Die Christologie Wolfhart Pannenbergs [1 ed.] 9783666560347, 9783525560341


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German Pages [353] Year 2020

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Die Christologie Wolfhart Pannenbergs [1 ed.]
 9783666560347, 9783525560341

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Gunther Wenz (Hg.)

Die Christologie Wolfhart Pannenbergs Pannenberg-Studien

Band 6

Pannenberg-Studien

Band 6

Herausgegeben von Gunther Wenz

Gunther Wenz (Hg.)

Die Christologie Wolfhart Pannenbergs

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2367-4369 ISBN 978-3-666-56034-7

Inhalt Vorwort ..........................................................................................

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Thomas Oehl Die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater und der Geist als Feld. Zur begrifflich-logischen Struktur von Wolfhart Pannenbergs Christologie und Trinitätslehre ....................................... 13 Joachim Ringleben Rückwirkende Konstitution. Zu einem spekulativen Gedanken Pannenbergs ................................................................................... 53 Gunther Wenz Gott in Christo. Eine Erinnerung an Pannenbergs theologischen Lehrer Heinrich Vogel .................................................. 69 Wolfgang Greive Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964............................................................................. 87 Georg Bruder Warum ist Jesus von Nazareth in Wahrheit Gottes Sohn? Pannenbergs Programm einer „Christologie von unten“ ........................ 105 Klaus Vechtel Freisetzende Einheit. Pannenbergs Auseinandersetzung mit der Zweinaturenlehre ............................................................................. 119 Josef Schmidt Die Einheit von Schöpfungslehre und Christologie bei Wolfhart Pannenberg........................................................................ 137

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Inhalt

Ekkehard Mühlenberg Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie .............. 147 Friederike Nüssel Theologia crucis? Zur Rezeption lutherischer Kreuzestheologie in Wolfhart Pannenbergs Systematischer Theologie .............................. 171 Dirk Ansorge Stellvertretendes Strafleiden? Die Sünde des Menschen – und der Tod Jesu als universales Heilsereignis ............................................ 189 Georg Sans Der Tod Jesu für uns. Zum Paradigma der Stellvertretung bei Kant, Pannenberg und Hegel ............................................................. 213 Malte Dominik Krüger Der Gott vom Holz her? Auferstehung bei Eberhard Jüngel und Wolfhart Pannenberg........................................................................ 233 Felix Körner Christus und die Andersgläubigen. Religionstheologie nach Wolfhart Pannenberg........................................................................ 257 Gunther Wenz Alexander und der Friedenskönig. Eine alttestamentliche Spurensuche im Anschluss an Pannenbergs Deutung von Mk 11,1–10 .... 285 Gunther Wenz Zehn Worte der Weisung. Der Dekalog als Inbegriff der Tora und seine Bedeutung für das Christentum ........................................... 307 Friedemann vom Dahl Christologie und Ontologie. Zu einem unveröffentlichten Vortrag von Wolfhart Pannenberg ...................................................... 331 Autorenverzeichnis .......................................................................... 351

Vorwort Eine Zeit lang war Wolfhart Pannenberg nach eigenen Angaben verwegen genug zu hoffen, Karl Barth könne in den 1964 publizierten „Grundzügen der Christologie“1 „eine Fortführung von Grundgedanken (seiner eigenen) Offenbarungstheologie in einem allerdings verwandelten geistigen Klima erkennen“2 . Diese Hoffnung erfüllte sich nicht, sondern wurde schon bald herb enttäuscht. Zwar würdigte Barth Pannenbergs Christologiebuch, das ihm dieser hatte zusenden lassen, als einen „Wurf von ungewöhnlichem Format“3 und bewunderte „aufrichtig“ (280), wie er eigens betonte, Pannenbergs „erstaunliche literarische Belesenheit auf exegetischem, dogmengeschichtlichem und philosophischem Gebiet – die Konsequenz, in der“, wie es heißt, „Sie Ihre Linie durch all das Dickicht hindurch zu ziehen verstehen – den kritischen, bis in alle Einzelheiten hinein nie versagenden Scharfsinn, mit dem Sie sich nach links und rechts durchzusetzen und zu sichern wissen“ (280 f.). Aufrichtig, noch einmal, sei die Frage gewesen, mit der er „das opus grande“ (280) – „wie einige Wochen zuvor die ‚Theologie der Hoffnung‘ von Jürgen Moltmann“ (281) – gelesen habe: „ob ich es da nun endlich mit dem Kind des Friedens und der Verheißung zu tun bekommen möchte, dessen Arbeit eine echte überlegene Alternative zu dem darstellen würde, was ich selbst in der Theologie seit 45 Jahren versucht und unternommen habe. Ich blicke schon lange nach diesem Besseren aus und hoffe nur, daß ich alert und demütig sein werde, es – sollte es mir noch begegnen – als solches zu verstehen und zu anerkennen. Aber auch in Ihrem Entwurf vermag ich es noch nicht wahrzunehmen, meine vielmehr, es in ihm bei aller Originalität, in der Sie ihn gewagt und ausgeführt haben, mit einem schweren Rückfall in eine Denkweise zu tun zu haben, die ich als der Sache nicht angemessen für überwunden halten muß und der ich mich nicht wieder anschließen kann.“ (Ebd.)4 1 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964. Publiziert wurde das Werk beim Gütersloher Verlaghaus Gerd Mohn. Die Auslieferung erfolgte im Frühherbst 1964. Das Erscheinen der englischsprachigen Übersetzung bei Macmillan, die für den gleichen Zeitpunkt geplant war, verzögerte sich erheblich. Nachdem die 7. Auflage der deutschen Ausgabe vergriffen war, wurde der Band ab 01.01.1998 wegen rückläufiger Absatzentwicklung aus dem Verlagsangebot genommen. Bis dahin waren weit über 10.000 Exemplare verkauft worden. 2 Brief an Karl Barth vom 09.05.1965, in: Karl Barth. Briefe 1961–1968. Hg. v. J. Fangmeier/H. Stoevesandt, Zürich 1975, 563 f., hier: 563. 3 Brief an W. Pannenberg vom 07.12.1964, in: K. Barth, a.a.O., 280–283, hier: 281. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text und in Anm. 5 beziehen sich auf dieses Schreiben. 4 Schon knapp zwei Jahre vorher hatte Barth zu erkennen gegeben, dass er mit den „Helden der gegenwärtigen Situation“, unter ihnen Pannenberg, nicht gemeinsame Sache machen wolle (vgl.

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Vorwort

Es folgt eine Kritik, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Mit schneidender Schärfe spricht sich Barth gegen den methodisch eingeschlagenen Weg von unten nach oben und gegen den Versuch aus, vom sog. historischen Jesus her im Durchgang durch seine im Ostergeschehen auf historisch erhebbare Weise erfolgte Beglaubigung zum Christus des biblischen Zeugnisses und des kirchlichen Bekenntnisses zu gelangen. Auch Pannenbergs Bestreben, die historische Gestalt Jesu und das Geschehen der Auferweckung und Auferstehung des Gekreuzigten aus dem Kontext der jüdischen Apokalyptik heraus sowie durch allgemeine anthropologische, kosmologische und ontologische Überlegungen verständlich zu machen, lehnt er dezidiert ab. Ist, fragt Barth rhetorisch, „Ihre Christologie gerade in ihrem positiven Gehalt etwas Anderes als – nach guter Sitte so vieler neuerer Väter – das hervorgehobene Exemplar und Symbol einer vorausgesetzten allgemeinen Anthropologie, Kosmologie und Ontologie?“ (282) Die Antwort folgt umgehend: „Nach neuen Ufern, nach etwas Besserem als dieser Rückkehr zu den alten Ufern habe ich mich in Ihren Darlegungen vergeblich umgesehen.“ (Ebd.) Wirkliche Fortschritte seien nicht auf dem Weg von unten nach oben, vom Allgemeinen zum Besonderen, sondern umgekehrt vom immer konsequenteren Beschreiten des Weges vom Besonderen zum Allgemeinen, von oben nach unten zu erwarten. So gesehen könne er, Barth, Pannenbergs Entwurf „– entschuldigen Sie den harten Ausdruck! – nur eben für reaktionär halten“ (283)5 . Brief an K. Linke vom 26.01.1963, in: a.a.O., 127). Später hat er wiederholt sein Mißfallen an den neueren Entwicklungen der evangelischen Theologie in Deutschland bekundet: „Ach, wenn die tüchtigen Menschen, die mich lesen oder auch nicht lesen, gelegentlich auch so verdienstliche Bücher über mich schreiben oder wie Moltmann und Pannenberg Alles schon wieder so viel besser zu wissen scheinen als ich – wenn sie doch wüßten!!“ (Brief an H. Gollwitzer vom 1./2.03.1965, in: a.a.O., 293–296, hier: 293 f.; ferner 295: „Von Pannenberg (ich habe seine Christologie in Bethesda durch und durch gelesen) erwartest wohl auch du nichts – wenn er nicht die Gnade hätte, noch gründlich umzukehren – Großes? Ich meine, daß auch die Raben, die ich von meinem Sitz aus auf der Spitze eines hohen Baumes zwar nicht ‚Bibelarbeit‘ treiben, aber sonstwie weisen Rat halten sehe, diese Christologie für kein allzu gutes Buch halten.“ Den „Pfad der Pannenbergleute“ (Brief an T. Stadtland vom 18.01.1967, in: a.a.O., 374) hält er entsprechend für einen Irrweg. 5 Schon der Anfang von Barths Brief deutete auf sein Endergebnis voraus: „Lieber Herr Kollege Pannenberg! Was mögen Sie sich gedacht haben, als ich Ihnen bei Ihrem Besuch, den Sie mir mit Ihrer Frau zusammen vor einiger Zeit gemacht haben, in wohlmeinender Zudringlichkeit und Übertreibung den Rat gab, zehn Jahre lang nichts mehr zu veröffentlichen, bis Sie sich über das, was Sie meinten und wollten, ganz klar geworden seien? Damals muß ja das opus grande Ihrer Christologie, die Sie mir nun so freundlich zusenden ließen, bereits vollendet, vielleicht schon im Druck gewesen sein. Ich habe es in einem Zug studiert und sehe nun deutlich, daß Sie sehr gut wissen, worauf Sie hinaus wollen. Nur zu gut – muß ich allerdings hinzufügen, denn die sachliche Entscheidung, die ich damals noch für eine bloß experimentierende und vorläufige hielt, ist nun in diesem Buch in solcher Breite und Klarheit gefallen, daß kaum mehr

Vorwort

Obwohl Barth schrieb, sich nicht ernsthaft vorstellen zu können, dass er „eine andere Stellungnahme als diese“ (283) von ihm erwartete habe, wollte Pannenberg die Kritik seines ehemaligen Basler Lehrers nicht auf sich sitzen lassen. Er könne nicht sagen, daß er sich ganz verstanden fühle, heißt es zurückhaltend. „Habe ich denn in der Christologie wirklich das Symbol einer anderweitig etablierten allgemeinen Anthropologie gesehen? Habe ich nicht das Ereignis Jesus von Nazareth vielmehr als Verwandlung seiner eigenen – sowie aller früheren und späteren – allgemeinen geschichtlichen Voraussetzungen zu verstehen gesucht?“6 Nein, eine erfolgte Subsumtion christologischer Besonderheit unter anthropologische Allgemeinheiten zu behaupten, sei ein Missverständnis und laufe auf eine völlige Verkennung seiner, Pannenbergs, Intentionen hinaus. „Es ist mein Bemühen gewesen, gerade nicht vom Allgemeinen eines soteriologisch-anthropologischen Interesses oder auch eines christologischen Begriffs von Gott-Mensch-Einheit auszugehen, sondern von dem höchst Besonderen und Einmaligen des geschichtlichen Ereignisses Jesus von Nazareth. Eben deshalb schien es mir unumgänglich, mit der historischen Frage nach Jesus von Nazareth zu beginnen, weil anders seine geschichtliche Besonderheit sofort durch allgemeine theologische oder sonstige Begriffe verdeckt wird.“ (563 f.) Nicht grundlos habe er sich daher der Hoffnung hingegeben, Barth könne in den „Grundzügen der Christologie“ eine Fortführung seines eigenen Ansatzes erkennen, wenngleich unter den Bedingungen eines gegenüber der Zeit seiner eigenen christologischen Arbeit eingetretenen Wandels des geistigen Klimas, für den die andere Stellung zur Bedeutung der historisch-kritischen Schriftforschung für die Theologie wohl das „hervorstechende Kennzeichen“ (564) sei. Ein Wandel in dieser Hinsicht habe sich ihm, Pannenberg, seit seinem „Studium in Heidelberg als unumgänglich auch für den, der die Grundzüge Ihrer theologischen Wendung gegen die neuprotestantische Anthropozentrik nicht aufgeben will, aufgedrängt. Wenn Sie das Problem, das an dieser Stelle für den, der bei Ihnen gelernt hat, entstehen muß, nicht erkennen können – wie ich aus Ihren Bemerkungen zur historischen Schriftforschung entnehme, dann freilich kann ich verstehen, daß Sie meinen Versuch als ein überflüssiges und wie Sie schrieben ‚reaktionäres‘ Unternehmen ansehen. Aber könnte hier nicht auch eine Schranke des Problembewußtseins liegen, von dem Sie – in großenteils berechtigter Antithese zum theologischen Historismus eines Troeltsch oder einzusehen ist, wie Sie ohne eine conversio von hundertachtzig Grad darauf zurückkommen könnten. Und eben indem diese Entscheidung nun in so bestimmter Weise gefallen ist, sind wir – Sie werden es selbst nicht anders ansehen – theologisch, wenn nicht geschiedene, so doch gründlich verschiedene Leute.“ (280) 6 Brief an K. Barth vom 09.05.1965, in: K. Barth, a.a.O., 563. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Schreiben.

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Vorwort

Harnack – einst ausgingen? Ich wage es nur darum, diese Frage hier zu stellen, weil ich meiner Überzeugung Ausdruck geben möchte, daß auch bei einer kritischen Wendung in dieser Frage die Fortsetzung Ihrer Konzentration der Theologie auf die allem menschlichen Fragen und Reden überlegene Wahrheit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus möglich ist. Ich werde nicht aufhören, dafür dankbar zu sein, daß ich die Konzentration aller theologischen Arbeit auf diese ihre Mitte bei Ihnen lernen durfte.“ (Ebd.) Das Problem des Verhältnisses des Pannenberg’schen Christologieentwurfs zum Ansatz Karl Barths war nur eines von vielen Themen, die beim 6. Pannenberg-Kolloquium vom 18./19. Oktober 2019 an der Münchener Hochschule für Philosophie Berücksichtigung fanden. Hintergründig hielt es sich aber stets präsent, um eine hermeneutische Leitthematik der Erörterungen zu bilden. Die programmatischen Ausführungen von Thomas Oehl zu Pannenbergs Christologie und Trinitätslehre bestätigen diesen Befund ebenso wie Joachim Ringlebens grundlegende Studie zum spekulativen Gedanken der Retroaktivität, der zusammen mit demjenigen der Selbstunterscheidung für die begrifflich-logische Struktur des Pannenberg’schen Konzepts entscheidend ist. Auch die Erinnerung des Herausgebers an Pannenbergs theologischen Lehrer Heinrich Vogel und dessen dogmatisches Hauptwerk „Gott in Christo“ ruft Barthreminiszenzen hervor und stellt erneut vor die Frage, wie man Pannenbergs Stellung zur Barth’schen Theologie zu beurteilen hat. Wolfgang Greive versucht in seinem persönlich gehaltenen Aufsatz zu einem, wie es heißt, „Sinnwort“ der Christologie von 1964 eine Antwort zu geben: Pannenbergs Neuansatz bleibe „trotz seiner Abgrenzung von Karl Barth in einer Nähe zu ihm“. Barth wollte den christologischen Weg konsequent von oben nach unten beschritten wissen, Pannenberg hingegen verfolgte das Programm einer „Christologie von unten“. Was das heißt, versucht Georg Bruder im Anschluss an seine Dissertation über „Die philosophischen Grundlagen der Christologie bei Joseph Ratzinger und Wolfhart Pannenberg“ zu ergründen, die er im Sommersemester 2019 an der Münchener Hochschule für Philosophie vorgelegt hat. Implikationen und Konsequenzen der christologischen Methodik Pannenbergs bezüglich seiner Auseinandersetzung mit der chalkedonischen Zweinaturenlehre erörtert sodann Klaus Vechtel. Die bei Pannenberg zu konstatierende Einheit von Schöpfungslehre und Christologie, die Josef Schmidt herausstellt, gehört in diesen Zusammenhang, auf andere Weise auch die Thematik des Beitrags von Ekkehard Mühlenberg, der Horizonte altkirchlicher Dogmengeschichte erschließt. In die thematische Mitte und auf das organisatorische Zentrum, von dem her sich das Ganze der Pannenberg’schen Christologie erschließt, verweisen die Folgebeiträge von Friederike Nüssel, Dirk Ansorge, Georg Sans und Malte Dominik Krüger: auf das Verständnis der Auferweckung des Gekreuzigten und des Kreuzes des Auferstandenen.

Vorwort

Ostern ist das Urdatum des Christentums, die Trinitätslehre die Explikationsgestalt des den christlichen Glauben begründenden Ostergeschehens. Wie Pannenberg das in „Offenbarung als Geschichte“ grundgelegte Programm in seiner weiteren Entwicklung trinitätstheologisch vertieft und eingeholt hat, ist von Christine Axt-Piscalar in einer unlängst erschienenen Untersuchung (KuD 64 [2018], 284–299: Der Gott der Geschichte. Einige Aspekte zur Einholung von Wolfhart Pannenbergs geschichtstheologischem Programm durch die Trinitätslehre) detailliert beschrieben worden. Welche Bedeutung der trinitarisch verfassten Geschichtstheologie Pannenbergs für den Religionsdialog zukommt, erörtert Felix Körner unter dem Titel „Christus und die Andersgläubigen“. Die beiden Beiträge des Herausgebers, die folgen, sind auf Einzelaspekte der christologischen Thematik ausgerichtet – doch in der Absicht, Perspektiven zu erschließen, die für das Ganze der Pannenberg’schen Christologie von Bedeutung sind. Der erste Text will unter exemplarischem Bezug auf die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem und ihre Interpretationen bewusst machen, dass Pannenberg als Systematischer Theologe immer auch Exeget und an den Forschungen zur historischen-kritischen Schriftauslegung in hohem Maße interessiert war; der zweite handelt vom Dekalog als Inbegriff der Tora und seiner Bedeutung für das Christentum, womit auf den differenzierten Zusammenhang von Gesetz und Evangelium und damit auf ein Theorem Bezug genommen wird, das unbeschadet aller kritischen Vorbehalte, die er geltend macht, für Pannenbergs geschichtstheologisch fundierte Christologie nicht irrelevant ist. Friedemann vom Dahl, Pfarrer der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau, verbrachte eine ihm von seiner Kirchenleitung ermöglichte theologische Fortbildungszeit von Mitte Januar bis Mitte April 2019 an der Münchener PannenbergForschungsstelle. Er schrieb aus diesem Anlass eine Studie zu Pannenbergs Plotinrezeption, über die er beim Kolloquium im Oktober 2019 berichtete und die in den Text eingegangen ist, mit dem der Dokumentationsband schließt. Möge die Sammlung, mit Plotin zu reden (Enn. III, 7,11; vgl. W. Pannenberg, STh II, 114), als ein synecheia hen wahrgenommen werden. München, 16.03.2020 Gunther Wenz

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Thomas Oehl

Die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater und der Geist als Feld Zur begrifflich-logischen Struktur von Wolfhart Pannenbergs Christologie und Trinitätslehre

Einleitung: Zum Verhältnis von ‚Geschichtlichem‘ und ‚Begrifflichem‘ Wolfhart Pannenbergs Trinitätslehre erhebt ausdrücklich den Anspruch, den dreieinigen Gott in seiner Einheit in drei Personen so zu denken, wie es aus seiner historischen, in Schrift und (frühkirchlichem) Dogma bezeugten Selbstoffenbarung abzuleiten und zu begründen ist. Da es sich dabei aber eben um ein Denken handelt, stellt sich Pannenberg mit ebenso großer Strenge den Anforderungen begrifflich-logischer Schärfe und Kohärenz, was sich konkret an seiner produktiven Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition zeigt. Gerade dadurch, dass Pannenberg den historischen Schrift- und Traditionsbezug mit einem philosophisch fundierten Denken verbindet und in Einklang bringt, hat seine Trinitätslehre auch unter römisch-katholischen Theologen und (späteren) Amtsträgern breiten Anklang gefunden. Davon zeugt exemplarisch die geradezu emphatisch-positive Rezension des ersten Bandes von Pannenbergs Systematischer Theologie durch Gerhard Ludwig Müller, den späteren Kardinal und Präfekten der Glaubenskongregation.1 Nicht nur, aber auch wesentlich mit Pannenbergs Trinitätslehre beschäftigt sind die Monographien von Klaus Vechtel2 , Franz-Josef Overbeck3 und Kurt Koch4 , um drei weitere Beispiele zu nennen. Pannenberg zeigt ein klares Bewusstsein davon, dass die beiden genannten Maßstäbe – Bindung an die geschichtliche Offenbarung in Schrift und Dogma auf der einen, begrifflich-logische Schärfe und Kohärenz auf der anderen Seite – nichts sind, bezüglich dessen auch nur im Allgemeinen Klarheit und Einigkeit herrschen würde. Sie sind keine selbstevidenten Ausgangspunkte theologischer Theoriebildung. Sie sind nicht einmal etwas, das man im Allgemeinen auf den

1 2 3 4

Vgl. Müller 1990. Vgl. Vechtel 2001. Vgl. Overbeck 2000. Vgl. Koch 1988.

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Thomas Oehl

Begriff bringen könnte und sodann nur noch äußerlich und gleichsam mechanisch auf die einzelnen Theologoumena zu applizieren hätte. Pannenberg (und sein Kreis) haben zwar eine Programmschrift mit dem Titel „Offenbarung als Geschichte“ vorgelegt; und Pannenbergs im selben Jahr wie der erste Band der Systematischen Theologie erschienene Abhandlung über „Metaphysik und Gottesgedanke“ kann als Darlegung seiner basalen philosophischen, insbesondere eben metaphysischen Positionen verstanden werden. Doch hat Pannenberg – auch in der dreibändigen Systematischen Theologie – keine von den Inhalten der Systematischen Theologie getrennte Abhandlung über das geschichtliche Fundament (auch in Schrift und Tradition) sowie die allgemeinen begrifflichen, mithin philosophischen Grundlagen (s)einer Systematischen Theologie vorgelegt. Und nicht nur das: Vielmehr verleiht Pannenberg explizit seiner Überzeugung Ausdruck, dies sei gerade aus genuin theologischen Gründen, die aus dem Ganzen (s)einer Systematischen Theologie hervorgehen, unmöglich; so widmet er im ersten Band derselben ein Kapitel dem Thema „Entwicklung und Problem der sog. „Prolegomena“ zur Dogmatik“.5 Darin stimmt er Karl Barth insofern zu, als es auch Pannenberg zufolge keine diesseits materialer Theologoumena liegende, ganz aus sich heraus selbstständig-verbindliche Verständigung über den traditionellen Skopus sog. „Prolegomena“ geben könne. Zugleich aber gilt es nach Pannenberg, nicht Barths Ausgestaltung dieser Einsicht zu verfallen. Es ist – und hier äußert Pannenberg scharfe Kritik an Barth – zu beachten, dass vernünftige Rechenschaft über den traditionellen Skopus sog. „Prolegomena“ nur möglich sei, wenn darin nicht schon vorausgesetzt wird, dass das in der Materialdogmatik Verhandelte wahr sei. Deshalb, so Pannenberg, darf die Ablehnung sog. „Prolegomena“ nicht in der radikalen These münden, dass deren vermeintlich theologisch neutraler Gehalt von vornherein in Gewissheiten – bei Barth nach Pannenbergs Urteil: glaubenssubjektivistisch – zu imprägnieren sei; denn dies führt nach seinem Urteil zu einer modifizierten Wiederkehr des Problems der sog. „Prolegomena“, das dadurch eigentlich gelöst werden sollte. Denn nunmehr wäre die Gewissheit des subjektiven Glaubens der materialdogmatischen Durchführung der theologischen Lehre äußerlich vorausgesetzt. Auch wenn Pannenberg im besagten Kapitel primär den theologischen Status des subjektiven Glaubensbewusstseins und das Schriftproblem diskutiert, so geht daraus durchaus klar hervor, dass seine Überlegungen für den traditionellen Skopus sog. „Prolegomena“ überhaupt gelten; dass er also weder die geschichtlichen Gehalte aus Schrift und Tradition noch sämtliche philosophischen Begriffe, auf welchen eine Systematische Theologie aufzubauen hat, für diesseits ihrer materialdogmatischen Teile – also in sog. „Prolegomena“

5 Vgl. STh I, 36 ff.

Die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater und der Geist als Feld

– vollständig behandelbar und in sich selbstständig in ihrer Gültigkeit rechtfertigbar hält. Vielmehr habe die Dogmatik „auf eine vorgängige Sicherstellung ihres Wahrheitsbewußtseins zu verzichten“6 , um gerade dadurch den „Wahrheitsanspruch der christlichen Lehre […] zum Thema zu erheben“7 . Das gilt also nicht nur für den Inhalt dieses „Wahrheitsbewußtseins“ und „Wahrheitsanspruch[s]“, sondern auch für deren Form und Grund. Damit soll gemeint sein: Es ist nicht nur nicht im Modus subjektiver Glaubensgewissheit der Theologie vorauszusetzen, dass, was und wie Gott ist, sondern auch nicht, was es eigentlich bedeutet, ein Glaubensbewusstsein zu haben und welche Rolle darin etwa das begriffliche Denken spielt. Für die oben unterschiedenen – wie wir sie nennen könnten – „zwei Wurzeln“ von Pannenbergs Theologie – Geschichtlichkeit in Schrift und Tradition auf der einen, begrifflich-logische Fundiertheit auf der anderen Seite – folgt daraus ganz äußerlich, dass Pannenberg sie, wie gesagt, nicht in einem je separaten, der (Material-)Dogmatik äußerlichen Traktat abhandelt. Dies macht die Interpretation faktisch insofern schwieriger, als es keinen Ort gibt, an welchem Pannenbergs Auffassung zu diesen Dingen als solchen dargelegt und somit nachzulesen wäre. Aus Pannenbergs Anspruch, anders als Barth jedoch die offene Frage nach dem legitimen geschichtlichen wie begrifflich-logischen Fundament der Theologie nicht durch ein Vor-Urteil des Glaubens oder überhaupt dessen, was sie fundieren sollen, zirkulär zu entscheiden, kann es sich also auch nicht so verhalten, dass Pannenberg seinen Begriff von Geschichte und seinen Begriff des Begriffs nach dogmatischen Bedürfnissen modelliert und sie allein dadurch in ihrer Geltung rechtfertigen will. Wie aber verhält es sich dann? Mir scheint, dass Pannenberg zunächst den Fokus darauf legt, dass es sich bei den zwei Wurzeln – geschichtlich Gegebenes und Begriff (des Begriffs) – nicht um etwas handelt, zu dem sich nur die Theologie zu verhalten hätte; genauer: dass es sich bei ihnen um zwei Wurzeln handelt, deren Zusammenhang es in Bezug auf alles, was gehaltvolles Denken der Wirklichkeit sein will, zu bedenken gilt. Denn: Geschichte ist die (Organisations-)Form von Wirklichkeit – von der Lebens-Geschichte des Einzelnen über die Geschichte von Kollektiven und Institutionen bis hin zur Welt- und Naturgeschichte; und sofern wir (Grund- oder Form-)Begriffe als etwas begreifen wollen, mit dem wir die Form von Wirklichkeit begreifen und intelligibel machen können, sind Begriffe nur dann Begriffe, wenn sie sich als dafür tauglich erweisen. Sodann ist damit zu rechnen, dass vom geschichtlichen Wandel und von geschichtlicher Entwicklung auch Begriffe betroffen sind – ja sie sind es sogar notwendig,

6 STh I, 57. 7 STh I, 57 f.

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Thomas Oehl

wenn wir sie ihrerseits als Teil der geschichtlichen Wirklichkeit auffassen wollen. Mit Pannenberg ist also schon diesseits theologischer Überlegungen für einen geschichtlichen Begriff im mehrfachen Sinne des Wortes zu plädieren8 , und diesseits der Theologie – disziplinlogisch gesprochen: „rein philosophisch“ – lässt sich dieser geschichtliche Begriff in seinen Grundzügen entfalten und rechtfertigen. Dies wirft nun aber die Frage auf, wieso dann eben nicht doch sog. „Prolegomena“ möglich, ja gar geboten oder notwendig sind, und zwar im Sinne einer prinzipiellen Reflexion auf „Geschichte“ und „begriffliches Denken“ in ihrem Zusammenhang, also im Sinne einer umfassenden „Hermeneutik“, wie man es nennen könnte. Die Antwort auf diese Frage muss lauten: Wie der Skopus der traditionellen sog. „Prolegomena“ nicht durch theologische Bedürfnisse präjudiziert sein darf, so wenig darf eine Disziplin sog. „Prolegomena“ vom Vorurteil ausgehen, sie könne sich gewiss ohne materialdogmatische Theologie vollständig explizieren und rechtfertigen. Wenn die materialdogmatische Theologie aufgrund ihres Wesens als Wissenschaft vorurteilsfrei zu sein hat, gilt dies auch für alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen; und es wäre dogmatisch – im schlechten Sinne des Wortes –, wenn die „philosophische“ Lehre vom Begriff diesseits einer Konfrontation mit theologischen Erkenntnisansprüchen zu wissen meinte, dass sie sich nicht im „theologisch-Dogmatischen“ vollenden könne oder müsse. Pannenberg fordert somit ein, dass sowohl der Skopus der traditionellen sog. „Prolegomena“ als auch die materialdogmatischen Fragen wahrheitsoffen zu behandeln sind – und das schließt zumindest die Möglichkeit ein, dass beides in einem zu verhandeln ist, um die Wahrheit beider kohärent und gerechtfertigt dartun zu können. Eine theologische Wissenschaft, die das versucht, ist vorurteilsfrei – und überaus anspruchsvoll. Um thetisch darauf vorzugreifen, wie sich dies nach Pannenberg konkret ausprägt, seien ein paar beispielhafte Einlösungen dieses Vorhabens genannt: – Wenn trotz des geschichtlichen Wandels des Begriffs nicht von einem bloßen Begriffs- und damit auch Wahrheitsrelativismus auszugehen ist, bedarf es einer Instanz, die die Einheit von geschichtlichem Begriffswandel und geschichtsinvarianter Gültigkeit darstellt, selbst aber kein Begriff ist, der seinerseits wiederum dem geschichtlichen Wandel unterliegt. Es müsste sich damit um eine – allerdings begrifflich sehr wohl thematisierbare – Wirklichkeit handeln, welche selbst geschichtsinvariante Einheit von Geschichtsvarianz und Geschichtsinvarianz ist: der Gedanke eines geschichtsmächtigen, damit absoluten und sich durch die Geschichte als der Eine und Ewige offenbarenden Gottes.

8 Vgl. dazu meine näheren Ausführungen in Oehl 2016.

Die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater und der Geist als Feld

– Zur Geschichte zählt, was wir vorfinden; allerdings nicht nur regelmäßig Wiederkehrendes, sondern auch Einmaliges, das als solches die Geschichte grundlegend verändert hat. Dazu zählen (möglicherweise) das irdische Auftreten Jesu wie auch seine in der Geschichte erfahrene und überlieferte Auferstehung. Nur ein begriffliches Denken, das Einmalig-Personales thematisieren kann, ist überhaupt in der Lage, eine derartige geschichtliche Bewegung überhaupt auf den Begriff zu bringen. Spezifischer noch aber sprengt das Wirken Jesu die unvermittelte Trennung von „Gott“ und „Mensch“ und erfordert die Ausbildung eines Gottes- und Menschenbegriffs, der den Gedanken des Gott-Menschen zu denken erlaubt. – Der reine, strikt apriorische Begriff gelangt zu Denkerfordernissen, die er selbst formulieren, aber nicht positiv vereint einlösen kann. Ein Beispiel hierfür ist die in Hegels Wissenschaft der Logik dargelegte Dialektik des Endlichen und Unendlichen. Es lässt sich leicht einsehen, dass das Unendliche seinem Begriff nach vom Endlichen unterschieden sein wie auch dieses Endliche umfassen muss, um nicht an ihm seine Grenze zu finden und somit selbst bloß Endliches zu werden. Doch wie das Unendliche als in einem unterschieden vom Endlichen und das Endliche umfassend soll gedacht werden können, ist eine schwierige Frage, die sich nicht lösen lässt, solange der Begriff des Unendlichen nicht mit personalen Kategorien angereichert – positiviert – ist, und die Dynamik seiner logischen Entfaltung in eine Dynamik seiner real-geschichtlichen Entwicklung überführt und als solche dargestellt ist. Das aber ist nach Pannenberg nur möglich im Gedanken eines Gottes, der in die Welt eingeht und diese so „heiligt“.9 – Bestimmte Befunde der (empirischen) Einzelwissenschaften verlangen nach einer kohärenten begrifflichen Einordnung und Erklärung im Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit. Ein Beispiel hierfür sind die anthropologischen Befunde des wesentlich exzentrischen, welt- und gottoffenen Menschen. Im Lichte einer Trinitätslehre lassen sie sich auf ihren Grund hin verständlich machen – was wiederum dafür spricht, die zur Entfaltung dieser Trinitätslehre notwendigen Begriffe in ihrer Gültigkeit anzuerkennen, da sich durch sie (und womöglich nur durch sie) mittelbar etwas erklären lässt, was ohne sie ein rätselhaftes Faktum bleiben müsste. Kurz gesagt, im Hinblick auf den Begriff des Begriffs: In letzter Konsequenz, die freilich nicht anfangs schon vorausgesetzt werden darf, wird theologisch zu sagen sein, dass die begrifflich-logischen Strukturen des theologischen Denkens selbst Teil der Offenbarung Gottes sind, sodass der offenbare Gott und die

9 Vgl. auch hierzu Oehl 2016.

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Thomas Oehl

gesamte durch ihn bestimmte Wirklichkeit durch sie gedacht werden können. So gibt Er sich als alles bestimmende Wirklichkeit zu erkennen. Nun haben wir geklärt, warum Pannenberg bezüglich der sog. „Prolegomena“ in der beschriebenen Weise plädiert. Eine umfassende Deutung des Werkes hätte diese komplexe Anlage Pannenbergs weiter zu entfalten und in der Darstellung seiner einzelnen materialdogmatischen Schritte konsequent und konkret anzuwenden. Wir hatten eingangs schon gesagt – und das folgt aus dem eben Skizzierten auch notwendig –, dass es sich hierbei nicht um eine bloß äußerlich-mechanische, also immergleiche Applikation einer immergleichen Form handeln kann. Vielmehr wäre jeweils in konkreter, reflektierter Durchführung zu zeigen, was aus dem Verhältnis der beiden Wurzeln in Bezug auf ein bestimmtes Theologoumenon – wie etwa die Trinitätslehre – folgt. Wir wollen das hier für wesentliche Aspekte der Trinitätslehre und Christologie Pannenbergs leisten. Eine besondere Aufmerksamkeit werden wir dabei auf die zweitgenannte Wurzel – den Begriff des Begriffs, die Form des begrifflichen Denkens – legen, und damit konkret auch auf das Verhältnis von Pannenbergs systematisch-theologischem Denken zur philosophischen Tradition. Wenn das hier einleitend Gesagte richtig ist, müsste sich zeigen lassen, dass seine kritische Diskussion angeleitet ist aus dem nicht materialdogmatisch präjudizierten Bemühen, Geschichte und Begriff zusammenzudenken und die Frage danach wahrheitsoffen und damit dann sehr wohl auch im Zusammenhang mit der ebenfalls wahrheitsoffenen dogmatischen Frage nach Gott zu traktieren. Dabei ist es nun wichtig, vor Augen zu behalten, dass ein Fokus auf die begrifflich-logische Struktur der Trinitätslehre und Christologie Pannenbergs eben „nur“ ein Fokus ist, welche der Unselbständigkeit des begrifflichLogischen gegenüber dem Geschichtlichen wie auch letztlich dem Dogmatischen insgesamt eingedenk bleiben muss. Pannenberg hat aufgrund dieses unauflöslichen Zusammenhangs Folgendes zur Maßgabe für die Methodik seiner Systematischen Theologie erklärt: „Lange schwebte mir vor, daß eine solche Darstellung sich ganz auf die sachlichen Zusammenhänge der dogmatischen Tradition konzentrieren sollte, abgelöst von der verwirrenden Vielfalt der historischen Fragen, um desto deutlicher die systematische Einheit der christlichen Lehre im ganzen hervortreten zu lassen. Ich habe mich nur widerstrebend davon überzeugt, daß eine solche Form der Darstellung hinter der für die wissenschaftliche Untersuchung der christlichen Lehre wünschenswerten und erreichbaren Genauigkeit, Differenziertheit und Objektivität Zurückbleiben [sic!] muß.“10 .

Das Geschichtliche ist der Sache der Theologie nicht äußerlich, auch wenn mit dem geschichtlichen Gegebenen nicht schon die „sachlichen Zusammenhänge“ 10 STh I, 7.

Die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater und der Geist als Feld

als solche unmittelbar gegeben sind, geschweige denn durchsichtig geworden hin auf ihre begrifflich-logische Struktur. Aus diesem Grund impliziert Pannenbergs Aussage nun auch keineswegs, dass eine Fokussierung auf die „sachlichen Zusammenhänge“ unstatthaft oder nicht gewinnbringend wäre – vor allem dann, wenn „sachliche Zusammenhänge“ eben nicht so gefasst werden, als ob sie nicht intern mit dem geschichtlichen Charakter der Offenbarung und ihrer Wirklichkeit zusammenhingen. Es ist aber nicht nur in einem allgemeinen, methodischen Sinne hilfreich, einen sachlichen Zusammenhang klar als solchen in seiner begrifflich-logischen Struktur auszuweisen –, sondern gerade in den auch von Pannenberg schon erlebten Zeiten, in denen Theologie, die unironisch die Wirklichkeit Gottes zu denken versucht, unter dem Verdacht der Unterbietung rationaler Standards steht. Dieser Verdacht ist umso dringender, wenn er innerhalb der theologischen Disziplin selbst artikuliert wird. Das jedoch ist in Bezug auf Pannenbergs Trinitätslehre der Fall. Sie hat – gerade in der evangelischen Theologie – eben nicht nur Anschluss gefunden, wie dies beispielsweise für Teile des Schülerkreises von Pannenberg11 oder das dogmatische Werk von Christoph Schwöbel12 gilt, sondern auch teils scharfen Widerspruch hervorgerufen: nämlich bei Pannenbergs – wie man wohl sagen muss: vormaligem – Schüler Falk Wagner und dessen theologischer Schule.13 Nicht zuletzt von daher erklärt und rechtfertigt sich das Thema, dem vorliegender Aufsatz gewidmet ist, und die Art, wie er dieses behandelt: Er will einen Beitrag dazu leisten, Pannenbergs komplexe Trinitätslehre und Christologie in ihrer begrifflich-logischen Struktur zu beleuchten, zu verstehen und zu verteidigen. Er setzt an beim Gedanken einer Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater, die schon Joachim Ringleben in seiner Besprechung der Systematischen Theologie mit vollem Recht als Zentrum von Pannenbergs Trinitätslehre und Christologie – und damit durchaus auch des gesamten ersten Bandes – identifiziert hat.14 In diesem Aufsatz sollen näherhin vier Schritte gegangen werden, die sich aus dem einleitend Dargelegten in dieser Form aufdrängen: (1) Ich werde die Gründe (und Hinter-Gründe) anführen, aufgrund derer Pannenberg den Gedanken der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ins

11 Sichtbar etwa bei Wenz 2011, 69 ff., wo es sich um eine produktive Aneignung einiger Grundzüge von Pannenbergs Trinitätslehre und, insbesondere, Christologie handelt. 12 Vgl. Schwöbel 1998. Auf den Zusammenhang mit Pannenberg im besagten thematischen Kontext hat jüngst Danz 2019, 134, hingewiesen. 13 Im Laufe dieses Aufsatzes wichtig werden hier insbesondere die Arbeiten von Michael Murrmann-Kahl und Christian Danz sein. 14 Vgl. Ringleben 1998. Die Zentralstellung des Gedankens der Selbstunterscheidung wird auch – in jeweils sehr unterschiedlicher Weise und Bewertung – deutlich gemacht in den Arbeiten von Murrmann-Kahl 1997, Vechtel 2001, Wenz 2003 und Danz 2019.

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Zentrum seiner Trinitätslehre und Christologie rückt. So wird zudem verständlich werden, warum Pannenberg seine Trinitätslehre und Christologie beim – irdischen und historischen – Menschen Jesus von Nazareth beginnen lässt; warum er also, wie auch Christian Danz jüngst erneut hervorgehoben hat15 , die immanente Trinitätslehre von der ökonomischen her denkt und expliziert. (2) Zweitens werde ich eine zentrale Passage der Systematischen Theologie (STh I, 337 f.)16 auf ihren begrifflich-logischen Gehalt hin untersuchen, in der Pannenberg das Verhältnis der Selbstunterscheidung des irdischen und historischen Menschen Jesus von Nazareth von seinem himmlischen Vater zu derjenigen des ewigen Sohnes vom Vater expliziert. Der entscheidende Begriff hier ist derjenige des „Aspekts“, der in der bisherigen Pannenbergforschung keinerlei Klärung zugeführt worden ist. Gunther Wenz hat in seinem sogenannten „einführende[n] Bericht“ zur Systematischen Theologie Pannenbergs mit Recht festgestellt, dass gerade diese Passage einer sehr präzisen Exegese bedürfte17 ; sie ist bis heute, soweit ich sehe, nirgends geleistet worden. (3) Drittens: Im Ausgang des zweiten Schritts eröffnet sich ein Zugang zu Pannenbergs Bestimmung des Wesens und der Einheit Gottes und seines damit verbundenen Begriffs des „Feldes“. Mit diesem Zugang lassen sich Einwände zurückweisen, die vonseiten Falk Wagners und Michael Murrmann-Kahls an Pannenbergs Trinitätslehre herangetragen wurden.18 An dieser Stelle wird sich besonders deutlich machen lassen, worin der Streit zwischen Pannenberg und anderen theologischen Hegel-Rezipienten im Hinblick auf den rechten Begriff des Begriffs, der Logik und damit des Denkens überhaupt besteht. (4) Viertens und abschließend werden es die genannten Schritte möglich machen, das Verhältnis von Pannenbergs Trinitätslehre und Christologie zu denjenigen Hegels und Ratzingers präzise zu bestimmen. Das ist auch insofern von Bedeutung, als der in (3) beschriebene Streit nicht ohne den Bezug auf die hegelsche Philosophie zu verstehen und zu entscheiden ist. Insbesondere wird zum Schluss darauf einzugehen sein, ob und in welchem Sinne der Akt der Selbstunterscheidung nach Pannenberg ein freier Akt ist. 15 Vgl. Danz 2019, 220, Fn. 63: „Pannenberg geht […] von der Selbstunterscheidung des Sohnes von dem Vater in der Heilsgeschichte aus und überträgt den Gedanken der Selbstunterscheidung auf das innere Leben Gottes. Die Überzeugung, die Trinitätslehre im Ausgang von der Heilsgeschichte sowie der in dieser gegebenen ökonomischen Trinität zu konstruieren, ist für die Debatte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts signifikant.“ Danz belegt diese These anhand einer Aussage von Karl Rahner. 16 Ich werde mich in diesem Aufsatz überhaupt auf die Systematische Theologie beschränken und die früheren christologischen Arbeiten Pannenbergs unberücksichtigt lassen (müssen). 17 Wenz 2003, 78, urteilt ausdrücklich, es handle sich bei besagter Passage „zweifellos um eine Schlüsselpassage des ganzen Werkes, die zu differenzierter und präziser Einzelexegese herausfordert“. 18 Wagner 1989 sowie, im Anschluss daran, Murrmann-Kahl 1997.

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1.

Gründe (und Hinter-Gründe) des Gedankens der Selbstunterscheidung

Insgesamt lassen sich drei Gründe (oder Hinter-Gründe) namhaft machen, aufgrund derer Pannenberg den Gedanken der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ins Zentrum seiner Trinitätslehre und Christologie rückt. (1i) Der erste Grund besteht in der vielversprechenden begrifflich-logischen Struktur des Gedankens der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater. Sie löst in einem die von Hegel kanonisch formulierte Aufgabe ein, die Identität der Identität und der Nichtidentität zu denken. Denn durch die Selbstunterscheidung – als Unterscheidung – ist dem Moment der Nichtidentität Rechnung getragen; durch die (demütige) Selbstunterscheidung – als Akt der Verherrlichung des Vaters als des Vaters – wird der Vater als Vater offenbar, und zwar so, dass und wie er ohne diesen Akt nicht offenbar sein könnte. So gehört der sich selbst vom Vater unterscheidende Sohn zur Gottheit des Vaters, zu dessen Wesen wiederum seine Selbstoffenbarung gehört, wesentlich und unveräußerlich hinzu. So ist dem Moment der Identität ebenfalls Rechnung getragen; beide Momente sind zusammen realisiert in einem einzigen Akt. Pannenberg wörtlich: „Indem Jesus sich selbst vom Vater unterscheidet, sich als sein Geschöpf dem Willen des Vaters unterwirft und so dem Anspruch der Gottheit des Vaters Raum gibt, […] gerade darin erweist er sich als der Sohn Gottes. […] Indem Jesus durch seine Sendung und in seinem Verhältnis zum Vater die Gottheit des Vaters verherrlicht, gehört er selbst als Entsprechung zum Anspruch des Vaters so mit diesem zusammen, daß Gott in Ewigkeit nicht anders Vater ist als im Verhältnis zu ihm.“19 .

Begrifflich-logisch intrikat am Gedanken der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ist freilich, dass es sich bei ihr somit um einen Akt handeln soll, dessen Vollzug konstitutiv für das Sohnsein des Sohnes und das Vatersein des Vaters ist. Erst durch diesen Akt ist der Sohn der Sohn des Vaters und der Vater der Vater, der nur als Vater des Sohnes Vater (und als dieser Vater offenbar) ist.20 Für das Person- oder Selbstsein von Vater und Sohn ist der Akt der Selbstunterscheidung also konstitutiv. Darauf wird zurückzukommen sein. 19 STh I, 337. 20 Die voneinander-Unterscheidung der drei Personen ist also, genauer gesagt, konstitutiv für ihr (trinitarisches) Person-Sein wie auch für ihr Gott-Sein. Pannenberg schreibt, „daß in den innertrinitarischen Beziehungen die Personen nicht nur hinsichtlich ihres Personseins, sondern auch hinsichtlich ihrer Gottheit voneinander abhängen und daß es sich dabei um gegenseitige Abhängigkeiten handelt, die nicht nur die Beziehungen von Sohn und Geist zum Vater, sondern auch des Vaters zu den beiden anderen Personen betreffen“ (STh I, 357).

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(1ii) Der zweite Grund besteht darin, dass der Gedanke der Selbstunterscheidung der neutestamentlichen Darstellung Jesu entspricht, also schriftgemäß ist. Jesus setzt sich in ein bestimmtes Verhältnis zum Reich Gottes, dessen Kommen Wesenskern seiner Verkündigung ist. Wie Pannenberg exegetisch präzise herausarbeitet21 , identifiziert sich Jesus nicht einfachhin mit dem kommenden Reich Gottes, sondern unterscheidet sich von diesem und damit auch vom Vater, dessen Reich es ist. Gerade so – und nur so – kann dann auch von einer wesentlichen Verbindung dieses Reiches mit Jesus die Rede sein; nämlich, indem durch diese selbstunterscheidende Verkündigung dieses kommenden Reiches selbiges schon in einer Weise offenbar wird, dass es mit dem Wirken Jesu schon zeichenhaft-wirklich22 anbricht und sein endgültiges Kommen unzweideutig und unüberholbar in Jesu Christi Kreuz und Auferstehung antizipiert ist. Pannenberg: „Ist so die Unterscheidung Gottes als des „Vaters“ von seiner eigenen Person für Jesu Botschaft und Verhalten konstitutiv, so wußte er sich doch zugleich in seinem Wirken dem Vater auf das engste verbunden. Nahm er doch für seine Botschaft vom Primat der Gottesherrschaft eine Autorität in Anspruch, die jede menschliche Autorität bei weitem übersteigt, die Autorität des ersten Gebotes. Bei aller Unterordnung unter den Vater beanspruchte Jesus doch zweifellos, daß Gott nicht anders zu verstehen sei als so, wie er ihn als den himmlischen Vater verkündete. Und da Jesus das Reich des Vaters nicht nur als nahe bevorstehend, sondern auch als in seinem eigenen Wirken schon anbrechend verkündete, blieb kein Raum dafür, daß etwa ein künftiges Reden von Gott das seinige überholen könnte. Der himmlische Vater, den er verkündete, ist daher so eng mit Jesu eigenem Auftreten und Wirken verbunden, daß er dadurch als der Vater identifiziert ist.“23 .

(1iii) Der dritte Grund ist, dass der Gedanke der Selbstunterscheidung als eines personalen Aktes nicht nur im Einklang mit der Schrift, sondern auch mit der verbindlichen früh- und altkirchlichen Lehr- und Dogmenbildung steht. Pannenberg zufolge ist die Rede von drei Personen, die wesenseins sind, nur dann clare et distincte von der nicht (vollständig) orthodoxen Rede eines sich in drei interne und absolut unselbstständige Bestimmungsmomente ausdifferenzierenden unendlichen Subjekts in seinem Selbstbewusstsein unterscheidbar, wenn die drei Personen als „selbständige[.] Aktzentren“ aufgefasst werden24 ; denn Personsein ist wesentlich Aktzentrumsein, wesentlich handelndes-Wesen-Sein. Für die Trinitätslehre ergibt sich daraus, dass das Verhältnis der drei Personen zueinander auch als Akt- oder Handlungsverhältnis zu bestimmen ist. Der 21 22 23 24

Vgl. STh I, 283–305. Zum Begriff des „Zeichens“ bei Pannenberg vgl. Oehl 2017. STh I, 287 f. STh I, 347.

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Gedanke der Selbstunterscheidung ist der Gedanke eines solchen personalen Aktes – wenn auch eines ganz besonderen: nämlich eines Aktes, durch und in welchem das Selbst dessen, der sich unterscheidet, ebenso wie das Selbst dessen, von dem er sich unterscheidet, erst konstituiert wird. Nur so ist der Gedanke der Selbstunterscheidung ein Interpretament der Trinitätslehre und Christologie; denn nur so kann er das Wesen der trinitarischen (und christologischen) Verhältnisse beschreiben, und nicht bloß eine akzidentelle Handlung einer oder mehrerer (trinitarischer) Personen meinen. Pannenberg beansprucht also, mit seiner Denkfigur der Selbstunterscheidung den Ursprungssinn der altkirchlichen Dogmen aufschließen und in neuer Weise intelligibel machen zu können, den er durch traditionelle Begrifflichkeit und Terminologie für teilweise verstellt hält. Hinzu kommt Pannenbergs Diagnose, dass der vom dominierenden arianischen Streit ausgehende Problemdruck zu damaligen Konzilszeiten ausschließlich darin bestand, die (Wesens-)Einheit von Vater und Sohn und ihrer beider Gottheit aufzuweisen.25 Dafür, so Pannenberg, wurde zumindest implizit oder faktisch in Kauf genommen, die Differenz beider so stark abzuschwächen, dass recht eigentlich nicht mehr von zwei Personen die Rede sein könne26 , oder jedenfalls die Aufgabe, die Differenz ebenso scharf zu denken wie ihre (Wesens-)Einheit (und diese Einheit durch die Differenz zu denken), nicht oder nicht hinreichend erfüllt wurde. Nun lässt sich auch unmittelbar zeigen, warum es notwendig ist, dass Pannenberg seine Trinitätslehre und Christologie beim Menschen Jesus von Nazareth beginnt – also im Rahmen der ökonomischen Trinität, und nicht der immanenten Trinität unter Ausblendung der ökonomischen.27 Denn: Würde so verfahren, gäbe es gar kein Subjekt, von dem der Akt der Selbstunterscheidung logisch überhaupt prädizierbar wäre; denn dieses Subjekt – sein Selbst – wird ja erst durch diesen und in diesem Akt konstituiert. Und ebenso gäbe 25 Pannenberg erinnert daran, dass bereits Tertullian und Origenes den Gedanken der Selbstunterscheidung angedacht haben, dass „diese Linie von Athanasios und den Kappadokiern [allerdings] nicht weiterverfolgt worden ist“, da „die Verschiedenheit der drei Hypostasen im arianischen Streit von niemandem bestritten wurde.“ (STh I, 297) 26 Wie Pannenberg hervorhebt, hat dies bei konsequenten Theologen dazu geführt, den Begriff der „Person“ für in trinitätstheologischer Absicht unangemessen zu halten – so etwa der Fall bei Anselm von Canterbury (vgl. STh I, 321). 27 In Pannenbergs umfassend gedachtem offenbarungsgeschichtlichen Rahmen stellt es sich sogar so dar, dass (s)eine Rekonstruktion der Trinitätslehre und Christologie vom irdischen Wirken Jesu her logisch intern zusammenhängt mit der historischen Ausbildung der Trinitätslehre im Anschluss an das irdische Wirken Jesu; also, „daß eine systematische Begründung und Entfaltung der Trinitätslehre ebenso von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ausgehen muß, wie der historische Weg der Ausbildung der Trinitätslehre in der christlichen Theologie seinen Anfang nahm von der Botschaft und Geschichte Jesu, sowie von der Christusverkündigung der Apostel.“ (STh I, 326)

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es nichts, wovon dieses Selbst sich unterscheiden könnte; denn auch dieses Selbst wird ja erst durch und in diesem Akt konstituiert. Im Rahmen der reinimmanenten Trinität lässt sich der Gedanke der Selbstunterscheidung also gar nicht unmittelbar in Anschlag bringen. Genauer: Er ließe sich allenfalls als eine von vornherein reziproke Verschränkung und damit Vereinigung zweier Akte in Anschlag bringen, die also immer schon zu einem Akt in zwei absolut unselbstständigen Aktmomenten ursprünglich vereint wären. Das ließe sich zwar kohärent begreifen, liefe aber am Ende auf einen Akt der Selbstoffenbarung im Sinne eines wissenden Selbstverhältnisses durch intern ausdifferenzierte Momente hinaus, der dasjenige Maß an Selbstständigkeit für diese bloßen Aktmomente ausschließt, welches Pannenberg für notwendig hält, um dem Personsein der trinitarischen Personen zu genügen. So lässt sich ein Aspekt von Pannenbergs Kritik an Hegels Trinitätslehre verstehen: Dieser habe zwar den „Sohn“ als Offenbarungsmoment der Selbstoffenbarung Gottes gedacht, jedoch so, dass ihm als dieses Moment kein personales Maß an Selbstständigkeit zukommt; so, dass er gar nicht wirklich „Sohn“ – Subjekt oder Person – ist. Pannenberg fasst seine Kritik auch so, dass Hegel die Selbstoffenbarung Gottes durch und durch nach der begrifflich-logischen Struktur des Selbstbewusstseins fasst, also einseitig oder gar ausschließlich im Sinne eines theoretischen und nicht wesentlich eines praktisch-willentlichen Verhältnisses. Ob Hegel wirklich oder gar zwangsläufig so zu lesen ist, ist eine andere Frage.28 Instruktiv ist Pannenbergs Kritik aber in jedem Fall, da sie deutlich macht, was Pannenberg für ein Denkerfordernis der Trinitätslehre hält: dass es eine gewisse, näher zu bestimmende Selbstständigkeit (des Aktes) des Sohnes geben muss, und der Sohn somit auch als selbstständiges Aktzentrum in diesem Sinne anzusprechen ist. Mit diesen Gründen und Hintergründen sind wir angemessen vorbereitet, die besagte zentrale Textpassage aus der Systematischen Theologie (STh I, 337 f.) zu untersuchen, in der Pannenberg vom Gedanken der Selbstunterscheidung des Menschen Jesus von seinem himmlischen Vater zum Gedanken der Selbstunterscheidung des ewigen Sohnes vom Vater fortgeht. 2.

Von der Selbstunterscheidung des Menschen Jesus von seinem himmlischen Vater zur Selbstunterscheidung des ewigen Sohnes vom Vater: Pannenbergs Begriff des „Aspektes“

Ich zitiere die Passage, die ich im Folgenden präzise auf ihren logischbegrifflichen Gehalt hin untersuchen will: 28 Gewisse Zweifel daran habe ich in Oehl 2018a und Oehl 2018b angemeldet.

