der modernen Deutungen des Menschen als des seiner selbst bewußten Wesens konnte der Widerspruch des Menschen mit sich selber als zentrales Thema der anthropologischen Struktur des Sündenbegriffs hervortreten. Am eindringlichsten ist dieser Gesichtspunkt von Sören Kierkegaard durchgeführt worden in seiner Analyse der Phänomene von Angst und Verzweiflung. Kierkegaard unterschied den Begriff der Angst von dem der Furcht dadurch, daß Angst keinen bestimmten äußeren Gegenstand hat. In der Angst geht es dem Menschen um sich selbst, nämlich um die Einheit seiner selbst. Diese Einheit des Menschen wurde von Kierkegaard zunächst noch in der Sprache der traditionellen trichotomischen Anthropologie als ”Synthesis” von Leib und Seele durch den Geist beschrieben. Als Synthesis von Leib und Seele ist der Mensch Geist; er soll aber andererseits durch den Vollzug der Synthesis erst sich selbst realisieren, und mit dieser Tat der Freiheit ist die Angst verbunden.” Ibid., 93. 22 Pannenberg refers to psychoanalysis in this context too, but argues that Kierkegaard’s analysis is richer, since Freud does not adequately emphasize the dependency of anxiety on the self: “Auch nach Freud hat die Angst für das Ich den Wert ‘eines Signals, das seiner Integrität drohende Gefahren anzeigt’ (Abriß der Psychoanalyse, Fischer-Bücherei 47, Frankfurt a.M. 1953, 55). Diese Selbstbezüglichkeit der Angst ist jedoch bei Freud nicht immer ausdrücklich festgehalten worden. So spricht er von Angst vor dem Liebesverlust (ebd.), wie auch überhaupt vor äußeren oder inneren Gefahren (10). Die Terminologie Kierkegaards mit ihrer begrifflichen Unterscheidung von Angst und Furcht ist hier präziser, wenn auch Angst und Furcht sich in der Realität nur im Grenzfall trennen lassen. Das
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the other, it loses the other and the infinity that the relation to the other is meant to manifest in the mutuality of love. In this process, the human being has lost its own finitude. Instead of living in finite freedom (as Tillich would put it) through the infinity of love, the human being has lost both finitude and infinity: Der Mensch als Verhältnis zum Unendlichen ist nicht durch sich selber, sondern durch ein anderes gesetzt und verhält sich zu diesem anderen, zu “der Macht, welche es gesetzt hat,” die Kierkegaard ursprünglich auch ausdrücklich als die Macht Gottes bezeichnet hatte. Indem er aber in seinem Selbstbewußtsein sich zu sich selber verhält, setzt er zugleich sich selbst. Denn Selbstbewußtsein ist zugleich Freiheit […]. Indem aber der Mensch durch seine Freiheit realisieren soll, was doch nicht in ihm selber begründet ist, – sein Selbst, – liegt jene Verkehrung nahe, die Kierkegaard als verzweifeltes Selbstseinwollen kennzeichnet: Das ist der Versuch, sich in sich selber zu gründen statt in Gott. Verzweifelt ist dieser Versuch darum, weil der Mensch so sein wahres Selbstsein gerade verfehlt.23
Thus in these two main anthropological works, Pannenberg situates his entire conception in continuation of Kierkegaard with the sole but important difference that he rejects what he understands as Kierkegaard’s assumption of a paradisaic state of innocence, perfection, and integrity of human life before the fall. Pannenberg even argues that Kierkegaard’s own conception would do better without this assumption, and he suggests an eschatological interpretation of this protological notion. In regard to anxiety, this mean that anxiety is guilt only in relation to the notyet-manifest freedom of the human being, i. e., in regard to its determination and destiny.24 As he explains: “Doch bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß nicht die Freiheit selber, sondern nur ihre Möglichkeit dem Ereignis vorangeht, in welchem sie zugleich verlorengeht.”25 Pannenberg fully understands Kierkegaard’s attempt
furchterregende Objekt wirkt stets in der einen oder anderen Weise auf die existentielle Urangst des Menschen um sich selber. Aber das spricht nicht gegen ihre begriffliche Unterscheidung (anders R. Denker: Angst und Aggression, Stuttgart 1974, 28). Obwohl es keine Furcht ohne begleitende Angst geben mag, so kommt doch zweifellos Angst auch ohne furchterregenden Gegenstand vor. Man vermag nicht zu sagen, wovor man Angst haben könnte und doch ängstet man sich. Das rechtfertigt eine begriffliche Unterscheidung zwischen Furcht und Angst. Sie ermöglicht es nicht zuletzt auch, der Ursprünglichkeit der Angst im Verhältnis des Menschen zu seinem (noch nicht definitiv realisierten) Selbstsein besser Rechnung zu tragen als das bei einer Beschränkung der Analyse auf den Bezug zu gefahrdrohenden Gegenständen möglich wäre. In der Nichtigkeit der Angst, die nicht anzugeben weiß, wovor man sich fürchten müßte, tritt die Gefährdung des menschlichen Daseins und das Wissen um sie rein hervor als Gegenstand der Sorge des Menschen um sich selbst.” Ibid., 93. 23 Ibid., 95. 24 Ibid., 96. 25 Ibid., 97. “Denn ‘die Möglichkeit der Freiheit ist nicht, daß man das Gute oder das Böse wählen kann’, sie ist also kein Akt eines liberum arbitrium. Die Freiheit ist vielmehr mit dem Geist, der im
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to interpret the traditional notion of an “Indifferenzfreiheit im Urstand” with the notion of anxiety as “Zwischenbestimmung” between innocence and sin. Yet he considers the notion of “in between” problematic, and the notion of a state before the fall unconvincing. Thus he argues for a eschatological reinterpretation of the notion of a first estate.26 This new interpretation of the notion of paradise implies a criticism of Kierkegaard’s conception of anxiety as a state before the fall, and so in between innocence and sin, assuming that there is no state of sin before the fall. Thus Pannenberg insist that theology speaks “after the fall.” Yet there is much more to say about this issue. The problem that we have to grasp is that if Pannenberg is right that sin manifests itself as the ego’s illusion of no sin, and if we are in this state “after” the fall, then it would not be possible to conceive or say something general about sin, and if it is possible to say anything “after” the fall, then there would be no sin in the strict sense of the word. Therefore there is more to sin than that we are “after the fall.” So he claims that sin manifests as a general destruction, which it is only possible to recognize as sin through revelation. But what does this mean? Not only in principle – which would be an abstraction “before the fall,” and which would suffer from illusion – but concretely? To understand Pannenberg, we need to be aware that already in Anthropologie in theologischer Perspektive, he refers critically to Kierkegaard by means of Heidegger, and argues that anxiety is not just a step toward sin, but is already sin. Just as desire is both sin and the consequence of sin, anxiety is both the presupposition for sin and sin itself, since anxiety is a matter of the self turning toward the ego for affirmation. Anxiety is thus an expression of amor sui:
‘Augenblick’ gegenwärtigen Ewigkeit, identisch. Vor der Wirklichkeit des Augenblicks ist sie nur als Möglichkeit da, und aus dieser Möglichkeit der Freiheit entspringt die Angst.” Ibid., 98. 26 “Die Annahme eines liberum arbitrium als für den Ursprung der Sünde verantwortliche Instanz wird hier belanglos, weil diese Annahme der Indifferenzfreiheit auf einer Abstraktion von der konkreten Situation des Menschen beruht, die keineswegs durch Indifferenz, sondern eben durch eine Hinneigung zur Sünde gekennzeichnet ist. Kierkegaard meinte, solcher Kritik durch den Nachweis begegnen zu können, daß dennoch ein ‘Übergang’ von der Unschuld zur Sünde denkbar sei, die biblische Erzählung also gerettet werden kann, wenn auch nicht im Sinne eines aller späteren Menschheitsgeschichte vorausliegenden historischen Anfangs, so doch im Sinne einer in jedem Menschenleben sich wiederholenden Geschichte des Menschen schlechthin. Kierkegaard glaubte zeigen zu können, daß die Angst die psychologische ‘Zwischenbestimmung’ zwischen Unschuld und Sünde bilde, indem in ihr jener ‘Schwindel der Freiheit’ aufsteigt, aus dem der Mensch auf seine unwahre Subjektivität zurückfällt. Doch setzt nicht auch die Angst um sich selber, das schwindelnde Gefühl sich selbst überlassener Freiheit, schon die Sünde voraus, die darin besteht, daß der Mensch sich selber Zentrum und Maßstab seines Lebens ist?” Ibid., 99.
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Diese Verkehrung der menschlichen Verhaltensstruktur äußert sich in der Angst, wenn anders Heidegger recht hatte, daß sich in der Angst die Grundstruktur des menschlichen Daseins als Sorge bekundet. Seine Analyse bestätigt also, daß Angst bereits selber als Ausdruck der Sünde zu verstehen ist und nicht, wie Kierkegaard wollte, eine “Zwischenbestimmung” im Übergang von einer ursprünglichen Unschuld zur Sünde bilden kann.27
Anxiety is sin and not a state before or in between, says Pannenberg. Even though this may not have been Kierkegaard’s point, Pannenbarg argues that the notion of a prior state is obsolete, because anxiety exhibits a structure that is already amor sui. This is the end of Pannenberg’s explicit reception of Kierkegaard; but there is more to say, because Pannenberg also seems to suggest implicitly that one can actually identify and speak of a kind of anxiety that is not sin. This is a precondition for the fact that is is possible to say anything about sin at all. Hence this is a methodological isuue with concrete consequences. As already emphasized, anxiety is sin insofar as amor sui controls the human being. This means that anxiety is only sin when “solches Streben nach Sicherung und Verfügung über die Bedingungen unseres Lebens uns ganz beherrscht, da wird unser Leben vom amor sui, von der Sünde regiert.”28 In the quote we should notice the word “ganz,” since it suggests a kind of anxiety that is neither a term for an protological in-between state, nor the only thing one can say about human being, but something else entirely. This something else is, as I propose we understand Pannenberg, liberated anxiety, redeemed anxiety. This is the anxiety that is integrated and transformed in reconciliation of the human being with God, with the world, and with itself. This kind of anxiety is not a thing, maybe not even a phenomenon, but rather a kind of structure that manifests itself from an eschatological perspective, or even is this eschatological perspective. It is a certain relation, a certain eschatological concept and reality. This eschatological approach to sin becomes more and more present in Pannneberg’s later work. Its methodological consequences are seen clearly in Systematische Theologie, and they are quite comprehensive. This means that the doctrine of sin is to be seen as a specifically theological interpretation of the negativity of our general identity and experience, i. e., an interpretation from the perspective of our being destined for personal freedom and the fellowship of love. The evil we experience exposes anxiety, desire and amor sui as the negativity of experience. This evil is the general and empirical dimension of the doctrine of sin, while reconciliation is clear by reason of faith. This general dimension shows that sin is not only about the relation to self and
27 Ibid., 100. 28 Ibid., 100.
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God, but about the relation of the human to the world. It shows that the relation to God and to self cannot be separated from the world, as has been its sad fate in much modern Protestant theology. Hence it would not be fair, according to Pannenberg, to accuse the doctrine of sin of cultivating false guilt, of making faith into a human performance or product, and of leading to moralism. Such accusations have in fact been made in many modern interpretations, but they are, as Pannenberg shows, false, since they have either separated or confused human beings’ different relations to God, self, and world, whereas the doctrine of sin is ultimately about the manifestation of a lack of concordance or connection between these relations. In classic terms, the doctrine is about sin, death, and the devil as this gap. The function of the doctrine of sin is, in this regard, to emphazise this link between the different human relations; in regard to method, it is to expose the perception and reason of faith and thereby contribute to solidarity between human beings.29 This solidarity is not only the content of the doctrine of sin, but leads to a quite radical methodological point of view as well, since it exposes the link between general negativity and its invisible individual root. As we have seen, Pannenberg affirms Kierkegaard’s ability to identify anxiety in the self-relation that is related to and with the world. Thus, according to Pannenberg, Kierkegaard is very close (“sehr nahe”) to an “Auflösung der transzendentalen Subjektkonzepte der Idealistischen Philosophie,” even though he did not take the full consequence of this “Auflösung.” Kierkegaard could have done so, according to Pannenberg, if he had recognized that anxiety is not a state before the fall and so in between, i. e., without historical world-relation, but is rather a manifestation of the self in the world, i. e., excessive attempts at affirmation, desire, and fear.30 If Kierkegaard had gone all the way in reinterpreting protology as eschatology, he would have reached a new kind of transcendental concept of the subject, namely, a worldly or mundane-historical conception of subjectivity. Such a conception would push toward a concrete historical-hermeneutical approach to negativity, namely, by conceiving of revelation as word and history as Pannenberg does. In his fundamental-anthropological works, Pannenberg begins rather abstractly, that is 29 Pannenberg refers in Was is der Mensch to Luther’s interpretation of the first command to emphasize the point that even though God and faith belong together, it is not faith that creates God, but the other way around. Was ist der Mensch, 106–107. In Anthropologie in theologischer perspektive he emphasizes this once again, while criticizing the approach of Barth: “Sicherlich steckt in der These Barths auch ein Wahrheitsmoment. Daß die Verkehrtheit desjenigen Verhaltens, das die christliche Tradition als Sünde gekennzeichnet hat, darin gründet, daß es Abwendung von Gott und also Sünde gegen Gott ist, das kann allerdings nur im Lichte eines Wissens von Gott gesehen werden und also in voller Klarheit erst von Gottes Selbstoffenbarung her, da ein anders als aus Gottes eigener Initiative begründetes Wissen von Gott den Begriff Gottes selber aufheben würde.” Anthropologie in theologischer Perspektive, 89. See also Systematische Theologie, vol. 1, Göttingen 1988, 270–271. 30 Ibid., 98.
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philosophically-anthropologically, by thematizing human relationality, proceeds through negativity, and ends in concrete eschatology as integration and interpretaion; meanwhile, his systematic works presuppose eschatology and so begin with the Bible, for according to Pannenberg, is only from an eschatological perspective that the Bible has the authority that it theologically represents.31 In this eschatological perspective, anxiety emerges not primarily as sin, but in the contrary as redeemed sin, which is something entirely different. So from the eschatological perspective of faith, it is both-and. A truly Lutheran both-and, i. e., sin and redeemed sin.32 In order to progress further in this analysis of Pannenberg, I will now go back through anxiety to Augustine’s conception of desire as the basic description of sin, in order to determine what this third kind af anxiety is – and also to see whether Kierkegaard might not have a point with his notion of “Zwischenbestimmung,” namely, not by arguing for a “scholastic” state before the fall, in between innocence and sin, but rather by describing a methodological fact and precondition, which we cannot escape today? In that case, the “state between” would be a strict methodological term, and in that sense not “a state.”
3.
A Constructive Approach: Sin as Confusion and Redemption as Clarification
In his Systematische Theologie, Pannenberg emphasizes that is is only a certain kind of desire, which is sin, namely the specific but total self-seeking desire that does not seek affirmation through or from the world, but desires the entire world for itself33 : 31 “Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß dieser erste Absatz die methodischen Voraussetzungen der in der ganzen Vortragsreihe angewandten Betrachtungsweise nennt: Die Fragen nach der (biologischen oder sozialen) Natur des Menschen werden mit der Frage nach seiner Geschichte so verbunden, daß erstere — und also auch die in früheren Kapiteln dieses Buches besprochenen anthropologischen Aspekte — den Charakter von Abstraktionen, wenn auch für den Erkenntnisgang unumgänglichen Abstraktionen erhalten, während die Konkretheit der menschlichen Wirklichkeit erst mit der Frage nach der Geschichte der Menschen in den Blick kommt. Die Geschichtsschreibung setzt einerseits Annahmen über die allgemeine ‘Natur’ des Menschen schon voraus (also Ergebnisse der biologischen Anthropologie, der Psychologie und Soziologie), behandelt aber andererseits diese allgemeine ‘Natur’ des Menschen selbst als einen Gegenstand geschichtlichen Werdens, löst also die abstrakte Allgemeinheit wieder auf in die Konkretheit des historischen Prozesses.” Was ist der Mensch, 113. 32 Pannenberg says that Augustine takes up phenomena and conducts a philosophical analysis of their structure. Pannenberg himself makes a theological-historical interpretation of this kind of analysis of structure, including those of Augustine, Kant, Hegel, und Kierkegaard. Systematische Theologie, vol. 2, 281. 33 Ibid., 276–277.
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In der Nichtbeachtung der Ordnung der Natur bekundet sich nämlich nach Augustin eine Eigenmächtigkeit des Willens, die das eigene Ich in den Mittelpunkt rückt und alle anderen Dinge als bloße Mittel für das eigene Ich benutzt. Das ist der Hochmut, der das eigene Ich zum Prinzip aller Dinge macht und sich damit an die Stelle Gottes setzt. Dieser Hochmut aber bildet nach Augustin den Kern alles verkehrten Begehrens, weil alles Begehrte “für” den Begehrenden erstrebt wird und dieser darum implizit als letzter Zweck seines Begehrens fungiert. Diese Selbstbeziehung in der Struktur des Begehrens, die in dem Wort concupiscentia zum Ausdruck kommt, obwohl formal geurteilt die Zweckbeziehung des Begehrten auch einen anderen Inhalt haben könnte (nämlich Gott als das höchste Gut), dürfte in Augustins Verwendung des Wortes meistens unausgesprochen mitschwingen.34
Thus this self-seeking desire, which manifests the pride of amor sui, can according to Pannenberg be formally, eschatologically, differentiated from a kind of desire that is not self-seeking in this sense. Pannenberg emphasizes that this is not to be understood in a classical scholastic manner – as implying that there are two different kinds of empirical desire – or, even worse, understood substantially as two different things. No, Pannenberg’s differentiation is no step-by-step moralistic differentiation between empirical kinds of desire, for example, between a kind before baptism and another kind after baptism. Rather, human desire is sin, real and total sin, also after baptism. But after baptism this sin, from an eschatological perspective, is also transformed into love. Namely: in the relation to Christ, desire is eschatologically transformed into love, and thus the desire which is real sin lives on, after baptism, side by side with and in the context of its transformation to human love in the love of God. Thus, in retrospect, the legitimate desire is a longing for the fellowship that is called love. This is the basic theme in Pannenberg’s entire systematics. Only in the experience of fellowship – and this is what the concept of experience really means – only in the destination for love can we see desire as the redeemed sin, and thus as the sin that it is.35 Only through transformation does the human know its destiny and its estrangement. Love, according to this analysis of Pannenberg’s interpretation, is the destined structure of the human relation to other beings in the world. Love is the structure which, according to Pannenberg, systematically comes to expression in
34 Ibid., 279. 35 Pannenberg contrasts affirmation as “Anerkennung” to recognition as “Rechtfertigung,” such that where the former is legitimate, the latter arises from sin: “Das Streben nach Sicherstellung des Ich durch Anerkennung von seiten anderer sollte unterschieden werden von dem verwandten Thema des Strebens nach Selbstrechtfertigung. Es ist fundamentaler als das letztere, weil es einer Rechtfertigung erst bedarf gegenüber einer anklagenden und (möglicherweise) verurteilenden Instanz. Dem Streben nach Anerkennung geht es aber in der Tiefe um die Liebe des andern, wenngleich es sich oft mit äußerlichen Zeichen eines gewissen Wohlwollens begnügen muß.” Ibid., 287
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the differentiated notions of reconciliation of the human being with God, internally in reconciliation with itself and externally with the world. It comes to expression in the notion of the church as the body of Christ and of the Kingdom of God as mediated by the second, embodied, coming of Christ. Just as desire can be differentiated from and transformed into love, so too can anxiety be differentiated from and transformed into the hope that characterizes the human self-relation. In this specific context of subjectivity, which Pannenberg basically endorses and expands, he begins with Kant, but because of Kant’s moralistic approach, he quickly moves instead toward Hegel, who, in Pannenberg’s words, attempted to explain “wie das Ich sich selber an die Stelle des wahrhaft Unendlichen und Absoluten setzen kann. Dabei ist nicht die Begierde an sich schon böse, sondern erst der Wille, der sich mit ihr identifiziert, statt sich über sie – und damit über die eigene Selbstsucht – zu erheben.”36 Yet Hegel too, like Kant, did not describe subjectivity adequately, Pannenberg argues, since he too made the ultimately finite subjectivity the basis of the self-relation’s relation to God. Thus Pannenberg focuses on Kierkegaard’s almost mundane renewal of the transcendental conception of subjectivity in his insight into subjectivity as manifesting negatively in anxiety without the ability to transform this negativity, because it is “gesetzt” by another and so exposes an activity that is passively instituted.37 The line that Pannenberg draws from Augustine through Luther to Kierkegaard is clear: Kierkegaards Beschreibung der angesichts der Konstitution des Selbst von Gott her verzweifelten Lage des menschlichen Bemühens um Selbstrealisierung der eigenen Identität hat auf dem Boden der Subjektivitätstheorie die These Luthers über die Gefangenschaft des Menschen in einem servum arbitrium erneuert: Obwohl durchaus im Besitz der formalen Fähigkeit zur Wahl, vermag der Mensch dennoch nicht, auf dem Boden seiner endlichen Subjektivität und durch sein eigenes Handeln seiner Situation vor Gott gerecht zu werden oder, mit Kierkegaard gesprochen, seine eigne Identität von sich aus zu realisieren.38
36 Ibid., 284. 37 “Nun kann er aber ‘durch sich selber nicht zu Gleichgewicht und Ruhe gelangen’, weil er die Einheit seiner selbst nicht auf sein Selbstbewußtsein begründen kann … Damit hat auch Kierkegaard (wie schon Hegel) den augustinischen Gedanken der Sünde als Verkehrung der Struktur des Menschseins als Geschöpf wiederholt, aber nun in der neuen Gestalt, daß die Selbstrealisierung des Menschen auf der Basis seiner Endlichkeit eine Umkehrung des Begründungszusammenhangs darstellt, der vom Unendlichen und Ewigen ausgeht und das Dasein des Menschen als Verhältnis zu ihm konstituiert. Daraus folgt der verzweifelte Charakter aller Bemühungen des Menschen um Selbstverwirklichung auf der Basis seines endlichen Daseins.” Ibid., 284–85. 38 Ibid., 285.
Anxiety between Innocence and Sin? A Precondition for a Constructive Approach?
Anxiety is, then, the perversion of the will, which in the perverse desire and the self-relation cannot be separated from the relation to the world. Rather, the two inform one another by differentiation; but in perversion they are confused. From an eschatological perspective, they are destined not to be confused, but to be mediated in their difference by the relation to God.39 In regard to anxiety, this means that when it is revealed and clarified by the eschatological perspective, anxiety manifests itself and in its manifestation thematizes the problem of freedom in regard to the internal otherness of the world, which – in the possibility of freedom – is experienced as the otherness of time and the threat of change and loss. Since subjectivity turns toward itself, and makes its own finitude its very basis, it will be fixed to its own moment, separated from past and future, and have a negative or non-experience of time as a problem and threat. Accordingly, the essence of the redeemed anxiety is what we call hope. And hope belongs primarily in the self-relation of the human, i. e., the relation to subjectivity, even though, as we have seen, this relation is in the world, mediated by God. According to this analysis by Pannenberg, hope is the eschatological structure of subjectivity as seen from this perspective. It is this structure as a structure where time and eternity are not turned against one another, but where eternity is the deep, eschatological, worldly, and historically open, connection between the self ’s past, future, and present, a connection that is history and identity in the deepest sense of these words. In the same way, we can see that according to Pannenberg, the root of sin, which is unbelief, amor sui, and pride, belongs in the relation to God, and also has a differentiated eschatological manifestation that cannot be referred to either desire or anxiety: Die Ichfixierung selber läßt sich nicht auf die Angst zurückführen, weil sie schon in der Angst enthalten ist. Aber in der Situation der Zeitlichkeit wird durch die Angst die Fixierung auf das eigene Ich ständig reproduziert. Die Unsicherheit der Zukunft und die Unabgeschlossenheit der eigenen Identität nähren wiederum die Angst. So wird der Mensch durch seine Angst in der Ichbefangenheit festgehalten. Die Alternative dazu
39 “Für die subjektivitätstheoretische Beschreibung der strukturellen Verkehrung, die das Wesen der Sünde kennzeichnet, kommt der Angst eine ähnlich fundamentale Bedeutung zu wie der Konkupiszenz in der Darstellung Augustins: Wie diese die Wurzel von konkreten Lastern wie Habsucht, Neid und Haß bildet, so ist Angst die Quelle nicht nur der Verzweiflung und der Sorge, sondern auch der Aggression. Da die subjektivitätstheoretischen Analysen sich als Vertiefung der augustinischen Psychologie der Sünde lesen lassen, wird die Angst (als Ausdruck der übermäßigen Selbstliebe) auch schon als Motiv des Hervorgangs der Konkupiszenz aus ihr zu vermuten sein: Der Mensch ist schon als natürliches Wesen durch Bedürftigkeit und darum auch durch Begierde gekennzeichnet. Aber der Schritt zu jenem Übermaß der Begierde, das sie zur Sünde macht, dürfte in der Angst um das eigne Seinkönnen begründet sein, in der sich der Mensch durch den Besitz des Begehrten des eigenen Selbstseins zu versichern sucht.” Ibid., 286–87
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wäre ein Vertrauen auf Zukunft und ein Leben in der Gegenwart aus solchem Vertrauen. Würde das dem Menschen nicht immer wieder neu geschenkt, so wäre er nicht lebensfähig. Dennoch verschließen sich Menschen immer wieder dagegen in der Angst um sich selbst. [...] In der theologisch als Sünde zu bezeichnenden Situation allgemeiner Verfehlung der menschlichen Bestimmung ist der Unglaube als ihr Grund also nicht immer schon thematisch. Das ist erst möglich im Gegenüber zum Gott der geschichtlichen Offenbarung. Ebensowenig liegt der konkrete Ausgangspunkt des Sündigens in der nackten Hybris menschlichen Seinwollens-wie-Gott. Diese Hybris ist auf weite Strecken hin nur implizit in der Begierde und in der Angst um das eigene Leben wirksam.40
Thus, from an eschatologically differentiated point of view, this “other side” of unbelief is faith, and faith is freedom. It is trust – and so we can understand why trust is an unthematized condition for hope and for love. This is truly a Lutheran conception in the sense of a differentiated and reconciled relationship to God as the mediation of the self- and world- relation. This means that sin is present in all relations from birth to death, even though eschatologically one is believed to be simul redeemed. In this conception, we can recognize Pannenberg’s interpretation of the Lutheran justification and radical conception of knowledge of God through Godself, i. e. on the cross – and, as Pannenberg emphasizes, in the resurrection. For this reason, we might now consider the fact that the human relation to God, self, and world manifest separately, i. e., they are separate relations only empirically (from the perspective of sin and law), and hence are often seen as related to different phenomena? Since we know that they are – as relations – definitely not things, we might consider how they can be approached eschatologically, namely, without confirming this separation and without turning them in this substantial direction of thought? How do these relations appear non-separated from the eschatological perspective? In the analysis of Pannenberg’s doctrine of sin presented here, it is proposed that the empirical separation and conceptualization is, as such, an expression of sin, while their difference in unity is an expression of redemption and thus fulfillment. This makes their phenomenal difference the crucial point of view, conflict, or “Streit Gottes,” since this difference can move in both directions. Such an analysis of Pannenberg would make it both possible and adequate to speak of faith, hope, and love as one single structure, namely as a kind of mundane-transcendental-historical structure. This would be the destined character of the world and of our inter- and intra human relations. In other words, such an analysis would offer the advantage of enabling us to conceive the human destiny as a structure of concordance between and within the human relations to God, self, and world and the phenomena of
40 Ibid., 288–89.
Anxiety between Innocence and Sin? A Precondition for a Constructive Approach?
faith, hope, and love. This would be in accordance with Pannenbergs own criteria of truth: Love as concording longing, hope as concording concern, and faith as the open unity of longing and concern, which is usually, eschatologically, called joy and peace. The guilt of sin is thus also, as Pannenberg writes, guilt from the transgression of the law of concordance of and in relations. It is guilt from the transgression of human beings’ being destined to fellowship with God in service for the world.41 In this sense, we see a new aspect of Kierkegaard’s concept of anxiety as a notion referring to a point of view that we might term “already, not yet.” This places Pannenberg clearly in the context of twentieth-century continental, transcendental, historical-hermeneutical negativity studies, and more specifically as a certain constructive kind of negativity study, and it contributes to clarifying the contemporary relationship between theology and phenomenology. In other words, if phenomenology is about going back to the phenomenon, then it presupposes, negativity as our current situation: If we define phenomenology as the attempt to go back to the phenomena, we must ask ourselves: What is the point of going back to that which shows itself? … Making a method of this move (going back to the phenomena) only makes sense if something has come in between, so that we are not simply dealing with the phenomena. But what comes in between? It cannot just be something interfering from outside. Rather it must have to do with our own ways of approaching the phenomena … But this leaves a phenomenological approach with the problem of: how to account for what comes in between? Let us call this the problem of negativity.42
But there is more to say, and our situation and point of departure can be termed as “in between.” This in-betweenness is thus not only a curse, but eschatologically, in retrospect, it is clarifying. This problem, I argue, is precisely presupposed by
41 “Verantwortlichkeit und Schuld ergeben sich erst aus der Geltung einer Norm, der der Handelnde folgen soll oder hätte folgen sollen. Im Strafprozeß wird dem Täter im Namen der Gesellschaft und ihres Gesetzes zugemutet, daß er oder sie sich der Norm entsprechend hätte verhalten sollen und können. So wird objektive Schuld zugerechnet. Wird die Norm verinnerlicht im sittlichen Bewußtsein oder Gewissen, dann richtet der Handelnde solche Zumutung an sich selber. Nur dann kommt es auch subjektiv zur Annahme der Schuld. Schuldbewußtsein, Gewissen und Verantwortung haben also etwas zu tun mit der Bindung des Bewußtseins der eigenen Identität als Sollbegriff des Selbst an bestimmte Normen und an die daraus fließenden Forderungen für das eigene Verhalten.” Ibid., 300. 42 Arne Grøn, ”Self-giveness and Self-Understanding: Kierkegaard and the Question of Phenomenology”. In: J. Hanson (ed.), Kierkegaard as Phenomenologist: an Experiment, s. 79–97 (Evanston Northwestern University Press). In: René Rosfort et al. (eds.): Filosofiske Essays af Arne Grøn, København: Eksistensen Akademisk 2019, 137.
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Pannenberg, who due to his own historical context did not have to spell it out or dwell on negativity. Rather, Pannenberg presupposes negativity as the situation and argues that negativity is not only a fact of individual human life, or in social life or in human communities but the low, contingent, point of history itself on its way to consummation. Thus in Systematische Theologie, he emphasizes that “Strittigkeit des Daseins und Wesens Gottes in dieser Welt als in Gott selber begründet zu verstehen ist,” and presents this as the cross-moment of God which, in retrospect, is the factual condition for fullfilment and consummation. Pannenberg’s conception of this eschatological consummation is, I emphasize, a certain constructive kind of negative theology.43 In Arne Grøn’s words, which are about Kierkegaard’s approach, but also capture Pannenberg’s concern with the doctrine of sin in his later systematic works: The point is that what comes in between is not just to be left out, without any significance, but must itself be a question of what is at issue (die Sache, or truth). The truth we reach must tell us something about the untruth through which we reach it. … There is self in the resistance against self-understanding.”44
So Pannenberg’s perspective on anxiety is conditioned, in his early and fundamental anthropological works, by eschatology as a future already revealing itself, while in his later systematic works, his main perspective is eschatological and preconditioned
43 “Die Ebene der theologischen Reflexion unterscheidet sich von der der Bekenntnisaussagen des Glaubens dadurch, daß auf ihr die Strittigkeit der Glaubensaussagen wie auch der theologischen Sätze und der in ihnen behaupteten Wirklichkeit, an erster Stelle der Wirklichkeit Gottes selbst, mitbedacht werden kann und auch mitbedacht werden sollte, weil sie zur Wirklichkeit der Welt und der Geschichte gehört, die in der Dogmatik als die Welt Gottes – als die von Gott geschaffene, versöhnte und erlöste Welt – zur Darstellung kommen soll. Damit kommt zugleich die Gottheit Gottes zur Darstellung, wie sie durch die geschaffene Welt und ihre Geschichte verherrlicht wird. Das bedeutet, daß auch die Strittigkeit des Daseins und Wesens Gottes in dieser Welt als in Gott selber begründet zu verstehen ist, wenn sie nicht als ein Ausdruck seiner Ohnmacht und damit letztlich sogar als Einwand gegen das Dasein Gottes gelten soll.” Systematische Theologie, vol. 1, 69. In regard to content of doctrine see also “Das Kreuz stellt nicht nur Jesu göttliche Vollmacht, sondern damit auch die Gottheit des Vaters, wie Jesus ihn verkündigt hatte, in Frage.” Ibid., 342. 44 Arne Grøn, “Self-giveness and Self-Understanding: Kierkegaard and the Question of Phenomenology,” in: J. Hanson (ed.), Kierkegaard as Phenomenologist: an Experiment, Evanston Northwestern University Press, 79–97, in René Rosfort et al. (eds.): Filosofiske Essays af Arne Grøn, København: Eksistensen Akademisk 2019, 352. See also: “If phenomenology is going back to that which shows itself to us, it has to give an account of that which ‘comes in between’. In the movement back we encounter subjectivity, but subjectivity as relating to the world. This does not mean that subjectivity is simply ‘worldly’. Subjectivity is embodied and embedded, but it is so as subjectivity: as relating to the world. It is in the world, relating to the world,” Ibid., 356. See Johanne S. T. Kristensen, Body and Hope, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 352.
Anxiety between Innocence and Sin? A Precondition for a Constructive Approach?
by unbelief, anxiety, and desire. They are cross-moments of history and turning points for subjectivity. Crucially, Pannenberg relates both of these movements in his programme, so that they are not alternatives. This relation expresses faith, not only seeking, but also showing as understanding; faith not only as differentiation, but also communication. This faith expresses itself as communion. Correspondingly, unbelief, anxiety, and desire are neither pure historical steps in the past nor pure signatures of a permanent conversion. Rather, these aspects only make sense in their relation. On their own, they become destructive paradoxes in the sense of self-contradictions. In sum, they are both-ands in relation to the trinitarian God. That is reconciliation. In other words, according to Pannenberg, the phenomena of anxiety, desire, and unbelief are preconditions for the discipline of hermeneutics and for the constructive clarification and celebration of truth.45
45 Vgl. Arne Grøn:“[…] edification in Kierkegaard, deals with negativity. It depends on a negative detour (Grøn 1997) […] it is precisely the negative possibility which makes an edifying discourse possible […] the negative approach of the edifying discourse […] indicates that being a self is complicated in its very structure of being concerned in ways of relating. The radical possibility of losing oneself is inscribed in the structure of being a self that is concerned. […] The critical insight is that one only preserves one’s soul against oneself ” Arne Grøn, “Time, Courage, Selfhood: Reflections on Kierkegaard’s Discourse ‘To Preserve One’s Soul in Patience’”. In: J.M.Justo and E.M. de Sousa (ed.), Kierkegaard in Lisbon: Contemporary Readings of Repetition, Fear and Trembling, Philosophical Fragments and the 1843 and 18844 Upbuilding Discourses. In: René Rosfort et al. (eds.): Filosofiske Essays af Arne Grøn, København: Eksistensen Akademisk 2019, 172–173.
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Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
Unterschiedliche Verhältnisbestimmungen von Gnade und Freiheit und somit von Passivität und Aktivität des Menschen im Heilsgeschehen markieren weiterhin Differenzen zwischen den christlichen Konfessionen. Die mit ihnen verbundenen theologischen Voraussetzungen und Implikationen sind kaum jemals pointierter hervorgetreten als in jener Auseinandersetzung um Ansatz und Durchführung einer theologischen Anthropologie, die einige Jahre nach dem Erscheinen von Wolfhart Pannenbergs Anthropologie in theologischer Perspektive (1983) zwischen dem Autor und dem katholischen Dogmatiker Thomas Pröpper (1941–2015) ausgetragen wurde.1 Diese Kontroverse könnte rasch auf die Seite gelegt werden, wenn es zuträfe, dass beide Theologen auf unterschiedlichen Ebenen argumentieren: Pannenberg phänomenologisch auf der Ebene realer Freiheit, Pröpper analytisch auf der Ebene transzendentaler Freiheit.2 Pröpper selbst legt eine solche Unterscheidung nahe, wenn er in seiner zweibändigen Theologischen Anthropologie (2011) zu Pannenberg schreibt, diesem gehe es vorrangig um eine genetische Erklärung menschlicher Freiheit und deren Bildung im Zuge menschlichen Weltbezuges, ihm hingegen um einen transzendentalen Geltungsaufweis der Fähigkeit menschlicher Freiheit, dem Gnadenangebot Gottes frei zuzustimmen.3
1 Vgl. Thomas Pröpper, Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs, in: Theologische Quartalschrift 170 (1990) 267–289 [auch in: Thomas Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br. 2001, 153–179]; Wolfhart Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität: eine Antwort an Thomas Pröpper, in: Theologische Quartalschrift 170 (1990) 289–298 [zit. nach: Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 2, Göttingen 2000, 235–245]. 2 In ihrer Dissertation zum Verhältnis von menschlicher Freiheit und Sünde diagnostiziert auch Eva Kaufner-Marx zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe bei Pannenberg und Pröpper: Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht. Eine Untersuchung der theologischen Anthropologien Wolfhart Pannenbergs und Thomas Pröppers (Bonner dogmatische Studien 43), Würzburg 2007, 352–355. Die Dissertation bietet eine gute Einführung in die anthropologischen Entwürfe von Pannenberg und Pröpper. Vgl. ferner: Aaron Langenfeld / Magnus Lerch, Theologische Anthropologie, Paderborn 2018 (mit besonderer Berücksichtigung von Rahner, Pannenberg, Jüngel und Pröpper). 3 Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg i.Br. 2011, 431f.