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„Damit [sc. mit der Selbstunterscheidung] tritt an der menschlichen Wirklichkeit der Person Jesu ein Aspekt hervor, der als ewiges Korrelat der Gottheit des Vaters zur Person Jesu gehört, aber seiner menschlichen Geburt vorausgeht: der ewige Sohn. Doch der ewige Sohn ist eben zunächst ein Aspekt an der menschlichen Person Jesu, und entscheidend für sein Hervortreten ist die Selbstunterscheidung Jesu vom Vater, der auch für ihn der eine Gott ist. Darum ist die Selbstunterscheidung vom Vater auch konstitutiv für den ewigen Sohn in seiner Beziehung zum Vater.“29

Ausgangspunkt von Pannenbergs Gedankengang ist, wie schon gesagt, die Selbstunterscheidung des Menschen Jesus von Gott, seinem himmlischen Vater. Dieser Ausgangspunkt, so sahen wir ein, ist notwendig, da allein durch den Menschen Jesus ein Subjekt gegeben ist – eine historische und irdische Person –, von dem der Akt der Selbstunterscheidung überhaupt erst logisch prädiziert werden kann. Es wäre jedoch ein voreiliger Schluss zu meinen, dies würde implizieren, dass der Akt der Selbstunterscheidung von Jesus auch nicht vollzogen werden könnte (oder tatsächlich eine gewisse Zeit lang nicht vollzogen wurde). Darauf wird zurückzukommen sein. Klar ist jedoch, dass es rein logisch gesehen keinerlei Problem mit sich bringt, von einem Menschen einen Akt zu prädizieren, in dem und durch den er sich in ein Verhältnis zu Gott setzt. So wird Jesus vorgestellt als ein Mensch, der – anders als Adam und alle Sünder nach ihm – in all seinem Denken, Sprechen und Handeln Gott als den himmlischen Vater anerkennt und verherrlicht und gerade dadurch seiner Geschöpflichkeit durch und durch gerecht wird: „Die Selbstunterscheidung Jesu als Mensch vom Vater ist konstitutiv […] für seine Gemeinschaft mit dem ewigen Gott im Gegensatz zu Adam als dem ersten Menschen, der wie Gott sein wollte (Gen 3,5) und sich eben dadurch von Gott trennte.“30

Pannenberg zufolge liegt in diesem Gedanken, dass der sich so selbst von Gott unterscheidende Mensch seiner Geschöpflichkeit durch und durch gerecht wird, also einerseits der Gedanke, dass er durch und durch Mensch und wahrer Mensch ist, andererseits der Gedanke, dass er gerade so Gott Raum gibt – indem er nicht selbst sein will wie Gott –, dass Gott in seiner Offenbarung in Ewigkeit von diesem Menschen abhängt, der somit selbst nicht „nur“ Mensch sein kann, irdisches Kind Gottes, sondern „ewiger Sohn“. Die Einheit dieses „einerseits“ und dieses „andererseits“ sucht er durch den Begriff des „Aspektes“ zu fassen31 ,

29 STh I, 337 f. 30 STh I, 337. 31 Und zwar, wie wir sehen werden, sowohl in ihrer epistemischen Dimension (also die historische Offenbarung des ewigen Sohnes in Jesus von Nazareth betreffend, mit der auch die Theologie(geschichte) beginnt und zu beginnen hat), als auch in ihrer ontologischen Dimension

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wobei sich durch diese Einheit zugleich das Zusammen der menschlichen und der göttlichen Natur in der Person Jesu Christi denken lässt. Also zum Begriff „Aspekt“. Mit „Aspekt“ meint Pannenberg hier nicht, was wir landläufig einen Aspekt nennen, etwa ein Moment oder einen Teil einer Sache – so z. B., wenn wir sagen, dass die Frage nach dem passenden Verkehrsmittel ein Aspekt unserer Urlaubsplanung sei. Vielmehr meint er mit zwei Aspekten auf eine Sache zwei verschiedene Hinsichtnahmen auf das Ganze dieser Sache, ohne die die Sache nicht wäre, was sie ist: nämlich eine Sache, für die es wesentlich ist, dass sie unter diesen zwei verschiedenen Hinsichtnahmen „gesehen“ werden kann und muss. Das Wort „Hinsichtnahme“ wähle ich deshalb zur Erläuterung, weil es zugleich den lateinischen Ursinn des Wortes „aspectus“ am wörtlichsten transportiert: nämlich das Hinsehen oder der Blick, oder Anblick (vom Verbum „aspicere“). Das prominenteste mir bekannte Beispiel für diese Verwendung des Aspektbegriffs in einem Theoriekontext stammt aus der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins. Wittgenstein spricht von zwei Aspekten, unter denen eine geometrische Figur gesehen werden kann. Sein Beispiel dafür ist eine Kippfigur, der bekannte „Hasen-Enten-Kopf “.32 Dieser Bezug auf Wittgensteins Verwendung ist natürlich nur begrenzt hilfreich. Denn anders als in Wittgensteins Beispiel haben wir es beim Menschen Jesus nicht mit einer geometrischen Figur zu tun, die wir unter zwei Aspekten je als etwas sinnlich wahrnehmen können. Unbeschadet dessen ist dieser Bezug instruktiv und illustrativ. Denn er zeigt, dass diese Verwendung des Aspektbegriffs drei unterscheidbare logische Strukturmomente voraussetzt: zwei Aspekte und ein Zugrundeliegendes, für das es wesentlich ist, unter (diesen) zwei Aspekten gesehen werden zu können. Führen wir diese Struktur an Pannenbergs christologischen Gedankengang heran. Pannenberg schreibt, dass „an der menschlichen Wirklichkeit der Person Jesu“ ein Aspekt hervortritt.33 Das „an“ zeigt an, dass die menschliche Wirklichkeit der Person Jesu das Strukturmoment des Zugrundeliegenden einnimmt. Den Aspekt, der an ihm hervortritt, bestimmt er als den „ewigen Sohn“. Das scheint die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen: Wie kann die menschliche Wirklichkeit der Person Jesu das Zugrundeliegende für den ewigen Sohn sein? Zur Beantwortung dieser Frage ist wiederum der Blick auf Wittgensteins Beispiel instruktiv. Es zeigt uns, dass wir unterscheiden müssen zwischen zwei (also das differenzierte Seins-Verhältnis des ewigen Sohnes mit Jesus von Nazareth betreffend, durch das einerseits gedacht werden kann, dass die historische Offenbarung des ewigen Sohnes in Jesus von Nazareth die Fleischwerdung des ewigen Sohnes ist, der dadurch andererseits aber nicht undifferenziert mit Jesus von Nazareth identifiziert wird). 32 Vgl. Wittgenstein 1984, 518 ff. [PU II, xi]. 33 Pannenberg spricht von „Hervortreten“, Wittgenstein vom „Aufleuchten“ des Aspekts (Wittgenstein 1984, 520).

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möglichen Arten von Ontologie: Wir können entweder sagen, eigentlich wirklich sei nur der gezeichnete Strich, demgegenüber unser Sehen-Als in zwei Aspekten – und der jeweilige Inhalt – unwirklich ist. Hätten wir den Begriff des Entenkopfes nicht, würden wir den Strich auch nicht als Entenkopf sehen können. Wir können aber auch sagen, eigentlich wirklich ist das, was wir durch unsere Begriffe sehen, und der Strich als solcher bloß eine (formale) Abstraktion davon. Für die sinnliche Wahrnehmung ist klar, dass wir jedenfalls in unserem faktischen lebensweltlichen Verhalten immer die zweite Art von Ontologie in Anspruch nehmen. Wir sagen nicht, dass die Buchstaben in diesem Buch eigentlich keine Buchstaben, sondern materialisierte geometrische Formen seien. Sondern wir sagen, dass sie als geistige Produkte wesentlich Buchstaben sind und wir sie mit geistiger – d. h. begrifflich strukturierter – Wahrnehmung auch ganz selbstverständlich und primär als solche sehen. Dieser zweite Typ von Ontologie zeigt also, dass das den beiden Aspekten Zugrundeliegende nicht das ontologisch Frühere sein muss. So verhält es sich auch mit der menschlichen Wirklichkeit der Person Jesu, von der Pannenberg spricht. Sie ist das Zugrundeliegende des Aspekts des ewigen Sohnes, und zwar in dessen Hervortreten, also am Urdatum der geschichtlichen Offenbarung des ewigen Sohnes in Jesus Christus; und das bedeutet mitnichten, dass der ewige Sohn an sich ontologisch abhängig sei von der menschlichen Wirklichkeit Jesu. Vielmehr kann gesagt werden, wie Pannenberg es auch tatsächlich tut, dass der ewige Sohn „der menschlichen Geburt“ Jesu „vorausgeht“. Anders und traditionell gesprochen: Die Trinität und Christologie von der ökonomischen Trinität her zu verstehen bedeutet nicht, der ökonomischen Trinität eine ontologische Priorität von der immanenten und dieser somit von vornherein eine ontologische Dependenz von jener zuzuschreiben. In einem weiteren Schritt stellt sich nun die Frage, worin denn eigentlich der zweite Aspekt besteht. Bislang ist nur von einem die Rede gewesen, nämlich vom „ewigen Sohn“. Als Zugrundeliegendes hatte Pannenberg die „menschliche Wirklichkeit der Person Jesu“ bestimmt. Der logisch zwingende Grund, warum nach einem zweiten Aspekt zu fragen ist, ist dieser: Von einem „Aspekt“ kann überhaupt erst dann die Rede sein, wenn es insgesamt (mindestens) zwei Aspekte gibt. Auch darauf weist Wittgenstein explizit hin. Denn eine Hinsichtnahme ist erst eine, wenn es auch eine andere (mögliche) Hinsichtnahme gibt. Ist sie nicht im Blick, ist das erste keine Hinsichtnahme, sondern schlicht das, was (da) ist oder so-und-so ist, der Fall ist. Nun, der zweite Aspekt bei Pannenberg ist der Mensch Jesus. Das steht nicht im Widerspruch dazu, dass er die „menschliche Wirklichkeit der Person Jesu“ als das Zugrundeliegende bestimmt, im Gegenteil. Nur dadurch ist die logische Form der Aussage gegeben, die wir von Jesus Christus tatsächlich treffen:

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Dieser ist wahrer Mensch und wahrer Gott.

Mit dem Demonstrativum „dieser“ identifizieren wir die Person in ihrer personalen Einheit, von der wir sagen, dass sie wahrer Mensch und wahrer Gott sei. Für die Menschen im Umfeld des irdischen Jesus ist das, worauf sich das „dieser“ richtet, freilich ihr menschliches Gegenüber, Jesus.34 Und auch für uns, die wir in seiner Nachfolge stehen, richtet sich die Bezugnahme – etwa im theologischen Denken oder liturgischen Handeln – letztlich auf ihn, auf diesen. Nun ist es unerlässlich, dass es dieses Zugrundliegende gibt, auf das wir mit „dieser“ Bezug nehmen können. Denn nur dann lässt sich überhaupt von zwei Aspekten reden. Wie auch bei Wittgensteins Zeichnung: Dort ist unser sieals-Hase-Sehen im Wechsel mit dem sie-als-Ente-Sehen verbunden mit dem Wissen, dass es diese zugrundliegende Linie – dieselbe – ist, die wir als Hase oder als Ente sehen. Gleichermaßen ist die Rede, dass dieser wahrer Mensch und wahrer Gott sei, erst dann eine christo-logische Rede, wenn das Menschsein und Gottsein an demselben Zugrundeliegenden sind. Wäre dies nicht der Fall, wäre das „wahrer Gott“ beispielsweise bloß etwas, das dieser besondere Mensch symbolisiert. Das aber wäre kein christologisches Verhältnis mehr. Für ein solches darf das Gottsein nichts Externes sein, worauf das Menschsein Jesu bloß verweist, sondern muss an demselben sein wie das Menschsein Jesu. Dieses „an demselben“ wird aber nun am ursprünglichen Ort des Hervortretens der Aspekte – d. h. am Ort der geschichtlichen Offenbarung – als raumzeitlich lokalisiertes personales Gegenüber erfahren und gewusst. Deshalb eben bestimmt Pannenberg die menschliche Wirklichkeit der Person Jesu als das Zugrundliegende, als dasselbe, an dem die Aspekte des Menschseins und des Gottseins Jesu Christi sind und als solche hervortreten. Dieses Hervortreten an „diesem“ ist der Erkenntnisgrund, auf dem nicht nur die kirchliche Verkündigung, sondern eben auch die theologische Wissenschaft aufbaut – und auf dem sie aufbauen muss, wenn sie nicht an der geschichtlichen Selbstoffenbarung und damit an ihrem zunächst einzigen Gegenstand, Gott in seiner Wirklichkeit, vorbeidenken will. Wie ist nun das Verhältnis dieses Zugrundeliegenden zu den beiden Aspekten näher zu bestimmen? Im Falle von Wittgensteins Zeichnung ist es einfach: das Zugrundeliegende ist eine qua Druck materialisierte geometrische Form, die beiden Aspekte sind jeweils diese materialisierte geometrische Form gemäß 34 Von daher erschließt sich, warum diejenigen im Umkreis Jesu, die vorzüglich im Lichte seiner Offenbarung standen, in ihrem Bekenntnis vor und von dem Gottmenschen das Demonstrativum „dieses“ – das Indexikale, mit begleitender Zeigegeste – gebrauchten: Johannes der Täufer ruft aus, „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh 1,29). Der römische Hauptmann weiß: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ (Mt 27,54)

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unseren begrifflichen Formen als so-und-so sinnlich repräsentiert. Man könnte weiter sagen, dass es sich bei Hase und Ente um Wirklichkeiten handelt, deren Materie der gezeichnete Strich ist und deren Form durch unser begriffliches so- oder anders-Sehen – das Sehen-als – gegeben ist. Eine derartige MaterieForm-Differenz können wir christologisch freilich nicht in Anschlag bringen. Es handelt sich bei diesem ja auch nicht um einen Gegenstand, den wir mit unseren repräsentationalen Vermögen repräsentieren und somit begrifflich bestimmen würden, sondern um eine Wirklichkeit, die sich selbst als das zeigt, was sie ist. Darin besteht ja der Gedanke der Offenbarung. Pannenberg differenziert das Menschsein, insofern es das Zugrundliegende ist, und das Menschsein, insofern es Aspekt ist, dadurch, dass er ersteres „die menschliche Wirklichkeit der Person Jesu“ nennt. Diese sperrige Formulierung wird notwendig, um anzuzeigen, dass das Zugrundeliegende zwar eine menschliche Wirklichkeit ist – denn dieser, dieses Gegenüber, ist wahrer Mensch und wahrer Gott –, andererseits aber nicht einfach das Menschsein, sondern eben eine menschliche Wirklichkeit. Das bedeutet, eine Wirklichkeit, die uns ohne ihren menschlichen Zug zwar nicht zugänglich, offenbar wäre, die aber nicht einfachhin in menschlichen Zügen aufgeht. Die Wirklichkeit dieses diesen, der sowohl Mensch als auch Gott ist, ist zwar eine menschliche, aber nicht einfach ein Mensch, sondern eben menschliche Wirklichkeit. Denn kein Mensch kann Mensch und Gott sein, sondern nur dieser in seiner Wirklichkeit. Wir können uns diesen Punkt klarer machen – sowohl formal als auch narrativ: Wenn ein Jünger Jesu bemerkt, dass die Art und Weise, wie Jesus von und mit seinem Vater spricht, so ist, dass die Nähe des Vaters durch ihn als eine Nähe erfahrbar wird, die nur durch ihn (so) ist, dann erfährt er ihn in seiner genuinen Besonderheit; dass er zugleich Mensch und Gott ist, dies aber nicht nebeneinander, sondern als dieser und eben zugleich35 , etwa in seiner vernehmbaren Art des Betens und deren Ausstrahlung auf sein Gegenüber. Daran aber wird für dieses Gegenüber deutlich, dass es zur Identität seines Gegenübers – Jesus – gehört, Mensch und Gott zu sein. Er kann daher nicht in Identität mit einem Gegenüber stehen, das nur Mensch ist. Deshalb kann der Akt der Selbstunterscheidung auch keinen ontologischen Übergang von einem bloßen Menschen zu einem Gott-Menschen bedeuten. (Würde man sagen, es gäbe einen einzigen Menschen, für den ein solcher Übergang möglich ist, würde dies das Rätsel nicht kleiner, das Geheimnis nicht weniger geheimnisvoll machen.) Also: Kein Mensch, sondern nur die besondere menschliche Wirklichkeit des diesen, kann das Zugrundeliegende für die Aspekte des Menschseins und 35 Auch hier liegt eine wichtige Differenz zu Wittgensteins Beispiel, in dem das als-Hase- und als-Ente-Sehen einander äußerlich und nebeneinander bleiben.

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des Gottseins sein. Das bedeutet, dass der Gedanke der Selbstunterscheidung, durch die sich das Hervortreten des Aspekts des ewigen Sohnes und somit beider Aspekte – Gott und Mensch – als Aspekte des diesen ereignet, nicht die christologische zwei-Naturen-Lehre von einer Natur her – von der menschlichen – zu entwickeln versucht, geschweige denn von ihr, wie sie allgemein ist. Gunther Wenz’ in Auseinandersetzung mit der Konkordienformel entwickelte These von der menschlichen Natur Jesu Christi als „singulare tantum“36 ist aus der Warte Pannenbergs also beizupflichten. Diese gehe, so Wenz, „vermöge der persönlichen Vereinigung mit der göttlichen [Natur] in Allgemeinheitsbezügen nicht auf[…]“37 . Pannenberg ist, wenn man ihn kohärent und präzise interpretiert, freizusprechen von dem Verdacht, eine „Christologie von unten“ in dem Sinne gelehrt zu haben, dass aus allgemein über den Menschen Gewusstem die göttliche Natur Jesu Christi irgendwie „abzuleiten“ gesucht wird – womit seine Gottheit denkend verfehlt werden muss.38 Seine Christologie zielt nicht auf die Entzauberung des Geheimnisses Christi, sondern auf dessen rationale und logisch-begrifflich artikulierte Darstellung, inklusive der dadurch gewonnenen Erkenntnis der Geheimnishaftigkeit Jesu Christi, die diese gerade in ihrer unendlichen Größe darzustellen vermag. (Man denke nur an Pannenbergs geradezu hymnisch anmutendes Bekenntnis zur Unbegreiflichkeit Gottes – zu Beginn des Kapitels 6, das unmittelbar auf dasjenige zur Trinität folgt und dessen Ergebnisse zusammen- und hinführt zur Lehre von der Einheit des göttlichen Wesens.39 ) Konkreter und anschaulicher gesprochen schließt eine solche theologische Behandlung der Christologie zweierlei ein: Erstens: Wir können uns das Geheimnis theologisch vor Augen führen. Das erfordert insbesondere einen narrativen Nachvollzug des Wirkens Jesu Christi und eine theologische Interpretation desselben, die auf den dargestellten Erkenntnissen beruht. Als Beispiel hierfür mag Jesu Gebet in Gethsemane gelten.40 In ihm verbinden sich unmittelbar das Menschsein und Gottsein Jesu Christi. Wenn wir uns dieses Narrativ vor Augen führen – im Lichte der hier 36 Wenz 1998, 709. 37 Wenz 1998, 709. 38 In zweiten Band seiner Systematischen Theologie ist Pannenberg recht explizit, was das Scheitern so verstandener „Christologie von unten“ angeht (vgl. STh II, 324 ff.). 39 Vgl. STh I, 365: „Jeder verständige Versuch, von Gott zu reden – jedes solche Reden also, das sich kritisch seiner Bedingungen und Grenzen bewußt ist – muß mit dem Bekenntnis der unbegreiflichen, weil alle unsere Begriffe übersteigenden Erhabenheit Gottes beginnen und enden.“ In der weiteren Erläuterung dieses Satzes gebraucht Pannenberg auch den Begriff „Geheimnis“. Einen Grund dafür haben wir soeben einsichtig gemacht. 40 So auch Pannenbergs Beispiel in STh I, 336. Weiteres aus den Evangelien hierzu diskutiert Pannenberg ausführlich in STh II, 369 ff.

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geleisteten Begriffsarbeit –, so sehen wir einerseits theologisch mehr, als wir ohne diese Begriffsarbeit sehen würden, andererseits mehr, als wir durch eine auf den Bezug auf Narrativität verzichtende Begriffsarbeit sehen würden.41 Genauer gesagt: Das, was das „Hervortreten“ zweier „Aspekte“ an einem „diesen“ meint, lässt sich nicht hinreichend positiv klären, ohne den allein narrativ darzustellenden Prozess des Hervortretens auch nachzuvollziehen. Dies tun die Evangelien, und die Theologie mit und an ihnen.42 Zweitens: Dass es keinen (ontologischen) Übergang vom reinen Menschen zum Gottmenschen gibt, bedeutet nicht, dass es keine biographische Entwicklung Jesu geben könnte. Diese gibt es notwendig, da sie zum Menschsein des Gottmenschen und damit auch zur zugrundeliegenden Wirklichkeit, die auch wesentlich eine menschliche ist, wesentlich hinzugehört. So lässt sich in der Tat sagen, dass eine bestimmte sprach- und handlungsförmige Artikulation der Selbstunterscheidung erst dem heranwachsenden Jesus im Tempel und dem erwachsenen Jesus möglich war. Wir sind theologisch aber verpflichtet darauf, dass „Inkarnation des Sohnes in der Gestalt Jesu bedeutet, daß dieser Mensch in Person der Sohn Gottes ist und daß er es in der ganzen Erstreckung seines Weges gewesen ist.“43

Weihnachtlich zugespitzt ist also hervorzukehren, dass schon das Kind in der Krippe in einer Göttlichkeit – in einer „himmlische[n] Ruh“44 – schlief, in der keiner von uns je schlafen kann; und wir müssen bejahen, was eine Strophe des Puer natus in Bethlehem so ausdrückt: „cognovit bos et asinus / quod puer erat Dominus.“ Dass also nicht nur die Gottheit schon vom Kinde zu prädizieren ist, sondern damit auch seine Offenbarung – in ihrer Implizitheit sogar vernehmbar

41 Zur Bedeutung der „Narrativität“ als Denklogik, die nicht auf den reinen Begriff zu reduzieren ist, vgl. Oehl 2016. 42 Schon von daher ist Pannenbergs detailgetreue und anschauliche Auseinandersetzung mit den biblischen Szenen der Begegnung von Menschen mit Jesus zu erklären, die darin den Aufgang des himmlischen Vaters und seines Reiches erleben, welches durch Jesu Haltung der Selbstunterscheidung ebenso offenbar wird, also hervorbricht – genauer: immer schon hervorgebrochen ist –, wie der Aspekt seines ewigen-Sohn-Seins an seiner menschlichen Wirklichkeit (vgl. v.a. STh II, 369 ff.). 43 STh II, 360 [Hvh. T.O.]. Zwar fügt Pannenberg hinzu, dass dieses immer-schon-Sein theologisch als retroaktive Festlegung durch die Vollendung des Weges Jesu in Kreuz und Auferstehung zu begreifen ist (vgl. u. a. STh II, 342); doch das ändert ja nichts an der zitierten Aussage – und somit daran, dass schon das Kind in der Krippe als dieses der Gottmensch war –, da „retroaktive Festlegung“ ja keine rückwirkende Deutung meint, sondern rückwirkend auf das Sein geht, wie Pannenberg hervorhebt. 44 EG 46 („Stille Nacht, heilige Nacht“).

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von Geschöpfen, denen das Vermögen zur sprachförmigen Artikulation und Rezeption gar nicht zukommt, so das durch und durch erhellende Narrativ.45 Die dargestellte Argumentation ermöglicht uns nun einen weiteren Schritt, der zum nächsten Teil überleiten wird. Wir hatten gesehen, dass nicht gedacht werden kann, dass dieser, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist, in seiner Wirklichkeit einmal noch nicht wahrer Gott und wahrer Mensch war. Sofern er wahrer Gott ist – als zur Gottheit Gottes wesentlich hinzugehöriger ewiger Sohn –, bedeutet das aber, dass er den dafür konstitutiven Akt der Selbstunterscheidung immer schon vollzogen hat. Es kann also nicht gedacht werden, die Person Jesu habe in einem Moment ihrer Existenz den Akt der Selbstunterscheidung vom Vater nicht (oder noch nicht) vollzogen.46 Die Selbstunterscheidung ist – strikt – eine ewige. Anders könnte sie auch nicht konstitutiv für das Selbst des ewigen Sohnes sein. Ihr – diesem Akt der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater – kann der Vater aber nicht vorausgesetzt sein, da auch für dessen Vatersein dieser Akt konstitutiv ist. Es ist deshalb zunächst zu folgern, dass gleichursprünglich zur Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater eine Selbstunterscheidung des Vaters vom Sohne statthaben muss.47 Auf deren internen näheren Inhalt soll hier nicht weiter eingegangen werden. Für die in hier zu entwickelnde Argumentation ist daran vielmehr zweierlei wichtig: (i) Erstens: Beide Akte der Selbstunterscheidung sind gleichursprünglich. Allein das bedeutet schon, dass einer nicht aus dem anderen (oder durch den anderen) erklärt werden kann. Würde man sagen, die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater rühre daher, dass ihm vom Vater – durch dessen Akt der Selbstunterscheidung – eine Nähe zum Vater zuteilwird, die er in seinem Akt der Selbstunterscheidung sodann demütig bestätigt, wäre dies keine Erklärung. Denn dass der Vater dem Sohn diese Nähe zuteilwerden lässt, ist ja seinerseits nicht denkbar ohne den schon vorausgesetzten Akt der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater, ohne die der Vater ja nicht Vater ist. Eine solche „Erklärung“ wäre also zirkulär. (ii) Zweitens: Der Akt der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater darf – unabhängig vom erstgenannten Punkt – nicht durch den Akt der Selbstunterscheidung des Vaters vom Sohne erklärt werden. Denn dann läge der Grund 45 Dass wir an dieser Stelle – gleichsam am Ende der Entwicklung von Pannenbergs Zentralidee der Christologie – auf den Inkarnationsgedanken im Sinne der Geburt Jesu stoßen, entspricht Pannenbergs Aussage, dass die Christologie erst am Ende ihrer Entwicklung diesen Gedanken voll erfassen und somit unmissverständlich in Anspruch nehmen kann. Zum diesbezüglichen Kontext vgl. auch Wenz 2011, 69 ff. 46 Das ist übrigens auch deshalb notwendig, weil – jedenfalls unter nicht-doketistischen Prämissen – sonst das Vatersein des Vaters in der Zeit des Nichtvollzugs ausgesetzt wäre, für das der Vollzug ja ebenfalls konstitutiv ist. 47 Vgl. STh I, 338 ff.

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des Aktes der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater im Vater – und mithin wäre dieser Akt selbst, da eben seinem Grund nach, ein Akt des Vaters. Dies widerspräche unmittelbar der Bestimmung einer trinitarischen Person als selbstständiges Aktzentrum. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich: Fasst man die beiden Akte – wie in (i) dargestellt – zirkulär auf und erklärt sie – wie in (ii) dargestellt – ihrem Grund nach durch einander, ist die einzig mögliche Implikation, dass es sich letztlich um einen einzigen Akt des einen sich dadurch in sich differenzierenden Subjekts handeln muss. Gegen eine solche Auffassung wären (i) und (ii) keine Einwände, da Zirkularität der Akte, die sodann in Wahrheit nur Aktmomente sind, und nicht-in-sich-Gründung dieser Aktmomente Wesensmerkmale einer solchen sich intern in Aktmomente ausdifferenzierten Subjektivität sind. Das entspricht der logischen Form der hegelschen Trinitätslehre, von der wir schon angegeben haben, dass und warum Pannenberg sie nicht akzeptieren kann. Ihr gegenüber ist mit Pannenberg vielmehr zu insistieren, dass der Akt der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ein Akt des Sohnes ist. Er ist dem Sohn – und nur dem Sohn – als Aktzentrum zuzuschreiben. Das aber wirft die Frage auf, wie das immer-schon-Vollzogensein dieses Aktes zu erklären ist, wenn nicht durch den korrespondierenden Akt des Vaters? Die Antwort darauf muss lauten, dass der Sohn aus einer Fülle und Vertrautheit mit dem Vater – aus seiner Liebe zu ihm – schöpft, die nicht einfachhin mit dem Vater und seinen Akten zu identifizieren ist.48 Es handelt sich im Gegensatz zu diesen „expliziten“ Selbstunterscheidungsakten bei dieser Fülle, Vertrautheit oder Liebe um etwas, das man seiner logischen Form nach „implizite Relationalität“ nennen könnte. Darauf wird zurückzukommen sein. In Pannenbergs System ist diese Fülle und Vertrautheit als solche – „Liebe“ – jedenfalls mit dem Wesen Gottes zu identifizieren, aus dem heraus die drei Personen ihre göttliche Einheit realisieren. Dieses Wesen existiert zwar nicht vor oder unabhängig von Vater, Sohn und Geist – es hat überhaupt keine ontologische Eigenständigkeit gegenüber den trinitarischen Personen, sondern ihr „Dasein“ allein in ihnen49 –, sehr wohl aber ist es von ihnen in einer bestimmten Weise zu unterscheiden. Das wird sogleich aufzuzeigen sein. Vorab aber sei bemerkt: Über Pannenbergs Verhältnisbestimmung des Wesens Gottes zu den drei trinitarischen Personen ist viel gestritten worden. Falk Wagner und Michael Murrmann-Kahl sehen 48 Dies folgt zwingend aus der soweit explizierten logisch-begrifflichen Struktur des Gedankens der Selbstunterscheidung mitsamt den genannten Denkerfordernissen. Es mag aber besonders anschaulich werden in Jesu Geburt, also am Beginn seines irdischen Weges, mit dem er bereits unmittelbar und diesseits erwachsener Reflexion in einer Vertrautheit zum Vater gestanden haben muss, durch die er sich gleichsam präreflexiv dem Vater demütig hingeben konnte. 49 Pannenberg profiliert diesen Begriff des „Daseins“ in seiner internen Bezogenheit auf den des „Wesens“ in STh I, 376 ff.

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Pannenbergs Trinitätslehre gerade in diesem Punkt als gescheitert an.50 Mir scheint, dass sie darin irren. Der Grund dafür liegt darin, dass sie einen Begriff des Wesens voraussetzen, den Pannenberg aus nachvollziehbaren Gründen nicht teilt. Pannenberg entwickelt seinen Begriff des Wesens im Kontext des hier dargelegten Gedankenganges. Das Wesen Gottes ist demgemäß bestimmt als die Fülle der Liebe, aus der der Sohn immer schon schöpfen kann; diese Fülle der Liebe aber ist nicht, insofern nicht aus ihr geschöpft wird, und der, der aus ihr schöpft, ist nicht schlicht identisch mit dem, woraus er schöpft, auch wenn er ohne selbiges nicht wäre, was er selbst ist.51 Die Fülle selbst ist also keine Person und kann deshalb auch nicht handeln. Pannenberg: „Das ewige Wesen Gottes ist nicht ein weiteres für sich bestehendes Subjekt neben den drei Personen, noch auch das eine, sie alle umgreifende Subjekt, so daß die drei Personen zu bloßen Momenten des Subjektseins Gottes herabgesetzt würden.“52

Diesen Begriff des „Wesens Gottes“ gilt es nun genauer zu entfalten, wiederum mit Fokus auf die begrifflich-logische Struktur der damit veranschlagten Zusammenhänge. 3.

Pannenberg über Wesen und Einheit Gottes: Der Begriff des „Feldes“ und die dritte Person der Trinität

Man kann das Wesen Gottes – die Gottheit als solche – zunächst also als eine an sich selbst apersonale Fülle auffassen, die erst durch die trinitarischen Personen, die aus ihr schöpfen, überhaupt realisiert wird. Sie ist so das, was alle trinitarischen Personen gemeinsam haben. Deren Liebe als solche, diesseits ihres Aktualisiert- und Expliziertseins zwischen den drei Personen durch die wechselseitigen Selbstunterscheidungsakte. Man darf annehmen, dass Falk Wagner diese Verhältnisbestimmung für logisch unzureichend hält. Das jedoch spricht, wir mir scheint, nicht gegen Pannenbergs Konzeption, sondern eher dafür, dass Wagner einen stark verengten und theologisch unzureichenden Begriff des Logischen hat. Denn Pannenbergs Begriff des Wesens Gottes als Gemeinsamkeit der trinitarischen Personen diesseits ihrer Realisierung und Explizierung unter- oder zwischeneinander ist alles andere als logisch oder

50 Vgl. Murrmann-Kahl 1997, 163 ff., im Anschluss an Wagner 1989. 51 Man mag sich hier – nicht zufälligerweise – an Schellings Unterscheidung des Wesens, sofern es existiert, und des Wesens, sofern es Grund von/seiner Existierendem/Existenz ist, erinnert fühlen. 52 STh I, 416.

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ontologisch unplausibel. Dies lässt sich an folgender Analogie zeigen: Wir reden davon, dass zwei Brüder aufgrund ihrer tief liegenden Gemeinsamkeit ein enges und empathisches Verhältnis zueinander haben. In diesem Beispiel setzen wir voraus, dass sie in ihren Handlungen immer schon aus einer Verbundenheit geschöpft haben, auch wenn diese Verbundenheit freilich erst durch ihre Handlungen realisiert und expliziert ist, ja überhaupt wirklich ist, also hervortritt, ek-sistiert. Wir erkennen so ihre Verbundenheit als Grund ihrer Handlungen. Damit aber kann nicht die Verbundenheit, sofern sie in ihren Handlungen besteht, gemeint sein; denn sonst wäre jede Handlung nur durch eine andere erklärbar, und die Handlungen der Brüder wären ein großer Zirkel und gar nicht einzeln zuschreibbar. Kurzum: Dass wir (implizite) Relationen als Wesen anerkennen – abstrahiert von ihrem in der Tat konstitutiven Bezogensein auf ihre Relata – und so die (expliziten) Relationen der Relata zueinander kohärent – unter Rekurs auf einen Handlungs-Grund – explizieren können, ist uns aus Beispielen wie diesen vertraut.53 Der Gedanke einer Relation – oder Relationalität –, die abstrahiert ist von ihrem Bestehen oder Aktualisiertsein zwischen den trinitarischen Personen, also in Akten zwischen Aktzentren, ist auch von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., hervorgehoben worden. In seiner Einführung in das Christentum schreibt er: „Das Wesen der trinitarischen Personalität ist es, reine Relation und so absoluteste Einheit zu sein.“54

Ratzinger und Pannenberg stimmen also nicht nur darin überein, als Wesen der trinitarischen Personalität etwas zu bestimmen, das als solches als reine oder abstrahierte Relation(alität) zu fassen ist, sondern offenbar auch darin, dass die Einheit des göttlichen Wesens erst so auf den Begriff gebracht werden kann. In Pannenbergs Systematischer Theologie zeigt sich dies schon darin, dass Pannenberg die Einheit Gottes aus seiner Dreieinigkeit heraus entwickelt (sichtbar schon an der Reihenfolge der Kapitel 5 und 6) und es in einer entsprechenden theologiegeschichtlichen Betrachtung als Schwäche einiger einflussreicher Traditionslinien herausstellt, die Trinitätslehre im Anschluss an einen scheinbar

53 Pannenberg selbst wählt zur Erläuterung das Beispiel eines gemeinschaftlichen Geistes: „Auch eine Anzahl menschlicher Personen kann durch einen gemeinsamen Geist zu einer Lebensgemeinschaft verbunden werden. Sie bleibt ihm gegenüber grundsätzlich selbständig, während die trinitarischen Personen gegenüber dem sie verbindenden Geist der Liebe keine Selbständigkeit haben, sondern nur Manifestationen und Gestalten – aber ewige Gestalten – des einen göttlichen Wesens sind.“ (STh I, 415) 54 Ratzinger 1968/2014, 179.

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vorher verfügbaren Begriff der Einheit Gottes zu behandeln. Dies trifft, wenn auch in je unterschiedlicher Ausprägung, etwa auf Thomas von Aquin ebenso zu wie auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Wir verstehen nun, warum Pannenberg anders optiert: Für ihn ist das Wesen und die damit intern verbundene und gegebene Einheit Gottes eben nur als die implizite Beziehung oder Fülle zu bestimmen, aus der die trinitarischen Personen in ihren Akten schöpfen. Das aber bedeutet, dass das Wesen und die Einheit Gottes gar nicht ohne Rekurs auf eben diese personalen Akte zu bestimmen und zu fassen sind, also von genuin trinitarischen Denkfiguren her.55 Dies wiederum schließt nicht aus, dass Pannenberg zugleich behaupten kann und muss, dass der Begriff der (trinitarischen) Person seine vollständige Klärung erst dann findet, wenn bis zu diesem Gedanken des Wesens und der Einheit Gottes vorgedrungen ist.56 Dies lässt sich nun wie folgt verstehen: Eine Person ist, wie wir mit Pannenberg gesagt haben, wesentlich als „Aktzentrum“ bestimmt, als selbstständig handelnde Instanz. Das ist sie aber nur, wenn (i) nicht durch sie ein Anderer handelt oder handeln kann, wenn (ii) sie nicht notwendig handelt, und wenn (iii) sie nicht grundlos handelt – denn all das wäre kein Handeln, jedenfalls kein qualifiziertes, und somit gewiss kein Handeln einer Person, die unveräußerlich zur Gottheit Gottes hinzugehören soll. Diese negativen Bedingungen sind aber, wenn man das innertrinitarische Verhältnis des Sohnes zum Vater durch den Gedanken der Selbstunterscheidung bestimmt, nur erfüllt, wenn auf das Wesen und damit die Einheit Gottes rekurriert wird: Denn es ist dasjenige, aus dem der Sohn immer schon schöpft und daher immer schon den Akt der Selbstunterscheidung vollzieht und vollzogen hat. Damit ist dieser Akt nicht grundlos. Er ist aber auch nicht notwendig in dem Sinne, dass es sich bei diesem Akt um ein Bestimmungsmoment eines Begriffs handeln würde, wie Pannenberg dies paradigmatisch in der (pseudo-)trinitarischen Struktur des hegelschen Absoluten realisiert sieht. Das Wesen Gottes als Grund, aus dem der Sohn schöpft, tritt zudem – im Bild gesprochen – zwischen den Vater und den Sohn so, dass nicht gesagt werden kann, dass durch die wie auch immer genau zu bestimmende Zuwendung des Vaters zum Sohn dessen demütige Selbstunterscheidung vom Vater erzwungen wäre oder beide Akte in Wahrheit zu einem Akt verschmolzen wären.

55 Ich habe deshalb als präzisierenden Nachtrag zu meiner Arbeit zu Pannenbergs Bestimmung des Verhältnisses des qua Bewusstsein intuierten Unendlichen zur Wirklichkeit Gottes (vgl. Oehl 2018c) zu bemerken, dass ein Aspekt der Verworrenheit, die die Intuition des Unendlichen laut Pannenberg wesentlich mit kennzeichnet, darin besteht, dass das Unendliche noch nicht einmal hinreichend klar und distinkt als „eines“ (im Sinne der „Einheit“, die und wie sie von Gott zu prädizieren ist) intuiert werden kann. 56 Vgl. STh I, 364.

Die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater und der Geist als Feld

Nun wird in einem nächsten Schritt verständlich, warum Pannenberg das eine Wesen Gottes – die Gottheit als solche – durch die Begriffe (i) des „Feldes“ und (ii) des „Geistes“ näher erläutern kann: (i) Feld: In einem physikalischen Feld ist das, was ist, nicht ohne, sondern nur durch dieses Feld und in ihm. Das bedeutet aber gerade nicht, dass alles, was in diesem Feld und durch es ist, einfachhin identisch mit diesem Feld und somit selbst (dieses) Feld wäre. Vielmehr handelt es sich um materielle Wirklichkeit, die in ihrer distinkten, identifizier- und bestimmbaren Existenz einerseits nur im und durch das Feld existiert, dieses aber andererseits erst ontologisch konstituiert. Ganz wie das Wesen Gottes nicht ohne die drei trinitarischen Personen in ihren konstitutiven Selbstunterscheidungsakten sein würde; und ganz wie diese drei Personen und ihre Akte etwas in diesem Feld sind und somit – kategorial – nicht selbst Feld, sondern „Singularitäten“ (oder Verhältnisse zueinander) sind. Pannenberg gebraucht den Feldbegriff der Physik also mitnichten metaphorisch, auch wenn klar ist, dass er in Bezug auf die drei trinitarischen Personen nicht derjenige Feldbegriff sein kann, der sich durch physikalische Gesetze erschöpfend beschreiben lässt. Die begrifflich-logische Struktur aber ist dieselbe, und Pannenberg bezieht sich auf diesen physikalischen Begriff, weil er diese Struktur nirgends anders in wissenschaftlich klarer Form artikuliert sieht, auch nicht in der philosophischen Tradition.57 Das gilt besonders für ein wesentliches Merkmal dieser Struktur, nämlich die Apersonalität oder Asubjektivität. Dies war – etwa in der hegelschen Philosophie – gerade nicht Bestimmungsmoment des Wesensbegriffs. Dort wird das Wesen ja gerade als das bestimmt, was in Wahrheit subjektförmig ist und nur, insofern es noch nicht voll auf den Begriff gebracht oder zu seinem Begriff entwickelt ist, den Anschein der nicht-Subjektförmigkeit haben kann. Die Substanz, so heißt es bei Hegel bekanntlich in einem programmatischen Wort, sei (auch) als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.58 Bei Pannenberg stellt es sich dezidiert anders dar: Das Wesen Gottes ist an sich und in Wahrheit apersonal und asubjektiv – gerade weil Gott dreieinig ist, also drei Personen in ihrer Wesenseinheit ist. Für uns wird das Wesen Gottes als Grund begreiflich, aus dem die drei Personen in ihrem konstitutiven Verhältnis zueinander schöpfen – und damit gerade nicht als etwas, das selbst personal oder subjektförmig wäre. Es ist, wie Pannenberg explizit sagt, „nicht ein weiteres für sich bestehendes Subjekt neben den drei Personen“59 . 57 Das schließt freilich nicht aus, dass man ihn – wie auch in diesem Aufsatz der Fall – in Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition entwickeln und dadurch aufhellen kann. 58 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 18. 59 STh I, 416.

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Dies wirft ein neues Licht auf die Kritik, die Falk Wagner60 und, ihm folgend, Michael Murrmann-Kahl61 (sowie jüngst auch Christian Danz62 ) an Pannenbergs Begriff des Wesens (Gottes) geübt haben.63 Sie scheinen darin einfachhin den hegelschen Wesensbegriff vorauszusetzen, demzufolge das Wesen – traditionell im Sinne der Substanz – dasjenige ist, das sich verwirklicht, und zwar so, dass es dies letztlich selbst als Subjekt tut. Wie wir gesehen haben, würde Pannenberg zwar zustimmen, dass das Wesen Gottes nur in und durch (drei) Subjekte – oder besser: (drei) Personen – realisiert und überhaupt das Wesen Gottes ist. Aber es gibt nach Pannenberg keinen Sinn, in dem man sagen kann, dass dieses Wesen selbst Subjekt sei oder sich als Subjekt verwirklichen würde.64 Die so gefasste Differenz wird noch einmal deutlich, wenn man sich den Gedanken vor Augen führt, dass der Sohn in seiner Selbstunterscheidung vom Vater aus der Vertrautheit mit dem Vater schöpft, die als solche das Wesen Gottes ist. Es ist offenkundig so, dass das, woraus jemand schöpft, niemals identisch sein oder werden kann mit dem, der daraus schöpft. Dass das Wesen Gottes (neben Vater und Geist) durch den Sohn realisiert ist und in Erscheinung tritt, bedeutet somit, dass es eben erst Wesen Gottes ist, insofern Personen aus ihm schöpfen und es so als Wesen Gottes sein kann. Es bedeutet aber nicht, dass es sich selbst realisieren würde und als der Sohn in Erscheinung träte. Verbindet man aber, wie Wagner und Murrmann-Kahl, mit dem Begriff des Wesens eine Wirklichkeit, die sich selbst im Modus des Subjekts zu verwirklichen im Begriff ist, und trägt man diesen Begriff an Pannenbergs Text heran, folgt in der Tat das Dilemma, das Murrmann-Kahl aufzeigt65 : Entweder, das Wesen ist doch als ganzes (ein) Subjekt – und tritt somit als Viertes hinzu, konstituiert mit den drei Personen der Trinität in Wahrheit eine „Quarternität“. Oder aber, das Wesen manifestiert sich ganz in den drei Personen der Trinität, dann ist es – aufgrund ihrer Differenz und ihrer nicht aufeinander reduzierbaren Akte – niemals als ganzes verwirklicht, sondern nur jeweils „perspektivisch gebrochen[..]“. Beide Fälle treten nur ein, wenn man voraussetzt, dass das Wesen sich selbst zu existierenden Personen entwickelt und dies daher 60 61 62 63 64

Vgl. Wagner 1989. Vgl. Murrmann-Kahl 1997. Vgl. Danz 2019. Für eine kritische Darstellung dieser Kritik vgl. auch Vechtel 2001, 218 ff. Pannenberg fasst den Begriff des „Wesens“ also dezidiert nicht – hegelsch – im Begriff einer „Substanz“ auf, die wiederum „als Subject“ aufzufassen ist (Hegel, Phänomenologie des Geistes, 18). Während von Gott selbst Selbstverwirklichung zu prädizieren ist, ist von seinem Wesen hingegen also „nur“ Manifestation – Gestalt-ung –, nicht aber Selbstverwirklichung auszusagen. Wörtlich sagt Pannenberg in STh I, 415, dass die trinitarischen Personen „Manifestationen und Gestalten – aber ewige Gestalten – des einen göttlichen Wesens sind“. 65 Vgl. Murrmann-Kahl 1997, 163 ff.

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entweder deshalb nicht ganz tun kann, weil es relativ selbstständig bleibt, oder aber deshalb nicht, weil diese Personen eben jeweils nur einen Teil des Wesens realisieren. Abgesehen davon, dass im zweitgenannten Fall immer noch zu fragen wäre, ob das Zusammenspiel der drei Personen nicht eine Verwirklichung im Ganzen bedeuten könnte, können wir nun klar sagen, warum Pannenberg nicht in dieses Dilemma gerät: Sein Gedanke besteht darin, dass das Wesen Gottes – der Geist der Liebe oder das Feld, in dem die drei Personen ursprünglich verbunden sind – vollständig realisiert ist im Verhältnis der drei Personen, mithin nichts als „Rest“ des Wesens zurückbleibt, das nicht darin realisiert wäre. Die drei Personen schöpfen es – im Wortsinne – voll aus. Umgekehrt realisieren die drei trinitarischen Personen in ihrem Verhältnis zueinander nichts, das nicht im Wesen Gottes liegen würde66 ; und in diesem Sinne erschöpfen sie sich im Wesen Gottes. Das aber kann man nur denken, wenn man das Wesen nicht als sich selbst realisierendes denkt: Denn dann ergibt sich in der Tat das Dilemma zwischen einem Wesen, das sich immer etwas vorbehält, und einer plural-gesplitterten Realisierung, die qua pluraler Splitterung niemals das Wesen im Ganzen realisieren kann. An dieser Stelle lohnt ein Rückgriff auf die einleitenden Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie. Es stellt sich nämlich die Frage, aus welchem Grund Pannenbergs Wesensbegriff Verbindlichkeit beanspruchen können soll. Die Antwort kann unserer Einleitung gemäß nicht ausschließlich darin bestehen, dass anders dem Datum der geschichtlichen Offenbarung – das Zeugnis von Jesus Christus als sich von seinem Vater unterscheidender Person – nicht Rechnung getragen werden könnte. So richtig und wichtig das ist, so wenig rechtfertigt es allein die Gültigkeit eines bestimmten logischen Verhältnisses als eines solchen. Mit Pannenberg wäre vielmehr zu insistieren, dass der von Wagner und Murrmann-Kahl im Anschluss an Hegel vertretene Wesensbegriff dem Gedanken der Personalität als solchem zuwider geht, also schon diesseits genuin theologischer Zusammenhänge. Denn er verunmöglicht den Gedanken, dass eine Person aus ihrem Wesen schöpft, ohne dass damit gesagt wäre, dass dieses Wesen selbst diese/eine Person sei oder sich zu ihr entwickeln würde, noch die Differenz beider so fassen muss, dass in diesem Wesen „mehr“ enthalten wäre als die Person zur Erscheinung zu bringen vermag.

66 Entsprechend urteilt auch Vechtel 2001, 222: „In den personbildenden Relationen von Vater, Sohn und Geist – und nur in ihnen – manifestiert sich das göttliche Wesen als die Liebe, die die Personen über sich selbst erhebt und so in ihrem Gottsein konstituiert. In diesem Sinne ist das göttliche Wesen als Liebe mächtig in den trinitarischen Relationen, auch wenn es nicht hinter oder außerhalb dieser Relationen liegt. Es dürfte damit deutlich werden, daß Pannenberg das Wesen nicht als eine vierte Größe in Gott oder als Subjekt des trinitarischen Prozesses konzipiert.“

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Ein weiterer, schon angeklungener Schritt der logisch-begrifflichen Klärung des Begriffs des „Wesens“ ist vonnöten. Wir hatten gesehen, dass das Wesen als „Fülle“, „Vertrautheit“, „(gemeinsamer) Geist“ – im Inbegriff: als „Liebe“ – zu fassen ist. Da das Wesen nicht mit den Relationen der trinitarischen Personen zueinander, wie sie in den Selbstunterscheidungsakten bestehen, identisch ist (und auch nicht identisch sein kann), gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ist es die Relation der trinitarischen Personen zueinander in anderer Form oder aber es ist „Liebe“ unter gänzlicher Absehung ihres Bezogenseins auf die drei trinitarischen Personen. Letzteres scheidet aus, da dies der Funktion des göttlichen Wesens widerspräche, die wir eingesehen haben: dass es diejenige Vertrautheit oder Beziehung zum Vater – eben Liebe – ist, aus der der Sohn immer schon schöpfen kann, um immer schon den Akt der Selbstunterscheidung vom Vater zu vollziehen. Das bedeutet, dass das Wesen Gottes in der Tat schon eine Relation zwischen Relata ist, nicht Liebe einfachhin, sondern die Liebe der drei trinitarischen Personen unter- und zueinander.67 Diese Relation ist aber von kategorial anderer Art als diejenigen Relationen, die durch die Akte der Selbstunterscheidung realisiert sind und in ihnen bestehen. Anders aber können sie nicht ihrem Gehalte nach sein – denn in beiden Fällen ist es die Liebe der trinitarischen Personen unter- und zueinander –, also „nur“ der Form nach: Der Akt der Selbstunterscheidung ist eine artikulierte oder explizite Relation, während dies für das Wesen Gottes nicht gilt. Dieses ist, als solches, nicht-artikuliert oder implizit. Diese formale Differenz zweier Relationen ist parallel zu derjenigen, auf die Dieter Henrich in Bezug auf das Selbstverhältnis des endlichen Subjekts aufmerksam gemacht hat68 : Dem reflexiven Selbstbewusstsein, das der Form nach artikulierte oder explizite Relation ist, liegt ein präreflexives Selbstbewusstsein zugrunde, das der Form nach nicht-artikulierte oder implizite Relation ist. Für das göttliche Wesen nach Pannenberg ergibt sich nun ein Problem nicht, das sich für das endliche Subjekt in seinem Selbstverhältnis nach Henrich ergibt: Wie Henrich argumentiert hat, kann das endliche Subjekt das präreflexive Selbstbewusstsein nicht zu Bewusstsein bringen, weil es – in der Form eines Gegenstandes des Bewusstseins – nicht mehr ist, was es wesentlich ist, nämlich präreflexives Selbstbewusstsein. Nun gilt, wie wir sogleich noch genauer sehen werden, auch im Rahmen von Pannenbergs Trinitätslehre, dass Vater und Sohn im Geist als dritter Person zwar das göttliche Wesen, welches das Feld ist, zum Gegenüber haben – wenngleich nicht als 67 Theilemann 1995, 278, urteilt mit Recht, dass das göttliche Wesen nach Pannenberg „relational [zu] begreifen“ ist. Das entspricht wiederum der Logik des Feldbegriffs: Denn das Feld ist ja auch nicht unter Absehung von den Singularitäten, die es aufspannen und die in ihm existieren, zu lokalisieren und in seiner Existenz zu identifizieren. 68 Zunächst an Fichte entfaltet (vgl. Henrich 1967), später auch an Hölderlin (vgl. Henrich 1992).

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dieses Feld. Wir werden später noch ein Argument geben, warum darin keine Begrenzung Gottes liegt. Doch schon an dieser Stelle können wir einen wesentlichen Punkt in Kontrastierung zu Henrichs Analyse des Selbstverhältnisses einsehen: Da dieses Selbstverhältnis nur aus der Warte des jeweiligen Selbst – nur erstpersonal – überhaupt zugänglich ist, kann das Wesen seines präreflexiven Selbstbewusstseins ihm auch nicht als Gegenüber entgegentreten. Mit dem göttlichen Wesen verhält es sich anders: Der Sohn etwa muss das Wesen – sein Wesen – nicht in einem atomaren Selbstverhältnis erschließen, sondern hat es immer schon zu seinem Gegenüber, nämlich im Vater, der auch dieses Wesen realisiert, und, in besonderer Weise, im Geist als dritter Person der Trinität. Man kann diese Differenz zur These zuspitzen, dass die Selbstverborgenheit der Person des Menschen wesentlich darin liegt, dass er wesentlich nur eine Person ist – und dass die Selbstoffenbarung Gottes wesentlich darin liegt, dass er drei Personen ist. Nicht zuletzt von daher ist Pannenbergs Kritik an Versuchen zu verstehen, die die (logische) Form des Selbstbewusstseins als Form der Trinität(slehre) in Anschlag zu bringen versuchen. Sie sind letztlich unheilbare Anthropomorphismen. Die immanent-trinitarischen Verhältnisse sind nicht primär erst-, sondern primär zweitpersonale.69 Sie kann man „geistig“ nennen, wenn man als (logische) Grundform des „Geistes“ nicht das Selbstbewusstsein, sondern die immer auch schon Interpersonalität einschließende Personalität fasst. Dies leitet über zu Pannenbergs kritischer Adaption des Geistbegriffs im Kontext seiner Trinitätslehre. (ii) Geist: Pannenberg identifiziert den Begriff des „Feldes“ mit dem des „Geistes“, insofern Gott im Ganzen oder seinem Wesen nach als „Geist“ anzusprechen ist. Dies wirft die Frage auf, wie sich der so verstandene „Geist“ zu demjenigen verhält, der die dritte Person der Trinität und als solche seinerseits ein Gegenüber von Vater und Sohn darstellt. Darauf wird gleich einzugehen sein. Vorher ist jedoch erst zu klären, wie sich die Charakterisierung des „Feldes“ als „Geist“ begreifen lässt. Vorauszuschicken ist, dass Pannenbergs Fokus eher umgekehrt liegt: Den seit der Antike verwendeten Begriff „Geist“ (oder „noûs“) sieht er durch den Feldbegriff einer Klärung zugeführt.70 Der Feldbegriff nämlich nimmt die von Pannenberg anerkannte Einsicht der stoischen Philosophie auf, den Geist (das „pneuma“) nicht personal oder subjektförmig zu denken, und tritt, umgekehrt, dem maßgeblich von Hegel entwickelten Geistbegriff entgegen, der den Geist als solchen mit einem sich intern selbst 69 All dies entspricht wiederum der Logik des Feldbegriffs: Ein Feld tut sich überhaupt nur zwischen distinkten Singularitäten auf. Wäre es nur eine Singularität, gäbe es kein Feld, und die Differenz von Feld und Singularität fiele zu einer (zumindest in dieser Hinsicht) differenzlosen Einheit oder Punktualität zusammen. 70 Vgl. STh I, 414 ff.

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ausdifferenzierenden Subjekt identifiziert, woraus drei Momente des einen Subjekts resultieren, die schon ihrer begrifflich-logischen Form nach – unabhängig von der Frage nach ihrer geschichtlichen Realisierung – nicht dem personalen Charakter der drei trinitarischen Subjekte und ihres aktiven Verhältnisses zueinander genügen können. Die traditionelle Bedeutung des Geistbegriffs aber enthält einen Gedanken, auf den wir oben im Zusammenhang mit dem Feldbegriff gestoßen waren: Dass das „Feld“, von dem in Pannenbergs Trinitätslehre die Rede ist, nicht einfachhin mit dem physikalischen Feld zu identifizieren ist, da Gottes Wesen in seinem Verhältnis zu den drei trinitarischen Personen keinen Zusammenhang darstellt, der in naturwissenschaftlicher Perspektive in angemessener Form zu behandeln wäre.71 Es tritt jedoch noch eine weitere traditionelle Bedeutung des Geistbegriffs hervor, die diesen trinitätstheologisch unverzichtbar macht: nämlich diejenige, die in lebensweltlichen Formulierungen wie „sie waren eins im Geiste“ oder „dort herrscht ein bestimmter Gruppengeist“ zum Ausdruck kommt. Genau diese Bedeutung ist adäquat für die trinitarischen Verhältnisse, wie Pannenberg sie fasst; sie reflektiert den implizit-relationalen Charakter des Wesens Gottes, von dem oben die Rede war: Denn mit dem so verstandenen „Geist“ ist offenkundig kein selbständiges Wesen jenseits der Gruppenglieder (oder ein weiteres Gruppenglied) gemeint, und doch ist die Verbundenheit der Gruppe logisch eben nur auszusagen, wenn sich zwischen „der Verbundenheit der Gruppe“ und „der Gruppe“ (oder „den Gruppengliedern“) begrifflich überhaupt unterscheiden lässt. Diese Unterscheidung nehmen wir in den genannten Beispielen selbstverständlich in Anspruch. Pannenberg hält sie also für keine logischbegriffliche Struktur, die nur am Ort der Trinitätslehre ihren Sinn und Platz hätte, sondern für eine, die in ihrer Grundform schon in unserer lebensweltlichen Rede von Gruppen und ihrer inneren Vertrautheit in Anschlag gebracht wird. Eine Differenz zwischen einer Menschengruppe und der Trinität liegt freilich darin, dass es sich bei einer Menschengruppe um ein durch und durch endliches Gebilde handelt, deren Glieder sündhafte Menschen sind. Letzterem ist geschuldet, dass Menschen die Absonderung vom gemeinschaftlichen Geist um ihrer selbst willen suchen, der Endlichkeit wiederum, dass sie in ihrem Handeln zumindest nicht notwendig das Potential ihrer gemeinschaftlichen Verbundenheit ausschöpfen. Pannenberg:

71 Wenngleich Pannenberg zufolge die von den Naturwissenschaften und (empirischen) Einzelwissenschaften überhaupt zu ergründenden „Kräfte“ und „Felder“ ihrer wesentlichen Wirklichkeit nach nichts anderes sind als die, von denen auch theologisch die Rede ist. Dies legt Pannenberg im Rahmen seiner Schöpfungslehre dar.