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Pröpper identifiziert demnach zwei unterschiedliche methodische Zugänge zur Anthropologie – mit jeweils weitreichenden Folgen für das Verständnis der Beziehung von Freiheit und Gnade, Aktivität und Passivität im Heilsgeschehen. Allerdings stehen beide Zugänge nicht beziehungslos zueinander. Wie nämlich die transzendentale Freiheit geschichtlich konkret werden muss, so setzt der Vollzug menschlicher Freiheit interne Bedingungen seiner Möglichkeit voraus. Aus diesem Grunde „muss die Theologie sich auf die philosophische Diskussion der Letztbegründung der Subjektivität einlassen“, so Pannenberg programmatisch.4 Pröpper formuliert ähnlich.5 Wie sich beide Ansätze zueinander verhalten, wird im Folgenden bedacht. Ich orientiere mich dabei zunächst an den für jede theologische Anthropologie grundlegenden Begriffen „Gnade“ und „Freiheit“. Denn hier stellt sich wie in einem Brennglas die Frage nach der wechselseitigen Beziehung von Gott und Mensch. Anschließend wird nach den Konstitutionsbedingungen sowohl der Ich-Identität als auch der Freiheit des Menschen gefragt. Die Überlegungen schließen mit einem Ausblick auf die Notwendigkeit, Transzendentalität geschichtlich zu denken.
1.
Gnade und Freiheit
Überraschenderweise fehlt schon in der Anthropologie von Pannenberg, vor allem aber in der Systematischen Theologie ein gesondertes Kapitel zum Thema „Gnade“. Mit Ausnahme eines Artikels im Evangelischen Kirchenlexikon (EKL), das in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von Heinz Brunotte und Otto Weber herausgegeben wurde, findet sich unter den zahlreichen Monographien und Aufsätzen von Pannenberg kein einziger Beitrag, der den Begriff „Gnade“ im Titel trägt.6 Natürlich ist in Pannenbergs umfangreichem Werk wiederholt von der Gnade die Rede, in der Systematischen Theologie besonders auch in ihrer sakramentalen Vermittlung. Im dritten Band begegnet der Begriff „Gnade“ im Zusammenhang mit „Liebe“ dort, wo Pannenberg über die drei göttlichen Tugenden als „fundamentale Heilswirkungen des Geistes im einzelnen Christen“ handelt.7
4 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie und Gottesfrage, in: Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 9–28, hier 22. 5 So vor allem in: Thomas Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip der Dogmatik, in: Evangelium und freie Vernunft, 5–22. Vgl. dazu u. a. Paul Platzbecker, Radikale Autonomie vor Gott denken. Transzendentalphilosophische Glaubensverantwortung in der Auseinandersetzung zwischen Hansjürgen Verweyen und Thomas Pröpper (ratio fidei 19), Regensburg 2003, bes. 89–132. 6 Wolfhart Pannenberg, Art. „Gnade III. Dogmengeschichtlich“ und „Gnade IV. Dogmatisch“, in: Evangelisches Kirchenlexikon, hg. v. Heinz Brunotte / Otto Weber, Bd. 1, Göttingen 1956, 1607–1614. 7 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 222–228.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
Für einen evangelischen Theologen wie Pannenberg ist dessen Zurückhaltung gegenüber dem Begriff „Gnade“ bemerkenswert. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Freiheit berührt die anthropologisch zentrale Frage nach dem Beitrag des Menschen zu seinem Heil und somit auch die Frage nach dem Glauben und dessen Grund. Geht der Glaube aus einer freien und ursprünglichen Entscheidung des Menschen hervor? Wie aber wäre dann dem Verdacht zu entgehen, es handele sich beim Glauben um ein verdienstvolles Werk des Menschen? Oder ist der Glaube bereits in seinem Anfang das Geschenk göttlicher Gnade? Wäre aber dann der Mensch nichts weiter als eine willenlose Marionette Gottes?8 Und mit welchem Recht fiele er dann am Ende aller Geschichte unter das Urteil Gottes? Die so gestellten Fragen sind alles andere als originell; nicht erst und nicht nur im Zeitalter der Reformation waren sie heftig umstritten. An den unterschiedlichen Antworten lässt sich die jeweilige Zuordnung von göttlicher und menschlicher Freiheit ablesen. Um beides geht es Pannenberg ebenso wie Pröpper – mit freilich durchaus unterschiedlichen Akzentsetzungen. Diese gilt es im Folgenden zu profilieren.
2.
Konstitutionsbedingungen des „Ich“
Vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen methodischen Ansätze hat Pannenberg Pröppers durchaus wertschätzende Kritik an seiner Anthropologie in theologischer Perspektive mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Pröppers Beharren auf der Autonomie einer Ich-Instanz, die sich zu dem an sie ergehenden Anruft Gottes im Modus der Zustimmung oder der Ablehnung frei verhalten kann, vermochte Pannenberg nicht zu überzeugen. Ein Defizit seiner eigenen Anthropologie erblickte Pannenberg in dieser Hinsicht nicht. Denn auch bei ihm fehlt keineswegs die Instanz eines Ich, als das sich der Mensch seiner selbst und der Welt bewusst wird, und in der er in der Welt handelt. Nur sei diese Instanz eben nicht ursprünglich gegeben, sondern das je vorläufige Resultat eines geschichtlichen Werdens. Das Ich des Menschen sei keine invariante Instanz humaner Subjektivität und Freiheit, sondern das je vorläufige Resultat einer spannungsvollen Wechselbeziehung zwischen Nicht-Ich und Ich. Diese Wechselbeziehung ist mit dem Begriff „Person“ angedeutet. Der Begriff verweist auf die Geschichtlichkeit des Ich. „Das Wesen der Person ist es, auf anderes
8 Vgl. die berühmte Kontroverse zwischen Erasmus und Luther: Während der Humanist die sittliche Verantwortung des Menschen als Bedingung der Möglichkeit eines göttlichen Urteils über seine Taten anführt, bedient sich der Reformator in seiner Antwort des Bildes vom Lasttier, das nicht darüber befinden kann, von wem es geritten und gelenkt wird (De servo arbitrio [1525], 46: WA 18,635 / Lt.-dt. St.-Ausg. 1,290f).
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bezogen zu sein und in diesem Bezug zu anderem sich selbst zu gewinnen“.9 Die Person unterscheidet sich vom „Selbst“ des Menschen, insofern dieses als Synthese von Erinnerung, Zuschreibung und Erwartung verstanden werden kann. Die Person ist, wie Pannenberg in einer mehrfach gebrauchten Formulierung sagt, „die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich“10 . Das bedeutet umgekehrt: Anders als etwa bei Immanuel Kant verbürgt das menschliche Ich weder sein Person-Sein noch die Identität der Person: „Das Ich für sich genommen tritt in jedem Augenblick unseres Bewusstseinslebens punktuell auf. Es hat von sich aus keine Kontinuität, sondern erlangt sie erst, indem es durch unser Selbstbewusstsein in die Kontinuität unseres Selbst integriert wird, das uns als Bewusstsein unserer Identität gegenwärtig ist“.11
Auf die hier von Pannenberg beanspruchte integrierende Rolle des Selbstbewusstseins ist noch zurückzukommen. Schon jetzt freilich ist klar: Nicht das Ich ist für Pannenberg das Prinzip des Humanum; auch verbürgt es nicht – wie bei Kant – die synchrone und diachrone Einheit der Erfahrung. Vielmehr geht die Personalität des Menschen – seine Bezogenheit auf ein Nicht-Ich – der Ich-Identität des Menschen voraus. Die Personalität erweist sich so als Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität. Theologisch sieht Pannenberg diese anthropologisch folgenreiche Entscheidung dadurch gestützt, dass er die Personalität mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen verknüpft. Zwischen beidem erblickt er „nicht etwa nur strukturelle Gemeinsamkeiten, sondern auch geistesgeschichtliche Verbindungen“.12 Sowohl für die Personalität als auch die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist das Moment der
9 Wolfhart Pannenberg, Christliche Anthropologie und Personalität [1975], in: Beiträge zur systematischen Theologie, Bd. 2: Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung, Göttingen 2000, 150–161, hier 154. 10 Vgl. u. a. Pannenberg, Anthropologie 233; 513 u. ö.; Ders., Person und Subjekt [1976/1979], in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Göttingen 1980, 80–95, hier 92; Ders., Christliche Anthropologie und Personalität, 160. 11 Pannenberg, Christliche Anthropologie und Personalität, 160. – Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], § 1: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person“ (Akad.-Ausg. VII, 127). 12 Wolfhart Pannenberg, Der Mensch – ein Ebenbild Gottes? [1968], in: Beiträge zur systematischen Theologie, Bd. 2: Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung, Göttingen 2000, 141–149, hier 144.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
Relationalität wesentlich: Person bzw. Ebenbild Gottes ist der Mensch durch seine Weltoffenheit und durch seine Gottbezogenheit.13 Versteht man die Personalität des Menschen als Basiskategorie des Humanum, dann ist es folgerichtig, die Ich-Identität des Menschen nicht als ursprünglich, sondern als Resultat der Wechselbeziehung von Ich und Nicht-Ich zu begreifen. Das menschliche Ich erbildet sich aus der Beziehung des Menschen zum Anderen und zur Welt. Damit ist die Ich-Identität des Menschen nicht schon immer gegeben: „Das Ich verdankt seine Stabilität erst der Identität des Selbstseins, die im Prozess der Identitätsbildung gewonnen wird“.14 Weltoffenheit und Ichbezogenheit des Menschen sind nach Pannenberg konstitutiv aufeinander bezogen: Ohne eine Beziehung zur Welt wird der Mensch nicht zum Ich. Vorausgesetzt ist dabei jeweils, dass der Begriff der Person „ursprünglicher ist als der des Subjekts“.15 Auf diese Weise hofft Pannenberg nicht zuletzt, die zerstörerischen Folgen einer sich selbst verabsolutierenden Subjektivität für Mensch und Welt abzumildern.16 Da sich die Weltbeziehung des Menschen ständig ändert, ist auch das Ich keine invariante Instanz humaner Subjektivität. Und weil mit „Welt“ nicht einfach die Gesamtheit aller außerhalb des Menschen anzutreffenden Dinge oder Sachverhalte gemeint ist, erweist sich das Ich als das je vorläufige Resultat eines zunächst unthematischen Ausgriffs auf den transzendenten Horizont aller Wirklichkeit. Pannenberg sieht diese Auffassung in vielfacher Weise bestätigt. So haben Max Scheler (1874–1928) und Arnold Gehlen (1904–1976) die „Weltoffenheit“ als für den Menschen konstitutives Merkmal innerhalb der Evolution des Lebendigen benannt. Damit haben sie Überlegungen Johann Gottfried Herders (1744–1803) zum Ursprung der Sprache fortgeführt und vertieft. „Weltoffenheit“ besagt nach Pannenberg nicht bloß, dass der Mensch wahrnehmend und handelnd auf seine „Umwelt“ bezogen ist. „Weltoffenheit“ meint vielmehr, dass der Mensch „ganz
13 Vgl. Franz-Josef Overbeck, Der gottbezogene Mensch. Eine systematische Untersuchung zur Bestimmung des Menschen und zur „Selbstverwirklichung“ Gottes in der Anthropologie und Trinitätstheologie Wolfhart Pannenbergs (Münsterische Beiträge zur Theologie 59), Münster 2000, bes. 103–240. 14 Wolfhart Pannenberg, Der Mensch als Person [1986], in: Beiträge zur systematischen Theologie, Bd. 2: Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung, Göttingen 2000, 162–169, hier 168. – Vgl. auch Gunther Wenz, Im Werden begriffen (Pannenberg-Studien 7), Göttingen 2021, bes. 323–404. 15 Pannenberg, Christliche Anthropologie und Personalität, 157. 16 „[…] Die infolge der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur aufgetretenen ökologischen Probleme der Gegenwart bilden nur eine andere Seite dieser Problematik der Verselbständigung des Subjekts. […] Der christlichen Anthropologie stellt sich die Aufgabe, einen neuen Begriff der Persönlichkeit des Menschen zu entwickeln, der die Überspitzungen der abstrakten, verselbständigten Subjektivität vermeidet“ (ebd., 156f).
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und gar ins Offene gewiesen [ist]. Er ist über jede Erfahrung, über jede gegebene Situation […], aber auch über jedes mögliche Weltbild hinaus“ ein Fragender und Suchender.17 Pannenberg deutet die „Weltoffenheit“ des Menschen als „Ausdruck der Angewiesenheit des Menschen auf eine alles Vorhandene und alles Endliche überhaupt übersteigende unendliche Wirklichkeit“.18 Denn am Ende wohnt dem Bewusstsein des Menschen eine Dynamik inne, die ihn nach dem letzten Grund von allem fragen lässt. Damit erweist sich die Weltoffenheit des Menschen in letzter Instanz als Gottoffenheit. Die „Exzentrizität“ seines Bewusstseins, so Pannenberg mit einem für die Anthropologie von Helmuth Plessner (1892–1985) zentralen Begriff, verweist den Menschen unausweichlich an Gott. In der Exzentrizität des menschlichen Bewusstseins erblickt Pannenberg einen anthropologischen Reflex des theologischen „extra nos“ Martin Luthers.19 Wie dieser das Wesen des Menschen nicht in einer in-sich-ständigen Substanz erblickte – etwa als animal rationale –, sondern als das Ereignis der Rechtfertigung durch den barmherzigen Gott20 , so gewinnt der Mensch sich selbst nach Pannenberg wesentlich aus der Beziehung zum Anderen. Das aber heißt für Pannenberg: In letzter Instanz gewinnt sich der Mensch aus der Beziehung zu Gott. Denn die als über alles Gegebene hinausgreifende Dynamik des Bewusstseins lässt sich nicht zureichend erklären, wenn nicht ein absolutes Gegenüber angenommen wird, von dem her die Weltoffenheit des Menschen ihre Richtung und ihre Dynamik gewinnt. Darin, dass der Mensch in seinem Streben über das je Gegebene hinaus bewusst oder unbewusst ein absolutes Gegenüber voraussetzt, sieht Pannenberg das Religiöse und die Religionen gegründet.21
17 Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 7 1985, 10. 18 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie und Gottesfrage, 21. 19 So Pannenberg in einer Diskussion mit Otto-Hermann Pesch in der Münchner Katholischen Akademie: vgl. Wolfhart Pannenberg (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös? (Schriften der Katholischen Akademie in Bayern 120), Düsseldorf 1986, 144. – Vgl. zu Luthers Anthropologie u. a. Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967; Johannes-Friedrich Albrecht, Person und Freiheit. Luthers Sicht der Dynamik und Struktur des Personseins und ihre Bedeutung für die Gegenwart (Forum Systematik 41), Stuttgart 2010, bes. 14–124. 20 „Paulus […] breviter hominis definitionem colligit, dicens, Hominem iustificari fide“: Martin Luther, Disputatio De homine [1536], These 32 (WA 39/1, 176 / Lt.-dt. Studienausg. 1, 668f). Luther bezieht sich auf Röm 3,28 Vulg.: „Arbitramur enim iustificari hominem per fidem sine operibus legis.“ 21 Ein „Gottesbeweis“ ist damit nicht intendiert. Denn Pannenberg betont, dass die in letzter Instanz als „Gottoffenheit“ verstandene „Weltoffenheit“ des Menschen die Existenz Gottes keineswegs verbürgt. Sie vermag lediglich einsichtig zu machen, dass die Annahme der Existenz Gottes der Struktur menschlichen Bewusstseins – eben seiner Weltoffenheit – nicht widerspricht. – Vgl. zur religiösen Dimension des menschlichen Weltverhältnisses auch den Beitrag von Klaus Vechtel in diesem Band.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
Diese Argumentation erinnert an die Überlegungen, die René Descartes (1596–1650) in seiner dritten Meditation angestellt hatte. Dort betrachte Descartes – so Pannenberg entgegen verbreiteter Deutung – das menschliche Selbstbewusstsein keineswegs als ursprünglich. Vielmehr ermögliche erst die Annahme der Existenz Gottes die Einheit der Erkenntnis; denn erst sie garantiere die Einheit des erkennenden Bewusstseins, das sich in jedem seiner Akte über das konkret Erkannte immer schon hinaus auf einen alles umgreifenden Horizont ausrichte. Descartes unterstelle die „Intuition des Unendlichen als Bedingung der Vorstellung endlicher Gegenstände“.22 Die Gottesidee erweist sich so nicht als eine Extrapolation oder Negation des Endlichen; vielmehr setzt die Wahrnehmung des Endlichen die Idee des Unendlichen implizit voraus.23 Die Intuition des Unendlichen ermöglicht deshalb auch die Reflexion des Ich auf sich selbst und somit das Selbstbewusstsein des Ich. Während Pannenberg die Überlegungen von Descartes als Bestätigung seiner anthropologischen Grundüberzeugung interpretiert, wonach die Personalität des Menschen seiner Ich-Identität ermöglichend vorausliegt, fragt Pröpper nach der Instanz im menschlichen Bewusstsein, in der das Unendliche – das der Mensch selbst zweifelsfrei nicht ist – in seiner Unterschiedenheit vom Menschen überhaupt erfasst werden kann: „Wie […] sind Vernunft und Freiheit des Menschen, wenn ihre radikale Offenheit schon unmittelbar von Gott erklärt wird, von Gott überhaupt noch unterscheidbar?“24 Die Einzelheiten der unterschiedlichen Interpretationen der dritten Meditation durch Pannenberg und Pröpper können hier auf sich beruhen bleiben. Auch soll nicht weiter untersucht werden, welchen argumentativen Status Pannenbergs Extrapolation der Weltoffenheit des Menschen im Sinne einer Gottoffenheit beanspruchen kann. Einem Verständnis der Debatte zwischen ihm und Pröpper ist der Blick in die umgekehrte Richtung dienlich: Welchen anthropologischen Status kann das menschliche Ich beanspruchen, wenn es sich als Weltoffenheit bzw. als Gottoffenheit vollzieht? Ist es Prinzip oder Resultat der Beziehung zum Anderen seiner selbst?
22 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 380f. – Vgl. René Descartes: „Nec putare debeo me non percipere infinitum per veram ideam, sed tantum per negationem finiti […]; nam contra manifeste intelligo plus realitatis esse in substantia infinita, quam in finita, ac proinde priorem quodammodo in me esse perceptionem infiniti quam finiti, hoc est Dei, quam mei ipsius” (Meditationes III 24: Adam-Tannery VII 45; lat.-dt. von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986, 120). 23 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 22. 24 Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, 374–403, hier 402.
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3.
Anfragen an Pannenberg
Zutreffend erblickt Pröpper in der Bewegung des Transzendierens, in der „ekstatischen Bewegung des Lebens“, den „theologischen Zielgedanken“ von Pannenbergs Anthropologie.25 Deshalb verstehe Pannenberg die Einheit von Ich und Selbst im Selbstbewusstsein des Menschen nicht als Resultat einer Handlung des Ich, sondern als je neu sich ereignendes Geschehen. Diese These verteidigt Pannenberg nicht nur gegen die egologischen Konzeptionen von Kant und Fichte, sondern auch gegen Kierkegaard und Sartre.26 Selbst die Sozialphilosophen Mead und Erikson irrten mit ihrem Beharren auf der Unterscheidung von Ich und Selbst bzw. der Annahme eines Ich, welches den wandelbaren Konzeptionen des Selbst organisierend zugrunde liegt. Nun hat freilich Plessner – darauf weist Pröpper hin – unter „Exzentrizität“ das ursprüngliche Vermögen des Menschen zur Selbstreflexion und zur Distanzierung von sich selbst verstanden. Durch dieses Vermögen unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen. Pannenberg hingegen versteht unter „Exzentrizität“ das Vermögen des menschlichen Bewusstseins, dass Andere „als ein Anderes“ und somit in der Differenz nicht nur gegenüber anderem Anderen, sondern auch gegenüber dem Bewusstsein selbst zu erfassen.27 Hier drängt sich die Frage auf, ob das Bewusstsein des Menschen vom Anderen als einem Anderen nicht ein unmittelbares und unableitbares Vertrautsein des Ich mit sich selbst voraussetzt. Wenn dem so wäre, dann könnte das Ich nicht als Resultat der Erfahrung eines Nicht-Ich gelten. Das Ich wäre vielmehr – und dies ist die Position von Pröpper – als jede Erfahrung des Anderen als eines Anderen ermöglichend notwendigerweise vorauszusetzen. Eben diese Notwendigkeit bestreitet Pannenberg jedoch: „Die Differenz zwischen Pröpper und mir besteht […] nicht darin, dass ich nur die Außenseite der Identitätsbildung betrachte, sondern darin, dass ich die Instanz des Ich nicht wie er als eine unableitbare Urgegebenheit auffasse, sondern als das Ergebnis einer Genese, eines Prozesses der Ichwerdung“.28
Für Pannenberg ist das Ich des Menschen weder ursprünglich gegeben noch das Ergebnis einer Selbstreflexion; es ist vielmehr „vom anderen her“ konstituiert.29 Wie 25 Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, 435, unter Verweis auf Pannenberg, Anthropologie, 509 und 513. 26 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 194–217. 27 Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, 426. 28 Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 242. 29 Pannenberg, Anthropologie, 59; 68; 82.
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aber ist es dann zu verstehen, dass das Ich „durch unser Selbstbewusstsein in die Kontinuität unseres Selbst integriert wird“? Sollte demnach das Selbstbewusstsein jene Rolle übernehmen, die nach Pröpper dem transzendentalen Ich zukommt? Dann aber handelte man sich all jene Schwierigkeiten ein, die sich bei John Locke stellen, wenn dieser die Identität der Person vom Selbstbewusstsein her verstanden wissen will.30 Pannenberg selbst setzt grundsätzlicher an. Gleichwohl wird bei ihm nicht recht klar, worin die Kontinuität des Ich im zeitlichen Geschehen seiner Selbstvermittlung gründet. In seiner 1994 vorgelegten Dissertation hat der Münsteraner Philosoph Klaus Müller deutliche Kritik an Pannenbergs Konzeption des menschlichen Selbstbewusstseins geübt. Auch Müller macht darauf aufmerksam, dass die von Pannenberg angenommene Erkenntnis der exzentrischen Natur des Menschen die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Anderen je schon voraussetzt. Wie jedoch erkennt das Subjekt das Andere als Anderes, ohne bereits über die Fähigkeit zum Erkennen des Anderen zu verfügen und in eins damit sich selbst als vom Anderen unterschiedenes „Ich“ zu wissen? Wird die vorbewusste Selbstidentität vom Anderen her geweckt? Wie aber wäre das möglich, ohne die Differenz zum Anderen und somit unweigerlich auch das Bewusstsein von dieser Differenz schon vorauszusetzen?31 Und wie lässt sich die Integrationsleistung des Selbstbewusstseins verstehen, wenn sie kein transzendentales Ich voraussetzt? In der Bewusstseinstheorie von Dieter Henrich deutet sich eine mögliche Antwort auf die so gestellten Fragen an. Sowohl für Pannenberg als auch für Pröpper stellt Henrichs Ansatz eine maßgebliche Bezugsgröße dar. Henrich erblickt die Wurzeln des menschlichen Selbstbewusstseins in einem präreflexiven Mit-sichvertraut-Sein, nicht aber in einer aktiven Setzung, wie es etwa der frühe Fichte
30 Vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand [1689], Buch II, 27, § 9: „Da das Bewusstsein das Denken stets begleitet und jeden zu dem macht, was er sein Selbst nennt und wodurch er sich von allen anderen denkenden Wesen unterscheidet, so besteht hierin allen die Identität der Person“ (Philosophische Bibliothek 75, Hamburg 1981, 420). – Vgl. Udo Thiel, Individuation und Identität, in: John Locke: Essay über den menschlichen Verstand (Klassiker Auslegen), Berlin 1997, 149–168. 31 Pointiert formuliert Müller: „Die radikale Zurückschneidung der ganzen Subjektthematik auf die Konstituierungsfrage skalpiert das zur Debatte stehende Phänomen und trivialisiert nicht zuletzt den philosophischen Problemgehalt von Subjektivität und Selbstbewusstsein“: Klaus Müller, Wenn ich „ich“ sage. Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbewußter Subjektivität (Regensburger Studien zur Theologie 46), Frankfurt a.M. 1994, 98.
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vermutete.32 Präreflexive Vertrautheit mit sich selbst ist nach Henrich die Bedingung der Möglichkeit, dass der Mensch sich als „Ich“ weiß und als „Ich“ handelt; sie ist aber nicht schon freie Subjektivität und Selbstbewusstsein. Im ursprünglichen Vertraut-Sein mit „sich“ ist zugleich – präreflexiv – die Differenz zum Anderen gegeben. Erst in der spannungsvollen Wechselbeziehung des präreflexiven Selbstbewusstseins mit seiner „Umwelt“ erbildet sich das, was gewöhnlich „Ich“ genannt wird und als dieses „Ich“ allem Denken, Reden und Tun des Menschen zugrunde liegt. Immerhin räumt auch Pannenberg so etwas wie eine „präreflexive Vertrautheit“ des Ich mit sich selbst ein; diese Vertrautheit kann als spezifische Dimension des menschlichen Bezugs zur Wirklichkeit überhaupt gelten.33 Nach Pannenberg gelangt diese ursprüngliche Vertrautheit dann zu Bewusstsein, wenn der Mensch im alles Gegebene transzendierenden Bezug auf das göttliche Gegenüber auch sich selbst als Gegebenheit erfasst.34 Auch hier also betont Pannenberg den genetischen Aspekt des menschlichen Selbstbewusstseins. Nach den Konstitutionsbedingungen freier Subjektivität fragt er nicht. Dementsprechend würdigt Pröpper das hohe Erklärungspotenzial des Ansatzes, hält ihn jedoch für defizitär: „Pannenbergs Untersuchungen erhellen über weite Strecken und in überzeugender […] Weise die faktische Genese und die externen Konstitutionsbedingungen realer menschlicher Identität. Was sie jedoch schuldig bleiben, ist eine Aufhellung der internen Struktur des Subjekts und vor allem ein angemessenes Verständnis menschlicher Freiheit, die in der Unbedingtheit ihres Sichverhaltens und Sichentschließens Pannenbergs (einseitig)
32 Pannenberg und Pröpper beziehen sich vor allem auf Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a.M. 1967 (kritische Wiederaufnahme als: Dies Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken, Frankfurt a.M. 2019). Vor dem Hintergrund egologischer, aber auch nicht-egologischer Erklärungsmodelle für das menschliche Selbstbewusstsein postuliert Henrich einen präreflexiven Grund des Bewusstseins, der nicht selbst die Verfassung von Bewusstsein hat. Vgl. auch Dieter Henrich, Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Rüdiger Bubner u. a. (Hgg.), Hermeneutik und Dialektik (FS Hans-Georg Gadamer), Bd. 1, Tübingen 1970, 257–284; Ders., Fichtes „Ich“, in: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, 57–82; Ders., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, 11–27. 33 Paradigmatisch hierfür nennt Pannenberg die primäre Erfahrung des Vertrauens in die symbiotische Einheit des Säuglings mit seiner Mutter. 34 Magnus Lerch charakterisiert präreflexive Vertrautheit als ein „intuitives Spüren, Erahnen und Gewahrwerden, das aber eben nicht reflexiv und explizit ist; ein Bewusstsein, das kein direktes Wissen ist, aus dem heraus ich frei agieren kann; ein Bei-sich-Sein, das nicht aus Reflexion entsteht, sondern umgekehrt ihre Voraussetzung bildet“: Aaron Langenfeld / Magnus Lerch, Theologische Anthropologie, Paderborn 2018, 131f.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
genetischer Untersuchung nicht einmal in den Blick kommt. Im Gegenteil: Da Freiheit von vorneherein nur als „reale Möglichkeit“ des Selbstseins konzipiert ist, bleiben Möglichkeit und Reichweite der „formalen Freiheit“ vom jeweiligen Verständnis dieser realen Möglichkeiten abhängig und an sie als ihr „Bewegungsfeld“ gebunden“.35
Pannenbergs Reflexionen über den Grund menschlicher Freiheit können Pröpper nicht überzeugen. Freiheit aber macht nach Pröpper das Eigentümliche des Menschen nicht nur in der Unterschiedenheit gegenüber anderem bewussten Leben aus, sondern auch im Gegenüber zu Gott. Deshalb ist es für Pröpper unausweichlich, sich über das Wesen der Freiheit und über ihre Konstitutionsbedingungen Rechenschaft abzulegen. Zu diesen zählt nach Pröpper die Annahme eines allen Freiheitsvollzügen zugrunde liegenden Ich. Nur so meint er die Differenz zwischen Gott und Welt wahren zu können. Und nur so scheint ihm ein dialogisches Verhältnis von Gott und Mensch denkbar zu sein.
4.
Konstitutionsbedingungen menschlicher Freiheit
Die formale Unbedingtheit des Ich, die sich als Spontaneität und Kreativität vollzieht, ist nach Pröpper der Grund einer aller Relationalität vorausgehenden Identität des Subjekts mit sich selbst. Sie ist die transzendentale Möglichkeitsbedingung nicht nur aller Bewusstseinsleistungen des Menschen, sondern auch aller seiner Freiheitsvollzüge. Und sie ist der seiner Auffassung nach notwendig zu unterstellende Grund für eine dialogische Beziehung zwischen Mensch und Gott. Unübersehbar sind Pröpper und Pannenberg von einem unterschiedlichen Freiheitsverständnis geleitet. Pannenberg versteht Freiheit als Fähigkeit, den eigenen Willen vom unmittelbar Gegebenen zu distanzieren und auf das jeweils als „gut“ Erkannte auszurichten. Dann aber ist das Bewusstsein der Freiheit nicht ursprünglich. Es ist vielmehr vom Wissen um das Gute allererst geweckt. Denn erst „das noch so vage Wissen um das Gute ermöglicht die Distanznahme im Verhältnis zu unmittelbar auf uns einwirkenden Reizen“.36 Konkret bedeutet dies, dass nicht nur das Selbst- und Weltbewusstsein, sondern auch das Bewusstsein der Freiheit des Menschen aus dem antizipierten Bewusstsein eines transzendenten Gegenübers hervorgehen. Dieses Gegenüber ist zunächst eine womöglich noch vage Idee des Guten, in letzter Instanz jedoch die Idee des
35 Pröpper, Anthropologie, Bd. I, 432, unter Bezug auf Pannenberg, Anthropologie, 233; 111; 371. 36 Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 239.
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unbedingt Guten, d. h. Gottes. Erst der Gottesbezug verbürgt demnach „Grund und Wesen“ menschlicher Freiheit.37 Wird allerdings der Gottesbezug als Konstitutionsgrund menschlichen Bewusstseins und menschlicher Freiheit aufgefasst, dann kann es gegenüber Gott keine formal unbedingte Freiheit geben. Denn dann verfehlt der Mensch sein Wesen, wenn er sich gegenüber dem ihn konstituierenden Grund verschließt. Dies gilt nicht nur für das Bewusstsein des Menschen, sondern auch für die Praxis der Freiheit. Entschieden weist Pannenberg die Vorstellung zurück, Grund der Freiheit sei ein unbedingtes sich Entschließen-Können für das Gute oder das Böse. Bereits die Tatsache, dass Menschen auch das objektiv Böse stets „unter dem Anschein des Guten“ (sub ratione boni) wählen, lasse erkennen, dass Freiheit nur so zu verstehen ist, dass sich Menschen durch ihren Gebrauch für das entscheiden, was sie für das Gute halten. In dieser Perspektive erscheint Freiheit nicht als indifferente Selbstbestimmung oder Willkür, sondern als Anruf, entsprechend dem jeweils als „gut“ Erfassten und zugleich im Einklang mit der eigenen Bestimmung zu handeln: „Der Anruf der Freiheit geht […] immer auf die Übereinstimmung des Verhaltens mit der eigenen Bestimmung. Darum begründet er die Freiheit zum Guten, nicht aber eine Freiheit der Wahl zwischen dem Guten und seinem Gegenteil“.38
Weil objektiv Böses immer sub ratione boni gewählt wird, sei die Vorstellung von einer Wahl des Bösen als Böses „eine wirklichkeitsfremde Konstruktion“. Dies gilt nach Pannenberg auch für die Freiheit in ihrem Verhältnis zu Gott, insofern Gott als Inbegriff des Guten gelten kann: „Ebensowenig wie eine Freiheit gegenüber dem Guten gibt es eine Freiheit gegenüber Gott als dem Grunde des eigenen künftigen Selbstseins und somit Inbegriff des Guten“.39 Zweifellos wird man Pannenbergs Identifikation Gottes mit dem „Inbegriff des Guten“ zustimmen können. Und auch, dass selbst das objektiv Böse noch stets sub ratione boni gewählt wird, leuchtet ein. Man kann sich jedoch fragen, was mit Pannenbergs These überhaupt gewonnen ist. Wenn in jeder menschlichen Entscheidung – sei es zum objektiv Guten, sei es zum objektiv Bösen – die Wirklichkeit Gottes als Inbegriff des Guten explizit oder implizit mitgesetzt ist, welchen Erklärungswert kann ein solcher Begriff von Freiheit dann noch beanspruchen? Mit Recht bemerkt Pannenberg, der Begriff einer Wahl „gegenüber dem Guten“ – treffender vielleicht: eine Wahl zwischen dem Guten oder Bösen – sei „in sich
37 Pannenberg, Anthropologie, 372. 38 Pannenberg, Anthropologie, 113. 39 Ebd., 113.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
widersprüchlich“40 ; denn auch das Böse wird stets sub ratione boni gewählt. Auch wird man Pannenberg zustimmen können, wenn er die Unfreiheit des Willens darin erblickt, „dass der Mensch das objektiv für ihn Schlechte als ein Gutes betrachtet und es darum wählt“41 . Alles dies aber macht den Begriff einer ursprünglich zwischen Alternativen getroffenen Wahl nicht überflüssig. Dass die Realität formal unbedingter Freiheit nicht empirisch bewiesen, sondern nur gedacht werden kann, steht dem nicht entgegen. Schon Immanuel Kant hat in seiner dritten „Antinomie der reinen Vernunft“ die Unmöglichkeit aufgewiesen, die Existenz von Freiheit zu beweisen.42 Andererseits ist Freiheit vorauszusetzen, soll weiterhin sinnvoll von sittlicher Verantwortung, Pflicht oder Schuld die Rede sein. Freiheit kann nicht erkannt, wohl aber gedacht werden. Im Anschluss an Leibniz begreift Kant deshalb transzendentale Freiheit als ein Postulat der praktischen Vernunft. Nur so meint er, weiterhin von sittlicher Zurechenbarkeit (Imputabilität) sprechen zu können. Zugleich ist mit dem transzendentalen Begriff der Freiheit die unbedingte Spontaneität ihres Grundes gesetzt; denn Freiheit lässt sich nicht naturalisieren.43 Nach Kant macht es gerade das Wesen von Freiheit aus, von jeder Naturkausalität unterschieden zu sein. Pröpper schließt sich dieser Auffassung an; auch er erblickt in der Annahme eines transzendentalen Ich die unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit sittlicher Zurechenbarkeit. Mehr noch: Ohne die Annahme eines transzendentalen Ich lasse sich die Identität des sittlichen Subjektes durch alle geschichtlichen und biographischen Wandlungen hindurch nicht denken. Allein die Annahme einer Instanz formaler Unbedingtheit im Menschen erlaube es, die Identität des Ich in den Umwegen einer jeden Biographie zu wahren. Pannenbergs Konzeption des Ich als eines je vorläufigen Resultats der Wechselbeziehung zwischen Nicht-Ich und Ich vermöge dies nicht zu leisten.
5.
Die Legitimität des Unglaubens
Indem Pannenberg das unbedingt Gute mit Gott identifiziert, kann er schlussfolgern, dass die menschliche Freiheit erst durch die Anerkennung Gottes ihre Bestimmung erlangt. Lässt sich dann aber in Bezug auf Gott noch eine Wahlfreiheit
40 Pannenberg, Anthropologie, 114. 41 Pannenberg, Anthropologie, 115. 42 Vgl. dazu einführend: Lothar Kreimendahl, Die Antinomie der reinen Vernunft, 1. und 2. Abschnitt (A405/B432–A461/B489), in: Georg Mohr / Marcus Willaschek (Hg.), Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Klassiker Auslegen 17/18), Berlin 1998, 413–446. 43 Vgl. Saskia Wendel, Nicht naturalisierbar: Kants Freiheitsbegriff, in: Georg Essen / Magnus Striet (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005, 13–45, bes. 15–26.
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begründen? Kann man in Bezug auf Gott noch von einer Autonomie kreatürlicher Freiheit sprechen? Pröpper jedenfalls erblickt in Pannenbergs Konzept eine theonome Bestimmung menschlicher Freiheit, die jede frei vollzogene Abkehr von Gott nicht nur als illegitim, sondern als Selbstverfehlung menschlicher Freiheit erscheinen lässt.44 Wenn nämlich das Ich des Menschen aus seiner Bezogenheit auf die Welt und damit letzten Endes aus Gott hervorgeht, dann scheint ein freies Gegenüber zu Gott nicht denkbar. Jeder Anspruch auf Selbstbegründung oder Unbedingtheit hätte dann zur Folge, dass der Mensch in einen Widerspruch zu sich selbst geriete. Demgegenüber hat Klaus Müller gefragt, ob sich nicht ein wirkliches Gegenüber des Menschen zu Gott denken lässt, ohne dieses Gegenüber gleich als „gegen“ verstehen zu müssen.45 Ist das menschliche Bemühen um Selbsterhaltung und Selbstverstehen unweigerlich als sündhafte Hybris gegenüber einem göttlichen Grund zu deuten? Pröpper jedenfalls bestreitet dies: Nicht schon die bloße Existenz menschlicher Subjektivität im Gegenüber zu Gott ist Sünde, sondern erst ihre Verselbständigung im Gegenzug zu Gott. Erst die explizite Nicht-Anerkennung Gottes in Theorie und Praxis wird demnach „Sünde“ genannt werden dürfen. Nun vertritt Pannenberg genau diese Auffassung: „Nicht die Subjektivität als solche, erst ihre Verselbständigung gegenüber der Gottesbeziehung steht im Gegensatz zum christlichen Schöpfungsglauben“.46 Wo also genau liegen die Differenzen zwischen einem egologischen und einem nicht-egologischen Verständnis des Menschen? Weiterhin wohl eben dort, wo der Selbstvollzug menschlicher Subjektivität in radikaler Autonomie gedacht wird, und deshalb auch die bewusste Abkehr von Gott als reale Möglichkeit endlicher Freiheit gedacht wird, und wo die freie Subjektivität des Menschen nur dann ihrem Wesen entspricht, wenn sie sich vom unbedingt Guten her konstituiert weiß und auf dieses hin ausrichtet, wo also Gott als „Konstitutionsgrund und höchstes Gut der Subjektivität“ gedacht wird.47 Man kann sich allerdings fragen, ob aus der impliziten Anerkennung des unbedingt Guten in jedem Vollzug menschlicher Freiheit überhaupt normative Ansprüche abgeleitet werden können – und zwar normativ in dem Sinne, dass die ja immer auch mögliche Verweigerung des Menschen gegenüber dem Guten nicht nur als Schuld, sondern als „Sünde“ zu qualifizieren wäre. Nun kann sich aber der Mensch nach Pannenberg gar nicht ausdrücklich gegen das Gute entscheiden; denn auch das Böse wählt er ja stets sub ratione boni. Auch ein möglicher Irrtum über das Gute oder das sittlich Gebotene lässt die jeweilige Wahl unter dem Anschein des
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So u. a. Pröpper, Anthropologie, Bd. 1, 435. Müller, Wenn ich „ich“ sage, 109. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 49. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 46.