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„Auch eine Anzahl menschlicher Personen kann durch einen gemeinsamen Geist zu einer Lebensgemeinschaft verbunden werden. Sie bleibt ihm gegenüber grundsätzlich selbständig, während die trinitarischen Personen gegenüber dem sie verbindenden Geist der Liebe keine Selbständigkeit haben, sondern nur Manifestationen und Gestalten – aber ewige Gestalten – des einen göttlichen Wesens sind.“72

Eine zweite Differenz liegt nun darin, dass der Geist (oder das Feld) zwar auch im Falle der Trinität als solches asubjektiv und apersonal ist, jedoch in differenzierter Weise zu identifizieren ist mit dem seinerseits wiederum subjektförmigen und personalen Geist als dritter Person der Trinität. Auch für diese ist ein Verhältnis der Selbstunterscheidung konstitutiv, dessen konkrete Ausprägung wir hier nicht betrachten müssen; denn im Hinblick auf die logisch-begriffliche Struktur gleicht sie der schon untersuchten Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater. Zu fragen haben wir hingegen, wie genau die „differenzierte Identität“ des Geistes als asubjektives und apersonales Feld mit dem Geist als dritter trinitarischer Person zu denken ist. Diese Frage darf nicht so verstanden werden, als müsste der Geist als dritte trinitarische Person aus dem Geist, den wir als Feld bestimmt und abgeleitet haben (als Implikat des Gedankens der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater), seinerseits abgeleitet werden. Wie auch schon im Falle des Sohnes und seiner Selbstunterscheidung vom Vater, ist auch der Geist als vom Vater und Sohn unterschiedener und sich unterscheidender in der geschichtlichen Offenbarung bezeugt. Pannenberg: „Darin liegt eine Selbstunterscheidung, die den Geist als besondere Person neben Vater und Sohn konstituiert und auf diese beiden bezieht: Wie Jesus nicht sich selbst, sondern den Vater verherrlicht und sich gerade darin als eins mit ihm, als der „Sohn“ des Vaters erwies, so verherrlicht auch der Geist nicht sich selbst, sondern den Sohn und mit ihm den Vater: Gerade dadurch, daß er „nicht von sich aus reden“ wird (Joh 16,13), sondern für Jesus Zeugnis ablegt (15,26) und an seine Lehre erinnert (14,26), erweist er sich als der „Geist der Wahrheit“ (16,13). Darin gehört er als von Vater und Sohn unterschieden zugleich mit beiden zusammen.“73

Die Aufgabe an dieser Stelle kann es also nicht sein, den Geist als dritte Person aus dem Geist als Feld begrifflich abzuleiten. Zu fragen ist hingegen „nur“ danach, wie beide identifiziert werden können, ohne dabei nicht mehr in der in der Frage vorausgesetzten Weise unterscheidbar zu sein: einmal als Geist als Feld, einmal als Geist als dritte trinitarische Person. Ein Teil der Antwort liegt bereits in unserer Formulierung: Es ist zweimal derselbe – Geist –, jedoch unterschieden durch das als seiner jeweiligen Rolle in der Trinität. Ihre Identität liegt

72 STh I, 415. 73 STh I, 343.

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darin, dass Vater und Sohn in ihrem dem-Geist-als-dritter-Person-GegenüberSein ihrem gemeinsamen Grund gegenübertreten, der für sie immer schon vorausgesetzten Fülle ihrer Verbindung, die der Geist als Feld ist.74 Auch wenn es, wie gesagt, nicht die Aufgabe ist, die Notwendigkeit des Heiligen Geistes als dritte Person aus dem Gedanken des Feldes abzuleiten, so lässt sich doch sagen, dass besagtes Gegenübertreten insofern notwendig ist, als es eine Beschränkung Gottes in Person des Vaters und des Sohnes wäre, wenn sie die Fülle nicht vor sich hätten, aus der sie in ihrem Beziehungsleben schöpfen. Genauer: Dass sie aus der Fülle oder ihrem Gemeinschaftsgeist schöpfen, setzt schon voraus, dass sie ein Verhältnis zu diesem als Gegenüber haben. Denn sonst „wüssten“ sie gar nicht, woraus sie schöpfen, der Grund ihrer Selbstunterscheidungsakte wäre ihnen dunkel. Aus all dem folgt nun, dass ihre beiden Selbstunterscheidungsakte schon immer bezogen sind auf den Geist als Gegenüber, und nicht nur auf den Geist als Feld. Deshalb kann Pannenberg sagen: „Gerade dadurch, daß beiden – freilich in verschiedener Weise – das gemeinsame Wesen der Gottheit gegenübertritt in der Gestalt des Geistes, sind sie miteinander durch die Einheit des Geistes verbunden.“75

Nun lässt sich ein Einwand aufbringen, der eine Variation auf MurrmannKahls Kritik einer je bloß perspektivisch gebrochenen Realisierung des Wesens in den drei trinitarischen Personen ist: Pannenbergs Trinitätslehre impliziert soweit zwar, dass der Geist als Feld dem Vater und dem Sohn insofern nicht dunkel bleibt, als er ihnen als dritte Person gegenübertritt. Aber eben als dritte Person, und nicht mehr einfachhin als Feld. Sie haben ihn also nur als personales Gegenüber, nicht aber als das zum Gegenüber, was er als Feld ist, nämlich apersonal und asubjektiv. Ein solcher Einwand läuft wiederum darauf hinaus, einen dunklen Grund in Gott selbst zu denken, der sich selbst Gott entzieht, auch und gerade dann, wenn er sich diesen Grund gegenüberstellt, da er in der Form des Gegenüberstellens nicht mehr ist, was er als Grund ist: Grund.76 Mit Pannenberg ist dieser Gedanke nicht als formal falsch zurückzuweisen, sondern als sachlich gegenstandslos, wenn mit ihm eine Beschränkung Gottes artikuliert werden soll, die dem Begriff des selbstmächtigen und offenbaren – auch sich offenbaren – Gottes zuwidergeht. Denn das täte dieser Gedanke 74 Die begrifflich-logische Struktur eines „als Feld“ und „als (trinitarische) Person“ offenbaren Geistes ist ihrerseits wieder die begrifflich-logische Struktur des Aspektes. Vgl. dazu den obigen Abschnitt 2. 75 STh I, 415 [Hvh. T.O.]. 76 Das ist, der allgemeinen Form nach, das klassische Reflexionsproblem, wie es sich etwa bei Dieter Henrich in Bezug auf das (endliche) Selbstbewusstsein expliziert findet.

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nur, wenn im Geist als personalem Gegenüber etwas fehlen würde, was im Geist als Grund liegt. Doch das ist nicht der Fall – es sei denn, man denkt, wie Murrmann-Kahl, das Wesen als substantiell-subjektive Fülle, dergegenüber jede Person als Erscheinung dieses Wesens nur defizitär sein kann. Doch das, so sahen wir, ist nicht Pannenbergs Begriff des Wesens. Der gemeinschaftliche Geist der drei trinitarischen Personen wird von ihnen gemeinsam voll realisiert, in ihren Akten zueinander. Deshalb ist der formale Einwand – im Wortsinne – gegenstands-los, substanz-los; ganz analog wie die formal gültige Aporie, die darin liegt, dass Gott entweder etwas erschaffen kann, das größer als er ist – dann ist er nicht der Größte – , oder es nicht kann – dann ist er eo ipso auch nicht der Größte. Dieser scheinbare Einwand lebt von einem theologisch unvernünftigen Formalismus, ganz wie der eben zurückgewiesene Einwand bezüglich des Geistes als Feld. Vater und Sohn tritt in der Person des Geistes also ihre Beziehung (Feld) gegenüber; der Geist, insofern er sich vom Sohn unterscheidet und ihn verherrlicht – und damit eo ipso auch den Vater –, hat zum Gegenüber die beiden, deren Beziehung (Feld) er ist. Das wirft schließlich die Frage auf, wie es sich mit dem Geist als Person verhält, insofern er sich selbst von Vater und Sohn unterscheidet: Kann gesagt werden, dass er aus sich selbst schöpft, da er – als Person – derselbe ist wie er als das Feld, aus dem er auch er schöpft? Nun, das kann und muss gesagt werden, wobei aber keine unartikulierte Selbstbezüglichkeit vorliegt, da ja auch hier die Differenzierung in den Geist als Feld und den Geist als Person vorauszusetzen und anzulegen ist. Deshalb spricht Pannenberg auch von einer artikulierten Selbstbeziehung, „daß der personale Geist, indem er den Sohn in seiner Beziehung zum Vater und den Vater durch den Sohn verherrlicht, zugleich auch sich selbst als dadurch mit beiden vereint ‚weiß‘.“77

4.

Schluss: Zum Profil von Pannenbergs Trinitätslehre und Christologie im Vergleich mit Hegel und Ratzinger und zum Problem der „Freiheit“ innertrinitarischer Akte

Fassen wir die Ergebnisse zusammen: Die begrifflich-logische Struktur von Pannenbergs Trinitätslehre besteht im Kern in einer Unterscheidung von Wesen (Gottes), (trinitarischen) Personen und ihren (Selbstunterscheidungs-)Akten. Alle drei Bestimmungsmomente sind gleichursprünglich, da sie nur durch einander explizierbar sind und die Auslassung eines Bestimmungsmoments in logische 77 STh I, 415 f.

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oder theologische Aporien führt. Weiter sind alle drei Bestimmungsmomente nicht reduzierbar auf die beiden anderen. Sehen wir uns dies im Einzelnen an: Der Akt der Selbstunterscheidung ist vom Wesen dadurch zu unterscheiden, dass das Wesen diejenige implizite Verbundenheit der Personen bedeutet, die in diesem Akt schon vorausgesetzt ist, aus der er geschöpft wird. Würde er dies nicht, könnte er nicht so gedacht werden, dass er immer schon vollzogen ist – oder müsste, wenn er so gedacht werden soll, als gekoppelt oder verschmolzen mit dem Akt des Gegenübers gedacht werden, was die Personalität beider und somit das Gegenüber als Gegenüber aufheben würde. Das Wesen tritt also gleichsam zwischen die Akte der Personen und bewahrt diese davor, zu einem unmittelbar zirkulären Akt eines einzigen Subjekts zu verschmelzen. Von der Person bleibt ihr Akt aus elementar-logischen Gründen verschieden, da ihre Identifikation den Gedanken des Aktes und seines Prädiziertwerdenkönnens von einem Aktzentrum aufheben würde. Dass der Akt konstitutiv ist für das Personsein, ist zwar ein Gedanke, der das Verhältnis von Akt und Person komplexer werden lässt, als es bei einem akzidentellen Verhältnis von Person und Akt der Fall ist; doch es hebt die Differenz von Person und Akt, von Aktzentrum und Akt, nicht einfach auf.78 Von der Warte Pannenbergs ist daher an einer instruktiven und klar umreißbaren Stelle ein Widerspruch gegenüber Ratzingers Trinitätslehre anzumelden. Ratzinger schreibt: „Der Sohn ist als Sohn und insoweit er Sohn ist, ganz und gar nicht aus sich und so eben ganz eins mit dem Vater; da er nichts neben ihm ist, nichts Eigenes behauptet, das nur Er wäre, nichts nur ihm Gehörendes dem Vater entgegenstellt, keinen Vorbehaltsraum des bloß Eigenen behält, darum ist er ganz dem Vater gleich. Die Logik ist zwingend: Wenn es nichts gibt, worin er bloß Er ist, keinerlei abgegrenztes Privatim, dann fällt er mit jenem zusammen, ist „eins“ mit ihm.“79

So verwandt Ratzingers und Pannenbergs Trinitätslehren darin sind, dass sie durch das von-sich-Absehen des Sohnes dessen Einheit mit dem Vater fassen – so liegt doch eine Differenz in der von mir in Kursiv hervorgehobenen Stelle: Von der Warte Pannenbergs aus ist zu insistieren, dass es eine Hinsicht geben muss, in der „er bloß Er ist“, nämlich sein Aktzentrumsein.80 Der Akt der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ist nicht ein Akt des Vaters – und gerade 78 Gleich wie die Tatsache, dass ein materielles Objekt im Kraftfeld nicht ohne Kraft wäre, die Kraft also konstitutiv für es ist, begrifflich-logisch nicht impliziert, dass nicht mehr zwischen Objekt und (an ihm ansetzender) Kraft mit Richtung zu unterscheiden wäre. 79 Ratzinger 1968/2014, 177 f. [Hvh. T.O.]. 80 Auch Schwöbel 1998, 149, sieht das, im Anschluss an Pannenberg, sehr klar, wenn er sagt, dass die „hypostatischen Identitäten von Vater, Sohn und Geist“ „in interner Relationalität konstituiert“ seien, „aber […] selbst keine Relationen, sondern die relational konstituierten Relate dieser Relationen“ sind.

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darin der in seiner Logik unumkehrbare Akt der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater. Wie gesagt, kappt Pannenberg durch den Begriff des „Wesens“ (oder „Feldes“) den Kurzschluss des Aktes des Sohnes mit dem Akt des Vaters, wodurch sich beide zu einem Akt zusammenschließen würden. Deshalb ist der Sohn in exakt diesem Punkt nicht, wie Ratzinger ohne Ausnahme sagt, „ein Sein, das ganz und gar […] geöffnet ist“81 – so einig Pannenberg mit Ratzinger darin ist, dass der Sohn „nichts Eigenes behauptet“, also keine Abgrenzung gegenüber dem Vater durch Geltendmachen eines Eigenen, Vorbehaltenen, Privaten vollzieht. Die Irreduzibilität seiner Aktzentrizität ist ja nicht ein solches, sondern Bedingung der Möglichkeit des Aktes, welcher der vollkommene Verzicht auf ein solches ist. Nur durch die Abhebung des „göttlichen Wesens“ als „Feld“ kann also zusammengedacht werden, dass der Akt der Selbstunterscheidung konstitutiv für das Personsein der Personen (und ihre Gottheit) ist und zugleich Akt dieser Personen als irreduzibler Aktzentren bleibt, also nicht in einer Reziprozität mündet, die letztlich die Zirkularität des einen göttlichen Aktes ist, der den Gedanken der drei Personen suspendiert. (Das sah Pannenberg, wie gesagt, bei Hegel vor sich gehen.) Kurz gesagt heißt das: Gottes Wesen – die Gottheit Gottes – besteht funktional auch darin, drei Personen möglich zu machen. Sofern es das tut, sind die drei Personen ganz von ihm abhängig. Sofern diese drei Personen aber die sind, die aus ihm schöpfen, es somit also erst in Realität sein zu lassen, hängt es ganz von diesen drei Personen ab.82 Niemals aber wird dieses Wesen selbst zum handelnden Subjekt. Das göttliche Wesen hatten wir auch als Fülle, Vertrautheit oder (Gemeinschafts-)Geist der drei Personen untereinander bestimmt; als Inbegriff oder Summa seiner Bestimmung hat entsprechend die biblisch bezeugte „Liebe“ zu gelten, wie Pannenberg explizit hervorhebt. Dass Pannenberg entgegen gewisser doxographischer Meinungen keine „Christologie von unten“ lehrt, die einen Übergang vom bloßen Menschsein zum Gottmenschen darstellen (oder die menschliche Natur Jesu Christi allein in Allgemeinbegriffen fassen) will83 , hat folgende Implikation: Pannenberg kann nicht vertreten, dass der Akt der Selbstunterscheidung ein Akt wäre, den Jesus jemals hätte unterlassen können. Er ist nicht frei im Sinne der Wahlfreiheit, des Kriteriums der alternativen Möglichkeiten. Die Differenz zu Hegels 81 Ratzinger 1968/2014: 178 [Hvh. T.O.]. 82 Womit auch Danz’ 2019, 134, an Schwöbel 1998 gerichtete Frage beantwortet ist, wie das Wesen Gottes „durch die trinitarischen Relationen“ konstituiert sein soll: Ohne sie wäre das Wesen nicht. Danz scheint hier demselben Wesensbegriff aufzusitzen, mit dem auch Murrmann-Kahl 1997 operiert. 83 Dass dem so ist, hat Pannenberg freilich selbst hervorgehoben und gerade in der Systematischen Theologie und ihrem Werkumfeld präzisiert. Vgl. dazu auch Wenz 2011, 69 ff.

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Trinitätslehre und Christologie liegt also nicht darin, dass Pannenberg Jesus zunächst als den in Allgemeinbegriffen voll zu begreifenden Menschen vorstellt, der den Akt der Selbstunterscheidung wählt, während Hegel zufolge der Begriff des Absoluten nur in drei notwendigen Momenten zu entfalten ist. Dass Pannenberg nicht so gegen die Notwendigkeitskonzeption Hegels opponiert, impliziert jedoch nicht, dass er es nicht auf andere Weise tun würde. In der Tat: Pannenberg zufolge ist der Akt der Selbstunterscheidung nicht notwendig – in dem Sinne, wie Pannenberg dies sowohl für Hegels wie auch für Barths Bestimmung der zweiten trinitarischen Person in ihrem Gott- und Menschsein diagnostiziert. Gemäß der von mir entwickelten Pannenberg-Interpretation ist der Akt der Selbstunterscheidung keiner, der sich aus dem Begriff Gottes ableiten ließe und in diesem Sinne notwendig ist. Er ist nicht die Entfaltung eines Begriffs – etwa des selbstbewussten unendlichen Geistes – oder, wie bei Barth, des (formalen) Gedankens der Offenbarung, „Gott offenbart sich als der Herr“. Vielmehr gehört zu seiner theologischen Rechtfertigung, wie in Abschnitt 1 dargestellt, als Grund und Hintergrund der schrift- und dogmengeschichtliche Bezug konstitutiv hinzu. Und mehr noch: Die Wirklichkeit Jesu Christi als dieser, der Mensch und Gott ist, macht ihn seiner menschlichen Natur nach von jeher zu einem Menschen, der sich aus der Fülle des göttlichen Wesens heraus konsequent von Gott als seinem himmlischen Vater unterscheidet. Dass er dies faktisch immer schon vollzogen hat, bedeutet nicht, dass er es notwendig vollzieht. Im Vordergrund von Pannenbergs Kritik an Hegel und Barth steht aber nicht einmal ein bestimmter Notwendigkeitscharakter ihrer trinitarischen oder christologischen Theoriebildung, sondern vielmehr der Befund, dass sie die zweite Person der Trinität so denken, dass von ihr kein Akt oder keine Handlung prädiziert werden kann, die nicht in Wahrheit eine Handlung des einen Ganzen ist.84 In Bezug auf Pannenberg ist zu sagen, dass er die Handlung der zweiten Person aufgrund ihrer Beziehung zu der ersten und dritten Person als etwas denkt, das von der zweiten Person also immer schon aus Beziehung vollzogen wird, aus einer impliziten Beziehung zu den anderen Personen heraus; doch das bedeutet nicht, dass sie in Wahrheit von diesen anderen Personen und nicht von der zweiten Person allein vollzogen würde. Nein: Vielmehr steht der Sohn von jeher so in der Fülle der Liebe, die das göttliche Wesen ist, dass es für ihn keine Alternative dazu gibt, seinem Vater die Fülle seiner Liebe zu geben – und, insofern der Vater den Sohn liebt, ihm seine Liebe auch zurückzugeben. Doch das ändert nichts daran, dass er ihm die Fülle seiner Liebe zurückgibt, 84 Damit einher geht, dass Hegel nach Pannenbergs Urteil die Akte oder Vollzüge Gottes als einseitig theoretisch auffasst, nämlich als Selbstbewusstsein oder Selbstwissen, nicht aber als personales Handeln. Vgl. dazu MuG, 31 ff., sowie auch TuP, 265 ff. Für eine zumindest teilweise Verteidigung Hegels in diesem Punkt siehe Oehl 2018a und Oehl 2018b.

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und nicht der Vater sich selbst vermittels des Sohnes liebt; nicht, wie Hegel plastisch schreibt, ein „Spielen der Liebe mit sich selbst“85 vorliegt. Zwei Differenzen gegenüber Hegel (und Barth) also sind es, die bleiben: Pannenbergs klares Bekenntnis zur Historizität des Diesen – und Pannenbergs Konzeption des Diesen als eines selbstständigen Aktzentrums. Beides bleibt unerschüttert davon, dass auch Pannenberg keine Ableitung des Gottmenschen aus Handlungen des Menschen vorgelegt hat – und die Handlung der Selbstunterscheidung keinen Wahlfreiheits- oder sonstigen trivialen Freiheitscharakter haben kann. Es liegt nahe – und Pannenberg verfährt auch so – an dieser Stelle den Zusammenfall von Freiheit und Notwendigkeit in Gott zu behaupten. Das ist richtig, vor dem Hintergrund unserer Überlegungen aber in einer Weise zu konkretisieren, die diese Behauptung gegen den Verdacht bloßer Vereinigungsrhetorik zu immunisieren vermag: Der Vollzug des Aktes der Selbstunterscheidung, so hat sich gezeigt, ist ein Schöpfen aus der Fülle des göttlichen Wesens. Es ist – gleichsam kindlich – einleuchtend, dass der, der in diese Fülle gestellt ist, jenseits der Alternative von Freiheit und Notwendigkeit steht. Denn er kann angesichts der Fülle nicht anders – doch was sollte ihm ein Defizit daran sein, und was sollte ihn zwingen, wenn es gar nichts in ihm gibt, was sich auch nur momenthaft dagegen kehren könnte? Der Sünder muss dagegen erkennen, dass selbst seine Begriffe – Freiheit und Notwendigkeit in ihrem Gegensatz – nur aufgrund seines abgründigen Willens zur personalen Vereinzelung her ihre logische Plausibilität haben; und dass er sein Personsein aus sich selbst verfehlt, auch noch als schon Gerechtgesprochener, indem er nicht oder nur gegen Widerstände von sich absehen, Christus durch Selbstunterscheidung Raum geben und ihm im Modus der Selbstunterscheidung nachfolgen kann: „Christsein heißt für Johannes: Sein wie der Sohn. Sohn werden, also nicht auf sich und nicht in sich stehen, sondern ganz geöffnet leben im ‚Von-her‘ und ‚Auf-zu‘. Soweit der Christ ‚Christ‘ ist, gilt das für ihn. Und freilich wird ihm an solchen Aussagen bewusst werden, wie wenig er Christ ist.“86

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Joachim Ringleben

Rückwirkende Konstitution Zu einem spekulativen Gedanken Pannenbergs

I. 1.Wolfhart Pannenberg schreibt in OaG (2 1963): „Und dieser eschatologische Charakter der Auferstehung Jesu als Vorwegnahme des Endgeschehens an Jesus begründet … ihre ursprüngliche Bedeutung als Offenbarung Gottes“ (142).1 Zur genaueren Erläuterung dieser Rolle der Antizipation des Endgeschehens in Jesu Auferweckung als der „ursprünglichen“ Gottesoffenbarung bezieht Pannenberg sich auf die Denkfigur der rückwirkenden Konstitution; er sagt von den einzelnen Gliedern des vorausgehenden Geschichtsverlaufes: „sie tragen nicht schon in sich, was sie in Wahrheit sind. Vielmehr entscheidet sich erst vom Ende her, was der Sinn des ganzen Weges und seiner einzelnen Begebenheiten war“ (142 A. 25; Hervorh. J.R.).2 Dem Wort „entscheidet“ kommt, wie Pannenberg ausdrücklich sagt, eine „ontologische Tragweite“ zu (ebd.).3 In diesem starken Sinn ist zu lesen, wenn es hier auch heißt: „Das Endgeschehen enthüllt nicht nur, sondern entscheidet auch erst die Bedeutung alles Vorläufigen, und indem es so die Geschichte als Ganzes und den wahren Sinn ihrer einzelnen Gestalten und Begebenheiten konstituiert, macht es zugleich Gott … abschließend offenbar“ (ebd., Hervorh. J.R.).4 Eine solche Konstitution ist retroaktiv: ihr Ereignis geht nur so definitiv auf die Zukunft zu und in sie ein, dass es zugleich auch die Vergangenheit (bzw. das Vergangene selbst) neu und endgültig bestimmt. Das aber gilt nicht nur (ontologisch) für den Geschichtsverlauf, sondern fundamental auch (theologisch) für Gott selber, sofern 1 Pannenberg beruft sich zur überlieferungsgeschichtlichen Begründung dafür auf das apokalyptische Geschichtsverständnis, demgemäß die Offenbarung von Gottes Herrlichkeit und Gottes selber (!) im Zusammenhang mit dem Endgeschehen erwartet wurde (a.a.O. 142). 2 Der Ausdruck „konstituiert“ findet sich auch a.a.O. 3 Das Endgeschehen entscheidet über Wahrheit und Wirklichkeit alles Vorläufigen; cf. den frühen Aufsatz: „Was ist Wahrheit?“ (1962), wo unter Berufung auf Hegel herausgearbeitet wird, dass die Wahrheit erst am Ende von allem vollendet ist (in: GSTh 1 (3 1979), 218); zum Enden als Wahrheit des Endlichen cf. G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden. 5, 139f. 4 In genau diesem starken Sinn, nämlich ontologisch statt nur noetisch, ist es zu verstehen, wenn es hier auch heißt, dass die Geschehnisse des Geschichtsverlaufs „ihrerseits erst vom Ende her ihr endgültiges Licht erhalten“ (142 A. 25).

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er dessen wahres Subjekt ist, da ja alles Offenbarungsgeschehen „mit seinem Wesen eins“ ist (97) und ebenso das Ende der Geschichte „als Offenbarung Gottes mit seinem Wesen eins“ ist (ebd.). Heißt es weiter: „Das Wesen Gottes, obwohl von Ewigkeit zu Ewigkeit dasselbe, hat in der Zeit eine Geschichte“ (ebd.),5 so wird deutlich: Auch die ewige Identität Gottes mit sich kommt aus der Geschichte zu sich selber; sie konstituiert sich als ewig, soz. rückwärts, vom Ende der Zeit her.6 2. Dieser theo-logische Gedanke rückwirkender Konstitution wird von Pannenberg dann in Chr. (2 1966) christologisch konkretisiert und zugleich näher ausgeführt. Seine Theorie von einem „retroaktiven Sinn der Auferstehung Jesu“ nimmt da betont für sich in Anspruch, eine traditionelle Aporie zu überwinden, nämlich „das Dilemma zwischen einer entweder schon anfänglich vollendeten oder erst durch ein späteres Ereignis des Weges Jesu verwirklichten Einheit mit Gott“ (317).7 Für diese zweite Seite des Dilemmas bezieht Pannenberg sich kritisch auf W. Künneth, der annahm, dass Jesus erst infolge seiner Auferweckung die Gottheit empfangen habe.8 Dieser Gedanke ist für Pannenberg nicht haltbar (134), und er hält den eigenen Gedanken dagegen, „daß mit der Auferweckung der Charakter der Bestätigung des vorösterlichen Anspruchs verbunden ist“, mithin einer rückwirkenden Kraft (134). Diese Bestätigung gilt nun aber nicht nur für uns (noetisch), sondern an sich (ontologisch). Denn Pannenberg fährt fort: „Insofern hat das Auferweckungsgeschehen rückwirkende Kraft. Jesus wird nicht einfach zu etwas, was er vorher nicht gewesen wäre, sondern sein vorösterlicher Anspruch wird von Gott her bestätigt. Diese Bestätigung, die Manifestation der ‚Gottessohnschaft‘ Jesu von Gott her, ist das Neue des Ostergeschehens“ (ebd.).9

5 Zu einem Werden in Gott cf. auch Chr. 157; entsprechend heißt es a.a.O., wie o. Anm. 3, 217, dass die Wahrheit selbst wesentlich eine Geschichte hat. 6 So ist der Satz zu verstehen, „daß der biblische Gott in gewissem Sinne selbst eine Geschichte hat“ (97) – eben die des Sichabstoßens aus der Zeit in die eigene Ewigkeit. Cf. in Chr. das Postulat: „daß das jeweils neu im göttlichen Leben Aufleuchtende zugleich als immer schon in Gottes Ewigkeit wahr“ verstanden werden können muss (332) und: „Erst von dem her, was zeitlich mit dem Gewicht des Endgültigen geschieht, ist mit rückwirkender Gültigkeit entschieden, was in Gottes Ewigkeit wahr ist“ (ebd.). 7 Zuende gedacht bedeutet dies Werden der Einheit Jesu mit Gott (wegen des o. Anm. 6 Zitierten) auch die Vollendung von Gottes Einheit mit sich selber (s.u. Anm. 15). 8 Cf. Pannenberg a.a.O. 133f. 9 An die zitierte Formulierung „Wird nicht einfach zu etwas, was er vorher nicht gewesen wäre“ (Hervorh. J.R.) knüpft der von mir im Text entwickelte Begriff des Werdens zu sich an. In der Bestätigung durch Gott manifestiert sich die Vollendung dieses „Werdens“. Zum Begriff „Werden zu sich“ cf. J.Ringleben, Der lebendige Gott (Tübingen 2019), 230ff.

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Was hier Bestätigung und Manifestation genannt wird,10 ist eindeutig eine (bzw. die) retroaktive Wirksamkeit Gottes. Es heißt weiter: „Aber als Bestätigung hat es rückwirkende Kraft für das vorösterliche Auftreten Jesu“ (ebd.). Dieses sei „für sich genommen noch nicht als göttlich autorisiert erkennbar“, und es war „über dessen Autorisierung auch noch nicht definitiv entschieden“ (ebd.). Was vor dem Auferstehungsereignis „noch nicht“ entschieden, d. h. vollendete Realität war, ist dann „aber im Lichte der Auferweckung Jesu in seiner göttlichen Legitimation offenbar“ (ebd.). Was zunächst noch nicht endgültig wirklich war, wurde es in rückwirkender Kraft dann von Gott her (cf. auch 378).11 Welches ist, so müssen wir fragen, nun genau der Status Jesu gewesen, wenn er (im Sinne der o. genannten Alternative) weder schon anfänglich vollendet war noch erst bei seiner Auferweckung überhaupt seine Gottheit zusätzlich erhielt? Die Antwort muss mit dem von Pannenberg nicht gebrauchten Begriff des „Werdens zu sich“ gegeben werden.12 Diese gedankliche Figur ist in Pannenbergs Aussage identifizierbar, für seine Christologie sei entscheidend, dass sie „von der Auferstehung Jesu so ihren Ausgangspunkt nimmt, daß sie deren Bestätigungscharakter erkennt und also von der Auferweckung her Jesus auch schon vorher mit Gott eins weiß“ (135) – sie also in ihrem „rückwirkenden Sinn“ (ebd.). Von hier aus ist es auch zu verstehen, wenn Pannenberg sich für seine Ansicht, es gälte von der Auferstehung her „rückwirkend, daß Jesus als Person in keiner Hinsicht und zu keiner Zeit von Gott zu trennen ist“ (140), auf den Satz von P. Althaus beruft: „Jesus war das, was er ist, ehe er darum wußte“ (ebd.). In solcher Perspektive teilt Pannenbergs Christologie mit I.A. Dorner „das Interesse am Werden der gottmenschlichen Einheit im irdischen Wege Jesu“ (317) und macht darüber hinaus den „Bestätigungssinn der Auferweckung Jesu mit der ihm eigenen rückwirkenden Kraft“ zum Angelpunkt für die Erkenntnis von Jesu Person (ebd.).13 10 Cf. dazu auch Pannenberg a.a.O. 62f. 11 Werden zu sich, in diesem Sinne aufgefasst, ist dieselbe Einheit von Schon und Noch-nicht, die Jesu Verkündigung des Gottesreiches kennzeichnet; cf. dazu J.Ringleben, Jesus. Ein Versuch zu begreifen (Tübingen 2008), 113ff. 12 Cf.: „Wenn Bewegung als ein Werden auf ein Ziel hin verstanden wird, so muß das angestrebte Ziel, das am Ende ‚vollkommen‘ erreicht sein wird, schon auf dem Wege irgendwie gegenwärtig und wirksam sein, sonst könnte das Bewegende sich nicht auf das Ziel hinbewegen“ – so deutet Pannenberg den aristotelischen Begriff der Entelechie; sie bedeutet „sowohl das Am-Ziel-Sein als auch schon die Weise, wie das Ziel in der auf es hinführenden Bewegung gegenwärtig und wirksam ist, nämlich als ein … noch nicht erreichtes“ (MuG 77). 13 Cf. bezüglich des Werdens zu sich auf dem Wege Jesu die wohl rhetorische Frage Pannenbergs: „Die Inkarnation könnte vielleicht angemessener als ein Prozeß, der sich durch das ganze

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3. Eine bloß noetische Bedeutung der retroaktiven Bestätigung von Jesu Einheit mit Gott wird von Pannenberg ausdrücklich zugunsten einer ontologischen abgewehrt: „Durch seine Auferweckung … ist nicht nur für unsere Erkenntnis, sondern auch der Wirklichkeit nach entschieden, daß Jesus mit Gott eins ist, und zwar nun rückwirkend, daß er auch schon zuvor mit Gott eins war“ (135; Hervorh. J.R.).14

Die Manifestation in der Gegenwart bestimmt mithin rückwärts auch den Status des Vergangenen und dies sogar für die Ewigkeit.15 Zugleich gilt der Sachverhalt: „daß von der Auferweckung Jesu her, vom Ende seines Weges her rückwirkend sein Wesen begründet ist“, nicht nur für unsere Erkenntnis seiner, sondern „seinshaft“ für ihn (ebd.). Dies ist aber kein Sonderfall, sondern es handelt sich für Pannenberg dabei eigentlich „um einen Sachverhalt von allgemeiner, ontologischer Relevanz“ (134).16 Es geht dabei freilich nicht mehr um eine Ontologie im antiken Sinn, für die „ein Seiendes seinem Wesen nach immer schon ist, was es ist“ bzw. „was im Wechsel der Veränderungen beharrt“ (134), sondern soz. um das Denken einer „Ontologie des Noch-nicht-seins“ (E. Bloch),17 für das sich „immer erst durch

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Leben Jesu hinzieht und zu immer engerer Verbindung mit Gott führt, gedacht werden?“ (314). Hier folgt der Hinweis auf Dorner. Als „Entscheidung“ ist hier das Zu-sich-Kommen der Wirklichkeit gedacht, die nur so gegenwarts- (und zukunfts-) bestimmend ist, dass sie auch die Vergangenheit mit sich neu bestimmt und so als Werden zu sich endgültig realisiert. Cf.: „Vom Bestätigungscharakter der Auferweckung Jesu her gesehen liegt es nun in der inneren Logik der Sache, daß Jesus immer schon mit Gott eins war, nicht erst von einem bestimmten Datum seines Weges ab. Und im Hinblick auf die Ewigkeit Gottes besagt der Offenbarungscharakter der Auferweckung Jesu, daß Gott immer schon eins ist mit Jesus, auch schon vor dessen irdischer Geburt. Jesus ist von Ewigkeit her Repräsentant Gottes in der Schöpfung …“ (152). Dies ist er aber als der, der es zugleich von seiner Auferweckung her ist. Stärker lässt sich die retroaktive Konstitution wohl nicht betonen als so, dass sie auch für die Ewigkeit (rückwärts) bestimmend ist (cf. o. Anm. 6 und zur Schöpfung u. Anm. 20). Pannenberg weist a.a.O. sowohl auf die „rückwirkende Kraft“ im juristischen Sinne hin, aber auch darauf, dass ein solcher Begriff von einem (rückwärts konstitutierten) Wesen der griechischen Philosophie noch fremd war. Erst ein Denken, für das die Zukunft derart offen ist, dass sie wesensbestimmend unvorhersehbar Neues hervorbringen kann (faktisch handelt es sich um das biblische Denken), kommt dies in den Blick. Es sei daran erinnert, dass auch für M. Heidegger in spezifischem Sinne gilt: „Das Jetzt geht nicht schwanger mit dem Noch-nicht-jetzt, sondern die Gegenwart entspringt der Zukunft in der ursprünglichen ekstatischen Einheit der Zeitigung der Zeitlichkeit“ (Sein und Zeit (Tübingen 10 1963), 427).

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die Zukunft (entscheidet), was an einer Sache ist“ (ebd.).18 Es ist das eschatologisch ausgerichtete, israelitische Wahrheitsverständnis, „demzufolge das Wesen einer Sache nicht immer schon – wenn auch im Verborgenen – feststeht, sondern erst entschieden wird durch das, was aus ihr wird“ (407).19 Das bringt den Gedanken von einer Wahrheit mit sich, die (zukunftsbezogen) im Werden zu sich begriffen ist: „Das Wesen eines Menschen oder eines Zustandes, oder auch der Welt überhaupt, ist dann noch nicht daraus zu erkennen, was jetzt davon sichtbar ist. Erst die Zukunft wird darüber entscheiden“ (134), nämlich seinshaft und rückwirkend.20 So ist das Denken quasi-ontologisch nach vorne ausgerichtet: „Es muß sich erst noch zeigen, was aus dem Menschen und aus dem Zustand der Welt in Zukunft werden wird“ (134f; cf. 1Joh 3, 2).21 Zugleich aber gilt, und hier schlägt Ontologie in Dialektik um, dass eben diese Zukunft auch endgültig das Vergangene neu bestimmt. 4. Einige Näherbestimmungen zu diesem spezifischen Konzept finden sich in Pannenbergs kleiner Schrift MuG (1988), bes. in dem Abschnitt 5: „Begriff und Antizipation“ (66–79). Hier wird der Gedanke des Werdens zu sich so ausgesprochen, dass die darin implizierte Retroaktivität betont wird: „rückwirkende Konstitution des Wesens der Sache, die im Werden ist, von dessen Ende her“ (77). Wenn nun aber die „Entscheidung über das Wesen, die am Ende des Weges fällt, … rückwirkende Kraft“ hat (76), welchen Status hat dann (der Möglichkeit nach oder in der Disposition dafür) der Anfang dieses Weges?22 Oder anders gefragt: Wie ist das Ziel auf dem Wege selber gegenwärtig? Dafür tritt bei Pannenberg der Begriff der Antizipation ein.23 Weil die rückwirkende Kraft der Konstitution sich nur so realisiert, dass sie sich aus ihrer Herkunft schon entgegenkommt und so eine auf sich selber zugehende Bewegung ist, darum ist sie sich auch schon voraus, und „Antizipation“ ist für Pannenberg

18 Cf. in MuG die rhetorische Frage: „Könnte es sein, daß die antizipative Form des Erkennens einem Moment des ‚Noch nicht‘ in der Wirklichkeit entspricht, auf die sich das Erkennen richtet?“ (75). 19 Cf. o. Anm. 3. 20 So gilt vom antizipierten Eschaton her retroaktiv auch protologisch: „daß das Eschaton, das in Jesus vorweg erschienen ist, die Zeit und den Ort darstellt, von dem her die Schöpfung erfolgte. Erst aus der Zukunft entscheidet sich ja nach biblischer Auffassung das Wesen der Dinge. Was an ihnen ist, entscheidet sich dadurch, was aus ihnen wird. So geschieht also die Schöpfung von Ende, von der letzten Zukunft her“ (169; cf. auch 237 u. 407). 21 Zu dieser wichtigen neutestamentlichen Stelle cf. J.R., a.a.O., wie o. Anm. 9, 897ff. 22 In der aristotelischen Terminologie gesprochen: „Die [noch nicht vollendete] energeia als Bewegung zielt auf die [vollkommene] entelecheia“ (77). Pannenberg versucht hier, Aristoteles und Hegel zusammenzudenken. 23 Dazu: L. Kugelmann, Antizipation. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung (Göttingen 1986); bes. 23–56.

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bei allen Lebensvorgängen die Weise, wie sie „immer schon das (sind), was sie im Prozeß ihrer Genese erst noch werden“ (88).24 In seinem großen Hegel-Vortrag von 197025 deutet Pannenberg zutreffend die Gedankenbewegung in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ wie in der „Wissenschaft der Logik“ von diesem Gedanken der Antizipation her: als „Rückgang in den Grund“, der zugleich nur als Weg nach vorn da ist; dabei ist das Denken der logischen Bestimmungen „selbst auf eine Zukunft seiner Wahrheit bezogen, aus der es entspringt, indem es auf sie vorgreift“ (111 A. 96). Demgemäß spricht Pannenberg davon, dass „die Hegelschen Gedankenbestimmungen (sich) in ihrer dialektischen Natur an ihnen selbst als antizipatorisch (erweisen)“ (ebd.). Ehe dieser Hegel-Bezug der Logik „rückwirkender Konstitution“ genauer rekonstruiert werden soll (III), seien zunächst einige allgemeinere Überlegungen zu diesem Theorem angestellt. II. 1.Das Theorem einer rückwirkenden Konstitution (oder besser, um den Ereignischarakter zu betonen: Konstituierung) entspricht nicht der üblichen Vorstellung von einem Konstitutionsverhältnis. Danach geht die konstituierende Instanz (fundierend) dem zu Konstituierenden sachlich und meist auch zeitlich voraus. Wenn es so etwas gibt, wie eine rückwirkende Konstitution, so verändert das klarerweise den Sinn des Begriffs „Konstitution“ völlig. Denn „rückwirkend“ besagt hier eine spezifische Umqualifizierung des vorausgesetzten Umfeldes bzw. Hintergrundes des neu zu Konstituierenden; spezifisch, weil es bzw. er auf das zu Konstituierende direkt bezogen und davon wesentlich abhängig ist oder wird, und zwar so, dass er (es) von diesem (im Modus des „Zuvor“) umfassend begründet und durch es in seinem Eigenwesen vollständig anders und neu bestimmt wird. Jenes vorausgesetzte Umfeld bzw. jener Hintergrund wird durch die Retroaktivität an ihm selbst etwas Anderes, als es (er) zuvor gewesen ist. Das zunächst zeitlich Vorausgehende verliert seine Unmittelbarkeit und hat seinen neuen Grund in einem ihm Folgenden. Daher ist das „Zurück“ ein Sich-etwas-Voraussetzen, und zwar von daher sich abstoßend, von wo das Zurückwirken ausgeht und wodurch die ursprünglich unmittelbare Instanz 24 Von da aus ist der auf Hegel verweisende Satz zu verstehen: „Der philosophische Begriff selbst wird sich als Antizipation darstellen“ (68). 25 „Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels“; in: Gottesgedanke und menschliche Freiheit (2 1978), 78–113.

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zur (eigenen) Voraussetzung umbestimmt wird: neu qualifiziert und vermittelt durch das ihm zeitlich erst Folgende. Derart brauchen keine dem Ereignis äußerlichen Voraussetzungen in Anspruch genommen werden, um es zu begründen. Das, was hier „rückwirkende Konstitution“ genannt wird, steigt als ein rückläufiges Begründungsverfahren26 offenbar aus der üblichen Kausalkette mit ihrer einsinnigen Zeitrichtung von vorhergehendem Grund und nachfolgendem Begründeten aus bzw. kehrt sie um – kontraintuitiv. Diese „Zeitumkehrung“ widerspricht der gewöhnlichen Zeitvorstellung, nämlich der eines einsinnig nach vorne gerichteten, für unumkehrbar gehaltenen „Zeitpfeiles“, also einer von der durch die Vergangenheit bestimmten Gegenwart irreversibel weiter in die Zukunft hin sich bewegenden Zeit.27 2. In den Modellen empirisch-alltäglicher oder physikalischer Zeitvorstellung ist die rückwärtige Konstitution nicht zu fassen; zu ihr gehört vielmehr ein spezifischer Begriff von Eschatologie, und d. h. vom Verhältnis Zeit – Ewigkeit.28 Ist „Wirken“ in der Regel ein Wirken nach vorne und kennt man „Rückwirkung“ sonst z. B. nur in der Mechanik, wo sie aber auch nur als etwas Simultanes auftritt, so ist die hier gemeinte ontologische Retroaktivität davon grundsätzlich zu unterscheiden. Denn es handelt sich bei der rückwirkenden Konstitution nicht um irgendeine, mehr oder weniger zufällige Auswirkung auf das vorgegebene Umfeld; vielmehr ist diese in einem starken Sinn „zielgerichtet“, denn sie meint eine grundlegende Veränderung der Gesamtlage aller einschlägigen Verhältnisse und Beziehungen, sofern sie als Ausgangsbedingungen in Frage kommen. Das modifiziert, wie gesagt, entscheidend die Rede von der Zeit. Der Ausdruck „rückwärts“ ist zwar eigentlich eine räumliche Metapher, meint hier aber ein zeithaftes Geschehen, bezieht sich nämlich auf die Vergangenheit bzw. das Vergangene als solches. Bei der rückwärtigen Konstitution läuft die Zeit soz. in umgekehrter Richtung. 26 Cf. dazu H.F. Fulda, Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik (III. Das Erfordernis rückläufigen Begründungsverfahrens); in: R.-P. Horstmann (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels (Frankfurt a.M. 1978), 41–43 (stw 234): 27 So hat bereit E. Jüngel vom spezifischen Zeitverständnis der Gleichnisse Jesu gegen die normale Zeitvorstellung hervorgehoben: „Die Zeit ist bewegte Zeit. Sie erhält ihre Bewegung vom Ende der Zeit“ (Paulus und Jesus (Tübingen 3 1967), 141). Auch H. Weder redet im Anschluss an E. Fuchs von der „Bewegung der Zeit selbst“ (Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (Göttingen 1990), 37). Daran zeigt sich, dass das übliche Denken über die Zeit für ein eschatologisches Verständnis der Zeitstruktur des Reiches Gottes ganz ungeeignet ist. Cf. auch M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O. 427 A. 1. 28 Cf. dazu Pannenberg, MuG 74 und Chr. 331f. Für eine entsprechend ausgeführte Eschatologie (in biblischem Horizont) verweise ich auf § 16 meiner Gotteslehre (a.a.O., wie o. Anm. 9, 882–963).

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Man kann auch sagen: das Spätere zieht das Frühere an sich29 und überformt es von sich her. Es eignet sich das Vorausgehende – als das, woher es kommt – an, um es als Moment seines eigenen Wohin zu bestimmen. Damit ist gesagt: Der wahre Ursprung des rückwärts Konstituierten liegt vorn, und von da aus wird es retroaktiv qualifiziert als das, was es jetzt ist. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine „Fremdkonstitution“, sondern vielmehr um eine Selbstkonstitution: ein Sichhervorbringen aus selbstgesetzter (bzw. selbstbestimmter) Voraussetzung.30 Denn die („ontologisch“) retroaktive Bewegung ist so – durch das Auf-sich-Zulaufen ihrer Voraussetzungen – zugleich immer auch eine in sich zurückkehrende Bewegung. Ist der Ursprung vorn, so ist mit Hegel gesprochen, „der Fortgang ein Strom mit entgegengesetzter Richtung fortleitend zum Anderen, aber so zugleich rückwirkend, daß dasjenige, was als das Letzte … erscheint, vielmehr als das Erste, als der Grund erscheint“.31 3. Dass das zeitlich Folgende sich im ihm Vorausgehenden seine eigene Voraussetzung beschafft, von der her es ist, was es ist, geschieht im Zuge eines „Gegenstoßes“: das retroaktiv Konstituierende erreicht seine neue Unmittelbarkeit im Sichabstoßen von seiner Vermittlung, die es selber sich vorausgesetzt hat. So ist das retroaktiv Konstituierte nur der Weg zu der neuen Unmittelbarkeit selbst. Dazu noch einmal Hegel: „Wir werden so in dem Vermittelten den Gegenstoß der Bewegung … sehen, die vorwärts geht und ebenso zurückstößt“.32 Dies ist indes nur möglich, weil und insofern im Vorausgehenden (Vergangenen) irgendwie schon sukzessive vorbereitet ist, was dann in der rückwärts gerichteten Konstitution definitiv ans Licht tritt. Das spätere, alles entscheidende Ereignis zieht das sich früher Vorbereitende in sein Sein hinein und qualifiziert es so als seine Vergangenheit neu.33 Das bedeutet: damit es so etwas wie eine rückwirkende Konstitution geben kann, muss das Vergangene für etwas Kommendes offen gewesen (also in sich selber unvollendet) sein;34 dies ist aber ein Zug an ihm, der erst von seiner 29 Hier legt sich de Erinnerung an Aristoteles nahe, der vom „unbewegten Beweger“ als letztem Zweck sagt: κινεῖ δὲ ὡς ἐρώμενον (Met XII, 7; 1072 b 3). 30 „Konstitution“ ist hier also eine Selbsthervorbringung, vermittelt durch eine Selbstentzweiung bzw. eine Selbstunterscheidung. 31 A.a.O., wie o. Anm. 3, 16, 111; cf. auch o. Anm. 18. 32 A.a.O. 16, 70. 33 Neutestamentlich ist das an der Geschichtstheologie des Hebräerbriefs exemplarisch zu studieren, insbes. an seinem typologischen Verfahren; cf. dazu J.Ringleben, Wort und Geschichte. Kleine Theologie des Hebräerbriefs (Göttingen 2019), bes. 119ff. 34 Gegen Schillers: „Ewig still steht die Vergangenheit“ (Sprüche des Konfuzius (1.)) ist theologisch, aber auch philosophisch mit allem Nachdruck Einspruch zu erheben. Jedenfalls für Gott ist die Vergangenheit nicht abgeschlossen.

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Erfüllung her als „Verheißung“ erkennbar wird. Nur so ist verständlich, dass es die spätere Rückwirkung auf es aufnehmen kann bzw. dafür anknüpfungsfähig ist. 4. Im Sinne des Dargelegten setzen auch Pannenbergs Erörterungen zur rückwärtigen Konstitution ganz allgemein voraus, dass das Zukünftige (d. h. hier die Auferweckung Jesu), wenn eingetreten, auch die Vergangenheit neu qualifizieren kann. Das entsprechende Wirklichkeitsverhältnis dürfte so zu beschreiben sein: Da außer der rückwärtigen Konstitution natürlich auch das Normale gilt, dass das Vergangene das Zukünftige bestimmt, ist die Wirklichkeit im Ganzen als ein lebendiges Geflecht von (zeitlich gesprochen) Wirkungen nach vorne und Wirkungen zurück zu begreifen. Genau das besagt aber für die Zeit (als „Medium“ allen Geschehens), dass sie nicht nur vorwärts weiterfließt, sondern in sich auch Rückwirkungen möglich macht; und insofern kann man sagen, die Zeit fließt auch zurück bzw. in umgekehrter Richtung. 5. Die gleich genauer darzustellende Logik der rückwirkenden Konstitution entspricht nicht nur der Logik des zu sich erst kommenden Subjektseins überhaupt,35 sondern sie stellt sich bemerkenswerter Weise auch in der Sprache dar, was hier kurz zu erwähnen ist.36 Sprachliche Sätze haben oft die Eigenart, dass sich ihr Sinn erst von ihrem letzten Wort her erschließt und sind so rückwärts produktiv.37 In ihnen waltet die Dialektik, dass, was jedes einzelne Wort im Satz (als syntaktisches Glied) zu seinem Sinnaufbau unverzichtbar beiträgt, zugleich – in gegenläufiger Bewegung – seinen endgültigen Sinn erst vom Ende des Ganzen her in definitive Bestimmtheit findet. Die vorwärts gerichtete Sinnbewegung des Satzes wird mithin von einer rückwärts gerichteten simultan durchdrungen. Insofern ist ein solcher Satz sprachlich im Werden zu sich.38 III. Pannenbergs Gedanke der rückwirkenden Konstitution ist einer bestimmten Logik verpflichtet, die es nun herauszuarbeiten gilt. Dafür beziehe ich mich auf 35 Dass Gott erst am Ende der Geschichte, auch insofern sie seine eigene ist, wahrhaft absolutes Subjekt ist, hat Pannenberg stets gegen K. Barth geltend gemacht; cf. z. B. „Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre“ (1972); in: GSTh 2, 107 sowie OaG 15, 17, 95 (These 2), 96f, 104 (Gottheit Gottes), 113 und STh I, 26, 472f u.ö.; cf. 472f sowie Anthr. 16. 36 Über den Zusammenhang von Logik und Sprache cf. meinen Aufsatz: Die Sprachlichkeit von Hegels Logik; in Th.S. Hoffmann/H. Neumann (Hg.), Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie (Berlin 2019), 111–128. 37 Ähnlich über das Auffassen einer Melodie (oder eines Gedichtes) als ganzer im Verlauf ihres Nacheinander: Pannenberg (im Anschluss an Augustin), STh I, 442. 38 Cf. J. Stenzel, Philosophie der Sprache (Handbuch der Philosophie. SD (München/Berlin 1934), 14ff, 44f u. 48f.

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Hegels „Wissenschaft der Logik“, deren zweitem Buch, der Lehre vom Wesen und seiner (objektiven) Reflexivität, Pannenbergs spekulatives Konzept ganz offensichtlich verpflichtet ist, wenn auch Pannenberg selber dies, soweit ich sehe, nirgends explizit gemacht hat. 1.Vom Werden der allgemeinen logischen Sphäre des „Wesens“ (im spezifischen Sinne Hegels verstanden) wird folgende Dialektik ausgesagt: „Dies Werden hat aber die Bedeutung des Gegenstoßes seiner selbst, so daß das Gewordene vielmehr das Unbedingte und Ursprüngliche ist“ (a.a.O. 6, 274). Aus dem Werden geht – sich davon abstoßend39 – das „Ungewordene“ hervor, und das dabei Resultierende ist das eigentlich Ursprüngliche. Werden ist hier eine konstitutive Entzweiung in sich selber; wie Hegel sich ausdrückt: „ein Strömen nach zwei entgegengesetzten Richtungen [sc. vor und zurück], die sich schlechthin in Einem begegnen und durchdringen“.40 Dabei koinzidieren, wie Hegel selber sagt, „das rückwärtsgehende Begründen des Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben“ (6, 570).41 Ist das Voranschreiten in Wahrheit ein Hineingehen in den eigentlichen Grund des dieser Bewegung Vorausliegenden, so bedeutet das reflexionslogisch: „erst in dem das Unmittelbare aufhebenden Tun wird dies Unmittelbare selbst …; das Anfangen von sich selbst ist erst das Setzen dieses Selbst, von dem das Anfangen ist“ (6, 220).42 Das heißt: im Verlassen der vorausgehenden unmittelbaren Gegebenheit (als soz. dem Ausgangspunkt) wird dieser zur unmittelbaren Voraussetzung dessen, worauf die Bewegung zugeht. Diese verschafft sich im Rückstoß ihre eigene Voraussetzung. Und vom Ziel her (vermittelt) wird das vorausgesetzte Unmittelbare allererst zu dem, was es ist; genau das ist die „rückwirkende Konstitution“. Hegel beschreibt dies als voraussetzende Reflexion: „Die Reflexion ist also die Bewegung, die, indem sie Rückkehr ist, erst darin das ist, das anfängt oder das zurückkehrt“ (6, 26; Hervorh. J.R.). Diese Bewegung ist einerseits „Setzen, insofern sie die Unmittelbarkeit als ein Rückkehren ist“. Andererseits ist sie zugleich „Voraussetzen“, denn „die 39 Es geht um ein dialektisches Umschlagen: ein „Übergehen als Aufheben des Übergehens [sc. in einsinniger Richtung]“ (6, 76). 40 A.a.O. 9, 38 (Enz. § 252 Zus.). 41 Entsprechend gilt für Hegel, „daß das Vorwärtsschreiten in der Philosophie vielmehr ein Rückwärtsgehen und Begründen sei, durch welches erst sich ergebe, daß das, womit angefangen wurde, … in der Tat teils das Wahre, teils das erste Wahre sei“ (5, 70). Darin besteht der Weg der Logik, „daß das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird“ (ebd.). 42 Der letzte Satz des Zitats erklärt, inwiefern es sich hier um eine „Selbstkonstitution“ handelt; s.o. Anm. 30.

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Reflexion ist als Aufheben ihres Anderen, der Unmittelbarkeit“ (ebd.) – einer Unmittelbarkeit, die sie zugleich neu konstituiert, wie wir gesehen haben. Demnach ist „dies Voraussetzen das auf das Setzen rückschlagende Setzen“ (6, 84; Hervorh. J.R.). Das also ist das Hegelsche „Wesen“, das in der Selbstentzweiung eines immanenten Gegenstoßes allererst zu seiner Gleichheit mit sich findet: „Es setzt sich selbst voraus, und das Aufheben dieser Voraussetzung ist es selbst; umgekehrt ist dies Aufheben seiner Voraussetzung die Voraussetzung [sc. im Sinne des Voraussetzens] selbst“ (6, 27). Genau das, was hier Sich-Voraussetzen heißt, ist die logische Bedeutung der rückwärtigen Konstitution, die nur im Verlassenwerden ihrer ist, was sie ist. 2. Ich füge jetzt einige Äußerungen aus der Hegel-Interpretation von Chr. Iber an, die sich in seinem großen Buch zur Wesenslogik Hegels finden und die meine Zusammenschau von Pannenbergs spekulativem Theorem der rückwirkenden Konstitution mit der voraussetzenden Reflexion ebenfalls (und unabhängig) zu legitimieren geeignet sind.43 Zu den o. von mir angeführten Stellen (6, 26) schreibt Iber zusammenfassend: es komme nach Hegel „im Voraussetzen zur rückläufigen Restitution der Unmittelbarkeit gegen die Reflexion“ (152). Aber zugleich gilt: „Damit hat sich für die Unmittelbarkeit in der Reflexion Neues ergeben“ (151).44 Weiterhin sind die Interpretationen Ibers einschlägig, wo er über die „Konstitution des Grundes als in sich umgewendete Reflexionsbewegung“ handelt (488ff). Er erklärt die beiden Hegelschen Sätze: „Somit ist das Wesen als Grund ein Gesetztsein, ein Gewordensein“ (6, 69) und den anderen: „Aber umgekehrt hat sich nur dies gesetzt, daß … das Gesetztsein ein Aufgehobenes, nur als Gesetztsein [sc. im Sinne von: Vorausgesetztsein] ist“ (ebd.). Dazu Iber selber: „‚Umgekehrt‘, sagt Hegel, wird in diesem Prozeß, der vom ‚Gegensatz‘ anhebt [den Hegel zuvor behandelt hatte], dieser retrospektiv gesetzt und begründet“ (489). Er nennt diese Dialektik paradox, weil „diese gegenläufigen Bewegungsrichtungen … von Hegel simultan aufgefaßt werden, als zwei in sich gegenläufige Bewegungsrichtungen einer in sich umgewendeten Reflexion“ (ebd.). Im Vorübergehen sei Folgendes kurz festgehalten: Iber beschreibt den Sachverhalt bei Hegel, „daß der Prozeß der Konstitution des Wesens als Grund … die Existenz des Grundes nicht schon von vornherein voraussetzt. Vielmehr ist er erst durch das Zugrundegehen der selbständigen Reflexionsbestimmungen gesetzt und entstanden“ (489). Eben diese dialektische Figur eines gewordenen 43 Chr. Iber, Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den ersten beiden Kapiteln von Hegels Wesenslogik (Berlin/New York 1990). 44 Genauer zu diesem Neuen in einem zweifachen logischen Sinn cf. Iber a.a.O. 163

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Grundes, der nach rückwärts (begründend) wirkt, hat eine bemerkenswerte Analogie in dem, was W.v. Humboldt in seinem sog. Ersten Hauptsatz über die Sprache formuliert: „Durch denselben Act, vermöge dessen er [sc. der Mensch] sie aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein“.45 Logisch verhält es sich also so, dass ein allererst gewordener Grund wahrhaft das begründet, woher er seinerseits kommt. Iber formuliert das so: „Diese zwei in sich gegenläufigen Bewegungsrichtungen machen die eine in sich umgewendete Bewegung der sich selbst ausschließenden Reflexion aus“ (497); entsprechend kann er auch von dieser in sich gegenläufigen Bewegung als von einer „in sich umgewendeten Rückkehr“ sprechen (490). Diese ganze dialektische Bewegtheit hin zum Werden eines Grundes, der seinerseits erst alles ihm Vorausgehende rückwärts begründet, fasst Iber schließlich in dem Satz zusammen: „Das System der Reflexionsbestimmungen ist eine fortschreitende Bewegung, die in der Einheit des Grundes in sich zurückläuft“ (498). Mit diesen Bemerkungen dürfte das Pannenbergsche Konzept einer „rückwirkenden Konstitution“ logisch-spekulativ hinreichend aufgeklärt sein. IV. Zum Schluss dieser Darlegungen möchte ich noch auf einige Äußerungen drei anderer Philosophen aufmerksam machen, die gleichfalls den Gedanken der Retroaktivität, wie er uns bei Pannenberg und Hegel begegnet, berühren, wenngleich sie das auch in ihrem jeweils spezifischen Kontext tun.46 1. Ich beginne mit einem längeren Zitat aus E. Husserls „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“ (1893–1917).47 Dort schreibt er von einem „Grundstück apriorisch-phänomenologischer Genese“: „Die Erinnerung ist in einem beständigen Fluß, weil das Bewußtseinsleben in beständigem Fluß ist, und nicht nur Glied an Glied in der Kette sich fügt. Vielmehr wirkt jedes Neue zurück auf das Alte, seine vorwärtsgehende Intention erfüllt sich und bestimmt sich dabei, und das gibt der Reproduktion eine bestimmte Färbung. Hier zeigt sich also eine a priori notwendige Rückwirkung. Das Neue weist wieder auf Neues, das eintretend sich bestimmt und für das Alte die reproduktiven Möglichkeiten modifiziert usw.“ (54)

45 Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe (Hg. A. Leitzmann), Band VII, 60. 46 Es versteht sich von selbst, dass solche Belege keine Vollständigkeit erwarten lassen, und ebenfalls, dass sie keineswegs eine echte Wirkungsgeschichte des Hegelschen Theorems zu skizzieren beanspruchen können. 47 Husserliana X (Hg. R. Boehm), Haag 1966.

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Auch ohne genauere Interpretation, die auch Unterschiede zum bisher Behandelten ergeben würde, ist ohne weiteres ersichtlich: Husserl beschreibt, wie wir es schon bei Hegel sahen, das Phänomen eines Fließens nach zwei Richtungen, als das Protention und Retention sich simultan ereignen. Damit wird in Husserls Phänomenologie des Zeitbewusstseins – sicher von Hegel unabhängig – die retroaktive Konstitution in der Sphäre des (im Sinne des Hegelschen Systemgedankens gesprochen) subjektiven Geistes bzw. für die Region des Bewusstseins aufgezeigt.48 Die Logik von Retroaktivität beherrscht somit auch die „Realphilosophie“, so wie sie bei Pannenberg in der Sphäre des objektiven Geistes (geschichtsphilosophisch) bzw. sogar des absoluten Geistes (theologisch) wirksam ist. 2. Diese Logik ist auch für den – systemtheoretisch nicht leicht zuzuordnenden – Bereich der Sprache nachweisbar.49 Josef König, dem diese logische Gedankenfigur wohl auch von Hegel her bekannt war, schreibt 1937 in seinen „Bemerkungen zur Metapher“ über die rückwirkende Verwandlung des sinnlich Gewahrten durch die es verlautbarende Sprache: „Ein zeitlich Erstes ermöglicht also ein Folgendes, rücksichtlich dessen gilt, daß es nun auch seinerseits dieses Erste allererst zu dem macht, als welches wir es kennen. Mit dem Begriff einer innersten und gleichsam unterirdischen Rückwirkung eines wesentlich Folgenden auf ein wesentlich Anfangendes versuche ich dieses seltsame Verhältnis ins Bewußtsein zu heben“. 50 Unverkennbar begegnet mit dieser Figur einer „unterirdischen“ Rückwirkung zugleich auch die o. erwähnte des Werdens zu sich.51 Denn durch die hier beschriebene Leistung einer rückwärtigen Konstitution wird die Sprache, wie König ausdrücklich vermerkt, „zu sich verwandelt“ (a.a.O. 173). Gleichfalls expliziert König in diesem Zusammenhang auch die dialektische Verkehrung von Anfang und Grund, die wir bei Hegel kennengelernt haben: „Die Rückwirkung degradiert somit in gewisser Weise den Anfang und das Prinzip zu einem auch Folgenden und Prinzipiierten“ (175). König nennt hier nirgends Hegel, aber in seinem gleichfalls 1937 erschienenen, höchst bedeutenden (und viel zu wenig bekannten) Hauptwerk „Sein und Denken“52 lässt sich noch eine andere Spur für die Herkunft des Motivs rückwirkender Konstitution ausfindig machen. Er behandelt im § 28 den „Selbstunterschied“ der Vernunft, die als ein „in sich“ etwas Vernehmen, d. h. 48 In der heutigen Psychologie kennt man Begriffe wie „retroaktive Interferenz“ und „retroaktive Sozialisation“. 49 S. dazu schon o. II. 5. und bei Anm. 45. 50 Kleine Schriften (Hg. G. Dahms), Freiburg/München 1994, 174. 51 S. I. 2. und bei Anm. 12 u. Anm. 9 u. 14. 52 Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie (Tübingen 2 1969).

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als Einheit „von Künden und Vernehmen, Reden und Verstehen der Rede“ sich selbst vorausgeht (144). Dazu schreibt er: „Die Vernunft ist dieses Sichinterpretieren. Der Charakter des Selbst, der ihr … zukommt, erwächst aus der ‚immanenten rückwendig-produktiven Bewegung‘, die Denken des Denkens ist“ (144f). Den für unser Thema einschlägigen Ausdruck „immanent rückwendigproduktive Bewegung“ hat König, wie er selbst in einer Fußnote zur Stelle sagt, von seinem Lehrer Georg Misch übernommen, und zwar aus dessen wichtigem (Heidegger!) Buch „Lebensphilosophie und Phänomenologie“ (1930).53 Misch stellt in einer Auseinandersetzung mit Diltheys Kategorien des Lebens bezüglich des Verhältnisses von Wissen und Erleben54 das Folgende heraus: „Bewußt vollzogen aber, in der Besinnung, die sich vollendet in der logischen Reflexion über die Kategorien, die ‚am Leben aufgehen‘, führt die ‚Operation‘ das menschliche Leben in sich selbst zurück; denn es handelt sich ‚nur‘ darum, jene immanente rückwendig-produktive Bewegung des Wissens begrifflich aufzuklären, durch die der Zusammenhang des Lebens in seinen eigenen ‚strukturellen Formen‘, den Kategorien, zur ausdrücklichen Entfaltung gelangt: zu einer ‚Explikation’, die zugleich Schaffen ist“.55 Die Einzelheiten des Kontextes dieser Stelle sind jetzt nicht aufzuklären; wichtig für uns ist vorderhand, dass das Motiv unseres Themas von Misch in einer Hermeneutik bewussten Lebens (und Erlebens) verortet wird, was durchaus auch mit Hegel konvergiert. Die von Misch zitierte Wendung „Explikation, die zugleich Schaffen ist“ ist wiederum für König noch einmal Anlass, jenes Motiv zur Sprache zu bringen. In der umfänglichen Abhandlung zum Gedenken an seinen Lehrer „Georg Misch als Philosoph“ (1967)56 führt er aus: „Die Sprache also und näher denn … die Worte schließen das Leben auf oder legen es aus, und zwar so, daß sie 53 Leipzig/Berlin (2 1931), 56. Misch seinerseits könnte zu dieser gedanklichen Prägung durch (seinen Schwiegervater) W. Dilthey angeregt worden sein. Zu dieser Vermutung passt es, dass auch Pannenberg bemerkt, dass der Gedanke einer „rückwirkenden Konstitution des Wesens der Sache, die im Werden ist, von dessen Ende her“ (MuG 77) „erst in Diltheys Analysen der Geschichtlichkeit des Erlebens zum Durchbruch kam“ (ebd.). Außerdem bezieht Misch selber sich an der genannten Stelle unmittelbar zuvor auf Dilthey (a.a.O. 55). In Betracht kommt hier möglicherweise auch Diltheys Feststellung über das Verstehen der Äußerungen anderer Personen (z. B. in einem Gedicht): „Das Verstehen ist an sich eine dem Wirklichkeitsverlauf selber inverse Operation“ (Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft; Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben; in: Gesammelte Schriften, Band VII (Leipzig/Berlin 1927), 214). 54 Dilthey, a.a.O. 18. 55 Misch, a.a.O. 55f. Der letzte zitierte Ausdruck verweist auch auf Dilthey; cf. a.a.O. VII, 231. Cf. auch die auch auf die Hermeneutik anzuwendenden Sätze Hegels u. Anm. 59. 56 Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse. Jahrgang 1967; Nr. 7 (Göttingen 1967).

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explizieren … in einer Weise, die es rechtfertigt zu sagen, daß diese Worte das Explizierte zugleich irgendwie schaffen oder hervorbringen oder auch produzieren … . Für Misch ist diese Explikation durch die Worte ein ‚geistiger Grundakt‘ … und er beschreibt diesen Akt als die ‚rückwendig-produktive Vergegenständlichung der Erlebnisse‘“ (227).57 König beschließt sein Misch-Referat mit dem Satz: „Zusammenfassend können wir das, was durch die Sprache ursprünglich geschieht, als die ‚rückwendigproduktive Vergegenständlichung‘ der Erlebnisse beschreiben“ (228).58 Hatte Pannenberg das Motiv rückwirkender Konstitution insbes. ontologisch und theologisch thematisiert, so wird es in Königs Misch-Rezeption vor allem sprachphilosophisch wichtig. 3. Zum Schluss dieser beispielhaften Hinweise auf den Gedanken einer rückwärtigen Konstitution anhand verschiedener Anwendungs- oder auch Zeigfelder soll noch in größtmöglicher Kürze der Bereich der Hermeneutik genannt werden.59 Dafür soll hier die Kombination zweier Zitate aus H.-G. Gadamers „Wahrheit und Methode“60 stehen: „Dem Beweglichen verschieben sich die Horizonte. So ist auch der Vergangenheitshorizont, aus dem alles menschliche Leben lebt und der in der Weise der Überlieferung da ist, immer schon in Bewegung“ (288). Das ist über das Prinzip der Wirkungsgeschichte gesagt, und es akzentuiert zumindest stark die Beweglichkeit, und d. h. Unabgeschlossenheit und Veränderung, der Vergangenheit im Voranschreiten der Folgegeschichte.61 Eben von dem wirkungsgeschichtlichen Moment in der hermeneutischen Erfahrung handelt eine zweite Stelle, die mit der „Unabschließbarkeit der Sinnhorizonte“ zu rechnen fordert: „Geschichtliche Überlieferung kann nur so verstanden werden, daß die grundsätzliche Fortbestimmung durch den Fortgang der Dinge mitgedacht wird“ (355; Hervorh. J.R.).

57 Von den Erlebnissen, in denen sich das eine Leben auseinanderfaltet, wird gesagt, dass sie „uns von den sie ausdrückenden Worten her gleichsam entgegen kommen“ (227). D.h. Sprache ist der Ort ihres Werdens zu sich. 58 Cf.: „So gilt auch von dem Ich, daß es erst mit dem Ich-sagen entsteht“ (228). 59 Grundsätzlich auch hermeneutisch einschlägig dürften die Sätze Hegels aus der Reflexionslogik sein: „Die Reflexion also findet ein Unmittelbares vor, über das sie hinausgeht und aus dem sie die Rückkehr ist. Aber diese Rückkehr ist erst das Voraussetzen des Vorgefundenen. Dies Vorgefundene wird nur darin, daß es verlassen wird“ (a.a.O. 6, 27). Über die „Bewegung des Wesens selbst“ heißt es bei Br. Liebrucks: „Die äußere Reflexion wird das immer als Hermeneutik bezeichnen … . Im sprachlichen Weltumgang [sc. der Hegelschen Logik!] dagegen bleibt das hermeneutische Moment stets aufbewahrt“ (Sprache und Bewußtsein. Band 6/2 (Frankfurt a.M./Bern 1974), 315). 60 Tübingen 4 1975. 61 Cf. theologisch o. Anm. 33.

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Das ist ein Satz aus der Hermeneutik,62 dem auch Wolfhart Pannenberg in seinem Verständnis der rückwirkenden Konstitution hätte zustimmen können.

62 E. Jüngel führt von Ernst Fuchs den Satz an: „eine in der Zeit erst später erscheinende Folge, ein Späteres“ könne durchaus „in (oder als) Wahrheit das den Anfang hervortreibende Frühere sein“ (Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes; in: Unterwegs zur Sache (München 1972), 139).

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Gott in Christo Eine Erinnerung an Pannenbergs theologischen Lehrer Heinrich Vogel

1.

Christozentrische Dogmatik

Zu Weihnachten 1951 bekam der damals 23-jährige Wolfhart Pannenberg von „seinem Heinrich Vogel“, wie es in der handschriftlichen Widmung hieß, ein Exemplar von dessen im Spätherbst selbigen Jahres im Berliner Lettner-Verlag erschienenen Buches „Gott in Christo“1 geschenkt. Vogel (1902–1989), streitbares Mitglied der Bekennenden Kirche, seit 1935 Dozent ihrer illegalen Ausbildungsstätte, die er später leitete, und während der Zeit des Nationalsozialismus mehrfach inhaftiert, lehrte nach dem Krieg Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin.2 Dort 1 H. Vogel, Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, Berlin 1951. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Als Dank für die „Grundzüge der Christologie“ ließ Vogel Pannenberg am 16.Januar 1963 seine doxologische Auslegung des Nizänokonstantionopolitanum zukommen (H. Vogel, Das Nicaenische Glaubensbekenntnis. Eine Doxologie, Berlin/Stuttgart 1963). Konzeptionell entscheidend ist die Annahme, wonach die Glaubensaussagen des ersten und entsprechend auch des dritten „(n)ur unter dem Vorzeichen des zweiten Artikels, nur in dem von diesem Zentrum her fallenden Licht“ (45) möglich und vollziehbar sind. 2 Zur Biographie und zum Werk Vogels vgl. zusammenfassend K.-G. Wesseling, Art. Vogel, Heinrich, evangelisch-lutherischer Theologe (Dogmatiker) und geistlicher Komponist, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XII, Herzberg 1997, 1554–1563. Der Artikel enthält neben einem eigenen Verzeichnis der Werke Vogels Hinweise auf einschlägige Bibliographien, die in ThLZ (87 [1962], Sp. 471–476; 97 [1972], 793–796) und anderwärts erschienen sind. Ein umfangreiches Sekundärliteraturverzeichnis ist beigegeben. Zu Vogels theologischem Zeugnis im „Dritten Reich“ und zu seinen politischen Aktivitäten im geteilten Nachkriegsdeutschland vgl. den Vortrag von G. Besiers anlässlich der akademischen Gedenkfeier für Vogel an der kirchlichen Hochschule Berlin am 9. Januar 1991: „Heinrich Vogel – Ein Lutheraner im bruderrätlichen Flügel der Bekennenden Kirche“, in: Berliner Theologische Zeitschrift 7/8 (1990/91), 232–244. „Vier Monate nach Kriegsende erfuhr Vogel die wohl schwerste Demütigung seines Lebens. Ihn, der von 1935 bis 1941 unter schwierigsten Bedingungen an der Kirchlichen Hochschule Systematische Theologie gelehrt hatte, lehnte die Berliner theologische Fakultät als akademischen Lehrer ab.“ (234) Als Grund der Ablehnung wurde das Fehlen „gedruckte(r) Arbeiten von ausgesprochen wissenschaftlicher Bedeutung“ (235) angegeben, wie Otto Dibelius in einem persönlichen Schreiben an Vogel mitteilte. Erst nach längeren Widerständen wurde Vogel auch von der Humboldtuniversität als Extraordinarius berufen. Zu Vogels „Brückenfunktion zwischen Ost und West“ und seinem Verhältnis zur DDR-Regierung

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hatte Pannenberg im Sommersemester 1947 sein Theologiestudium begonnen; er blieb, gefördert durch ein kirchliches Stipendium, drei Semester lang, bis er zur Vertiefung seiner Studien an die Göttinger Georg-August-Universität wechselte. Eine Schwerpunktbildung in Systematischer Theologie und Philosophie zeichnete sich bereits in Berlin ab. Pannenberg besuchte Seminare über Leibniz, Kant sowie die Gegenwartsphilosophie und betrieb allgemeine philosophiegeschichtliche Studien unter Konzentration auf die Neuzeit. Intensiv beschäftigte ihn das Problem des Verhältnisses von Christentum und Sozialismus, wozu er zwei Lehrveranstaltungen besuchte. Die gleiche Zahl ist im Studienbuch zum Thema der Christologie verzeichnet; eine dieser Lehrveranstaltungen im WS 47/48 wurde von Vogel angeboten, bei dem Pannenberg im darauffolgenden Semester fernerhin eine vierstündige Vorlesung zu Dogmatik II und ein zweistündiges Seminar zum Tridentinum besuchte. Im Juli 1948 bekam er vom dogmatischen Lehrer ein glänzendes Zeugnis ausgestellt: „Er ist einer der begabtesten, wenn nicht überhaupt der begabteste unter allen Studenten, die bisher durch meine Kollegs und Seminare gegangen sind“, schrieb Vogel in einem maschinenschriftlichen und mit eigenhändiger Unterschrift versehenen Testat.3 Seine Erkenntnisleidenschaft und Fähigkeit, die sich in seinen sehr intensiven und umsichtigen Studien dokumentiere, verdienten jede Förderung. Intensiv und umsichtig studiert hat Pannenberg, wie zahlreiche Unterstreichungen und Randnotizen belegen (vgl. Pannenberg-Bibliothek Buch Nr. 02104), offenbar auch das Weihnachtsgeschenk seines Berliner Dogmatikprofessors. Das Werk ist in zwei Teile gegliedert: der erste beinhaltet die Lehre von Gottes Wort, Sein und Wesen, der zweite handelt von Gottes Werken, demjenigen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Pannenbergs besonderes Interesse hat das christologische Kapitel auf sich gezogen. Dies entspricht der Gesamtanlage des Vogelschen Werkes, das zwar

und zur SED vgl. 239 ff. Zur Zentralität des „Wunder(s) der Stellvertretung Jesu Christi“ im theologischen Denken Vogels vgl. 236 ff., hier 237: „Das Wunder der Stellvertretung besteht nach Vogel darin, daß Gott durch seine Fleischwerdung an die Stelle des Menschen trat, des Menschen im Widerspruch seiner Schuld. Die Stellvertretung Jesu Christi führt Gott in die äußerste Tiefe des vom Menschen selbstverschuldeten Widerspruchs.“ 3 Vgl. im Einzelnen: G. Wenz, Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 13–47, hier: 16f. „An Autobiographical Sketch“ Pannenbergs mit wichtigen Hinweisen zu seinen Studienjahren enthält der von C.E. Braaten und Ph. Clayton herausgegebene Sammelband „The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques, with an Autobiographical Essay and Response“ (Minneapolis 1988, hier: 11–18); vgl. ferner: W. Pannenberg, An Intellectual Pilgrimage, in: D.R. Nelson/J.M. Moritz/T. Peters (Ed.), Theologians in Their Own Words, Minneapolis 2013, 151–161.

Gott in Christo

nicht christomonistisch, wohl aber dezidiert christozentrisch verfasst ist (vgl. VII f.). Titelgemäßes Ziel des Ganges durch die Grundprobleme der Dogmatik ist es, „Gottes Wort, Sein und Wesen, wie es in seinen Werken sich uns erschließt, in Christo zu erkennen“ (VII). Es lag in der Konsequenz dieser Zielsetzung, dass Vogel seine Dogmatik, wie er im Vorwort schrieb (vgl. ebd.), an Stelle der von manchen Leser erwarteten Fortsetzung seiner Christologie anbot, von der nur der erste Band ausgearbeitet wurde und deren monographische Fortschreibung angesichts der Erfordernisse der Berliner Lehrtätigkeit zurückgestellt werden musste.4 Eine Kurzfassung des christologischen Gesamtentwurfs ist in Vogels Dogmatik eingegangen, deren innere Mitte und organisierendes Zentrum ohnehin die Christologie darstellt, sofern Gott sich in der Kraft seines Heiligen Geistes in Jesus als dem Christus für uns als er selbst erschließt. In der Christusoffenbarung wird nicht dieses oder jenes, sondern Gott selbst in seinem unergründlichen Geheimnis als Gott für uns offenbar. In seinen „Grundzügen der Christologie“ von 1964 hat Pannenberg Vogels Begriffs der Offenbarung als Selbstoffenbarung eigens vermerkt5 und hinzugefügt, dass ausdrücklich erst bei ihm „die Einzigkeit der Offenbarung als Konsequenz des Begriffs der Selbstoffenbarung dargestellt worden“ (Chr., 129) sei. „Wer die Selbstoffenbarung erkennt, der hat sie damit schon in der ihr wesentlichen Einzigkeit erkannt, der kann nicht mehr allerlei Nebenoffenbarungen dichten und träumen, denen eben nicht die Qualität der Selbstoffenbarung und das heißt damit der Göttlichkeit zukäme.“ (204)

Verbunden ist diese Feststellung mit einem expliziten Verweis auf die erste These der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen vom Mai des Jahres 1934, wonach Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt werde, das eine Wort Gottes sei; die Lehre hingegen, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem

4 H. Vogel, Christologie. Erster Band, München 1949.Vogel hat den Entwurf seiner Christologie, deren erster Band „noch inmitten der Lehre von der Person Jesu Christi abbricht“ (VI), „während der Verfolgungszeiten der illegalen kirchlichen Hochschule als Dozent für Dogmatik vorgetragen“ (V) und in ausgearbeiteter Gestalt „innerhalb der Trümmer des Berliner Domes zu Gehör gebracht, dessen erhaltengebliebene Seitengemächer der Theologischen Fakultät der Berliner Universität als Vorlesungsräume dien(t)en“ (ebd.). Der publizierte Text erörtert nach Eingangserwägungen zur christologischen Frage den Namen des Christus Jesus, um dann im Rahmen der Lehre von der Person Jesu Christi von Grund, Ereignis und Erkenntnis der Menschwerdung Gottes und von der wirklichen und wahren Menschheit des Gottmenschen als des Mittlers zwischen Gott und Mensch zu handeln, womit der Band endet. 5 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh2 1966 (= Chr.), 125, Anm. 27.

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einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen, sei zu verwerfen.6 Das offenbare Geheimnis des deus pro me bzw. des deus pro nobis ist kraft des göttlichen Geistes in Jesus Christus beschlossen und erschlossen, der als der eine und einzige Offenbarer Gottes zu erkennen und zu bekennen ist. Vogels Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik folgt diesem Grundsatz, der ihren Ausgang und Eingang umschreibt. Nach einleitenden Erwägungen zur Existenzialität des dogmatischen Denkens in seinem Bestimmtsein durch das Herrengeheimnis der Wahrheit und Erörterungen zu Entstehung und Ursprung des Dogmas sowie zu Begriff und Aufgabe der Dogmatik behandelt Vogel die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments als Urkunde des kirchlich bezeugten Offenbarungsglaubens, um daraufhin den Zusammenhang von Offenbarung und Glauben eigens zu thematisieren. In der Offenbarung, die ihrem Wesen nach Selbstoffenbarung als Namens-, Wesen-, Wort- und Tatoffenbarung, ihrer Gestalt nach geschichtliche Offenbarung, Offenbarung des verborgenen Gottes und von schlechthinniger Einzigkeit dergestalt ist, dass von protologischer Uroffenbarung und eschatologischer Herrlichkeitsoffenbarung allein von der Heilsoffenbarung Jesu Christi her angemessen die Rede sein kann, findet der Glaube als vertrauende Hingabe, gehorsame Anerkenntnis, dankbare Entscheidung und wägende Zuversicht den Grund seiner selbst. Das solus Christus und das sola fide bilden so einen differenzierten Zusammenhang von eindeutigem Richtungssinn, der vom sola scriptura her im sola gratia sich vollendet. Gnadenliebe ist die in Jesus Christus durch den Heiligen Geist gegebene Antwort auf die Frage, wer Gott sei. Die Trinitätslehre, die nach Vogel ihren Ursprung in dem alles Begreifen transzendierenden Namen des Christus Jesus hat, expliziert diese Antwort, der Danksagung und Gebet korrespondieren, worin theologische Reflexion ihre Erfüllung findet. Theologie ist Vogel zufolge eine Funktion kirchlicher Doxologie; seinen Beruf als Verfasser zahlreicher Kirchen- und Psalmlieder nahm er daher mindestens ebenso ernst wie seine 6 Eine Abschrift der Barmer Theologischen Erklärung von Pannenbergs eigener Hand ist dem Exemplar des Predigtbandes „Gott ist größer“ (Berlin 1952) beigelegt, das Vogel ihm – versehen mit einer lateinischen Version des Titels – hatte zukommen lassen. (Vgl. Pannenberg-Bibliothek 02110). Die Größe Gottes, über die hinaus Größeres nicht gedacht zu werden vermag, ist, so Vogel, endgültig darin manifest, dass Jesus Christus sich selbst bis zum Tode am Kreuz erniedrigte und in die tiefsten Tiefen des Abgrunds der Hölle hinabfuhr, um uns tödlicher Verderbnis verfallenen Sündern Anteil zu geben an seiner himmlischen Herrlichkeit. Die Predigtsammlung „Gott ist größer“ sollte deshalb ursprünglich „Gott im Abgrund“ betitelt werden: „Gott im Abgrund, das ist ja niemand anders als der für uns Gekreuzigte, den wir als den Auferstandenen und so als den Versöhner des Widerspruchs, den Herrn über den Abgrund, glauben und bekennen!“ (A.a.O., 291)

Gott in Christo

Aufgaben als akademischer Lehrer: „Das ist mir lieb, daß du mich hörst / und dich in Gnaden zu mir kehrst; / drum will ich all mein Leben lang / anrufen dich mit Lob und Dank.“ (Evangelisches Gesangbuch 292,1)7 . 2.

Christologie und Theologie

Nach dem Bekenntnis des christlichen Glaubens ist Gott in Jesus Christus Kraft seines Hl. Geistes als er selbst offenbar. Auch wenn das Zeugnis vom dreieinigen Gott ein vorläufiges Verständnis seiner Gottheit zur impliziten Voraussetzung hat, ist die Trinitätslehre dogmatisch nicht als Folge einer allgemeinen Lehre von Gottes Wesen und Eigenschaften zu behandeln, weil sie deren Basisgrund und Zielbestimmung bildet. „Die christlichen Aussagen über den einen Gott, sein Wesen und seine Eigenschaften, beziehen sich auf den im Verhältnis Jesu zum Vater offenbaren, dreieinigen Gott. Sie können daher erst im Anschluß an die Trinitätslehre erörtert werden.“8 So steht es im 5. Kapitel der „Systematischen Theologie“ Pannenbergs geschrieben und zwar am Ende des Abschnitts über „Die Stellung der Trinitätslehre im Aufbau der Dogmatik und das Begründungsproblem der trinitarischen Aussagen“9 , der den Erörterungen zu „Unterscheidung und Einheit der göttlichen Personen“10 vorangeht. Erst im 6. Kapitel wird dann von der Einheit des göttlichen Wesens und seinen Eigenschaften gehandelt. Eines vergleichbaren Vorgehens bei der Organisation des Stoffs seiner Dogmatik hatte sich auch Heinrich Vogel befleißigt. Der Titel „Gott in Christo“ ist Progamm. Die Christozentrik der Vogelschen Theologie bedingt ihre trinitarische Verfassung und umgekehrt. Die Lehre von Gottes Sein als Ich-sein, Akt-sein, Aus-sich-sein und als Für-sein und von Gottes Wesen als vergebender, gebender und sich selbst mitteilender Liebe einschließlich der Lehre von

7 „H. Vogels Kirchenlieddichtung beginnt schon 1930. Sie war in den folgenden Jahren häufig transparent für die Kirchenkampfsituation. …Für viele seiner Texte hat Vogel auch eigene Vertonungen geschrieben.“ (J. Henkys, Art. Kirchenlied II. 20. Jahrhundert, in: TRE 18, 629–638, hier: 630). Vgl. dazu auch die Studie Vogels, Der Christ und das Schöne, Stuttgart 1947. Ursprung des Schönen ist danach die Herrlichkeit Gottes, wie sie durch den göttlichen Geist in der Knechtschaft offenbar geworden ist, die Jesus Christus für uns und unseres Heiles willen stellvertretend erlitten hat. „Christliche Kunst ist die Kunst, die in all ihren Gestalten Jesus Christus rühmt. Rühmung ist das Geheimnis des Schönen.“ (H. Vogel, a.a.O. 48) „Die christliche Kunst rühmt die Herrlichkeit dessen, der keine Gestalt noch Schöne hatte. Sie rühmt einen Gekreuzigten, ja den Gekreuzigten.“ (A.a.O., 49) 8 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 1, Göttingen 1988, 326. 9 Vgl. a.a.O., 305–326. 10 Vgl. a.a.O., 326–355.

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den göttlichen Wesensattributen bzw. -herrlichkeiten ist dezidiert der Trinitätslehre nachgeordnet, um sie von dorther zu entfalten. Entsprechendes gilt für die Lehre von Gottes Werken. Als Begründung wird angegeben, dass die Dreieinigkeitslehre noetisch die letzte Aussage von Gottes Wirklichkeit und der dreieinige Gott ontisch die fundierende Grundlage aller Theologie sei. Das trinitarische Dogma müsse darum im Gesamtzusammenhang der Dogmatik tunlichst der Aussage von Gottes Wesen und Werk vorgeordnet werden. Können doch vor und außerhalb der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in der Kraft des Geistes auf Glauben hin geschieht, und mithin auf präbzw. posttrinitarische Weise keine eindeutige Erkenntnis von Gottes Gottheit gewonnen werden, jedenfalls keine eindeutig heilsame (vgl. 225f.). Der Ursprung der Trinitätslehre als der fundierenden Basis der gesamten Dogmatik, die als systematische Theologie entfaltet wird, ist Vogel zufolge im Namen Jesu beschlossen, der als der Messias, Christus, als mein Herr und mein Gott (vgl. Joh 20,28) zu bekennen ist. Im Herren-, Sohnes-, Mittler- und Herrlichkeitsgeheimnis Jesu Christi, ist das Geheimnis Gottes selbst und damit Gott in dem Sohn als der Vater offenbar, „der sich des von ihm geschaffenen, abgefallenen Menschen und der in den Todesfluch dieses Abfalls verschlungenen Schöpfung erbarmt, indem er, Gott selbst, sich zu dem an die Stelle des Sünders getretenen Sohn bekennt“ (245; bei V. kursiv), was durch den Geist und damit auf trinitarische Weise geschieht. Ohne das Geistsein Gottes würden sein Vatersein und sein Sohnsein sowie die differenzierte Einheit beider nicht nur nicht erkannt, sie wären auch nicht, was sie sind und von Ewigkeit zu Ewigkeit bleiben. Der Geist als der dritte im göttlichen Bunde, der in Person für die Aufgeschlossenheit des Vaters-Sohn-Verhältnisses für Menschheit und Welt und damit dafür einsteht, dass Gott Gott für uns, deus pro nobis et pro me ist, gehört konstitutiv zur Gottheit Gottes. Der göttliche Geist ist zugleich derjenige, in dem und durch den Jesus der Sohn des Vaters ist, um als solcher in gläubiger Begeisterung erkannt zu werden. Wird dieser trinitarisch-pneumatologische Zusammenhang nicht beachtet, muss die Gesamtdogmatik geistlos, wenn nicht geistwidrig ausfallen. Dies gilt auch für die Christologie, die ihren Begriff nur im trinitätstheologischen Kontext entspricht, den sie erschließt und in dem sie zugleich begründet ist. In Jesus Christus ist kraft des göttlichen Geistes Gottes Gottheit offenbar. Dieser Grundsatz des christlichen Glaubensbekenntnisses besagt dogmatisch, dass die Christologie die Trinitätslehre in einer Weise erschließt, dass zugleich ihre eigene Fundierung in der Lehre vom dreieinigen Gott manifest wird. Wie sich der Zusammenhang von Christologie und Trinitätstheologie angemessen darstellen und zur Geltung bringen lässt, gehört zu den bewegendsten Problemen sowohl der Vogelschen als auch der Pannenbergschen Dogmatik und ihrer Organisation. Was Vogel betrifft, so tritt die Zentralität besagter Problematik

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nicht erst in seinem Erkenntnisgang durch die dogmatischen Grundprobleme „Gott in Christo“ von 1951, sondern schon in der Fragment gebliebenen monographischen Christologie zu Tage, derer erster und einziger Teil 1947 erschienen ist. Darin beschäftigt sich Vogel, noch bevor er die Lehre von Person, Weg und Werk Jesu Christi im Einzelnen zu explizieren sich anschickt, eingehend mit der Stellung des Christusartikels im Credo11 und mit der Frage, wie das Verhältnis der Christologie zur Theologie so zu bestimmen sei, dass ihre theanthropologische Verfassung und zugleich ihr soteriologischer Charakter unmissverständlich deutlich werde. Christologie, so die erste These, will als Theologie verstanden sein und lässt sich nicht oder nur auf die Gefahr völliger Themenverfehlung, ja -verkehrung hin in Anthropologie verwandeln. Wo die Erscheinungsgestalt Jesu Christi einem allgemeinen Begriff vom Menschen subsumiert werde, da werde sie nicht nur nicht erkannt, sondern verkannt. Erkenntnis Jesu Christi ist einschließlich der Erkenntnis seines wirklichen und wahren Menschseins Offenbarungserkenntnis und als Offenbarungserkenntnis Glaubenserkenntnis, deren schöpferisches Subjekt nicht der Mensch, sondern der Gottesgeist selbst ist, der ihn ergreift. Nichtsdestoweniger gelte, so die zweite These, die der ersten korrespondiert, dass jede christliche Theologie, welche ihren Namen verdiene, christologisch zentriert und in ihrer inneren Mitte Theanthropologie, also Lehre vom Sein Gottes als Mensch zu sein habe: Ecce homo. „Siehe, da ist euer Gott!“12 11 Zur Zentralität des Christusartikels und seiner den Gesamtzusammenhang der Dogmatik bestimmenden Bedeutung vgl. u. a. H. Vogel, Das Nicaenische Glaubensbekenntnis, 43 ff. Entsprechendes gilt für den dritten Glaubensartikel, da der Geist das „Solus Christus“ nicht problematisiert, sondern bestätigt und die Erwartung ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit dem auferstandenen und verherrlichten Gekreuzigten erschließt. „Das Leben der zukünftigen Gottes-welt kennt die Möglichkeit der Sünde und die Möglichkeit des Todes nicht mehr. Es geht nicht nur um die Offenbarung unseres zeitlichen Gewesenseins als des von Gott geschenkten, versöhnten, gerechtfertigten Seins, wie es Karl Barth in seiner Anthropologie behauptete! Es geht um die Realität der neu geschaffenen Kreatur in einem neuen, uns jetzt noch nicht eignendem Sein und Wesen, so wie es um die reale Heraufführung der neuen Gottes-welt, um den ‚neuen Himmel‘ und die ‚neue Erde‘ (Offbg. 21,1ff.) geht.“ (211) 12 H. Vogel, Christologie. Erster Band, 27. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Der nicht fortgesetzte Teil der Christologie von 1949, der „Vogels erstes großes Werk“ (H. Deuser, Christologie im Widerspruch. Heinrich Vogel und Karl Barth, in: EvTh 41 [1981], 98–113, hier: 99) darstellt, wurde „in etwa parallel zur Abfassung von Barths Anthropologie in der ‚Kirchlichen Dogmatik‘ (KD III, 2)“ (100) geschrieben. Zu ihr liegt eine ausführliche Besprechung Vogels vor (H. Vogel, Ecce Homo. Die Anthropologie Karl Barths. Befund und Gegenfrage, in: VuF V: Theologischer Jahresbericht 1949/50, München 1951/52, 102–128). Nachdem er „das gewaltige Gedankenmassiv dieser Anthropologie in einem Grundriß nachzuzeichnen“ (121) versucht hatte, formuliert Vogel seine Vorbehalte gegen das Barthsche Konzept, die bei aller Zurückhaltung in der Formulierung von durchaus prinzipieller Art und im wesentlichen christologisch begründet sind. Im dezidierten

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Stehe dies fest, dann bestehe die Gewissheit, „daß Theologie nur als Christologie Theologie ist, daß eine Theologie, die außer und neben Christus Gott, die Welt und den Menschen zu erkennen suchte, einem andern Gott, in den Abbildern der Welt und des Menschen ihren Abgöttern anheimfallen muß“ (27). Als Christologie bekommt es die Theologie mit dem wirklichen und wahren Menschen zu tun. Dieser Mensch ist zwar kein Mensch, wie er im Allgemeinen ist, sondern ein besonderer und in seiner Besonderheit singulärer Mensch, Entschluss, die christliche Lehre vom Menschen von der Menschheit Jesu Christi her zu entwickeln, stimmt Vogel ganz mit Barth überein, wohingegen sich im Verständnis der humana natura des Gottmenschen grundsätzliche Divergenzen abzeichnen. Manifest werden sie, wie Vogel konstatiert, „in der Frage nach der Mortabilität, dem Sterben-Können des Menschen Jesus. Barth argumentiert so: Wenn dieser Mensch, dessen Divinität durch sein Für-Gott-Sein, dessen Humanität durch sein Für-uns-Sein gegeben und bestimmt ist, den Fluchtod, den wir als unserer Sünde Sold verdient haben, an unserer Stelle sollte erleiden können, dann mußte er ‚sterben‘ können im Sinn jener Befristung der kreatürlichen Zeit. Damit unterscheidet er nicht nur in Bezug auf den Menschen Jesus zwischen einem an sich möglichen, natürlichen, neutralen Sterben und seinem faktischen qualifizierten Fluchtod im Sinne jenes anderen Todes der Verdammnis, sondern er unterscheidet – sei es auch nur in der von dem Faktischen abstrahierenden Erwägung – zwischen einem Jesus an sich und einem Jesus für uns. Eben diese Unterscheidung, die ja nicht nur in dieser Beziehung, sondern durch das Gesamtgefüge der hier vorgetragenen Christologie hindurchgeht, ist es, der ich widersprechen muß. Es gibt keinen Christus für sich!“ (123f.) Vogel fährt fort: „Wenn bereits die incarnatio schlechterdings im Geheimnis der Stellvertretung beruht, wenn es darin nicht einfach um enanthropesis, sondern um ensarkosis geht, wenn in diesem Menschen Gottes Sohn unserer vom Todesfluch unserer Sünde geschlagenen und gezeichneten Existenz wirklich inexistent wurde, – dann ist doch nicht nur der faktische Tod, sondern auch das Sterben-Können dieses Menschen allein von dem Geheimnis der Stellvertretung her und das heißt: allein von der Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes her zu verstehen. Dann ist aber dieser Mensch, wie er in der Auferstehung von seinem (ihm nicht wesenseigenen, sondern stellvertretend uns abgenommenen) Tode offenbar wird, nicht der sterbliche, sondern der lebendige Mensch Gottes, des Gottes, der wirklich nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen ist! Dann ist die These von der sterblich geschaffenen Natur des Bundespartners Gottes an der entscheidenden Stelle nicht begründet, und dann fragen wir, ob sie nicht in Wirklichkeit doch – entgegen dem, was Barth will und meint – begründet ist in jenem Urgegensatz von Schöpfer und Geschöpf, den er meint im Blick auf eine drohende Vergöttlichung des Geschöpfes wie einen Kanon für das Verständnis des Geschöpfes immer wieder geltend machen zu müssen.“ (124) Vogels Ablehnung der Unterscheidung zwischen einem naturhaften Sterben des Menschen, das als heilsam gelten kann, und einem heillosen Fluchtod in Barths Anthropologie ergibt sich aus dem vom Barthschen abweichenden Verständnis der Mortabilität des Menschsein Jesu Christi, das auf prinzipielle Differenzen in christologischen Ansatz verweist. Auch Pannenberg lehnt bekanntlich die von Barth und anderen vertretene Gegenüberstellung von Naturund Gerichtstod ab, wofür ebenfalls christologische Gründe geltend zu machen sind (vgl. bes. W. Pannenberg, Tod und Auferstehung in der Sicht christlicher Dogmatik [1974], in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Band 2, Göttingen 1980, 146–159 sowie: ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 135 ff.)

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der aber unbeschadet seiner unvergleichlichen Singularität ein Mensch, ja der Mensch ist, von dessen Menschsein her sich erschließt, was die Menschheit und jedes Menschengeschöpf zu sein bestimmt ist. „Die Wirklichkeit der Menschheit Jesu Christ“, schreibt Vogel, „wird im Glauben erkannt, wo seine wahre Menschheit in ihrer Gottebenbildlichkeit anerkannt wird“ (246; bei V. kursiv), was nicht vermöge der Selbsterkenntnis des Menschen, wie er sich vorfindet, sondern nur durch Offenbarungserkenntnis möglich ist, weil die ursprüngliche Bestimmung des menschlichen Geschöpfs durch die Verkehrtheit der Sünde faktisch unkenntlich geworden ist. Umgekehrt gibt es Einsicht in die Wahrheit des Menschseins Jesu Christi nur von dessen Wirklichkeit her. Die christologische Bedeutung der Faktizität des historischen Jesus von Nazareth sei deshalb entschieden zu behaupten. Aber dieser werde „in der Einmaligkeit seines Daseins und Soseins allein dem Glauben in der Gleichzeitigkeit mit Jesus Christus gewiß, die der Heilige Geist herstellt durch das Wort“ (364 f.; bei V. kursiv). Diese Gewissheit sei nicht nur gewisser als alle Welt- und Selbstgewissheit, sondern der Sinngrund ihrer rechten Erschließung, ohne den sie bodenlosen Abgründen verfallen müsste. Es bleibt bei dem Umkehrschluss: Theologie ist allein als Christologie, Christologie allein als Theologie recht zu betreiben, in welchem Zusammenhang offenbar wird, „daß der Weg theologischer Erkenntnis nicht von unten nach oben, von der Welt oder vom Menschen her zu Gott geht, sondern von Gott zum Menschen und zur Welt, von dem Gott, der ‚in Christus die Welt versöhnt mit sich selbst‘ (2. Kor. 5,19)“ (29).13 Pannenberg hat dieser Selbstauskunft entsprechend Vogels Entwurf eine „Christologie ‚von oben‘“ (Chr., 27) genannt. Zwar deute sich im Ausgang von der Menschheit Jesu Christi im Zusammenhang der Lehre von der gottmenschlichen Person „eine Christologie ‚von unten‘ an, die jedoch ganz in das sie umgreifende, von oben nach unten verlaufende Inkarnationsschema eingebaut ist“ (Chr., 326 Anm. 85). Anders urteilt Karl Barth: In seinem im Vorwort dieses Bandes angeführten Brief an Pannenberg vom 7. Dezember 1964, in dem er die „Grundzüge der Christologie“ einer Radikalkritik unterzieht, wird „unser gemeinsamer Freund

13 Vogel fährt fort: „Die Christologie macht alle Analogieschlüsse von der vermeintlich bekannten Welt, von dem vermeintlich bekannten Menschen auf den unbekannten Gott unmöglich. Sie ist es, in der sich die Reinigung der Gotteserkenntnis von den drei Wegen der Negation, Kausalität und Eminenz vollzieht, und von der aus das eindeutige und einfältige ‚Nein‘ gegenüber der Versuchung einer Analogie entis gesprochen werden muß und darf! Sie ist der Prüfstein, auf dem die theologischen Erkenntnisse sich als Anerkenntnis des Wortes der Offenbarung oder aber als Gedanken und Gedichte, Theoreme und Postulate des Menschengeistes erweisen müssen.“ (Ebd.)

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H. Vogel“14 , wie es heißt, ausdrücklich als Repräsentant einer Christologie „von unten“ angeführt. Dass dieser, so Barth an Pannenberg, „in seiner freilich viel substantieller ausgefallenen Analyse des ‚Unten‘ stecken geblieben und uns den zweiten Teilen seiner Christologie, der von dem von dort zu erreichenden ‚Oben‘ handeln sollte, stillschweigend schuldig geblieben ist, hat ihnen offenbar nicht zu denken gegeben.“15 Von unten oder von oben: man kann sich schwerlich des 14 Brief an W. Pannenberg vom 07.12.1964, in: Karl Barth. Briefe 1961–1968. Hg. v. J. Fangmeier/H. Stoevesandt, Zürich 1975, 280–283, hier: 281. 15 Ebd. Barths Kritik an Vogels Fragment gebliebenem dogmatischen Entwurf von 1949 fiel nicht minder scharf aus wie diejenige an Pannenbergs „Grundzügen der Christologie“. In einem Brief an den Freund von 2. August 1950 (vgl. H. Deuser, a.a.O., 99 f., Anm. 6) stellte er dessen Verständnis der Menschheit Jesu Christi unter Mythosverdacht. (Zum Thema vgl. H. Vogel, Kerygma und Mythos, Darmstadt 1950. Wer eingesehen habe, worum es in Theologie und Christologie in Wahrheit gehe, wird es Vogel zufolge „endgültig unterlassen, das Evangelium etwa vom Mythos her zu verstehen.“ [31].) Dieser Verdacht geht, wie E. Jüngel zurecht festgestellt hat, „an Vogels Intention und Aussagen merkwürdig instinktlos vorbei. Er muß zurückgewiesen werden.“ (E. Jüngel, Das Geheimnis der Stellvertretung. Ein dogmatisches Gespräch mit Heinrich Vogel [1982], in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 243–260, hier: 252). Die prinzipiellen Anfragen, die Vogels Entwurf in Bezug auf das eigene Dogmatikkonzept enthält, werden durch die „ausgesprochen unwirsche Kritik“ (ebd.) beiseitegeschoben, ohne sachlich gewürdigt zu werden. „Einig sind Barth und Vogel in der strikten Ablehnung von menschlichen Anknüpfungspunkten, Vorverständnissen, so als könne man vom Menschen auf Gott schließen. Der Dissens aber bricht auf im Horizont der Wirklichkeit, die als von Gott her qualifiziert gilt, der existentiellen Wirklichkeit des Menschen als Sünder.“ (H. Deuser, a.a.O., 105). Während Barth nach Deuser das aller menschlichen Theorie und Praxis zuvorkommende Offenbarungsmysterium axiomatisch voraussetzte, um von dieser Prämisse aus dogmatisch zu operieren, konstruiere Vogel seine Christologie, als deren „Leitmotiv“ (107) das „Geheimnis der Stellvertretung“ fungiere, nicht in systematischer Deduktion, sondern lege sie „eher am existentiellen Widerspruch“ (109) aus. Dass es der Widerspruch gegen Gott sei, an den sich dieser in Jesus Christus kraft seines Hl. Geistes preisgebe, lasse sich nicht axiomatisch, sondern nur paradoxal erfassen. Vogels Reserve gegenüber „Barths Gebrauch des Analogiephänomens“ (E. Jüngel, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie auf dem Grunde der Analogie. Eine Untersuchung zum Analogieverständnis Karl Barths, in: ders., Barth-Studien, Zürich/Köln/Gütersloh 1982, 210–232, hier: 230), wie er sie in seiner Rezension der Anthropologie der „Kirchlichen Dogmatik“ vorgetragen hat, erklärt sich von daher. Vogels kritische Vorbehalte gegenüber der Barthschen Methode der analogia relationis rel fidei ist im christologischen Paradox begründet, das sich auf einen Zusammenhang theoretisch nicht synthetisierbarer Differenz ausrichtet, die nur im unvergleichlichen Namen des Stellvertreters aufhebbar und tatsächliche aufgehoben ist. Seine Kritik „führt weiter zur Bestreitung der Legitimität der im theologischen Denkvollzug Barths waltenden unmittelbaren Folgerichtigkeit.“ (219 Anm. 14). Diese bzw. der Barthsche Gebrauch eines von der Offenbarung her logisch rückschließenden Verfahrens, welches seine Dogmatik bestimme, führten Vogel zufolge, ob gewollt oder ungewollt, letztlich „zu einem der eschatologischen Vorläufigkeit des erkennenden Glaubens widerstreitenden umfassenden Denk- und Erkenntnisbezug, der sich einen umfassenden Seinsbezug voraussetzt, so daß Barths analogia relationis – wie sie in seiner Lehre von der

Gott in Christo

Eindrucks erwehren, es gehe bei der Einschätzung der Vogelschen Christologie etwas drunter und drüber. 3.

Christologie von oben, Christologie von unten

Vogels Christologie, wie sie in dem Entwurf von 1949 und in der Dogmatik von 1951 entfaltet wird, ist Stellvertretungslehre. Der Autor bestätigt dies selbst, wenn er in „Gott in Christo“ konstatiert, dass „das Sätzlein: ‚Er trat an unsere Stelle!‘ das Signum der ganzen Christologie“16 sei. In der zitierten Monographie ist die Lehre vom Werk des Sohnes flankiert von der Lehre vom Werk des Vaters als des Schöpfers von Menschheit und Welt und derjenige vom Hl. Geist als dem Schöpfer der Kirche und des neuen Menschen durch Wort und Sakrament in Glaube, Liebe und Hoffnung. Den Fall der Sünde, den der Mensch mit Gottebenbildlichkeit vorliegt – für Vogel ‚in bedenklicher Weise von der Verwechselbarkeit – trotz allem! – mit einer analogie entis bedroht erscheint‘.“ (231 unter Verweis auf H. Vogel, Ecce Homo, 127) Nach Jüngel wiegt der Einwand Vogels „deshalb so schwer, weil er – wie die Dogmatik Barths – einem christologischen Ansatz entspringt. Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß der Gegensatz bereits mitten in diesem gemeinsamen Ansatz aufspringt. Der Einwand Vogels, in einer genuin lutherischen, wohl durch Kierkegaard vermittelten Herkunft verwurzelt, impliziert seinerseits eine eigene ‚theologische Logik‘, eine paradoxal-dialektische ‚Logik‘, die ebenfalls einer hermeneutischen Interpretation bedarf, wenn sie als Gegenentwurf zur Analogielehre Barths zur Geltung kommen soll.“ (232) 16 H. Vogel, Gott in Christo, 721. Vgl. dazu den bereits erwähnten Vortrag E. Jüngels aus Anlass des 80. Geburtstags von Vogel im Rahmen der feierlichen Eröffnung des Sommersemesters 1982 in der Kirchlichen Hochschule Berlin „Das Geheimnis der Stellvertretung. Ein dogmatisches Gespräch mit Heinrich Vogel“. Ferner: G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. Band 2, München 1986, 438 ff. „Für die Grundbedeutung von Stellvertretung ist es nach Vogel entscheidend, daß das Subjekt in dem Satz ‚Er trat an unsere Stelle‘ durch einen Namen eindeutig bestimmt ist. Er – das ist Jesus Christus. Dieser Name bezeichnet das Subjekt, von dem Stellvertretung ausgesagt wird. Und man wird im Sinne Vogels hinzufügen müssen: nur dieser Name kommt als Subjekt von Stellvertretung in Betracht. Wenn irgendwo, dann erscheint ihm hier die particula exclusiva solus Christus am Platz.“ (E. Jüngel, Geheimnis der Stellvertretung, 252) Deutlicher noch als vom Barthschen grenzt Vogel seinen Stellvertretungsgedanken von dessen ethisch-anthropologischer Auffassung bei Dietrich Bonhoeffer ab (vgl. a.a.O., 252 ff., hier: 253: „Ich muß hier anmerken, daß Heinrich Vogel der einzige Lehrer gewesen ist, den ich im Laufe meines Studiums auch kritische Worte und Vorbehalte gegen Bonhoeffer habe äußern hören. Es spricht nicht für die evangelische Theologie, daß er der einzige war. Um das Werk Bonhoeffers hat sich, wohl veranlaßt durch seinen Lebenslauf und dessen gewaltsame Ende, aber sehr zum Schaden eben dieses seines Werkes der Nimbus theologischer Unangreifbarkeit gelegt. Man sollte diesen Nimbus zerstören, um Bonhoeffers willen.“) Dem Bonhoeffergedenken hat Vogel einen Vortrag vor der Jahreshauptversammlung der Vereinigung Evangelischer Buchhändler am 4. Juni 1955 in Berlin-Spandau gewidmet: Jesus Christus und der religionslose Mensch, Berlin 1955.

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üblen Folgen für alle Kreaturen durch seine Selbstverkehrung verschuldet hat17 , kontraveniert das Rechtfertigungsgeschehen, das der Geist wirkt und zwar um Jesu Christi willen. Dieser ist als der auferweckte und auferstandene Gekreuzigte die göttliche Rechtfertigung des Menschen und die Erlösung der Welt in Person. Von ihm her fällt ein erleuchtendes Licht, sowohl auf den Anfang als auch auf das Ende aller Dinge. Als der inkarnierte Logos ist er die gottmenschliche Einheit in Person, welche das väterliche Wesen und Werk des Schöpfers und Erhalters ebenso erschließt wie die geschöpfliche Bestimmung von Menschheit und Welt. Ihre Verfehlung hinwiederum ist am Kreuz als dem Wirkzeichen der Erkenntnis der Sünde als Gottlosigkeit, Unglaube und Selbstsucht offenbar, wohingegen in der Auferweckung und Auferstehung des Gekreuzigten die Gnadenliebe Gottes sich realisiert und manifestiert, um gewisse Aussicht auf ewiges Heil und ewigen Frieden zu eröffnen. In der materialen Durchführung seiner Christologie schließt sich Vogel verhältnismäßig eng an die traditionellen Themenbestände an. Nach einleitenden Erwägungen zur christologischen Frage und zu Titel und Namen des Gegenstandes und fundierenden Inbegriffs der Christologie wird als der Grund der Inkarnation die Mittlerschaft Jesu Christi genannt, in dessen Person Gottheit und Menschheit geeint und versöhnt sind. In Jesus Christus ist Gott auf die Welt gekommen und stellvertretend an die Stelle des Menschen getreten, damit er Sühne, Versöhnung und Heil bereite. Unter diesen Prämissen wird im Anschluss an die Überlieferung unter der Überschrift „Die Person“ von der wirklichen und wahren Menschheit, der wirkenden und wesenhaften Gottheit und von der gottmenschlichen Einheit von der Person Jesu Christi gehandelt sowie von der personalen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch in dem einen Gottmenschen. Sodann wird die Zwei-Stände-Lehre erörtert und das, wie es heißt, Geschichtsgeheimnis des Weges Jesu Christi bedacht. Selbstentäußerung, Selbsterniedrigung und der aktuale Vollzug der Stellvertretung sind die Bestimmungsmomente des status exinanitionis, wohingegen der status exaltationis auf die Erhöhung und Verherrlichung des am Kreuz 17 Zur Bekenntnis und Erkenntnis der Sünde vgl. H. Vogel, Allein und auch. Von der Sünde und vom Glauben, Berlin o.J. Sündenerkenntnis und Bekenntnis der Schuld der Sünde verstehen sich nicht von selbst. „Es ist der Sünde wesentlich, daß sie nicht erkannt werden will.“ (46) Sie verstellt sich bewusst der Einsicht in ihr Unwesen. „Daß wir also wirklich Sünde als Sünde bekennen und erkennen, steht allein auf dem Glauben“ (47), im Vertrauen auf Gottes Gnade in Jesus Christus, wie sie das Evangelium in der Kraft des Hl. Geistes zusagt. Der Anspruch des Gesetzes wird dadurch nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil bekräftigt und heilsam gestaltet, nämlich durch die „Rechtfertigung des gottlosen Menschen“ (vgl. 60 ff.), für den Jesus den Fluchtod am Kreuz stellvertretend gestorben ist (vgl. 67 ff.: „Er tritt an unsere Stelle.“). Zur Vogels Anverwandlung der Lehre von der doppelten Prädestination im Lichte der Freiheit der universalen Heilsgnade Gottes vgl. 98 ff.