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Guten erfolgen. Dann aber ist auch keine radikale Abkehr vom unbedingt Guten – also Gott – denkbar. Erneut stellt sich damit die Frage nach den normativen Implikationen der für menschliches Handeln nach Pannenberg ja unausweichlichen Orientierung am Guten. Der Mensch kann im Vollzug seiner Freiheit das Gute ja gar nicht nicht wählen. Und folglich kann er auch das absolut Gute nicht nicht wählen. Er kann also gar nicht „sündigen“ – wenn denn die Sünde als willentlich vollzogene Abkehr von Gott verstanden werden soll.
6.
Freiheit als Prinzip des Glaubens
Im Anschluss an Fichtes Anerkennungslehre und deren Fortentwicklung durch den Münchner Philosophen Hermann Krings erblickt Pröpper in der – zumindest ihrer Intention nach – unbedingten Anerkennung anderer Freiheit um ihrer selbst willen die Bestimmung von Freiheit überhaupt.48 Auf dieser Grundlage erscheint nicht nur die Anerkennung der Freiheit des Anderen, sondern auch die Anerkennung der unendlichen Freiheit Gottes als Zielbestimmung der endlichen Freiheit des Menschen. In dieser Hinsicht stimmen Pannenberg und Pröpper weitgehend miteinander überein. Sie unterscheiden sich freilich hinsichtlich ihrer Einschätzung menschlicher Freiheit. Nach Pröpper setzt die freie Anerkennung anderer Freiheit die Autonomie jener Instanz voraus, welche sie vollzieht. Nur eine sich autonom für Gott entscheidende Freiheit entspreche ihrem Wesen und ihrer Bestimmung. Um als frei gelten zu können, muss die Antwort des Menschen auf den Anruf Gottes als in jeder Hinsicht ungeschuldet und deshalb formal unbedingt gedacht werden, so Pröpper.49 Zwar wird sie durch die – wie auch immer vermittelte – Begegnung mit dem einladenden und den Menschen wohlwollenden Gott erweckt. Auch lassen sich für den frei vollzogenen Glauben gute Gründe anführen. Deshalb ist der Glaube nicht ausschließlich Gottes Werk, sondern auch Werk des Menschen.
48 Vgl. Hermann Krings, Freiheit – Ein Versuch Gott zu denken, in: System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze (Praktische Philosophie 12), Freiburg i.Br. u. a. 1980, bes. 171–176. – Zur egologischen Bewusstseinstheorie von Krings und Pröpper (im Gegensatz zu Henrich und Pannenberg) vgl. Magnus Lerch, All-Einheit und Freiheit. Subjektphilosophische Klärungsversuche in der MonismusDebatte zwischen Klaus Müller und Magnus Striet (Bonner dogmatische Studien 47), Würzburg 2009, 133–157. 49 Pröpper, Das Faktum der Sünde, 282.
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Oder, mit Augustinus gesprochen: „Der dich ohne dich geschaffen hat, will dich nicht ohne dich erlösen“.50 In seinem Rechtfertigungsdekret hat das Konzil von Trient von einem mehrstufigen Prozess der Rechtfertigung gesprochen: Gottes zuvorkommende Gnade befähigt den Sünder dazu, sich der Gnade Gottes so zu öffnen, dass diese anschließend rechtfertigend wirksam werden kann.51 Allerdings kann sich der Mensch der rechtfertigenden Gnade auch aus freien Stücken verschließen.52 Jedenfalls verhält sich der Mensch der göttlichen Gnade gegenüber nicht ausschließlich passiv (mere passive).53 Pröpper leugnet weder, dass die reale Geschichte menschlicher Freiheit in vielfacher Weise bedingt ist noch, dass sie durch Selbstverfehlung und Schuld charakterisiert ist. Dennoch besteht er auf der Fähigkeit des Menschen, sein Handeln im Guten wie im Bösen letztinstanzlich frei zu verantworten. Anders meint er den Begriff „Freiheit“ nicht sinnvoll gebrauchen zu können. Freiheit ist nach Pröpper der Wurzelgrund des Unglaubens wie auch des Glaubens. Denn Glaube ist das „Geschehen […], in dem eine Freiheit […] sich selbst dazu bestimmt, dass sie in Gottes zuvorkommende Liebe einstimmt und von ihr sich bestimmen lässt“.54 Im Glauben kommt „die freie Menschenzuwendung Gottes durch die ihr entsprechende Antwort des Menschen zum Ziel“.55 Die Antwort des Glaubens ist nach Pröpper nur als Antwort der Freiheit denkbar. Sie gründet in einem freien Selbstvollzug des Menschen von der Art, dass sich der Mensch dazu bestimmt, sein Selbstsein – und somit seine Identität – „in der zuvorkommenden Gegenwart Gottes und seiner unbedingt bejahenden Liebe“ zu gründen.
50 Augustinus, Sermo 169, 11,13 (zu Phil 3,3): „Qui ergo fecit te sine te, non te iustificat te sine te” (CpChL 41Bb [2016] 418374–375 ). – Augustins Gnadenlehre ist keineswegs frei von internen Spannungen. Vgl. dazu u. a. Jürgen Werbick, Gnade, Paderborn 2013, 34–50. 51 Vgl. Concilium Tridentinum, Decretum de iustificatione (13. Jan. 1517), cap. 5–7 (DzH 1525–1531 = COeD 672–674). 52 Vgl. zur „obex“-Lehre des Konzils von Trient (DzH 1606 = COeD 684; vgl. 1525 = COeD 672). Vgl. Michael Greiner, Gottes wirksame Gnade und menschliche Freiheit. Wiederaufnahme eines verdrängten Schlüsselproblems, in: Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 2, Freiburg i.Br. 2011, 1351–1436, hier 1352f. 53 Zu „mere passive“ vgl. Ingolf U. Dalferth, Mere passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, in: Bo Kristian Holm / Peter Widman (Hg.), Word – Gift – Being: Justification – Economy – Ontology (Religion in philosophy and theology 37), Tübingen 2009, 43–71; Christiane Schubert, Mere passive? Inszenierung eines Gesprächs über Gnade und Freiheit zwischen Eberhard Jüngel und Thomas Pröpper (ratio fidei 55), Regensburg 2014. 54 Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 3 1991, 17. 55 Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 257.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
Ein solches Glaubensverständnis reduziert den Glaubensakt keineswegs auf das bloße Vermögen menschlicher Freiheit. Dem Verdacht eines gnadentheologischen Pelagianismus entgeht Pröpper vielmehr dadurch, dass er darauf besteht, dass erst Gottes in Jesus von Nazareth geschichtlich sich offenbarende Liebe den Menschen dazu befreit, sich angstfrei und rückhaltlos dem ihn unbedingt liebenden Gott anzuvertrauen.56 Dieses Vertrauen allerdings ist nach Pröpper eine von der freien Vernunft vollbrachte Tat. Ausgespannt zwischen Angst und Vertrauen entscheidet sich der Mensch für den Glauben an einen Gott, der die Macht hat, Sünde und Tod zu überwinden. Pannenberg wiederum bestreitet keineswegs die Dimension der Freiheit im Glaubensakt. Vielmehr verbindet auch er den Anfang des Glaubens mit einem Akt der Zustimmung (assensio).57 Allerdings identifiziert Pannenberg als Grund des Vertrauens und der Glaubenszustimmung keine formal unbedingte Ich-Instanz im Menschen. Vielmehr ratifiziert der Mensch im Akt des Glaubens jene exzentrische Struktur, die das Menschsein insgesamt ausmacht, und in der er letzten Endes auf Gott als den transzendentalen Horizont der Welt wie auch der Geschichte verwiesen ist.58 In welcher Instanz aber vollzieht der Mensch seinen Glauben, wenn das Ich des Menschen immer schon durch seine Weltoffenheit bzw. Gottbezogenheit konstituiert ist? Nach Pröpper erlaubt es allein der Begriff transzendentaler bzw. formal unbedingter Freiheit, die Ansprechbarkeit der menschlichen Freiheit für die göttliche Gnade zu denken. Anders als Pannenberg unterstellt er beim Menschen eine Instanz, die sich vor aller Bezogenheit und deshalb in einer ursprünglichen Weise zu dem an sie ergehenden Anspruch Gottes verhalten kann. „Ohne diese Voraussetzung, die der Differenz von Gottes Schöpfungs- und Gnadenhandeln entspricht, würde seine Gnade nicht nur den alten Menschen erneuern, sondern allererst ihren Empfänger erschaffen: ein ganz anderes, nicht mehr mit dem früheren selbiges Subjekt, ja nicht einmal (fürchte ich) ein Subjekt: müsste doch der Glaube, wenn das
56 Vgl. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, bes. 194–198. 57 Dazu verweist Pannenberg auf Melanchthons Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein vom jeweiligen Inhalt (notitia) des Glaubens, dem sich selbst investierenden Vertrauen (fiducia) und der freien Zustimmung zum Glaubensakt und zum Glaubensinhalt (assensio): Wolfhart Pannenberg, Wahrheit, Gewissheit und Glaube [1978], in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Göttingen 1980, 226–264, bes. 238–244. Vgl. auch Ders., Glaube und Vernunft [1965/66], in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Göttingen 1967, 237–251, sowie Ders., Systematische Theologie, Bd. 3, 160–163. 58 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, bes. 193f.
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ursprüngliche Gegenüber des Menschen zu Gott nicht mehr gedacht und nicht denkbar wäre, als bloßes Appendix eines letztlich gottinternen Geschehens erscheinen“.59
Demnach ist die Fähigkeit des Menschen, Gottes Offenbarung zu vernehmen und auf sie frei zu antworten, durch die Sünde womöglich getrübt, nicht jedoch zerstört. Selbst dann, wenn Gottes Gnade die durch die Sünde getrübte Antwortfähigkeit des Menschen allererst wiederherstellt, ist nach Pröpper ein Restbestand dieser Antwortfähigkeit einzuräumen, soll Gottes Offenbarung nicht als ein Selbstgespräch verstanden werden müssen. Gäbe es keine Autonomie endlicher Freiheit im Gegenüber zu Gott, dann wäre Gott mindestens mit einer Teilverantwortung für das von Menschen verursachte Übel belastet, so Pröpper. Denn dann drängte sich die Frage auf, warum Gott die Übeltäter nicht durch seine wirksame Gnade zum Guten bekehrt hat. Nein: Gottes Gnade erneuert den Menschen, erschafft ihn aber nicht. Andernfalls hätte sie es mit einem Adressaten zu tun, dessen Identität mit dem „alten Menschen“ mindestens fragwürdig wäre.60
7.
Transzendentalität geschichtlich denken?
Das formal unbedingte „Sich-zu-anderer-Freiheit-verhalten-Können“ endlicher Freiheit nennt Pröpper „selbstursprünglich“. Damit ist keineswegs gemeint, die menschliche Freiheit stehe für ihre eigene Existenz selbst ein. „Selbstursprünglichkeit“ ist nicht „Selbstursächlichkeit“. Ohne den liebend-schöpferischen Gott gäbe es die geschaffene Freiheit nicht.61 Gemeint ist vielmehr die in und trotz aller materialen Bedingtheit in transzendentaler Perspektive vorauszusetzende prinzipielle Fähigkeit eines „Immer-auch-anders-Könnens“. Saskia Wendel betont einen weiteren Aspekt unbedingter Freiheit: Über ein „Immer-auch-anders-Können“ hinaus impliziert jeder Akt der Freiheit immer auch die Fähigkeit zu einem kreativen Neubeginn.62
59 Thomas Pröpper, Gott hat auf uns gehofft… Theologische Folgen des Freiheitsparadigmas [1999], in: Evangelium und freie Vernunft, Freiburg i.Br. 2001, 300–321, hier 302. 304. 60 Thomas Pröpper, Freiheit als philosophisches Problem theologischer Hermeneutik, in: Evangelium und freie Vernunft, 5–22, hier 19. 61 Sie ist ontologisch keine „causa sui“. Zur Herkunft des Begriffs aus der politischen Praxis vgl. Stanislas Breton, Réflexions sur la „Causa sui“, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 70 (1986) 349–364. 62 Vgl. Saskia Wendel, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020, 117–129.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
Wendels Hinweis kann womöglich dazu beitragen, Pannenbergs Vorbehalt gegenüber dem Verständnis von Freiheit als „Auch-anders-Können“ zu entkräften. In einem Beitrag von 1958 hat Pannenberg ein solches Verständnis von Freiheit als „Freiheitsillusion“ gebrandmarkt.63 Seiner Auffassung nach ist auch die als unbedingte Wahlfreiheit verstandene Freiheit gehaltvoll bestimmt, nämlich durch das Ideal der Bindungslosigkeit und der Unabhängigkeit von allen Inhalten. Es ist aber mehr als fraglich, ob Pannenberg mit dieser Kritik den transzendentalen Freiheitsbegriff – wie ihn etwa Krings seinerzeit bereits vertreten hat, und wie er auch schon bei Fichte konzipiert ist, nämlich als Anerkennung anderer Freiheit – nicht verfehlt. In transzendentallogischer Perspektive nämlich ist der sich öffnender Freiheit allein angemessene Gehalt nichts anderes als wiederum Freiheit. Und auf der Ebene realer Freiheit vollzieht sich das Sich-Öffnen der formal unbedingten Freiheit für andere Freiheit als Anerkennung anderer Freiheit – oder genauer: als Anerkennung der Freiheit des Anderen. Deshalb läuft Pannenbergs zur Entscheidung gestellte Alternative, „ob jeder Glaube an Gott die Verleugnung der Freiheit bedeuten muss oder ob der Ursprung der Freiheit selbst in der religiösen Thematik des Lebens zu suchen ist“, ins Leere.64 Ist nämlich der sich öffnender Freiheit angemessene Gehalt wiederum Freiheit, dann gibt es keinen Widerspruch zwischen der „Freiheit als Selbstkonstitution des Subjekts“ einerseits und dem Widerfahrnis der Freiheit als Befreiung der Freiheit andererseits, wie sie Pannenberg von einer theonomen Begründung menschlicher Freiheit erwartet. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die inhaltliche Übereinstimmung von Pröpper und Pannenberg hinsichtlich der Frage verstehen, worin die Freiheit des Menschen ihre Erfüllung findet. Weil beide die Wirklichkeit Gottes als unbedingte Freiheit begreifen, erkennen sie beide im vertrauenden Sich-Einlassen des Menschen auf die Sünde und Tod überwindende Macht Gottes nicht nur einen Akt des Glaubens, sondern zugleich und in eines damit die Vollendung menschlicher Freiheit. Für Pröpper ebenso wie für Pannenberg ist die vertrauensvolle Zustimmung des Menschen zur Wirklichkeit Gottes durch die Begegnung mit anderen Menschen vermittelt: „Die göttliche Wirklichkeit, auf die der religiös wache Mensch sich in der Struktur seiner Subjektivität verwiesen findet, begegnet als Wirklichkeit nur im Zusammenhang
63 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Christlicher Glaube und menschliche Freiheit, in: Kerygma und Dogma 4 (1958) 251–280, bes. 261f. 64 Pannenberg, Anthropologie und Gottesfrage, 22.
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der Welterfahrung, indem Freiheit im Zusammenhang der geschichtlichen Welt eines Menschen in jeweils bestimmter Weise Ereignis wird“.65
Ähnlich entspricht nach Pröpper die menschliche Freiheit dadurch ihrer Bestimmung, dass sie andere Freiheit anerkennt. Unter den Bedingungen der Endlichkeit ist solche Anerkennung unausweichlich symbolisch vermittelt: Sie vollzieht sich in endlichen Zeichen, Gesten und Taten, in denen sich die formal unbedingte Entscheidung der Freiheit konkretisiert. Dass sich die von Pröpper als formal unbedingt vorausgesetzte Freiheit des Menschen in geschichtlicher Konkretheit symbolisch verwirklicht, macht auf eine Problematik aufmerksam, deren Diskussion den Rahmen dieses Beitrags freilich überschreitet: Müsste nicht – darin über Pröpper hinausgehend – auch von einer „Geschichtlichkeit der Transzendentalität“ gesprochen werden? Damit wäre dann auch einem wesentlichen Anliegen von Pannenberg entsprochen. Wiederholt haben sich Philosophen wie Richard Schaeffler oder Jean-Luc Marion um ein geschichtliches Verständnis von Transzendentalität bemüht. Schaeffler etwa verweist auf Erfahrungen von Wirklichkeit, die bisherige Kategorien und Schemata der Wahrnehmung in Frage stellen und langfristig verändern. Und nach Marion meldet sich im „gesättigten Phänomen“ (phénomène saturé) eine Evidenz an, welche die geläufigen Schemata des Erkennens in Frage stellt und so eine Veränderung des menschlichen Bewusstseins erzwingt. Beide Philosophen weisen darauf hin, dass der Mensch keine neuen Einsichten erlangen könnte, wenn alles Wahrgenommene und Erkannte durch unveränderliche Kategorien des Verstandes immer schon prädefiniert wäre.66 Diesen Hinweisen auf die mögliche Denkbarkeit einer geschichtlichen Transzendentalität kann hier nicht weiter nachgegangen werden.67 Sie verdeutlichen aber, dass die unterschiedlichen Akzentsetzungen von Pröpper und Pannenberg geeignet sind, einen über beide Theologen hinausweisenden Reflexionsprozess über die Verhältnisbestimmung von Gnade, Ich-Identität und Freiheit in Gang zu bringen. 65 Pannenberg, Anthropologie und Gottesfrage, 26. 66 Vgl. dazu Dirk Ansorge, Wirklichkeit, Symbol und Bedeutung. Anthropologische Grundlagen einer fundamentalen Sakramententheologie, in: Jan-Heiner Tück / Magnus Striet (Hg.), Jesus Christus – Alpha und Omega. Für Helmut Hoping, Freiburg i.Br. u. a. 2021, 472–496, bes. 479–488 (zu Schaeffler und Marion). 67 Vgl. Klaus Müller, Transzendentalität und Geschichtlichkeit. Überlegungen im Anschluss an Richard Schaefflers theologiesensiblen Vernunftbegriff, in: Thomas M. Schmidt / Siegfried Wiedenhofer (Hg.), Religiöse Erfahrung. Richard Schaefflers Beitrag zu Religionsphilosophie und Theologie, Freiburg i.Br./München 2010, 142–160. Müller weist auf den Umstand hin, dass die wissende Selbstbeziehung des Menschen unhintergehbar geschichtlich geprägt ist (149). Damit aber seien auch die „Bestimmungsformen“ – Kant hätte wohl von „Kategorien“ gesprochen – geschichtlich zu denken.
Gnade, Ich-Identität und Freiheit im Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper
8.
Zur Komplementarität der Ansätze
Wie lassen sich – dies abschließend gefragt – die unterschiedlichen Ansätze von Pannenberg und Pröpper in den Rahmen einer theologischen Anthropologie einordnen? Der Kölner Dogmatiker Magnus Lerch hat vorgeschlagen, transzendentale Reflexion einerseits und phänomenologisch-genetische Reflexion andererseits als „kritisch-komplementär“ zueinander zu verstehen.68 Gehe es Pröpper um eine geltungstheoretische Begründung der Möglichkeit von Glaubenserfahrungen, so Pannenberg um deren Interpretation. Beide Perspektiven seien aufeinander verwiesen, um den Akt des Glaubens in seiner doppelten Dimension als Selbstvollzug des Menschen und als ermöglichende Gabe Gottes zu verstehen. Denn dass Gottes Gnade im Menschen „nicht ohne“ dessen Zustimmung wirksam wird, besagt nicht, dass Gottes Gnade im Menschen „durch“ dessen Zustimmung wirkt.69 Der Glaube erweist sich so als Selbstvollzug des Menschen, bei dem Aktivität und Passivität übereinkommen: Sich von Gottes Gnade „aktiv in Anspruch nehmen lassen“, sich von ihr „ergreifen lassen“, ist Ausdruck einer Freiheit, die darin einstimmt, dass über sie frei verfügt wird. „Einstimmen“ setzt aber ein Subjekt voraus, das für diesen Akt verantwortlich ist. Das schließt nicht aus, dass der Entschluss, sich der göttlichen Wirklichkeit rückhaltlos auszuliefern, wenn er einmal gefasst ist, grundsätzlich keine Alternativen zulässt. Er ist vielmehr weiterhin und je neu vor die Möglichkeit gestellt, „auch anders“ zu können. Allerdings macht es das Wesen entschiedener Freiheit aus, mögliche Alternativen gerade nicht ständig und ernsthaft zu erwägen. Denn erst eine verlässlich getroffene Entscheidung ermöglicht ein konstruktives Miteinander von Menschen, insofern diese sich nicht ständig darüber verständigen müssen, welche Absichten der Andere gerade hegt. Der Vollzug einer solchen Freiheit setzt die Freiheit von Angst und somit Vertrauen (fiducia) voraus. Im zwischenmenschlichen Bereich lassen sich leicht Analogien für ein solches Verhalten finden – etwa im lebenslangen Treueversprechen zweier Menschen. Wovon ein Mensch den Eindruck gewinnt, dass es ihn unbedingt angeht, das kann er frei als seine Existenz bestimmend wählen. Passivität und Aktivität gehen ineinander über und bleiben doch voneinander unterschieden. Entsprechendes gilt auch im Heilsgeschehen. Bereits im zwischenmenschlichen Raum erzwingt die freie Zustimmung, über sich verfügen zu lassen, keine Aufkündigung von Wahrnehmung, Verstand und 68 Magnus Lerch, Freiheit des Menschen und Wirksamkeit der Gnade – Verbindung von transzendentaler und existenzieller Perspektive in gnadentheologischer Ansicht, in: Aaron Langenfeld / Magnus Lerch, Theologische Anthropologie, Paderborn 2018, 213–243. 69 Ebd., 215; 237.
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Urteilsvermögen. Vielmehr wählt das freie und seiner selbst bewusste Subjekt das, wovon es sich berühren und verwandeln lässt, in möglichst klarem Bewusstsein von seinem Gegenstand. Das Subjekt entscheidet sich für das, wovon es nach reiflichem Erwägen den wohlbegründeten Schluss zieht, sich ihm trotz aller Unwägbarkeiten anvertrauen zu dürfen. Das gelingt umso besser, je mehr ein doppeltes Vertraut-Sein gegeben ist: ein Vertraut-Sein des Ich mit sich selbst und zugleich ein Vertraut-Sein des Ich mit der Welt und dem Anderen. Und dieses „Vertraut-Sein-mit“ ist immer auch ein „Vertrauen auf “: ein Vertrauen darauf nämlich, dass sich der Mensch von Gott geliebt und gehalten wissen darf, und dass er in einer Welt leben darf, für die das gleiche gilt.70 Dass „Vertrauen“ immer auch ein vom Menschen aus eigener Kraft nicht abzugeltendes Wagnis darstellt, dass das Vertrauen-Können immer auch ein Geschenk ist und insofern in letzter Instanz auf eine Macht ausgeht, die imstande ist, die unvermeidlichen Brüche in Zeit und Geschichte zu heilen, entspricht einem Grundgedanken von Pannenberg, aber auch von Pröpper. Dieser Gedanke ist nur deshalb kein Gottesbeweis, weil seine Struktur die einer Hoffnung ist.71 Gleichwohl wird man auf dieser Grundlage das rekonstruieren können, was traditionell „Gnade“ heißt: das Ankommen des dreifaltig-liebenden Gottes in den Endlichkeiten der Welt. Solches Ankommen ermutigt dazu, sich angstfrei dem anzuvertrauen, was sich von der Offenbarungstradition her als letzte Wahrheit über den Menschen erschließt: dass nämlich der Mensch als Abbild Gottes zur Liebe gerufen ist und als Liebender seine Erfüllung findet – über alle Endlichkeiten und selbst über den Tod hinaus.
70 Vgl. Lerch, Freiheit des Menschen und Wirksamkeit der Gnade, 241f. 71 Zur Hoffnungsstruktur des Glaubens vgl. weiterhin Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie (Beiträge zur evangelischen Theologie 38), München 8 1968, bes. 15–17.
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Würde und Elend des Menschen Zur Pröpper-Pannenberg-Kontroverse um den theologischen Stellenwert der menschlichen Freiheit Die Frage nach dem Stellenwert der menschlichen Freiheit ist nicht nur unter ökumenischer Rücksicht kontrovers diskutiert worden, sie stellt die Theologie insgesamt vor grundlegende Herausforderungen. Die Auseinandersetzungen über den soteriologischen Grundgedanken einer universalen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen haben sich ebenso wie die Debatten um das Verhältnis von Freiheit und Gnade mit dem neuzeitlichen Freiheitspathos und seiner Betonung der menschlichen Autonomie nochmals deutlich zugespitzt. Ob und wie dieser grundlegende Gedanke der Aufklärung, der die Sensibilität der modernen Menschen gegenüber allen Formen von Fremdbestimmung geschärft hat, theologisch angemessen eingeholt werden kann, ist bis heute hoch umstritten.1 Während die einen bewusst bei der Freiheit als anthropologischem Grundbegriff anknüpfen wollen und sie als Schnittpunkt, ja als Brücke der Theologie zu den vielstimmigen Debatten einer pluralen Gesellschaft sehen2 , erinnern die anderen an deren Fragilität und Ambivalenz. Sie verweisen dabei nicht nur auf eine gefährliche Nähe der Freiheit zur Sünde, sondern auch auf unsere Endlichkeit und unsere Eingebundenheit in die natürlichen Abläufe der Welt. Schon diese wenigen Bemerkungen machen deutlich, dass ein theologisch tragfähiges Freiheitsverständnis nur in kritischer Auseinandersetzung mit dem philosophischen Freiheitsdiskurs und im Dialog mit den modernen Human- bzw. Naturwissenschaften entwickelt werden kann. Wie unterschiedlich die dabei eingeschlagenen Strategien sein können, welchen Anfragen sie sich stellen müssen und wo ihre jeweiligen Stärken bzw. Schwächen
1 Vgl. Chr Böttigheimer / R. Dausner, Thematische Hinführung, in: Dies. (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte (QD 316), Freiburg i.Br. 2021, 9−18; hier: 10−12. 2 Vgl. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie (UTB 4757), Paderborn 2018, 12. Aus Sicht von Saskia Wendel, die für ein dezidiert libertarisches Verständnis von Freiheit eintritt, „wird zu diskutieren sein, ob nicht nur die (unzutreffende) Zusammenführung von Freiheit und Sünde, sondern insbesondere auch die Kennzeichnung der Ursünde als eine sich vor allem Gott und seinem Willen gegenüber sich verweigernde Freiheit theologisch noch haltbar ist, wenn man mit der Einschreibung neuzeitlicher Freiheitstheorien in die theologische Anthropologie wirklich ernst macht“ (S. Wendel, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020, 20 Anm. 20; vgl. 107).
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liegen, lässt sich exemplarisch an der Kontroverse zwischen Wolfhart Pannenberg3 und Thomas Pröpper4 nachzeichnen.
1.
Die Ambivalenz menschlicher Freiheit – Wolfhart Pannenberg
Die neuzeitliche Hinwendung zum Menschen und die damit einhergehende Aufwertung der Autonomie fordern das theologische Denken auf vielfache Weise heraus. Die Verschiebungen in unserem Welt- und Selbstverhältnis stellen nach Pannenberg zwar die Plausibilität einer rein binnentheologischen Lehre vom Menschen in Frage, sie zwingen aber keineswegs zu einer unkritischen Aneignung humanwissenschaftlicher Forschungsergebnisse.5 Ein aufrichtiges Interesse für die modernen Wissenschaften und für aktuelle philosophische Diskussionen schärft den Blick für die unabgegoltenen Sinnpotenziale dieser Umbrüche und eröffnet damit zugleich einen Rahmen für eine theologische Auseinandersetzung mit der Moderne. Auch wenn die Wissenschaften die Beziehungen zur Theologie weitgehend ausblenden, ist damit die Frage nach der Möglichkeit einer konstruktiv-kritischen Gesprächs nicht vom Tisch – vor allem dann nicht, wenn der Gott der Bibel als Schöpfer aller Wirklichkeit verstanden werden soll.6 Diese Offenheit für die modernen Wissenschaften prägt nicht nur Pannenbergs fundamentaltheologisch angelegte Anthropologie in theologischer Perspektive, sie durchzieht auch noch das Anthropologiekapitel der Systematischen Theologie, obwohl diese als Dogmatik aus einer explizit theologischen Perspektive heraus argumentiert. Die Wendung Würde und Elend des Menschen, mit der letzteres überschrieben ist, greift die „beiden anthropologischen Hauptthemen der Theologie“7 , nämlich seine Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit und die Sünde als Wurzel unseres Elends, das wesentlich als Entfremdung des Menschen von Gott und von seinem eigenen Selbst verstanden werden muss, auf. Vor diesem Hintergrund kann die „durch Jesus Christus vermittelte Gemeinschaft mit Gott nur unter der Bedingung Erlösung heißen, daß der Mensch dadurch frei wird.“8 Das ist nach
3 W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität. Eine Antwort an Thomas Pröpper, in: ThQ 170 (1990), 289−298. 4 Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritische Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs, in: ThQ 170 (1990), 267−289. 5 Vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Philosophisch-theologische Grundlinien, in: ders. (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös?, Düsseldorf 1986, 87−105; hier: 90. 6 Vgl. Anthr., 18f. sowie W. Pannenberg, Humanbiologie – Religion – Theologie. Ontologie und wissenschaftstheoretische Prämissen ihrer Verknüpfung, in: BSTh 2, 99−111; hier: 102. 7 Anthr., 20. 8 STh II, 208.
Würde und Elend des Menschen
christlichem Verständnis genau dann der Fall, wenn ihm die Gemeinschaft mit Gott, zu der er als dessen Geschöpf bestimmt ist, zugleich zur Identität mit ihm selbst verhilft. Diese grundlegende These der Anthropologie Pannenbergs9 begründet die besondere Stellung des Menschen in der Welt und unter den anderen geschaffenen Lebewesen gerade nicht mit Hilfe der Evolution, sondern verortet sie explizit im biblisch begründeten Bewusstsein seiner Gottebenbildlichkeit.10 Soll mit diesen durchaus pointierten Aussagen aber nicht einfach einer rein theologischen Lehre vom Menschen, die sich jeder wissenschaftlichen und philosophischen Anfrage von vornherein entzieht, das Wort geredet werden, muss in weiterer Folge wenigstens in groben Zügen geklärt werden, wie die Lehrstücke der Gottebenbildlichkeit und der Sünde, die beiden seiner Meinung nach „fundamentalen Aspekte verschiedenster Bezüge anthropologischer Phänomene auf die Gotteswirklichkeit“11 , von Pannenberg konkret entfaltet werden und inwieweit er sich darin von einer kritischen Reflexion auf die „Naturbedingungen menschlichen Daseins und der leibseelischen Verfasstheit menschlicher Weltexistenz“12 leiten lässt.13 1.1
Die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott
Blicken wir von diesen methodischen Anforderungen her auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen und seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott, wäre in einem ersten Schritt zu zeigen, wie Pannenberg die Lehre von der Gottebenbildlichkeit in seinen Analysen zum Menschen in der Natur und zur Natur des Menschen einbettet.14 An dieser Stelle muss es allerdings genügen, mit Weltoffenheit, Exzentrizität und Selbsttranszendenz die zentralen Stichworte, entlang derer
9 Vgl. G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2002, 123. 10 Vgl. STh II, 203. Siehe dazu weiterführend auch W. Pannenberg, Der Mensch – ein Ebenbild Gottes? In: BSTh 2, 141−149; hier 144−146 sowie E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht. Eine Untersuchung der theologischen Anthropologien Wolfhart Pannenbergs und Thomas Pröppers (BDS 43), Würzburg 2007, 136−144. 11 Anthr., 20. 12 G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel (PSt 7), Göttingen 2021, 463. 13 Ein genauerer Blick würde zeigen, dass sich für die Sünde „in der humanwissenschaftlichen Arbeit sehr viel weniger Vergleichspunkte bieten als für die Aussage über die Bestimmung des Menschen“ (W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Philosophisch-theologische Grundlinien, 99). 14 Siehe dazu weiterführend den ersten Teil der Anthropologie in theologischer Perspektive, der genau dieser Frage im Gespräch mit Behaviorismus, Verhaltensforschung und philosophischer Anthropologie nachgeht.
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die Sonderstellung und damit die Eigenart des Menschen als leibliches Wesen im Bereich des animalischen Lebens ausbuchstabiert wird15 , in Erinnerung zu rufen. Als „personale Einheit von Leib und Seele“16 , die der Mensch nach Pannenberg auf differenzierte, aber ungeteilte Weise ist17 , existiert er zugleich als exzentrisches Wesen, dessen Welterfahrung auch als „Weg zur Erfahrung seiner selbst“18 gedeutet werden kann. Dieser dezidiert empirische Ansatz setzt zwar bei der Gegenstandserfahrung des Menschen als konkretem Aspekt von dessen exzentrischer Daseinsstruktur an, greift aber bereits auf dieser Ebene, in der die soziale Dimension noch nicht eigens angesprochen wird, schon weit darüber hinaus, „weil eben der Gegenstand, wenn er als dieser bestimmte erfaßt ist, auch schon überschritten ist“19 , da seine Bestimmtheit nur in einem unendlichen Horizont fassbar wird. Die Weltoffenheit, die uns hier als Sachlichkeit im Umgang mit den Gegenständen der Welt begegnet, hat also, wie Pannenberg eigens betont, „eine implizite religiöse Tiefenstruktur“20 , die den Menschen über den Umweg einer „Antizipation der Totalität der Wirklichkeit“21 auf die Gottesfrage verweist, ohne dabei in einen anthropologischen Gottesbeweis zu münden. Obwohl die Existenz Gottes also umstritten bleiben muss, lässt sich immerhin festhalten, dass die Frage nach Gott, selbst in ihrer unbestimmtesten Form, zum Menschsein des Menschen gehört und Religion insofern auch „als anthropologisches Universale gelten“22 darf. Die exzentrische Struktur des Menschen legt nach Pannenberg folgerichtig nahe, dass der Mensch sowohl in seinem Welt- wie auch in seinem Selbstverhältnis wesentlich auf Gott hin angelegt ist. Obwohl diese Anlage im Einzelfall verschüttet sein mag, kann mit Hilfe des Verweises auf die Weltoffenheit die „Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott, die in seiner Erschaffung zu Gottes Ebenbild begründet ist“23 , im realen Leben der Menschen verortet und damit zugleich an den wissenschaftlichen Diskurs rückgebunden werden. Dem Schöpferwillen
15 16 17 18 19 20
Vgl. Anthr., 25f. u. 60−62. STh II, 209. Vgl. G. Wenz, Wolfhart Pannenberg, 141 in Verbindung mit STh II, 210. Anth., 69. Anthr., 69 (Kursiv im Original); vgl. 73. Anthr., 69. Pannenberg begründet, anders als Rahner, die implizite Gotteserfahrung nicht transzendentaltheologisch, sondern phänomenologisch. Es gehe ihm, so Magnus Lerch, darum, die „religiöse Grunddimension jener Phänomene aufzuzeigen, die die Humanwissenschaften als für den Menschen charakteristisch beschreiben, und diese dann philosophisch abzusichern“ (A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 79). Auch wenn die säkulare Perspektive auf den Menschen nicht als falsch erwiesen werden könne, sei sie nach Pannenberg letztlich doch gegenüber der religiösen Auffassung des Menschen reduktiv und daher nur vorläufig (vgl. STh II, 329f). 21 WuTh, 312. 22 G. Wenz, Wolfhart Pannenberg, 141. 23 STh II, 261.
Würde und Elend des Menschen
Gottes wird der Mensch als Geschöpf dabei nur gerecht werden können, wenn er seine Endlichkeit als freies und vernünftiges Wesen in konsequenter Selbstunterscheidung von Gott annimmt und sich auf diese Weise „zu einem Menschen unter Menschen in einer gemeinsam gegebenen Welt“24 bestimmt. Angesichts der allgemeinen Ambivalenz, die das gesamte menschliche Leben und damit auch unser Handeln durchzieht, wird das aber erst dort gelingen, wo „Menschen durch den Geist Gottes schon über sich selbst erhoben und so dazu befähigt sind, die eigene Endlichkeit anzunehmen“25 und positiv zu gestalten. 1.2
Exzentrizität, Selbstzentriertheit und Egozentrik – die Dynamik der Sünde
Zwar lässt sich die Abgründigkeit der Sünde „in voller Klarheit erst von Gottes Selbstoffenbarung her ermessen“26 , das bedeutet allerdings nicht, dass sie deshalb als reine Angelegenheit des Glaubens der menschlichen Selbsterfahrung verborgen bleiben müsste oder auch nur könnte. Von Pannenbergs methodischen Vorgaben her gilt vielmehr, dass „der Sachverhalt, auf den sich die theologische Qualifizierung der Sünde bezieht, als solcher auch ausgewiesen werden“27 muss, wobei unter den Bedingungen der Moderne das dafür maßgebliche Paradigma nicht länger die kosmologische Ordnung, sondern die Frage nach der Subjektivität des Menschen zu sein habe.28 Um das Problem der Sünde überhaupt im Rahmen der menschlichen Welt- und Selbsterfahrung verorten zu können, greift Pannenberg auf die Erkenntnisse der Humanwissenschaften sowie auf zentrale Motive der philosophischen Anthropologie zurück und integriert sie konsequent in seinen eigenen theologischen Ansatz. Im Zuge eines komplexen Argumentationsgangs, der hier nicht weiter entfaltet werden kann, wird deutlich, wie ein an den Wissenschaften geschulter Blick auf die Naturbedingungen menschlichen Daseins Pannenbergs Sensibilität für die Ambivalent menschlichen Verhaltens und für die damit einhergehenden Bedrohungen der Integrität eines sich in sich selbst verkehrenden Ichs schärft. Zwar kann der Mensch – wie im vorhergehenden Abschnitt bereits erwähnt – auch weiterhin als das prinzipiell exzentrische, weltoffene und selbsttranszendente Wesen ange-
24 G. Wenz, Wolfhart Pannenberg, 141; vgl. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 113. 25 STh II, 265; vgl. W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Anthropologie, Göttingen 8 1995, 28f. 26 Anthr., 89; vgl. 134f. 27 Chr. Axt-Piscalar, Art. Sünde VII. Reformation und Neuzeit, in: TRE 32, 400−436; hier: 425. 28 Vgl. ebd. sowie STh II, 279−283.