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erniedrigten Stellvertreters ausgerichtet ist. Auch für die an der traditionellen Theorie von munus triplex orientierte Lehre Vogels vom Werk Jesu Christi ist das Geheimnis der Stellvertretung zentral. Dies gilt sowohl für das prophetische und für das königliche als auch und insbesondere für das munus sacerdotale, das hohepriesterliche Amt des Gekommenen, der das Perfekt der Versöhnung und Erlösung gewirkt hat, des Gegenwärtigen, der für Kirche und Welt in beständiger Aktualität eintritt, und des Kommenden, der aus dem endzeitlichen Gericht retten wird, weil er der Gerechtigkeit auf ewig Genüge getan hat und den Sünder rechtfertigt, der ihm vertraut und sich auf ihn verlässt. In Vogels Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik bekundet sich, was seit seiner christologischen Monographie feststeht: Das offenbare Geheimnis der Stellvertretung steht im Zentrum seines theologischen Denkens. Auch Pannenbergs Analyse des Vogelschen Entwurfs setzt beim Stellvertretungsgedanken ein. Allerdings bezweifelt er, „ob der Gedanke der Stellvertretung leisten kann, was ihm in Vogels Christologie zugemutet wird“ (Chr., 327). Denn dieser lasse sich weder auf das Ganze des geschichtlichen Daseins Jesu Christi ausweiten (vgl. ebd.), noch umgreife er „wirklich das Verschiedene so, wie Gott und Mensch als Verschiedene in Jesus Christus eins sind“ (Chr., 328). Bei genauerem Zusehen erweise sich der Stellvertretungsgedanke als ein dogmatisches Konstrukt, der den Begriff der Inkarnation des Logos als der zweiten trinitarischen Hypostase, den er doch bestimmen solle, in seiner eigentümlichen Bestimmtheit schon voraussetze und zur impliziten Prämisse habe. Zwar werde es vom Stellvertretungsgedanken nahegelegt, „daß die Christologie mit der Menschheit Christi einzusetzen hat, weil eben Gott an unserer Stelle, d. h. als Mensch begegnet“ (Chr., 326). Auch scheine die Reihenfolge von Menschheit, Gottheit und Gottmenschheit, gemäß der Vogel vom Personsein Jesu Christi handelt, für eine Christologie „von unten“ zu sprechen; jedoch sei diese bei ihm, um es zu wiederholen, „ganz in das sie umgreifende, von oben nach unten verlaufende Inkarnationsschema eingebaut“ (Chr., 326 Anm. 85). Die Klassifizierung von Vogels Christologie als eine Christologie von oben begegnet bei Pannenberg wiederholt und in verschiedenen Kontexten. So wird beispielsweise vermerkt, „daß man den Titel Christos nicht ohne weiteres auf die Gottheit Jesu beziehen darf, wie neuerdings H. Vogel es getan hat“ (Chr., 25). Zu prüfen sei vielmehr zu allererst „das sachliche Recht des traditionsgeschichtlichen Vorgangs, bei dem der als Gottessohn bezeichnete Mensch Jesus als eins mit Gott selbst erkannt wurde… Dieser traditionsgeschichtliche Vorgang schließt das zentrale Thema der Christologie in sich, nämlich die Aufgabe zu verstehen, wie dieser Mensch Gott ist.“ (Ebd.) Man wird nicht sagen können, dass Vogel sich dieser Verstehensaufgabe schlichtweg entzogen habe. Dass sich in der Abfolge christologischer Hoheitstitel ein traditionsgeschichtlicher Pro-

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zess reflektiert, der das trinitarisch-christologische Dogma nicht unmittelbar voraussetzt, sondern zur Konsequenz hat, war ihm vertraut. Eine andere Frage ist diejenige nach dem systematischen Folgerungen, die er aus dieser historischen Erkenntnis gezogen hat. Setzt er das Gottsein Jesu christologisch, statt es eigens zu begründen, immer schon unmittelbar voraus, um von der trinitarischen Lehre vom göttlichen Logos als der zweiten Hypostase der Gottheit her in mehr oder minder direktem Zugriff die Lehre von Jesu Menschsein und seinem irdischen Weltdasein zu begründen? Pannenberg bejaht diese Frage: Sowohl in seinem christologischen Entwurf von 1949 als auch in seiner Dogmatik „Gott in Christo“ habe Vogel bei allen sonstigen Unterschieden zu Karl Barth wie dieser eine „Christologie ‚von oben‘“ (Chr., 27) geboten. In einem längeren Exkurs zum christologischen Teil von Vogels Dogmatik hat Pannenberg diese Behauptung in seinem „Grundzügen der Christologie“ genauer zu begründen versucht (vgl. Chr. 326f.). Anders als Barth, der sie als Christologie von unten qualifizierte, gilt Pannenberg Vogels Lehre von Jesus Christus als eine Christologie von oben. Allerdings wird nicht erst in der „Systematischen Theologie“, sondern bereits in den „Grundzügen der Christologie“ auf die Notwendigkeit begrifflicher Differenzierungen und Präzisierungen verwiesen. Die seit Albrecht Ritschl üblich gewordenen Bezeichnung sei von methodischer Art und beziehe sich auf ein spezifisches Verfahren, nämlich die christologischen Aussagen vom geschichtlichen, historisch-kritischer Forschung zugänglichen Jesus von Nazareth her zu begründen statt von einer als unmittelbare Voraussetzung in Anschlag gebrachten Trinitäts- und Inkarnationslehre, wie dies, so Pannenberg für die Argumentationsform eines von oben erfolgenden Vorgehens kennzeichnend sei (vgl. Chr., 30). Auch ein unmittelbarer Einsatz beim Kerygma der Gemeinde stehe im Widerspruch zur Methodik einer Christologie „von unten“. Für sie sei die Auffassung kennzeichnend, dass ein Rückgang sowohl hinter das altkirchliche Dogma als auch das in der Schrift beurkundete apostolische Zeugnis auf den historischen Jesus und eine traditionsgeschichtliche Rekonstruktion der Genese der neutestamentlich-altkirchlichen Christologie sowohl nötig als auch möglich sei (vgl. etwa Chr., 17). Aufgabe der Christologie sei entsprechend nicht nur die Explikation des vermittlungslos vorausgesetzten Christuszeugnisses der Gemeinde bzw. des Dogmas der Alten Kirche, sondern deren „Begründung aus dem Damals des Wirkens und Geschickes Jesu“ (Chr., 22). Aus der historisch fassbaren Geschichte Jesu heraus muss seine Bedeutung erschlossen werden, „die sich zusammenfassend durch den Ausdruck umschreiben lässt, daß in diesem Menschen Gott offenbar ist“ (Chr., 23). Die Methode der Christologie ergibt sich für Pannenberg als Konsequenz ihrer Aufgabenbestimmung. Zwei unterschiedliche Verfahrensweisen seien „in der heutigen Dogmatik“ (Chr., 26) üblich, nämlich, um es zu wiederholen,

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diejenige einer Christologie „von oben“ und diejenige einer Christologie „von unten“: „Für die Christologie, die ‚von oben‘, von der Gottheit Jesu, ausgeht, steht der Inkarnationsgedanke im Mittelpunkt. Die ‚von unten‘, vom geschichtlichen Menschen Jesus zur Erkenntnis seiner Gottheit aufsteigende Christologie hingegen hält sich in erster Linie an die Botschaft und an das Geschick Jesu und kommt erst ganz zuletzt auf den Inkarnationsgedanken.“ (Ebd.) Die Zuordnung der Konzeption sowohl Barths als auch Vogels zur Verfahrensweise einer Christologie „von oben“ ergibt sich für Pannenberg aus dieser Bestimmung und zwar trotz der Unterschiede, die zwischen beiden Entwürfen walten und die Barth veranlassten, die Vogelsche eine Christologie „von unten“ zu nennen. Methodische Probleme sind Sachprobleme die über terminologische Festlegungen hinausweisen. Unter diesem Gesichtspunkt verdient es bemerkt zu werden, dass Pannenberg bereits in seinen „Grundzügen der Christologie“ trotz entschiedener Ablehnung einer Christologie „von oben“ das „relative Recht“ (Chr., 29) einer entsprechenden Fragestellung anerkennt und in seinem eigenen Entwurf zur Geltung zu bringen versucht. Nicht weniger bemerkenswert, sondern eher noch wichtiger ist der im Nachwort zur 5. Auflage des Werkes gegebene Hinweis auf eine Schranke, die dem Entwurf inhäriere, ohne in der Durchführung wirklich behoben worden zu sein. Sie hänge „zusammen mit der Beschränkung, in der hier die traditionsgeschichtliche Betrachtungsweise ‚von unten‘ durchgeführt wird, indem die Wirklichkeit Gottes als Voraussetzung der Christologie behandelt und nicht eigentlich in ihr thematisch wird. Die Ausführungen zur Trinitätslehre beschränken sich ja im wesentlichen auf die Gottheit Jesu in Unterscheidung von Vater und Geist. Infolgedessen wird das Handeln Gottes in der Geschichte Jesu zwar nicht übergangen, aber doch nicht als Handeln Gottes thematisch.“18 Diese Feststellung ist mit dem Hinweis verbunden, dass der Gegensatz einer Christologie „von unten“ zu einer Christologie „von oben“ „ausschließlich das noetische Verfahren“ (Chr.5 , 421) betreffe. Es sei unstrittig, dass dasjenige, was sich jenseits der Ordnung der Erkenntnis erst als traditionsgeschichtliches Resultat darstelle, der Seinsordnung nach vorangehe und die Grundlage dessen sei, was erkannt werde. Reziprok zur Erkenntnisordnung bilde die Gottessohnschaft und die Stellung des Logos als zweite Hypostase der Trinität tatsächlich den Sinngrund für das Dasein Jesu, der aber gemäß der Logik oder besser: Theo-Logik nicht in vermittlungslose Unmittelbarkeit, sondern auf durch das jesuanische Dasein vermittelte Weise geltend zu machen sei. Geschehe dies, dann ergebe sich allerdings vom noetisch erreichten Ergebnis her die ontologische oder wie auch immer zu nennende „Aufgabe, die Geschichte Jesu nun 18 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie. 5., um ein Nachwort (415–426) erweiterte Auflage, Gütersloh 1976 (= Chr.5 ), 421.

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auch als Handeln Gottes“ (Chr.5 , 422) und d. h.: „als Ausdruck der Souveränität Gottes und so aus der Gottheit Gottes zu denken“ (ebd.). Es genüge nicht, „Gott nur als Voraussetzung der Christologie zu denken. Vielmehr erfordern es die Aussagen, zu denen die Christologie gelangt, Gott als sich in Jesus Christus offenbarend zu denken.“ (ebd.). Wie dies zu geschehen habe, hat Pannenberg im Nachwort zur 5. Auflage der „Grundzüge der Christologie“ und in diesem selbst skizzenhaft angedeutet und in dem 1975 erschienenen Aufsatz „Christologie und Theologie“ programmatisch dargelegt, um es im opus magnum der Systematischen Theologie zur Durchführung zu bringen. Zentral ist die Einsicht, dass „die Konstitution der Person Christi aus der Gottheit Gottes nur trinitarisch gedacht werden“ (Chr.5 , 423) kann, wobei die Selbstunterscheidung Jesu vom Vater die pneumatische Bedeutung seiner logosgegebenen Einheit mit ihm sei. Es gehört nach Pannenbergs eigener Überzeugung zur verfassten Struktur dieser Einsicht, dass der Unterschied einer Christologie „von unten“ und „von oben“ systematisch dazu bestimmt sei, zwar nicht beseitigt, aber unter Wahrung seiner transitorischen Bedeutung behoben zu werden, was freilich erst am Ende der Zeiten vollendet der Fall sein wird und daher nicht vor der Zeit abschließend in Anschlag gebracht werden kann. Der Unterschied von Erkenntnis- und Seinsordnung ist entsprechend zu achten, ohne das er zur unaufhebbaren Differenz verfestigt werden dürfte. In dem Aufsatz „Christologie und Theologie“ ist dieses für Pannenberg spezifische, vom Hegelschen charakteristisch unterschiedene Aufhebungsprogramm in Grundzügen dargelegt, um dann in der „Systematischen Theologie“ über die christologische Monographie hinausgehend im Einzelnen entfaltet zu werden. Der Ausgang bei einer Christologie ‚von unten‘ wird methodisch beibehalten, zugleich aber mit eingehenden Reflexionen über die impliziten Prämissen des Verfahrens verbunden, woraus sich das zunächst überraschend anmutende Resultat ergibt, „daß die klassische Inkarnationschristologie und die moderne Christologie „von unten“ an einem gemeinsamen Mangel leiden, indem sie nämlich darin übereinstimmen, daß beide einen anders als durch die Christologie selbst erst zu gewinnenden Gedanken der Wirklichkeit Gottes schon voraussetzen müssen, damit die Christologie im eigentlichen Sinne überhaupt beginnen kann. Das bedeutet aber, daß weder das eine noch das andere Verfahren es vermag, Gott als durch Jesus von Nazareth offenbar zu denken und also die Einheit von Gott und Mensch in Jesus zu denken. Man sollte meinen, das sei das eigentliche Thema aller Christologie. Aber gerade dieses ihr Thema entgeht ihr sowohl dann, wenn sie als Inkarnationschristologie mit der Trinität beginnt, als auch dann, wenn sie beim Menschen Jesus von Nazareth einsetzt, dann aber den Schritt zur Bestimmung der Wahrheit seines Redens von Gott nur durch Rückgriff auf ein anderweitig gegebenes Wissen von der Wirklichkeit

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Gottes vollziehen kann. In beiden Fällen bleibt ungedacht, was es heißt, daß Gott durch Jesus Christus offenbar ist.“19 . Um diesen Mangel zu beheben, müsse die Alternative einer Christologie „von unten“ und „von oben“, also entweder vom Menschen oder von Gott her überwunden werden und zwar zunächst „durch eine Vertiefung und Erweiterung des Ansatzes einer auf den Menschen Jesus von Nazareth konzentrierten theologischen Reflexion“20 und sodann durch Explikation des Menschheit und Welt umfassenden Gedankens göttlicher Selbstverwirklichung im jesuanischen Dasein21 . Den hermeneutischen Schlüssel für eine angemessene Wahrnehmung dieser Aufgabe bietet nach Pannenberg der aus der Geschichte Jesu sich ergebende Gedanke konsequenter Selbstunterscheidung von Gott, der diesen Menschen als zweiten und wahren Adam qualifiziere, und der ihm korrespondierende einer göttlichen Selbstrealisation, die intern und extern durch Anerkennung des Anderen in seinem Anderssein gekennzeichnet sei. Weder ein unmittelbar in Anschlag gebrachter theistischer Gottesbegriff noch ein Begriff vom Menschen, der dessen Gottesbeziehung – und sei es auch nur momentan – außer Acht lässt, können das gottmenschliche Geheimnis Jesu erfassen, in dem Gott als dreieiniger offenbar werde. Dies ist möglich nur kraft jenes Geistes, der im Menschen Jesus dessen und aller Menschen Gott und Gott als jenen erkennt, der im Menschen Jesus als Gott für Menschheit und Welt offenbar geworden ist. Heinrich Vogel hätte dem vermutlich nicht widersprochen.

19 W. Pannenberg, Christologie und Theologie (1975), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Band 2, Göttingen 1980, 129–145, hier: 132. 20 A.a.O., 135. 21 Vgl. a.a.O., 142 ff.

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Streit um die rechte Auslegung der Theologie Pannenbergs

Das blau leuchtende Buch Grundzüge der Christologie ist Wolfhart Pannenbergs erste Monographie. In ihr entfaltet er die Programmschrift Offenbarung als Geschichte. Diese Schrift, 1961 veröffentlicht, was ein Aufreger in der theologischen Diskussion, denn sie zeigte eine Neuorientierung in der Theologie an, die den Streit zwischen den dominierenden theologischen Schulen Karl Barths und Rudolf Bultmanns gedanklich weit überschritt und zu einer ganz anderen Sicht zu führen schien. Wort Gottes und Geschichte sind keine Alternativen mehr. Die Geschichte erweist sich bei Pannenberg als der alles bestimmende Horizont, gerade für das Verständnis des Wortes Gottes. Man sah der ausgeführten Christologie Pannenbergs daher mit Spannung entgegen. In der Diskussion ging es dabei nicht nur darum, ob Pannenberg den Wortcharakter der Offenbarung, die Offenbarung als Zeugnis, recht verstehe, sondern ob sich zeige, wie sehr seine Theologie christologisch oder letztlich anthropologisch fundiert sei. Das war der Kernpunkt des Streites um diese neue Theologie. Pannenberg hatte ja mit der Veröffentlichung seiner Radiovorträge 1961/62 zur Frage des Menschseins einen weiteren Aufreger gesetzt: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie. War nicht die Anthropologie hier der alles bestimmende Horizont bei Pannenberg geworden! Denn von Gott könne man nur sinnvoll reden, wenn die grenzenlose Angewiesenheit des Menschen deutlich werde. Sonst würde Gott eine leere Vokabel. Auf welche Deutlichkeit kommt es an, auf die unseres Menschseins oder die des Christus in seinem Offenbarsein? Barths theologisches Programm war bekannt: Christologie statt Anthropologie, und das Bultmanns: Offenbarung als das Ende der Geschichte. Waren die Fronten hier abschließend geklärt? Wohl nicht, denn wie konnte man von dem Zeugnis der Bibel als Offenbarung so reden, dass sie Gottes Handeln für den Menschen wahrhaftig verbürgt? Es geht darum, um eine Formulierung Carl Friedrich von Weizsäckers aufzunehmen, „in einer wohldefinierten Frage Deutlichkeit, also Unterscheidung walten zu lassen.“1 Die Frage nach der Offenbarung war in der neuzeitlichen Theologie zu einer 1 Carl Friedrich von Weizsäcker, Deutlichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen, München Wien 1978, 8.

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Schlüsselfrage geworden. „Alle Differenzen der gegenwärtigen Theologien untereinander sind zu bloßen Differenzen innerhalb des Offenbarungsdenkens geworden“. „Gleichzeitig sucht die christliche Theologie die ihr eigene Sache des Glaubens auch nach außen hin … dadurch abzugrenzen, dass sie ihr Fundament als die wahre Selbstoffenbarung Gottes oder als die einzige Offenbarung überhaupt zu rechtfertigen sucht.“2 Welche Position nimmt hier Pannenberg ein? Geht er einen ganz anderen, neuen Weg? Ich habe diese Diskussionslage im Wintersemester 1965/66 in Mainz hautnah erlebt, wo Pannenberg über Dogmatik und Theologie der Vernunft las. Ich kam als Student der Theologie von Göttingen, belehrt von Hans Conzelmann und Walter Zimmerli, Wolfgang Trillhaas und Ernst Wolf. Pannenberg bot eine Übung an: Hauptprobleme der Christologie, in der seine Grundzüge der Christologie von 1964 thematisiert wurden. Ich nahm daran teil, und wir besprachen Schritt für Schritt die Paragraphen dieses Buches mit ihren theologiegeschichtlichen Hintergründen. Wir Studenten hörten genau hin, wenn Pannenberg seine Ausführungen zu den Themen gab: Die Auferweckung Jesu von den Toten als Zentralereignis. Es gehört zum Wesen wachen Menschseins, über den Tod hinaus zu hoffen. Jesus, der Mensch vor Gott. Ob die Christologie oder die Anthropologie letztlich bestimmend sei, blieb uns Studenten damals offen. Es sollte eine offene Streitfrage bis ins nächste Jahrhundert bleiben. So schreibt Gerhard Sauter noch in seiner Anthropologie Das verborgene Leben von 2011: „Zu Beginn der 1960er Jahre hat Wolfhart Pannenberg die Philosophische Anthropologie … aufgegriffen. … Theologie sollte anthropologisch begründet werden.“ Das war „der Gegenzug zur Parole ,Theologie, nicht Anthropologie!’, die Karl Barth in den 1920er Jahren ausgerufen hatte.“3 . Unter uns Studenten zirkulierte damals in Mainz eine Nachschrift einer zweistündigen Heidelberger Vorlesung des SS 1966 zur neueren Theologiegeschichte von Heinz-Eduard Tödt, die nur für den internen Studiengebrauch vervielfältigt worden war. Darin stellt Tödt „Pannenbergs apokalyptisches System“ vor, das in großer Eigenständigkeit die Bedeutung Jesu in ihrem überlieferungsgeschichtlichen Verständnis des Alten und Neuen Testaments herausarbeitet. Damit werde die Christologie zentral, doch zu kritisieren sei, „dass Gottes unableitbares eschatologisches Handeln … direkt auf die wissenschaftliche Welterfahrung bezogen werden kann.“ Immer wolle Pannenberg vernünftig überzeugen. Im Gegensatz zu Bultmann gehe es ihm nicht um „Anknüpfung und Widerspruch, sondern ((um)) Anknüpfung und Überbietung.“4 Tödts kritische Analyse des 2 .Peter Eicher, Offenbarung. Prinzip neuzeitlicher Theologie, München 1977, 17. 18. 3 Gerhard Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011, 342. 4 Heinz-Eduard Tödt, Zeitgeschichte der Evangelischen Theologie seit 1927, 1966, 92.

Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964

auf außertheologische Wirklichkeitserfahrung bezogene christologische Denkens machte mich nachdenklich, schien mir aber die eigentliche Pointe dieses Denkens zu verfehlen. Stimmt das: Christologie im Dienst eines dem Glauben fremden Systemdenkens, damit im Dienst der Weltbemächtigung? Das Ausmaß und die Schärfe dieser Kritik war mir damals in Mainz noch nicht bewusst. Ich lehnte sie schlicht ab, denn ich hatte bei Pannenbergs gelesen, die Christologie sei das Kernstück einer jeden christlichen Theologie. In ihr gehe es darum, was wir als Christen von Jesus zu sagen haben! (Aus dem „Sinnwort“, das unten genau benannt und ausgelegt wird). Ich hatte mir die Grundzüge der Christologie in Mainz sofort gekauft und sie mit Gewinn gelesen angesichts der ausufernden Debatte um das Wort Gottes als Sprachgeschehen in der kerygmatischen Theologie. Pannenberg nahm vor allem Stellung zur Sicht Bultmanns, die den Akzent ganz auf „das gehorsame Hören des Wortes“ als existentiellen Vollzug legt. In dem Aufsatz: „Zur Frage der Christologie“ von 1927 sagt Bultmann: „Der Glaube wird auf das Wort und auf die autorisierte Verkündigung verwiesen. Für das Wort ist also keine andere Legitimation zu fordern und keine andere Basis zu schaffen, als es selbst ist. Indem es uns trifft, fragt es uns, ob wir hören wollen oder nicht.“ Christen können nur das gepredigte Wort gehorsam anerkennen. Als das überlegene, fremde Wort, das dem sündigen Menschen gilt, verlangt es echten Gehorsam. Gegenüber der Kritik von Emanuel Hirsch, hier werde der Glaube unvermittelt auf ein Paradox reduziert, betont Bultmann: „Wir wollen doch nur verhüten, dass von außerhalb des Glaubens der Glaube als sinnvoll erkannt wird, wollen aber nicht den Glauben für einen Unsinn erklären.“5 Genau die hier formulierte Problemlage bestimmt die theologische Diskussion im 20. Jahrhundert und enthält die Kritik, die Pannenbergs Theologie betrifft, der Glaube werde von außerhalb des Glaubens fundiert. Die ausgeführte Christologie Pannenbergs 1964 antwortet auf diese Kritik. Im Vorwort wird ausdrücklich gesagt, dass die christologische Aufgabe „besonders dringlich“ sei angesichts der Kritik des geschichtstheologischen Konzepts von Offenbarung als Geschichte. Hängt doch das „theologische Recht der geschichtstheologischen Fragestellung … an dem mit ihr verbundenen Christusverständnis.“6 Deutlich wird gleich der entscheidende Punkt in dem Versuch Pannenbergs, die Christologie neu zu begründen. Die vielfältigen christologischen Traditionen sind „als Entfaltung der dem Auftreten und Geschick Jesu eigenen Bedeutsamkeit“ zu würdigen und zu bewähren. Entsprechend

5 Rudolf Bultmann, Zur Frage der Christologie, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd 1, 1933, 90. 107. 92. 6 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 9 (im Folgenden: GdC).

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wird gefragt: Stehen die „christologischen Entwürfe und der Streit um sie wenigstens der Sache nach bereits im Dienste einer Entfaltung der der Geschichte Jesu eigenen Bedeutung“? Pannenberg pointiert: „Eine derartige Fragestellung setzt voraus, dass die Geschichte Jesu ihren Sinn in sich selber trägt.“7 Damit zielt Pannenbergs Christologie darauf, den Glauben als Christusglauben nicht von außerhalb des Glaubens zu fundieren, vielmehr durch den bestimmten Inhalt des Wortes Gottes. Auf das Vorwort folgt ein kurzer Abschnitt ohne Überschrift, eine gute Seite lang. Dann folgt § 1: „Der Ausgangspunkt“. Dieser kurze Abschnitt ist keine Einleitung, wie sie Pannenberg sonst vornehmen wird mit ausführlicher Beschreibung der Problemlage, unterteilt in einzelnen Punkten. Hier wird kurz und prägnant, programmatisch argumentiert, um den „Sinn der christologischen Bemühung“ und den Sinn der ganzen Theologie Pannenbergs zu vermitteln.8 Dieses „Sinnwort“ hat mich 1965 sehr angesprochen, weil hier klar und neu zur Sache der Theologie gesprochen wird angesichts der Herausforderung der Zeit, in der ich lebe. Es enthält fünf Hauptgedanken. 2.

Die fünf Hauptgedanken des „Sinnwortes“

1. Da die Christologie „das Kernstück einer jeden christlichen Theologie“ ist, geht es in ihr darum, „was wir als Christen von Jesus zu sagen haben“. Dieses Sagen unterscheidet sich von „außerchristlichen Einschätzungen Jesu“, wie sie etwa von Karl Jaspers vorgetragen wurden oder gar von atheistischen Autoren, die in Jesus höchstens einen besonders edlen Menschen sehen. Die christliche Deutung hat im Bekenntnis zu Jesus eine größere Qualität als nur eine wichtige oder interessante Deutung neben anderen Auslegungen zu sein. Ihr geht es um „die wahre Bedeutung Jesu“, die „das allein sachgemäße“ christliche Reden, „das allein der Person Jesu gemäße“ übt.9 2. Dieser Anspruch muss gründlich „verantwortet werden“, „sich als wahr ausweisen“! Die Wahrheitsfrage gibt den Maßstab. Dazu betont Pannenberg: Der Anspruch hat sich „als wahr“ auszuweisen, „nicht erst gegenüber dem Zweifel der anderen, sondern schon im Wahrheitsgewissen der Glaubenden selbst.“10 Mit anderen Worten: Theologie ist nicht nur apologetisch, vielmehr immer schon kritisch dogmatisch, ist Selbstprüfung der Christen in ihrem Reden von Jesus. Der Erweis nach außen setzt den Erweis nach innen voraus. 7 GdC, 9. 10. 8 GdC, 13. 9 Ebd. 10 Ebd.

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Karl Barth kann in seinem Anselm-Buch sagen, „der Beweis nach innen ist auch der Beweis nach außen“ und sieht das Anliegen des Ungläubigen identisch mit dem theologischen Anliegen „unter Voraussetzung des christlichen Dogmas“ für alle, denen Unterweisung gegeben wird.11 Pannenberg unterscheidet beide Erweise, und beide sind in ihrer Unterschiedlichkeit wichtig, doch der innere Erweis in seiner Sachgemäßheit ist fundamental und begründet Theologie als Christologie. Das wird im Folgenden erhärtet. 3. Das „Sinnwort“ Pannenbergs zielt auf Eindeutigkeit. Ist jedes christologische Reden von Jesus theologisch, so basiert es auf der Erkenntnis: „Als Christen kennen wir Gott nur ((!)) noch so, wie er in und durch Jesus offenbar geworden ist.“ Christologie und Theologie gehören daher ganz eng zusammen. Diesen „Zusammenhang zu entfalten, ist geradezu das Ziel sowohl der Theologie als auch der Christologie.“12 Dass Gott durch Jesus offenbar ist und Gott nicht irgendetwas, sondern sich selbst offenbart, das ist in dieser Entfaltung klarzulegen. Offenbarung geschieht als Selbstoffenbarung Gottes, wie Pannenberg in Offenbarung als Geschichte herausgestellt hat.13 Das bedeutet aufgrund der Verzahnung von Christologie und Theologie die Einzigkeit der Offenbarung. Es gibt also keine verschiedenen Offenbarungen Gottes. In dieser sachgemäßen Auslegung folgt Pannenberg grundsätzlich Barth. Dass die biblisch bezeugte Offenbarung Gottes Selbstoffenbarung ist, impliziert die Wesenseinheit Jesu mit Gott. Pannenberg sagt im § 4 seiner durchgeführten Christologie: „Der Aufweis des Zusammenhanges der Gottheit Jesu mit dem Offenbarungsgedanken bildet eine der größten theologischen Leistungen Barths.“14 . 4. Wird von Gott sachgemäß nur christologisch geredet, dann ist alles andere Reden von ihm vorläufig. „Alles andere Reden von Gott kann höchstens vorläufige Bedeutung haben.“ Der Beweis nach außen ist also vorläufig, doch wichtig, unaufgebbar in unserer Zeit. Von Gott vorläufig zu reden mag „durchaus sinnvoll und nötig sein, sogar als Voraussetzung der Christusbotschaft.“15 Mit dieser Akzentsetzung trennt sich Pannenberg von Barth. Implizit wird dem zugestimmt, dass Menschen heute nicht mehr fragen, ob Gott gnädig sei, 11 Karl Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, 1931, hrsg. von Eberhard Jüngel/Ingolf U. Dalferth, in: Karl Barth Gesamtausgabe II. Akademische Werke, Zürich 1981, 67. 68. 12 GdC, 13. 13 Wolfhart Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961, 91: These 1, gesperrt gedruckt: „Die Selbstoffenbarung Gottes hat sich nach den biblischen Zeugnissen … durch Gottes Geschichtstaten … vollzogen.“ S. 107: Die Auferweckung Jesu bedeutet, „dass das Ende im Geschick Jesu schon angebrochen und also Gott in ihm offenbar ist.“ 14 GdC, 129. 15 GdC, 13.

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vielmehr ob Gott überhaupt sei. Das ist die Kernfrage, auf die die Christologie heute faktisch antwortet. In der Anmerkung des ,Sinnwortes’ Pannenbergs, die Gerhard Ebeling zitiert, wird das explizit gesagt: In „gewissem Sinne ist es unumgänglich, ,die Menschen zunächst zum Glauben an Gott zu bringen, als Vorbedingung eines darauf dann aufbauenden Glaubens an Jesus Christus’ – was G. Ebeling: Theologie und Verkündigung, 1962, S. 25, in Frage stellt.“16 . Was Pannenberg in Frage stellt, sind zwei in der evangelischen und katholischen Theologie bekannte Verbindungen des menschlichen Fragens nach Gott und der Antwort, die Gott gibt: Anknüpfung und Widerspruch sowie Anknüpfung und Überbietung. Beides lehnt Pannenberg ab. Sein Denken zielt auf Vorläufigkeit und Aufhebung. Wie Gott durch Jesus offenbar ist, „hebt eben jene ihre eigene Voraussetzung auf “, die Frage nach Gott und ihre vorläufigen Beantwortungen. Die konsequent christologische Entfaltung des Gottesgedankens „wird dann die Aufhebung der menschlichen Frage nach Gott, ihrer philosophischen Ausarbeitung und ihrer vorläufigen, nicht sachgemäßen Beantwortung in den außerchristlichen Religionen und Denkrichtungen, durch die Christusoffenbarung beschreiben.“17 Damit werden Außerchristliches und different Religiöses kritisch angeeignet bzw. kritisch verwandelt. In seinem Anthropologie-Buch von 1983 hat Pannenberg diesen Vorgang ausdrücklich als kritische Aneignung charakterisiert, bezogen vor allem auf die Beiträge nichttheologischer Anthropologie. Wird nur angeknüpft, dann „wird die nichttheologische Anthropologie nicht kritisch verwandelt“! Die säkulare Beschreibung der Phänomene des Menschseins wird „als eine nur vorläufige Auffassung der Sachverhalte angenommen“18 . Pannenberg hat in den Grundzügen der Christologie eine „Phänomenologie der Hoffnung“ gegeben, in der die nicht endliche Erfüllung der menschlichen Wesensbestimmung als ein „allgemein aufweisbare(r) anthropologische(r) Befund“ für die Verständlichkeit der christlichen Hoffnung aufgezeigt wird. Aber mehr als eine Anzeige kann es nicht sein. Es soll nur soviel „angedeutet werden“, dass die christliche Hoffnung „keineswegs als sinnlos erscheinen muss“.19 Im Anthropologie-Buch wird das 16 GdC, 13. Ebeling geht es darum, dass Jesus auch für die Gottlosen da ist und das Kerygma selbst herausgefordert ist. Das würde Pannenberg auch nicht bestreiten, doch er will konsequent die veränderten Verstehensbedingungen der Neuzeit ernst nehmen. Ebeling stellt selbst scharf heraus (S. 24): „Denn – das ist wohl die tiefste Veränderung für die Frage der Christologie, wenn man sie sich auch nur zögernd eingesteht – es ist vorbei mit der Selbstverständlichkeit, in der die traditionelle Christologie Gott, ja genauer: die zweite Person der Gottheit als von vornherein bekannte Größe voraussetzte, um über sie die im engen Sinne christologischen Aussagen zu machen.“ 17 GdC, 13. 13f. 18 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 19. 19 GdC, 81. 79. 84.

Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964

ausgeführt und klar gesagt, dass „auf der Ebene der anthropologischen Befunde“ die „göttliche Wirklichkeit bestenfalls als problematischer Bezugspunkt menschlichen Verhaltens … eingeführt werden kann.“20 Entscheidend ist die Aufhebung als kritische Erhellung, die alles in einem neuen Licht sehen lässt (s. unten Abschnitt 3). Das „Sinnwort“ von 1964 enthält die Denkfigur von Vorläufigkeit und Aufhebung und stellt ins Zentrum die Bedeutung Jesu „für den Gottesgedanken“. Ist doch die Christologie das „Kernstück“ der Theologie.21 5. Der abschließende Hauptgedanke des ,Sinnwortes’ Pannenbergs lautet, nachdem der Gottesbezug in der Auslegung der Bedeutung Jesu herausgestellt ist: „Der Weg der Christologie hingegen setzt bei Jesus selbst ein, um in ihm Gott zu finden. Dabei wiederum muss der Gottesgedanke historisch und sachlich schon vorausgesetzt werden.“22 Christologie setzt bei dem geschichtlichen Jesus von Nazareth ein und fragt, wie es durch diese geschichtliche Erscheinung zur Erkenntnis Gottes kommt. Pannenberg vertritt damit eine Christologie von unten und wendet sich gegen eine Christologie von oben, die in ihrer ganzen Argumentation immer schon die Gottheit Jesu voraussetzt und damit nur schwer die Besonderheit des Menschen Jesus von Nazareth erkennen kann. Sie erliegt der Gefahr, wie es bei Karl Barth geschehen sei, spekulativ von Gott her über Jesus zu reden. Als Gottes Sohn steige er aus der oberen Welt in die untere hinab. Dieser Weg ist einer authentischen Christologie verwehrt. „Man müsste auf dem Standpunkt Gottes selbst stehen, um den Weg des Sohnes Gottes in die Welt hinein zu verfolgen.“ Angesichts unserer Begrenztheit in einer bestimmten menschlichen Situation „muss unser Ausgangspunkt in der Frage nach dem Menschen Jesus liegen; nur auf diesem Wege kann nach seiner Gottheit gefragt werden.“ 23 Doch wenn Pannenberg am Schluss seines ,Sinnwortes’ sagt: „Dabei wiederum muss aber der Gottesgedanke historisch und sachlich schon vorausgesetzt werden“, dann begrenzt er diesen Ausgangspunkt. Methodisch hat Theologie den Weg von unten zu gehen, vom historischen Jesus auszugehen, in der Sache aber ist der Gottesgedanke vorausgesetzt. Dass er dies in seinem christologischen Entwurf von 1964 nicht genügend in der Auslegung des Menschseins Jesu zur Geltung gebracht hat, unterstreicht er in seinem Nachwort zur fünften Auflage von 1976. Gerade von seiner Christologie von unten wird die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth als die der Geschichte Jesu eigene Bedeutung erkannt, so dass sich „von diesem Ergebnis her die Aufgabe“ stellt, „die Geschichte Jesu nun auch als Handeln Gottes zu denken“24 . Diese Konsequenz hat Pannenberg insofern schon in der ersten 20 21 22 23 24

S. Anm. 18), 21. GdC, 14. 13. GdC, 14. GdC, 29. GdC 5. Auflage, 422.

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Auflage impliziert, denn er anerkennt bei dem christologischen Ansatz von oben „das relative Recht einer solchen Fragestellung“. Ist doch „das Spezifische der christologischen Frage nach Jesus, dass sie ... einsetzt bei seinem Verhältnis zu Gott, wie es im Ganzen seines Auftretens zum Ausdruck kommt.“25 Dass Gott in seinem Handeln in Jesus von Nazareth verstanden und geglaubt wird, bildet letztlich den Sinn aller christologischen Bemühungen. 3.

Christologie unter den Bedingungen der Neuzeit

Wenn Pannenberg in seinem „Sinnwort“ das Wahrheitsgewissen des Glaubenden anspricht, stellt er sich auch der veränderten Aufgabe der Christologie in der Neuzeit, die von keiner Art Gottesbeweise mehr ausgehen kann. Die philosophischen Gottesbeweise ließen in früheren Zeiten die Existenz Gottes annehmen. Man fragte daher nur, „wie dieser Gott ins Fleisch gekommen sein kann“ und stand vor „unlösbaren Aporien“. Doch diese Fragestellung ist seit „der Zerstörung des alten theistischen Weltbildes durch die Aufklärung und Kant“ nicht mehr möglich. Auch die moderne Frage nach Gott in ihrer existentialistischen Auslegung ist kein Beweis. Dass der Mensch nicht aufhört, nach Gott zu fragen, wie auch immer der Gottesgedanke ausgedrückt wird, bleibt bedeutsam, doch der „Gottesgedanke hat nur den Charakter einer Frage, der der Mensch freilich nicht entrinnen kann. Er bildet noch keine Antwort, wie sie die natürliche Theologie immer wieder aus ihm zu gewinnen strebte.“ Pannenberg wendet sich also gegen die natürliche Theologie, denn die Antwort auf unser Fragen und Sehnen kann allein von dem sich in Jesus offenbarenden Gott „empfangen“ werden. Dieses geschichtliche Widerfahrnis betrifft „ein Gesamtverständnis der Wirklichkeit“, denn in dem Widerfahrnis ist „Gott selbst offenbar“, und nur so „ist rechte Gotteserkenntnis überhaupt möglich.“26 Damit stellt sich Pannenberg ganz auf den Boden der Theologie, wie sie prominent von Barth vertreten wird, für die der Begriff der Selbstoffenbarung Gottes grundlegend ist. Dass sich Gott selbst offenbart, wenn von Gott recht Zeugnis abgelegt wird, das stellt das Fundament der Theologie dar. Diese nach dem Zusammenbruch des Theismus vor allem gewonnene Einsicht lässt auch wieder bestimmte biblische Sachverhalte neu sehen. Indem Pannenberg das verständlich macht, vermittelt er zugleich, was Aufhebung in der Theologie heißt. Das Urchristentum ging selbstverständlich von dem Gottesgedanken des Alten Testaments aus, aber es war nicht „selbstverständlich für die älteste Christenheit, dass Gott in Jesus war.“ Es kam vielmehr zu einer ganz neuen Sicht. 25 GdC, 29. 30. 26 GdC, 129. 130.

Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964

Immer deutlicher wird in ihren Zeugnissen, „dass die ersten Christen von der Geschichte Jesu her in neuer Weise und nun erst eigentlich verstanden, wer Gott ist. Darüber wurde der Gottesgedanke des AT zu etwas nur Vorläufigem, nicht in dem Sinne, dass ihm etwas hinzugefügt wurde, freilich auch nicht so, dass etwas ganz anderes an seine Stelle getreten wäre, sondern so, dass von Jesus her alles bisher über Gott Gedachte in neuem Lichte erschien.“27 Alles erscheint in einem neuen Licht. Die einzigartige Jesuserfahrung führt zu dem Aufgang einer neuen Gewissheit Gottes. Und auch Pannenberg ist von dieser Einzigartigkeit ergriffen. Sie setzt die Energie seines Denkens frei mit dem Bewusstsein gesteigerter Klarheit und Tiefe. Keine natürliche Theologie und keine spekulative Theologie werden der neuen Offenbarungserkenntnis als Lichterfahrung gerecht. Die Begegnung mit Jesus von Nazareth, mit seiner Botschaft und seinem Geschick eröffnet eine umfassende Tiefenerfahrung Gottes, die alles neu beleuchtet. In der Spekulation der Theologen wie Athanasius sah man in Jesus nur den Abglanz eines göttlichen Logos, „statt im geschichtlichen und auferstandenen Jesus selbst die Macht zu suchen, die die Welt im Innersten zusammenhält“, und Pannenberg stimmt Barth zu, dass er jenen spekulativen Gedanken „zurückgewiesen“ hat.28 Die „Gottesfrage der Griechen wurde, indem sie ihre Antwort fand, zurechtgerückt. Die Antwort findet sich nicht in der Richtung der Frage, sondern verwandelt den Fragenden selbst“, wie Pannenberg seinen amerikanischen Freunden eindrucksvoll erklärt. Die Menschen in der hellenistischen Zeit erfuhren, dass sich von dem in Jesus offenbaren Gott in seiner radikal eschatologischen Dimension „das Ganze der Wirklichkeit tiefer erschloss, als es bisher der Fall gewesen war.“29 Wir fragen heute: „Inwiefern kann der Gott Jesu uns heute noch als die alles bestimmende Wirklichkeit gelten?“ Inwiefern erweist sich der Gott der Liebe in Jesus als machtvoll? „Für den einzelnen ist das eine Frage persönlicher Erfahrungen, die ihn geneigt machen, einem bestimmten, von andern behaupteten Gott ,alles’ zuzutrauen. Für das Denken, im Medium der Allgemeinheit, ist es die Frage, ob ein behaupteter Gott als Macht über alles ,gedacht’ werden kann.“ So sehr der überzeugende Gottesgedanke in Pannenbergs Theologie im Vordergrund steht, so sehr lebt sie von der persönlichen Erfahrung, die vom Denken des Ganzen in seiner ganzen eschatologischen Dimension „als wahr bestätigt werden“ kann. In jedem Fall geht es im Verstehen und Erleben der eschatologischen Besonderheit der Geschichte Jesu um „uneingeschränktes Vertrauen: Weil es bei Jesus 27 GdC, 130. 28 GdC, 410. 29 W. Pannenberg, Die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth, in: J.M. Robinson/J.B. Cobb, Jr. (Hg.), Theologie als Geschichte (Neuland in der Theologie. Ein Gespräch zwischen amerikanischen und europäischen Theologen Bd. III), Zürich/Stuttgart 1967, 144. 169.

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um das Ganze geht, darum ist hier ganzes Vertrauen gefordert – unbeschadet der relativen Unsicherheit unseres historischen Wissens von Jesus.“30 . Pannenberg verantwortet Christologie unter den Bedingungen der Neuzeit sehr differenziert. Weil es ihm um die Deutlichkeit der biblischen Wahrheit als eschatologische Wahrheit geht, wie sie in der Geschichte Jesu offenbar ist, darum konzentriert er sich auf die gedankliche Rechenschaft und zieht sich nicht auf die Subjektivität zurück, versteht den Glauben nicht als Festung der frommen Subjektivität. Damit bleibt nicht das persönliche Erleben, die Erfahrung der Verwandlung in der Jesusbegegnung unbedacht, im Gegenteil, sie wird der theologischen Rechenschaft in gründlicher Weise zugeordnet. Dass sich durch den Bezug auf den Gott in Jesus das Ganze der Wirklichkeit tiefer erschließt, ist immer eine Frage gegenwärtiger Erfahrung, in der der auf Gott Vertrauende seine persönlichsten Erfahrungen ernst nimmt. Pannenbergs universalgeschichtlicher, eschatologischer Horizont öffnet gerade für neue Erfahrungen im Gottesglauben, für ein tieferes Verstehen des Ganzen, nach dem implizit gefragt wird im Leben und Forschen der Menschheit angesichts der Bedrohungen und Verheißungen in der Welt. Was soll das Ganze? Verzichtet die christliche Botschaft nicht auf ihren Wahrheitsanspruch, bedarf dieser „einer Bewährung an der Welt- und Selbsterfahrung“. Dabei leitet die Erfahrung des Göttlichen als Widerfahrnis, dass Gott als Geheimnis der Wirklichkeit gegenwärtig sein lässt, indem diese Wirklichkeit sich „als machtvoll erweist im Horizont der jeweiligen Daseinserfahrung.“31 . Jesu Geschichte und unsere Geschichte – das ist die Programmatik Pannenbergs wie er sie in einem Radius-Heft 1960 auf den Punkt gebracht hat. „So ist die Lehre Jesu nicht für sich, sondern nur als Bestandteil seines Lebensgeschicks Wahrheit.“ „Der Gott Israels selbst hat sich erst durch diese Geschehnisse vor aller Welt als der allein wahre erwiesen.“ In diesen Geschehnissen ist „die Hoffnung auf unsere eigene dereinstige Auferweckung begründet.“ Und Pannenberg meint, „dass gerade die moderne anthropologische Forschung den Weg zur Einsicht in die vernünftige Wahrheit“ der Erwartung der künftigen Auferstehung der Toten „wieder freigelegt hat.“ Der einzigartige Erweis Gottes in der Geschichte Jesu geht unsere eigene Geschichte an, ist der menschlichen Hoffnung verständlich. Die Auferweckung Jesu wird „wieder verständlich als der Einbruch der Vollendung der Geschichte“32 .

30 W. Pannenberg, Stellungnahme zur Diskussion, in: s. Anm. 28, 286. 297. 305. 31 Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 8. 284. 32 Ders., Jesu Geschichte und unsere Geschichte, in Glaube und Wirklichkeit. Kleine Beiträge zum christlichen Denken, München 1975, 92f. 93. 94. 102.

Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964

4.

Pannenbergs Nähe zu Karl Barth

Pannenbergs neuer Ansatz: Offenbarung als Geschichte, wie er in den Grundzügen der Christologie realisiert wird, bleibt trotz seiner Abgrenzung von Karl Barth in einer Nähe zu ihm. Das zeigt das „Sinnwort“: Christologie muss sachgemäß sein. Sie ruft zur Sache! Sie ist Selbstprüfung der Christen in ihrem Reden von Gott. Sie kennen Gott nur durch Jesus. Entsprechend hat jede Theologie ihr Zentrum in der Christologie. Indem Pannenberg Offenbarung ganz als Selbstoffenbarung Gottes versteht, weil nur Gott selbst offenbaren kann, wer er ist, folgt er der Radikalisierung des Offenbarungsbegriffs durch Barth. Dabei bringt er zur Geltung, dass diese Offenbarung in ihrer Geschichtlichkeit verstanden werden muss, eben Offenbarung als Geschichte. Es ist Gott, der in der Geschichte handelt. Deshalb, so Pannenberg in seinem Dialog mit amerikanischen Theologen 1967, „ist es irreführend zu sagen, die Geschichte offenbare Gott. Denn die Geschichte ist kein Gott gegenüber selbständiges, in sich bestehende Subjekt. Weil Geschichte ihrem Begriff nach schon konstituiert ist durch die wirksame Präsenz des unendlichen Gottes, darum kann es nur heißen: Gott offenbart sich in der Geschichte.“33 Diese Klarstellung wird häufig übersehen! Für Pannenbergs Sicht der Geschichte ist markant, dass sie überlieferungsgeschichtlich verstanden und nicht aus einem allgemeinen Begriff hergeleitet wird. Die biblische, neu- und alttestamentliche Überlieferung vermittelt, dass Gott in seinen Geschichtstaten seine Gottheit erweist und in der Geschichte Jesu vorweg die Zukunft der Menschheit bestimmt. Gott selbst wird am Ende der Geschichte offenbar, das in Jesus Christus schon Ereignis den Menschen zugute ist. Deshalb darf im Verstehen der Selbstoffenbarung Gottes „die eschatologische Qualifizierung der Gegenwart vom Christusgeschehen und der Heilszukunft her nicht verloren gehen“, so Pannenberg in Offenbarung als Geshichte. Seine zentrale These: „Die Offenbarung findet nicht am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte statt.“ (These 2 in Offenbarung als Geschichte, gesperrt gedruckt).34 Pannenberg radikalisiert Barths Offenbarungsverständnis biblisch eschatologisch und nimmt damit ernst, was Barth in seiner zweiten Auslegung des Römerbriefes erklärt hat: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun.“35 Pannenberg wird später in seiner Systematischen Theologie diese Aussage selbst zitieren und Barths eschatologische Auslegung des Handelns

33 S. Anm. 28, 323. 34 S. Anm. 12, 95. 35 K. Barth, Der Römerbrief. Zweite Auflage , München 1922, 300.

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Gottes würdigen.36 Im zweiten Römerbrief versteht Barth eschatologisch jedoch programmatisch als „Sich-aussetzen an das Ganz-anders-sein Gottes“ und ist so „kein Zeitbegriff mehr, sondern ein Existenzbegriff, der Christentum als ständig neuen Akt in Begegnung auslegt.“37 Barth gewinnt aber in seiner Kirchlichen Dogmatik wieder den Zeitbegriff, weil er die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus als Gottes Handeln in der Geschichte bestimmt. „Die Offenbarung ist ja Geschichte, und nur als solche ist sie Offenbarung und also auch nur als solche zu erkennen und zu glauben.“ Offenbarung als Geschichte! „Aber nur auf Grund dessen, dass G o t t handelt in der Geschichte, ist die Geschichte Offenbarung und also Gegenstand des Glaubens. Die abstrakt betrachtete Geschichte ist gerade nicht Offenbarung.“38 In seiner Dogmatik im Grundriss formuliert Barth: Die Bibel ist „ein Geschichtsbuch: das Buch von den großen Taten Gottes, in welchen uns Gott erkennbar wird.“ „Die christliche Hoffnung i s t schon der Same des ewigen Lebens“. In Jesus Christus „leben wir jetzt und hier in der Vorwegnahme des Eschaton, da Gott Alles in Allem sein wird.“39 Diese geschichtliche, eschatologische Programmatik charakterisiert sowohl Barths als auch Pannenbergs Theologie. Beiden geht es um ein rechte eschatologische Theologie der christologischen Tatsachen, die Geschichte als Geschichte Gottes verantwortet. Hier artikuliert sich eine biblisch verankerte Theologie der Offenbarung als Geschichte, die der Reduktion auf die Subjektivität im Verstehen der Wahrheit widerspricht. Der Sinn christologischer Bemühungen ist die Überprüfung dieser Programmatik in der Klarheit, dass die Christologie „das Kernstück einer jeden christlichen Theologie“ ist, wie es Pannenberg in seinem „Sinnwort“ sagt. Dass er seine Grundzüge der Christologie mit diesem „Sinnwort“ Barth 1964 geschickt hat, ist Ausdruck seiner Nähe zu Barth. Er bietet damit eine Weiterführung der gemeinsamen Programmatik an, die Barth aber entschieden ablehnt. Der Denker der Kirchlichen Dogmatik führt die Programmatik Offenbarung als Geschichte anders durch, um christliches Nachdenken nicht fehlgeleitet zu lassen. Die primäre Orientierung an dem historischen Jesus ist eine solcher Fehler, weil sie von unten her denkt und damit von Gott absieht. Gottes Wort ist Jesus Christus in der Geschichte. Als Wort ist es unmittelbar geschichtsmächtig. Der historische Jesus gehört in den Bereich der Objektivität und sperrt sich gegen eine wirkliche Begegnung.40 Barth hält aber fest, dass das 36 W. Pannenberg, Systematische Theologie Band III, Göttingen 1993, 573f. 578ff. 37 J. Ratzinger, Eschatologie – Tod und Ewiges Leben, Regensburg 3. Auflage 2017, 50. 38 K. Barth, Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, KD I, 2, Zürich 1938, 150. 39 Ders., Dogmatik im Grundriss. Vorlesungen gehalten im Sommersemester 1946 an der Universität Bonn. Zürich 1947, 43. 182. 40 Vgl. KD IV, 2, 589.

Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964

Handeln Gottes in der Geschichte Jesu Christi ein reales Geschehen in Raum und Zeit ist, doch dass darin Gott selbst handelt, von ihm her unmittelbar wahr wird, das ist unhistorisch. „Gerade in ihrer Unmittelbarkeit zu Gott ist sogar alle Geschichte unhistorisch, … ohne darum aufzuhören, wirklich Geschichte zu sein.“41 Barths Programmatik zielt auf die Aktualität Gottes durch seine Geschichte selbst, die durch Gottes Wort, durch die Person Jesu Christi, seinen Geist des Menschen neue Geschichte wird. Dass es zu dieser „Bestimmtheit unseres eigenen wirklichen Lebens“ kommt, bedarf es der Person Jesu Christi, „dass seine Geschichte als solche laut des Osterberichtes, in dem sie damals und dort geschah … gerade keine alte, keine vergangene, sondern für jeden Menschen die neue Geschichte, Jesu Christi eigene Gegenwart und Aktion ist: wahr im Modus der Wirklichkeit für uns, für wahr zu halten daraufhin, dass sie sich uns kraft ihres eigenen Vermögens als Wirklichkeit erweist.“42 Solche Aussagen Barths zeigen, dass er durch ein aktualistisches Verständnis der Geschichte Jesu Christi deren Bedeutung selbst erfassen will. Geschichte verschwindet nicht in dem ,Augenblick‘ Kierkegaards oder dem bloßen ,Dass‘ Bultmanns, ihr Inhalt ist zentral, doch ihre Wirkung ist Geschehen als Geschichte und insofern bleibt er in der Nähe des existentialistischen Verstehens von Geschichte als Geschichtlichkeit, die das Problem des Historischen hinter sich lässt. Dieser aktualistischen Lösung widerspricht Pannenberg, doch bewahrt er den zentralen Gehalt, nämlich die Bedeutung, die der Geschichte Jesu Christi selbst inne wohnt. Dazu darf Geschichte nicht aktualistisch verkürzt werden. Der Rückgang auf den historischen Jesus, „auf Jesus selbst“, ist nötig. „Wenn von Jesus als dem Grund unseres Bekenntnisses zu ihm die Rede sein soll, vom Grund unseres Glaubens an ihn, dann kann das nur der damalige Jesus sein.“ Dem widerspricht Barth mit seiner ganzen Theologie. Pannenberg fährt aber fort: Dieser Grund unseres Glaubens bewährt sich allerdings und muss sich bewähren an unserer gegenwärtigen Wirklichkeitserfahrung.“ Der Gläubige weiß sehr wohl, dass Jesus „als der Auferstandene und Erhöhte auch der gegenwärtige Lebendige ist. Aber solches Wissen vom lebendigen gegenwärtigen Herrn kann nicht durch unmittelbare heutige Erfahrung im Umgang mit dem Erhöhten gewonnen werden.“ Für diese Auffassung beruft sich Pannenberg auch auf Paulus, der den gnostischen Wahn in Korinth bekämpft, den erhöhten Herrn zu erfahren. „Die ,Erfahrung‘ der Gegenwart Christi ist erst für das Ende aller Tage verheißen.“43 Dass in dem damaligen Jesus Gott offenbar ist, darauf zielt die Begründungsaufgabe der Christologie.

41 K. Barth, Die Lehre von der Schöpfung, KD III, 1, Zürich 1955, 87. 42 Ders., Die Lehre von der Versöhnung. Erster Teil, KD IV, 1, Zürich 1960, 250. 43 GdC, 21. 22.