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sprochen werden, insofern die „Zweideutigkeit im menschlichen Verhalten“29 ihre Wurzel aber in der Grundstruktur menschlichen Lebens hat, dürfen wir dabei nicht übersehen, dass er zugleich „selbstbezogen, ichzentriert und in sich reflektiert“30 ist. Die weiterführenden Analysen der Ambivalenz des menschlichen Verhaltens und der Fragilität endlicher Freiheit, die in letzter Konsequenz zur Verkehrung der Identität des Menschen durch einen überzogenen Selbstbehauptungswillen führen31 , nehmen ihren Ausgang genau bei der eben angesprochenen Spannung von Zentriertheit und Exzentrizität. Letztere zeigt eine der menschlichen Existenzstruktur innewohnende Zweideutigkeit an, ohne selbst schon manifeste Verkehrtheit zu sein. Allerdings verweist sie gerade in ihrer Uneindeutigkeit auf einen tiefer liegenden Widerstreit „zwischen zentraler Organisationsform und Exzentrizität des Menschen“32 , der den ganzen Menschen als psychosomatisches Wesen prägt und darin auch auf seine Weltoffenheit zurückwirkt. Das ist deshalb der Fall, weil das Ich in seiner exzentrischen Selbsttranszendenz zwar „ursprünglich beim anderen seines Leibes [ist], und doch ist es im Wissen um die Andersheit des anderen [zugleich, P.S.] mit seinem Leibe identisch all dem anderen gegenüber, das es von sich unterschieden weiß. Das Sein beim anderen als einem anderen eröffnet die Dimension des Selbstbewußtseins mit seiner Unterschiedenheit von sich selber und seiner Einheit mit sich, die jedoch widerspruchsvoll bleibt, weil das Ich auf beiden Seiten auftritt“33 und sich uns somit zugleich in seiner Widersprüchlichkeit zeigt. Der Bruch liegt nach Pannenberg also im Subjekt selbst, das seiner grundlegenden Bestimmung zur Exzentrizität und zur Selbsttranszendenz nicht genügen kann. Dort, wo „die Entgegensetzung des Ich gegen das andere – und damit auch gegen seine eigene Exzentrizität – zum organisierenden Prinzip der Einheit der individuellen Erfahrung“34 wird, bleibt das Ich zwar als exzentrisches konstituiert, aber das hier noch positiv besetzte Sein beim anderen wird ihm unter der Hand auch zum Mittel der Selbstbehauptung und der Herrschaft über die Natur, über den eigenen Leib oder gar über andere Menschen. In der radikalsten Form der Egozentrik eines sich selbst verfallenen Ich, das alles andere allein seinen eigenen Zwecken unterordnet und dienstbar macht, schlägt die den Naturbedingungen menschlichen Daseins inhärente Zweideutigkeit endgültig in manifeste Verkehrtheit um35 und rückt damit die der Selbsttranszendenz immanente Zentriertheit in Form einer
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Anthr., 77. G. Wenz, Wolfhart Pannenberg, 141. Vgl. Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 272. Anthr., 81. Anthr., 81f. (Kursiv im Original). Anthr., 82. Vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen, 460.
Würde und Elend des Menschen
gegen das Sein im anderen gewendete Selbstbehauptung in unübersehbare Nähe zu dem, was die christliche Tradition als Sünde bezeichnet. Die hier nur knapp umrissene „Verkehrung in der Konstitution des Ich“36 , in der die Radikalität und Universalität der Sünde letztlich ihre Wurzel hat, ist nach Pannenberg in Grundzügen bereits in der „augustinische[n] Darstellung der menschlichen Sündhaftigkeit als Verkehrung des Begehrens“37 angelegt. Gerade weil sie in ihrer psychologischen Beschreibung eine empirische Herangehensweise wählt und darüber hinaus „die Relevanz der Sünde für das Verhältnis des Menschen zu sich selber“38 thematisiert, könne sie trotz all ihrer Schwächen einen konstruktiven Beitrag zur Klärung des Sündenverständnisses leisten. Zum einen mache bereits Augustinus darauf aufmerksam, dass sich niemand der Gebrochenheit menschlicher Selbsterfahrung, wie sie von ihm anhand des dynamischen Zusammenspiels von Hochmut und Konkupiszenz als höchst reale Tatsache aufgewiesen wird, einfach durch den Hinweis entziehen könne, er glaube das nicht.39 Indem er seine Beobachtungen zur Dynamik von Konkupiszenz und Hochmut nicht in biblisch-narrativer Einkleidung, sondern in Form einer philosophischen Analyse eines anthropologischen Phänomens vorträgt40 , gelinge es Augustin zum anderen darüber hinaus aber auch, den Gegensatz zu Gott „in der allgemeinen Wesensstruktur der Begierde […] aufzudecken“41 . Weil er die Verkehrung des Weltverhältnisses in weiterer Folge auf ein verkehrtes Selbstverhältnis bezieht, das in der „Selbstüberschätzung des wollenden Ich“42 bis hin zur Selbstvergottung des Menschen Gestalt gewinnt, habe er in letzter Konsequenz nichts weniger als eine fundamentalanthropologische Basis der Sündenlehre gelegt, die selbst unter modernitätsspezifischen Bedingungen noch Geltung beanspruchen könne43 , ohne dabei die Sünde zu moralisieren. Die Zweideutigkeit der menschlichen Natur und mit ihr die Gebrochenheit der menschlichen Identität sind aber, darauf ist an dieser Stelle ausdrücklich hinzuweisen, nicht selbst schon mit der Sünde gleichzusetzen. Die tiefe Verankerung der Egozentrik in der natürlichen Organisation des Menschen und in seiner leiblichen Verfasstheit zieht die Sünde nicht als deren notwendige Folge nach sich, sondern verweist lediglich auf die Zerbrechlichkeit bzw. Verführbarkeit des Menschen.44 Da die Spannung zwischen Selbstzentriertheit und Exzentrizität aber faktisch in
36 37 38 39 40 41 42 43 44
Anthr., 83. Anthr., 88; vgl. STh II, 277−281. Anthr., 88. Vgl. STh II, 271. Zu den biblischen Hintergründen der concupiscencia siehe STh II, 274−276 u. 281. STh II, 281. Ebd. Vgl. Anthr., 92f. Vgl. Anthr., 103f.
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Richtung der egozentrischen Selbstbehauptung des Ich aufgelöst wird, anstatt „das Ich in den Vollzug exzentrischer Selbsttranszendenz aufzuheben“45 , müssen wir mit Pannenberg davon ausgehen, dass der Mensch seine Bestimmung verfehlt und auf sündige Weise verkehrt. Er ist, kurz gefasst, zwar „von Natur aus Sünder“46 , ohne deshalb auch schon seiner Natur als Mensch nach sündhaft zu sein. Diese Kurzformel macht deutlich, wie eng Sünde und Naturbedingungen des menschlichen Daseins miteinander verflochten sind. Sie betont aber auch, worin die Wesensnatur des Menschen besteht, nämlich in seiner Bestimmung zu einem guten Leben mit und für andere Menschen in dieser Welt, ja letztlich – zumindest aus christlicher Perspektive – zur Gemeinschaft mit Gott.47 Gerade deshalb müssen die Naturbedingungen des menschlichen Daseins, also das, was der Mensch als endliches Wesen von Natur aus ist, überwunden und aufgehoben werden, damit er „sein Leben seiner ,Natur als Mensch entsprechend“48 führen kann. Die eben beschriebene Spannung von Exzentrizität und Selbstzentriertheit, die in ihrer Dynamik in Richtung Egozentrik abzudriften droht, lässt sich theologisch prägnant mit Hilfe des Begriffspaars Würde und Elend des Menschen49 beschreiben. Während die in der Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott begründete Würde weder durch äußeres Übel noch durch Unrecht ausgelöscht werden kann, entfremdet ihn die Sünde in ihrer gottwidrigen Verkehrung seines Wesens von seinem Schöpfer und macht ihn in einem radikalen Sinne elend. In der Entfremdung50 des Menschen von Gott lassen sich aktive und zuständliche bzw. passive Züge erkennen, die in ihrer Dynamik das Elend der Menschen in aller Schärfe sichtbar machen: In der Gottesferne sind die Menschen nach Pannenberg „auch ihrer eigenen Identität beraubt“51 , ja sie werden sich in gewisser Weise selbst zum Gericht. Eine Überwindung der Entfremdung von Gott, von sich selbst, von den anderen Menschen und der Welt insgesamt ist vor diesem Hintergrund letztlich nur von Gott her möglich.
45 G. Wenz, Wolfhart Pannenberg, 150. 46 Anthr., 105 (Kursiv im Original). 47 Vgl. W. Pannenberg, Was ist der Mensch, 46f. Siehe dazu auch F.-J. Overbeck, Der gottbezogene Mensch. Eine systematische Untersuchung zur Bestimmung des Menschen und zur „Selbstverwirklichung“ Gottes in der Anthropologie und Trinitätstheologie Wolfhart Pannenbergs (MBT 59), Münster 2000, 132−135. 48 Anthr., 105. 49 Der Begriff Elend beschreibt die Situation der Verlorenheit des Menschen in der Gottesferne nach Pannenberg deshalb sehr zutreffend, weil er den Zusammenhang zwischen Sünde und Sündenfolge deutlicher als die klassische Lehre von der Sünde herausstreicht (vgl. STh II, 207). 50 Zum Begriff der Entfremdung siehe weiterführend den Abschnitt Entfremdung und Sünde in Anthr., 258−278. 51 STh II, 207; vgl. Anthr., 263 u. 271.
Würde und Elend des Menschen
Mit dem Hinweis auf die Naturbedingungen und die „Verführbarkeit des Menschen“52 ist allerdings noch nicht geklärt, inwieweit die Sünde dem Menschen überhaupt als Schuld zugerechnet und er für sein sündhaftes Verhalten verantwortlich gemacht werden kann.53 Gerade weil nach Pannenberg Sünde nicht einfach mit Verfehlung gleichgesetzt werden kann, sondern viel tiefer im menschlichen Dasein verwurzelt ist, gewinnt die Frage, was unter Verantwortung genau zu verstehen ist, nochmals zusätzlich an Brisanz.54 Wenn ich nämlich nur für das verantwortlich bin, „was ich kraft freier Wahl dem ebenso möglichen Gegenteil vorgezogen habe, dann allerdings könnte nicht Sünde sein, was zu den Naturbedingungen gehört, in denen ich mich immer schon vorfinde.“55 Die hier nur angedeutete, aber von alters her durchaus gebräuchliche Rückbindung der Verantwortung an eine Wahlfreiheit, die als neutrale Entscheidungsinstanz jenseits der zur Wahl stehenden Alternativen angesiedelt wäre56 , muss Pannenberg vor dem Hintergrund seiner detaillierten Analysen der natürlichen Daseinsbedingungen des Menschen nicht nur als abstrakt, sondern geradezu als willkürlich und absurd erscheinen. Ein rein formaler Begriff indifferenter Freiheit liefe nicht nur Gefahr, die der Ambivalenz der menschlichen Natur inhärenten Dynamiken zu unterschätzen, er wäre auch gänzlich ungeeignet, die Frage der menschliche Verantwortung und die Zurechenbarkeit menschlicher Sünde als Schuld zu begründen – ein Befund, den auch ein Blick auf die biblischen Schriften nochmals zusätzlich stützen kann.57 Wird die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen aber, wie Pannenberg vorschlägt, vom Gedanken der materialen Freiheit her in den Blick genommen, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Legt man die Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens mit seiner Bestimmung als Kriterium an, kann sich der Urheber einer Handlung nicht mehr unter Berufung auf die formale Freiheit von seiner Handlung distanzieren oder gute Gründe anführen, die ihn bei allen negativen Folgen, die als solche nicht beabsichtigt gewesen sein mögen, letztlich doch entschuldigen. Verantwortung ist nicht einfach an Urheberschaft bzw. Verursachung gebunden, sondern muss in einem weiteren Sinne als Übernahme bzw. Verweigerung des einem Menschen zugemuteten Lebens in seiner konkreten geschichtlichen und sozialen Situation gedacht werden.58 Das eben Gesagte hat auch Konsequenzen für unser Verständnis des Subjekts, weil diesem eine Tat nur dann zugerechnet werden kann, wenn wir die „Identität
52 53 54 55 56 57 58
W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 297; vgl. 292. Vgl. Anthr., 104. Vgl. ebd. Anthr., 107. Vgl. Anthr., 112. Vgl. Anthr., 108f. sowie E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht, 145f. Vgl. Anthr., 109f. u. 133.
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des Handelnden“59 schon voraussetzen dürfen. Da aber jeder Mensch in seinem Lebensvollzug unweigerlich in Anspruch nimmt über die Zeit hinweg derselbe zu bleiben und zudem auch eine gewisse Identität mit seinem Leib und dessen Verhalten nicht in Abrede stellen kann, werden wir mit Pannenberg sagen dürfen, dass er „als Mensch unter der moralischen Zumutung steht, sein Verhalten als das seinige anzuerkennen.“60 Vor diesem Hintergrund kann menschliche Freiheit gerade nicht als formal indifferente Wahlfreiheit gefasst werden. Sie hat es immer schon „mit der Ganzheit des eigenen Daseins, die in den einzelnen Akten und Entscheidungen in Erscheinung tritt“61 , zu tun. Der Mensch erfährt sich folgerichtig als einer, der in seiner eigenen Lebenssituation von seiner Bestimmung in Anspruch genommen wird und sich damit, wenn auch anfangs nur in Form eines Gefühls, für seinen eigenen Zustand sowie für sein Handeln und dessen soziale Folgen verantwortlich weiß.62 Der hier nur angedeutete Anruf der Freiheit zielt auf die Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens mit seiner ihm eigenen Bestimmung und begründet darum „eine Freiheit zum Guten, nicht aber eine Freiheit der Wahl zwischen dem Guten und seinem Gegenteil.“63 Der formalen Freiheit kann nach Pannenberg schon allein deshalb nur ein relativer Sinn zugeschrieben werden64 , weil ihr in ihrer Uneindeutigkeit eine Tendenz innewohnt, sich selbst zu zersetzen. Dort, wo Indifferenzfreiheit absolut gesetzt wird, droht sie gerade wegen ihrer Abstraktheit in eine Dynamik der Entfremdung von all demjenigen zu kippen, was für das Selbst und die Welt wahrhaft gut ist. Obwohl er unbestreitbar im Besitz der Fähigkeit zur Wahl ist, „vermag der Mensch dennoch nicht, auf dem Boden seiner endlichen Subjektivität und durch sein eigenes Handeln seiner Situation vor Gott gerecht zu werden oder […] seine eigene Identität von sich aus zu realisieren“65 und zu sichern. Eine rein formale Freiheit, die dem Guten und Gott gegenüber auch anders könnte, ist nach Pannenberg eine wirklichkeitsfremde Konstruktion.66 Sie ist immer schon von einem noch unbestimmten „Gefühl der Selbstentfremdung“67 , in dem ein Riss, eine grundlegende Nichtidentität von Ich und Selbst wahrnehmbar wird, durchsetzt
59 60 61 62 63 64 65 66 67
Anthr., 110 (Kursiv im Original). Anthr., 110. Anthr., 113. Vgl. Anthr., 133 sowie W. Pannenberg, Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 38; 44f. u. 75. Anthr., 113; vgl. W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 293f. Vgl. STh II, 297f. STh II, 285. Vgl. Anthr., 115. Anthr., 278.
Würde und Elend des Menschen
und damit letztlich – theologisch gesprochen – von der Sünde korrumpiert.68 Ohne hier die Entwicklungsdynamiken im Zusammenspiel von Schuldgefühl und Schuldbewusstsein, die Hand in Hand mit der Herausbildung der eigenen Identität bis hin zum „Selbstbewusstsein in Gestalt des Gewissens“69 im weiten Sinne der conscientia als Mitwisserschaft verlaufen, nachzeichnen zu können70 , soll an dieser Stelle nur noch darauf hingewiesen werden, dass sich Pannenberg entschieden gegen jede Form einer moralischen Unterbestimmung des Gewissens ausspricht. Denn erst ein reflektierter Weltbezug, der eine strukturierte Aneignung seiner Sinngrundlagen miteinschließt, macht das Gewissen zu einer eigenständigen Größe, die der Gefahr eines irrationalistischen Subjektivismus ebenso wie derjenigen der Fremdbestimmung widerstehen kann. 1.3
Verantwortlichkeit und Freiheit des Menschen angesichts der Radikalität und der Universalität der Sünde
Wenn Sünde weder mit der Natur des Menschen als endlichem Wesen noch mit dessen Freiheit oder einer einzelnen Tat identifiziert werden kann, aber dennoch als Faktum unbestreitbar bleibt, müssen ihre Wurzeln viel tiefer liegen. Das menschliche Selbst, seine Entscheidungen und Handlungen sind, wie wir oben gesehen haben, von einer grundlegenden Motivationsstruktur geprägt, „die zwar das Wahlvermögen, den formalen Vollzug der Selbsttranszendenz, intakt läßt“71 , dabei aber den Spielraum der Freiheit deutlich einschränkt. Genau aus diesem Grund widersetzt sich Pannenberg einer „Reduktion des Begriffs der Sünde auf Tatsünden“72 und hält trotz der neuzeitlichen Kritik am Sündenfall Adams bewusst an der Lehre vom peccatum originale fest. Nur so lassen sich aus seiner Sicht die Radikalität der Sünde, die als solche keineswegs schon mit der Schöpfung des Menschen mitgesetzt ist, und ihre Allgemeinheit, die beide in der „konkupiszenten Struktur menschlichen Verhaltens“73 angelegt sind, adäquat zur Sprache bringen. Zudem verbietet die Rede von der Universalität der Sünde als zentrales Moment des Dogmas, die darin zugleich auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und den universalen Heilswillen Gottes verweist, jedwede Form eines „Moralismus, der jede menschli-
68 Vgl. STh II, 296. 69 Anthr., 286. 70 Vgl. Anthr., 299f. Zur Dynamik der Entfremdung siehe weiterführend auch die Überlegungen zur Spannung zwischen Disposition zur Sünde und Faktum der Sünde in F.-J. Overbeck, Der gottbezogene Mensch, 217−222. 71 Anthr., 115. 72 STh II, 269. 73 Anthr., 120.
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che Solidarität mit jenen aufkündigt, die zu Werkzeugen der zerstörerischen Gewalt des Bösen“74 geworden sind. Der Aufweis einer strukturellen Allgemeinheit der Sünde anhand des Zusammenhangs zwischen Begierde und Selbstsucht kann das Problem der Verantwortlichkeit für die Sünde keineswegs lösen, sondern spitzt es eher noch weiter zu.75 Das wird nicht zuletzt an der heute vielfach strapazierten Rede von einer strukturellen Sünde deutlich, die auf die Situiertheit des einzelnen Menschen in sozialen Zusammenhängen abstellt. Dabei wird allerdings übersehen, dass sich der Mensch zwar nicht von den Einflüssen der ihn umgebenden Gesellschaft und Kultur abkoppeln kann, diese aber letztlich als fremde Macht begreift, von der er sich zumindest innerlich distanziert.76 Sollen die Möglichkeiten endlicher Freiheit nicht überspannt und zugleich das Faktum der Sünde nicht verharmlost werden, bleibt nach Pannenberg nur die Möglichkeit, in der Sünde einen „Grundbestand naturaler Verfaßtheit verkehrten Lebens beim Individuum“77 anzuerkennen, weil dieses erst dadurch genötigt werde, die Sünde als zu ihm gehörig zu akzeptieren. Da die naturhafte Selbstinsistenz und damit die „Sündhaftigkeit als Verkehrung der Subjektivität, die allem Handeln zugrunde liegt, schon von Anfang an mit dem werdenden Ich verbunden ist“78 , hat der Mensch jedes Recht zur Distanzierung verloren. Seiner Bestimmung gemäß und damit verantwortlich verhielte sich der Mensch als Geschöpf Gottes nur dann, wenn er sich in der komplexen Dynamik von Selbstzentriertheit und Exzentrizität immer wieder neu auf den Schöpfer und auf den Nächsten hin ausrichtet, ohne sie oder die Welt als Schöpfung für seine eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Trotz der natürlichen Bedingungen seines Daseins, derer sich der Mensch als Geschaffener nicht entledigen kann, lässt sich sein Fehlverhalten weder mit dem Hinweis auf seine Endlichkeit entschuldigen noch mit Hilfe der Bestimmung zur Transzendenz alles Endlichen einschließlich seiner eigenen Endlichkeit, die als Lebensbewegung konstitutiv für das Ich ist, erklären. Allerdings liegt nach Pannenberg in dieser ambivalenten Dynamik „die Verkehrung des Verhältnisses der Endlichkeit des Ich zum Unendlichen und Absoluten so nahe, daß außer im Falle ausdrücklicher Selbstunterscheidung des Ich in seiner Endlichkeit von Gott faktisch immer das Ich selber sich zum unendlichen Boden und Bezugspunkt aller seiner Gegenstände wird und damit den Platz Gottes besetzt.“79 Bereits in seinem
74 STh II, 273. 75 Vgl. STh II, 290. Zur strukturellen Allgemeinheit der Sünde siehe weiterführend auch F.-J. Overbeck, Der gottbezogene Mensch, 387−393. 76 Vgl. STh II, 294. 77 STh II, 295 (Kursiv im Original). 78 Anthr., 125. 79 STh II, 299
Würde und Elend des Menschen
unbändigen Lebensdrang80 und nicht erst dort, wo er sich ausdrücklich gegen Gott empört, in der Angst um sich selbst oder in der Maßlosigkeit seines Begehrens entfremdet sich der Mensch von Gott und nimmt mit dieser Verkehrung des Gottesverhältnisses zugleich eine Desintegration seiner eigenen Identität in Kauf, die auch den Tod als implizite Folge der Sünde miteinschließt.81 Eine lebendige Selbstbejahung, die auch die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit annehmen kann, ließe demgegenüber der Hoffnung auf Gottes heilvolles und rettendes Handeln am Menschen im Blick auf die Erfüllung seiner Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott Raum82 , ohne dabei seine Freiheit als integrales Moment seiner Würde abwerten zu müssen.83 Allerdings bleibt Freiheit für Pannenberg insofern inhaltlich bestimmt und, wie Pröpper kritisch anmerken würde, nachrangig84 , als sie ihren Ursprung in Gott hat und auf die Gemeinschaft mit Gott hin ausgerichtet ist.85
2.
Eine Theologie der Freiheit – Thomas Pröpper
Angesichts der vielfältigen Herausforderungen der Moderne optiert Pröpper anders als Pannenberg, der in einen intensiven Dialog mit den Human- und Sozialwissenschaften sowie mit der philosophischen Anthropologie tritt, bewusst für eine theologische Adaptation des transzendentalen Freiheitsdenkens86 , mit dessen Hilfe nicht nur der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens, sondern auch seine Relevanz für die menschliche Lebenspraxis erschlossen werden soll. Der Rückgriff auf „Freiheit als philosophisches Vermittlungsprinzip“87 ist dabei nicht nur der Entdeckung der Autonomie durch den modernen Menschen88 , die sich in
80 81 82 83 84
85 86 87 88
Vgl. STh II, 304. Vgl. STh II, 310f. Vgl. STh II, 312. Vgl. STh II, 303. Vgl. Th Pröpper, Theologische Anthropologie (2 Bde.), Freiburg i.Br. 2014, 431f. u. 435f. sowie A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 80. Zur Frage, ob und inwiefern die Freiheit aus Sicht von Pröpper bei Pannenberg unterbestimmt ist, siehe auch den Abschnitt Sünde und Freiheitsproblematik in U. Pękala, Eine Offenbarung – viele Religionen. Die Vielfalt der Religionen aus christlicher Perspektive auf der Grundlage des Offenbarungsbegriffs Wolfhart Pannenbergs (BDS 48), Würzburg 2010, 29−61. Vgl. BSTh 2, 148 in Verbindung mit W. Pannenberg, Gottesgedanke und menschliche Freiheit, 23. Siehe auch A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 131f. Vgl. Th. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br. 2001, 16 u. 77. Vgl. ebd., 6. Vgl. Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 2 1988, 139.
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einem gewandelten Selbst- und Weltverhältnis widerspiegelt, geschuldet, er legt sich auch von der christlichen Botschaft selbst her nahe.89 Nach Pröppers elliptischdoppelpoligem Ansatz liegt die wesentliche Bedeutung der Geschichte Jesu darin, „der Erweis der unbedingt für die Menschen entschiedenen Liebe Gottes und als solcher Gottes Selbstoffenbarung zu sein“90 , weshalb eben diese Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte Jesu auch als Grundwahrheit christlicher Theologie91 zu gelten habe. Die so bestimmte Glaubenswahrheit kann, so Pröppers These, aber nur durch ein transzendentales Freiheitsdenken adäquat expliziert und vermittelt werden92 , das den Menschen „als ebenso antwortfähigen wie zum Verstehen der Offenbarung bestimmten Empfänger“93 ernst nimmt. Die theologische Rezeption des Freiheitsdenkens schließt folgerichtig auch eine Verpflichtung zur Anerkennung all derjenigen Ansprüche mit ein, „die aus der formalen Unbedingtheit der Freiheit resultieren.“94 Pröpper verfolgt also mit seinem Ansatz, der hier nur sehr knapp umrissen werden kann, neben dem dogmatischen auch ein fundamentaltheologisches Interesse und ist zudem der Auffassung, beide Aufgaben mit Hilfe ein und desselben transzendentalphilosophischen Ansatzes bewältigen zu können.95 In seinem Versuch, die theologische Reflexion mit dem neuzeitlichen Denken kritisch zu vermitteln, unterscheidet Pröpper mit Blick auf Hermann Krings zwischen formal unbedingter, transzendentaler und materialer, inhaltlich bestimmter Freiheit.96 Die formale Freiheit ist als solche zwar Implikat menschlichen Handelns, ihm aber transzendentallogisch vorausgeordnet. Sie ist nicht nur Anruf, der das Bewusstsein von Verantwortung und praktischem Sollen prägt, sondern erlaubt uns als ursprüngliches, vom Menschen unabtrennbares Vermögen auch, in konkreten Gegebenheiten und Lebensverhältnissen Stellung zu beziehen. Zugleich entzieht sich Freiheit „in dieser ursprünglichen Aktualität und reflexiven Struktur […] jeder Begründung.“97 Als unbedingte Freiheit kann sie lediglich mit Hilfe einer
89 90 91 92 93 94 95
Vgl. E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht, 278−282. Th. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 6 (Kursiv im Original); vgl. 6−9. Vgl. ebd., 10–13. Vgl. ebd., 15. Ebd., 301 (Kursiv im Original). Ebd., 15. Vgl. Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, 171f. in Verbindung mit ders., Theologische Anthropologie, 511f. 96 Vgl. Th. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 28. Dass sich gerade von Hermann Krings her eine Reihe von kritischen Rückfragen an Thomas Pröpper ergeben, kann hier nur erwähnt werden. Siehe dazu weiterführend den Abschnitt Anfragen aus Sicht der transzendentalen Freiheitslehre von Hermann Krings in E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht, 307−327. 97 E. Dirscherl, Grundriss Theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006, 247.
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transzendentalen Reduktion eingeholt werden98 , die Freiheit als Bedingung des Menschseins selbst ausweist und den Gottesgedanken an die autonome Vernunft bindet, ohne damit schon einen Gottesbeweis zu liefern.99 Wenn Freiheit in ihrer Unbedingtheit darüber hinaus auch der Maßstab wirklicher Selbstbestimmung ist und insofern ihre Autonomie selbst verbürgen kann, findet sie den ihr gemäßen Gehalt folgerichtig nur in der unbedingten Anerkennung anderer Freiheit100 – woraus sich nicht nur weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis der Menschen untereinander, sondern auch für das Verhältnis Gottes zu den Menschen ergeben, die im Folgenden knapp umrissen werden sollen.101 Durch eine Reflexion auf die strukturelle Verfasstheit endlicher Freiheit, die in ihrer unbedingten Spontaneität unweigerlich auf Gegebenes angewiesen bleibt, eröffnet sich erstens eine neue Möglichkeit, die Letztbegründungsfrage transzendentalphilosopisch zu reformulieren. Das unabweisbare Bewusstsein der menschlichen Freiheit von ihrer eigenen Unbedingtheit nötigt uns geradewegs dazu, die Idee von einer alles begründenden göttlichen Wirklichkeit mit einem freisetzenden Schöpfungsakt zu verbinden, ohne allerdings deshalb das Geschaffensein menschlicher Freiheit positiv beweisen zu können. Auch wenn der Gottesidee der Status einer theoretischen Erkenntnis klar abgesprochen werden muss, „hält sie die Deutung der menschlichen Freiheit als geschaffener [doch zumindest, P.S.] offen“102 , ohne dabei den immer möglichen Widerspruch gegen Gott als Selbstwiderspruch der Freiheit ausgeben zu müssen. Pröpper geht in seinen Überlegungen sogar so weit, die autonome Freiheit des Menschen in theologischer Perspektive als auf Theonomie hin finalisierte zu bestimmen. Schließlich sei es ja Gott, „der als Schöpfer der Freiheit durch ihr Wesensgesetz zu ihr spricht“103 und sie auf die Gemeinschaft mit ihm ausrichte.104
98 99 100 101 102 103 104
Vgl. Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, 182. Vgl. ders., Evangelium und freie Vernunft, 303f. Vgl. ebd., 15 u. 79 sowie Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 288. Vgl. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 87−91. Th. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft., 17. Ebd., 20; vgl. 67f. Vgl. Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, 204. Dort heißt es: „Die Offenbarung Gottes als Liebe ist Offenbarung der Sünde des Menschen und Befreiung aus ihrer Gefangenschaft. […] Anthropologisch aber heißt dies, daß die menschliche Freiheit, indem sie anerkannt wird, auch befreit wird, und also der Zuwendung Gottes nicht nur bedarf, weil ihr das Erfüllende nur geschenkt werden kann, sondern zugleich auch, um in ihrer Selbstverschlossenheit geöffnet zu werden und in Gottes Tun einstimmen zu können“ (Kursiv im Original). Zur Frage, wie die Anerkennungstheorie dabei helfen könnte, „das unhaltbare, weil unlogische Erbschuldkonstrukt aufzugeben, ohne deshalb bezogen auf das göttliche Heil und die menschliche Heilsbedürftigkeit
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Die Einsicht, der Mensch könne den Anspruch unbedingter Bejahung anderer Freiheit aufgrund seiner Endlichkeit nur auf bedingte, symbolische Weise einlösen, muss zweitens deshalb nicht in eine Aporie führen, weil die Idee einer gleichermaßen formal wie material unbedingten und somit vollkommenen Freiheit, wie sie in der Idee Gottes aufgerufen wird, prinzipiell denkmöglich bleibt. Auf dieser Linie lässt sich ausgehend „von der Aporie, die in der Symbolstruktur realer Affirmation von Freiheit beschlossen liegt, auch ihre wesenhafte Hinordnung auf Gott“105 auf nicht-zirkuläre Weise aufzeigen. Soll das menschliche Dasein nicht der Absurdität anheimfallen, müsste es nach Pröpper in seiner Freiheit von einer absoluten, aller Wirklichkeit mächtigen und zur Liebe entschlossenen Freiheit her affirmiert werden, die ihm darin seinen Sinn erst verbürgt.106 Die theologische Spitze dieses Gedankengangs liegt darin, dass er Gott als vollkommene Freiheit begreift und damit zugleich „die Möglichkeit freier Selbstmitteilung als primäres Gottesprädikat“107 ausweist. Wenn drittens nur ein freies Geschöpf Gott als Gott anerkennen kann, muss dieser umgekehrt auch die menschliche Freiheit in ihrer Eigenständigkeit achten, die Würde ihrer Zustimmungsfähigkeit respektieren und auf ihr Tun bzw. Unterlassen in der noch unabgeschlossenen Geschichte getreu seiner Verheißung antworten. Insofern die Autonomie als solche nicht nur Grund der Ansprechbarkeit des Menschen für Gott ist, sondern auch von entscheidender Bedeutung für seine Antwortfähigkeit im Gegenüber zu Gott sein soll, sei „die formal unbedingte Freiheit als die von Gottes Offenbarung und Gnade selbst beanspruchte anthropologische Voraussetzung“108 zu verstehen, die auch durch die Sünde niemals gänzlich verloren
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sprachlos zu werden“, siehe Chr. Böttigheimer, Von der Erbsünde zur Ursünde. Die verzweifelte Suche nach Anerkennung, in: Ders.. / R. Dausner (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte, 385−420; hier: 417; vgl. 416f. Th. Pröpper, Evanglium und freie Vernunft, 18 (Kursiv im Original). Vgl. E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht, 291f. u. 298f. Th. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 18. Ebd., 19 (Kursiv im Original); vgl. 81. An anderer Stelle heißt es: „Ohne diese wesentliche Ansprechbarkeit des Menschen, die natürlich auch sein verstehendes, empfängliches Vernehmenkönnen wie seine Antwortfähigkeit einschließt, würde Gottes Liebe […] weder den geschaffenen Menschen als ihren Partner erreichen noch durch dessen freie Einstimmung zu ihrem Ziel kommen können: wäre dann doch das freie Gegenübersein des Menschen zu seinem Schöpfer noch ebenso wenig zu begründen wie eine Geschichte zwischen ihnen zu denken, die diesen Namen verdiente“ (Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 269; vgl. 183) – weshalb auch die Autonomie im Sinne der formal unbedingten Freiheit als Schöpfungsgabe Gottes und als integrales Moment des Menschseins gegenüber der ambivalenten Konzeption einer werdenden Gottebenbildlichkeit verteidigt werden müsse (vgl. ebd., 270).
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gehen kann.109 Sofern die Unbedingtheit der Freiheit und damit das Spezifische des Menschen mit Pröpper als Basis für verbindlich-verbindendes Argumentieren in Anschlag gebracht werden darf, kann eine der Autonomie verpflichtete Vernunft die Not verfehlter Selbstbestimmung und die zerstörerische Logik der Selbstbehauptung samt der daraus sich ergebenden Folgen grundsätzlich selbst aufdecken und der notwendigen Kritik unterziehen.110 Aus dieser knappen Skizze des transzendentalen Freiheitsdenkens lässt sich zumindest ansatzweise ablesen, welche Bedeutung diesem Paradigma in unserer säkularen Welt und angesichts der vielfachen Verletzungen, die Menschen erleiden, nach Pröpper zukommen soll. Der freiheitstheoretische Denkansatz unterstreicht nachdrücklich, dass sich die Menschen durch Gottes Zusage als unbedingt angenommen wissen dürfen. Als zur Freiheit vor Gott Bestimmte sollen sie sich dazu ermutigt fühlen, Subjekte ihres Handelns zu werden und auf dieser Grundlage „ihre theonome Bestimmung aus autonomer Zustimmung“111 heraus vollziehen. Damit soll unmissverständlich deutlich werden, dass Gottes unverfügbare Liebe darauf abzielt, den modernen Menschen als seine tiefste Wahrheit zu erreichen und darin eine neue Identität eröffnet, ihm dabei aber angesichts der faktischen Sünde zugleich „Umkehr zumutet und [ihn so, P.S.] für Gottes Gerechtigkeitswillen“112 in Anspruch nimmt. Mit anderen Worten: Gottes Liebe begegnet dem Menschen als freisetzende Freiheit und nimmt ihn darin zugleich in die Pflicht, der Freiheit des anderen Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen113 – ein Anspruch, der weit über das Vermögen des Menschen hinausreicht.114 Die auf zwei Bände angelegte Theologische Anthropologie entfaltet Pröppers Argumente nochmals in einer ausführlicheren Form. Um die Bezogenheit des Menschen auf Gott und seine Bestimmung zur partnerschaftlichen Gemeinschaft mit ihm, auf welche nicht zuletzt seine Gottebenbildlichkeit verweise115 , angemessen denken zu können, müsse ein entscheidender Schritt über Pannenbergs eher phänomenologisches Verfahren116 , das die „faktische Genese und die externen
109 Vgl. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 193 sowie E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht, 281. 110 Vgl. Th. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 20. 111 Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 289. 112 Ebd. 113 Vgl. D. Sattler, Freiheit – von Gott geschenkt und in der Zeit zu leben. Ökumenisch motivierte Blicke auf Wege aus der Schuldverstrickung, in: Chr. Böttigheimer / R. Dausner (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte, 131−158; hier: 151. 114 Vgl. Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 288. 115 Vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen, 480. 116 Vgl. Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 426.
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Konstitutionsbedingungen realer menschlicher Identität“117 auf eindrückliche Weise nachzeichnet, hin zu einer transzendentalen Reflexion getan werden.118 Nur so können die internen Strukturen des Subjekts und die Unbedingtheit menschlicher Freiheit, deren konstitutive Bedeutung bei Pannenberg weitgehend ausgeblendet bleiben119 , angemessen zur Geltung gebracht werden. Auf dieser Linie wird im abschließende Kapitel des ersten Bandes Gottes möglicher Partner und Freund. Freiheitstheoretische Erschließung der Bestimmung des Menschen120 zum einen die anthropologische Denkform, als deren Prinzip das freie Ich zu gelten hat, gerechtfertigt und zum anderen herausgearbeitet, inwiefern eine transzendentale Subjektivitätstheorie als Grundlage der theologischen Lehre von Sünde und Gnade dienen kann. Die von Pröpper in Anspruch genommene ursprüngliche, transzendental zu nennende Freiheit des Menschen ist als solche zwar konstitutiv für jeden Akt menschlicher Freiheit, dem sie notwendig vorausliegt, um in ihm bedingungsweise realisiert zu werden, sie hat aber gerade im eben angesprochenen Wirklichkeitsbezug transzendentaler Freiheit nichts mit einem „verstiegenen metaphysischen Realismus“121 gemein. Die formal unbedingte Freiheit existiert nie für sich selbst, sondern hat ihren Wirklichkeitsgehalt darin, dass sie bereits in ihrem Ursprung auf die Erfüllung durch den freien Menschen angelegt ist. „Und wenn die Analyse der Selbstbestimmung auch zeigt, daß in ihr die Freiheit 1. selbst das durch sich Bestimmbare, 2. das vermittels der Affirmation von Gehalt selbst sich Bestimmende und 3. in ihrer formalen Unbedingtheit […] auch der Maßstab der wirklichen Selbstbestimmung ist, so geschieht das doch nicht anders, als daß die Freiheit die Bestimmtheit, in der sie sich stets bereits findet, von sich aus weiter bestimmt“122 , ohne dass dabei ihre formale Unbedingtheit aufgehoben würde. Damit sind, wie Wenz betonnt, die Grundlagen der Hamartiologie und der Gnadenlehre, die Gegenstand des zweiten Teilbandes sind, formuliert.123
117 Ebd., 431; vgl. Th Pröpper, Das Faktum der Sünde, 282f sowie A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 129. 118 Zur Unterscheidung einer phänomenologischen und einer transzendentallogischen Freiheitstheorie siehe M. Lerch, Gnade und Freiheit – Passivität und Aktivität. Anthropologische Perspektiven auf ein ökumenisches Grundproblem. In: IKaZ 45 (2016) 408−425; hier: 414f. 119 Vgl. Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 433 sowie ders., Das Faktum der Sünde, 276f Anm. 15 120 Vgl. Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 488−656. 121 Ebd., 512. 122 Ebd. 123 Vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen, 482.
Würde und Elend des Menschen
Mit dieser knappen Skizze von Pröppers subjektphilosophisch grundierter Rede von der Freiheit124 sollte gezeigt werden, dass letztere sich weder selbst begründen noch erfüllen kann, sondern auf den Begriff vollkommener Freiheit, die als Möglichkeitsbedingung und Ermöglichungsgrund endlicher Freiheit zu denken ist, verwiesen bleibt. Umgekehrt kann endliche, aber formal unbedingte Freiheit sich nur dann selbst in Freiheit bestimmen, wenn sie die Idee einer vollkommenen Freiheit und damit den Gedanken Gottes voraussetzt. Damit ist aber zugleich der Gipfelpunkt der transzendentalen Freiheitslehre benannt: Freiheit bedarf der Anerkennung durch andere Freiheit, um wirklich frei sein zu können125 – eine Position, die in Spannung zu Pannenbergs Aufweis der grundlegenden Ambivalenz der Freiheit steht. Pröpper wird sich fragen lassen müssen, ob er die Gebrochenheit der Freiheit ernst genug nimmt oder letztere in ihrem Möglichkeiten nicht systematisch überschätzt, weil sie zwar unbedingtes Moment, „aber keineswegs Garant für gutes Handeln“126 ist.
3.
Menschliche Freiheit zwischen Ambivalenz und formaler Unbedingtheit – die Pröpper-Pannenberg Kontroverse
Wie sich in den beiden vorhergehenden Abschnitten bereits gezeigt hat, kann menschliche Freiheit theologisch höchst unterschiedlich bewertet werden. Pröppers These, „das in Pannenbergs Sündenlehre vermißte unbedingte Moment menschlicher Freiheit“127 werde auch sonst nicht in Anschlag gebracht, gibt einen Diskussionsrahmen vor, der sich keineswegs auf die Frage der Sünde beschränkt. Im Zentrum des Interesses steht vielmehr die Frage nach dem anthropologischen Verhältnis „von Freiheit und Identität im Allgemeinen und von Sünde und Wahlfreiheit im Besonderen.“128 Die Debatte zwischen den beiden Theologen, die letztlich um die Begriffe Freiheit, Identität und Subjekt kreisen, knüpft damit an den breiteren Kontext der anthropologischen Wende des Denkens an.
124 125 126 127
Vgl. E. Dirscherl, Grundriss Theologischer Anthropologie, 246. Vgl. Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, 199 E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht, 318; vgl. 355−357 u. 384f. Th. Pröpper., Das Faktum der Sünde, 280; vgl. 276. Auch Essen findet es erstaunlich, „wie ,umstandslos, aber keineswegs unbesehen Pannenberg darauf verzichtet, den Ursprung der Sünde in der subjekthaften Freiheit aufzusuchen“ (G. Essen, „Da ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …“ Analyse und Kritik gegenwärtiger Erbsündentheologien und ihr Beitrag für das seit Paulus gestellte Problem, in: Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 1092−1156; hier: 1127). 128 G. Wenz, Wolfhart Pannenberg, 151 Anm. 6.
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3.1
Sünde und Freiheit – eine schwierige Verhältnisbestimmung
Insofern die Verkehrung des menschlichen Verhältnisses zu Selbst, Welt und Gott aufs engste mit den Naturbedingungen des menschlichen Daseins verflochten ist129 , stellt sich für Pannenberg selbst die drängende Frage, ob er damit nicht Gefahr läuft, die Sünde zu naturalisieren. Aus Sicht von Pröpper scheint er geradezu umstandslos darauf zu verzichten, „den Ursprung der Sünde mit der menschlichen Freiheit zu verbinden“130 , und damit die Rede von der Sünde in eine Aporie zu treiben, die weder mit dem Hinweis auf den Doppelsinn der Natur des Menschen131 noch unter Rückgriff auf Pannenbergs Verantwortungsbegriff132 überwunden werden kann. Verantwortung in einer konkreten Situation übernehmen und diese als Urheber herbeigeführt zu haben, sind nach Pröpper zwei grundlegend verschiedene Dinge und damit auch hinsichtlich der Schuld jeweils anders zu bewerten. Da Pannenberg Schuld aber mit der naturhaft bestimmte Ausgangslage des Menschen in Verbindung bringt, die als solche weder moralisch noch intentional böse ist, „doch wegen ihrer faktischen, wenn auch ihr selbst verborgenen Verschlossenheit gegenüber Gott und der menschlichen Bestimmung ,Sünde genannt wird“133 , fragt sich, mit welchem Recht das geschieht? Um Sünde als Sünde bezeichnen und die zurechenbare Schuld von einem fatalen Geschick unterscheiden zu können, darf sie nach Pröpper gerade nicht von menschlicher Freiheit entkoppelt werden. Sünde bleibt trotz aller natürlichen, sozialen oder kulturellen Zwänge „wesentlich Freiheitsgeschehen und ihre Geschichte [ist, P.S.] koextensiv mit der Geschichte der Freiheit, des einzelnen wie aller Menschen.“134 Ein theologisch gehaltvoller Begriff der Sünde dürfe deshalb „das eigentlich humane und – wie man wohl hinzufügen darf – von Gott selber anerkannte unbedingte Moment menschlicher Freiheit […]: ihre ursprüngliche Fähigkeit, sich zu allem, auch zu Gott, zum eigenen Dasein und der eigenen Bestimmung, verhalten zu können“135 , nicht übergehen. Dem lässt sich mit Pannenberg entgegenhalten, dass der Mensch seiner geschöpflichen Wesensnatur nach dazu bestimmt ist, seine natürlichen Daseinsbedingungen zu überwinden und aufzuheben.136 Dort, wo sich der Mensch diesem Anruf verweigert, verfällt er unweigerlich der Sünde. Um die faktische Allgemeinheit der
129 130 131 132 133 134 135 136
Vgl. Anthr., 104. Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 275. Vgl. Anthr., 105. Vgl. Anthr., 109f. Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 276. Ebd., 277. Ebd., 276. Vgl. Anthr., 105.
Würde und Elend des Menschen
Sünde, wie sie in der Lehre vom peccatum originale tradiert wird, nicht in einen Fatalismus münden zu lassen, verweist Pannenberg auf ihre Verführungsmacht137 und die ihrem Unwesen eigene Zwanghaftigkeit. Diese unauflösliche Spannung im menschlichen Selbst nötige aber nicht dazu, „die sündhafte Verkehrung menschlicher Existenz […] als notwendige beschreiben“138 oder auch nur denken zu müssen. Eine solche Konsequenz wäre aus Sicht von Pannenberg völlig abwegig. 3.2
Peccatum originale – zwischen Manichäismus und Pelagianismus
Wie wir bereits gesehen haben, ist nach Pröpper die „protologische Ursprünglichkeit transzendentaler Freiheit des Menschengeschöpfs […] die Bedingung der Möglichkeit dafür“139 , dem Menschen Sünde als Schuld zurechnen zu können.140 Auch ein in sich verkehrter Vollzug der Freiheit, ja sogar das Aufbegehren und der Widerspruch gegen Gott müssen frei genannt werden, selbst noch dort, wo sie destruktive Dynamiken nach sich ziehen. Obwohl Sünde als Verhängnis erfahren wird, sei es doch ein selbstverhängtes, in dem das Moment der Unbedingtheit menschlicher Freiheit nicht in Frage gestellt ist141 , weil ansonsten das theologische Verständnis von Sünde Gefahr laufen müsste, nach manichäischer Art fatalisiert zu werden.142 Diesem weitreichenden Vorwurf begegnet Pannenberg seinerseits mit dem Hinweis, er sehe nicht, wie bei Pröpper der Gehalt der traditionellen Lehre vom peccatum originale, die von der Allgemeinheit und Radikalität der Sünde spricht143 , gewahrt bleiben könne.144 „Peccatum originale ist eben nicht nur Disposition zur
137 138 139 140 141 142 143
Vgl. W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 292 u. STh II, 301. E. Dirscherl, Grundriss Theologischer Anthropologie, 240f. G. Wenz, Im Werden begriffen, 482. Vgl. Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 695−701. Vgl. W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 291. Vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen, 479. Nach Meinung Böttigheimers führt eine eingehende Analyse der transzendentalphilosophisch angelegten Kritik Pröppers zu dem Ergebnis, dass Pannenbergs „Freiheitsverständnis den Anfragen Pröppers nicht nur standhält, sondern darüber hinaus den Zusammenhang zwischen Universalität der Sünde und menschlicher Verantwortlichkeit auf einleuchtende Weise zu erhellen vermag“ (Chr. Böttigheimer, Der Mensch im Spannungsfeld von Sünde und Freiheit. Die ökumenische Relevanz der Erbsündenlehre (MThS.S 49), St. Ottilien 1994, 396; vgl. 376−380). 144 Im Anschluss an einen theologiegeschichtlichen Durchgang durch die Erbsündenlehre kommt Pröpper zu folgendem Schluss: „Angesichts dieser Befunde, die bisher – wie nochmals betont sei – allein aus einer immanenten Kritik der Erbschuldlehre resultieren, sehe ich nicht, wie es noch Aufgabe der Theologie sein könnte, diese Lehre zu rechtfertigen und weiter zu vertreten – es sei denn, die Theologie wollte sich in Gestalt eines bloßen Lehramtspositivismus von ihren spezifischen Aufgaben dispensieren. Da die Erbschuldlehre inzwischen mehr Probleme schafft als
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Sünde, sondern schon Faktum der Sünde, und zwar als Zustand vor allem individuellen Handeln. […] Entscheidend ist, daß jeder einzelne von Geburt an selber schon Sünder ist“145 und insofern die menschliche Verantwortung radikalisiert wird.146 Aber selbst wenn der Verweis auf den Grundbestand naturaler Verfasstheit verkehrten Lebens helfen könnte, die Lehre vom peccatum originale zu plausibilisieren, wie Pannenberg meint, ist damit das freiheitstheoretische Problem seiner Zurechenbarkeit noch längst nicht vom Tisch. Die Naturbedingungen des menschlichen Daseins, die ambivalente Verfasstheit menschlicher Freiheit und nicht zuletzt die schuldbeladenen Verstrickungen in unsere konkrete historische Lebenssituation mögen uns zwar zur Sünde disponieren und konditionieren, sie können aber nach Pröpper niemals darüber hinwegtäuschen, dass „die Sünde ihre Macht über mich doch
positive Einsicht und Orientierung vermittelt, belastet sie die Verkündigung eher, als dass sie ihr dient. Doch spreche ich mit einem solchen Fazit, wenn ich recht sehe, nur aus, was schon seit langem in Gang ist: daß man nämlich auf breiter Linie die klassische Erbschuldtheorie, insbesondere die Bestimmungen des peccatum originale als je eigener strafwürdiger Schuld und als propagatione transfusum hinter sich läßt, ohne ihr jedoch – und darauf allein richtet sich meine Kritik – klar den Abschied zu geben, was m. E. redlicher und angesichts ihrer subkutanen Fortwirkungen wohl auch erforderlich wäre“ (Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, 1089 [kursiv im Original]; vgl. 1153−1156). Selbst Kritiker von Pröpper und Essen bestreiten nicht, dass gute Gründe für diese Forderung angeführt werden können. Sie würdigen darüber hinaus auch ausdrücklich „die heuristische Kraft der freiheitstheoretischen Begründung“ einer Soteriologie und einer Gnadentheologie (R. A. Siebenrock, Geneigt oder verfallen? Ein skeptisches Plädoyer für die noch anhaltende Bedeutung der Rede vom „peccatum originale“ als Dechiffrierungspotential zur Erkenntnis der Ursachen verletzten Lebens und unserer eigenen theologischen Leerstellen, in: Chr. Böttigheimer / R. Dausner (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte, 46−68; hier: 51), die – wie schon K. Rahner – den klassischen Zirkel, in dem „die Universalität der Ursünde entweder aus der Universalität der Heilstat Jesu Christi kausal abgeleitet oder umgekehrt ihr notwendig vorausgesetzt wird“, zu vermeiden sucht (E. Dirscherl, Der universale Heilswille Gottes, der noachidische Bund und die Schuldgeschichte der Menschen. Reflexionen über unsere Intersubjektivität und Verantwortung ausgehend von den Aporien der Erbsündenlehre, in: Chr. Böttigheimer / R. Dausner (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte, 69−102; hier: 75). Allerdings warnt Roman A. Siebenrock angesichts der Erfahrung der tiefen Ambivalenz der Moderne zugleich eindringlich davor, das prekäre Lehrstück des peccatum originale vorschnell und gewissermaßen unkritisch zu verabschieden, ohne dessen Potential für die theologische Analyse der verschiedenen Formen der Gewaltverhältnisse unter Menschen gehoben zu haben (vgl. R. A. Siebenrock, Geneigt oder verfallen, 51; 54 u. 57−59). 145 W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 292; vgl. 291f. Siehe dazu auch B. Kruhöffer, Reflexionen über das Böse’. Sprachliche Differenzierungen in Auseinandersetzung mit der Theologie Wolfhart Pannenbergs (SSThE 31), Münster 2002, 127−130 sowie H. Hoping, Bewusstes Leben, Egozentrizität und die Macht des Bösen. Zum Verständnis der Erbsünde, in: Ders. / M. Schulz (Hg.), Unheilvolles Erbe? Zur Theologie der Erbsünde (QD 231), Freiburg i.Br. 2009, 180−191; hier: 188−190. 146 Vgl. dazu den Abschnitt Die Universalität der Sünde(n) und die Radikalisierung menschlicher Verantwortung in E. Dirscherl, Der universale Heilswille Gottes, 96−100.
Würde und Elend des Menschen
von mir hat“147 – auch wenn das Böse seine Macht über die Menschen aufgrund der vielfältigen Verstrickungen in eine Geschichte der Gewalt, die mein Handeln auf vielfältige Weise bestimmt, „auch nicht durch mich alleine“148 bekommt. Die qualitative Differenz zwischen „Disposition zur Sünde und faktischer Sünde“149 macht zwar deutlich, dass „der Sünder aktiv und passiv zugleich ist“150 , indem er eine verhängnisvolle Wirklichkeit, in der er sich immer schon vorfindet, durch seine explizite oder auch nur implizite Zustimmung fortschreibt. Sie ändert nach Pröpper allerdings nichts an der Einsicht, dass jeder Versuch einer verstehenden Annäherung an Begriff der Sünde letztlich an „der Unableitbarkeit ihrer freien Faktizität […] seine Grenze“151 finden muss. Mit diesem Eingeständnis ist die Frage, die mit der Allgemeinheit und der Radikalität der Sünde aufgeworfen ist, für Pannenberg noch nicht beantwortet. Das ist deshalb der Fall, weil die Lehre vom peccatum originale nicht nur die vermeintliche Neutralität der Freiheit gegenüber den Alternativen von Gut und Böse bestreitet, sondern bereits die Indifferenz gegenüber Gut und Böse als in sich verkehrt und damit „die Unentschiedenheit gegenüber dem Guten“152 als in sich sündhaft bestimmt.153 Zwar sieht auch Pröpper den entscheidenden Schritt zur Sünde in der Verweigerung des unbedingten Entschlusses zum Guten154 , hält aber auf Basis seines Freiheitsdenkens daran fest, dass ein solcher Entschluss faktisch innerhalb der Möglichkeiten des Menschen liegen müsse und seine Grenzen nicht prinzipiell überschreiten könne. Dagegen macht Pannenberg geltend, dass die Sünde ihre Macht über den Menschen nicht erst von ihm gewinne – wie Pröpper meint155
147 148 149 150 151 152 153
Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 278. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 105; vgl. 194−200. Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 278. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologiesche Anthropologie, 209. Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 278. G. Wenz, Im Werden begriffen, 484. Vgl. Chr. Böttigheimer, Der Mensch im Spannungsfeld von Sünde und Freiheit, 339: Das „Freiheitsverständnis Pannenbergs prägt seine gesamte anthropologisch-theologische Konzeption und damit nicht zuletzt seine Neuaussage des peccatum originale. Indem er in der Freiheit des Menschen zum einen die Bedingung menschlicher Subjektivität erkennt, die Freiheit also als Ermöglichungsgrund menschlicher Identitätsfindung auffaßt, und sie zum anderen als Fähigkeit zur Transzendenz einer dem Menschen vorgegebenen Situation denkt, kann es sich seiner Meinung nach bei der menschlichen Freiheit nur um eine Freiheit zum Guten handeln. […] Nicht nur die Erbsünde, verstanden als Gebrochenheit zwischen Exzentrizität und Zentralität in der Subjektwerdung des Menschen betrifft unmittelbar die Wesensstruktur des Menschen, sondern ebensosehr dessen Freiheit, die mit dem Prozeß der Identitätsbildung direkt zusammenhängt und als Freiheit zum Guten im Absoluten gründet.“ 154 Vgl. Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 279. 155 Vgl. ebd., 278.
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–, aber eben auch nicht ohne ihn und ohne seine tätige Zustimmung.156 Letztere sei allerdings weder als Freiheitsakt noch als Verweigerung des Entschlusses zum Guten zu qualifizieren, sondern habe vielmehr den Charakter eines Erliegens durch ein sich Einlassen auf die vorgespiegelte Illusion des Guten, „den das Böse für ihn und so auch in ihm erzeugt.“157 Die Sünde des Menschen besteht nach Pannenberg also darin, der Verführung zu erliegen und das Böse als ein Gut zu erstreben, das ihm vermeintlich förderlich ist. Sünde ist folglich eng mit Unwahrhaftigkeit und Verblendung verbunden158 , die für das wahrhaft Gute blind machen und durch die Affirmation eines trügerischen Scheins der zersetzenden Macht des Bösen erst Raum geben, ja es förmlich heraufbeschwören.159 Der Mensch ist, darin würde Pannenberg Pröpper durchaus recht geben, als Geschöpf von Gott dazu bestimmt, sich in freier Selbständigkeit zu realisieren, allerdings übersteige die ihm damit gesetzte Aufgabe die Möglichkeiten jeder endlichen Freiheit.160 Die mit dem Gedanken des Guten untrennbar verbundene Vollendung des Daseins könne ihm nur von Gott her in einer noch offenen Zukunft zugesagt und geschenkt werden.161 Folglich entspricht der „geschöpflichen Bestimmung […] zwar ein Angelegtsein im Dasein des Menschen, aber nicht notwendig auch die Fähigkeit, diese Anlage von sich aus zu verwirklichen.“162 Wollte der Mensch von sich aus der sein, der er seinem Wesen nach sein soll163 , liefe er Gefahr, sich aufgrund der Zweideutigkeit seiner natürlichen Verfasstheit und dem ihr eigenen Hang zur Egozentrik an die Stelle Gottes zu setzen. Damit wäre nicht nur das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf verkehrt, der Mensch würde auch seine eigene Identität als freies Geschöpf konterkarieren und seine Humanität verfehlen. Als Geschöpf der Freiheit ist der Mensch dazu bestimmt, „als er selbst, nicht aber von sich aus zu sein, was er
156 157 158 159 160 161 162 163
Vgl. W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 292. G. Wenz, Im Werden begriffen, 484. Vgl. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 99. Vgl. W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 292f. Vgl. ebd., 294f. Vgl. ebd., 296f. Ebd., 291 Anm. 2. Nach J. Knop bezeichnet die Ursünde gerade das, „was die Menschheitsgeschichte von Beginn an prägt und was ihre Tragik ausmacht: Dass der Mensch von Anfang an nicht der war, der er von Gott her sein sollte. Dass es einen Riss im Innersten seiner Freiheit gibt, der ihn unfähig sein lässt, dem Ruf Gottes wirklich aus ganzem Herzen (,immakulat) zu folgen. Einen Riss, der eine Wirklichkeit beschreibt, die seinem Tun und Lassen nicht nur als Möglichkeit zur Entscheidung aufgegeben ist, sondern die tiefer dringt: eine Verwundung bereits im Erwachen seines Selbstseins“ (J. Knop, Die Ursünde – Unheilvolles Erbe der Theologiegeschichte oder der Menschheit? In: H. Hoping / M. Schulz (Hg.), Unheilvolles Erbe? Zur Theologie der Erbsünde [QD 231], Freiburg i.Br. 2009, 25−48; hier: 25; vgl. 41f. u. 47f.).
Würde und Elend des Menschen
ist.“164 Wirklich freies Geschöpf, das wäre gegenüber Pröppers transzendentalem Freiheitsdenken nochmals mit Nachdruck zu betonen, könne der Mensch, der in seinem Bewusstsein zumindest unthematisch immer schon auf das Gute und auf Gott als dessen Horizont hin bezogen ist, nur von seinem Schöpfer her und auf diesen hin werden.165
4.
Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht – eine kritische Bilanz
Aus dem letzten Satz des vorausgehenden Abschnitts wird deutlich, dass die Debatte um Freiheit, Identität und Subjekt, wie sie zwischen Pannenberg und Pröpper geführt wurde, nicht auf einer rein methodischen Ebene stehen bleibt, sondern das Verständnis von Theologie insgesamt berührt. Während Pannenberg die „Exzentrizität des Menschen als Ort seiner natürlichen Religiosität“166 bestimmt und darüber hinaus davon ausgeht, dass er sich als Geschöpf von Gott her empfängt, also sich als freies Wesen dessen Schöpferwillen verdankt167 , sieht Pröpper gerade die Freiheit als den Ort, an dem sich „die Sehnsucht des Menschen nach Gott […] entzünden kann.“168 Werfen wir einen Blick auf den bisher zurückgelegten Weg, so zeigt sich aber auch, dass die Positionen von Pannenberg und Pröpper in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung nicht vollkommen unvereinbar bleiben müssen, sondern einander im Sinne einer „kritischen Komplementarität“169 ergänzen. Beide reflektieren auf ihre je eigene Weise eine grundlegende Spannung, der die christliche Lehre vom peccatum originale offenbar nicht entrinnen kann. Das entscheidende Problem der Dialektik der Erbsünde, die neben der fast schon naturhaft zu nennenden Allgemeinheit und Radikalität des Faktums der Sünde auch die formale Unbedingtheit menschlicher Freiheit zu würdigen hätte, besteht darin, „wie der wirkliche Schuldcharakter der Erbsünde mit dem Charakter ihrer vorpersonalen universalen Vorgegebenheit gegenüber der sittlichen Entscheidung des einzelnen zusammenzudenken ist“170 , wenn dabei gleichermaßen die Fallstricke einer Abwertung der
164 165 166 167 168 169
G. Wenz, Im Werden begriffen, 485. Vgl. W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 298. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 78. Vgl. Anthr., 66. A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 87. B. Nitsche, Endlichkeit und Freiheit. Studien zu einer transzendentalen Theologie im Kontext der Spätmoderne, Würzburg 2003, 286 sowie A. Langenfeld / M. Lerch, Theologische Anthropologie, 186−188 u. 242. 170 B. Ruhe, Dialektik der Erbsünde. Das Problem von Freiheit und Natur in der neueren Diskussion um die katholische Erbsündenlehre (ÖBFZPhTh 31), Freiburg / Schweiz 1997, 265.
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menschlichen Freiheit ebenso wie diejenigen eines überzogenen Freiheitspathos vermieden werden sollen. Das transzendentale Freiheitsdenken erinnert mit Recht daran, dass wir als Menschen zwar in konkreten Abhängigkeitsverhältnissen stehen und insofern in unserem Verhalten festgelegt sind, ohne dass damit unsere Grundkonstitution als Wesen formal unbedingter Freiheit in Frage gestellt wäre. Dieser Einsicht einer „transzendentale[n] Theorie des Selbstbewusstseins und der Freiheit“171 würde Pannenberg insofern folgen können, als auch er der Meinung ist, der Mensch habe prinzipiell die Fähigkeit, sich gegenüber seinen sozialen und kulturellen Prägungen nochmals frei zu verhalten.172 Allerdings eröffnet sein Verständnis der Freiheit als Freiheit zum Guten dem Menschen darüber hinaus einen spezifischen Freiheitsraum, der ihn in Beziehung zu Gott als seinem Schöpfer, als Schöpfer der Welt und als Herrn der Geschichte setzt. Der Begriff der Freiheit verbindet sich somit über den Begriff des Guten mit der geschichtstheologischen Grunddimension von Pannenbergs Denken.173 Als Inbegriff des Erstrebenswerten ist der Gedanke des Guten unlöslich „mit der noch ausstehenden Vollendung des Daseins angesichts einer noch offenen Zukunft“174 verbunden, die dem Menschen als solche aber nur von Gott her geschenkt werden kann, ohne dabei dessen Freiheit als Geschöpf, das zur Gemeinschaft mit Gott, den Menschen und der gesamten Schöpfung berufen ist, zu überspielen. Wenn Pannenberg trotz aller durchaus berechtigten Kritik an der Lehre vom peccatum originale festhält und diese im Spannungsfeld zwischen Soteriologie und Anthropologie verortet, schärft er damit nicht nur unsere Sensibilität für die Zerbrechlichkeit menschlicher Freiheit, sondern nimmt – anders als Pröppers transzendentaltheologischer Ansatz – auch den wechselvollen Lauf der Geschichte bewusst in den Blick. Er bindet die Lehre vom peccatum originale explizit an die allgemeine Erfahrung des Bösen und des Übels, wie sie uns in der Verletzung und Zerstörung von Leben, ja der Schöpfung insgesamt auf vielfache Weise begegnet, zurück. Damit wird zugleich deutlich, wie tief und auf schier unentwirrbare Weise wir als einzelne ebenso wie als soziale, politische, religiöse oder kulturelle Gemeinschaften in diese Prozesse der Gewalt verstrickt sind, als Täter ebenso wie als Opfer. Mit ihrer Skepsis gegenüber der Selbstbehauptung und Selbstlegitimation des Menschen bietet das Lehrstück des peccatum originale aber zugleich auch ein „inspirierendes anarchisches Potential“175 , das sich gegen jede vorschnelle theologische Systematisierung
171 172 173 174
Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 282. Vgl. Anthr., 217f. Vgl. F.-J. Overbeck, Der gottbezogene Mensch, 383f. W. Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität, 296; vgl. ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, 23. 175 R. A. Siebenrock, Geneigt oder verfallen, 65.
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sperrt und gerade darin das Evangelium – selbst angesichts einer tiefen Krise der Freiheit, wie sie etwa von A. Mbembe oder J. Butler im Anschluss an M. Foucault auf wirkmächtige Weise thematisiert wird176 – wachhält. Wird die theologische Diskussion um das peccatum originale im Anschluss an Pannenbeg gleichermaßen im philosophischen Ringen um Autonomie wie in ihren vielschichtigen biblischen Bezügen verortet, kann sie gerade in unserer vielfältigen und langandauernden Gewaltgeschichte mit Nachdruck an die Sehnsucht des Menschen nach Befreiung erinnern und darin „umso drängender die Hoffnung auf die noch ausstehende, zukünftige Erlösung“177 wachrufen.
176 Vgl. K. Ruhstorfer, Selbstursprünglichkeit der Freiheit?, in: Chr. Böttigheimer / R. Dausner (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte, 184−211; hier: 203−209. 177 R. Dausner, Stellvertretung und Freiheit. Wiederaneignungsversuche der Soteriologie nach einer möglichen Verabschiedung der Erbsündenlehre, in: Chr. Böttigheimer / R. Dausner (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte, 332−360; hier: 345.
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Jesus Christus als Schöpfungsmittler im Denken Wolfhart Pannenbergs
Die Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi gehört zentral zur Begründung der inneren Verbindung von Anthropologie, Christologie und Schöpfungslehre bei Wolfhart Pannenberg, auch wenn er sie in seinen Entwürfen zur Anthropologie von 1962 und 1983 nicht direkt thematisiert.1 Im Folgenden will ich im ersten Punkt seine Sicht der Schöpfungsmittlerschaft Christi in seinen „Grundzügen der Christologie“ von 1964 darlegen, dann die Fortentwicklung dieser Sicht im zweiten Band seiner Systematischen Theologie von 1991 besprechen und im dritten Teil auf wichtige Parallelen des Denken Pannenbergs zur Theologie Karl Rahners in dieser Frage eingehen. Ein kurzer Ausblick beschließt die Ausführungen.
1.
Grundzüge der Christologie (1964)
Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi heißt für Pannenberg, dass „Jesus nicht nur als Gottessohn präexistent ist, sondern schon bei der Schöpfung aktiv beteiligt war, ja, dass alles ‚in ihm‘, durch ihn geschaffen ist“2 . Dies „hängt mit der vollen Gottheit Jesu zusammen“3 . Biblisch ist diese Schöpfungsmittlerschaft Christi mehrfach ausgesprochen, in Kol 1, 15–17; Hebr 1, 2f; 1 Kor 8, 6 und Joh 1,3.10. In Kol 1, 16 heißt es: „Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare,Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen“. In der Frage der Begründung der Schöpfungsmittlerschaft Christi grenzt sich Pannenberg deutlich von den Apologeten des zweiten Jahrhunderts ab.4 Während diese einen philosophischen, kosmologisch verstandenen Begriff des Logos hatten, wonach der Logos den Kosmos als einheitliches Ganzes zusammenhält, und ihn dann auf Jesus Christus als seine Inkarnation übertrugen5 , muss – so Pannenberg
1 Vgl. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie (1962), 7. Aufl., Göttingen 1985; ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 2 Chr. 169 (6 1982). 3 Ebd. 4 Pannenberg bezieht sich besonders auf Justin und seinen Schüler Tatian (vgl. Chr. 161–163). 5 Vgl. Chr. 161.169
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– „die Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes streng aus dem Offenbarungsbegriff begründet werden.; sie ist nicht als naturphilosophische Gegebenheit für sich konstatierbar. Wir können nur nachträglich unser Verständnis der Welt daraufhin befragen, ob es etwas vom Verhältnis des Sohnes zum Vater erkennen läßt, ob also die Welt als angelegt auf das in Jesus Christus offenbare Verhältnis des Vaters zum Sohne zu verstehen ist“6 . Pannenberg bindet damit methodisch die Vorstellung der Schöpfungsmittlerschaft Christi klar an das Zentrum seiner Christologie zurück, an die Offenbarung Gottes in der Person Jesu. Zudem weist er darauf hin, dass auch in Israel der Schöpfungsglaube von der konkreten Heilserfahrung her angeeignet worden ist.7 Dabei hat entscheidende Bedeutung, dass im auferweckten und zu Gott erhöhten Jesus das Eschaton, also das letzte Ziel von Mensch und Schöpfung, schon vorweg erschienen ist. Von diesem in der Geschichte Jesu erschienen Ende her empfängt das Ganze des Weltprozesses seine Einheit und seinen Sinn. Da der Sinn alles Einzelgeschehens relativ auf dieses Ganze ist, dem es angehört, entscheidet sich auch dieser Sinn erst von dem Ende her, das in Jesus erschienen ist.8 Pannenbergs eschatologisches Wahrheitsverständnis leuchtet hier auf, wonach das Wesen einer Sache erst durch das entschieden wird, was aus ihr wird. Er greift dabei auf die biblische Aussage über Jesu als eschatologischen Richter zurück: „Durch ihn als eschatologischen Richter empfängt jedes Geschöpf sein endgültiges Licht, seinen endgültigen Platz, seine endgültige Definition im Zusammenhang der gesamten Schöpfung“9 . Damit wird auch eine je eigene Beziehung Jesu Christi zu jedem Geschöpf ausgedrückt. Von dieser endgültigen Bedeutung Jesu Christi für alle Dinge her folgert Pannenberg: „Insofern ist die Erschaffung aller Dinge durch Jesus vermittelt“10 . Im Hintergrund steht dabei die Vorstellung, dass die Schöpfung ein Akt der Ewigkeit Gottes ist und sich nicht nur auf den Anfang der Welt, sondern auf den Weltprozess als ganzen bezieht und diese ewige Schöpfungsakt Gottes „erst im Eschaton ganz in der Zeit entfaltet ist“11 . Erst dann ist das Geschaffene vollendet, ganz das, wozu es bestimmt ist. Daher sind die „Schöpfungsaussagen selbst eschatologisch zu verstehen, im Sinne einer vom Eschaton her geschehenden und vollendeten Schöpfung“12 . Christozentrisch gesagt: Da Jesus durch seine Erhöhung zum eschatologischen Herrscher über das All geworden ist, „in die schöpferische
6 7 8 9 10 11 12
Ebd. 169. Vgl. Chr. 169 mit Verweis auf Gerhard von Rads Theologie des Alten Testaments in Anm. 126. Vgl. Chr. 407. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 409.
Jesus Christus als Schöpfungsmittler im Denken Wolfhart Pannenbergs
Allmacht Gottes eingesetzt ist“, wirkt „Gott in Ewigkeit nur durch ihn schöpferisch“.13 Dies kommt in der Hinordnung aller Dinge auf die Person und Geschichte Jesu zutage. Wie aber ist diese Bezogenheit aller Geschöpfe auf Jesus, wodurch er sie miterschafft, genauer zu verstehen? Mit Jesus ist die eschatologische Wirklichkeit des Gottesreiches erschienen; in seiner Hingabe an Gott und an seine Sendung zu den Menschen ist die Herrschaft Gottes gegenwärtig geworden. Er rief die Menschen dazu auf, ihm auf diesem Weg der Hingabe an Gott und sein Reich zu folgen, sein Leben hinzugeben und es so endgültig zu retten.14 Erst in Jesus ist „der ewige Sohn Gottes in der Zeit gegenwärtig“. So wird erst durch ihn „die Schöpfung in die Sohnschaft, d. h. in das ihr gemäße Verhältnis zu Gott vermittelt und so mit Gott versöhnt“.15 Diese Inkarnation Gottes in Jesus ist dabei immer vom eschatologischen Geschehen seiner Auferweckung her zu sehen; diese gehört konstitutiv zur Inkarnation, da „die Einheit Jesu mit Gott erst von seiner Auferweckung her entschieden ist“16 . Diese eschatologisch bestimmte Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth „bildet den Bezugspunkt, auf den hin der Weltverlauf seine Einheit gewinnt, und vom dem her jedes Ereignis und jede Gestalt der Schöpfung ist, was sie ist.“17 . In der Auferweckung Jesu ist proleptisch offenbar geworden, was das Ziel der Schöpfung der Welt ist, ihre Vollendung in und durch Gott. Freilich bleibt dabei alles theologischen Sprechen gegenüber der eschatologischen Wirklichkeit der Auferweckung inadäquat, da es aus der Erfahrung unserer gegenwärtigen Wirklichkeit genommen ist, die noch nicht die des Eschaton ist.18 Im bekannten Hymnus des Kolosserbriefes Kol 1, 15–20 wird in der ersten Strophe Christus als Bild Gottes und als Erstgeborener der ganzen Schöpfung bezeichnet. In ihm, durch ihn und auf ihn hin ist alles erschaffen (Kol 1, 15f). Im Anschluss wird eschatologisch Christus „Erstgeborener der Toten“ (Kol 1, 18) genannt und soteriologisch gesagt, dass Gott mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnte, um durch ihn alles zu versöhnen (Kol 1, 19f). Nach Pannenberg bleibt dabei aber eine Spannung, da die eschatologische Weltenwende, die die Erhöhung Jesu bedeutet, in den Schöpfungsaussagen nicht recht zum Zuge kommt. „Am ehesten ist das Eph 1,10 durch den Gedanken der Zusammenfassung des Alls in Christus gelungen,
13 Ebd. 410. Anders gesagt: „Die Schöpfungsmittlerschaft ist selbst die Königsherrschaft Jesu Christi, die Ausübung der Allmacht Gottes in der Welt durch den Erhöhten“ (ebd. 412f). 14 Vgl. ebd. 412 mit Verweis auf das Wort Jesu Mk 8, 35: „wer sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“. 15 Chr. 413. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd. 413.
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aber nur um den Preis, dass dabei von der Schöpfung des Alls nicht ausdrücklich die Rede ist.“19
2.
Systematische Theologie, Band II (1991)
Pannenberg hat 27 Jahre später seine Sicht der Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi in der Schöpfungslehre und in der Christologie im zweiten Band seiner „Systematische(n) Theologie“ deutlich weiterentwickelt und theologisch vertieft. Dazu äußert er sich selbst in diesem Kontext. Im Blick auf seine „Grundzüge der Christologie“ fasst er zusammen, dass er dort die neutestamentlichen Aussagen zur Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi mit den Aussagen von dessen ewiger Erwählung (Prädestination) zum Haupt einer neuen Menschheit verbunden hat entsprechend Hebr 1, 2, wonach Gott den Sohn zum Erben von allem eingesetzt hat und durch ihn auch die Welt erschaffen hat; vgl. Kol 1,16.20 und Eph 1,10).20 Dann führt Pannenberg aus: „Die Aussage der der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes ist hier zunächst final zu verstehen. Sie besagt, dass erst in Jesus Christus die Schöpfung der Welt vollendet sein wird. So richtig dieser Gesichtspunkt von den genannten neutestamentlichen Aussagen her ist, so wenig läßt sich jedoch die Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes auf diesen Aspekt einschränken. Die finale Hinordnung der Geschöpfe auf das Erscheinen Jesu Christi setzt vielmehr voraus, dass die Geschöpfe schon den Ursprung ihres Daseins und Wesens im Sohn haben. Sonst bliebe die finale Zusammenfassung aller Dinge im Sohne (Eph 1,10) den Dingen selbst äußerlich, und das hieße, sie wäre nicht die definitive Vollendung des den geschöpflichen Wesen eigentümlichen Seins. Wenn dagegen die Geschöpfe im ewigen Sohn oder Logos ihren Ursprung haben, dann werden sie als ihrer selbst bewußte Geschöpfe so lange von sich selbst entfremdet sein, wie sie nicht in diesem Logos ihre eigenes Wesensgesetz wahrnehmen und annehmen.“21 Pannenberg vertieft also seine Auffassung der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes dahingehend, dass alle Geschöpfe im ewigen Sohn auch ihres Ursprung haben, Wie ist dies aber näher zu verstehen? Entscheidend ist hier die Beziehung zwischen Gott dem Vater und seinem ewigen Sohn. Zunächst ist festzuhalten, dass die christliche Schöpfungsaussage zunächst mit der Person des Vaters verbunden ist. Er
19 Ebd. 409. 20 Traditionsgeschichtlich sieht Pannenberg die jüdische Vorstellung der präexistenten göttlichen Weisheit (Spr 8, 22–31) als Kontext der Entwicklung der Auffassung der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes (vgl. STh II, 39). 21 STh II, 39.