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Auch im Spätwerk arbeitet Pannenberg die geschichtlich vermittelte Heilserfahrung in Botschaft und Geschick Jesu heraus, damit die „Differenz von Versöhnung und Vollendung“, doch er vertieft das kritische Verständnis der Gegenwart des lebendigen Christus durch das der „Vollendung der Versöhnung im Geist“! Der Mensch wird durch den Geist der in Jesus Christus „exemplarisch vollbrachten Versöhnung teilhaftig“, indem der Glaubende „ekstatisch außer sich“ ist. Er ist so bei Christus – Röm 6, 6 und 11 sind die biblischen Bezugsstellen – befreit und neu. Sind Christen durch den Glauben aufgrund der Wirksamkeit des Geistes in Christus, „so bedeutet das doch nicht, dass sie im Sinne einer Einigungsmystik mit Christus“ verschmelzen. Sie nehmen ihr eigenes Dasein in seiner Endlichkeit vor Gott an und verweisen auf die Bedeutsamkeit, „die der Geschichte Jesu von ihr selbst her eignet: Die Versöhnung der Welt ist schon im Tode Christi (2 Kor 5, 19), obwohl sie doch erst durch den Geist in den Glaubenden vollendet wird. Mit der trinitarischen Entfaltung des Christusglaubens erfährt Pannenbergs Theologie eine entscheidende Vertiefung, die „die rein historische Betrachtung“ überwindet.44 5.

Der Sinn der Kategorien Offenbarung und Selbstoffenbarung

Ein ‚Sinnwort‘ wie das von 1964 findet sich nicht mehr im Werk Pannenbergs. Es ist Ausdruck seines frühen programmatischen Denkens. Das Spätwerk ist von der Entfaltung des trinitarischen Verständnisses Gottes in Jesus Christus bestimmt und hält daran fest, dass eine „Neuformulierung der christlichen Lehre aus der ihr eigenen Sachproblematik heraus“ entwickelt wird.45 Das bedeutet, dass die Theologie sachgerecht von Gott und seiner Offenbarung zu reden hat. In diesem Spätwerk findet sich ein kurzer Aufsatz, der durch seinen Titel auffällt: Offenbarung als Kategorie philosophischer Theologie und jene Programmatik zur Geltung bringt, die ebenso von Anfang an bestimmend ist wie die Betonung der Christologie: die Rede von Gott muss im Verhältnis von Theologie und Philosophie verantwortet werden. Dieser Aufsatz wurde 1994 veröffentlicht in: Archivio di Filosofia in Italien, wo Pannenberg sich mehrfach zum Dialog mit Philosophen und Theologen befand. Der Offenbarungsbegriff wird als bedeutsam für die Religionsphilosophie gezeigt und damit das Nachdenken über das „Sinnwort“ Pannenbergs von 1964 gesteigert.46 44 W. Pannenberg, Systematische Theologie Band II, Göttingen 1991, 459. 496. 497. 498. 499. 501. 493. 45 Ders. Systematische Theologie Band I, Göttingen 1988, 8. 46 Ders., Offenbarung als Kategorie philosophischer Theologie, in: Beiträge zur Systematischen Theologie Band 1 Philosophie, Religion, Offenbarung, Göttingen 1999, 238–245.

Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964

Das Verhältnis von philosophischer Theologie und Religion wird geistesgeschichtlich durchdacht, um der Kritik an den philosophischen Gottesbeweisen und an der theistischen Gottesvorstellung Raum zu geben und die „Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Religion“ in den Blick zu nehmen. Dabei bekommt der Begriff der Offenbarung den hohen Stellenwert, indem nach dem „Sinn der Kategorie Offenbarung“ gefragt wird. Pannenberg votiert für eine Religionsphilosophie, „die als eine kritische Theologie der Religion zugleich das Erbe der philosophischen Theologie der metaphysischen Tradition wahrnehmen würde.“ Richtungsweisend für sein Votum ist die Auseinandersetzung mit Descartes, der die philosophische Theologie neu begründet mit der Abweisung der traditionellen Gottesbeweisen und mit dem konstruktiven Hinweis darauf, „dass alles menschliche Bewusstsein auf einer Intuition des Unendlichen beruht.“ Doch diese Intuition darf nicht als ein Wissen von Gott verstanden werden. „Der Gottesname gehört dem Bewusstsein der Religion an, und sein Inhalt lässt sich nicht herleiten aus der unbestimmten Intuition des Unendlichen.“ Was Sache ist, wird durch die Theologie verantwortet, die die philosophische Reflexion darauf hinweist, „das das religiöse Bewusstsein der Menschheit Ausdruck der Selbstbekundung der göttlichen Wirklichkeit sein könnte“47 . Folge eines solchen Dialogs, der über den mit der Anthropologie hinausgeht, wäre jene Religionsphilosophie, in der „die Begriffe der Offenbarung und der Selbstoffenbarung ihren Platz finden“ und „deskriptiv“ verwandt werden. „Dabei mag der Begriff der Offenbarung zunächst allgemein für die Bedingung religiösen Wissens stehen, dass solche Erkenntnis nämlich von der Gottheit selber ausgehen muss“, also kein einer Gottheit abgerungenes Wissen ist. „Dieser Sinn der Offenbarung, wonach nicht nur die Erkenntnis der Gottheit, sondern alles religiöses Wissen von ihr selbst ermöglicht sein muss, lässt sich in den Texten der religiösen Überlieferungen vielfältig belegen.“ Davon unterschieden ist der Begriff der Selbstoffenbarung, der sehr viel speziellere Bedingungen für seine Anwendung hat. Gott tut hier nicht dies oder jenes kund. „Von Selbstoffenbarung sollte nur gesprochen werden, wo das Selbst der offenbarenden Gottheit – ihr Gottsein also – Inhalt der Mitteilung ist.“ Sie ist nirgends schon bekannt. Deshalb bedarf es „zu ihrer Erkenntnis einer besonderen Selbstoffenbarung.“ In der Bibel findet sich das spezifische Zeugnis dieser Offenbarung, die Pannenberg mit dem Programm Offenbarung als Geschichte in seiner Besonderheit herausgestellt hat. Diese gipfelt darin, dass der sich dem Volk Israel zu erkennen gegebene Gott die Geschichte vollenden wird und „dass diese endzeitliche Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte Jesu bereits antizipatorisch realisiert ist.“ Der Sinn, von Offenbarung als Selbstoffenbarung zu reden, 47 Ebd, 240. 244. 243. 244.

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betrifft demnach Gottes einzigartiges, eschatologische Handeln und steht in einer philosophischen Religionstheologie offen zur Diskussion, ist dieser also „nicht etwa autoritativ entzogen“48 . Mit dieser religionsphilosophischen Beschreibung befindet sich Pannenberg in größtmöglicher Entfernung von Barths Theologie und geht einen anderen Weg innerhalb der gegenwärtigen Theologie. Was er hier treibt, ist aber keine natürliche Theologie, vielmehr Rechenschaft der christlichen Hoffnung angesichts der Fragen und Bestimmungen der Religionsphilosophie. Indem Pannenberg dabei klar stellt, dass Religionsphilosophie durch Religionsgeschichte fundiert wird, verweist er auf das Handeln Gottes selbst und lädt ein, sich auf die eigentliche Sache der christlichen Religion zu besinnen, deren Sinn durch nicht-autoritäre Besinnung zu entdecken. Pannenbergs Denken ist von der Idee einer großen, „umfassende(n) Orientierung über die Wirklichkeit“ geprägt, die durch Philosophie und Theologie allein geleistet werden kann und heute defizitär ist. Deshalb schreibt er das Buch: Theologie und Philosophie, um den Theologen zu vermitteln, dass „die unbewältigte Aufgabe“ umfassender Orientierung „auch heute nur philosophisch gelöst werden kann.“ Auch die „Relevanz der Einzelwissenschaften für ein Gesamtverständnis von Mensch und Welt kann nur auf der Ebene philosophischer Reflexion der einzelwissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen angemessen behandelt werden.“ Theologie aber hat ihren Beitrag zur Gesamtorientierung zu leisten, weil Gott als Schöpfer der Welt „sich in Jesus Christus für alle offenbart hat.“ Es stellt sich „die Aufgabe einer argumentativen Auseinandersetzung mit den Lehren der Philosophen.“49 Dazu verantwortet er ein philosophisches Verständnis der Offenbarung und gibt Rechenschaft über den Sinn der Offenbarung im umfassenden Sinn. Was 1964 im „Sinnwort“ als der Sinn der christologischen Bemühung vertreten wurde, hat einen umfassenden Horizont und wird 1994 religionsphilosophisch markant deutlich gemacht. Damit bleibt Pannenberg insofern innerhalb des Offenbarungsdenkens gegenwärtiger Theologien, weil auch philosophisch (!) Offenbarung verständlich gemacht wird. Mit seiner Idee eines Gesamtverständnisses der Wirklichkeit stellt er sich in die klassische Tradition der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie. Das Revolutionäre seiner Theologie liegt in dem vernünftigen Versuch, die Geschichtlichkeit der Wahrheit, ihr eschatologisches Verständnis konsequent und umfassend vor dem defizitären modernen und postmodernen Denken zu verantworten. Letztlich hat Theologie radikal geschichtlich auf die Grundfragen des Lebens zu antworten und dem Bewusstsein zu widersprechen, alles 48 Ebd. 244. 245. 49 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 19. 18. 15.

Nachdenken über ein „Sinnwort“ Pannenbergs zu seiner Christologie 1964

sei zufällig, nur von Interessen bestimmt, ohne weiterführenden Sinn. „Um zu erfahren, wer oder was wir sind, müssen wir wissen, wozu wir da sind, wohin wir in unserer Geschichte unterwegs sind.“50 Die radikal geschichtliche Antwort auf die Sinnfrage vermeidet die neue liberale Theologie im 21. Jahrhundert, die den theologischen Bezug auf die Offenbarung beendet und keine Theologie mehr innerhalb des Offenbarungsdenkens ist. Sie kann daher auch nicht mehr die theologischen Leistungen Barths würdigen, die Pannenberg bei aller Differenz anerkennt. Mir hat Pannenberg vermittelt: Was wir heute brauchen, sind theologische Sinnworte. Diese aber kann es nicht geben ohne ein eschatologisches Verständnis der Wahrheit als Geschichte.

50 Ders., Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, 5.

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Warum ist Jesus von Nazareth in Wahrheit Gottes Sohn? Pannenbergs Programm einer „Christologie von unten“

Die Bezeichnung „Christologie von unten“ suggeriert etwas terminologisch Improvisiertes und Schlagwortartiges, das einer genaueren Bestimmung bedürftig zu sein scheint. Es handelt sich also vordergründig um einen vorläufigen, ironisch-metaphorisch gebrauchten Verlegenheitsbegriff. Diesem Eindruck widerspricht auf der anderen Seite, dass Pannenberg seine Christologie ganz bewusst in den Horizont dieses Begriffes stellt und sie als eine solche „Christologie von unten“ verstanden wissen will (Chr, 26ff.)1 . Pannenberg geht dabei aber so vor, dass er den genuinen Sinn dessen, was mit diesem Begriff intendiert ist, erst im Durchgang durch die Frage nach der Christologie überhaupt und als solcher gewinnt. Es ist also nicht so, dass der Begriff und seine Definition an den Anfang gestellt werden könnten, etwa in nur formaler Abgrenzung zur Idee einer „Christologie von oben“. Vielmehr wird das, was „Christologie von unten“ eigentlich in seiner Tiefe bedeutet, erst im Mitvollzug des denkerischen Entwurfs Pannenbergs fassbar, so aber, dass dabei sein für die Theologie als solche unverzichtbarer Sinn verständlich wird. Einen Einblick in dieses Vorgehen eröffnen zwei kleinere Werke, in denen Pannenberg sich in ausführlicher Weise mit diesem Begriff und seinen unterschiedlichen Bedeutungsschichten auseinandersetzt: Das Nachwort zur 5. Auflage der „Grundzüge der Christologie“ von 1976 und der Aufsatz „Christologie und Theologie“ von 1975. Als Ergebnis dieser Reflexionen wird deutlich: Gemeinsam mit dem Begriff der „Selbstunterscheidung Jesu“ bildet die Konzeption der „Christologie von unten“ einen Schlüssel zum Verständnis der Theologie Pannenbergs. Wie zu zeigen sein wird, steht sie aber deshalb im Zentrum des Denkens Pannenbergs, weil mit ihr unmittelbar ein Verständnis des Gottesbegriffs zusammenhängt, das diesen in seinem vollen Wahrheitsgehalt wirklich zu fassen und auszuweisen vermag. Die „Christologie von unten“ erweist sich zunächst als der Schlüssel zum wahren Begriff der Christologie, in der Folge dessen aber als Schlüssel zum wahren Begriff Gottes überhaupt. Die 1 Zitierte Schriften Wolfhart Pannenbergs: Grundzüge der Christologie (Chr), Gütersloh 5. Aufl. 1976; Christologie und Theologie, in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze (GSTh 2) Bd.2, Göttingen 1980, Systematische Theologie Bd. 2 (STh 2), Göttingen 2015

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ganze Anlage seiner Theologie ordnet sich also in Bezug auf diese Konzeption, die sich schließlich vom Begriff Gottes als solchen her als die sachlich einzig mögliche erweist. Wie kommt es vom Grundansatz her zur Konzeption der „Christologie von unten“ bei Pannenberg? Die Frage soll in drei Thesen summarisch beantwortet werden, um einen Einstieg in das Thema zu erleichtern und einen Überblick zu geben. 1. Die „Christologie von unten“ ist zunächst vor allem eine Antwort auf die Aporien der Inkarnationschristologie. Letztere bezieht die Rechtmäßigkeit des Titels „Sohn Gottes“ daher, dass sie zunächst Gott in seiner überzeitlichen und transzendenten Trinität vorstellt, um dann daraus die Heilsgeschichte gleichsam „von oben“ abzuleiten. Der geschichtliche Mensch Jesus von Nazareth ist demnach genau deshalb in Wahrheit „der Sohn“, weil sich der „ewige Sohn“ der Dreifaltigkeit in ihn hinein inkarnierte. Dadurch entsteht jedoch eine eigentümlich aporetische Verdoppelung, die niemals mehr in befriedigender Weise aufgelöst werden kann und die deshalb die klassischen Häresien hervorgebracht hat. Dies liegt daran, dass der ursprüngliche Sinn des Titels nicht von seiner historischen Vermittlung durch das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi selbst her verstanden, sondern davon abgetrennt, als schon vorliegende Voraussetzung genommen wird. Die ursprüngliche Herkunft dieses Titels aus der historischen Existenz des Jesus von Nazareth und seiner personalen Bezogenheit auf Gott wird abgeblendet und vergessen. Als ungeschichtliche göttliche Wesenheit wird „der ewige Sohn“ dann „von oben“ in die nun eigentümlich leer vorgestellte historische Existenz Jesu von Nazareths zurückprojiziert. Dadurch entsteht die klassische christologische Frage nach der Möglichkeit der Einheit der Gottheit und der Menschheit in Jesus. Dass diese Frage in den Dilemmata der „Zwei-Naturen-Lehre“ endet, kann als Indikator dafür gelten, dass die ganze Anlage des Gedankens schief ist, weil die ursprünglich vermittelnde Einheit aus dem Blick geraten ist2 . 2. Diese eigentliche, ursprüngliche Einheit von Mensch und Gott liegt nach Pannenberg im geschichtlichen Lebensvollzug Jesu Christi selbst, in seiner personalen Bezogenheit auf Gott, näherhin in der von ihm vollzogenen Selbstunterscheidung.

2 „Dieses Dilemma ist unüberwindlich, solange man das Ereignis der Inkarnation als mit der Geburt Jesu abgeschlossen denkt“ (STh, 428) und „Das Dilemma dieser beiden christologischen Lösungswege ist unüberwindlich, solange man die Christologie vom Inkarnationsgedanken her entwickelt, statt sie umgekehrt in der Inkarnationsaussage als ihrem abschließenden Satz gipfeln zu lassen“ (Chr, 299f)

Warum ist Jesus von Nazareth in Wahrheit Gottes Sohn?

„Der Gedanke, daß Jesus nur durch seine Selbstunterscheidung vom Vater – indem er sich also gerade nicht Gott gleich macht – mit Gott eins ist als der Sohn, bildet den Schlüssel zur Lösung der Aporien der traditionellen Lehre von der Person Christi, die daher rühren, daß man immer wieder versucht hat, die Beziehung des Menschen Jesus zum Logos unmittelbar, ohne den Umweg über Jesu Verhältnis zum Vater zu denken.“ (Chr, 424)

Durch die wirklich historische, radikal vollzogene Selbstunterscheidung Jesu von Gott, also in indirekter Weise, kommt seine Einheit mit Gott, den er seinen Vater nennt, ans Licht. Von dieser Einheit her verstanden, tritt daher aber Gott selbst, vermittelt durch Jesus, in indirekter Weise in die Geschichte ein und erweist seine Wirklichkeit und Wahrheit. Dabei ist, wie später zu zeigen sein wird, die Selbstunterscheidung in engem Zusammenhang mit der Auferstehung zu sehen. Erst beide Ereignisse zusammen bilden den Erweis dafür, dass Jesus „der Sohn“ ist und dass Gott sich in ihm geschichtlich offenbart hat. Wenn dies aber zutrifft, dann ist Gott von jeher Vater und Sohn in beiderseitiger Gemeinschaft und Selbstunterscheidung. 3. Wenn in der Selbstunterscheidung Jesu Gott selbst sich wirklich geschichtlich offenbart, dann kann dieses Ereignis nicht als dem Wesen Gottes rein äußerlich verstanden werden, sondern dann muss dies als zu Gottes Wesen selbst zugehörig verstanden werden. Es gibt also letzten Endes deshalb den Sachgehalt der „Christologie von unten“, die Selbstunterscheidung Jesu, die sich in seinem Leben, Sterben und Auferstehen vollzieht, weil diese dem Gedanken Gottes als solchen, also seinem Wesen selbst vollkommen entspricht. Gottes Wesen ist seine Unendlichkeit und absolute Schöpfermacht. Diese kann aber nicht als durch die Schöpfung begrenzt gedacht werden, daher muss Gott in irgendeinem Sinn auch auf der Seite der Schöpfung stehen3 . Die Schöpfung ist jedoch von Gott als Sich-selbst-Gegebensein und als Freiheit gewollt. Darum kann die wirkliche Durchsetzung von Gottes Macht in der Schöpfung nicht „von oben“, sondern nur vermittelt durch die Schöpfung selbst, durch den Vollzug ihrer indirekten Identität mit Gott geschehen. Pannenberg nennt das, was sich als Sachgehalt der „Christologie von unten“ historisch ereignet, die „Selbstverwirklichung“ Gottes. Diese indirekte Selbstverwirklichung Gottes ist in gewissem Sinn der wahre 3 Dies ist der Gedanke der „wahren Unendlichkeit“, den Hegel erstmals in seinen unveröffentlichten Frühschriften als „heiliges Geheimnis“ der Religion entwickelt. Der Gedanke wird für Hegel dann jedoch zum Kern des „spekulativen Begriffs“, der die abstrakten Trennungen des Verstandesdenkens erkennt und darum schon überschreitet. Pannenberg übernimmt den Begriff der „wahren Unendlichkeit“ als Grundgedanken einer rationalen Theologie, s.u. Fußnote 6. Vgl. dazu Josef Schmidt: Wahre Unendlichkeit und Geheimnis – Hegel, Rahner, Pannenberg, in: Vom wahrhaft Unendlichen, Pannenberg-Studien Band 2, Göttingen 2016, 164

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und gerechtfertigte Sachgehalt einer „Christologie von oben“, also das, was im klassischen Versuch, die Inkarnation vom transzendenten Gott her zu denken, intendiert war.

Dieser zusammenhängende einheitliche Gedanke, der die Begriffe der Selbstunterscheidung, der „Christologie von unten“ und der indirekten Selbstverwirklichung Gottes umfasst, ist der Kern der Christologie Pannenbergs. Ich bin der Meinung, dass er in seiner theologischen und philosophischen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Weil die historische Selbstunterscheidung der Kern der Inkarnation und damit der Christologie ist, darum ist die Perspektive der „Christologie von unten“ nicht eine Methode unter anderen, sondern sie ist die sachgemäße methodische Entsprechung zur ontologischen Wahrheit der Christologie und daher ihre einzig mögliche Durchführung. Weil sich Jesus als Mitte der Schöpfung geschichtlich vom Vater radikal unterscheidet, darum kann Christologie nur „von unten“ sein, also ein Aufweis und Verstehen der Gottessohnschaft Jesu Christi aus seiner geschichtlichen Existenz heraus, in der er die Selbstunterscheidung vollzogen hat. Darüberhinaus liegt aber ein prinzipiell theologischer Sinn in der Perspektive der „Christologie von unten“, die die Wahrheit Gottes als solchen betrifft. Diese Wahrheit Gottes als solchen hängt an dem historischen Lebensvollzug Jesu Christi in seiner Selbstunterscheidung – aber nun so, dass sich darin dieser Lebensvollzug nachträglich als Handeln des wahren Gottes erweist, in dem er sein Wesen auf indirekte Weise verwirklicht! Der ursprüngliche Sinn des Titels „Sohn Gottes“: die Rechtfertigung der Mittlerschaft Jesu durch das historische Ereignis Auferstehung. Dieser ursprünglich einheitliche Zusammenhang zwischen traditionsgeschichtlicher und systematischer „Christologie von unten“ ist das Thema des Nachworts zur 5. Auflage der „Grundzüge der Christologie“. Pannenberg bemerkt darin zunächst, seine Leser hätten mit Recht erkannt, dass das Buch ein bestimmtes Verfahren anwende, das es von allen bisherigen Behandlungsweisen der Christologie unterscheide. Dieses Verfahren stellt er zunächst ganz allgemein in den Rahmen der seit A. Ritschl so genannten „Christologie von unten“. Wie aber versteht Pannenberg sein eigenes Verfahren genauer? Dessen Eigentümlichkeit liege „in der Frage nach der hermeneutischen Sachlogik des Traditionsprozesses, der vom Auftreten des historischen Jesus über seinen Tod und die Auferstehungsbotschaft der Apostel zur Ausbildung des christologischen Dogmas der Alten Kirche führt und darüber

Warum ist Jesus von Nazareth in Wahrheit Gottes Sohn?

hinaus bis zur gegenwärtigen christologischen Diskussion und ihrer Funktion für das Ganze der christlichen Theologie.“ (Chr, 416)

Pannenbergs Verfahren der „Christologie von unten“ besteht also darin, die sachliche Logik herauszuarbeiten, die der Traditionsbildung der christologischen Begriffe selbst innewohnt. Diese Begriffe werden nun rückbezogen und verstanden als „Explikation der der Geschichte Jesu selber eigenen Bedeutung“ (Chr, 416). Mit anderen Worten: Die christologischen Begriffe bringen in ihrer traditionsgeschichtlichen Ausfaltung eine ursprüngliche Bedeutung zur Geltung, die im Leben Jesu von Nazareths gefunden werden muss. Den Kern dieser Bedeutung macht Pannenberg an der wechselseitigen Verwiesenheit des Vollmachtsanspruchs Jesu und seiner Auferweckung von den Toten fest. Dass Jesus von Nazareth „Sohn Gottes“ genannt wird, liegt weder nur in dem einen, noch allein in dem anderen Aspekt, sondern der Titel bringt jene „Sachlogik“ zum Ausdruck, die in der Bezogenheit beider Aspekte aufeinander besteht. Indem sich Pannenberg an diesem historischen Verweisungszusammenhang orientiert, weist er alle vorschnellen Einseitigkeiten und Verkürzungen zurück. Der Titel „Sohn Gottes“ kann nicht aus dem Vollmachtsanspruch Jesu allein stammen, aber auch nicht aus einer bloß nachträglichen religiösen Überhöhung. Weder die eine noch die andere Verkürzung können den ursprünglichen Gehalt des Titels verständlich machen. Das heißt: Der gedankliche Inhalt des Titels „Sohn Gottes“ hängt an der Weise, wie die Auferstehung auf den einzigartigen geschichtlichen Lebensvollzug Jesu von Nazareths, das heißt seine Selbstunterscheidung und seinen Kreuzestod bezogen ist. Er hängt an dem wirklichen Verständnis einer „Christologie von unten“, die zeigen kann, wie der trinitarische Titel aus diesem Zusammenhang von historischem Lebensvollzug und Auferstehung Jesu erwächst. Die Auferstehung wird von Pannenberg als ein historisches Ereignis verstanden und festgehalten. Ihr Sinn ist jedoch nicht eine unbestimmte Machttat Gottes, sondern es geht in ihr um eine ganz spezifische Rechtfertigung: die Rechtfertigung Jesu von Nazareths als des einzigen Verkündigers des Reiches Gottes, den diese Verkündigung ans Kreuz brachte. Durch die Auferstehung sind diese Verkündigung des Reiches Gottes und der darin liegende, skandalisierende Vollmachtsanspruch in ihrer Wahrheit rückwirkend bestätigt. Der Gedanke geht in zwei Schritten vor. Pannenberg hält es erstens für entscheidend, „dass der Vollmachtsanspruch Jesu nicht als unvermittelte Gewissheit zu verstehen ist, sondern im Inhalt seiner Botschaft von der Zukunft der Gottesherrschaft und ihrer anbrechenden Gegenwart in Jesu eigenem Auftreten begründet und so durch diesen Inhalt seiner Botschaft vermittelt ist.“ (Chr, 418).

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Dies heißt in einem zweiten Schritt: der ganze Sinn des Lebens Jesu liegt in der Bestätigung seiner Sendung durch „die volle Parusie der Zukunft Gottes“ (Chr, 418). Die Auferstehung Jesu ist deshalb nichts anderes als die real schon vollzogene Vorwegnahme dieser Parusie Gottes in der Geschichte. Sie ist die vorweggenommene – Pannenberg sagt: proleptische – Bestätigung Jesu als des alleinigen Mittlers der Gottesherrschaft. In dieser Bestätigung der einzigartigen Mittlerschaft Jesu ist dann aber auch seine Zugehörigkeit zu Gott selbst enthalten. Die Auferstehung ist damit so etwas, wie die Proklamation zum Sohn. Sie ist der eigentliche Ursprung dessen, was mit „Inkarnation“ gemeint ist. Pannenberg arbeitet in seiner „Systematischen Theologie“ detailliert heraus, dass die Auferstehung in ihrer rückwirkenden Bestätigungsfunktion die traditionellen Deutungen der Inkarnation von der Taufe und der Geburt Jesu her erst ermöglicht. „Die Einsetzung in die Sohnschaft durch seine Auferweckung von den Toten kann nicht bedeuten, dass Jesus erst von da an der Sohn des Vaters ist. Eine solche Auffassung würde den Bestätigungssinn der Auferweckung Jesu verkennen: Als Bestätigungsgeschehen hat dieses Ereignis rückwirkende Kraft. Daher konnte im Licht des Ostergeschehens die Gottessohnschaft Jesu schon mit seiner Taufe durch Johannes, dem Ausgangspunkt seines öffentlichen Wirkens verbunden werden. Weil aber die Auferweckung Jesu nicht nur seine Botschaft und sein Wirken bestätigte, so als ob deren Inhalt von seiner Person ablösbar wäre, sondern ihn selber, seine infolge dieser Botschaft ins Zwielicht geratene Person, darum konnte die Begründung seines Sohnesverhältnisses zum Vater mit Recht auf den Anfang seines irdischen Daseins überhaupt, auf seine Zeugung und Geburt, zurückdatiert werden. Zum angemessenen Verständnis dieses Sachverhalts ist jedoch zu beachten, dass sowohl die Verbindung der Gottessohnschaft Jesu mit seiner Taufe als auch die Darstellung des Ursprungs seines irdischen Daseins als Geburt des Gottessohnes nur im Lichte des Ostergeschehens und als Ausdruck seiner Bestätigungsfunktion sachlich legitimiert sind.“ (STh 2, 408/409)4 .

Nur aus der Auferstehung und ihrer proleptischen Rechtfertigung beziehen diese Geschehnisse im Leben Jesu jenen Bedeutungsgehalt einer Inkarnation des Sohnes Gottes, der die Tradition veranlasst hat, sie als die eigentlichen „Inkarnationsereignisse“ zu verstehen. Wenn Jesus durch die Auferstehung als einzigartiger Mittler der Gottesherrschaft bestätigt ist, dann folgt daraus, dass Gottes Wahrheit in ihm wirklich geschichtlich geworden ist. Dann gehört Jesus als der Mittler in einzigartiger Weise zu Gott selbst. Wenn dies aber zutrifft, dann muss er von jeher als zu 4 Vgl. dazu im Folgenden die Ausführungen zu den „Thesen zur Christologie“ Joseph Ratzingers, die genau diesen Gedanken zum Inhalt haben, nämlich die Genese des Gedankens des präexistenten Sohnes aus der schrittweisen, rückwirkenden Bestätigung durch die Auferstehung, damit aber auch die Rückbindung der Gottessohnschaft an dieses historische Ereignis der Auferstehung.

Warum ist Jesus von Nazareth in Wahrheit Gottes Sohn?

Gott gehörend gedacht werden. In der Auferstehung und in deren Folge erweist sich Gott somit von Ewigkeit her als Vater und Sohn in Gemeinschaft. Aber dieser Gedanke ist keine Deduktion „von oben“, sondern er stammt strikt aus der wechselseitigen Verwiesenheit von Jesu Verkündung der Gottesherrschaft und seiner Auferstehung. Pannenberg hält in seinem Nachwort ausdrücklich fest, dass ihm in dem Gedanken der bestätigenden Bedeutung der Auferstehung seine namhaften theologischen Zeitgenossen nach anfänglicher Skepsis zustimmten und erwähnt in diesem Zusammenhang Wiederkehr, Moltmann, Rahner, Kasper, Balthasar. Er könnte mit besonderem Recht auch Joseph Ratzinger nennen. Dessen „Thesen zur Christologie“, die erstmals 1973 veröffentlicht wurden, reflektieren in teilweise verblüffender Kongruenz mit dem hier vorgestellten Gedanken Pannenbergs den wechselseitigen Zusammenhang zwischen der historisch wahren Auferstehung und dem Hoheitsanspruch des vorösterlichen Jesus. Die Intention dieser inhaltlich hoch verdichteten Thesen ist es dabei, zu zeigen, wie das frühe Verständnis der Kirche den Titel „Sohn Gottes“ als Ursprungsbegriff herausschält. Dies geschieht, genau wie bei Pannenberg, durch den begründenden Mitvollzug einer geschichtlich geschehenen Reflexionsbewegung, die die frühe Kirche vollzogen hat. Die Auferstehung wird dabei als das zentrale Ereignis festgehalten, durch das Jesus als der Sohn eingesetzt wird. Ratzinger zeigt nun, bis ins Detail genau wie Pannenberg, wie durch die rückwirkende Bestätigungskraft der Auferstehung auch schon Taufe und Geburt Jesu in seine Sohnschaft miteinbezogen gedacht werden müssen, bis schließlich dahin, dass Jesus als der präexistente Gottessohn verstanden werden muss. In seiner vollen trinitarischen Bedeutung bleibt der Titel „Sohn Gottes“ aber genau deshalb immer rückgebunden daran, dass der reale Lebensvollzug Jesu und seine Rechtfertigung durch die Auferstehung wechselseitig aufeinander bezogen sind und dass er nur daraus seinen Sinn bezieht. Die ontologische Wahrheit und der zentrale Sinn des christlichen Glaubens, die im Begriff des Sohnes zum Ausdruck kommen, fasst Ratzinger deshalb am Ende so zusammen: „Das Sein des Menschen ist in das Sein Gottes einbezogen. Aber diese ontologische Aussage behält doch nur Sinn unter der Voraussetzung des konkreten, realen und liebenden menschlichen Seins Jesu, in dessen Tod konkret das Sein des Menschen für Gott eröffnet und Gott übereignet wird.“5 .

Es ist also nicht so, dass diese Wahrheit in Form einer äußerlichen Information über die innere, dreifaltige Struktur Gottes Auskunft gibt. Sondern diese trinitarische Wahrheit Gottes geschieht erst konkret durch die Geschichte des 5 Joseph Ratzinger: Christus. Thesen zur Christologie, in: Gesammelte Schriften Bd.6/2, Freiburg 2013

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Menschen hindurch, die immer auch schon die Geschichte des Handelns Gottes ist. Ohne den Begriff explizit zu machen, bewegt sich also auch Ratzingers christologische Hermeneutik im Rahmen einer „Christologie von unten“ – und dies aus der Logik der Sache selbst heraus. Die Selbstunterscheidung Jesu als die wahre „Christologie von oben“: Die Durchführung einer Christologie der Selbstverwirklichung Gottes. Die „Christologie von unten“ erweist sich so als die sachlich angemessene Zugangsweise zum Verständnis des Wesensursprungs des Begriffs des „Sohnes“ und seiner Wahrheit. Damit stellt sich die Frage: Was ergibt sich daraus für den Gedanken der „Christologie von oben“? Ist diese gänzlich zu verwerfen oder kommt ihr selbst wiederum ein bestimmtes Recht und sogar eine sachliche Notwendigkeit zu? Diese Frage beantwortet Pannenberg im zweiten Abschnitt seines Nachworts. Dort sieht er seine eigene Beschränkung auf die „Christologie von unten“ nachträglich als einen Mangel an. Die Kritik der Fachkollegen geht ihm dabei sogar nicht weit genug: In ihren Reaktionen komme immer nur dies zur Sprache, dass man eine „Christologie von oben“ dem Sein nach immer schon voraussetzen müsse. Dies ist für Pannenberg zwar einleuchtend, aber nur formal gedacht. Das entscheidende inhaltliche Problem werde in dieser äußerlichen Argumentation jedoch nicht sichtbar: Wenn das historische Geschehen des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu Christi sich als Offenbarung Gottes selbst erweist, dann kann dies wiederum nur als Handeln Gottes in seiner Gottheit verstanden werden, in dem er von sich aus und souverän seine Wahrheit und sein Wesen offenbart und es gewissermaßen zur Entscheidung bringt. „Es genügt nicht, Gott nur als Voraussetzung der Christologie zu denken. Vielmehr erfordern es die Aussagen, zu denen die Christologie gelangt, Gott als sich in Jesus Christus offenbarend zu denken. (…) Dabei stellt sich die Aufgabe, die Christologie im Zusammenhang des Weltverhältnisses Gottes und besonders im Zusammenhang seiner Beziehungen zur Menschheit in ihrer Geschichte zu denken, so aber, daß die Geschichte Jesu sich dabei als Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der Menschheit und zum Weltverhältnis Gottes überhaupt erweist.“ (Chr, 422)

Es muss also in dieser Offenbarung der sachliche Grund dafür sichtbar werden, warum Gott in seiner Gottheit und um seiner Gottheit selbst willen so handelt! Das traditionsgeschichtliche Vorgehen „von unten“ verweist also immer schon implizit und unthematisch auf diese in der Geschichte Jesu sich vollziehende Wahrheit des Handelns Gottes in seiner Gottheit. Mit anderen Worten: Um den Wahrheitssinn der „Christologie von unten“ zu verstehen, um also auch das zu verstehen, was sie inhaltlich festhält, nämlich den Begriff des Sohnes

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Gottes als gerechtfertigten Titel für Jesus von Nazareth, muss das Leben und die Geschichte Jesu als Handeln Gottes selbst verstanden werden, als das Handeln Gottes, in dem sein Wesen zum Ausdruck kommt und in dem er sein Wesen in die Wahrheit bringt. Wenn dies aber verständlich gemacht werden kann, dann bedeutet dies auch rückwirkend eine letzte Klärung für das Vorgehen der „Christologie von unten“: Dass es Jesus Christus gibt und geben muss, liegt daran, dass Gott sich in seiner Gottheit allein in dieser Weise, „von unten“, indirekt, aus der Geschichte des Menschen heraus offenbaren kann. Die ausführliche Ausarbeitung dieser Begründung der „Christologie von unten“ aus dem Wesen Gottes als solchen vollzieht Pannenberg in seinem Aufsatz „Christologie und Theologie“. Dessen Erstveröffentlichung fällt unmittelbar in die Zeit des Nachworts zu den „Grundzügen der Theologie“, er kann daher unschwer als die Durchführung der dort angemahnten Verbesserungen verstanden werden. In diesem Aufsatz geht Pannenberg zunächst in dialektischer Weise konsequent die Aporien der jeweils abstrakt angesetzten, einerseits nur historischen und andererseits nur transzendenten Perspektiven der Christologie durch. Beide Perspektiven müssen scheitern, weil sie die Christologie aus einer abstrakten Entgegensetzung von Gott und Welt, Gott und Mensch, Gott und Geschichte heraus entwerfen wollen. Von dieser prinzipiellen Aporetik her kann Pannenberg dann seine Lösung entwerfen. Diese Lösung ist zentriert in Pannenbergs Idee der Selbstverwirklichung Gottes. Die Geschichte des Menschen überhaupt darf demnach nicht in abstrakter Gegensetzung zu Gott verstanden werden, sondern muss immer schon als sein Werk, also auch von ihm mitbewirkt verstanden werden. Die Geschichte des Menschen ist immer schon, wenn auch in noch strittiger Weise, die Geschichte der Selbstverwirklichung Gottes, die im Leben Jesu von Nazareths vollbracht wird. Zum Verständnis dieses Gedankens kommt jedoch alles darauf an, den metaphysischen Fundamentalbegriff der „wahren Unendlichkeit“ mit im Hintergrund zu haben. Gottes Wesen muss als wahre Unendlichkeit gedacht werden, das heißt als eine Unendlichkeit, die nicht durch die geschaffene, kontingente Welt begrenzt sein kann6 . Seine Unendlichkeit muss die Endlichkeit in irgendeinem Sinn noch einmal mit umgreifen. Deshalb kann die geschaffene Welt 6 Der Gedanke der wahren Unendlichkeit wird für Pannenberg Kriterium für ein vernünftiges Reden von Gott. „Obwohl er ihn mit der christlichen Trinitätslehre keineswegs gleichsetzt, erkennt Pannenberg dem Begriff des wahrhaft Unendlichen eine kriteriologische Funktion für alle Rede von Gott zu, die als angemessen und sinnvoll gelten soll (…): ‚Nur ein solches Gottesverständnis kann fortan als streng monotheistisch gelten, das den einen Gott nicht nur als der Welt transzendent, sondern diesen Gott auch als zugleich der Welt immanent zu denken vermag.‘ (Metaphysik und Geschichte, 29)“, in: Gunter Wenz: Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Pannenberg-Studien 2, 56–57.

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nicht als total von ihm abgesetzt gedacht werden. Die Welt ist andererseits von Gott als freies, sich selbst gegebenes Sein gewollt. Dennoch muss sich Gott von seinem eigenen Wesen her in ihr und ihrer Geschichte als Herrscher erweisen, sonst wäre seine Allmacht fraglich. Darum kann die Verwirklichung dieser wahren Unendlichkeit Gottes nicht auf direktem Wege geschehen, sondern nur auf indirekte Weise, durch den freien Selbstvollzug der Schöpfung selbst. Der Sinn der Schöpfung ist deshalb der Mensch in seiner freien personalen Bezogenheit auf Gott. Die Schöpfung muss in ihrer Tiefe immer schon verstanden werden als „In-Existenz“ in Gottes wahrer Unendlichkeit. Darum ist die radikale Gottesbezogenheit Jesu von Nazareths nur zu verstehen als höchste Ausformung und Vollendung eines allgemeinen Verhältnisses der Schöpfung überhaupt zu Gott und darf nicht künstlich aus diesem Gesamtzusammenhang herausgebrochen werden. Sie ist nur zu verstehen aus der Gottheit Gottes und seinem zugleich umgreifenden und sie freigebenden Verhältnis zur Welt überhaupt. Die Bezogenheit der Welt und ihrer Geschichte auf Gott ist also immer schon auch das Werk Gottes selbst. Sie muss aber zur Vollendung kommen in dem tatsächlich geschichtlich vollzogenen Akt der freien, radikalen geschöpflichen Bezogenheit auf Gott in vollkommener Selbstunterscheidung. Die Selbstunterscheidung ist die bewusste und freie Annahme des eigenen Geschaffenseins und das heißt des Sich-selbst-Gegebenseins durch Gott. Diese Annahme geschieht durch den Vollzug der Hingabe und Rückgabe des Sich-selbst-Gegebenseins an den Schöpfer. Sie ist der vollkommene geschöpfliche Akt, der Sinn und das Ziel der Schöpfung: Der radikal freie Vollzug ihrer Endlichkeit und die freie Bejahung ihres Geschaffenseins. Dieses Ereignis geschieht im Leben Jesu Christi. Gerade in dessen scheinbarer Ohnmacht, die sich der Gewalt des Bösen und dem Tod aussetzt, setzt sich also Gottes Herrschaft in seiner Schöpfung indirekt durch und erweist in der wirklichen Überwindung des Todes von innen her seine Allmacht. Nicht also durch ein Eingreifen „von oben“ realisiert sich diese Allmacht Gottes, sondern durch seine indirekte Identität mit der Schöpfung, die er in der Selbstunterscheidung und Selbsthingabe Jesu Christi vollendet und dadurch an sich teilhaben lässt. Gottes Macht kann gerade nicht von außen wirken, sondern nur dadurch, dass Jesus Christus den vollendeten Selbstvollzug der Schöpfung, ihre freie Selbstunterscheidung als endliches Sich-Selbst-Gegeben-Sein, vollbringt. Erst durch diesen freien Selbstvollzug der Endlichkeit der Welt verwirklicht sich Gott als jene wahre Unendlichkeit, die beides umgreift: die Endlichkeit und die Unendlichkeit. Pannenberg denkt diese Verschränkung des Handelns Gottes mit der Geschichte des Menschen in äußerster Konsequenz als die Geschichte Gottes, die seine Selbstverwirklichung entscheidungshaft enthält. Durch die Autonomie

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der sich selbst gegebenen Schöpfung hindurch verwirklicht sich Gott in seiner Gottheit selbst und zwar dadurch, dass er sich vom Menschen finden lässt. „Göttliches Wirken und menschliches Suchen verschränken sich in diesem Prozeß der Selbstverwirklichung Gottes. In dem Moment aber, in dem das Selbst Gottes definitiv gefunden ist – wie es möglicherweise die Wahrheit der Geschichte Jesu ist –, wird diese Verschränkung in der Identität des göttlichen Wesens selbst aufgenommen als trinitarische Selbstbeziehung Gottes in der Unterschiedenheit des Vaters und des Sohnes durch den beide verbindenden Geist, der ebensosehr ein Geist der Selbstunterscheidung wie der Gemeinschaft ist.“ (GSTh 2, 143)

Die Trinität wird in ihrem letzten sachlichen Sinn also erst voll verstehbar als Folge der indirekten Selbstverwirklichung Gottes, der seine Wahrheit und seine Herrschaft in der Welt aufrichten muss. Die „Christologie von unten“ ist damit also nicht nur die eine Seite derselben Medaille, bei der es egal wäre, wo man anfängt, also deduzierend beim Begriff Gottes oder geschichtlich bei der singulären Existenz Jesu von Nazareths. Sondern sie hat in dieser Geschichte des Handelns Gottes auch selbst ein ontologisches, weil entscheidungshaftes Primat. Die Offenbarung Gottes in Christus darf nicht als ein äußerliches, nur epistemologisches Ereignis „für uns“ verstanden werden. Vielmehr betrifft dieses sein Handeln Gottes Wesen selbst im ontologischen Sinn: Weil Gott Gott ist und weil er die Schöpfung will und liebt, darum muss er sich selbst durch die Vollendung der Schöpfung hindurch, durch ihre Selbstunterscheidung in Christus, vollenden und verwirklichen. Dies hat Konsequenzen für den ursprünglichen Wesensgehalt des christlichen Gottesbegriffs und Pannenberg zögert nicht, diese zu benennen. Wenn Gott sich auch ontologisch radikal „von unten“ durch das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi verwirklicht, dann besteht Gottes Macht in nichts anderem, als in der scheinbaren Ohnmacht Christi, es bleibt keine Reserve. In diesem Kontext wendet sich Pannenberg deshalb entschieden gegen den Begriff der Selbstentäußerung als Ursache der Heilsgeschichte Jesu Christi. In der Idee der Kenose sei der Begriff der Allmacht Gottes aus heteronomen, nicht genuin christlichen Quellen zusammengesetzt. „Darum ist die Gemeinschaft Gottes mit solcher menschlichen Schwachheit nicht als Entäußerung, als Ablegen seiner Macht und Gewalt, die Gott eigentlich schon besäße, zu verstehen: So stellt es zwar ausdrücklich das berühmte Lied des Philipperbriefes dar (Phil 2,6 ff.), aber diese Ausdrucksweise erklärt sich dadurch, dass dieses urchristliche Lied die spezifische Erfahrung vom Verhalten Gottes auf der Folie der sonst üblichen Auffassungen von Gottes Macht und Herrlichkeit zum Ausdruck bringt.“ (GSTh 2, 140f.)

Die Idee der Kenose zehre also von einem defizitären Begriff von Allmacht, weil Gott als von der Schöpfung getrennt angesetzt und dadurch seine Un-

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endlichkeit nicht wahrhaft gedacht werde. Die Kenose denke nicht die wahre Unendlichkeit, weil sie die Endlichkeit der Schöpfung als Realität abgesetzt von Gott denkt, von ihm isoliert und dennoch am Begriff seiner Macht festhalten will – ihn aber gerade dadurch begrenzt. Ursprünglich voll gedacht sei die Allmacht Gottes daher erst im genuin christlichen Gottesbegriff, also erst in einer echten „Christologie von unten“, in der indirekten Verwirklichung der Allmacht durch den hingebenden Lebensvollzug Jesu von Nazareths. Dieser Lebensvollzug ist also nicht etwa ein zeitweiliger Verzicht auf eine unabhängig davon zu denkende Allmacht, sondern die Allmacht Gottes verwirklicht sich genau in dieser sich selbst unterscheidenden Hingabe der Schöpfung in Christus und nur in dieser. Der Sinn dieser Hingabe ist die Verwirklichung des Wesens Gottes durch die Vollendung des Sinns der Schöpfung in der Anteilgabe an seinem unendlichen Leben durch Tod und Endlichkeit hindurch. „Die Allmacht des christlichen Gottes steht nicht im Gegensatz zu seiner gewaltlosen Liebe, sondern erweist sich gerade in der Macht der scheinbar (nämlich in den Augen des von Gott isolierten Menschen) ohnmächtigen Sache des Rechtes, des Friedens und der Liebe unter den Menschen. Gottes Bund mit denen, die um des Rechtes, des Friedens und der Liebe willen ohnmächtig sind, leiden und scheitern, ist nicht Ausdruck eines Verzichtes auf seine Gottheit, sondern kennzeichnet die Weise, wie die für die Geschöpfe wesentlich zukünftige Gottheit Gottes des Lebens dieser Geschöpfe schon gegenwärtig mächtig ist, die Weise also, wie der Gott Jesu seine Schöpfermacht zum Leben seiner Geschöpfe ausübt.“ (GSTh 2, 141)

Der Sinn des Gedankens der „Christologie von unten“ führt also direkt ins Zentrum des Gottesbegriffs überhaupt. Die „Christologie von unten“ ist aber nicht vor allem die Antwort auf die Frage nach der Zugänglichkeit Gottes für uns. Sondern sie ist der vernünftige, verstehende Mitvollzug der Weise, wie Gott selbst sich aus seiner Gottheit heraus ontologisch verwirklichen muss, insofern er die Schöpfung als freies Sich-selbst-Gegebensein will7 . Die „Christologie von unten“ ist deshalb auch nicht eine besondere und nachträgliche Weise, über Christus nachzudenken, sondern sie entspricht genau dem Weg, den Gott von sich selbst her als seine Geschichte mit der Schöpfung einschlägt und vorzeichnet. Dass Gott sich allein in Christus und in der Geschichte verwirklichen kann, ist also kein Mangel, sondern die innere Folge seiner eigentlichen Allmacht und 7 „Die Schöpfung ist ein freier Akt Gottes, von der Seite des Vaters her ebenso wie von der Seite des Sohnes. Aber die Schöpfung der Welt zieht die Menschwerdung des Sohnes nach sich. Denn sie ist das Mittel, um die Königsherrschaft des Vaters in der Welt zu realisieren. Ohne Herrschaft über seine Schöpfung wäre Gott nicht Gott. Der Akt der Schöpfung geht zwar aus der Freiheit Gottes hervor, aber nachdem die Welt der Schöpfung nun einmal ins Dasein getreten ist, ist die Herrschaft Gottes über sie Bedingung und Erweis seiner Gottheit.“ (STh 2, 434).

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Güte, die der Schöpfung ihr Eigensein gönnt und sich deshalb von ihr treffen lässt und sich aus Liebe in einer gewissen Weise von ihr abhängig macht. In Christus und seiner scheinbaren Ohnmacht kommt deshalb erst die wirkliche Größe Gottes ans Licht und wird in der Welt verwirklicht – aber damit auch seine Souveränität über den Tod und damit die Wahrheit und Realität seiner Allmacht. Gott muss in der Welt tatsächlich herrschen, um wahrhaft Gott zu sein. Weil Gott der Welt ihre Freiheit gönnt, darum kann diese Herrschaft aber nur in indirekter Weise geschehen und muss durch die Schöpfung selbst mit inauguriert werden, durch ihre Selbstunterscheidung, die Christus als ihre Mitte in vollkommener Weise vollzieht. Das wahre Wesen Gottes, aber damit und gleichzeitig auch das Wesen der Schöpfung, wird also erst in der einmaligen Selbstunterscheidung des Lebens Jesu von Nazareths verwirklicht. Die „Christologie von unten“ ist daher keine Option unter anderen, sondern genuine gedankliche Eröffnung der Geschichte Gottes selbst, die in der Selbstunterscheidung Jesu entschieden wird. Sie wird in der Weise entschieden, dass Gott sich durch die Geschichte der Schöpfung hindurch erst ganz vollzieht. In dieser Geschichte Gottes, als die sich die Geschichte Jesu und der Schöpfung offenbart, vollziehen sich also, wie Pannenberg in einem Gedankenblitz in seinem Nachwort sagt, Epistemologie und Ontologie nicht reziprok, sondern parallel (Chr, 421). Das Sein Gottes, so könnte man diesen Gedanken umschreiben, sein Wesen, geschieht in Identität mit seiner geschichtlichen Offenbarung. Seine Selbstverwirklichung ist zugleich seine Selbstoffenbarung an uns und diese wiederum ist zugleich unsere Hineinnahme in sein unendliches Leben. Die Erkenntnis der Wahrheit Gottes wird also von ihm selbst für unser und in unserem Verstehen eröffnet durch die Verwirklichung seiner Wahrheit in der Selbstunterscheidung Jesu. Der ontologische Selbstvollzug Gottes geschieht indirekt, durch die Schöpfung hindurch, und ist von vornherein auf ihren Mitvollzug, ihre volle Anteilnahme an seinem Leben und ihre volle Erkenntnis Gottes hin zu denken. Diese Erkenntnis Gottes durch ihren Mitvollzug der Sohnschaft ist von jeher das Ziel der Schöpfung und ihre Bestimmung. Pannenberg beschließt seinen Gedankengang in unnachahmlicher und souverän zusammenfassender Geste: „In solcher Weise könnte sich die ‚Christologie von unten‘, gereinigt von der Einseitigkeit ihrer Konzentration auf den Menschen Jesus in seiner bloßen Unterschiedenheit von Gott, als Durchführung der wahren ‚Christologie von oben‘, als Durchführung einer Christologie der Selbstverwirklichung Gottes darstellen. Nicht die Unterschiedenheit Jesu von Gott, sondern seine Selbstunterscheidung von ihm bietet den Schlüssel zu einer solchen Christologie, die zugleich das Zentrum einer christlichen Gotteslehre wäre.“ (GSTh 2, 145)

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Freisetzende Einheit Pannenbergs Auseinandersetzung mit der Zweinaturenlehre

Einleitung Das Konzil von Chalkedon hält als zentrale christologische Aussage fest, dass Jesus Christus „ein und derselbe ist […], „der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einigung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und in einer Person und einer Hypostase vereinigt“ (DH 302).

Der christologische Gewinn der hier lehramtlich formulierten Zweinaturenlehre liegt in der begrifflichen Differenzierung von Physis/Natur und Hypostase/Person. Damit war ein „regulativer Rahmen“1 geschaffen, der betont, dass weder die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus – auf den sich der exklusive Gebrauch des Hypostasen-Begriffs bezieht – noch die Wahrheit seines Menschseins und seines Gottseins – auf den sich der Physis-Begriff bezieht – christologisch außer Acht zu lassen sind.2 Während dem Physis-Begriff das Washeitliche (die quidditas) eines konkret Seienden zugeordnet wird, das einen Komplex von Eigenschaften umfasst, stand eine genauere ontologische Fassung des Hypostasenbegriffs bzw. der hypostatischen Einheit Christi noch aus. Dies geschieht in der Ausbildung der neuchalkedonischen Enhypostasielehre, indem der Hypostasenbegriff einerseits auf seine henotische Funktion eingegrenzt und durch das In-sich-Stehen (Subsistenz) charakterisiert wird, andererseits formell mit der Hypostase des göttlichen Logos identifiziert wird. Die Hypostase verleiht als principium unionis den Naturen Selbststand und Existenz. 1 Georg Essen, Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie (Ratio fidei Bd.5), Regensburg 2001, 24. 2 Für Pannenberg hat Chalkedon die Wahrheitsmomente der altkirchlichen Christologie richtig zum Ausdruck gebracht, dass weder die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus noch die Wahrheit seines Menschseins und seines Gottseins außer Acht gelassen werden dürfen. Zugleich ist für ihn zu beachten, dass eine theologische Lösung mit Chalkedon nicht gegeben, sondern nur Kriterien angegeben sind, die in einer christologischen Theoriebildung zu berücksichtigen sind. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh ⁶1982, 291–292.

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Allerdings steht dieser neuchalkedonische Hypostasenbegriff in der Gefahr einer Unterbelichtung der Menschheit Jesu, wofür die Auseinandersetzung um den Monotheletismus als Problemanzeige fungieren kann. Die Auffassung der Anhypostasie der menschlichen Natur Christi als der ontologischen Kehrseite ihrer Enhypostasie in der Hypostase des Logos blieb umstritten „weil sie als eine Aushöhlung des wahren Menschseins Jesu begriffen wurde“3 . Damit ist die Problematik der Zweinaturenlehre kurz angerissen: Inwieweit kann ein Nebeneinander von göttlicher und menschlicher Natur in einer Person, nämlich des Logos, gedacht werden, ohne dass die göttliche Natur die menschliche dominiert? Wie kann Jesus ein wahrer Mensch (neuzeitlich gesprochen: ein menschliches Ich) und ein wahrer Gott (neuzeitlich ausgedrückt: ein göttliches Ich) sein und zugleich eine Person, nämlich die des Logos? Ist eine solche Christologie zum Scheitern verurteilt?4 Angesichts dieser Problematik versucht Pannenberg eine „sachgemäßere, exegetisch und theologisch treffendere Lösung“5 für die Frage nach der Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus vorzulegen, deren Prämisse darin besteht, dass die vom Dogma der hypostatischen Union ausgesagte Personeinheit Jesu mit Gott sich im Selbstbewusstsein des vorösterlichen Jesu widerspiegelt, nämlich in einem einzigartigen Verhältnis Jesu zum Vater.6 Die folgenden methodischen Grundüberlegungen sind für ihn leitend: – Der seit Ritschl als „Christologie von unten“ bezeichnete Ansatz vom geschichtlichen Jesus her bildet „einen allgemeinen Rahmen“7 für eine „traditionsgeschichtliche Orientierung“8 der Christologie bzw. eine „Theorie der christologischen Tradition“9 , die nach der sachlichen Notwendigkeit der christologischen Entwicklung im Neuen Testament und deren Fortsetzung

3 Essen, Die Freiheit Jesu, 66; vgl. zum Ganzen ebd., 24–136. Pannenberg betont, dass die Enhypostasie Jesu im Logos zum Ausdruck bringt, dass die Menschheit Jesu für sich nicht nur unpersönlich (im modernen Sinne eines Fehlens selbstbewusster Persönlichkeit) gewesen wäre, sondern nicht existiert hätte. Seinen Daseinsgrund (Hypostase) hat das Menschsein Jesu somit nur im Logos. Vgl. Pannenberg, Grundzüge, 349. 4 So beschreibt Karl-Heinz Menke, Jesus ist Gott der Sohn. Denkformen und Brennpunkte der Christologie, Regensburg 2008, 362–363, die Problematik der Zweinaturenlehre. 5 Christoph Schönborn, „Aporie der Zweinaturenlehre“. Überlegungen zur Christologie von Wolfhart Pannenberg, in: FZPhTh 24 (1977), 428–455, hier: 429. 6 Pannenbergs kritische Auseinandersetzung mit der altkirchlichen Lehre in seinen „Grundzügen der Christologie“ vertritt ein positives Anliegen – auf dem Hintergrund der Überzeugung, dass „das vere deus, vere homo […] unaufgebbare Aussage christlicher Theologie“ (Pannenberg, Grundzüge, 29) ist. 7 Wolfhart Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, in: Ders., Grundzüge, 415–426, hier: 415. 8 Ebd. 9 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd.2 [=STh2], Göttingen 1991, 320.