Jesus Christus als Schöpfungsmittler im Denken Wolfhart Pannenbergs
schenkt in seiner Güte den Geschöpfen das Leben, ist ihnen fürsorglich zugewandt und ermöglicht so ihre Fortdauer und Selbständigkeit.22 Von dieser Schöpfergüte ist die Liebe des Vaters zu unterscheiden, mit der er von Ewigkeit den Sohn liebt. Es sind zwei verschiedene freie Akte Gottes. In diese ewige Liebe des Vaters zum Sohn werden jedoch alle Geschöpf einbezogen. „In allen Geschöpfen, denen seine Liebe zugewandt ist, liebt er den Sohn. Das heißt nicht, dass die Liebe des Vaters etwa nicht den Geschöpfen als solchen – einem jedem in seiner Besonderheit – gelten würde. Die Liebe des Vaters richtet sich nicht nur auf den Sohn, sondern auch auf jedes einzelne seiner Geschöpfe. Aber die Hinwendung des Vaters zur Besonderheit eines jeden seiner Geschöpfe ist immer schon durch den Sohn vermittelt.“23 Der Sohn vermittelt dabei nicht nur die Liebe des Vaters zu den Geschöpfen, sondern ist auch „der Ursprung von allem dem Vater gegenüber anderen, der Ursprung also auch der Selbständigkeit der Geschöpfe gegenüber dem Schöpfer“24 . Dies sei der Sachgehalt der neutestamentlichen Aussage der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes (Hebr 1, 2) bzw. des Logos (Joh 1, 3). Sachliche Grundlage für diese Aussagen ist für Pannenberg die „konkrete Beziehung Jesu zum Vater“ „in dem innergöttlicher und geschöpflicher Aspekt der Sohnesbeziehung immer schon verbunden sind“.25 Entscheidend sei dabei die Selbstunterscheidung Jesu vom Vater, „durch die er Gott als den Vater im Gegenüber zu sich selber Gott sein läßt, indem er sich selbst als bloßes Geschöpf vom Vater unterscheidet, (…) sein Leben durch ihn ganz bestimmen läßt, so wie es seine Botschaft für das Verhältnis der Menschen zur Zukunft der Gottesherrschaft fordert“26 . Gerade in dieser Selbstunterscheidung im Leben Jesu offenbart sich der ewige Sohn als Gegenüber zu Gott im irdischen Leben Jesu. Gott ist wesentlich so, wie er durch Jesus offenbar wird. Die Beziehung zu Jesus als dem Sohn gehört somit zur ewigen Gottheit des Vaters. Die der väterliche Zuwendung zum Sohn entsprechende Selbstunterscheidung des ewigen Sohnes, die dem Vater allein die Ehre des einen Gottes gibt, also sein Hingabe an ihn als den ewigen Gott bildet den Ansatzpunkt geschöpflichen Daseins in seiner Selbständigkeit. „Wenn nämlich der ewige Sohn in der Demut seiner Selbstunterscheidung vom Vater aus der Einheit der Gottheit heraustritt, indem er den Vater allein Gott sein läßt, dann ist im Gegenüber zum Vater das Geschöpf entstanden, genauer gesagt dasjenige Geschöpf, dem sein Verhältnis zu Gott als seinem Vater und Schöpfer thematisch wird: der Mensch.“27 In deutlicher Anthro-
22 23 24 25 26 27
Vgl. ebd. 35f. Ebd. 36. Ebd. Ebd. Ebd. Zum Folgenden vgl. ebd. Ebd. 37.
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pozentrik sieht Pannenberg das Dasein der Welt als Bedingung für die Möglichkeit des Menschen damit mitgesetzt.28 Während Menschen immer wieder gegen ihre eigene Endlichkeit aufstehen und wie Gott sein wollen29 , realisiert Jesus in seiner ganzen Hingabe an Gott und seine Verherrlichung, in die er auch die anderen Menschen hineinziehen wollte, die „Struktur und Bestimmung geschöpflichen Daseins überhaupt“. Insofern ist der ewige Sohn „der Seinsgrund des geschöpflichen Daseins Jesu und damit zugleich allen geschöpflichen Seins“.30 Anders als in den „Grundzügen der Christologie“ will Pannenberg im zweiten Band seiner Systematischen Theologie zum einen auf der Basis des Prologs des Johannesevangeliums zum anderen im Gespräch mit der Religionsphilosophie Hegels eine tieferes Verständnis der Schöpfungsmittlerschaft des ewigen Sohnes gewinnen. Nach Joh 1, 4b und 1,9 ist der Logos, dem alle Dinge ihr Dasein verdanken (Joh 1, 3), das Licht, das alle Menschen erleuchtet, d. h. für Pannenberg, dass die Menschen in besonderer Weise des Logos teilhaftig sind.31 Denn der Menschen hat Bewusstsein und Selbstbewusstsein, er ist sich des Unterschiedes jedes Dinges von allem anderen und von sich selbst bewusst. Dabei wird immer schon das Unendliche als Bedingung der Erkenntnis endlicher Dinge mitgewusst. Insofern ist „der Mensch in seinem bewußten Leben in spezifischer Weise des Logos inne“, der als „das generative Prinzip der Besonderung das eigentümliche Dasein jedes Geschöpfes begründet und durchwaltet“.32 Die Menschwerdung des Logos ist also nicht etwas der menschlichen Natur Fremdes, vielmehr heißt es in Joh 1, 11: „Er kam in sein Eigentum“. Die Menschen gehören von der Schöpfung her zum Logos und sind so die Seinen.33 Unbegreiflicherweise nahmen die Seinen ihn nicht auf (Joh 1, 11). Freilich ist damit die Inkarnation nicht aus der menschlichen Geschöpflichkeit ableitbar. Sie ist Geschenk der unverfügbaren Freiheit Gottes. Während Pannenberg den Logos des Johannesprologs eng mit dem bewussten Leben des Menschen in Verbindung bringt, erwähnt er nicht, dass der Evangelist hier auf Genesis 1 Bezug
28 Dabei ist immer zu sehen, dass alle Geschöpfe zutiefst auf Gott bezogen sind, dem sie ihr Dasein und ihre Erhaltung verdanken und den sie schon durch ihre bloßes Dasein als ihren Schöpfer loben (vgl. auch STh II, 330). 29 Vgl. ebd. 38. 30 Alle Zitate ebd. 39. 31 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd. 331. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd. 331.429f.
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nimmt34 . Dort erschafft Gott die Welt durch sein Wort; und dies überträgt Johannes auf Jesus Christus, „der als inkarnierter Logos der Sohn des Vaters in und vor aller Zeit ist, um mittlerisch die Schöpfung zu wirken und zu durchwirken“35 . Er ist der ewige Logos, in dem Gott die Welt erschaffen hat und sich selbst in dessen Menschwerdung ganz und endgültig ausgesagt hat. In der theologischen Tradition gibt es die Vorstellung, dass der ewige Sohn in der Weise am Akt der Schöpfung teilhat, dass er, der Logos von Ewigkeit her die Urbilder der Dinge, ihre Ideen in sich enthält.Pannenberg will auf diese Vorstellung bei der Interpretation der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes verzichten, weil sie zu anthropomorph die Unterscheidung von Verstand und Willen in Gott denke und die Geschichtlichkeit der aus Gottes Tun hervorgehenden Weltwirklichkeit beeinträchtige.36 Ihr sachliches Anliegen, den Hervorgang des Vielen aus der göttlichen Einheit zu verstehen, sieht er besser gewahrt im Grundgedanken Hegels, dass der Sohn das Prinzip der Andersheit ist. Hegel hat „das statische Bild eines intelligiblen Kosmos der Ideen ersetzt durch die Vorstellung eines die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der geschöpflichen Dinge generierenden Prinzips und zudem noch den christologischen Charakter des Gedankens im Gegensatz zur mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Lehre von den Ideen im göttlichen Geiste erneuert: Das ist der Gedanke Hegels, dass der Sohn in der Trinität das Prinzip der Andersheit ist, das zum Ausgangspunkt für das Entstehen des Endlichen als des der Gottheit gegenüber schlechthin anderen wird.“37 Diesen Grundgedanken Hegels nimmt Pannenberg auf, lehnt aber die Behauptung ab, dass diese Hervorbringung der Welt des Endlichen eine logisch notwendige Selbstentfaltung des Absoluten sei. Diese These sei mit dem christlichen Glauben an die Schöpfung als freien Akt Gottes nicht vereinbar.38 Sie ergebe sich bei Hegel daraus, „dass die Trinität als Entfaltung eines nach dem Muster des Selbstbewußtseins gedachten absoluten Subjekts dargestellt wird“, das diese Selbstentäußerung notwendigerweise über den Sohn hinaus bis zur Hervorbringung des Endlichen
34 Pannenberg erwähnt diese Verbindung von Joh 1, 1 und Gen 1,1 nur bei Meister Eckhart (vgl. ebd. 42, Anm. 75) 35 G. Wenz, Schöpfung (Studium Systematische Theologie 7), Göttingen 2013, 71; vgl. ebd. 70f; vgl. zum Rückbezug von Joh 1,1 („Im Anfang“) auf Gen 1, 1 in der Septuaginta-Übersetzung („Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“) auch U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (Theologischer Handkommentar zum NT 4), 5. Aufl., Leipzig 2016, 42. 36 Vgl. STh, II, 39–42. 37 STh II, 42; vgl. ebd. 33, Anm. 56 die Verweise zu Textstellen bei Hegel. 38 Vgl. ebd. 43 sowie ebd. 33f. Diese Freiheit Gottes bei der Schöpfung darf freilich nicht als Beliebigkeit bzw. Willkür verstanden werden, sondern entspricht zutiefst dem Wesen des dreieinen Gottes als Liebe. Gott erschafft aus Liebe eine Welt, der er sich selbst mitteilt und die er in die volle Gemeinschaft des Lebens mit ihm und der gegenseitigen Liebe führen will.
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immer weiter treibt.39 Dagegen ist jedoch das Leben der Trinität von der Wechselseitigkeit der Beziehungen der trinitarischen Personen her zu denken. Für jede dieser drei Personen ist die „Selbstunterscheidung von den beiden anderen (...) Bedingung ihrer Gemeinschaft in der Einheit des göttlichen Lebens“. Dadurch „stellt sich das göttliche Leben als ein in sich geschlossener Kreis dar, der keines anderen außerhalb seiner bedarf “40 . Hegel-Kenner mögen klären, wie genau Pannenberg Hegels Denken hier trifft. Jedenfalls ist festzuhalten, dass die Schöpfung der Welt nicht geschieht, damit sich Gott erst voll verwirklichen kann, sondern ist ganz freie Tat Gottes und drückt seiner Liebe zu den Geschöpfen aus. Innertrinitarisch ist dabei zu sehen, dass der Sohn in seinem Heraustreten aus der Gottheit, in seiner Menschwerdung die vom Vater empfangene Sendung ausführt, diese aber ein freier Akt der Realisierung seines Sohnseins ist.41 Die Sprache stößt hier freilich an ihre Grenzen. Der ewige Sohn tritt nicht aus dem Gottsein, wie ein Mensch von einem Raum in einen anderen tritt, sondern wird, was er vorher noch nicht war, ein Mensch mit allen Konsequenzen des menschlichen Daseins. Pannenberg kommt in diesem Zusammenhang von Trinität und Schöpfung nun expliziter auf den Geist als dritte göttliche Person zu sprechen: „Dass er [der Sohn] aber noch in diesem Akt seiner Freiheit mit dem Willen des Vaters geeint ist, läßt sich nur durch ein Drittes verstehen, nämlich als Ausdruck der beide vereinenden Gemeinschaft des Geistes. So ist die Schöpfung freier Akt Gottes als Ausdruck der Freiheit des Sohnes in seiner Selbstunterscheidung vom Vater und der Freiheit väterlicher Güte, die im Sohn auch die Möglichkeit und das Dasein einer von ihm unterschiedenen Schöpfung bejaht, so wie auch des Geistes, der beide in freier Übereinstimmung verbindet“42 . Der Geist verbindet Vater und Sohn in ihrem freien Ja zur Schöpfung. Nach Pannenberg ist das schöpferische Wirken des Sohnes durchgängig mit dem des Geistes verbunden43 , der nach biblischem Zeugnis besonders als Ursprung des Lebens in den Geschöpfen wirksam ist (vgl. Gen 2, 7; Ps 104,29f). Durch den Geist ist der transzendente Gott schöpferisch bei seine Geschöpfen gegenwärtig, er ist umgekehrt gesagt „Medium der Teilhabe der Geschöpfe am göttlichen Leben – und damit am Leben überhaupt“44 . Wie Sohn und Geist innertrinitarisch innig zusammengehören, so auch in ihrer schöpferischen Tat, in der Schöpfungsmittlerschaft Christi. Der Sohn wirkt nicht nur als Prinzip der Verschiedenheit der Geschöpfe von Gott und voneinander, sondern fasst sie in der
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STh II, 43. Ebd. Vgl. ebd. 44f. Ebd. 45 Vgl. ebd. 47. Ebd.
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Ordnung der Geschöpfe durch sich selbst zusammen (vgl. Eph 1,10) „zur Teilhabe an seiner Gemeinschaft mit dem Vater. Dies aber kommt nur durch den Geist zustande.“ (ebd. 47). Durch den Geist, der Vater und Sohn bereits innertrinitarisch verbindet, nimmt der Sohn die Geschöpfe hinein in seine Liebe zum Vater. Fazit: Pannenberg vertieft die in den „Grundzüge(n) der Christologie“ allein eschatologisch verstandene Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi im zweiten Band seiner Systematischen Theologie schöpfungstheologisch und trinitätstheologisch entscheidend und bringt dabei das biblische Zeugnis ganz ein. So erhellt er in seiner Reflexion über die Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi dessen zentrale Bedeutung für die Schöpfung, Versöhnung und Vollendung von Mensch und Welt.
3.
Die „Logoshaftigkeit des Menschen“ – Wolfhart Pannenberg und Karl Rahner
Pannenberg betont, dass nach Joh 1, 11 der Logos in seiner Menschwerdung in Jesus in sein Eigentum kam, die Seinen aber ihn nicht aufnahmen. Die Menschen gehören auch dort, wo sie ihn ablehnen, von der Schöpfung her zum Menschen. Er nennt dies die „Logoshaftigkeit des Menschen“45 und unterstreicht, dass sich gerade unter diesem Aspekt „das Erscheinen Jesu Christi als Vollendung der Schöpfung des Menschen verstehen“ läßt.46 „Das hat in der Theologie des 20. Jahrhunderts niemand tiefer erfasst und eindrucksvoller formuliert als Karl Rahner.“47 Ich kann hier nicht ausführlich auf Rahners Theologie der Inkarnation eingehen, will jedoch die wichtigen Parallelen zwischen Rahner und Pannenberg nennen. In Übereinstimmung zu Pannenbergs Sicht der wesentlichen Gottoffenheit des Menschen ist für Rahner der Mensch seinem Wesen, seiner Natur nach in das unendliche Geheimnis Gottes verwiesen.48 Er vollzieht sein Wesen, seinen Sinn, indem er sich an das unbegreifliche Geheimnis, das Gott ist, weggibt. In „unüberbietbarem Maß“ geschieht dies, „wenn diese Natur, so sich weggebend an das Geheimnis der Fülle, sich so enteignet, dass sie Gottes selbst wird. Die Menschwerdung Gottes ist daher der einmalig höchste Fall des Wesensvollzugs der menschlichen Wirklichkeit,
45 Ebd. 331. 46 Ebd. Dabei stehen die schöpfungsmäßige Bestimmung des Menschen zur Teilhabe am Logos und dessen Inkarnation nicht geradlinig zueinander, sondern dieser Weg von der Anlage zu ihrer Verwirklichung ist gebrochen durch die Sünde, deren Macht durch die Neugeburt aus Gott und seinem Geist (vgl. Joh 1, 13; 3,5f) überwunden wird (vgl. STh II, 334). 47 Ebd. 331f. 48 Vgl. Rahner, Zur Theologie der Menschwerdung, in: ders., Sämtliche Werke, hg. Von der KarlRahner-Stiftung, Bd. 12: Menschsein und Menschwerdung Gottes, Freiburg i.Br. 2005, 309–322, hier 311f. Vgl. zum Folgenden ebd. 312f.
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der darin besteht, dass der Mensch ist – indem er sich weggibt“.49 Damit werde der falsche Schein des Mirakulös-Mythologischen von der Inkarnation abgewehrt und die Menschheit Christi erscheine deutlich „als genau das, worin positiv sich das Wort Gottes aussagt, als das, was wird, wenn Gott in seinem Wort streng sich selbst in das (kreatürlich) Andere entäußert“.50 Die Menschheit Christi ist nicht nur ein von ihm von außen angenommenes Instrument. Dabei ist für Rahner wie für Pannenberg entscheidend, dass nur eine einzige Person der Trinität, der Sohn, Mensch werden kann. Nur dann gibt es einen wirklichen Zusammenhang zwischen dem innertrinitarischen Leben und der Sendung des Sohnes in die Welt. Nur dann teilt sich Gott selbst, so wie er in sich ist, in Jesus Christus uns Menschen mit.51 Nur so nimmt er uns hinein in sein tiefes Leben, in die innige Hingabe des Sohnes an den Vater. Könnte jeder der drei göttlichen Personen sich hypostatisch mit einer geschaffenen Wirklichkeit verbinden, sprich Menschen werden, hieße dies für Rahner: „Unsere Sohnschaft in Gnade hätte in Wahrheit mit der Sohnschaft des Sohnes schlechthin nichts zu tun, da sie als absolut dieselbe ja ebensogut durch eine andere inkarnierte Person begründet werden könnte. An dem, was Gott für uns ist, wäre in keiner Weise zu erfahren, was er – dreifaltig in sich selbst ist.“52 Immanent Trinität und ökonomische Trinität fielen auseinander. Unsere Beziehung als Menschen und als Getaufte zu Gott ist vielmehr begründet und getragen von der Sohnschaft des Sohnes in seiner Göttlichkeit und in seinem menschlichen Weg bis in Kreuz und Auferstehung hinein. In der Verbindung zwischen der Trinität und der gesamten Schöpfung vertreten Pannenberg und Rahner die traditionelle Lehre, dass die Erschaffung der Welt als Tätigkeit des einen Gottes nach außen eine ist53 , betonen aber zugleich, dass die drei göttlichen Personen in der ihnen eigentümlichen Weise daran beteiligt sind. Für Pannenberg habe ich dieses eigentümlichen Wirken der drei Personen beim Akt der Schöpfung dargelegt.
49 Ebd. 312f. 50 Rahner, Jesus Christus, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von der Karl-Rahner-Stiftung, Bd. 17/1: Enzyklopädische Theologie. Die Lexikonbeiträge der Jahre 1956–1973, 301–309, hier 304. Zum Folgenden vgl. ebd. 51 Vgl. Rahner, Bemerkungen zum dogmatischen Traktat „De Trinitate“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. Von der Karl- Rahner-Stiftung, Bd. 22/1b: Dogmatik nach dem Konzil, erster Teilband: Grundlegung der Theologie, Gotteslehre und Christologie, Teil B, Freiburg i.Br. 2013, 512–568, hier 542.544. 52 Ebd. 544. 53 Vgl. hierzu T. Marschler, Opera trinitatis ad extra indivisa sunt. Ein Grundaxiom der Trinitätstheologie in augustinischer Tradition, in: B. P. Göcke – R. Schneider, Gottes Handeln in der Welt. Problem und Möglichkeiten aus der Sicht der Theologie und der analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017, 73–109.
Jesus Christus als Schöpfungsmittler im Denken Wolfhart Pannenbergs
4.
Ausblick
Im Nizäno-Konstantinopolitanum, dem Großen Glaubensbekenntnis, bekennen die Christen im Gottesdienst immer wieder gemeinsam: „durch ihn ist alles geschaffen“. In der Verkündigung stellt sich die Frage, wie die Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi heute existentiell den Menschen nahegebracht werden kann. Dabei sollte deutlich werden, dass ich persönlich von Gott, ja von Christus gewollt und ins Leben gerufen worden bin, ich mich im Blick auf ihn, den Sohn, als von Gott geliebt wissen darf. Ich kann darauf vertrauen, dass der auferstandene Christus durch seinen Geist mir und meinen Mitmenschen immer wieder – auch im Leid – Leben schenkt und mit uns unterwegs ist bis zur vollen Entfaltung unseres Menschseins in der Vollendung unseres Lebens mit Gott, miteinander und mit der Schöpfung jenseits des Todes. Ich darf darauf vertrauen, dass im auferstandenen Christus Gott treu bei uns Menschen, bei seiner Kirche und der ganzen Schöpfung ist und schöpferisch an ihnen handelt bis hinein in die Auferweckung zum ewigen Leben in seinem Licht. Von ihm sind die Christen gerufen, aus dem ihnen geschenkten Heiligen Geist Jesus heute nachzufolgen in der Liebe zu den Menschen und in der Verantwortung für den Schutz der Schöpfung.54
54 Vgl. auch G. Plasger, Schöpfungsmittlerschaft Christi, in: H.D. Betz u. a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 2004, 989.
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Geschichte in theologischer Perspektive? Zum Geschichtsverständnis in Wolfhart Pannenbergs Anthropologie Als Ernst Troeltsch vor einem Jahrhundert seinen Historismusband publizierte1 , hätte dies der Auftakt sein können (und seiner eigenen Intention gemäß auch sollen) zu einem differenzierten und interdisziplinären Diskurs über „die“ Geschichte (im Sinne von Reinhart Kosellecks „Kollektivsingular“ und Reflexionsbegriff) im Schnittpunkt von Theologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie. Denn die großen Fragen von „Individualität“ und „Entwicklung“ in der Geschichtsschreibung hätten eine intensive Auseinandersetzung aus unterschiedlichen Perspektiven verdient gehabt. Indes waren die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts längst auf Krawall gebürstet, und Troeltschs fragile „Kultursynthese“ schien zu diesem Zeitpunkt bereits ein wenig aus der Zeit gefallen: „Troeltsch hofft (…) auf die ethische Wirkkraft uralteuropäischer religiöser Symbole.“2 Die Menschheit war ins Zeitalter der Weltbürgerkriege eingetreten, und harte Polarisierungen ersetzten Kompromisse und Synthesen. Das verbindet denn auch die unterschiedlichsten Kritiker miteinander: „Protestantische Theologen wie Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann und Paul Tillich stimmen mit römisch-katholischen Unbedingtheitsdenkern wie Erich Przywara und Peter Wust darin überein, daß Troeltsch trotz aller metaphysischen Beschwörungsrhetorik in jenem (…) relativistischen Historismus verstrickt geblieben sei, den er doch habe überwinden wollen.“3 Aber selbst der Intellektuelle Paul Tillich musste lernen, dass sich Synthesen nur noch auf dem Papier herstellen ließen, nicht mehr in der politischen und sozialen Reali-
1 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), KGA Bd. 16, hg. v. F.W. Graf, Berlin New York 2008. Vgl. dazu meine Studie: M. Murrmann-Kahl, Die Ambivalenz des Historismus bei Ernst Troeltsch, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Bd. 22, hg. v. F.W. Graf, München 2011, S. 43–72. 2 F.W. Graf, Einleitung, in: E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 1–82, hier 61, vgl. 15, 35 („>Kultursynthese des Europäismus< ist Troeltschs Antwort auf Max Webers >Polytheismus der Werteeuropäischen KultursyntheseSäkularisierung< und >Modernisierung< sind weder wertneutral noch durch Definitionsakte festlegbar. Sie stecken voller geschichtlicher oder gar geschichtsphilosophischer Annahmen.“9 Allerdings bleiben diese einem oft unbewusst. Ein instruktives Beispiel hierfür bietet der Historiker Reinhart Koselleck (1923–2006). Koselleck bezieht die „Säkularisierung“ und mit ihr den Übergang von religiösen zu säkularen Weltauffassungen primär auf den technischen Fortschritt, was von Joas soziologie“, in: Wörterbuch der Religionssoziologie, hg. v. S. R. Dunde, Gütersloh 1994, S. 268–278, hier 275 ff; F. Fürstenberg, Artikel „Säkularisierung“, in: ebenda, S. 279–287; U. Barth, Artikel „Säkularisierung. I. Systematisch-theologisch“, in: TRE Bd. 29, Berlin New York 1998, S. 603–634. In den neueren Debatten wird die Stichhaltigkeit von Säkularisierungsthesen eher kritisch gesehen: vgl. Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven, hg. v. M. Hildebrandt / M. Brocker / H. Behr, Wiesbaden 2001; H. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, München 2003; Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, hg. v. J. Zachhuber / Chr. von Braun / W. Gräb, Münster 2007; H. Lehmann, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2007; H. Matern, Epilog. „Religion“ und „Säkularisierung“ in der deutschsprachigen protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, in: Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, hg. v. G. Pfleiderer / H. Matern, Tübingen 2021, S. 995–1002, zu Pannenberg: 997, 999f. 8 Hans Joas, Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie nach Hegel und Nitzsche, Berlin 2020. Vgl. dazu meine ausführliche Rezension in: ZNThG 28 (2021), S. 168–174. 9 Hans Joas, Die Kontingenz der Säkularisierung: Reinhart Kosellecks Geschichtstheorie, in: ders., Im Bannkreis der Freiheit, S. 224–249, hier 225f.
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als eine „falsche“ Verallgemeinerung „auf schmaler Evidenzbasis“ kritisiert wird.10 Koselleck scheint in seiner eigenen Auffassung vor allem von Karl Löwiths berühmten Buch „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ (engl. „The Meaning of History“, 1949) beeinflusst worden zu sein, das die moderne Geschichtsphilosophie und das Fortschrittsdenken als „Säkularisierung des christlichen Geschichtsbildes“ deutet.11 Die die bisherige theologische Tradition übertrumpfende moderne Geschichtsphilosophie überbrückt gleichsam die realpolitische Ohnmacht des frühen Bürgertums im absolutistischen Staat. Kosellecks berühmte These vom „Kollektivsingular“ der Geschichte gehört exakt in diesen Zusammenhang: „Die Idee der einen Geschichte jenseits der vielen einzelnen Geschichten muß zur Verfügung stehen, damit dieser einen Geschichte überhaupt selbst so etwas wie eine eigene Logik, ja eine Art eigener Subjektivität zugesprochen werden kann. Die Geschichte (…) kann als ein Subjekt gedacht werden, das selbst handelt, einen Willen hat, bestimmte Akteure mit einer Mission versieht (…).“12 Solche geschichtlichen Zwangsläufigkeitsbehauptungen fungieren dann als „Waffen im Meinungskampf “ der Politik.13 Nun will Koselleck genau diese ideologiepolitische Funktion entlarven und bestreiten und stattdessen auf ein „radikal kontingenzbewußtes Verständnis von Geschichte“ umstellen, „das alle Spuren teleologischen oder evolutionistischen Vertrauens auf den Fortschritt der politischen Freiheit (…) getilgt hat“.14 So weit die Theorie. Die Wissenschaftspraxis hält dieser Einsicht freilich nicht stand. Vielmehr erweist sich das von Koselleck zusammen mit Otto Brunner und Werner Conze konzipierte lexikalische Großprojekt der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ durch die zentrale Hintergrundannahme einer unaufhaltsam voranschreitenden Säkularisierung bestimmt.15 Das Lexikon dient vor allem dem Nachweis einer grundlegenden Umstellung von den traditionellen Erfahrungs- auf die modernen Erwartungsbegriffe (mit hoher Ideologieanfälligkeit) seit 1750. „Durch alle Schriften Kosellecks
10 Joas, Kontingenz, S. 231. 11 Ebenda, S. 234 und f. Davon ist übrigens auch Wolfhart Pannenberg geprägt worden (siehe unter II): vgl. Gunther Wenz, Karl Löwith. Heideggerschüler und philosophischer Lehrer Pannenbergs, in: Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, hg. v. G. Wenz, Göttingen 2018, S. 381–403; ders., Erhebung zum Erhabenen, in: Theologie der Religionsgeschichte. Zu Wolfhart Pannenbergs Entwurf, hg. v. G. Wenz, Göttingen 2021, S. 267–387, hier 272f. 12 Joas, Kontingenz, S. 236, Hervorhebung von mir. Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979. 13 Joas, Kontingenz, S. 243. 14 Ebenda, S. 237. 15 Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bände, hg. v. O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck, Stuttgart 1972–1997; vgl. etwa die Einleitung von R. Koselleck, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII.
Geschichte in theologischer Perspektive?
hindurch zieht sich die simplifizierende Unterstellung eines ablaufenden Säkularisierungsprozesses.“16 Daraus folgt, dass diese Annahme einer zwangsläufigen Entwicklung Koselleck offenbar nicht selbst zu Bewusstsein gekommen ist, sondern sie ihm als eine bare Selbstverständlichkeit erschienen ist, „wodurch ihm (…) gerade die Kontingenz der Religionsgeschichte und die Kontingenz der Säkularisierung aus dem Blick gerieten“.17 Aus diesem Grund will Joas diese falsche Vereinheitlichung der Begriffe von Geschichte, Säkularisierung und Modernisierung als einliniger Prozesse „dekonstruieren“. Dann muss auch nicht die christliche „Heilsgeschichte“ nur als überholte Behauptung der Vergangenheit in der Gegenwart erscheinen, wie es von Löwith und Koselleck umstandslos unterstellt wurde. Der Zusammenhang zwischen Heilsgeschehen und Weltgeschichte wäre sonach nicht als einfache Ablösung von jenem durch diese zu denken, „sondern im Sinn ihrer neuen Integration“.18 Natürlich ist auch diese Sichtweise von Hans Joas auf Koselleck zu überprüfen und zu diskutieren.19 Nimmt man einmal an, dass sie einen gewichtigen Punkt getroffen hat, dann muss das einen aber auch zuhöchst beunruhigen: dieser Befund bedeutet, dass sich auch die kritischen Historiker aller Reflexion und besseren Einsicht zum Trotz nicht dem mächtigen Narrativ der Säkularisierung entziehen konnten. Das fällt besonders dort auf, wo man theoretisch eigentlich schon hätte weiter sein können. Aber wenn die Säkularisierungstendenzen der westeuropäischen Moderne eher einen Sonderweg als den Normalfall darstellen (Gegenbeispiel bietet Nordamerika), dann dürften die Modernisierungsprozesse in der Tat nicht so einlinig und zwangsläufig verlaufen, wie unterstellt wurde. Dann ist auch das Religionsthema noch einmal neu und anders zu verhandeln.
16 Joas, Kontingenz, S. 239. 17 Ebenda, S. 244. 18 Ebenda, S. 248. Bei dem Thema „Heilsgeschehen“ und „Heilsgeschichte“ bleibt allerdings die nationalprotestantische Aufladung von Geschichtstheologien zum Beispiel im Ersten Weltkrieg („Ideen von 1914“) gänzlich unberücksichtigt – also die selbst schon spezifisch moderne Ideologieanfälligkeit für eine Kriegstheologie: vgl. E. Sturm, „Holy Love Claims Life and Limb“. Paul Tillich’s War Theology (1914–1918), in: ZNThG 2 (1995), S. 60–84; F.E. Dobberahn, Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda, Göttingen 2021. 19 Der Historiker Koselleck ist längst schon selber zum Gegenstand der historischen Forschung geworden: vgl. Begriffene Geschichte – Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. v. H. Joas / P. Vogt, Berlin 2011; Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. v. C. Dutt / R. Laube, Göttingen 2013; Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, hg. v. M. Hettling / W. Schieder, Göttingen 2021; Die Vergangenheit im Begriff. Von der Erfahrung der Geschichte zur Geschichtstheorie bei Reinhart Koselleck, hg. v. J.A. Barash / Chr. Bouton / S. Jollivet, Freiburg i.Br./München 2021.
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II.
Zur theologischen Kritik am „Säkularismus“
Wolfhart Pannenberg hätte sich in dieser Einschätzung bestätigt gefunden, auch wenn er an nur einer einzigen Stelle explizit auf Koselleck rekurriert, was natürlich nichts über den inhaltlichen Problembestand aussagt, da beide lange Teilnehmer der Unternehmung „Poetik und Hermeneutik“ (Koselleck seit 1963) waren. Dass seine „Anthropologie“ auf ein abschließendes Geschichtskapitel hinausläuft, legt sich nahe, da die Geschichte ganz zweifellos der umfassendste Horizont des – mit Hegel gesprochen – „subjektiven“ und „objektiven Geistes“ darstellt. So wird das Nachdenken über den Menschen immer auf die Geschichte kommen und sich die Theologie zwangsläufig mit der neuzeitlichen Geschichtswissenschaft befassen müssen. Freilich ist vorab zu klären, was Pannenberg mit seiner „Anthropologie“ bezweckt hat, weil er explizit keine theologische Anthropologie, ein christliches Menschenbild, konzipieren wollte, sondern die neuzeitliche Anthropologie in eine „theologische Perspektive“ einrücken. Dabei geht es ihm darum, „die von den anthropologischen Disziplinen beschriebenen Phänomene des Menschseins theologisch in Anspruch zu nehmen. Das geschieht, indem ihre säkulare Beschreibung als eine nur vorläufige Auffassung der Sachverhalte angenommen wird, die dadurch zu vertiefen ist, daß an den anthropologischen Befunden selbst eine weitere, theologisch relevante Dimension aufgewiesen wird.“20 Dieses Konstruktionsprinzip läuft auf einen theologischen Überbietungsanspruch hinaus, da die als „säkular“ bezeichneten anthropologischen Disziplinen in der theologischen Sichtweise offenbar als von vornherein defizitär wahrgenommen werden. Der Befund ist frappierend: fast analog zu Reinhart Koselleck unterstellt Pannenberg gegen die eigene Intention die Zwangsläufigkeit der Säkularisierungsthese, der anschließend theologisch widersprochen werden muss. So wie Koselleck eigentlich auf die radikale Kontingenz von Geschichtsprozessen abheben wollte, so wird Pannenberg fortlaufend auf die mangelnde religiöse Verwurzelung der modern beschriebenen anthropologischen Phänomene hinweisen. Die Crux bei dieser Argumentation besteht darin, dass man damit immer schon die faktische Basis einer vermeintlich säkularen Moderne und Gesellschaft ungewollt zementiert. So wird die Abgrenzung vom „Säkularismus“ (nach F. Gogarten) zum geheimen Motor des ganzen Werks.21
20 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 19 (Hervorhebung von mir), vgl. S. 21. So heißt es entsprechend bei der Diskussion verschiedener Sprachkonzepte: „Darum muß das säkulare Methodenverständnis auf die darin zumeist ausgeblendete religiöse Dimension des betreffenden Phänomenbereichs reflektiert und im Lichte solcher Reflexion kritisch revidiert werden.“(379) 21 Dies ist übrigens schon von Falk Wagner, Was ist Religion?, S. 508–522, hier besonders 515 ff, eingehend kritisiert worden. Vgl. die Ausführungen zu Friedrich Gogarten: Pannenberg, Anthropo-
Geschichte in theologischer Perspektive?
Klassische Fälle dafür bieten Institutionen wie die Ehe, die politische Herrschaft und die Kultur insgesamt. So wird das moderne Eheverständnis der romantischen Liebesheirat als defizitär kritisiert. Die Krise der Institution verdanke sich dem „Zerfall ihrer religiösen Grundlagen im öffentlichen Bewußtsein der Gesellschaft“: „Die Vorordnung der von Gott eingegangenen Gemeinschaft vor die individuellen Glückserwartungen der Partner, die der Gegenseitigkeit der in dieser Gemeinschaft begründeten und immer wieder neu entstehenden Liebe anheimgestellt werden, ist im modernen Verständnis ersetzt worden durch die Begründung der Ehe auf die Liebesgemeinschaft der Partner selber.“22 Freilich könne die letztere eben gerade nicht die Dauerhaftigkeit des Gefühls und damit der Ehe garantieren. An der modernen politischen Herrschaft und dem Staatsverständnis wird beobachtet, dass „die Emanzipation von jeder religiösen Begründung des Staates (…) als Folgeproblem die Frage nach der Legitimität menschlicher Herrschaft mit sich“ brachte.23 Daraus resultiert in der Sichtweise Pannenbergs eine Art Dauerkrise der modernen Herrschaft; diese Legitimationskrise wurzele „im Verlust des religiösen Fundamentes sittlicher Verpflichtung und der Autorität des Rechts. Sie entzündet sich immer aufs neue an der Entdeckung der Selbstrechtfertigung staatlicher Herrschaft durch Manipulation des öffentlichen Bewußtseins.“24 Entsprechend wird der säkularen „Welt des neuzeitlichen Staates und seiner Kultur“ generell vorgehalten, dass sie sich der christlich-religiösen Wurzeln entfremdet habe, aus der sie hervorgegangen sei. Über die Reformation, Kirchenspaltung und Konfessionskriege und die Neutralisierung konfessioneller Streitigkeiten25 habe sich eine grundsätzliche „Ablösung von den Quellen der Religion“ ereignet. Genau deshalb bedürfe die moderne säkulare Gesellschaft der „Rückbesinnung auf ihre religiösen Quellen, wenn sie nicht am Zerfall aller verbindlicher Normen im Antagonismus entfesselter egoistischer Interessen zugrundegehen soll“.26 Entsprechend wird die Vermutung geäußert: „Rechnete man auf dem Höhepunkt des neuzeitlichen Säkularismus mit der Möglichkeit eines Absterbens der Religion, so erscheint
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logie, S. 75f. Die These, dass „Kultur Schöpfung von Menschen und nur das sei“, sei ein modernes „säkularistisches“ Vorurteil (311). Pannenberg, Anthropologie, S. 415–431, hier 430. Ebenda, S. 449–460, hier 456. Ebenda, S. 459. Vgl. ebenda, S. 161 ff. Ebenda, S. 460–471, hier 469. Die modernen Ideologien seit dem Absolutismus haben zwar zeitweise eine quasireligiöse Funktion erfüllen können, aber indes „ohne dazu die Basis der echten Religion in einer allem menschlichen Urteil vorgegebenen, wenn auch nur durch menschliche Interpretationen zugänglichen Selbstbekundung Gottes zu besitzen“.(465, Hervorhebung von mir) Im Besitz der „echten Religion“ (qua Offenbarung) befindet sich freilich nur der Theologe! Siehe auch den Hinweis auf Paul Tillichs „theonome Kultur“ (religiöse Einheitskultur).(470f)
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heute (…) eher der Fortbestand einer von ihren religiösen Wurzeln abgeschnittenen, rein säkular definierten gesellschaftlichen Ordnung als gefährdet.“27 Was bedeutet nun all das für die Geschichte?28 Im neuzeitlichen Denken über Geschichte seit der Renaissance, in Geschichtsphilosophie und moderner Geschichtswissenschaft bildet sich eine Konkurrenzsituation über das „Subjekt“ der Geschichte heraus: galt in der christlichen Tradition Gott als dieses Subjekt, so wird es durch den Menschen ersetzt. Dieses Konkurrenzverhältnis hat zur Folge, dass der tragende Vorsehungsgedanke ausscheidet: „Im Geschichtsdenken der Gegenwart hat sich die Vorsehung verflüchtigt“, stellt Pannenberg lapidar fest, sie lässt sich auch nicht so ohne weiteres wiederaufnehmen.29 Der Grund dafür ist die Akzentuierung der menschlichen Freiheit, die mit einer lückenlos göttlichen Determination der Geschichte als unvereinbar gilt.30 Gleichwohl hält Pannenberg diese neuzeitliche Weichenstellung nicht für akzeptabel, wie sich an seiner Kritik an der modernen Geschichtswissenschaft zeigt. An der einzigen Stelle, an der er auf einen Aufsatz von Reinhart Koselleck zu sprechen kommt, heißt es ausdrücklich: „Das in der christlichen Geschichtstheologie die Einheit der Geschichte verbürgende göttliche Subjekt ist durch kein menschliches Subjekt ersetzbar, weder durch hypostasierte Kollektivsubjekte, noch durch den „Kollektivsingular“ der Geschichte selber.“31 Das freilich ist kein Argument, sondern wird nur dekretiert. Obwohl er selber sieht, dass sich die christliche Tradition mit dem modernen Geschichtsverständnis nicht mehr zusammenreimt, hält Pannenberg nach der Diskussion über Identität(spräsentation) und Einheit der Geschichte trotzdem an der Auffassung fest: „Wenn die Geschichte der Menschheit der Bildungsprozeß des Menschen zu vollendeter Humanität sein sollte, so kann sie das nur durch das Walten der göttlichen Vorsehung sein.“ In der jeweiligen Gegenwart kann dies nur geschehen als „Antizipation von Endzuständen menschlicher Identität, die zum Orientierungsrahmen für die Zwecksetzungen menschlichen Handelns werden“, und sich „der Inspiration durch ein Wissen um Gott als Ziel der Geschichte verdanken“.32
27 Ebenda, S. 462, vgl. 469. Demselben Argumentationsmuster folgt Pannenberg auch in seiner theologiehistorischen Rekonstruktion: W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, S. 31; vgl. H. Matern, Einleitung, in: Die Religion der Bürger, a.a.O., S. 3–194, hier 38f. 28 Das neunte und letzte Kapitel ist überschrieben mit „Mensch und Geschichte“: Pannenberg, Anthropologie, S. 472–517. 29 Pannenberg, Anthropologie, S. 489, 491. 30 Ebenda, S. 492. 31 Ebenda, S. 491. Pannenberg bezieht sich auf den einschlägigen Aufsatz „Historia Magistra Vitae“ aus: R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, S. 38–66. 32 Ebenda, S. 488–501, hier 501.
Geschichte in theologischer Perspektive?
Wenn man vom Grund- und Konstruktionsprinzip von Pannenbergs Werk her urteilt, so verbleibt hier doch die theologische Perspektive zu den modernen, als säkular eingestuften Disziplinen über den Menschen im Verhältnis einer nur abstrakten Negation stehen. Pannenberg gelingt es gerade nicht, Heilsgeschehen und Weltgeschichte zu integrieren, sondern setzt die theologische Geschichtssicht von der Vorsehung Gottes lediglich dem säkularisierten Geschichtsverständnis vom Reflexionsbegriff „der“ Geschichte entgegen.33 Freilich mag man die Aufstellungen der Geschichtswissenschaft für defizitär ansehen; aber dann müsste man dennoch zeigen, wie man von dort zu einer Auffassung gelangt, die die Defizite behebt, statt sie nur als unzureichend zu kritisieren: eben wirklich eine Vertiefung anzubieten statt Verwerfung. So bleibt das Verhältnis von Theologie und Geschichtswissenschaft im Verhältnis der gegenseitigen Ablehnung befangen, und das dürfte eher auf eine wechselseitige Blockade hinauslaufen. Pannenberg partizipiert mit seiner Vorgehensweise an der grundlegenden Paradoxie des theologischen Rekurses auf „Religion“ seit der Aufklärung und Schleiermacher, dass sich normativer Geltungsanspruch und Integrationsinteresse eigentlich widersprechen. Einerseits besteht das apologetische Interesse, mit der theologischen „Deutungshoheit über „Religion“ zugleich die Geltung der je eigentümlich verstandenen christlichen Religion im Rahmen einer normativen Konstruktion von Kultur und Geschichte zu erweisen“, was zum Phänomen der positionellen Theologie, einer zwangsläufigen Pluralisierung führt. Gegenläufig dazu soll aber andererseits zugleich die „Vielheit gesellschaftlicher Teilzusammenhänge (…) auf die Einheit der im Kern einen „Religion“ bezogen“ werden (Integration).34 Mit dieser in sich höchst spannungsvollen Vorgehensweise wird in den konkurrierenden Problemlagen nach innen (gegenüber anderen theologischen Positionen) und außen (im Verhältnis zu anderen Disziplinen) um die Deutungshoheit der eigenen Position gerungen.
III.
Zum konstruktiven Umgang mit dem Dilemma
Gegenüber der Einseitigkeit von Säkularisierungsthesen ist das Einfordern der komplexen Gegen-Geschichte(n) der Moderne nur zu begrüßen. Tatsächlich greift die Vorstellung von einer Ablösung von der religiösen Tradition und „Verweltlichung“ als „Fortschritt“ zu kurz35 und stimmt nicht einmal für die europäische
33 Insofern halte ich Pannenberg für keinen geeigneten Kandidaten für das Integrationsprogramm, das Hans Joas vorschwebt: gegen Joas, Kontingenz, S. 247f. 34 H. Matern, Einleitung, a.a.O., S. 160, vgl. 11–17, 31. 35 Ein schönes Beispiel gibt Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Berlin 3 2020, dessen anregenden und interessanten Beobachtungen der Religion von einer wilden nietzscheanischen Religionskritik konterkariert werden.
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Aufklärung, die die Spannbreite von radikal antiklerikalen Spielarten in Frankreich und kulturellen Transformationsversuchen der Religion in Deutschland (Kant, Lessing und der deutsche Idealismus) aufweist36 . Insofern wird man Joas und Pannenberg in der Intention zustimmen. Umgekehrt wird es aber auch keine Rückkehr der modernen Gesellschaften zu den religiösen Wurzeln geben. Sie wäre nur um den Preis der Gewalt und des Terrors zu erreichen, wie man inzwischen aus solchen fundamentalistischen und theokratischen Experimenten zur Genüge weiß. Anders als gewünscht würde eine solche religiöse Resubstantialisierung mit gesellschaftlicher Entdifferenzierung erkauft, und es gingen Freiheitsspielräume verloren. Offensichtlich führen solche Regimes zur Verelendung der Massen wie die wenig attraktiven Beispiele Iran und Afghanistan zeigen. Nimmt man die Überlegungen von Niklas Luhmann zu diesem Thema auf, dann bedeutet „Säkularisierung“, dass die Umwelt des Religionssystems säkular geworden ist, die anderen Subsysteme der Gesellschaft übernehmen keine religiösen Funktionen mehr.37 (Sie können natürlich durchs Religionssystem irritiert werden und dann darauf reagieren.) Innerhalb des Wissenschaftssystems wiederholt sich das insofern, als alle anderen Disziplinen außer der Theologie wiederum keine religiösen Funktionen wahrnehmen.38 Zwar können sich auch Geschichtswissenschaft, Soziologie und Psychologie auf „Religion“ beziehen, aber sie verfolgen dabei selber keine spezifisch religiösen Interessen. Insofern können Theologie und Geschichtswissenschaft zunächst einmal gar nichts anders, als ihre jeweilige Selbstständigkeit im Haus der Wissenschaft anzuerkennen. Das wird auch von Pannenberg formuliert, wenn er die Obsoletheit der Vorstellung von der göttlichen Vorsehung benennt. Anders formuliert: keine Disziplin kann in die innersystemische Autopoiesis der anderen unmittelbar eingreifen. Wo so etwas versucht wird, erntet man in der Regel nur beredtes (sprich: indigniertes) Schweigen.
36 Den Nachweis hat Ulrich Barth geführt, Religion in der europäischen Aufklärung, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme, hg. v. U. Barth / Chr. Danz / F.W. Graf / W. Gräb, Berlin Boston 2013, S. 91–112. 37 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, S. 402. 38 Ich nehme hier frühere Überlegungen wieder auf: vgl. M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920, Gütersloh 1992, S. 255–269; ders., Theologische Konstruktivität und historische Rekonstruktion – Konkurrenz oder Partnerschaft?, in: Erfahrung – Geschichte – Identität. FS Richard Schaeffler, hg. v. M. Laarmann / T. Trappe, Freiburg i.Br. 1997, S. 165–183; ders, Spekulatives Denken und Historismus – ein unabgeschlossenes Projekt, in: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, hg. v. Chr. Danz, Tübingen 2013, S. 63–83, hier 81 ff; ders., Der ewige Kampf der vielen Götter. Erwägungen zur historistischen Verunsicherung von Absolutheitsansprüchen, in: Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik, hg. v. J. Dierken / A. von Scheliha / S. Schmidt, Berlin Boston 2018, S. 605–626, hier 611 ff, 620 ff.
Geschichte in theologischer Perspektive?
Deshalb ist aber der Austausch der Disziplinen nicht überflüssig. Die Frage, was denn nun die Einheit oder das Subjekt „der“ Geschichte sei, ist vollkommen berechtigt. Theologie und Geschichtswissenschaft könnten als jeweilige Zweitbeobachter sich gegenseitig beobachten: das heißt sehen, wie der Erstbeobachter über seine Unterscheidungen beobachtet, also sehen, was er sieht, und gegebenenfalls auch noch, was er nicht sieht (den „blinden Fleck“). Denn wie an den Beispielen Koselleck und Pannenberg sehr schön deutlich wird, sind – bewusst oder unbewusst – immer normative Implikationen mit im Spiel. Nur, dass man sie selber oft gar nicht bemerkt – ein anderer aber möglicherweise schon. Gerade darin könnte der Zugewinn einer wechselseitigen Zweitbeobachtung liegen, wie es Hans Joas bei Koselleck sehr einleuchtend nachzeichnet. Sowohl seitens der Theologie als auch seitens der Historie lässt sich so etwas wie einen „metahistorischen“ Problembestand ausmachen, den man miteinander teilt und den man unter unterschiedlichen Gesichtspunkten thematisiert.39 Der Sinn eines solchen Austauschs kann freilich nicht darin liegen, mit seiner Perspektive die andere Disziplin dominieren zu wollen. Genau dann würde die Kommunikation in einer Blockade enden, bei der sich jeder aufs vertraute Terrain zurückzieht. Damit wäre der mögliche Zugewinn verspielt. Sinnvoller scheint dagegen zu sein, sich über die wechselseitigen Voraussetzungen, Selbstverständlichkeiten, unthematisch gebliebenen Annahmen und normativen Ansprüche zu verständigen. Es kann also nicht darum gehen, dem modernen Reflexionsbegriff „der“ Geschichte wieder das göttliche Subjekt zu supponieren. Damit kann ein Historiker nichts anfangen. Aber mit dem Nachweis, dass man diesen Reflexionsbegriff normativ aufladen und ihn im politischen Meinungskampf verwenden kann, sehr wohl. Pannenberg liegt nicht falsch, wenn er auf die Gefährdungen und offenkundige Defizite der Moderne in ihren Individuen und Institutionen, in ihren Vorstellungswelten und Ideologien hinweist. Nur lassen sich diese Probleme nicht mit einem letztlich vormodernen Modell der religiösen Einheitskultur bewältigen, das vielleicht an Paul Tillichs „Theonomie“ abgelesen ist. Zu Recht verweist Hans Joas auf einen möglichen produktiven Dialog von Theologie und Geschichtswissenschaft für den Fall hin, dass Geschichte nicht nur „in Begriffen einer wie auch immer verstandenen Rationalisierung“ verstanden wird, „sondern am Leitfaden derjenigen irdischen Erfahrungen, die als Vorschein oder Anzeichen der Erlösung genommen werden“.40 Geschichtsschreibung ist eine höchst anspruchsvolle und vieldimensionale Unternehmung, die vom Perspektivenreichtum verschiedener Disziplinen nur profitieren kann. Die Selbstbeschreibung der reflexiv gewordenen Moderne wird sich wohl nur multiperspektivisch leisten
39 Vgl. Th. Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986. 40 Joas, Kontingenz, S. 248.
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lassen, eingedenk der vielfältigen Ideologieanfälligkeit gerade der modernen Erwartungsbegriffe. Weg- und zukunftsweisend ist darum Troeltschs umfangreicher Historismusband gar nicht so sehr in der vielfältig und kontrovers diskutierten „Kultursynthese“, sondern vielmehr in der Untersuchung der logischen Probleme „der“ Geschichte: wie entsteht sie, mit welchen Mitteln wird sie rekonstruiert und vor allem: wer schreibt sie?
Gunther Wenz
Die Bildung des Menschengeschlechts Zu Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie1
„Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist.“ (Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 91)
Ursprünglich hätte das im vorletzten Jahr erschienene voluminöse Buch von Jürgen Habermas „Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens“ heißen sollen. Dann entschied sich der weltbekannte Philosoph und Sozialtheoretiker für den Titel „Auch eine Geschichte der Philosophie“. Es geschah dies, wie der Autor eigens vermerkte, „in Anspielung auf einen berühmten Essay von Johann Gottfried Herder“2 , der unter der Überschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts“3 1774, also mitten
1 In modifizerter Form veröffentlicht in: ThZ 77 (2021), 336–356. 2 J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation Glauben und Wissen. Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019, hier: Bd. 1, 9. 3 J. G. Herder, Sämtliche Werke (= SWS), Bd. V. Hg. v. B. Suphan, Hildesheim 1967 (Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1891), 475–586. Zu den Vorstufen der anonym und ohne Ortsangabe erschienenen Schrift und zu ihrem Erstdruck vgl. a.a.O., XXVI f.; ein Anhang (587–594) dokumentiert Teile der handschriftlichen Überlieferung. Zitiert wird der Text im Folgenden aus Gründen leichterer Zugänglichkeit und besserer Lesbarkeit nicht nach SWS, sondern gemäß Seiten- und Zeilenzahlen nach der Edition von H. D. Irmscher in der Reclam Universal-Bibliothek (Nr. 4460), Stuttgart 1990; Sperrungen werden durch Kursivierung wiedergegeben. „Der Ausgabe liegt der Text der Erstausgabe zugrunde.“ (113) Informative Anmerkungen (115–137), Literaturhinweise (138 f.) und ein aufschlussreiches Nachwort (140–159) zu Entstehung, literarischer Gattung und Inhalt des Werkes sind beigegeben. Vgl. zum Thema bes.: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder. 1983. Hg. v. B. Poschmann, Rinteln 1984; die in dem Sammelband vereinten vierzehn Aufsätze sind der Herderschrift von 1774 gewidmet. – Zur stark ideologischen Prägung der Herderrezeption vgl. B. Becker, Herder-Rezeption in Deutschland. Eine ideologiekritische Untersuchung, Sankt Ingbert 1987. Becker untersucht die Herderrezeption in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich sowie in der Bundesrepublik und in der DDR. Vgl. ders., Phasen der Herder-Rezeption von 1871–1945, in: G. Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744–1803, Hamburg 1987, 423–436. Ferner: J. Schneider (Hg.), Herder im „Dritten Reich“, Bielefeld 1994; T. Borsche (Hg.), Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München 2006. Man vergleiche in diesem Zusammenhang den Vortrag über „Volk und Geschichte im Denken Herders“ (Frankfurt a.M. 1942), den H.-G. Gadamer 1941
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Gunther Wenz
in Herders Bückeburger Zeit, publiziert worden ist. Der Herr Hofprediger und Oberkonsistorialrat, der später auch noch die Superintendentur in der Grafschaft übernehmen sollte, war damals gerade einmal dreißig, Habermas beim Erscheinen seines Alterswerkes dreimal so alt, nämlich neunzig. So lange währte Herders Leben nicht. Er starb am 18. Dezember 1803 in seinem sechzigsten Lebensjahr.
1.
Habermas’sche Reminiszenz
Am 25. August 1744 im ostpreußischen Mohrungen geboren studierte Herder – nach einem Kurzgastspiel in der medizinischen Fakultät – von 1762–1764 Theologie und Philosophie in Königsberg, wo er auch Vorlesungen Immanuel Kants hörte und Johann Georg Hamann zum Freund gewann.4 Seit Ende 1764 ist er für einige Jahre als Domschullehrer und Prediger in Riga tätig. Im Mai 1769 bittet er um Demission und begibt sich auf Reisen5 mit den Hauptstationen Nantes, Paris, Eutin sowie Darmstadt, wo er seine spätere Frau, Caroline Flachsland, kennenlernt, und
in der reichsdeutschen Botschaft im besetzten Paris gehalten hat, mit dem Nachwort des renommierten Autors zur Ausgabe von J. G. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt a.M. 1967, 146–177. 4 Zur Studienzeit in Königsberg und zur Beziehung Herders zu Johann Georg Hamann und Immanuel Kant vgl. C. Siegel, Herder als Philosoph, Stuttgart/Berlin 1907, 3 ff.; ferner A. Tumarkin, Herder und Kant, Bern 1896. Zu Herders späterer Metakritik der Kant’schen Kritik der reinen Vernunft (1799) vgl. die Beiträge in dem von M. Heinz herausgegebenen Sammelband: Herders „Metakritik“. Analysen und Interpretationen, Stuttgart/Bad Cannstatt 2013; eine Auswahlbibliographie zur neueren Forschungsliteratur zu Herders „Metakritik“ findet sich a.a.O., 273 f. – Zu Biographie und Werkgeschichte Herders insgesamt: St. Greif/M. Heinz/H. Clairmont, Herder-Handbuch, Paderborn 2016; zur Bückeburger Geschichtsphilosophie vgl. a.a.O., 160–170 (J. Johannsen). 5 Vgl. im Einzelnen: J. G. Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Erstdruck Erlangen 1846. Vollständige Neuausgabe hg. v. K.-M. Guth, Berlin 2013. Zur Entwicklung der Herder’schen Geschichtsphilosophie von der genannten Schrift über die Bückeburger Zeit bis hin zu ihrer „endgültig(en) Gestalt“ in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791) vgl. zusammenfassend V. N. Schirmunski, Johann Gottfried Herder. Hauptlinien seines Schaffens, Berlin 1963, 86–104, hier: 87. Zwar hat der Bückeburger Entwurf „mit Geschichtsschreibung im engeren Sinne“ nur bedingt zu tun, dennoch sind von ihm die entscheidenden Impulse für das spätere Großwerk und die Entwicklung des historischen Bewusstseins im 19. Jahrhundert ausgegangen (vgl. B. v. Wiese, Herder. Grundzüge seines Weltbildes, Leipzig 1939, 80–98, hier: 80). – Zu gemeinsamen Zügen in Vicos, Herders und Hegels Geschichtsphilosophie vgl. J. Rathmann, Zur Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders, Budapest 1978, 45 ff. „Die historische Erkenntnistheorie des jungen Herder“ ist thematisiert in der gleichnamigen Dissertation von Chr. Pohl, Frankfurt a.M. 1990. Sehr aufschlussreich sind die Studien zu Quellen und Methodik des Herder’schen Geschichtsdenkens von R. Häfner, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg 1995.
Die Bildung des Menschengeschlechts
Straßburg, wohin er sich im Herbst 1770 zur Behandlung einer Augenkrankheit begab. Die Kur blieb erfolglos. Dafür traf Herder einen jungen Jurastudenten namens Johann Wolfgang Goethe und zwar sinnigerweise auf der Treppe des örtlichen Gasthauses „Zum Geist“.
2.
Herder und der junge Goethe
Im zehnten Buch von „Dichtung und Wahrheit“6 findet sich ein ausführlicher Bericht von dem ersten Zusammentreffen und den weiteren Straßburger Begegnungen der beiden Geistesgrößen. „Er hatte“, so Goethe über den fünf Jahre älteren Herder, „etwas Weiches in seinem Betragen, das sehr schicklich und anständig war, ohne daß es eigentlich adrett gewesen wäre. Ein rundes Gesicht, eine bedeutende Stirn, eine etwas stumpfe Nase, einen etwas aufgeworfenen, aber höchst individuell angenehmen, liebenswürdigen Mund. Unter schwarzen Augenbrauen ein paar kohlschwarze Augen, die ihre Wirkung nicht verfehlten, obgleich das eine rot und entzündet zu sein pflegte.“ (442) Der Tränenkanal war chronisch verstopft. Ich erspare Ihnen den Bericht von der, wie gesagt, erfolglosen, aber äußerst schmerzhaften Operation, die im Beisein Goethes erfolgte, und erwähne nur noch dessen Bemerkung, wonach Herder „allerliebst einnehmend und geistreich sein, aber ebenso leicht eine verdrießliche Seite hervorkehren (konnte)“ (443). Der Olympier entschuldigte Herders gelegentliche Verdrießlichkeit als eine Folge besagten Augenleidens, was angesichts der harschen Art und Weise, mit welcher der Ältere mit dem Jüngeren während der Straßburger Zeit und auch später7 gelegentlich umsprang, durchaus bemerkenswert ist. „Der von Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote …“ (446): Nein, fein waren die Späße nicht, die sich Herder mit Goethes Namen und Person erlaubte (vgl. 447); aber lassen wir das und begeben uns im Geiste eilends dorthin, wo wir körperlich längst sind, nämlich nach Bückeburg.
6 J. W. Goethe, Sämtliche Werke in 18. Bänden. Bd. 10: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Zürich 1979, 441 ff.; die vier nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 7 Vgl. dazu u. a. Herders Bückeburger „Bilderfabel für Goethe“ vom März 1773 (SWS XXIX, 529–531), ein Spottgedicht, in dem er diesen mit einem Buntspecht „von Frankfurt wohl am Mayn“ (SWS XXIX, 529), sich selbst hingegen mit einem „in Westphal’n“ (SWS XXIX, 530) zwar kurzfristig etwas flügellahmen Falken vergleicht, der den vorlaut Hämmernden und Umherstolzierenden indes bald schon überflügeln werde.
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3.
In Bückeburg (1771–1776)
Das Bückeburger Stellenangebot hatte Herder noch im Straßburger Winter 1770/71 erreicht; am 28. April 1771 trat er sein Amt in der Residenzstadt der Grafschaft Schaumburg-Lippe an. Über die Umstände seiner Ankunft, warum er zwei Stunden zu spät beim – militärische Pünktlichkeit gewohnten – Grafen Wilhelm vorstellig wurde, wie sich seine Beziehung zu ihm, zur herrnhutisch erzogenen Gräfin Maria und zu den damals ca. 15.000 Einwohnern der Grafschaft und den kaum 2000 Bückeburgern gestaltete – von all dem haben Sie als Einheimische weitaus mehr Kenntnisse als ich. Auch über Herders hiesige Junggesellenzeit, die Eheschließung mit Caroline Flachsland8 und sein frühes Familienleben wissen Sie, wie ich annehme, besser Bescheid, ebenso über seine Tätigkeit als Oberpfarrer und als Schulvisitator hier, in Stadthagen und anderswo.9
8 Maria Caroline Flachsland (1750–1809), Mitglied des Darmstädter Kreises (der Empfindsamen), wurde am 2. Mai 1773 in Darmstadt mit Herder vermählt, um anschließend mit ihm ins Bückeburger Pfarrhaus zu ziehen, wo die Söhne Gottfried und August geboren wurden. Sie sammelte und beschrieb Erinnerungen an das Leben ihres Mannes (2. Bde., Tübingen 1820) und redigierte und edierte Schriften von ihm. Ihr Briefwechsel mit Herder ist in zwei Bänden erschienen (Weimar 1916); vgl. N. Kohlhagen/S. Sunnus, Eine Liebe in Weimar. Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder, Stuttgart 1993, 64 ff. 9 Nach E. Kühnemann, Herder Leben, München 1895, vollzieht sich Herders Leben in der Abfolge von Erwachen, Krisis, Reife und Verfall. Die Bückeburger Zeit von 1771–1776 wird als die Zeit der Krisis qualifiziert, wobei es drei große Ereignisse sein sollen, die sie bewirkten: „Er nimmt ein Weib, er entscheidet sich dauernd für den geistlichen Beruf, er gründet seine Weltanschauung auf religiöse Gedanken.“ (115) – Genaustens beschrieben worden sind Leben und Schriften der Bückeburger Zeit Herders von seinem Großbiographen Rudolf Haym im ersten Band von dessen zweibändigen Werk: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Berlin 1877 (Nachdruck Berlin 1958), 483–786. – Zur Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte“ vgl. 570–584. Herder hatte Grund, als Verfasser ungenannt zu bleiben. Die Schrift „enthielt Stellen, bei denen man mit dem Finger auf die Bückeburger Zustände, auf die Denkweise und die Regierungsgrundsätze des Bewunderers und Nacheiferers Friedrichs des Großen zeigen mochte“ (571). – Was den Herderbiographen Haym betrifft, so handelt es sich um einen der bedeutendsten deutschen Literaturwissenschaftler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Neben Werken zu Hegel und seiner Zeit sowie zur romantischen Schule hat er auch eine Schopenhauerbiographie vorgelegt. – Zu Herders Vorgänger im Amt, dem Aufklärer Thomas Abbt (1738–1766), der als Verfasser einer Schrift „Vom Tode für das Vaterland“ (1761) bekannt geworden ist und mit Moses Mendelssohn freundschaftlich verbunden war, vgl. a.a.O., 494 ff.; zu Graf Wilhelm, der in seiner Vorliebe für alles Militärische sein kleines Land „zu einem zweiten Sparta“ (491) gestalten wollte und als „das vollendetste Modell der Befestigungskunst“ (492) auf einer künstlichen Insel im Steinhuder Meer Festung Wilhelmstein errichten ließ, vgl. a.a.O., 489 ff. – Der zweite Pfarrer neben Herder hieß Duve, der Priester der kleinen katholischen Gemeinde Kirchhof (vgl. 499). Betrieben hatte Herders Berufung nach Bückeburg Christian Friedrich Gotthard Westfeld (1746–1823) in seiner Eigenschaft als Kammerrat; er machte sich mit einer Preisschrift „Über die Abstellung des Herrendienstes“ (1773) einen Namen, in der er für die Ablösung der bäuerlichen Handund Spanndienste durch Geldzahlungen plädierte. Zufrieden war Westfeld mit dem Erwerb des neuen
Die Bildung des Menschengeschlechts
Schriftstellerisch war Herder in seinen Bückeburger Jahren nach einer anfänglichen Krise in hohem Maße kreativ. Biographen sprechen von einer „Zeit frohen Schaffens“10 , in der Herder die Resultate seiner bisherigen Forschungen zu bündeln und vorläufig zu umschreiben suchte. Als „das wohl bedeutendste Ergebnis seiner Bückeburger Arbeit“11 gilt gemeinhin die eingangs erwähnte Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“. Im Wesentlichen auf sie will ich heute Ihre Aufmerksamkeit lenken, wobei die Konzentration nicht leicht zu erlangen ist, weil die Schrift in einem assoziativen Sturm- und Drangstil abgefasst ist, der Gedanken genialisch durcheinanderwirbelt, ohne sogleich eine klare und zielstrebige Argumentationslinie erkennen zu lassen.12 Am leichtesten verständlich scheint der Vergleich zu sein, den Herder zwischen dem Verlauf der Weltgeschichte und der Biographie des Einzelmenschen vornimmt. Die morgenländische Patriarchenzeit gilt ihm als „das goldne Zeitalter der kindlichen Menschheit“ geistlichen Herrn, den er aktiv betrieben hatte, keineswegs. Je mehr er „sich für die Berufung Herders verantwortlich fühlte, um so weniger konnte er es verbergen, daß ihm der Berufene weder zu dem Grafen noch überhaupt in die Bückeburger Verhältnisse so zu passen schien, wie er gehofft hatte“ (498). Ähnlich empfanden Herders Mitbrüder im Amt und seine Gemeinde. Man hielt ihn mehr „für einen Gelehrten oder gar für einen vornehmen Hofmann als für einen richtigen, erbaulichen Geistlichen“ (500); das sollte sich ändern, wenngleich erst allmählich. – Die Bückeburger Zeit Herders endete im Frühherbst 1776 mit dem Umzug nach Weimar. Zu den mühsamen und für Herder höchst unerfreulichen Verhandlungen mit der Göttinger Universität und dem schließlich erfolgten Ruf auf die Weimarer Generalsuperintendentur vgl. R. Haym, a.a.O., 745–786, hier: 773. „Durch keinen Anderen als durch den alten Straßburger Freund Goethe, der jetzt in Weimar der Allvermögende zu werden anfing, war die Sache eingeleitet und durchgesetzt worden.“ Goethe war seit dem 7. November 1775 in der Stadt an der Ilm, Herder folgte ihm nach knapp einem Jahr. Hierzu und zur Bückeburger Zeit Herders vgl. ferner die aufschlussreiche Sammlung: H. Reisinger, Johann Gottfried Herder. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten, Berlin 1942, 137–211. 10 Vgl. F. W. Kantzenbach, Johann Gottfried Herder mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Hamburg (1970) 5 1992, 61. – Zur eng verbundenen Schrift über die „Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“ (1774/76) vgl. Chr. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999. Zu späteren Werken zum Alten Testament, insbesondere zu demjenigen „Vom großen Geist der Ebräischen Poesie“ (1782/83) vgl. die Beiträge des von D. Weidner herausgegebenen Sammelbandes: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders „Vom Geist der Ebräischen Poesie“, Berlin 2008. 11 F. W. Kantzenbach, a.a.O., 71. 12 Es ist üblich geworden, „vom fehlenden Zusammenhang seiner (sc. Herders) anregenden Gedanken und Thesen, vom Scheitern seiner Argumentationen und Beweisgänge zu sprechen; mangelnde Konsistenz im Begriffsgebrauch, mehrfache und widersprechende oder auch nur analogische Argumentation statt der strengen begriffsanalytischen oder empirisch induktiv vorgehenden Demonstration werden ihm nicht erst seit Kants Rezension der ‚Ideen‘ vorgeworfen. Herder überrascht durch seine Intuition und enttäuscht in seiner Argumentation.“ (U. Gaier, Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart/Bad Cannstatt 1988, 9; Gaier will mit diesem „Vorurteil“ [ebd.] aufräumen.)
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(9, 15 f.), deren „Ursprung … von Einem“ (5, 7 f.) er für ausgemacht hält, ohne deshalb monogenetisch die Herkunft des menschlichen Geschlechts von einem (prä-)historischen Menschenpaar namens Adam und Eva behaupten zu wollen.
4.
Kindesalter der Menschheit
Das Knabenalter der Menschheit (vgl. 14, 26) spielt sich Herder zufolge vor allem an den Gestaden des Nils und der phönizischen Küste ab, bis aus Ägyptern und Phöniziern der „schöne griechische Jüngling“ (21, 28) hervorgeht, der an körperlicher Anmut und geistiger Grazie kaum zu überbieten ist. Das „Mannesalter menschlicher Kräfte und Bestrebungen“ (26, 1) gehört sodann den Römern. Im Zuge des Niedergangs des Imperium Romanum verlagert sich die weltgeschichtliche Achse schließlich nach Norden, wo mit der christlichen Religion die Phase später Reife beginnt und so weiter und so fort. Das Ganze scheint sehr europazentriert und typisiert angelegt, könnte man meinen. Ja, unterbricht Herder sich selbst, er wisse am allerbesten sowohl um die Perspektivenbeschränktheit als auch um die Abstraktheit seiner Betrachtungen. „Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich.“ (28, 14 f.) Ihm sei durchaus bewusst, dass „in der Welt keine zwei Augenblicke dieselben sind – daß also Ägypter, Römer und Griechen auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen“ (30, 21–23). Jede geschichtliche Typisierung stoße auf historisch gesetzte Grenzen, was indes gemäß Herder nicht von der Nötigkeit entlastet, bei aller Begrenztheit der eigenen Sicht nach einer planvollen Ordnung im Gang der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung Ausschau zu halten: „(K)ein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution – Weben und Aufreißen! – Penelopische Arbeit!“ (37, 18–20)
5.
Wider Skeptizismus und Fortschrittsideologie
Die Schlagworte eines prinzipiellen Skeptizismus, der im Verlauf der Geschichte zuletzt nur Chaosmächte am Werke sieht, sind nicht nach Herders Sinn. Doch ebensowenig wie als „Ameisenspiel“ (vgl. 39, 1) will er den Fortgang der Jahrhunderte von der eigenen Gegenwart her bemessen und aktuell erreichte Aufklärung zum Bewertungskriterium aller vorhergehenden Epochen erklären. Nein, jede Zeit trage – obwohl transitorisches Moment im geschichtlichen Verlauf wie die Altersstufen in der Lebensgeschichte des Einzelnen – ihren Maßstab, ihren Sinn und ihre Vollendung in sich selbst, was cum grano salis auch für die Epochen gelte, die er nicht in seinem Blick habe. „Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis unglücklicher als der heftigstrebende
Die Bildung des Menschengeschlechts
Mann“ (38, 14–17) – so auch in der Menschheitsgeschichte: jedes Zeitalter hat „den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst“ (38, 13 f.). Die Annahme einer, wenn man so will, Gottunmittelbarkeit jeder Geschichtsepoche gilt, wie Herder ganz im Gegensatz zum üblichen Urteil seiner Zeit konstatiert, auch für das sog. Mittelalter zwischen Antike und Neuzeit. „Die dunkeln Seiten dieses Zeitraums stehn in allen Büchern“ (49, 13 f.); dabei werde übersehen, dass auch das medium aevum nicht nur den Status eines Mittels, sondern auch denjenigen eines Zwecks, eines Selbstzwecks habe. „Keine Zeit“, so Herder, „ist allein Mittel – alles Mittel und Zweck zugleich, und so gewiß auch diese Jahrhunderte“ (53, 5 f.). Entsprechendes gelte von Renaissance und Reformation und schließlich auch von dem Aufklärungssäkulum selbst, also dem 18. Jahrhundert, dem Herder angehört und dessen Größe er bei allem Tadel stets anerkannt hat.13 Was er grundsätzlich verlangt, ist eine Selbstunterscheidung jeder Zeit vom Sinn des Ganzen, auf welchen er die „Universalgeschichte der Bildung der Welt“ angelegt sieht, deren Programm er schon im Journal seiner Reise im Jahr 1769 skizziert hat.
6.
Vom Sinn des Ganzen
Wie jede Geschichtsepoche kann auch diejenige der Aufklärung dem Sinn- und Zielgrund der Menschheits- und Weltgeschichte nur dienlich sein, wenn sie sich nicht mit ihm gleichsetzt, sondern sich von ihm unterschieden weiß. Ohne Stamm und ohne weit verzweigte Äste ist der Wipfel des Geschichtsbaums weder zu erreichen noch hat er Bestand. Mehr und anderes: So sehr allen Zeiten Gottunmittelbarkeit
13 Zu den metaphysischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Bückeburger Geschichtsphilosophie im Aufklärungskontext und zu deren historisch-hermeneutischer Rezeption vgl. M. Heinz, Historismus oder Metaphysik? Zu Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie, in: M. Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder: Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, 75–85; zu den Gegenpositionen von Isaak Iselin und Voltaire vgl. H. Adler, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, 151–162. – Zu Anthropologie und Geschichtsphilosophie des Primitiven und Kindlichen beim jungen Herder vgl. H.-H. Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopien im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989, 59–96. – Zu Herders Begriff von Ursprünglichkeit in seinem Verhältnis zu chronologischer Anfänglichkeit vgl. B. Heinzmann, Ursprünglichkeit und Reflexion. Die poetische Ästhetik des jungen Herder im Zusammenhang der Geschichtsphilosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Bern 1981, 104 ff.; zu Herders Griechenlandbild im Wandel seiner Entwicklung vgl. Y. Ph. Leiner, Schöpferische Geschichte. Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Kultur bei Johann Gottfried Herder, Würzburg 2012, 179–186. – Zu Bückeburger Äußerungen über Person und Werk Martin Luthers, die vor dem Hintergrund einer intensiven Lektüre der Schriften des Reformators vor allem der Jahre zwischen 1517 und 1522 getroffen sind, vgl. M. Embach, Das Lutherbild Johann Gottfried Herders, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1987, 181–202.