Freisetzende Einheit

in der Geschichte der altkirchlichen Christologie fragt und die systematische Konsistenz der Entwicklung der Christologie zum Gegenstand hat. Der Christologie kommt die Aufgabe zu, aus der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit Jesu deren Bedeutungsgehalt zu erheben, dass Gott in diesem Menschen offenbar ist. Damit wendet sich Pannenberg gegen jede „glaubenssubjektivistische“, autoritär schrift- oder lehramtspositivistische Auffassung und versucht auf der Ebene geschichtlicher Erkenntnis den Gegensatz von Faktum und Bedeutung (bzw. Sinn) in einem hermeneutischuniversalgeschichtlichen Rahmen zu überwinden.10 – Auch wenn die Christologie der „Grundzüge“ die Wirklichkeit Gottes voraussetzt und von einer inneren Verklammerung von Theologie und Christologie ausgeht, erfordert eine traditionsgeschichtliche Betrachtungsweise eine Erweiterung dahingehend, die Geschichte Jesu auch als Handeln Gottes und somit „in ihrer Begründung von Gott her zu denken“11 . Dem traditionsgeschichtlichen Verfahren kommt nur methodisch – jedoch nicht sachlich – der Vorrang zu, „umgekehrt zur Erkenntnisordnung [ist] die göttliche Sohnschaft der Seinsgrund für das Dasein Jesu“12 . Diese Komplementarität der Betrachtungsweisen findet ihren Grund in einer allgemeinen Korrelation von Anthropologie und Theologie, die für die Begründung der Christologie eine entscheidende Rolle spielt. Pannenbergs Neuansatz weist, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, eine Übereinstimmung mit verschiedenen christologischen Entwürfen des 20. Jh. auf. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, dass der methodische Ausgangspunkt der Christologie in der neutestamentlich bezeugten Beziehung des vorösterlichen Jesus zum Vater erkannt wird.13 Erweist sich diese Neubestimmung der klassischen Zweinaturenlehre als richtungsweisend für die Christologie, führt sie ihrerseits in neue Aporien oder führt sie die Aporien der klassischen Lehre weiter? Dem ist im Folgenden – zunächst ausgehend von den beiden methodologischen Zugängen Pannenbergs zur Christologie – nachzugehen, bevor anschließend die Diskussion um Pannenbergs Lösungsvorschlag skizziert werden soll.

10 Vgl. dazu auch Alois Grillmeier, Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven, Freiburg 1975, 506–507. 11 Pannenberg STh2, 327; vgl. zum Ganzen: Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, 421–423. 12 Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, 422. 13 Vgl. Walter Kasper, „Einer aus der Trinität…“. Zur Neubegründung einer spirituellen Christologie in trinitätstheologischer Perspektive, in: Ders., Theologie und Kirche Bd.1, Mainz 1987, 217–234, hier: 229–230 (auch in: Ders., Gesammelte Schriften Bd.9, Freiburg 2016, 297–318).

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1.

Die traditionsgeschichtliche Rekonstruktion der Christologie

Das Dilemma der christologischen Lösungswege, gleich ob man mit den Alexandrinern von der Annahme einer menschlichen Natur durch den Logos oder mit den Antiochenern von einer Annahme eines vollständigen Menschen durch den Logos ausgeht, besteht für Pannenberg darin, dass man die Christologie vom Inkarnationsgedanken her entwickelt und nicht umgekehrt die Inkarnationsaussage als abschließenden Gipfelpunkt der Christologie betrachtet. Es ist nicht die Inkarnationslehre als solche, die in Aporien führt, sondern als aporetisch erweist sie sich da, wo sie zum Ausgangspunkt der Christologie gemacht wird. Die Zweinaturenlehre kann die Einheit von Jesus Christus im Ausgang von der Inkarnation nicht erschließen, weil letztere schon „Ausdruck einer anderweitig zu begründenden Einheit ist“14 . Der Ansatzpunkt für die altkirchliche Zweinaturenlehre liegt im urchristlichen Schema einer – doppelten – Beurteilung Jesu „nach dem Fleisch“ und „nach dem Geist“, das sich in Röm 1,3f. möglicherweise schon als vorgeprägte Formel findet. Diese Beurteilung der konkreten Person Jesu Christi unter verschiedenen Gesichtspunkten, die von der Einheit der Person Jesu ausgeht und die Geschichte seines irdischen Weges bis zum Kreuz einerseits und die Erhöhung durch seine Auferweckung von den Toten andererseits im Blick hat, erfährt eine Umdeutung und wird (spätestens bei Ignatius von Antiochien) durch die Rede von zwei Naturen bzw. Wesenheiten in Christus in ein „Nebeneinander“15 überführt, das für das altkirchliche Dogma kennzeichnend ist. Damit verbunden ist der von Schleiermacher – und nach Pannenberg sachlich schon bei Apollinaris von Laodicea – vorgebrachte Einwand, dass Göttliches und Menschliches als ontologisch auf der gleichen Ebene gedacht werden und sich außer ihrer Verbindung in Christus äußerlich gegenüber stehen: „Zwei in sich vollkommene (und daher selbständig existierende) Wesenheiten können keine Einheit bilden“16 , insofern eine Dominanz der höheren Substanz über die niedrigere und damit eine Unterbewertung des menschlichen Elementes unvermeidbar wären. Die Einheit Jesu mit Gott kann nur in der „historischen Besonderheit des Menschen Jesus, seiner Botschaft und seines Geschicks“17 , gefunden werden. Eine argumentative Schlüsselfunktion erhält in diesem Zusammenhang „die

14 Pannenberg, Grundzüge, 334; vgl. zum Ganzen auch: ebd., 295–301; Schönborn, Aporie der Zweinaturenlehre, 433; Essen, Die Freiheit Jesu, 206. 15 Pannenberg, SyTh2, 427. 16 Ebd., 429; vgl. Pannenberg, Grundzüge, 333. Zu Schleiermachers Kritik vgl. auch Essen, Die Freiheit Jesu, 192–204. 17 Pannenberg, Grundzüge, 334.

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These der Indirektheit der Gottessohnschaft Jesu“18 . Die Einheit Jesu mit Gott kann nicht als „Identität schlechthin“19 gedacht werden, sondern als eine durch Differenz vermittelte Einheit. Jesus beansprucht für sich keine unmittelbare Einheit mit Gott, er macht sich nicht Gott gleich, sondern wird als Sohn und als der zur Gottheit Gottes Zugehörige offenbar durch „seine Selbstunterscheidung vom Vater“20 , wie im Nachwort zur 5. Auflage der „Grundzüge der Christologie“ betont wird, in der meines Wissens Pannenberg den Schlüsselbegriff der Selbstunterscheidung im Kontext der Diskussion um seine Christologie einführt. Die Personeinheit Jesu mit Gott, die sich im Selbstbewusstsein des vorösterlichen Jesus widerspiegelt, bezieht sich nicht – wie bei Rahner – unmittelbar auf den Logos als zweiter göttlicher Person, sondern auf den Vater.21 Gegenüber einer neuchalkedonischen Enhypostasielehre, die bei der präexistenten, einenden Einheit des Logos ansetzt und lediglich darauf reflektiert, wie die menschliche Natur in diese Einheit aufgenommen werden kann, geht Pannenberg aus vom konkreten Menschsein Jesu und erschließt indirekt aus der seinen Lebensweg kennzeichnenden Besonderheit dessen personale Identität.22 Entscheidend für Pannenbergs Argumentation ist, dass er die Sendung Jesu als „Hingabe an Gott und seinen Willen“23 bis in die Dunkelheit des Kreuzesgeschicks in strenger Entsprechung zu einem relational aufgefassten Verständnis von Person begreift. Im Anschluss an Hegels religionsphilosophische Vorlesungen wird das Wesen der Person als Exzentrizität, als Sein-beim-Anderen aufgefasst: „Das Wahre der Persönlichkeit ist also eben dieß, sie durch dieß Versenken, Versenktsein in das Andere zu gewinnen“24 . Damit kann der Schritt von der Personeinheit Jesu mit Gott zur Wesenseinheit mit Gott vollzogen werden, insofern das „Versenktsein in das Du“25 zugleich Teilhabe an dessen Wesen bedeutet. Die über den Personbegriff aufgezeigte Wesenseinheit Jesu mit Gott ist keine unmittelbare, sondern wiederum als Differenz-Einheit indirekt vermittelt. Erst 18 Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, 424; vgl. Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 166–167. 19 Ebd., 423. 20 Ebd., 424. 21 Vgl. Karl Rahner, Dogmatische Erwägungen über das Wissen und Selbstbewusstsein Jesu, in: Schriften zur Theologie Bd. V, Einsiedeln u. a. 1962, 222–245, hier: 238–239. M.E. modifiziert Rahner diese Vorstellung in den christologischen Ausführungen seines „Grundkurses“ deutlich in dem Sinne, dass das Sohnesbewusstsein Jesu als vermittelt durch die Beziehung zum Vater zu denken ist. Vgl. dazu Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 1976, 248–251, 294–296. Vgl. Pannenberg, Grundzüge, 342–343. 22 Vgl. Essen, Die Freiheit Jesu, 207. 23 Pannenberg, Grundzüge, 346. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Religion III, JubAusg.Bd.16, zitiert nach: Pannenberg, Grundzüge, 347. 25 Ebd.

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der Bestätigungssinn der Auferweckung Jesu von den Toten macht es möglich, die Gottessohnschaft Jesu auf das Ganze seines Weges bis hin zu seiner Geburt zu sehen. Erst die Auferweckung von den Toten bestätigt den Sinn seines irdischen Lebens als Hingabe an Gott und verdeutlicht somit, dass die Aussage über Jesus als Sohn sich auf seinen gesamten irdischen Lebensweg beziehen muss. Auf dem Hintergrund des Prinzips der retroaktiven Wirksamkeit gilt: „Erst im Ganzen seines Weges ist der Sohn.“26 Wenn sich der Mensch Jesus als indirekt identisch mit dem Dasein des Gottessohnes erweist, sodass die göttliche Sohnschaft den Seinsgrund des Menschseins Jesu bildet, kann für Pannenberg die Intention der neuchalkedonischen Enhypostasielehre eingeholt werden. Allerdings vermag die Enhypostasielehre das geschichtlich-menschliche Geschehen der Einheit von Gott und Mensch in Jesu Weg nicht zum Ausdruck zu bringen. Zu unterscheiden ist deshalb der Vollzug der Hingabe Jesu (und seine Bestätigung durch die Auferweckung), die sich auf den Vater bezieht und seine Einheit mit Gott vermittelt, und die dadurch begründete Tatsache, dass „das Menschsein Jesu in der Person des Sohnes, des Logos, sein Bestehen (seine Subsistenz) hat“27 . Es gibt somit keinen anderen Zugang zur Identität Jesu mit dem ewigen Logos als die – offenbarungstheologisch und traditionsgeschichtlich rekonstruierte – heilsökonomische Hingabe Jesu: „Der Verzicht auf jede über das Maß des Geschöpflichen hinausgehende Würdestellung vor Gott erweist sich als Bedingung seiner Sohnschaft: Sie ist vermittelt durch Selbsterniedrigung (Phil 2,8). Das macht die Indirektheit der Identität Jesu mit dem Sohne Gottes aus.“28 . Georg Essen hat in seiner wichtigen Studie zur Interpretationsgeschichte der Enhypostasielehre insbesondere zwei Verdienste von Pannenbergs Christologie herausgestellt:29 . – Zum einen kann Pannenberg deutlich machen, dass der Glaube an Jesu gottmenschliche Wirklichkeit nicht die Vorstellung einer Zusammensetzung von Göttlichem und Menschlichem in seiner Person impliziere oder aber dass die Personeinheit Jesu mit dem Sohn Gottes auf Kosten seiner Menschlichkeit gehe. Jesus erweist sich nicht jenseits seiner Menschlichkeit,

26 Pannenberg, SyTh2, 429. 27 Pannenberg, Grundzüge, 351. Damit ist aber über eine Wesenseinheit Christi mit Gott auch die Personidentität mit dem Logos indirekt begründet. Da „die Relation Jesu zum Vater in seiner Hingabe an ihn identisch ist mit dem in der Bezeichnung der Sohn gemeinten Verhältnis zum Vater, […] ist Jesus in seiner menschlichen Hingabe an den Vater identisch mit der ewigen Person des Logos“ (ebd.). 28 Pannenberg, SyTh2, 416. 29 Vgl. Essen, Die Freiheit Jesu, 210–214; vgl. auch Menke, Jesus, 367.

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sondern in seiner Menschlichkeit als Sohn: Jesus ist „als dieser Mensch der Sohn Gottes und so selber Gott“30 . – Zum anderen kann Pannenberg die Gleichsinnigkeit des Personbegriffs in der Christologie und der Trinitätstheologie ausweisen, indem er das Wesen der Person relational und exzentrisch begründet. Die wechselseitige Hingabe und Selbstunterscheidung Jesu und des Vaters, die die trinitarische Einheit Gottes ausmacht, begründet auch christologisch die wahre Gottheit des Sohnes. Allerdings steht für Essen in Frage, ob der Übergang vom noetischen zum ontologischen Aufweis der Personidentität Jesu bereits hinreichend begründet ist. Lässt sich aus der Entsprechung zwischen der Relation der Hingabe Jesu an den Vater zu dem in der Sohnesbezeichnung intendierten Verhältnis des ewigen Sohnes zum Vater bereits eine ontologische Identität behaupten? Die Hypostase des göttlichen Sohnes müsse nicht nur als das ontologische und grammatikalische Attributionssubjekt aller christologischen Aussagen, sondern auch als das einheitsermöglichende Prinzip der Einheit von Gott und Mensch in Christus verstanden werden. Dies könne nur gelingen, wenn das In-Erscheinung-treten des Sohnes in der Geschichte Jesu als Ausdruck der Inkarnation des Sohnes verstanden werde.31 Pannenberg selbst hat in der Diskussion um seine Christologie die Grenze seiner „von unten“ ansetzenden Methodik eingeräumt, insofern diese Gott nicht deutlich genug als handelndes Subjekt der Geschichte Jesu ausweisen kann. Dies geschieht erst, indem die Konstitution der Person Christi aus der Gottheit Gottes trinitarisch verständlich gemacht werden kann.32 2.

Trinitätstheologische Inkarnationslehre

In der Systematischen Theologie wird die traditionsgeschichtlich „von unten“ vorgehende Christologie mit einer „von oben“ einsetzenden Argumentationsrichtung, nämlich mit dem auch schon in den „Grundzügen der Christologie“ ausgedrückten sachlichen Primat des ewigen Sohnes und seiner Inkarnation in Jesus Christus, methodisch in ein Verhältnis der Komplementarität gesetzt.33 Die Christologie hat das Auftreten und die Geschichte Jesu als Handeln des trinitarischen Gottes zu erläutern. Für den Argumentationsgang ist dabei bedeutsam, dass die These der Indirektheit der Gottessohnschaft Jesu keineswegs 30 31 32 33

Ebd. 354. Vgl. Essen, Die Freiheit Jesu, 216–218. Vgl. Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, 421–423. Vgl. Pannenberg, SyTh2, 327; Pannenberg, Grundzüge, 349.

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zurückgenommen wird. Die vermittelt durch sein Verhältnis zum Vater erhobene Bedeutung Jesu führt zu einer Neugestaltung der Logoschristologie, die bereits im Nachwort zur 5. Auflage der „Grundzüge der Christologie“ gefordert wurde und die es erlaubt, in der Person Jesu Christi und seiner Selbstunterscheidung von Gott dem Vater das Selbst- und Weltverhältnis Gottes überhaupt zu denken.34 Pannenberg argumentiert wie folgt: Der göttliche Logos ist (1) in seiner Selbstunterscheidung vom Vater generatives Prinzip der Andersheit und Grund der geschöpflichen Selbständigkeit. Weil (2) der Mensch ein mit Selbstbewusstsein ausgezeichnetes Wesen ist, kann er die Unterscheidung von Gott, die alle Geschöpfe kennzeichnet, in Freiheit bejahen bzw. als Differenz-Einheit realisieren oder negieren. Im Menschen kann die Selbstunterscheidung des Logos vom Vater in besonderer Weise präsent werden: „Die menschliche Natur ist als solche zur Inkarnation des Logos bestimmt.“35 (3) Jesus ist der wahre Mensch schlechthin, er realisiert die Selbstunterscheidung vom Vater so unbedingt, dass in ihm die innertrinitarische Selbstunterscheidung des Logos vom Vater realisiert und offenbar wird.36 Im Rahmen einer Neuformulierung einer Logostheologie wird der Gedanke der Selbstunterscheidung, der eine Differenz-Einheit von Gott und Mensch vermittelt, bestimmend für die systematische „Verfugung von Anthropologie und Christologie“37 . Die Erklärungsbedürftigkeit Jesu von Gott her, die die Geschichte Jesu als Handeln Gottes ausweisen soll, wird als Grundbefindlichkeit des Menschen verstanden, die biblisch im Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck kommt.38 Die der Zweinaturenlehre vorgeworfene Problematik, wonach Göttliches und Menschliches als in sich geschlossene, auf einer gleichen Ebene stehende Wirklichkeiten zu denken sind, die im Gottmenschen Jesus äußerlich miteinander verbunden sind, lässt sich für Pannenberg lösen, wenn Christologie und Theologie innerhalb eines umgreifenden Verhältnisses von Anthropologie und Theologie behandelt werden. Mit Karl Rahner kann Pannenberg die Inkarnation verstehen „als die (obzwar freie, ungeschuldete und einmalige) absolut höchste Erfüllung dessen, was ‚Mensch überhaupt besagt“39 . Allerdings kann das Verhältnis von Anthropologie und Christologie nicht im Rahmen einer transzendentalen Anthropologie 34 Vgl. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 167; vgl. Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, 425–426. 35 Pannenberg, SyTh2, 429. 36 Vgl. auch Menke, Jesus, 367–368. 37 Essen, Die Freiheit Jesu, 219. 38 So Pannenberg vor allen Dingen in seinem Aufsatz: Wolfhart Pannenberg, Christologie und Theologie, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie Bd.2., Göttingen 1980, 129–145. 39 Ebd., 332.

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und Christologie verstanden werden, insofern Pannenberg ausgeht von einer geschichtlich vermittelten, durch die Sünde gebrochenen Verwirklichung der menschlichen Anlage zur Gottesgemeinschaft. Erst durch die Offenbarung Christi erhalten die allgemeinen und durch die Sünde des Menschen verfälschten Vorstellungen von seiner Bestimmung ihren wahren Inhalt zurück. Durch die Selbstunterscheidung Christi von Gott wird die sündhaft verfälschte Gottesbeziehung des Menschen – das Wie-Gott-sein-Wollen des Menschen – in ihre ursprünglich intendierte Form zurückgeführt und den Menschen der Zugang zu Gott eröffnet. Damit geht die individuelle Besonderheit Christi nicht darin auf, einen Allgemeinbegriff des Menschen zu realisieren. Christus ist vielmehr der neue, eschatologische Mensch im Sinne der paulinischen Christus-AdamTypologie (1 Kor 15,45ff.; Röm 5,12–19), der in seiner menschlichen Existenz „die Selbstentäußerung des Sohnes im Dienst an der Herrschaft des Vaters adäquat verkörpert“40 . Der Logosbegriff kann damit zum „Thema trinitätstheologischer Reflexion im Hinblick auf die inkarnatorische Konstitution der Person Christi“41 werden, wie es im Nachwort zur 5. Auflage der „Grundzüge der Christologie“ angekündigt wird. Während der Inkarnationsgedanke jedoch in der Christologie Pannenbergs allein auf den Anfang des irdischen Weges Jesu eingeschränkt ist, kann dieser jetzt geschichtlich gedacht und auf das Ganze des irdischen Lebensweges Jesu bezogen werden: Der ewige Sohn bzw. Logos ist als beständig wirksamer Grund des Daseins Jesu und „die Inkarnation selbst als konstitutiv für dasselbe“42 zu denken.43 Gerade die kreatürliche Selbständigkeit Jesu als Mensch erfordert es, dass dessen Geschichte nicht durch einen auf den Anfang eingeschränkten Inkarnationsgedanken reduziert wird. Pannenberg formuliert eindringlich: „Gerade die kreatürliche Selbständigkeit der menschlichen Geschichte Jesu muss als Medium der Inkarnation gedacht werden, aber so, dass die Konstitution der Person Jesu sich im ganzen Prozess dieser Geschichte vollzieht: Sonst wäre Jesus ja zuerst bloßer Mensch und würde erst später zum Sohne Gottes durch Vereinigung einer menschlichen Person mit ihm.“44 .

Pannenberg kann mit einer „geschichtstheologisch orientierten Form der Logostheologie“45 auf der einen Seite eine problematische Unterbewertung der 40 41 42 43 44 45

Ebd., 420; Essen, Die Freiheit Jesu, 223–224. Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, 426. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 167. Vgl. Pannenberg, SysTh2, 428. Ebd., 429; Fußnote 173. Pannenberg, Nachwort zur 5. Auflage, 425.

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menschlichen Wirklichkeit Jesu in der klassischen Enhypostasielehre korrigieren, andererseits jedoch auch gegenüber einer Trennungschristologie (bzw. kritischen Rückfragen gegenüber dem bestätigenden Richtungssinn der Auferstehung in seiner Christologie) deutlich machen, dass der Logos konstitutiv ist im Ganzen des geschichtlichen Daseins Jesu. Eine theologische Begründung des Inkarnationsgedankens und eine damit verbundene Aussage der Identität der Person Jesu mit der des ewigen Gottessohnes erfordert einen weiteren Argumentationsschritt, in dem wiederum deutlich wird, dass Einheit mit Gott und in Gott nicht im Modus undifferenzierter Identität – einer Art „Indifferenz“ –, sondern nur in der Weise der Identität von Identität und Differenz möglich ist.46 Die mit der Menschwerdung verbundene Entäußerung und Erniedrigung des Sohnes darf nicht als Einschränkung, sondern muss als „Betätigung der ewigen Gottheit des Sohnes aufgefasst werden“47 . Dies ist möglich, wenn sie im Zusammenhang mit der ewigen Selbstunterscheidung des Sohnes gesehen wird. Die geschichtlich gelebte Selbstunterscheidung Jesu ist im strengen Sinne „Ausdruck“48 der ewigen Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater. Die Andersheit des Sohnes, aber auch seine Einheit mit dem Vater ist von Ewigkeit her durch die liebende Anerkennung der Gottheit und Majestät des Vaters und somit durch seine Selbstunterscheidung vom Vater vermittelt. Indem der Sohn den Vater als den einen Gott von sich unterscheidet, tritt er zwar aus der Einheit Gottes heraus, betätigt jedoch so sein göttliches Wesen als Sohn im Medium des kreatürlichen Daseins Jesu:49 „Damit ist nach Pannenberg der Nachweis erbracht, dass und warum die Person Jesu identisch ist mit der des ewigen Gottessohnes“50 . Jesus entbehrt dabei keineswegs in seiner menschlichen Wirklichkeit der Personalität, sondern er hat in seiner menschlichen Geschichte seine personale Identität darin, der Sohn des Vaters zu sein: „Inkarnation des Sohnes in der Gestalt Jesu bedeutet, dass dieser Mensch in Person der Sohn Gottes und dass er es in der ganzen Erstreckung seines Weges gewesen ist.“51 . Da der geschichtlich konzipierte Inkarnationsgedanke von Pannenberg nicht als Einschränkung, sondern als Betätigung der Gottheit des Sohnes und als Ausdruck seiner Selbstunterscheidung vom Vater bestimmt wird, ist die Inkarnation „als Selbstverwirklichung Gottes zu denken“52 . Im Blick auf das Wirken des Sohnes und des Geistes, das „die Wirklichkeit Gottes […] in der 46 47 48 49 50 51 52

Vgl. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 189. Pannenberg, SyTh2, 361. Ebd.; Vgl. auch ebd., 420. Vgl. ebd., 420–421. Essen, Die Freiheit Jesu, 224. Pannenberg, SyTh2, 360. Pannenberg, Christologie und Theologie, 142.

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Welt und für die Welt“53 ist, kann von einer Selbstverwirklichung des trinitarischen Gottes in der Welt gesprochen werden. Da Gottes Gottsein nicht von seiner Königsherrschaft in der Welt getrennt werden kann, folgt diese Selbstverwirklichung Gottes notwendig der in Freiheit vollzogenen Schöpfung Gottes.54 Gottes Selbstverwirklichung vollzieht sich jedoch in der Inkarnation des Sohnes als ein In-die-Wahrheit-Bringen des Menschseins hinsichtlich der Gottesfrage des Menschen. Die Selbstverwirklichung Gottes kann somit als Selbstverwirklichung des Menschen, als ein Auffinden des göttlichen Selbst durch den Menschen, seiner Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit, verstanden werden: „Göttliches Wirken und menschliches Suchen verschränken sich in diesem Prozeß der Selbstverwirklichung des Gottes. In dem Moment aber, in dem das Selbst Gottes definitiv gefunden ist – wie es möglicherweise die Wahrheit der Geschichte Jesu ist –, wird diese Verschränkung in der Identität des göttlichen Wesens selbst aufgenommen als trinitarische Selbstbeziehung Gottes in der Unterschiedenheit des Vaters und des Sohnes durch den beide verbindenden Geist.“55

53 Pannenberg, SyTh2, 437. 54 Eine solche Vorstellung der Selbstverwirklichung Gottes besagt für Pannenberg keineswegs, dass der trinitarische Gott vor seiner geschichtlichen Selbstverwirklichung keine Wirklichkeit in sich selbst besessen hätte. Der Begriff der Selbstverwirklichung, der Gott als Subjekt und Objekt seiner Verwirklichung bestimmt, besagt, dass das Selbst dem Vollzug seiner Verwirklichung vorausgeht. In diesem Punkt unterscheiden sich Gott und Mensch, weshalb im Blick auf den Menschen von einer Selbstfindung zu sprechen ist. Theologiegeschichtlich ist die Vorstellung der Selbstverwirklichung Gottes für Pannenberg im Begriff Gottes als causa sui zu verorten. Vgl. zum Ganzen Pannenberg, SyTh2, 433–440; Joachim Ringleben, Gottes Sein, Handeln und Werden. Ein Beitrag zum Gespräch mit Wolfhart Pannenberg, in: Jan Rohls/Gunther Wenz, Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre (Festschrift für Wolfhart Pannenberg), Göttingen 1988, 457–487, hier: 476–484. Von daher kann auch die Kritik Schönborns an Pannenberg entkräftet werden, der die Differenz von Schöpfung und Eschatologie bei Pannenberg eingeebnet sieht, „bis schließlich in letzter Konsequenz die Differenz von Gott und Welt, Gott und Mensch zu einem bloßen Moment des Gesamtprozesses von göttlicher und menschlicher Selbstverwirklichung wird“. Schönborn, Aporie der Zweinaturenlehre, 445; Vgl. zum Ganzen ebd., 339–445. Pannenberg hat demgegenüber betont, dass der Prozess der göttlichen Selbstverwirklichung eben nicht eine „über der Differenz von Gott und Mensch stehende Entität“ (Wolfhart Pannenberg, Zur „Aporie der Zweinaturenlehre“. Brief an Christoph von Schönborn, in: FZPhTh 25 (1978), 100–103, hier: 102) ist. Vielmehr sind für Pannenberg Selbstverwirklichung des Menschen und Selbstverwirklichung Gottes dialektisch aufeinander bezogen. Vgl. zum Ganzen auch Klaus Vechtel, Trinität und Zukunft. Zum Verhältnis von Philosophie und Trinitätstheologie im Denken Wolfhart Pannenbergs (FTS Bd.62), Frankfurt 2001, 118–121,153–158. 55 Pannenberg, Christologie und Theologie, 143.

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Ist damit eine konsistente und tragfähige Reformulierung der klassischen Christologie gegeben oder finden die Probleme und die Aporie der Zweinaturenlehre in Pannenbergs Entwurf eine Fortsetzung? Auf die Einwände, wie sie insbesondere Georg Essen in seiner Studie zur Enhypostasielehre gegenüber Pannenbergs Christologie vorgebracht hat, soll im Folgenden eingegangen werden. 3.

Zur Diskussion um Pannenbergs Christologie

Nicht zuletzt im Blick auf den Gedanken der göttlichen Selbstverwirklichung, die sich für Pannenberg als menschliche Selbstverwirklichung anthropologisch und religionsgeschichtlich im Auffinden des göttlichen Selbst durch den Menschen – d. h. kulminierend in der Inkarnation – vollzieht, erkennt Essen eine „anthropologische[…] Unterbestimmung“56 in der Christologie Pannenbergs. Der Grund für diese anthropologische Schieflage liegt für Essen auf der Ebene der subjekt- und freiheitstheoretischen Grundlagen von Pannenbergs Denken, näherhin im Gedanken einer theonomen Konstitution der Person, die in der Bestimmung des Personseins als Exzentrizität und Sein-beim-Anderen angelegt sei.57 Weil Pannenberg die „Selbständigkeit menschlichen Daseins ausdrücklich nicht vom unbedingten Moment menschlicher Freiheit“58 her begreife, sondern „als theonom begründet […] in Gott als ihrem höchsten möglichen Selbstsein“59 auffasse, seien in der Konsequenz dieser „anthropologischen Zuspitzungen“60 die Ausführungen über die Freiheit Jesu zu verstehen. Pannenberg schließe die Vorstellung einer Freiheit Jesu im Sinne einer „indifferenten Entscheidungsinstanz im Willen Jesu“61 ebenso aus wie eine Wahlfreiheit gegenüber seiner Sendung. Es lasse sich deshalb fragen, ob die Durchführung der Christologie als Selbstverwirklichung Gottes die enhypostatische Realisierung des personalen Daseins Jesu nicht als ein gottinternes Geschehen darstelle.62 Essen will hingegen unter den Bedingungen des neuzeitlichen Subjekt- und Freiheitsdenkens die „alexandrinische Intuition“ (A. Grillmeier) bzw. die Intention der neuchalkedonischen Enhypostasielehre aufgreifen, indem er die Idee einer „vollkommenen Subjekteinheit“63 in Christus so stark wie möglich 56 57 58 59 60 61 62 63

Essen, Die Freiheit Jesu, 370. Vgl. ebd., 225–233. Ebd., 237. Ebd., 238. Ebd. Pannenberg, Grundzüge, 365. Vgl. Essen, Die Freiheit Jesu, 237–241; Menke, Jesus, 370–372. Essen, Die Freiheit Jesu, 121; vgl. auch ebd., 298.

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betont und dieses eine Subjekt als den göttlichen Logos bestimmt.64 Auch wenn Essen – im Anschluss an Pannenberg – vom heilsgeschichtlichen Verhältnis Jesu zum Vater ausgeht und somit gnoseologisch der menschlichen Freiheit Jesu eine christologische Relevanz einräumt, bleiben jedoch Fragen, ob die menschliche Freiheit Jesu auch ontologisch zur Geltung gebracht werden kann, insofern Essen – so die Einschätzung von Magnus Lerch – die These einer numerischen Identität der Freiheit Jesu mit der Freiheit des ewigen Sohnes vertritt65 : „die Freiheit des Menschen Jesus [kann] keine andere sein als die Freiheit des göttlichen Sohnes selbst“66 . Sie kann zur Selbstgegenwart der Liebe des Vaters werden nur in „unvermittelter Unmittelbarkeit ihrer Beziehung zum Vater“67 ; sie kann „mit der des göttlichen Sohnes identifiziert werden“68 , weil sie nicht mehr – wie unsere Freiheit – in einer geschichtlich-symbolischen Vermittlung, sondern unvermittelter Unmittelbarkeit der Liebe des Vaters gewiss war, so dass die Freiheit Jesu „als Einheit von ursprünglich-unbedingtem Sich-Entschließen und ursprünglich trinitarisch vermittelter Fülle des Inhalts erscheint“69 . Damit werden der menschlichen Freiheit jedoch Prädikate zugeschrieben, die im transzendentalen Freiheitsdenken Thomas Pröppers, dem sich Essen verpflichtet weiß, von der Freiheit Gottes auszusagen sind. Damit stellt sich die Frage, ob die von Essen gegenüber Pannenberg stark gemachte Differenz von Selbst- und Gottesbezug im Blick auf die Person Jesu zurückgenommen wird.70 Ähnlich fragt Jürgen Werbick an, ob man im Blick auf Christus doch wieder „den ontologischen Ausnahmefall“ hinnehmen müsse.71 Das transzendentale Ich Jesu (bzw. die formal unbedingte Instanz seiner Freiheit) ist identisch mit dem des innertrinitarischen Sohnes, weshalb Essen mit Nachdruck betont:

64 Vgl. ebd., 121. 65 Vgl. Magnus Lerch, Die menschliche Freiheit Jesu als Selbstmitteilung Gottes. Überlegungen im Anschluss an Thomas Pröpper und Karl Rahner, in: Jan Knop/Magnus Lerch/Bernd J. Claret (Hg.), Die Wahrheit ist Person. Brennpunkte einer christologisch gewendeten Dogmatik (Festschrift für Karl-Heinz Menke), Regensburg 2015, 151–179, hier: 168–169. 66 Essen, Die Freiheit Jesu, 291. 67 Ebd. 68 Ebd., 296. 69 Ebd., 297. 70 Vgl. Lerch, Die menschliche Freiheit Jesu, 168–169, Anm. 60. 71 Werbick hält in diesem Zusammenhang fest: „Ich sehe nicht, wie man mit diesem zweifellos eindrucksvollen Konzept die notorischen christologischen Aporien hinter sich lässt und etwa den Fallstricken des Monotheletismus entgeht.“ Jürgen Werbick, Gott-menschlich. Elementare Christologie, Freiburg 2016, 280; vgl. auch die Hinweise zu Georg Essen bei Manuel Schlögl, „…Den Menschen zu befreien. Die Freiheit Jesu bei Maximus Confessor im Kontext der gegenwärtigen Christologie, in: IKaZ Com. 48 (2019), 93–107, hier: 101–104.

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„Das eine Ich und Subjekt in Christus ist mit dem präexistenten Gottessohn zu identifizieren!“72 . Bei allen berechtigten Anfragen gegenüber der Verklammerung von Subjektund Sündenthematik in Pannenbergs Anthropologie, die in der Verhältnisbestimmung von Exzentrizität, Selbstzentriertheit und menschlicher Sünde zum Ausdruck kommt,73 wird in seiner Christologie eine bleibende Unterschiedenheit von Gott und Mensch in Jesus aufrechterhalten. Diese Unterschiedenheit ist nicht zuletzt auch in der Enhypostasie des Menschseins Jesu im Logos zur Geltung gebracht, insofern Jesu Personsein nicht unmittelbar vom Logos her, sondern vermittelt durch die Beziehung zum Vater begründet wird. Bedeutsam für einen menschlichen Selbststand der Person Jesu erscheint dabei, dass „der Unterschied von Gott und Mensch wohl in der Persongemeinschaft Jesu mit dem Vater […], nicht aber in einer individuellen Lebenseinheit zu einem Ganzen integriert wurde“74 . Im geschichtlichen Weg Jesu werden die einzelnen Lebensmomente im Dasein Jesu so zu einem Ganzen intergiert, dass „die integrierende Person sich eben dadurch als Person des ewig zur Gottheit Gottes gehörenden Sohnes realisierte“75 . Im Anschluss an Hans-Joachim Höhn könnte hier von der Vergegenwärtigung und Übersetzung des trinitarischen Selbstverhältnisses Gottes in einer Entsprechungsrelation gesprochen werden. Gottes Selbstverhältnis und sein Verhältnis zur Welt finden eine Entsprechung im existenz-, identitäts- und freiheitskonstitutiven Lebensverhältnis Jesu zu seinem Vater. Damit kann jedoch m. E. die Intention der chalkedonischen Formel und der darin zum Ausdruck kommenden Zuordnung von göttlicher und geschöpflicher Wirklichkeit, die voneinander unterscheidbar („unvermischt“) und zugleich aufeinander beziehbar („ungetrennt“) in ihrer Beziehungseinheit für sich bestehen bleiben („unverändert“) und unaufhebbar aufeinander verwiesen („ungeteilt“) sind, von Pannenberg ausgesagt werden.76 Eine Problemanzeige lässt sich in den Ausführungen Pannenbergs zur menschlichen Freiheit Jesu darin erkennen, dass eine „Wahlfreiheit des Menschen Jesus gegenüber Gott“77 bzw. eine Freiheit Jesu im Sinne eines 72 Essen, Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, 98. 73 Vgl. dazu Thomas Pröpper, Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs, in: ThQ 170 (1990), 267–289, hier: 269–282. 74 Pannenberg, Grundzüge, 356. 75 Ebd.; vgl. auch Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 190–192. 76 Vgl. Hans-Joachim Höhn, Wahrhaft Gott – Wahrhaft Mensch? Chalcedon und die Christologie heute, in: Theresia Hainthaler, Dirk Ansorge, Ansgar Wucherpfennig (Hg.), Jesus der Christus im Glauben der einen Kirche. Christologie – Kirchen des Ostens – ökumenische Dialoge, Freiburg 2019, 421–439, hier: 436–438; vgl. auch Kasper, Einer aus der Trinität, 225–227, 232–234. 77 Pannenberg, Grundzüge, 362.

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„indifferenten Wahlvermögens“78 – als hätte es für Jesus noch andere Möglichkeiten neben der Sendung durch den Vater gegeben – abgelehnt wird. Exakt hier kommt für Essen zum Tragen, dass Pannenberg „die Unterschiedenheit von Gott und Mensch nicht als Freiheitsdifferenz begreift“79 . Gegenüber diesen m.E. nicht unberechtigten Anfragen80 ist allerdings zugleich zu betonen, dass Pannenberg an einem Verständnis menschlicher Freiheit festhält, die fähig ist, „jede Situation, in der er sich vorfindet, durch seine Stellungnahme zu transzendieren […]. Darum gilt es für ihn in der Tat in jedem Augenblick, zwischen mehreren Möglichkeiten zu entscheiden“81 . Je klarer die menschliche Freiheit ihre Bestimmung – in freiheitstheoretischer Diktion: einen ihr entsprechenden Gehalt von Freiheit in der Freiheit der anderen Menschen und schließlich der unendlichen Freiheit Gottes – erkennt, desto weniger kann es für sie eine Alternative geben. Bezüglich der menschlichen Freiheit Jesu ist für Pannenberg anzunehmen, dass sie ihre Bestimmung bzw. ihren Gehalt im Bewusstsein der eschatologischen Nähe Gottes so erkannte und ergriff, dass dieser Gehalt für sie alternativlos war. Dass ein Bewusstsein der eschatologischen Nähe Gottes auch im Falle Jesu einem Wachstums- und Reifungsprozess unterliegt, wird man dabei im Blick auf sein Menschsein und auch auf das Schriftzeugnis nicht ausschließen.82 Georg Essens Pannenberg-Kritik entzündet sich nicht zuletzt auf dem Hintergrund seiner eigenen subjektphilosophischen Prämissen an einer theonomen Konstitution von Subjekt und Personsein, die Pannenberg im Zuge seiner Descartes- und Fichteinterpretation plausibilisiert. M.E. nach ließe sich Pannenbergs Denken noch einmal stärker in Beziehung setzen zum freiheitstheoretischen Ansatz Essens, wenn – wie Magnus Lerch aufgezeigt hat – auf die Kontingenz der transzendentalen Freiheit in ihrer formalen Unbedingtheit reflektiert wird. Wird, so Lerch im Anschluss an D. Henrich und K. Müller, Freiheit als retroszendierende Bewegung begriffen, die unbedingtes Öffnen gegenüber einem Gehalt (Transzendenz) und Rückbezug des Gehaltes auf sich (Retroszendenz) impliziert, dann bleibt klärungsbedürftig, worin die „formale Identität und Einheit des Ich“83 begründet ist. Das Ich findet sich immer 78 Ebd. 79 Essen, Die Freiheit Jesu, 238; vgl. zum Ganzen ebd., 238–241. 80 Nach Pannenberg stellen auch die biblisch bezeugten Versuchungen und Anfechtungen Jesu nicht in Frage, dass die Klarheit seiner Botschaft und seiner Sendung „keine andere Möglichkeit seiner Freiheit offenließ als die, die er tatsächlich ergriffen hat“. Pannenberg, Grundzüge, 367. 81 Ebd., 365. Somit lässt sich durchaus eine Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Wahlfreiheit (im Sinne eines libertarischen Freiheitsbegriffs) und einer dieser zugrundeliegenden Freiheit, der es um das Subjekt bzw. die Person selbst geht, bei Pannenberg festhalten. 82 Vgl. ebd., 365–368. 83 Lerch, Die menschliche Freiheit Jesu, 175.

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schon als freies vor, es ist mit einer Formulierung von Thomas Pröpper „Ereignis“84 . Pannenberg diskutiert diese Zusammenhänge unter anderem in der Auseinandersetzung mit der Denkentwicklung bei Fichte, der angesichts der Schwierigkeiten, die Einheit des Selbstbewusstseins als Grund aller Erfahrung auf eine Selbstsetzung des Ich zurückzuführen, in den verschiedenen Weiterführungen der „Wissenschaftslehre“ zu der Überzeugung kommt, das Ich immer schon als eingesetzt in die Einheit seiner selbst zu verstehen. Pannenberg steht allerdings dem Gedanken Fichtes kritisch gegenüber, dass das Absolute als Konstitutionsgrund des Selbstbewusstseins zugänglich sein soll durch eine Einkehr des Selbstbewusstseins auf dem Weg der transzendentalen Reflexion, und will demgegenüber an einer Vorgängigkeit des Absoluten und Unendlichen vermittelt über die Gegenstands- und Welterfahrung in einem genetischen Prozess der Subjektkonstitution festhalten.85 In der Diskussion mit Thomas Pröpper wird dabei geltend gemacht: Wenn man Freiheit bestimmt als formal unbedingte und ursprüngliche Fähigkeit, sich zu allem verhalten zu können, so setzt „das Sichverhalten zu etwas doch schon voraus, dass es als ‚etwas von anderm unterschieden, also (im Sinne Pröppers) ‚gesetzt ist“86 . Wie immer man diese komplexen Grundlagenfragen neuzeitlichen Denkens bewertet, mir scheint die Intuition einer Kontingenz der transzendentalen Form der Freiheit bedeutsam zu sein für eine weitere theologische Reflexion. Im Anschluss an Lerch ließe sich festhalten: „Die formal unbedingte Freiheit ist autonom, aber nicht autark, weil sie von Gott als ihrem absoluten, transzendentalen Grund her freigesetzt

84 Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie I, Freiburg 2011, 558. 85 Vgl. zum Ganzen Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 194–198; Wolfhart Pannenberg, Fichte und die Metaphysik des Unendlichen, in: Ders., Beiträge zur systematischen Theologie Bd.1, Göttingen 1999, 32–44. Dieser Denkweg Fichtes steht sachlich in großer Nähe zu Descartes Erstintuition des Unendlichen, die allem Bewusstsein endlicher Gegenstände einschließlich des Ich-Bewusstseins zugrunde liegt. 86 Wolfhart Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität – eine Antwort an Thomas Pröpper, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie Bd.2, Göttingen 2000, 233–243, hier: 240. Unabdingbar gehört zur Endlichkeit menschlicher Freiheit dabei auch, dass das Ganze unseres Daseins und unserer Wirklichkeit und auch Gott unsere Vorstellungen und unser Erleben übersteigen und unser Erleben und Verhalten beeinflussen. Dabei räumt Pannenberg ein, dass die mit Descartes aufgewiesene Erstintuition des Unendlichen, die Bedingung allen Bewusstseins von endlichen Inhalten ist, als „transzendental“ bezeichnet werden kann, insofern damit nicht wieder ein transzendentales Ich als Subjekt dieses Gewahrseins angenommen wird, da es sich bei der Intuition des Unendlichen durchaus um ein präsubjektives Gewahrsein handle. Vgl. ebd., 240–245. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang der Hinweis Pröppers zu sein, Pannenbergs Zurückhaltung gegenüber einem transzendentalen Gottesbeweis erkläre sich aus dem Anliegen heraus, der Behauptung Gottes einen objektiven Anhalt zu sichern und sie vor dem Verdacht in Schutz zu nehmen, nur Ausdruck eines Sinnbedürfnisses der menschlichen Vernunft zu sein. Vgl. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 282–298, hier: 285.

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zu denken ist.“87 Soweit sich menschliche Freiheit zu allem ihr Begegnenden verhalten und in ein Verhältnis setzen kann, ist sie formal unbedingt; daraus folgt allerdings nicht, dass sie selbstursprünglich ist. Der Gedanke Gottes als freisetzender Grund der transzendentalen Freiheitsstruktur lässt sich für Lerch nicht im strengen Sinne philosophisch herleiten, sondern kann auf dem Hintergrund des biblischen Offenbarungsglaubens mit Hilfe einer transzendentalen Analyse der Freiheit verständlich gemacht werden.88 Der biblische Gott, der sich geschichtlich als freisetzende Liebe in dem Menschen Jesus selbst mitgeteilt hat, ließe sich als transzendentaler Ermöglichungsgrund menschlicher Freiheit verstehen, „einer Freiheit, die gerade in dem Maße, indem sie sich als aktive ergreift und eine bestimmte Identität ausbildet, auch ihrer Passivität und ihres transzendentalen ‚Gesetztseins ansichtig werden und sich so als Gabe verstehen kann“89 . Pannenberg verweist in diesem Zusammenhang auf die anthropologischen Voraussetzungen des Dogmas von Chalkedon. Erst unter der Voraussetzung, dass personales Menschsein allgemein eine erfüllende Identität und Ganzheit in der Beziehung zu Gott erhält, stellt es keine Verkürzung des Menschseins Jesu dar, in der Persongemeinschaft mit dem Vater seine Personalität als der Sohn zu empfangen, wobei im Falle Jesu ein Einbezogensein in ein Verhältnis unbedingter Zuwendung Gottes daseinskonstitutiv und nicht als daseinskonsekutiv verstanden werden darf.90 Eine solche Verhältnisbestimmung führt nicht zu einer „Aufhebung des Menschlich-Geschöpflichen ins Göttliche“91 , wie Pannenberg im Anschluss an Maximus Confessor betont: Die Einheit von Gott und Mensch hebt nicht die Verschiedenheit zwischen beiden auf; vielmehr ist bleibende Verschiedenheit Bedingung zunehmender Gemeinschaft und Einheit. Diesem Gedanken ließe sich mit Karl Rahner ein „und umgekehrt“ hinzufügen, in dem Sinne, dass Einheit und Verschiedenheit, Verfügtheit und Selbstmacht 87 Magnus Lerch, Selbstmitteilung Gottes. Herausforderung einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie (ratio fidei Bd.56), Regensburg 2015, 425; vgl. zum Ganzen ebd., 422–431. 88 So im Kontext der Frage nach einer sakramentalen Denkform auch Matthias Remenyi, Von der Leib-Christ-Ekklesiologie zur sakramentalen Ekklesiologie, in: Ders./Saskia Wendel (Hg.), Die Kirche als Leib Christi. Geltung und Grenze einer umstrittenen Metapher (QD 288), Freiburg 2017, 332–356, hier: 54–55. 89 Lerch, Die Freiheit Jesu, 176. Lerch hält in diesem Zusammenhang fest: „Um bereits im Ansatz dem Missverständnis einer philosophischen Grenzüberschreitung entgegenzuwirken: Die philosophische Reflexion kann in eigener Instanz, will sie nicht metaphysisch überschwänglich werden, den gesuchten Grund der Einheit in Differenz bzw. der Gleichursprünglichkeit von Ich und Freiheit nicht so festlegen, dass alternative Selbst- und Weltdeutungen ausgeschlossen sind.“ Lerch, Selbstmitteilung Gottes, 425–426; vgl. auch Remenyi, Von der Leib-ChristiEkklesiologie zur sakramentalen Ekklesiologie, 55. 90 Letzteres betont Höhn, Wahrhaft Gott, 438–439. 91 Schönborn, Aporie der Zweinaturenlehre, 444.

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des Geschöpflichen im Verhältnis zu Gott „nicht im umgekehrten, sondern im selben Maße“92 wachsen. Entsprechend diskutiert Pannenberg in seiner Christologie Rahners Gedanken zur menschlichen Freiheit Jesu. Rahner kann dabei den Akt der Setzung der Menschheit Jesu „in ihre freie Unterschiedenheit von Gott selbst“93 als den „Akt der Einigung mit dem Logos“94 verstehen, aufgrund der spezifischen Eigenart des schöpferischen Handelns Gottes.95 Gott schafft durch sich selbst und durch den eigenen Akt so, dass das Geschaffene in wirklicher Selbständigkeit und radikaler Bezogenheit auf Gott steht.96 Dadurch kann Gott als letztes Prinzip der einenden Einheit Jesu mit dem Logos zugleich als freisetzende Einheit verstanden werden. Jesus ist somit das „Realsymbol“ der sich mitteilenden Liebe Gottes im Logos nicht trotz, sondern aufgrund seiner menschlichen Freiheit. Deren hypostatische Einheit mit dem Logos führt nicht zur Depotenzierung, sondern zur Erfüllung ihrer Kreatürlichkeit. Gottes den Menschen mit sich einende Selbstmitteilung ist in Jesus Christus als freisetzende Selbstmitteilung zu verstehen und ließe sich weiter im Rahmen eines transzendentalen Gott-Welt-Verhältnisses verdeutlichen, das als schöpferisches Freisetzungsverhältnis verstanden wird.97 Pannenbergs Anliegen besteht darin, eine durch und in Differenz vermittelte Einheit von geschöpflicher Wirklichkeit und gottvermitteltem Einssein Jesu mit Gott theologisch zu begründen. Ein solches Denken lässt sich auch mit neueren freiheitstheoretischen Ansätzen in ein fruchtbares Gespräch bringen. In diesem Zusammenhang erscheint mir nicht zuletzt Pannenbergs christologische Neuformulierung der Zweinaturenlehre richtungsweisend zu sein.

92 Rahner, Grundkurs des Glaubens, 217. 93 Karl Rahner, Probleme der Christologie heute, in: Ders., Schriften zur Christologie Bd. I, Einsiedeln u. a. 1954, 169–222, hier: 202. 94 Ebd.; vgl. zum Ganzen ebd., 201–206. 95 Vgl. auch Pannenberg, Grundzüge, 364. 96 Vgl. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 211–226. 97 Vgl. zum Ganzen Lerch, Die menschliche Freiheit Jesu, 170–174, 176–179; zu einer freiheitstheoretischen Aneignung von Rahners These der direkten Proportionalität von Selbststand und Abhängigkeit sowie deren christologischen Implikationen vgl. auch ders., Selbstmitteilung Gottes, 431–435.

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Die Einheit von Schöpfungslehre und Christologie bei Wolfhart Pannenberg „Der Gott Jesu ist nur durch den Menschen Jesus zugänglich, aber auch der Mensch Jesus nur von seinem Gott her“ (GsTh II, 134).1 Die Aussage scheint nur eine Selbstverständlichkeit des christlichen Glaubens zum Ausdruck zu bringen. Doch Pannenberg entfaltet sie in dem ganzen Spannungsbogen, der in ihr enthalten ist. Die traditionelle Inkarnationschristologie geht, wie er sagt (ebd. 129), von einem in sich bereits vollendeten Gottesbegriff aus, der zunächst die Einheit Gottes enthält und dann auf Grund von Offenbarung seine trinitarische Differenzierung enthüllt. Dieser so gedachte Gott ist Schöpfer der Welt. Jesus, wie er uns im NT begegnet, ist seine Inkarnation. Aber in dieser Bestimmung der Vorgängigkeit und damit Abgehobenheit vom biblischen Erscheinungsbild Jesu ist der Gottesbegriff in Zweifel gezogen worden. Genügt nicht Jesu Ausrichtung auf den einfachen und einen Gott (so schon die Sozinianer, in der Tendenz dann Schleiermacher und Harnack)? Will man aber an der Trinität festhalten, dann gilt es, sie zu „denken“ (Chr 422, mit Gerhard Sauter). Dabei zeigt sich, dass sie überhaupt nur verständlich wird über den Menschen Jesus und sein besonderes Verhältnis zu Gott als seinem Vater. Die dialektische Theologie steht für diese radikale Christozentrik in der Gottesfrage. Doch gerade von ihr ging eine Tendenz aus, die Gestalt Jesu gegen den Gottesbegriff überhaupt auszuspielen, so. „bei Paul van Buren in der Nachfolge Barths, bei Herbert Braun in der Schule Butmanns“ (GsThh II, 130). Jesus wäre demnach zu nehmen als ein Verkünder solidarischer Menschlichkeit. Seine Rede von Gott wäre angesichts eines obsolet gewordenen Gottesbegriffs als zeitbedingte Besonderheit anzusehen. Hiergegen ist einmal zu betonen, dass Jesus von seinem Verhältnis zu Gott nicht abzulösen ist. Es ist ja gerade die Herrschaft Gottes, die er verkündet. In der Beziehung zu Gott erscheint Jesu eigene Bedeutung. Er identifiziert sich nicht direkt mit ihm, sondern indirekt in Unterscheidung von ihm. Aber gerade die vollkommene Unterordnung unter Gott, die Offenheit für ihn, lässt Gott 1 Zitierte Schriften Wolfhart Pannenbergs: Systematische Theologie I, II (STh I, II), Göttingen 1988/1991; Grundfragen systematischer Theologie I, II (GsTh I/II) Göttingen 1971/1980; Grundzüge der Christologie (Chr), Gütersloh 5. Aufl. 1976; Erwägungen zu einer Theologie der Natur (ETN), zus. mit A.M. Klaus Müller, Gütersloh 1970; Theologie und Reich Gottes (TRG), Gütersloh 1971; Metaphysik und Gottesgedanke (MuG), Göttingen 1988.

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in ihm erscheinen. Es ist die „Selbstunterscheidung“ Jesu von Gott als seinem Vater, die seine Einheit mit ihm ausmacht und darstellt. Dabei zeigt sich Gott, und er zeigt sich als diese Beziehung von Vater und Sohn in der unlösbaren Einheit ihres Geistes. Diese dreifache Beziehungseinheit ist nicht lediglich eine Maske, hinter der Gott als ein ganz anderer verborgen wäre, sondern Gott zeigt sich in ihr, und dies ist seine Offenbarung. Eben dieser Gott ist Schöpfer der Welt. Er trägt und erhält sie von Anfang an und ist insofern in ihr stets präsent. Die Bestimmung der Schöpfung ist es, sich selbst als solche zu begreifen und sich in Demut und Dank ihrem Schöpfer zuzuwenden. Nur darin kann ihre Vollendung bestehen. Vollendet sie sich, so ist dies auch die volle Präsenz Gottes in ihr. In der Kontingenz des Schöpfungsgeschehens ist es die Präsenz im Kontingenten, im unableitbar Einmaligen, in dem sich diese Vollendung vollzieht: in Jesus von Nazareth. Seine Selbstunterscheidung von Gott als seinem Vater macht ihn als Sohn dieses Vaters erkennbar und seine Auferstehung vom Tod hebt diese Vollendung der Welt zugleich in das Leben Gottes hinein, das sich hier trinitarisch vollzieht. Diese Vollendung der Schöpfung ist von Anfang an ihre Bestimmung und deswegen muss, entsprechend Kol 1, 15 ff, von der „Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi“ (Chr 169) gesprochen werden. Pannenberg begründet diese Schöpfungsmittlerschaft aus dem trinitarischen Leben Gottes: „Für jede der trinitarischen Personen nämlich erwies sich die Selbstunterscheidung von den beiden anderen als Bedingung ihrer Gemeinschaft in der Einheit des göttlichen Lebens, unbeschadet der unterschiedlichen Form der Selbstunterscheidung bei jeder einzelnen Person. Dadurch stellt sich das göttliche Leben als ein in sich geschlossener Kreis dar, der keines anderen außerhalb seiner bedarf. Auch der Sohn, obwohl in ihm das Moment der Selbstunterscheidung seine schärfste Ausprägung hat, bleibt gerade durch den Akt der Selbstunterscheidung in der Einheit des göttlichen Lebens, weil sie Bedingung seiner Einheit mit dem Vater ist. Im Geschehen der Inkarnation jedoch, im Verhältnis Jesu von Nazareth zu seinem himmlischen Vater, ist der Sohn aus der Einheit Gottes herausgetreten. Indem Jesus sich in seiner Selbstunterscheidung vom Vater als bloßen Menschen, als Geschöpf wusste, anerkannte er den Vater als den einen Gott im Gegenüber zu sich selbst. Damit zugleich ließ er auch das selbständige Dasein anderer Geschöpfe neben sich gelten [...] In diesem Sinne lässt sich die Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes verstehen [...] als Ursprung des Daseins geschöpflicher Wirklichkeit“ (STh II, 43 f). „In der freien Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ist das selbständige Dasein einer von Gott unterschiedenen Schöpfung begründet, und in diesem Sinne lässt sich die Schöpfung als ein freier Akt nicht nur des Vaters, sondern des trinitarischen Gottes verstehen“ (45).