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zuzuerkennen sei, so sei doch keine Zeit mit der Gottheit Gottes gleichzusetzen, der das Primärsubjekt der Geschichte darstelle und allein ihren planvollen Ablauf gewährleisten könne, weil kein Mensch ihn in Gänze zu überblicken vermöge. Der „Allanblick“ (84, 25) ist Herder zufolge Gott und Gott allein vorbehalten, der in einem Moment das Ganze und den Sinn desselben umfasst. Er hingegen und alle andere Menschen können, wie der Bückeburger bekennt, den Sinn des Ganzen lediglich antizipatorisch, proleptisch und d. h. auf vorläufige Weise wahrnehmen: „(W)as soll ich zu dem großen Buche Gottes sagen, das über Welten und Zeiten gehet! von dem ich kaum ein Letter bin, kaum drei Lettern um mich sehe. – –“ (110, 4–7) Die Antwort gibt Herder indirekt, nämlich mit einem Wort des Apostels Paulus aus dem 1. Brief an die Korinther, mit dem die Bückeburger Geschichtsphilosophie schließt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen gleich wie ich erkannt bin.“ (1. Kor 13,12; vgl. 110, 31–33) Kehren wir an den Anfang zurück und suchen uns im Folgenden anhand des Titels der Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“14 einen Reim darauf zu machen, was der gegebene Inhaltsüberblick in Grund-
14 „Wohl kein Abschnitt im Leben Herders ist so umstritten, wie die Zeit seines Wirkens in Bückeburg.“ (M. F. Möller, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Das Menschenbild Johann Gottlieb Herders im Kontext von Theologie und Philosophie der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1998, 45) Die Urteile der Interpreten und das Charakterbild Herders, das sie zeichnen, unterlagen im Laufe der Auslegungsgeschichte starken Schwankungen (vgl. a.a.O., 45–57). Am ausführlichsten untersucht worden ist die „Entfaltung von Herders Religion und Theologie in Bückeburg“ samt ihren geschichtlichen und biographischen Voraussetzungen von H. Stephan, Herder in Bückeburg und seine Bedeutung für die Kirchengeschichte, Tübingen 1905, 86–237; vgl. fernerhin G. Günther/ A. A. Volgina / S. Seifert, Herder-Bibliographie, Berlin/Weimar 1978, 300–302. Für die vorliegende Untersuchung ist die hermeneutische Maxime grundlegend, dass Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie beim Bückeburger Herder eine differenzierte Einheit bilden (so auch M. F. Möller, a.a.O., 49). – Eine ausführliche Besprechung von Herders Geschichtsphilosophie zur Bildung der Menschheit im Kontext der anderen in Bückeburg erarbeiteten Schriften bietet R. Haym, a.a.O., 570–584. Er betont den polemischen Charakter des vom Autor selbst als Pamphlet bezeichneten Werkes, das als „eine Anklageund Fehdeschrift gegen das Jahrhundert“ (572) konzipiert sei, und hebt dann ihren Gegensatz gegen insbesondere zwei dem Boden der Aufklärung entstammende Geschichtsansichten hervor, nämlich zum einen gegen die exemplarisch von Isaak Iselin repräsentierte Annahme, „daß die Menschheit in einem beständigen Fortschritt zur Vervollkommnung begriffen sei“ (573), zum anderen gegen die skeptische Anschauung, die „überhaupt keinen Plan und Fortgang in der Geschichte“ (574) anzuerkennen bereit war. Sodann wird Herders Mittelstellung, seine Analogisierung des Gangs der Geschichtsentwicklung mit den Lebensaltern des Individuums, seine „Apologie des Mittelalters“ (579) sowie seine auf die Romantik vorausweisende Kritik am mechanischen Schematismus dargestellt, wie er das Aufklärungszeitalter in Politik, Wissenschaft und Kunst kennzeichne. Gegenüber der Prädominanz des Allgemeinen und der abstrakten Verstandesbegriffe gelte es dem Besonderen, unwiederholbar Einmaligen, Singulären etc. die nötige Berücksichtigung und Anerkennung zu verschaffen, was nach Herder nur unter religiösen Voraussetzungen möglich ist. Nach Haym enthält
Die Bildung des Menschengeschlechts
zügen zu skizzieren sucht. Der Beginn sei mit dem Wörtchen „auch“ gemacht: Warum nicht „Eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ sondern „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“? Habermas hat seine Titeladaption der Herderschrift in dem Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ hauptsächlich mit dem fragmentarischen Charakter seiner Darstellung begründet, die nur einen Teil der Thematik, nicht das thematische Ganze zu erfassen vermöge.15 Ein entsprechendes Bewusstsein bringe die Überschrift des Herderessays zum Ausdruck, was von grundsätzlicher Bedeutung insofern sei, als dadurch neben der Fragmentarität auch die Perspektivität jeder Erörterung benannt werde und der subjektive Gesichtspunkt, unter dem sie vorgenommen sei.
7.
Bewusstsein der Perspektivität
In der Tat erwecken Herders Überlegungen zur Geschichte nicht den falschen Schein subjektloser Objektivität, sondern sind von einem reflexiven Wissen um ihre Positionalität bestimmt, was die grundsätzliche Bedeutung, die ihnen eignet, nicht aufhebt, sondern im Gegenteil bestätigt, weil das Bewusstsein der Standpunktbedingtheit die Bedingung der Möglichkeit jeder Abhandlung darstellt, die als geschichtlich gelten will. Nach Habermas hat Herder in seiner Bückeburger
die kleine Schrift „eine Quintessenz der Ideen, welche für Herder in dieser Periode die leitenden waren“ (584). Den ersten Beleg für diese Hypothese bilde die Untersuchung über „Die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“ (vgl. 584–604), in der er anhand des ersten Kapitels des ersten Mosebuches, also Gen 1, zu erweisen suche, dass „die gesamte Bildung des Menschengeschlechts aus Einem Keim, einem einzigen Urphänomen entsprungen“ (594) sei. Weitere Denkmale der Völkergeschichte werden als Beleg dafür angeführt, „daß Alles aus Einer, aus dieser Quelle des Mosaischen Schöpfungsberichtes, und diese Quelle kraft göttlicher Offenbarung geflossen sei“ (596). Auch aus vielen der übrigen Bückeburger Schriften Herders ergebe sich die Einheit von Geschichtsphilosophie und Offenbarungstheologie (vgl. 603). Zu den u. a. gegen Spalding gerichteten „Provinzialblätter(n) an Prediger“ vgl. 604–633 bzw. 660, zu den Erläuterungen zum Neuen Testament und zu einzelnen neutestamentlichen Schriften sowie zu Arbeiten zur Literatur und Philosophie einschließlich der Fortsetzung der „Ältesten Urkunde“ vgl. 661–688 sowie 689–744. Nach Haym zieht sich „(e)in Faden durch die Schriften der Bückeburger Periode“ (604), dessen Bloßlegung „den ganzen Horizont der geschichtsphilosophischen und der ethisch-religiösen Anschauungen unseres Autors“ (671) erkennen lasse. Erschlossen worden sei dieser Horizont durch die Einsicht, dass der Sinn der Natur-, Menschheits- und Weltgeschichte sich weder durch Theorie noch durch Praxis, sondern nur durch offenbarungsfundierte Religion erkennen und begründen lasse. Haym fügt hinzu, dass sich diese Einsicht in der Bückeburger Zeit erst verschwommen und unter mancherlei Verworrenheit und noch nicht in jener Klarheit manifestiere wie in späteren Jahren, insbesondere im Rahmen der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 15 Vgl. J. Habermas, a.a.O., Bd. 1, 9 f.; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf den zweiten Band des Werkes.
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Skizze zur Geschichtsphilosophie nicht weniger als „die methodischen Grundsätze des Historismus“ (423)16 entwickelt, wozu die Einsicht in die Beschränktheit des Horizonts jeder geschichtlichen Wahrnehmung sowie das Bewusstsein der Historizität der Geschichte im Sinne ihrer ständigen Veränderungen und „akzelerierten Vergänglichkeit“ (ebd.) auf der einen sowie „kontinuitätstiftende(r) Kraft von erinnerter Lebensgeschichte und fortgesetzter Tradition“ (ebd.) auf der anderen Seite gehöre. Kennzeichnend für den Herder’schen Historismus sei ferner das Empfinden der „Individualität der Gegenstände der historischen Wissenschaften“ (ebd.), wobei man nicht nur an individuelle Einzelne, sondern auch an die unverwechselbare Besonderheit von kollektiven Lebenszusammenhängen in Gestalt beispielsweise von Völkern oder Nationen zu denken habe. Die Orientierung am Individuellen, Besonderen, Singulären und am unwiederholbar Einmaligen sei es zugleich, welche „die Sphäre der Geschichte von der Natur als dem Gegenstand generalisierender Wissenschaften“ (425) unterscheide.
8.
Individualität und Sozialität
Individualität ist nach Herder von Sozialität geschichtlich zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen. Beide gehören gleichursprünglich zusammen, wobei die intersubjektive Sozialisation- und Vermittlungsleistung vor allem durch die Sprache erbracht werde. Sie sei zugleich das wichtigste Medium der Traditionsbildung und dessen, was Überlieferungsgeschichte heißt. History ist ohne Story, Geschichtliches ohne Narration nicht denkbar. Indem er dies präzise erfasst habe, habe Herder einen entscheidenden Impuls für die „linguistische Wende“ (vgl. 428 ff.) und für die Umpolung neuzeitlicher Subjektivitätstheorie in eine Theorie des kommunikativen Handelns gegeben, wie er, Habermas, sie seit langem verfolge.17 Zugleich habe Herder individuelle Geschichten und Geschichten von speziellen Sozialverbänden zumindest der Tendenz nach in einen globalen Horizont gestellt und somit eine Begründung dafür gegeben, warum von Geschichte berechtigterweise in der Einzahl gesprochen wird. Herder, den Habermas zusammen mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt zu den Gründergestalten der historischen Hermeneutik rechnet, hat „die Geschichte als Ganze“ (422) thematisiert und damit uni-
16 In Bückeburg entstand „das erste Werk des deutschen Historismus und, nach Ansicht vieler, des Historismus überhaupt“ (E. Adler, Herder und die deutsche Aufklärung, Wien/Frankfurt a.M./ Zürich 1968, 132). 17 Vgl. bes. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1981.
Die Bildung des Menschengeschlechts
versalgeschichtliche Horizonte erschlossen. Dies ist wahr. Das eigentliche Thema der Herder’schen Geschichtsphilosophie wie er sie in seiner Bückeburger Schrift expliziert hat, ist indes „nicht der triviale Gedanke der Universalgeschichte als Totalität allen Geschehens, sondern eine Antwort auf die Frage nach dem einheitlichen Wesen, dem Ursprung und Ziel dieser Geschehenstotalität“18 . Herder hat sie im Wesentlichen durch Verweis auf das planvolle Handeln Gottes gegeben, der mit Ursprung und Ziel zugleich die Einheit der universalen Menschheits- und Weltgeschichte gewährleiste. Seine Geschichtsphilosophie ist ohne theologische Basis nicht denkbar.
9.
Geschichtsphilosophie und Theologie
Der unverbrüchliche Zusammenhang von Geschichtsphilosophie und Theologie wird von Habermas zwar nicht ausgeblendet, aber nach Maßgabe seines Programms einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens19 als sekundär und prinzipiell der Vergangenheit angehörig bezeichnet. Zwar leugnet Habermas nicht, sondern behauptet im Gegenteil entschieden, dass die religiösen Überlieferungen und metaphysisch-theologischen Traditionen normative Bestände enthalten, die einer vernünftigen Daseinsgestaltung dienlich sein können und daher auch unter säkularen Bedingungen nicht der Vergangenheit anheim zu stellen seien. Den Gottesgedanken hält er hingegen für obsolet: vernunftverpflichtete Philosophie auf der Höhe des aktuellen Bewusstseins habe ohne ihn auszukommen. Dies sah Herder ganz anders, ohne in theologisch-metaphysischen Angelegenheiten einfachhin Traditionalist gewesen zu sein. Seine Geschichtsphilosophie ist ohne den Gottesgedanken nicht denkbar, was erneut und über Habermas hinaus nach ihrem Grundanliegen zu fragen veranlasst. Von Geschichte wird viel und mit großer Selbstverständlichkeit gesprochen, aber es ist schwer, präzise zu sagen, was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist. Ein Blick in die Terminologiegeschichte kann zeigen, dass der Kollektivsingular Geschichte vergleichsweise jungen Datums ist (er setzt sich erst „im 18. Jh. breit durch“20 ), wohingegen die plurale Verwendung des Begriffs im Sinne von Geschichten die lange Zeit übliche war. Ohne Stories, wie gesagt, ist History auch heute nicht denkbar, wobei im Alltag bekanntlich die unterschiedlichsten Geschichten erzählt werden
18 E. Herms, Art. Herder, Johann Gottfried von (1744–1803), in: TRE 15, 70–95, hier: 73. 19 Vgl. G. Wenz, Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Zur Philosophiegeschichte Jürgen Habermas, in: KuD 66 (2020), 343–354. 20 G. Scholtz, Art. Geschichte, Historie, in: HWPh 3, Sp. 344–398, hier: Sp. 358. Zur gelegentlichen Unterscheidung der Begriffe Geschichte und Historie vgl. H.-W. Bartsch, Art. Geschichte/Historie in: a.a.O., Sp. 398 f.
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können und tatsächlich erzählt werden, ohne deshalb allesamt überlieferungswert zu sein. Schon im Alltäglichen stellt sich somit die Frage, was zu erinnern ist und was getrost vergessen werden kann, wobei das Vergessen, wie wir wissen, nur bedingt einen willentlichen Akt darstellt, weil es oft ganz und gar unwillkürlich und gewissermaßen von selbst erfolgt.
10.
Erinnern und Vergessen
Für Gedächtnispflege in Form von professioneller Geschichtsschreibung stellt sich noch dringlicher die Frage nach einem Kriterium, Erinnerungswürdiges von demjenigen zu unterscheiden, was dem Vergessen anheimgegeben werden kann. Das Thema möglicher geschichtlicher Inhalte ist damit eng verbunden. Sie systematisch zu ordnen, fällt nicht leicht. Räumliche Gesichtspunkte liegen nahe, wie im gegebenen Fall der Ort Bückeburg, an dem sich die Geschichte ereignet hat, von der erzählt und die bedacht werden soll. Auch eine Auswahlordnung nach Sachgesichtspunkten ist denkbar, etwa unter dem Aspekt wissenschaftlicher Disziplinen, wonach beispielsweise die Geschichte der Philosophie dargestellt werden soll und in deren Zusammenhang etwa die Geschichte der Geschichtsphilosophie, in welchem Kontext dann auch der Bückeburger Herder vorzukommen hätte, wie das nicht nur bei Habermas tatsächlich der Fall ist. Sucht man nach einem gemeinsamen Merkmal, das alle denkbaren Geschichtsthemen charakteristisch kennzeichnet, so legt sich ihre Zeitrelation nahe.21 Der Zeitbezug scheint für alle geschichtlich zu nennenden Bestände konstitutiv zu sein, auch wenn sie beispielsweise in lokaler Perspektive ins Auge gefasst werden, wie im Falle des Bückeburger Herders der Jahre 1771–1776. Mit der Zeit hat es eine eigene Bewandtnis. Sie vergeht, heißt es. Aber das ist nur bedingt richtig. Denn was vergeht, ist nicht eigentlich die Zeit, es sind vielmehr die jeweiligen Momente ihres steten Verlaufs. Konkret erleben wir die Zeit in den
21 Zum „Zeit-Sinn der Geschichte“ bei Herder und ihrer sprachlich-narrativen Verfasstheit vgl. H. Unterreitmeier, Sprache als Zugang zur Geschichte. Untersuchungen zu Johann Gottfried Herders geschichtsphilosophischer Methode, München 1971, 56 ff.; ferner: R. Stadelmann, Der historische Sinn bei Herder, Halle/Saale 1928, bes. 55 ff. und M. Pohlmeyer-Jöckel, Poesie und Geschichte. Formen der Erkenntnis beim frühen J. G. Herder, Münster/Hamburg/London 2001, der von einem „linguistic turn“ Herders spricht und wie Unterreitmeier die enge Verbindung der Herder’schen Sprach- und Geschichtsphilosophie hervorhebt. Geschichte sei Herders Bückeburger Ansatz zufolge zeitliche Dichtung des ewigen Gottes (vgl. 73). Dieser Bestimmung habe der Mensch dadurch zu entsprechen, dass er Gott geschichtlich zur Sprache bringe, was „um der Menschlichkeit des Menschen willen unverzichtbar“ (M. Kumlehn, Gott zur Sprache bringen. Studien zum Predigtverständnis Johann Gottfried Herders im Kontext seiner philosophischen Anthropologie, Tübingen 2009, VII) sei.
Die Bildung des Menschengeschlechts
Tempora, in den Zeiten der Vergangenheit, des Präsens und des Futurs. Damit geht ein Problem einher. Denn was vergangen ist, ist offenbar nur mehr in der und durch die Erinnerung präsent und an sich selbst ohne Gegenwart und Zukunft, wobei es das Geschick auch der jeweiligen Gegenwart zu sein scheint, in der die Erinnerung gepflegt wird, alsbald dem Schicksal des Vergangenen zu verfallen und nicht mehr präsent zu sein, bis irgendeinmal im Laufe der Zeiten alle Zukunft aufgebraucht ist und nichts mehr kommt, wie das im Falle des Einzelnen im individuellen Tod und im Falle der Menschheits- und Weltgeschichte dann zu erwarten steht, wenn man mit ihrem möglichen Ende rechnet und nicht davon ausgeht, dass alles ad infinitum weitergeht. Spätestens in Anbetracht solch endzeitlicher Erwartung stellt sich die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Für Herders Geschichtsphilosophie ist das die eigentlich religiöse, weder durch menschliche Theorie, noch durch menschliche Praxis, sondern nur durch Verweis auf Gott beantwortbare Frage. Wie Rudolf Haym sagt: Theologe und Geschichtsphilosoph sind bei Herder in Personalunion vereint. Diese Feststellung hat in kritischer und konstruktiver Hinsicht ihre Richtigkeit.
11.
Göttlicher Geschichtsplan
Was die Kritik anbelangt, so grenzt sich Herder sowohl gegen eine skeptische Auffassung ab, die in der Geschichte nichts als, um ein Wort Hegels zu gebrauchen, Kontingenzschutt, also eine chaotische Anhäufung von Zufälligkeiten ohne erkennbaren Sinn zu sehen vermag, als auch gegen ein „auf sich selbst bezogene(s) Fortschrittsdenken“22 und ein abgehobenes „Bewußtsein der eigenen Aufgeklärtheit und Vernünftigkeit, die zu einer hybriden Herabsetzung der vorangegangenen Epochen geführt haben“23 . Beide Fehlformen geschichtlichen Denkens bilden sich nach Herders Urteil aus, wenn in den Reflexionen über den Bewegungsverlauf und den Entwicklungsgang der Zeiten, ohne die der Begriff der Geschichte keinen Bestand hat, die religiösen Dimensionen und der Gedanke an Gott ausgeblendet werden. Gott allein kann den planvollen Verlauf und den Zielgrund der Geschichte gewährleisten sowie den geschichtlichen Menschen unter Einschluss des professionellen Historikers zur Selbstbescheidung und dazu veranlassen, sich selbst im Bewusstsein, gut in ihm aufgehoben zu sein, vom Sinnganzen der Geschichte zu unterscheiden und gerade so einen historischen Standpunkt, also eine Position einzunehmen, die sich ihrer geschichtlichen Relativität und der Perspektivität ihrer
22 G. A. Benrath, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VII/1: 16. bis 18. Jahrhundert, in: TRE 12, 630–643, hier: 640. 23 O. Dierse/G. Scholtz, Art. Geschichtsphilosophie, in: HWPh 3, Sp. 416–439, hier: Sp. 420.
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Wahrnehmung bewusst ist mit der Folge, jeder geschichtlichen Epoche ihr jeweiliges Eigenrecht zuzubilligen. Kurzum: Primärsubjekt der Geschichte ist Gott und nicht der Mensch, sei es der Einzelne oder die Menschheit insgesamt. Eine humane Sicht der Geschichte ergibt sich für Herder nicht ohne Differenzierungsleistungen, unter denen die religiöse Unterscheidung von Mensch und Gott die wichtigste ist. Nur in der Gewissheit, den Sinn des geschichtlichen Ganzen nicht selbst hervorbringen und garantieren zu müssen, kann der Mensch in sinnvoller Weise am Geschichtsprozess teilnehmen und ihn produktiv gestalten.
12.
Offenbarung als Geschichte
Nach Habermas ist die Geschichtsphilosophie aus der Geschichtstheologie hervorgegangen, um sich von ihr zu emanzipieren. Folgt man Herder, dann ist eine Philosophie der Geschichte, die zur Bildung der Menschheit beitragen soll, nur als Theologie der Geschichte, also unter der Voraussetzung des Gottesgedankens denkbar.24 Wenn ich mich direkt an den Nachfolger Herders, den amtierenden Landesbischof, wenden darf: Diese These, lieber Herr Dr. Manzke, ist ganz in unserem und im Sinne unseres gemeinsamen theologischen Lehrers Wolfhart Pannenberg, der mit seiner 1961 erschienenen Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ Schule gemacht hat. Ihre bei Pannenberg angefertigte Dissertation, Herr Landesbischof, über Aspekte einer theologischen Deutung der Zeit25 gehört in diesen Kontext und passt so auch gut zur Bückeburger Herdertradition. Man hat Herder vor allem zusammen mit Humboldt zu den Stiftergestalten der klassischen Bildungsidee gerechnet. Auch seine Bückeburger Geschichtsphilosophie ist, wie ihr Titel belegt, auf die Bildung der Menschheit angelegt, die ihren Skopus ausmacht. Herder spricht nicht von Erziehung des Menschengeschlechts, wie Gotthold Ephraim Lessing dies in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk von 1780 tun wird.26 Er bevorzugt, wie ich denke, den Bildungsbegriff insbesondere
24 Zur Aktualität dieser These vgl. T. Rendtorff, Art. Geschichtstheologie, in: HWTh 3, Sp. 439–441 und den Schlussverweis auf Michael Theunissen. 25 K. H. Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit, Göttingen 1992. 26 Vgl. M. N. Forster, Herder’s Philosophy, Oxford 2018, 239–261. Forster erinnert daran, dass Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ „is chronologically later (part of it were already published in 1777, the whole text only 1780), so that if there was an influence here it was an influence of Herder on Lessing not the other way round“ (253, Anm. 48). Herder beurteilte das „Schriftchen“ (SWS 15, 510) günstig und meinte, es „dörfte, ohngeachtet mancher überspannter Hypothese, mancher Theolog wollen geschrieben haben“ (ebd.). Sein Bildungskonzept weist einige Berührungspunkte mit dem Erziehungsentwurf Lessings auf, wie denn auch die Begriffe der Bildung und der Erziehung bei beiden keineswegs konträr gebraucht werden.
Die Bildung des Menschengeschlechts
deshalb, weil er terminologisch-terminologiegeschichtlich eng mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit von Gen 1,27 verbunden ist.27 Bildung zielt nach Herder auf individuelle und universale Realisierung des gottebenbildlichen Menschenwesens. Werdet, was zu sein ihr als Gottes Geschöpfe bestimmt seid, nämlich Söhne und Töchter Gottes, die zu Geschwisterlichkeit untereinander bestimmt sind. Die Maxime, die im Dekalog und im Doppelgebot der Liebe diesbezüglich grundgelegt ist, lautet: Seid gottunterschiedene Menschen unter Menschen in einer gemeinsamen gegebenen Welt!
13.
Im Werden begriffen
Des Menschen und der Menschheit Sein ist im Werden begriffen. Menschliches Wesen ist nicht einfach ursprünglich gegeben, sondern darauf angelegt, in einem individual- und universalgeschichtlichen Prozess verwirklicht zu werden. In einer berühmten Passage aus dem 5. Kapitel (Religion ist die älteste und heiligste Tradition der Erde) des IX. Buches seiner „Ideen zur Philosophie der Menschheit“, die zehn Jahre nach der Bückeburger Geschichtsphilosophie erschien und deren Ansatz er detailliert ausarbeitete, hat Herder das so gesagt: „Nein, gütige Gottheit, dem mörderischen Ungefähr überliessest du dein Geschöpf nicht. Den Thieren gabst du Instinct, dem Menschen grubest du dein Bild, Religion und Humanität in die Seele: der Umriß der Bildsäule liegt im dunkeln tiefen Marmor da; nur er kann sich nicht selbst aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung sollten dieses thun und du ließest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen.“28
27 Vgl. E. Lichtenstein, Art. Bildung, in: HWPh 1, Sp. 921–937 sowie R. Lennert, Art. Bildung. I. Zur Begriffs- und Geistesgeschichte, in: TRE 6, 568–582. – „Herders Bildungsprogramm und seine Auswirkungen im 18. und 19. Jahrhundert“ hat H. Owren in ihrer gleichnamigen Monographie (Heidelberg 1985) untersucht; vgl. ferner: R. Wisbert, Das Bildungsdenken des jungen Herder. Interpretation der Schrift „Journal meiner Reise im Jahr 1769“, Frankfurt a.M. 1987. Entsprechend seinem Bildungskonzept wollte Herder als Pädagoge den Unterricht „ganz auf Selbsttätigkeit der Schüler, ihre eigene geistige Arbeit gründen“ (W. Dobbek, J. G. Herders Weltbild. Versuch einer Deutung, Köln/Wien 1969, 200; vgl. ders., J. G. Herders Humanitätsidee als Ausdruck seines Weltbildes und seiner Persönlichkeit, Braunschweig 1949; ders., Johann Gottfried Herder, Weimar 1950). 28 J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784, IX, 5 (SWS XIII, 394). Vgl. hierzu und zur Rezeption des – spätestens in den „Ideen“ begegnenden – Herder’schen Gedankens der werdenden Gottebenbildlichkeit durch Pannenberg jetzt auch den dritten Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, J. Lauster, Der heilige Geist. Eine Biographie, München 2021, 162 ff, hier: 162: „Der Sinn der Geschichte liegt in der Verwirklichung einer dem Menschen zugewiesenen Aufgabe. Der Mensch darf und soll mit seinem Leben entfalten, was in ihm angelegt ist.“ Es folgt das Herderzitat aus IX, 5 der „Ideen“, das auch bei Pannenberg an entscheidender Stelle begegnet. Aus Pannenbergs produktiver Aneignung der Herder’schen Thesen wurde nach
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Unser Lehrer Pannenberg – Herr Manzke, Sie wissen es – hat dieser, wie er sagte, „überaus gehaltvollen Formulierung“29 und ihren Elementen eine detaillierte Auslegung zuteilwerden lassen. „Das Ziel seiner Bestimmung“, so Pannenberg, „kann der Mensch … nicht von sich aus erreichen. Dazu muß er über sich selber erhoben, hinausgehoben werden über das, was er schon ist. In diesem Prozeß muß er aber auch selber beteiligt sein, und zwar in Wechselwirkung mit seiner Welt und den Mitmenschen, die so wie er selber zu ihrer menschlichen Bestimmung unterwegs sind. Und das Zusammenstimmen all dieser Faktoren ist nur dadurch gewährleistet, daß durch sie alle hindurch Gott als Ursprung und Ziel unserer Bestimmung zur Gemeinschaft mit ihm selber auf uns wirkt. Das war der Gedanke Herders.“30 Der Prozess der Geschichte, so lautet die vom Vorsehungsglauben geprägte Grundannahme seiner Argumentation, dient der Bildung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit und damit der Realisierung dessen, was das Wesen jedes einzelnen Menschen und der Menschheit insgesamt ausmacht: Humanität. Lauster „eine theologische Anthropologie, die zu dem Anregendsten zählt, was die deutschsprachige protestantische Nachkriegstheologie hervorgebracht hat“ (163). Zu Herders Konzeption der „werdenden Gottebenbildlichkeit“ und zur geschichtlichen Realisierung der imago dei des Menschen durch sprachliche Kreativität vgl. G. Fürst, Sprache als metaphorischer Prozess. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988, bes. 377 ff. – Zu Herder als Vater der sog. Philosophischen Anthropologie bei Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Erich Rothacker u. a. vgl. Ch. Grawe, Herders Kulturanthropologie. Die Philosophie der Geschichte der Menschheit im Lichte der modernen Kulturanthropologie, Bern 1967; ferner: A. Gesche, Johann Gottfried Herder. Sprache und die Natur des Menschen., Würzburg 1993; von speziellem Interesse: U. Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. 29 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 42; zu Pannenbergs Herderrezeption vgl. im Einzelnen G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel, Göttingen 2021, 211 ff. 30 W. Pannenberg, a.a.O., 55. Pannenberg hat Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie nachweislich studiert und zwar auf der Basis der Suhrkampausgabe der Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, die H.-G. Gadamer mit einem Nachwort versehen hat (Frankfurt a.M. 1967; Pannenberg-Bibliothek 01862). Von besonderem Interesse war für ihn Herders Idee einer Universalgeschichte zur Bildung von Menschheit und Welt, die Überlegung zum Sinn des Geschichtsganzen und die These, wonach Geschichtsphilosophie ohne Geschichtstheologie nicht möglich sei. Konzeptionelle Parallelen in Herders und Pannenbergs Entwürfen lassen sich unschwer erkennen. Hinzuweisen ist des Weiteren auf eine in Pannenbergs früher Münchner Zeit angefertigte Dissertation: S. H. Sunnus, Die Wurzeln des modernen Menschenbildes bei J. G. Herder. Teilabdruck der Arbeit: Die Säkularisierung der anthropologischen Ansätze J. G. Herders durch A. Gehlen, Nürnberg 1971 (Pannenberg-Bibliothek 01865); zur Bückeburger Geschichtstheorie vgl. 18 ff., zur Idee der werdenden Gottebenbildlichkeit vgl. 33 ff. und zum Verhältnis von Mensch und Tier vgl. 77 ff. Eigens aufbewahrt hat Pannenberg einen Artikel von H. Zimmermann, ehemaliger Kulturredakteur bei Radio Bremen, aus der Feuilleton-Beilage der Süddeutschen Zeitung vom 20./21. August 1994 (Nr. 191): Ein halsstarriger Visionär. Vor 250 Jahren wurde Johann Gottfried Herder geboren.
Die Bildung des Menschengeschlechts
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Werdende Gottebenbildlichkeit
Im Menschsein Jesu, der im Unterschied zum ersten Adam nicht sein wollte wie Gott und der gerade so der einige Sohn des Vaters, der zweite und wahre Adam sowie die Inkarnation des göttlichen Logos war, sah Herder die humane Bestimmung von Mensch und Menschheit erfüllt, womit der Geschichte ihr vollendetes Sinnziel vorgegeben und jener Geist erschlossen ist, in dessen Kraft sich menschliche Gottebenbildlichkeit realisiert. Der Menschwerdung Gottes, wie sie in Jesus Christus Ereignis geworden ist, entspricht so die Menschwerdung des Menschen, welche die ganze Welt in einem neuen Licht erscheinen lässt. Schließen wir in diesem Sinne mit einem Herderlied, im Evangelischen Gesangbuch nachzulesen, besser: nachzubeten oder noch besser: nachzusingen (bis orat, qui cantat! Zweimal betet, wer singt!) unter Nr. 74: „Du Morgenstern, du Licht vom Licht, / das durch die Finsternisse bricht, / du gingst vor aller Zeiten Lauf / in unerschaffner Klarheit auf. // Du Lebensquell, wir danken dir, / auf dich, Lebend’ger, hoffen wir; / denn du durchdrangst des Todes Nacht, / hast Sieg und Leben uns gebracht. // Du ewge Wahrheit, Gottes Bild, / der du den Vater uns enthüllt, / du kamst herab ins Erdental / mit deiner Gotterkenntnis Strahl. // Bleib bei uns, Herr, verlaß uns nicht, / führ uns durch Finsternis zum Licht, / bleib auch am Abend dieser Welt / als Hilf und Hort uns zugesellt.“
15.
Herder und der Bückeburger Bach
Dem ist außer einem „Amen“ eigentlich nichts hinzuzufügen. Doch wäre es nicht recht, wenn im Zusammenhang mit Musik und Gesang nicht auch noch dessen gedacht würde, der in Herders Bückeburger Jahren die Stelle eines hiesigen Hofkomponisten und Konzertmeisters innehatte: Johann Christoph Friedrich Bach (1732–1795), Sohn Johann Sebastians und Bruder dreier weiterer Tondichter der berühmten Familie. Nein, die Melodie des zitierten Herder-Liedes stammt nicht von ihm, sondern schon aus dem 15. Jahrhundert, um dann in dem – Mitte des 16. von Erasmus Alber geschaffenen – Kirchenlied „Steht auf, ihr lieben Kinderlein“ (vgl. EG 442), Verwendung zu finden. Zu anderen Texten Herders indes hat der Bückeburger Bach, wie man ihn nannte, tatsächlich die Musik geschrieben, zu eher weltlichen Stücken wie „Brutus“ (SWS XXVIII, 11–27; 52–68) oder „Philoktet“ (SWS XXVIII, 68–78), aber auch zu geistlichen Poemen wie „Die Auferweckung des Lazarus“ (SWS XXVIII, 34–44) von 1772 oder „Die Kindheit Jesu“ (SWS XXVIII, 28–33), welches biblische Gemälde, so der Untertitel, als Oratorium für Soli, vierstimmigen Chor und Orchester am 11. Februar 1773 am Hofe zu Bückeburg uraufgeführt wurde. Gräfin Maria Eleonore von Schaumburg-Lippe, die junge, ihm seit 1765 angetraute Ehefrau Graf Wilhelms war zugegen. Sie, der die religiösen Dichtungen
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gewidmet waren, war Herder und seiner Caroline in herzlicher und frommer Zuneigung verbunden. Die schöne Seele galt beiden, wie anteilnehmende Beobachter vermerkten, als die Bückeburger heilige Maria, eine schmerzensreiche, wie man hinzufügen darf.
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Abschiedsschmerz
Nach dem Tod ihres einzigen Kindes, eines dreijährigen Töchterchens, und dem Verlust ihres geliebten Zwillingsbruders, der auch in Bückeburg gelebt hatte, starb Gräfin Maria in jesuanischem Alter am 16. Juni 1776, ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag. Ihr Gatte, von dem Caroline Herder sagte, er habe „mehr einem spanischen Ritter oder vielmehr einem veredelten Donquijote als einem deutschen Fürsten ähnlich“31 gesehen, „verzehrte sich nun im Schmerz und in der Einsamkeit und folgte seiner Gemahlin das Jahr darauf in die ‚Welt des Lichtes‘, an die er glaubte“32 . Was hinwiederum Herder anbelangt, so bezeichnete er es in seiner Bückeburger Abschiedspredigt vom 15. September 1776 (vgl. SWS XXXI, 422–432; vgl. 416–421) als eine göttliche Fügung, „daß er sein Amt eben zu der Zeit beschließen sollte, da sie“, Gräfin Maria, „ihr Leben beschloss“33 . Sein Dienstherr entließ ihn in Gnaden und achtungsvoll, die Gemeinde aber, die zu Beginn seiner Tätigkeit nicht ohne Grund wenig mit ihm anzufangen wusste34 , bedauerte Herders Weggang und war gerührt. Diese Rührung übertrug sich auf die Scheidenden, wie aus einem Bericht Carolines hervorgeht: „Mit dem Segen und den Wünschen der guten Bückeburger … verließen wir Bückeburg und die angenehmen Wälder, Berge und Täler der Gegend, in denen wir so oft und innig, einzig und mit edlen Freunden die Lieblichkeiten der Natur genossen hatten … Unaussprechlich wehmütig und mit dem innigsten Dank
31 H. Reisinger, Johann Gottfried Herder. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten, 137–211, hier: 210. 32 A.a.O., 211. 33 R. Haym, a.a.O., 785; zum Versuch, „Herders praktische Tätigkeit im Geistlichen Amt … als ein Wesensbestandteil seines Werkes zu betrachten und für die Herder-Interpretation fruchtbar zu machen“, vgl. W. L. Federlin, Vom Nutzen des Geistlichen Amtes. Ein Beitrag zur Interpretation und Rezeption Johann Gottfried Herders, Götttingen 1982, hier: 35. 34 Man vergleiche den Bericht Westfelds: „Seinen Geist verstand niemand – und wollte niemand verstehen. Mit Rednerkünsten wollte er eigentlich nicht wirken, ob er es gleich vermöge seiner vortrefflichen Darstellungsgabe und der Schönheit und Lebhaftigkeit seines Vortrags in einem hohen Grade vermocht hätte. Er wurde also wirklich mit Gleichgültigkeit gehört; seine Zuhörer merkten wohl, daß er kein Alltagsprediger war, aber sie fühlten sich durch seine Rede doch auch nicht erschüttert, gerührt, zu Entschließungen hingerissen. Sie gingen so kalt aus der Kirche, als sie hineingegangen waren.“ (H. Reisinger, a.a.O., 142)
Die Bildung des Menschengeschlechts
zu Gott für seine Güte … stiegen wir in den Wagen: der Vater den Gottfried auf dem Arm und ich den fünf Wochen alten Säugling August auf dem Schoß – und segneten den Ort, wo Herder so manche Prüfungstage überstanden … und wo wir beide vereint unser erstes häusliches Glück, unser Paradies genossen hatten.“35 Mit einem Segen will auch ich meine Festrede beenden, zu der mich Herr Landesbischof Manzke freundlicherweise eingeladen hat: Gott behüte und beschütze Bückeburg und seine Bewohner, den Herdernachfolger und seine Familie zumal!
35 H. Reisinger, a.a.O., 211. „Am ersten Oktober 1776, in später Abendstunde, kam die Herdersche Familie in Weimar an …“ (R. Haym, Herder. Nach seinem Leben und seinen Werken. Zweiter Band (1885), Berlin 1954, 23). In dem Abschnitt über die ersten sieben Weimarer Jahre (23–217) findet sich u. a. ein kurzer Passus zu einer Preisschrift Herders und zur Bayerischen Akademie der Wissenschaften, von der es knapp und bündig heißt: „Die Richter, welche hier zu Gericht saßen, waren des Bewerbers nicht würdig.“ (136)
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Dirk Ansorge, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstraße 224, 60599 Frankfurt a.M. Prof. Dr. Gregor Etzelmüller, Universität Osnabrück, Institut für Evangelische Theologie, Neuer Graben 29 / Schloss, 49074 Osnabrück Dr. Harald Fritsch, Katholisches Pfarramt Lengfeld, Riedstraße 1, 97076 Würzburg Prof. Dr. Dr. Felix Körner SJ, Zentralinstitut für Katholische Theologie IKT, Humbold-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Assoc. Prof. Dr. Johanne Stubbe T. Kristensen, Universität Kopenhagen, Theologische Fakultät, Karen Blixens Plads 16, 2300 Kopenhagen, Dänemark PD Dr. Michael Murrmann-Kahl, Stifterstraße 25, 93333 Neustadt/Donau PD. Dr. Jörg Noller, Universität Konstanz, Fachbereich Philosophie, 78457 Konstanz Prof. Dr. Friederike Nüssel, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Theologische Fakultät, Ökumenisches Institut, Plankengasse 1–3, 69117 Heidelberg Dr. Thomas Oehl, Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Joachim Ringleben, Georg-August-Universität Göttingen, Theologische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstraße 31 / 33, 80539 München Dr. Paul Schroffner SJ, Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstraße 224, 60599 Frankfurt a.M. Prof. Dr. Klaus Vechtel SJ, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstraße 224, 60599 Frankfurt a.M.
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstraße 31 / 33, 80539 München (Pannenberg-Forschungsstelle)