Die Einheit von Schöpfungslehre und Christologie bei Wolfhart Pannenberg

Pannenberg zögert nicht, diesen trinitarischen Akt als „Selbstverwirklichung Gottes in der Welt“ (433) zu bezeichnen. „Der Akt der Schöpfung geht zwar aus der Freiheit Gottes hervor. Doch nachdem die Welt der Schöpfung nun einmal ins Dasein getreten ist, ist die Herrschaft über sie Bedingung und Erweis seiner Gottheit“ (434).2 Man kann sagen: Gott setzt sich damit selbst aufs Spiel, denn: „Mit der Übertragung seiner Macht auf den in Jesus erschienenen Sohn hat der Vater seine eigene Gottheit vom Gelingen der Sendung des Sohnes abhängig gemacht“ (435). Von „Selbstverwirklichung Gottes“ darf durchaus gesprochen werden, da dieser Begriff allein Gott angemessen ist, nur seiner göttlichen Selbstsicherheit. Endliches kann sich nicht radikal selbst verwirklichen (437). Seine Freiheit ist, auch als Freiheit, immer bedingt „Dagegen lässt sich das Verhältnis der immanenten zur ökonomischen Trinität, das Verhältnis seines innertrinitarischen Lebens zu seinem heilsökonomischen Handeln, sofern es der Gottheit Gottes nicht äußerlich ist, sondern seine Gegenwart in der Welt ausdrückt, treffend als Selbstverwirklichung Gottes bezeichnen: hier ist jene Gleichheit von Subjekt und Resultat gegeben, die der Begriff zu denken fordert“ (437).3 Pannenberg hat diesen Begriff der Selbstverwirklichung dem der Kenose kritisch gegenüber gestellt, trotz Phil 2,6 ff. Er sieht in diesem Begriff noch ein Gottesverständnis wirksam, „in welchem die christlichen Motive noch keine vollständige und konsequente Durchbildung gefunden haben. Die Allmacht des christlichen Gottes steht nicht im Gegensatz zu seiner gewaltlosen Liebe, sondern erweist sich gerade in der Macht der scheinbar (nämlich in den Augen des von Gott isolierten Menschen) ohnmächtigen Sache des Rechtes, des Friedens und der Liebe unter den Menschen“ (GsTh II, 141).4 Ich denke, man kann auch mit Pannenberg den Gedanken der Kenose mit dem der Macht verbinden, insofern die Macht gerade darin besteht, anderen Raum zu geben (vgl. Chr 412). Ein wohlwollendes Raum-Geben ist auch zwischenmenschlich eher Ausdruck der Stärke als eines sich depotenzierenden Rückzugs. Dieser christliche Gottesbegriff hat Anspruch auf Wahrheit und allgemeine Anerkennung. Keinesfalls darf dieser Anspruch aufgegeben werden. Hält man den Gottesbezug Jesu für eine zwar ihm eigentümliche, aber historisch überholte Überzeugung, gibt man die eigentliche Pointe der Relevanz Jesu für unsere Zeit auf.

2 Ebenso: TRG 13 f. 3 Vgl. Karl Rahner: „Die ‚ökonomische‘ Trinität ist die ‚immanente Trinität‘ und umgekehrt“ in: Mysterium Salutis II, J. Feiner/M. Löhrer (Hg.), Einsiedeln/Köln 1967, 328. 4 Besonders kritisch; GsTh II, 142 Anm. Eine etwas vage Aufnahme des Begriffs findet sich in STh II, 422 als „Nahekommen“ des Sohnes dem Vater.

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„Dieser Kurzschluss [einer ‚Christologie von unten‘] wird vermieden, indem die tatsächliche Verbundenheit des Menschen als solchen mit Gott zum Ausgangspunkt der christologischen Reflexion auf den Menschen Jesus von Nazareth gemacht wird“ (GsTh II, 136). „Die Wirklichkeit Gottes tritt nicht erst mit der Geschichte Jesu von Nazareth, nicht ‚senkrecht von oben‘, in die Menschheitsgeschichte ein. Der Ursprung eines spezifisch christlichen Gottesverständnisses in der Geschichte Jesu steht daher nicht exklusiv gegen alles außerchristliche Reden von Gott, sondern ist als Modifikation der jüdischen wie auch der griechischen oder anderweitiger Gottesgedanken im Lichte der Geschichte Jesu zu verstehen“ (140).

Pannenberg schließt an diese Sätze eine Würdigung des „griechisch platonischen“ Gottesgedankens an, den er in seiner Bedeutung, aber auch in seinen Grenzen reflektiert. Sein Jenseitsgedanke ist durchaus festzuhalten. Doch ist ihm zu entgegnen, „dass die Wirklichkeit Gottes dem Endlichen nicht einfach entgegengesetzt ist, sondern es zugleich in sich begreift“ (ebd.). Zudem: „Die Auffassung der Ewigkeit Gottes im Sinne zeitloser Gegenwart ist im Lichte der Spannung von Zukunft und Gegenwart in der Geschichte Jesu zu korrigieren“ (ebd.).5 Weiterhin ist der Gedanke der „Allmacht“, im Sinne der oben beschriebenen Macht in der Ohnmacht, zu korrigieren (ebd). Diese kritische Würdigung des griechisch-philosophischen Gottesgedankens im Licht der christlichen Botschaft kann in einer allgemeinen Diskussion um den Gottesgedanken durchaus seine Überzeugungskraft erweisen. Der Raum der Vernunft, in dem dies geschieht, ist freilich nicht außerhalb Gottes zu denken. „In diesen Zirkel des göttlichen Lebens aber kommt nicht hinein, wer nicht schon darin ist. Gott wird nur durch Gott erkannt“ (134).6 Im Blick auf Jesus heißt dies: „Dass dieser Mensch nicht ohne seinen Gott zugänglich ist, das gilt, so sahen wir, nicht exklusiv nur von Jesus, sondern für die Menschheit überhaupt“ (135). Auf die Religionsgeschichte bezogen kann dann der Anspruch erhoben werden, dass die Botschaft Jesu, „die in ihre Wahrheit gebrachte Religion des Menschen“ ist

5 Pannenberg spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer gewissen Bestätigung des griechischen Gottesgedankens: „Darum wird auch der griechische Ewigkeitsgedanke durch unsere Erwägungen nicht einfach beseitigt, sondern in den Horizont eines weiteren Wirklichkeitsverständnisses gerückt“ (TRG 21). 6 Ebenso spricht Pannenberg von „Wechselbedingtheit“ zwischen Theologie und (nicht theologischer) Anthropologie. Dieser „Zirkel“ kann in seiner Unumgänglichkeit kein „vitiöser“ sein. „Es handelt sich hier vielmehr um ein Verhältnis realer Wechselbedingung von Gottesvorstellung und Selbstverständnis des Menschen [..] Die Probe auf diese Behauptung ist zunächst der Nachweis, dass alle nichtreligiösen Auffassungen des Menschen und seiner Welt auf Reduktionen beruhen, die konstitutive Bedingungen und Charakteristika der menschlichen Wirklichkeit verdrängen und die als Reduktionen erweisbar und damit argumentativ auflösbar sind“ (STh II, 329)

Die Einheit von Schöpfungslehre und Christologie bei Wolfhart Pannenberg

(ebd.). Dass dieser Anspruch „strittig“ ist, ändert nichts an seiner Möglichkeit, sich im allgemeinen Diskurs um die Wahrheit des Gottesgedankens zu behaupten. In der christlichen Modifikation des platonisch-griechischen Gottesbegriffs hat Pannenberg auf einen Gedanken zurückgegriffen, der zu den zentralen der hegelschen Philosophie gehört, den der „wahren Unendlichkeit“.7 Er besagt einmal, dass Unendlichkeit sich von Endlichkeit klar unterscheidet, also auch nicht als unbegrenzte Aufstufung von Endlichkeiten gedacht werden kann. Solche Folge bliebe strukturell endlich. Wahre Unendlichkeit besagt grundsätzliche Unbedingtheit, also Sein aus sich selbst. Doch folgt aus dem Begriff ein Weiteres: Er kann nur festgehalten werden, wenn er nicht bloß im Gegensatz zum Endlichen steht, da die Unendlichkeit dann selbst verendlicht würde. Das „wahrhaft Unendliche“ muss also das Endliche mit umgreifen. Wie dieses Umgreifen gedacht werden muss, ist eine weitere Frage. Auf jeden Fall hat dieser Begriff ontologische Relevanz. Seine Formulierung ist Hegel zu verdanken, wohl aber auch der Inspiration durch das Christentum. Karl Rahners Ontologie folgt in der Sache diesem Begriff. Er nennt die hier erreichte Ebene des Denkens „transzendental“, ein Begriff, der aber von ihm, im Unterschied zur Verwendung bei Kant, als die Subjektiviät transzendierend verstanden wird, also eher an seine die mittelalterliche Bedeutung anknüpft, die sich allerdings bei Rahner nur in einer Subjekt und Objekt übergreifenden Reflexion erschließt, wie etwa schon bei Fichte und Schelling (vgl. dessen „System des transzendentalen Idealismus“, 1800).8 Der Mensch als solcher ist nur „in seinem unentrinnbaren Bezogensein auf seinen göttlichen Ursprung und auf seine göttliche Bestimmung“ zu begreifen (GsTh II 136). D.h. er ist nicht eingeschlossen in seine Endlichkeit, sondern transzendiert sie. Das, woraufhin er sich transzendiert, ist die Unendlichkeit. Sie ist zunächst eher unbestimmt und auf weitere Bestimmung angewiesen,

7 Der Begriff der „wahren Unendlichkeit“ als Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit wird von Hegel in der „Logik des Seins“ entwickelt (TW 5, 149 – 166). Er ist der Begriff der „absoluten Idee“ (TW 2, 352), und findet als „Idee“ des „Unendlichen und Freien“ (TW 13, 201) seine Anwendung in der Religionsphilosophie als „göttlicher Begriff “ (TW 16, 391; vgl. TW 1, 419 – 427) auf Schöpfung (TW 17, 241 – 251), Christologie und Soteriologie (TW 17, 295). (TW = Hegel. Theorie Werkausgabe, 20 Bd., Frankfurt a.M. 1969–71). 8 „Das subjekthafte, unthematische und in jedwedem geistigen Erkenntnisakt mitgegebene, notwendige und unaufgebbare Mitbewußtsein des erkennenden Subjekts und seine Entschränktheit auf die unbegrenzte Weite aller möglichen Wirklichkeit nennen wir die transzendentale Erfahrung“. Ihr Gehalt ist die „Transzendenz“, das „Absolute“. Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1984, 31 f. Dass nach Rahner diese Transzendentalität ein „Vermittlungsverhältnis [..] zwischen transzendental Notwendigem und konkret kontingentem Geschichtlichen“ enthält (ebd. 207) hebt auch Pannenberg hervor (STh II, 333).

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für die auch die geschichtliche Erfahrung heranzuziehen ist. Doch schon der Begriff selbst führt in seiner Logik zu weiterer Bestimmung, denn „aus der Negation der Endlichkeit folgt die Schrankenlosigkeit, und die Schrankenlosigkeit kann die Form des unbegrenzten Fortgangs in der Reihe endlicher Bestimmungen haben. Die unendliche Reihe – also auch die indefinite Abfolge endlicher Größen in Raum und Zeit – realisiert den Gegensatz des Unendlichen zum Endlichen nur auf einseitige Weise, nämlich durch unbegrenzte Hinzufügung endlicher Schritte. Die Grundbestimmung im Begriff des Unendlichen aber ist der Gegensatz zum Endlichen überhaupt. Darum konnte der Begriff des Unendlichen zur Bezeichnung der göttlichen Wirklichkeit im Gegensatz zu allem Endlichen, also durch anderes Begrenzten und Vergänglichen, werden“ (STh I, 430). „Wahrhaft unendlich ist das Unendliche erst, wenn es seinen eigenen Gegensatz zum Endlichen zugleich übergreift“. Dies geschieht nach Pannenberg etwa durch den biblischen Begriff der Heiligkeit Gottes. Sie überwindet den traditionellen Gegensatz des Heiligen zum Profanen, da sie „zugleich in die profane Welt eingeht, in sie eindringt, um sie zu heiligen“ (ebd. 432). Gleiches gilt für den Begriff der „Ewigkeit“ Gottes. „Der Gedanke der Ewigkeit, der der Zeit nicht nur entgegengesetzt, sondern zugleich positiv auf sie bezogen ist und sie in ihrer Totalität umfasst, bildet eine geradezu paradigmatische Veranschaulichung und Konkretisierung der Struktur des wahrhaft Unendlichen, das dem Endlichen nicht nur entgegengesetzt ist, sondern diesen seinen Gegensatz zugleich umgreift. Die Vorstellung einer der Zeit nur entgegengesetzten, zeitlosen Ewigkeit entspricht dagegen dem schlecht Unendlichen, das in seinem Gegensatz zum Endlichen nur als ihm gegenüber anderes bestimmt ist und sich so selber als endlich erweist“ (ebd. 441).9 Der Mensch erfasst sich in seiner Endlichkeit. Damit erfasst er auch indirekt seinen Bezug zum Unendlichen. Dies ist seinem Menschsein zu entnehmen. „Darum ist menschliches Bewusstsein wesentlich transzendierendes Bewusstsein im Überschritt über die Endlichkeit seiner Gegenstände hinaus. Bei der Erfassung endlicher Gegenstände in ihrer Besonderheit ist immer schon das Unendliche als Bedingung ihrer Erkenntnis und ihres Daseins mitgewußt. Daher ist der Mensch in seiner Daseinsverfassung als bewusstes Wesen auch immer schon als religiöses Wesen bestimmt“ (STh II, 331; vgl. MuG, 20 ff). Eben diese Bestimmung gibt den Rahmen vor, der in seinem Denkniveau nicht unterschritten werden darf. Dass das Unendliche das Endliche umgreift und in ihm präsent ist, ist die Botschaft des Christentums, die damit auch

9 Zum Begriff der „wahren Unendlichkeit vgl. auch die Kapitel 2 und 4 in: MuG. Vgl. Descartes „Menditationes III, 27: „gradatim augeri certissimum est imperfectionis argumentum“

Die Einheit von Schöpfungslehre und Christologie bei Wolfhart Pannenberg

ihre Vernunft-Konformität erweist. In ihrem Licht tritt nun auch die Wirklichkeit der Welt in ihrer Geschichtlichkeit deutlicher hervor und vermag den Gedanken des Endlichen und der Präsenz des Unendlichen in ihm tiefer zu erschließen, nämlich der Präsenz in der Geschichte als einer Folge von einmaligem Geschehen. Auch die Wissenschaft von der Natur muss nach Pannenberg diese Einmaligkeit anerkennen als einen unumkehrbaren Prozess, bestehend aus letztlich kontingenten Ereignissen, deren Zusammenhang in Gesetzesform zu fassen immer nur in einer Annäherung an die Wirklichkeit bestehen kann. Besonders deutlich wird diese Uneinholbarkeit des Geschehens durch das abstrakte Gesetz angesichts des Prozesses, der sich selbst erfasst und gestaltet, d. h. der menschlichen Freiheitsgeschichte. Da aber nun jedes einzelne Ereignis seine Bestimmtheit nur in seinem Kontext erhält, dieser Kontext aber geschichtlich ist, so bedeutet dies auch, dass der stets weitere Verlauf das einzelne Ereignis genauer bestimmt. D.h. was das Ereignis ist und war, zeigt erst die Zukunft. Das gilt dann auch für das hermeneutische Verstehen der Ereignisse. Pannenberg geht es hier „um einen im Sinne von Diltheys Hermeneutik der geschichtlichen Erfahrung durchaus deskriptiv aufweisbaren Sachverhalt, der allerdings ontologische Implikationen hat, weil die erst im Nachhinein erkannte Bedeutung eines Geschehens (bei der es sich immer um dessen ti en einai handelt) nicht unabhängig von den Geschehenszusammenhängen besteht, von deren (vorläufigem) Abschluss her auf das Geschehen zurückgeblickt wird. Die Behauptung einer rückwirkenden Bedeutungs- und Wesenskonstitution korrespondiert der [...] konstitutiven Bedeutung der Antizipation in der Lebenspraxis“ (STh II, 343), d. h. für die Biographie: „Für keinen Menschen steht seine personale Identität von Geburt an fest“ (ebd. 342). Pannenberg spricht aus dieser Gesamtperspektive von einer „eschatologischen Ontologie“ (ETN 44; Chr 426).10 Von daher muss auch der Begriff des „Logos“ von seinem stoisch-platonischen Sinn als „Weltgesetz“ gelöst werden, obwohl er als solcher auch die theologische Tradition bestimmt hat. Der Logos, der alles durchwaltet und durch den alles geschaffen ist (Joh 1, 1ff), ist ein lebendiger, reflexiver Vollzug, d. h. er ist personal. Ein universales Gesetz über dem Personalen, aus dem die Personalität ableitbar wäre, ist nach der oben entwickelten Ontologie ein Widerspruch. Jesus ist nicht „ein Beispiel“ und sei es der höchste Fall jenes

10 Bei dieser prinzipiellen Wesensbestimmbarkeit alles Geschehens nur aus dem zukünftigen Kontext heraus ist der Anfang der Welt niemals schon innerhalb der Geschichte abschließend genau zu bestimmen. Auch seine naturwissenschaftliche Erforschbarkeit muss von daher aus ontologischen Gründen immer vorläufig bleiben. Dem entspricht die theologische Aussage: „Schöpfung und Eschatologie gehören zusammen“ sowie das biblische Wort in Kol 1, 15 ff über die christologische Einheit von Anfang und Vollendung der Schöpfung.

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Gesetzes. Er ist „dieser Logos selbst in Person. Das göttliche Weltgesetz, der Logos, ist diese besondere [also Jesu] Geschichte als Schlüssel zum Sinn alles Geschehens. Es steht dem unumkehrbaren Verlauf der Zeit und der Einmaligkeit der Geschichte der Welt nicht gegenüber in der Zeitlosigkeit des abstrakt Allgemeinen. Gerade die Abstraktheit der naturgesetzlichen Formeln zeigt, dass es sich bei ihnen um bloße Näherungen in der Beschreibung der einmaligen und unumkehrbaren Geschichte des Universums handelt, bloße Näherungen der Gestalt des göttlichen Logos, der Liebe Gottes, die in Jesus erschienen ist“ (Chr 425). „Jesu Wort vom Verlieren und Finden des Lebens Mk 8, 35 parr. hat universale ontologische Relevanz“ (ebd. 412). Diese christlich erleuchtete Sicht auf die Welt vermag den Anspruch zu erheben, als nachvollziehbare, allgemein einsehbare Wahrheit anerkannt zu werden. Wir begreifen unser Sein tiefer und genauer als die Griechen, wenn wir uns von jenem Licht belehren lassen. Jesus ist der Mensch, der das Menschsein so erfüllt hat, dass Gott sich in ihm vollkommen zeigen konnte. In Selbstunterscheidung von Gott ist dieser Gott in Jesus präsent und er mit Gott eins. Jesus Christus ist damit der wahre Mensch, aber auch wieder nicht nur ein Beispiel allgemeiner Menschlichkeit. Gerade die Kontingenz und Einmaligkeit seiner Existenz lässt einen Grad von Präsenz Gottes in der Welt erkennen, der das Wort Anselms „quo maius cogitari nequit“ verdient. Solches „non puls ultra“ ist zweifellos eine Herausforderung für die Vernunft aber auch ihre mögliche Erhebung zu der Einsicht in die radikalste Erfüllung ihres Begriffs von der „wahren Unendlichkeit“. In einem Menschen, der sich voll als Mensch begreift, sich von Gott unterscheidet und so mit Gott eins ist, offenbart sich Gott und zeigt damit sein inneres Leben. Er zeigt sich, sein Leben, das die Beziehung von Vater und Sohn im sie einenden Geist ist, und er hebt auf diese Weise die Welt in den Selbstbezug seines Lebens hinein. Gott konstituiert auf diese Weise die Welt in ihrem Sein, ihrer Substantialität, ihrer Mitte. So will Gott real sein, und so kommt seine Unendlichkeit zur vollen Verwirklichung. Von daher ist die Aussage in Kol 1,15 ff zu verstehen, dass die Welt durch Christus und auf ihn hin geschaffen ist. Mit Jesu Auferstehung ist unsere Welt in die neue Welt eingetreten, und ihre Zukunft kann nichts anderes sein als die Bewahrheitung dieses geschehenen Eintritts. Der Sohn ist „Schöpfungsmittler“, weil die Schöpfung das Werk des dreifaltigen Gottes ist. Die Selbstunterscheidung von Gott, in der sie zur Vollendung gelangt, ist das Leben Gottes selbst, und die Freigabe der Schöpfung ist zugleich die Freigabe des Sohnes durch den Vater, in der die Schöpfung ihren Grund hat; „im Verhältnis Jesu von Nazareth zu seinem himmlischen Vater, ist der Sohn aus der Einheit der Gottheit herausgetreten. Indem Jesus sich in seiner Selbstunterscheidung vom

Die Einheit von Schöpfungslehre und Christologie bei Wolfhart Pannenberg

Vater als bloßen Menschen, als Geschöpf, wusste, anerkannte er den Vater als den einen Gott im Gegenüber zu sich selbst. Damit zugleich ließ er auch das selbständige Dasein anderer Geschöpfe neben sich gelten [...] In diesem Sinne lässt sich die Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes verstehen [...] als Ursprung des Daseins geschöpflicher Wirklichkeit“ (Sth II, 43 f).11

11 Der „Logos“ lässt sich in gewisser Weise als alles durchwaltendes „Gesetz“ formulieren: „Jesu Wort vom Verlieren und Finden des Lebens Mk 8, 35 parr hat universale ontologische Relevanz“, und so „kann Jesus selbst als die Verkörperung jenes ‚Gesetzes‘ erscheinen“. Doch hebt er es als abstraktes Gesetz zugleich in seinen personalen Vollzug auf, wobei ihn das, was er als Mensch vollzieht, zugleich als Schöpfungsmittler qualifiziert: „Gerade durch seine Selbstpreisgabe hat Jesus den anderen Menschen und Seinsgestalten in der Eigenart ihrer Situationen Raum gegeben, statt seine Besonderheit als behauptete zum allgemeinen Gesetz zu machen“ (Chr 412).

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Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie1 W. Pannenberg diskutiert in seiner Systematischen Theologie, Band II in den Kapiteln über Anthropologie und Christologie2 auch altchristliche Christologien. Diese Diskussionen dienen ihm dazu, die Traditionsbildungen für seine eigenen Fragestellungen zu profilieren. Dabei kommen Irenäus und Athanasius eine besondere Bedeutung zu. Ich habe beider Darstellungen bei Pannenberg zu korrigieren und gebe jeweils Kurzdarstellungen mit meinem Ergebnis, was zu Fragen an ihn führt. 1.

Christologie des Irenäus von Lyon

Irenäus ist besonders häufig angeführt, vor allem als klassisches Modell von Christologie.3 Pannenberg sieht die Relevanz der Person Jesu darin, daß die Anthropolgie mit der Christologie verknüpft wird. Sein Anknüpfungspunkt ist der Apostel Paulus, der von „der eschatologischen Gestalt des Menschen, im Gegenzug zur bisherigen, adamitischen Menschheit“ (336) ausgehe. So kommt es zu der Überschrift des einleitenden Abschnittes: Der neue Mensch „vom Himmel her“, was 1 Kor 15,47 entnommen ist: „Der erste Mensch ist aus der Erde und irdisch, der zweite Mensch aus dem Himmel.“ Daß dieser Paulusvers mit dem „zweiten Adam“ Jesus Christus gemeint habe, wissen Origenes und Athanasius,4 aber keiner der beiden macht daraus etwas. Erst Apollinaris von Laodicea nutzt den Paulusvers christologisch. Kyrill von Alexandrien grenzt sich gegen die Häresie des Apollinaris ab.5 Irenäus zitiert diesen Paulusvers nicht. Pannenberg führt die Christologie des Irenäus an, weil dieser „die klassische Durchführung“ einer Christologie geschaffen habe, in der der Schöpfergott mit dem Erlösergott verbunden wurde. Das gelang dem Irenäus durch den Begriff der Rekapitulation des ersten Adam in dem zweiten Adam, und zwischen 1 Aus dem Vortrag ist aufgrund der Diskussion ein Aufsatz geworden. Ich zitiere die Quellen teilweise wörtlich, um den Dogmatikern Bezugnahme und Auseinandersetzung zu ermöglichen. 2 Göttingen 1991, Kapitel 8–11 (203 ff). 3 Vgl. STh II, 337. 4 Origenes, princ. IV 3,7; Athanasius, C. Ar. I 44,4. 5 Quod unus sit Christus 723 d.

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Schöpfung des Menschen und Erscheinen des ‚Wortes‘ Gottes ersann er eine Heilsgeschichte. Ach ja, die Christologie des Irenäus ist schwierig darzustellen. Denn eine systematische Darstellung hat Irenäus nicht gegeben. Man muß Textstücke in den fünf Büchern Contra haereses zusammensuchen. Adelin Rousseau beschreibt das Problem so: Eine mächtige Einheit durchziehe die einzelnen Bücher, und Irenäus wisse immer, an welcher Stelle er sich befinde. „Mais, cette unité, Irénée n’entend pas la livrer ‚toute faite‘, si l’on peut ainsi parler: il veut que son lecteur la découvre par lui-même au fur et à mesure de sa lecture, non sans y être d’ailleurs aidé par les indications que l’auteur – en rhéteur bien au fait dès règles de son art – saura lui ménager en temps utile, tout au long de la route.“6

Buch I stellt die gnostischen Häresien dar, Buch II deckt die Widersprüche auf und widerlegt sie; in Buch III beginnt der Schriftbeweis gegen die gnostischen Lehren. Klar ist die These, daß die Bibel, das ist die Propheten, die Evangelisten und die Apostel insgesamt einen einzigen Gott verkünden, der der Herr und Schöpfer und Vater ist, und einen Sohn, der das Wort (Λόγος, Verbum) Gottes und Herr ist, Jesus Christus. In Buch IV wird der Schriftbeweis aus den Worten des Herrn Jesus Christus geführt und in Buch V aus den Lehren des Apostels Paulus.7 In den Worten des Irenäus: In den Urkunden, die der Lehre der Kirche zugrunde liegen, „überliefern alle uns den einen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erden, verkündigt vom Gesetz und den Propheten, und den einen Christus, Gottes Sohn“.8 Und so schließt er einen ersten Teil ab: „Es ist ganz klar ‚aus ihren eigenen Worten‘ erwiesen, daß die Verkünder der Wahrheit und die Apostel der Freiheit niemanden Gott genannt und als ihren Herrn bezeichnet haben als allein den wahren Gott Vater und seinen Logos, der in allem den Vorrang hat (vgl. Kol 1,18). Damit wird klar demonstriert, daß sie den Schöpfer des Himmels und

6 A. Rousseau/L. Doutreleau/Ch. Mercier (eds.), Contre les hérésies. Édition critique, Livre V, Tome I, Paris 1969, 167 (SChr 152). Ich benutze die Ausgabe von Rousseau in den Sources chrétiennes; vgl. die Übernahme des Textes und die deutsche Übersetzung von Norbert Brox in den Fontes Christiani (1993–2001). Aus der vielfältigen Literatur zu Irenäus hebe ich hervor: Gustaf Wingren, Man and the Incarnation. A Study in the Biblical Theology of Irenaeus, Philadelphia 1959 (1947); Albert Houssiau, La christologie de saint Irénée, Louvain/Gembloux 1955; Jacques Fantino, L’homme image de Dieu chez saint Irénée, Paris 1986; Anthony Briggman, Irenaeus of Lyons and the Theology of the Holy Spirit, Oxford 2012; ders., God and Christ in Irenaeus, Oxford 2019. 7 Zum Aufriß des Schriftbeweises vgl. Hans von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968, 217–244. 8 Adv. haer. III 1,2.

Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie

der Erde, der mit Mose gesprochen und ihm die Ordnung des Gesetzes gegeben und die Väter berufen hat, als Herrn und Gott bekennen und von einem anderen nichts wissen.“9

Es folgt ein Teil (cap. 16–23) über den einen Christus; N. Brox überschreibt diesen Teil: „Christologie.“ Anlaß zu diesem Beweis aus den Schriften aller Apostel sind gnostische Lehren über mehr als einen Christus, die von Jesus zu unterscheiden seien. Zu Gründen für die Unterscheidung des einen oder anderen Christus von Jesus gehört, daß Jesus von Maria geboren wurde, daß er leidensfähig war, indem er versucht wurde, am Kreuz starb, tot war und auferweckt wurde. Irenäus formuliert mehrmals seine Resultate aus dem Schriftbeweis gegen gnostische Christologien und gibt damit Grundgedanken seiner eigenen Christologie zu erkennen. Als erstes habe der Beweis erbracht, daß alle biblischen Zeugen, Evangelisten, der Herr selber und der Apostel Paulus „einen einzigen Jesus Christus bekennen“. Die falschen Christologien seien dadurch entstanden, daß Gott nicht wahrheitsgemäß verstanden wurde. Denn „des Gottes Logos, der Eingeborene, ist dem Menschengeschlecht immer gegenwärtig, ist mit seinem Geschöpf vereint und vermischt, nach dem Wohlgefallen des Vaters, und Fleisch geworden; genau dieser Logos ist Jesus Christus unser Herr“, hat gelitten, ist auferstanden und wird wiederkommen. Aber hier fängt es erst an, zu einer Christologie zu werden. Deswegen führt Irenäus seinen Ansatz weiter: „Ein Gott, der Vater, also, wie wir gezeigt haben, und ein einziger Christus Jesus, unser Herr, der durch die universale Heilsordnung hindurchgeht und in sich selber alles zusammenfaßt (omina in semetipsum recapitulans).“ Hier führt Irenäus den Grundbegriff für seine Christologie ein: Rekapitulation.10 Irenäus geht von einer universalen Rekapitulation aus und sagt ausdrücklich, daß zu dem universalen All auch der Mensch, das Geschöpf, gehört. In seiner 9 Adv. haer. III 15,3 (Übersetzung von Brox). 10 Es wird diskutiert, ob Irenäus den Begriff von Justin gelernt hat. Das ist möglich, da Justin die Vorstellung kannte: „unigenitus Filius venit ad nos, suum plasma in semetipsum recapitulans..“ (Adv. haer. IV 6,2). Irenäus zitiert aus der Schrift Justins Gegen Marcion; diese Schrift kannte er, während sie Eusebius von Caesarea nur durch Irenäus bekannt war. Es kann kann keinen Steit darüber geben, ob Eusebius nur den Anfangssatz dem Justin zuschreibt, während der Rest Ergänzung von Irenäus sei. Denn Eusebius hat sein Zitat aus Irenäus, muß also den Rest des Irenäuszitates gelesen haben, aber er entschloß sich zu einen kürzeren Zitat; siehe die Einleitung Eusebs: bei den Alten wurden die Schriften Justins geschätzt ὡς τὸν Εἰρηναίον ἀπομνημονεύειν αὐτοῦ φωνάς, τοῦτο ἐπιλέγοντα· Καἰ καλῶς ὁ Ἰουστῖνος ἐν τῷ πρὸς Μαρκίωνα συντάγματί φησιν ὅτι..(HE IV 18,5); p. 366,14–20 Schwartz). Eusebs Zitat lautet: αὐτῷ κυρίῳ οὐκ ἂν ἐπείσθην ἄλλον θεὸν καταγγέλλοντι παρὰ τὸν δημιουργόν. Der lateinische Irenäustext fährt fort: et Factorem et Nutritorem nostrum; sed quoniam ab uno Deo qui et hunc mundum fecit et nos plasmavit et omnia continet et administrat, unigenitus Filius venit ad nos, suum plasma in semetipsum recapitulans, firma et mea ad eum fides et immobilis erga Patrem dilectio, utraque Domino nobis praebente.- Inwieweit Justin eine Rekapitulationslehre ausformuliert hat, können wir nicht wissen.

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Fleischwerdung hat das eingeborene Wort „den Menschen in sich zusammengefaßt, ist der Unsichtbare sichtbar geworden und der Unfaßbare faßbar und der Leidensunfähige leidensfähig und das Wort Mensch geworden“. Irenäus erläutert noch weiter und fährt fort: „das universale All hat er in sich zusammengefaßt, damit das Wort Gottes, wie es über das Überhimmlische und über das Spirituelle und über das Unsichtbare die Vorherrschaft hat, so auch über das Sichtbare und das Körperliche die Vorherrschaft habe (vgl. Kol 1,18). Und die Vorherrschaft in sich hineinnehmend und sich selber zum Haupt der Kirche setzend (vgl. Eph 1,22) zieht er das universale All zu sich (vgl. Joh 12,32) zur angemessenen Zeit.“11 Irenäus stellt sich also vor, daß die Christologie das geschaffene Universum einschließt.12 Er spricht deswegen auch von der Kirche (Pneumatologie) und dem Eschaton. Aber der Fokus liegt auf dem Menschen. Denn die Rekapitulation wird beschrieben mit dem Bild, das so formuliert ist: „Als der Herr zum verlorenen Schaf kam (vgl. Lk 15,4–7 par) und eine so großartige Heilsordnung rekapitulierte und sein Geschöpf aufsuchte (vgl. Lk 19,10), da mußte der genau den Menschen retten, der nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen war (vgl. Gen 1,26), das heißt Adam...“13

Christus, der ewige Sohn Gottes, „nahm Fleisch und wurde Mensch, um die langzeitige Entwicklung der Menschen in sich zusammenzufassen (recapitulavit), indem er kurz und bündig das Heil gewährte, damit wir das, was wir in Adam verloren hatten, nämlich Bild und Gleichnis Gottes (vgl. Gen 1,16) zu sein, in Christus Jesus zurückerhielten“.14

Aus den angeführten Zitaten läßt sich entnehmen, nach welchen Themen man für eine systematisierte Christologie bei Irenäus ausschauen sollte. 1.) Es ist das Wort Gottes, das Mensch geworden ist. Das Wort-Gott ist der mit Gott gleiche ewige Sohn Gottes, der Christus. Gott Vater und das WortGott ist ein Gott. So gebraucht Irenäus Gott oft, ohne zwischen Gott-Vater und Gott-Wort/Sohn zu unterscheiden.15 11 12 13 14 15

Adv. haer. III 16,6. Vgl. Adv. haer. IV 20,1. Adv. haer. III 23,1 (Übersetzung Brox). Adv. haer. III 18,1 (Übersetzung Brox). Vgl. zum innergöttlichen Verhältnis zwischen Gott, dem Vater, und dem Wort Gottes, das sein ewiger Sohn ist, das Kapitel 3 bei A. Briggman, God and Christ, 2019. Dort müßte der Unendlichkeitsbegriff genauer abgegrenzt werden, aber die Beschreibung der Einfachheit Gottes, der die Schaffensaktivität Gottes zugeordnet wird, ist überzeugend dargestellt; die frühere Literatur führt Briggman detailliert vor.

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2.) Die Inkarnation des Wortes Gottes ist unter dem Gesichtspunkt der Rekapitulation der Erschaffung Adams dargestellt. Jesus ist von Maria geboren worden, wie der Mensch aus jungfräulicher Erde so Jesus aus der jungfräulichen Maria.16 Jesus ist nicht nur wahrhaft Mensch, sondern auch Gott, d. h. der Gottessohn ist der Menschensohn.17 Das aktive Subjekt bei der Menschwerdung ist das Wort Gottes.18 3.) Die Inkarnation wird begründet mit der Notwendigkeit, daß Gott sein Geschöpf nicht dem Verlust des Lebens, des unvergänglichen Lebens, den sich der Mensch durch seinen Ungehorsam zugezogen hatte, überlassen konnte, weil Gott sonst als besiegbar durch „den Feind“ (Satan) erschienen wäre.19 4.) Die Inkarnation ist eine Vereinigung und Mischung Gottes und des Menschen, des Wortes Gottes und des Menschen. An einer Stelle beschreibt Irenäus, wie bei dem einen Jesus Christus das Wort Gottes in der Einheit der Mischung agiert. Denn das Wort Gottes ist leidensunfähig, der Mensch aber leidensfähig. Ich zitiere: „Denn wie der Herr Mensch war, um versucht zu werden, so war er auch das Wort (λόγος), um verherrlicht zu werden. Einerseits hielt sich das Wort ruhig, als der Herr versucht, verhöhnt, gekreuzigt und zu Tode gebracht wurde; andererseits wurde der Mensch ‚verschlungen‘ (vgl. 1 Kor 15,55), als der Herr siegte, das Leiden aushielt, seine Güte zeigte, auferstand und in den Himmel aufgehoben wurde. Das ist also der Sohn Gottes, unser Herr, welcher der Sohn des Vaters ist und doch auch Menschensohn; denn von Maria, die von Menschen stammte und selber Mensch war, hatte er menschliche Geburt und ist so Menschensohn geworden.“20 .

Dieser Satz muß für sich stehen bleiben; es gibt keine weiteren Ausführungen zu der hier angedeuteten Unterscheidung.21 Irenäus spricht vielmehr emphatisch davon, daß der leidensfähige Mensch handelt, wie es der Apostel Paulus in Röm 5,19 festsetze und wie es die Rekapitulationsidee erfordert.

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Adv. haer. III 18,7; vgl. V 14,2. Die Formel vere Deus – vere homo findet sich IV 6,6. Vgl. A. Houssiau, a.a.O., 244–246. Vgl. III 23,1. Adv. haer. III 19,3. Ich folge in Textrekonstruktion und Übersetzung der kritischen Edition von Rousseau. 21 Briggman, God and Christ (2019) versucht in seinem Kapitel 4 zu zeigen, daß Irenäus die stoische Mischungslehre kennt und sich nutzbar macht, das ist: Mischung, wobei die Substanzen beider Elemente erhalten bleiben. In Kapitel 4.3 „Mixture Christology“ sammelt er Irenäustexte, wo die stoische Mischungslehre unterliegen soll, auch Adv. haer. III 19,3. Weniger überzeugt mich, daß auch die stoische Vorstellung von einem aktiven und einem passivem Prinzip in einer solchen Mischungseinheit übernommen sei; denn Gott/Pneuma/Logos sind keine körperliche Substanzen, wie sie es für die stoische Lehre sein müßten (vgl. a.a.O. 171).

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5.) Was man überlicherweise „Christi Werk“ nennt, so ist dreierlei zu unterscheiden: Erstens das rekapitulative Handeln Jesu, des menschgewordenen Wortes Gottes, zweitens das Offenbaren Gottes und drittens das Erwirken des Heils für die Menschen. 5.a) Rekapitulation. Erstens wird durch Jesus, dem menschgewordenen Sohn Gottes, der Heilsverlust Adams aufgehoben. Irenäus schreibt, daß das, was durch die Inkarnation neu eingetreten ist, in folgendem besteht: „Immer existiert der Sohn Gottes bei dem Vater. Aber als er inkarniert und Mensch wurde, rekapitulierte er in sich selber die lange Geschichte der Menschen, uns kompakt das Heil gebend, das wir in Adam verloren hatten, das ist ‚gemäß dem Bild und Gleichnis Gottes‘ zu sein; das erlangen wir in Christus Jesus zurück.“22 .

Adams Ungehorsam wird durch Jesu Gehorsam aufgehoben. Das geschieht in der Versuchung, in welcher er den Widersacher durch sein Festhalten an den Geboten seines Vaters besiegte. Der Widersacher ist also besiegt und kann nur noch als entlarvter Lügner auftreten.23 In dem Erleiden der Kreuzigung rekapituliert Jesus, der menschgewordene Sohn Gottes. Er heilt den Ungehorsam Adams, der sich im Hinblick auf das „Holz“ (den Baum, von dem Adam/Eva nicht essen sollten) ereignet hatte, im Sterben am „Holz“ (dem Kreuz).24 Als biblische Belege nennt Irenäus Phil 2,8 und Röm 5,19. Der Tod Jesu erhält bei Irenäus keine andere Bedeutung als die die Erfüllung des Gehorsams „bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,8). Die Menscheit ist durch diese Gehorsamstat mit Gott versöhnt, weil sie sich durch Ungehorsam zum Schuldner Gottes gemacht hatte, diese Schuld aber durch Gehorsam vernichtet ist.25 22 Adv. haer. III 18,1. 23 Adv. haer. V 21–24. Die Versuchung Jesu (Mt 4) ist nach der Kreuzigung vorgeführt, weil sie erstens fast unübertrefflich den Gott des Gesetzes (und Schöpfergott) mit Jesus verbindet und zweitens das Ende der Versuchungsgeschichte zum zukünftigen Antichristen überleiten kann (V 25–30). 24 Holz = ξύλον, lignum. Belege für diese Metapher und ihre Transposition bei D. Wanke, Das Kreuz Christi bei Irenäus von Lyon, Berlin/New York 2000 (BZNW 99), 210–220. Wanke setzt aber ohne Belege für „Baum“ den „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“. Einzig Epideixis 33 erwähnt die „Erkenntnis des Bösen“ 25 Adv. haer. V 16 und 17,1. Versöhnen wird gedeutet: Als Übertreter des Gebotes wurden wir zu Feinden Gottes, des Schöpfers und guten Vaters. „Und deshalb hat uns der Herr in den letzten Zeiten durch seine Fleischwerdung wieder in die Freundschaft zurückgeholt, wozu er ‚Mittler zwischen Gott und den Menschen‘ (1 Tim 2,15) wurde. Er versöhnte für uns den Vater, gegen den wir uns versündigt hatten. Und er machte unseren Ungehorsam durch seinen

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Wodurch ist der Tod vernichtet? Antwort des Irenäus: durch die Auferstehung.26 5.b) Offenbarung. Die Menschwerdung des Wortes Gottes besteht darin, daß das Sichtbare gegen das Unsichtbare, das Körperliche gegen das Spirituelle erscheint.27 Ausgehend von Joh 1,18: „Niemand hat je Gott gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt.“ So liest die neue Lutherbibel (2017). Irenäus versteht es so: „Denn den Vater, der unsichtbar ist, macht der Sohn, der in seinem Schoß ist, allen kund. Deswegen erkennen ihn alle, denen es der Sohn offenbart hat (vgl. Mt 11,27), und weiterhin gibt der Vater durch den Sohn die Erkenntnis seines Sohnes denen, die ihn lieben (vgl. Mt 11,25).“28 An anderer Stelle schreibt Irenäus: „Denn den Vater kann niemand erkennen ohne das Wort Gottes, das heißt, wenn es der Sohn nicht offenbart; noch kann den Sohn jemand erkennen ohne das Wohlgefallen des Vaters. Der Sohn aber führt das Wohlgefallen des Vaters aus; der Vater schickt, der Sohn wird geschickt und kommt. Und den Vater, der unsichtbar und uns unerkennbar ist, erkennt sein Wort. Und da er unsagbar ist, tut ihn sein Wort kund; umgekehrt aber erkennt nur der Vater sein Wort. Diese doppelte Wahrheit hat der Herr offenbar gemacht. Deswegen offenbart der Sohn durch seine Erscheinung die Erkenntnis des Vaters. Die Erkenntnis des Vaters ist nämlich die Erscheinung des Sohnes.“29 .

Das lange Zitat war notwendig, um anschaulich zu machen, wie die Texte aussehen, aus denen die christologische Logik des Irenäus herausgerungen werden muß. 30 Man kann auch eine kürzere Formulierung zitieren: „Durch sein Wort, das sichtbar und betastbar geworden ist, zeigte sich der Vater. Obwohl ihm nicht alle in gleicher Weise Glauben schenkten, haben aber alle im Sohn den Vater gesehen; denn der Vater ist das Unsichtbare des Sohnes, der Sohn aber ist das Sichtbare des Vaters.“31

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Gehorsam vergessen und gab uns die Möglichkeit des Verkehrs mit unserem Schöpfer..“ Es folgt die Sündenvergebung, um die wir bitten sollen nach Mt 6,12.- Ich folge der Übersetzung von Brox, nicht der von Rousseau. Vgl. Rolf Noormann, Irenäus als Paulusinterpret. Zur Rezeption und Wirkung der paulinischen und deuteropaulinischen Briefe im Werk des Irenäus von Lyon, Tübingen 1994 (WUNT 2,60), 449–463, besonders 457 f. Noch deutlicher hätte Noormann formulieren können, daß nicht vom Zorne Gottes gesprochen wird, auch von keiner Sühneleistung durch den Kreuzestod Jesu. Der Hebräerbrief wird von Irenäus nirgends zitiert. Adv. haer. III 16,6; siehe oben bei Anm. 11. Adv. haer. III 11,6. Adv. haer. IV 6,3. Vgl. Briggman, God and Christ (2019), 200–204. Adv. haer. IV 6,6. Die Rückübersetzung trifft zu: ..τὸ μὲν γὰρ ἀόρατον τοῦ υἱοῦ ὁ πατήρ, τὸ δὲ ὁρατὸν τοῦ πατρὸς ὁ υἱός (invisibile etenim filii pater, visibibile autem patris filius).

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Die Übersetzung von Rousseau ist eine erläuternde Paraphrase: „car la Réalité invisible qu’on voyait dans le Fils était le Père, et la Réalité visible en laquelle on voyait le Père était le Fils.“ Der inkarnierte Gottessohn ist die sichtbare, den menschlichen Sinnesorganen zugängliche Offenbarung und Erscheinung Gottes des Vaters. Der unerkennbare Gott ist also in Jesus erkennbar, nicht nur, daß Jesus ihn verkündigte, sondern Jesus selber ist die Erkenntnis des transzendenten Gottes.32 Es sind drei weiterführende Bemerkungen notwendig. Erste Bemerkung: Irenäus betont gegen die Gnostiker, daß das Gott-Wort immer seinem Geschöpf, dem Menschen, gegenwärtig war, in der Gesetzgebung durch Moses, in der Verkündigung der Propheten und in Visionen einiger „Väter“.33 Auch wenn Irenäus sich hier nicht immer klar ausdrückt, so ist bestimmt die Ankündigung der inkarnierten Gegenwart in Jesus intendiert. Im Blick auf die Markioniten stellt sich Irenäus die Frage: Was hat der Herr Neues gebracht, wenn die Propheten das ganze Wirken, die ganze Lehre und die ganze Passion im Voraus gesagt haben? Antwort: Sich selber hat er gebracht.34 Irenäus weiß auch von natürlicher Gotteserkenntnis, die keinen Offenbarungsakt voraussetzt. Die menschliche Vernunft kann aus der Schöpfung erkennen, daß der eine Gott der Herr des Alls ist.35 Platon hatte richtig gewußt, daß Gott gut und gerecht ist und aus Gutsein die Welt schaffte. Das fällt unter die providentia Gottes.36 Das heißt, daß die Menschen es hätten aufnehmen können. Zweite Bemerkung: Irenäus zitiert für die Begründung. daß nur der inkarnierte Sohn Gottes den Vater offenbart hat, das Herrenwort Mt 11,27/Lc 10,22: „Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater, und niemand erkennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.“ Er braucht den letzten Teil des Verses, weil er über die Inkarnation hinaus auch Offenbarungen des Wortes Gottes im Alten Testament einschließen will.37 Einen zweiten Bibelvers zieht Irenäus heran, um die Prophetien im Alten Testament zu erklären, nämlich Joh 1,18: „Niemand hat Gott je gesehen; der

32 Vgl. Houssiau, La christologie (1955), 73. Briggman hat ähnliche Belege bei Irenäus besprochen und die verschiedenen Deutungen der Sekundärliteratur diskutiert; God and Christ (2019), Kap. 5.2 (a.a.O., 186–204). 33 Vgl. eine der Zusammenfassungen von Heilsgeschichte in Adv. haer. IV 14,2. 34 Adv. haer. IV 34,1: Wenn die Markioniten uns fragen sollten: Quid igitur novi dominus attulit veniens? cognoscite quoniam omnem novitatem attulit semetipsum afferens, qui fuerat annuntiatus. 35 Adv. haer. II 6,1; vgl. IV 6,6. 36 III 25,5. 37 Adv. haer. IV 6 ist der Auslegung von Mt 11,27 gewidmet

Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie

Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es berichtet.“38 Im Anschluß an die biblische Vorgabe ist dann das Gott-Wort: „der Ausleger“ oder „der Berichtende“.39 Beide Belege lassen sich auf die Heilsordnung anwenden, da das Wort Gottes in verschiedener Weise erscheinen kann, um die Kenntnis und Erkenntnis des Vaters kundzutun. Dazu zitiere ich den Leitfaden für die ganze Heilsordnung: „Die Propheten haben angekündigt, daß Gott von den Menschen gesehen wird, wie es der Herr sagte: ‚Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen‘ (Mt 5,8). Aber nach seiner Größe und seiner unsagbaren Herrlichkeit wird ‚niemand Gott sehen und leben‘ (Ex 33,20); denn der Vater ist unfaßbar. Aber nach seiner Liebe und Menschenfreundlichkeit und weil er alles vermag, gewährte er dies denen, die ihn lieben, nämlich Gott zu schauen, was die Propheten prophezeit haben: ‚Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich‘ (Lc 18,27). Der Mensch kann nämlich von sich aus Gott nicht sehen, aber wenn Gott will, wird er von Menschen gesehen, wem und wann und wie er will. Denn Gott ist allmächtig. Damals wurde er durch den Geist von den Propheten gesehen, durch den Sohn wurde er von den Kindern Gottes gesehen; im Reich der Himmel jedoch wird der Vater selber gesehen werden, wozu der Geist den Menschen im Sohne Gottes vorbereitet, während der Vater dass unvergängliche und ewige Leben gibt, das jedem durch das Sehen Gottes zuteil wird.“40 . Das Sehen Gottes wirkt unvergängliches Leben, und das ist das Ziel der Heilsordnung. Die Inkarnation des Wortes Gottes wird also überhöht. Irenäus hat diese Abfolge reflektiert. Er sagt, daß der Mensch nicht ungeschaffen, sondern geschaffen und deswegen nicht von Anfang an vollkommen ist, sondern durch Wachsen erst vollkommen werden kann. Das Wachsen ist durch die Heilsordnung bestimmt. Die Menschwerdung ist der Anfang, auf die sich das Wachsen bis hin zum Schauen des Vater gründet – von den Propheten war sie angekündigt, Die Menschwerdung sei wie die Milch, die ein Kind trinkt, bevor es feste Nahrung zu sich nehmen kann (vgl. 1 Kor 3,2). Der Sohn Gottes, die unsagbare Herrlichkeit des Vaters besitzend, kam zu den Menschen, die noch Kinder waren, wie ein Kind41 , zeigte sich nicht in der Größe seiner Herrlichkeit; er wurde Mensch.42 Die Menschen können durch die Verleihung des Geistes, in Verbundenheit mit Jesus Christus, durch Taufe und Eucharistie wachsen. Wer 38 39 40 41

Adv. haer. IV 20,11: Das griechische Wort: ἐξηγήσατο ist im Lateinischen: enarravit. Adv. haer. IV 20,11: interpretator und IV 20,7: enarrator (ἐξηγητής in der Rückübersetzung). Adv. haer. IV 20,5. Griechisch überliefert: συνενηπίασεν; in Latein: coinfantiatum est homini Verbum Dei (IV 38,2). 42 Adv. haer. IV 38,1–2.

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in solchem Wachsen sich Jesus angleicht, Gottes Gebot gehorsam befolgt und sich Gott unterwirft, der wird beim zweiten Kommen Jesu Christi auferweckt werden, wird im Reich Christi weiter wachsen und daran gewöhnt werden, die Herrlichkeit des Vaters zu ertragen und zu fassen.43 Dann ist das Geschöpf Gottes, der Mensch, wirklich, wie er geschaffen wurde, als „Ebenbild Gottes und in Ähnlichkeit mit ihm“ (Gen 1,26).44 Die christologische Grundlage für den Wachstumsprozeß liest sich so: „In früheren Zeiten sagte man, daß der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde, aber das wurde nicht gezeigt. Denn der Logos, als dessen Ebenbild der Mensch gemacht war, war unsichtbar; deswegen verlor er also auch die Ähnlichkeit45 so leicht. Als der Logos Gottes aber Fleisch wurde, stellte er beides sicher. Er zeigte nämlich das Ebenbild, indem er wahrhaftig das wurde, was sein Ebenbild war; und er stellte die Ähnlichkeit sicher, indem er den Menschen dem unsichtbaren Vater durch den sichtbaren Logos anglich.“46

Man beachte, daß das Wort/der Logos nicht εἰκών ist, sondern das inkarnierte Wort Gottes ist das erschienene Ebenbild. Und man erinnere sich, daß das inkarnierte Wort Gottes eine Anpassung an den kindlichen Menschen ist und nicht die unsagbare Herrlichkeit Gottes erschienen ist. Dritte Bemerkung: Irenäus versteht das Leben des Geschöpfes Mensch als ein Wachstum vom Lebendigsein bis zu unvergänglichem Leben durch die Schau Gottes des Vaters. Zu diesem Wachstum gehört auch der „Sündenfall“, der aus Schwäche des mit der freien Verfügung über sich selber ausgestatteten Geschöpfes geschah und geschieht. Um für die Festigkeit in der Freiheit disponiert zu sein brauche es die Erfahrung des Schlechten.47 Das Geschöpf kann nicht vollkommen sein. „Wie nun? Konnte Gott den Menschen nicht von Anfang an vollkommen machen?“48 Das Geschöpf ist geschaffen und nicht ungeschaffen. Aber das Geschöpf kann vom Heiligen Geist zur Vollkommenheit bereitet werden – durch Erziehung zur Aufnahmefähigkeit der Menschwerdung, durch das „Pfand des Geistes“ in der Kirche nach der 43 Analog ist bei Platon, daß ein Prozeß des Angewöhnens es ermöglicht, direkt in die Sonne zu schauen und sich von den Schattenbildern zu lösen; vgl. Resp. 516a5–b8. 44 Adv. haer. V 35–36. 45 Nur an dieser Stelle ist eindeutig gesagt, daß Adam die „Ähnlichkeit“ verlor, sonst steht fast immer beides gemäß der formelhaften Wendung von Gen 1.26. Nur einmal erwähnt Irenäus einen Zustand Adams vor dem Sündenfall: Adam habe bezüglich der Sexualität „einen arglosen und kindlichen Sinn“ gehabt (Adv. haer. III 23,5; vgl. Gen 2,25). 46 Adv. haer. V 16,2. An dieser Stelle habe ich „Wort“ (λόγος) durch Logos übersetzt, weil die Vernunfthaftigkeit des Menschen die Ähnlichkeit mit Gott ist. 47 Vgl. Adv. haer. IV 37,7 und 39,1. 48 Adv. haer. IV 38,1.

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Auferstehung des Inkarnierten – und zuletzt werden die Gerechten nach ihrer Auferstehung im tausendjährigen Reich des Sohnes auf das Sehen des Vaters eingeübt. Alldieweil „sehen“ die Söhne Gottes teilweise und vermehrt den Vater, bis sie das Sehen des Vaters von Angesicht zu Angesicht ertragen können, vollkommen geworden durch die Ähnlichkeit mit dem Sohne Gottes (er ist das Haupt der Kirche und der Herrscher seines Reiches). Dann erst wird der Mensch vollendet sein.49 5.c) Heilserwirkung. Mein skizzen- und lückenhafter Überblick der Christologie des Irenäus ist komplizierter als Pannenbergs Darstellung.50 Das Ziel der Inkarnation ist, daß Gott Vater gesehen wird. Im Sohn Gottes, der Mensch geworden ist, wird der Vater gesehen. Wie? Indem er den Menschen rettet, sein Geschöpf. „Durch seine Liebe wird er immer erkannt durch denjenigen, durch welchen er alles erschaffen hat. Dieser ist sein Wort, unser Herr Jesus Christus, der in den letzten Zeiten Mensch unter Menschen geworden ist, damit er das Ende mit dem Anfang verbinde. Und deswegen haben die Propheten von demselben Wort die prophetische Gabe erhalten und seine Ankunft im Fleisch angekündigt, die durch die Mischung Gottes und des Menschen nach dem Wohlgefallen des Vaters geschehen ist. Von Anfang an hat das Wort Gottes vorausgesagt, daß Gott von den Menschen gesehen werden wird, mit ihnen auf Erden verkehren und reden wird und seinem Geschöpf gegenwärtig sein werde: er rettet sein Geschöpf und wird ihm sinnlich wahrnehmbar, und ‚uns errettet er aus der Hand aller, die uns hassen‘ (Lc 1,71), das heißt von allem Geist der Übertretung, und macht, ‚daß wir ihm unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit dienen‘ (Lc 1,75), damit der Mensch, umfangen vom Geist Gottes, in die Herrlichkeit des Vaters eingehe.“51 .

Im Geschehen der Rekapitulation wird das Wirken des Vaters sichtbar. Es sollen hier nicht einige Bezugnahmen Pannenbergs auf Irenäus korrigiert werden. Vielmehr stelle ich die Frage, die er nicht reflektiert: Jesus, das inkarnierte Wort Gottes, macht Gott Vater sichtbar und erkennbar, in der Geburt von der Jungfrau Maria, in seinen Worten, in der Blindenheilung, im Gehorsam bis zum Tode, in der Versuchung52 und in seiner Auferstehung. Jesus ist der Mensch als „Ebenbild Gottes und in Ähnlichkeit mit Gott“, wie Gott Adam geschaffen hatte. In Jesus ist der Vater sichtbar und faßbar geworden, insofern Gott sein Geschöpf zusammenfaßt und den Verlust der Ebenbildlichkeit und Ähnlichkeit mit Gott vollendend wiederherstellt und zeigt. Das ist das Werk

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Vgl. z. B. Adv. haer. V 8,1–2 und den Schluß V 36,3. ST II, 337–339. Adv. haer. IV 20,4. Adv. haer. IV (Herrenworte); V 15–16,2 (Blindenheilung); 16,3–20 (Kreuzestod); 21–24 (Versuchung). Vgl. Rousseau in Vol. V 1, 176–183.

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Gottes.53 Man kann mit Briggman formulieren: „The incarnation brought the Word-Son into the sphere of sensible knowing, and the knowledge of the incarnate Word-Son acquired by the senses serves as the necessary first course to the food of life, the Holy Spirit.“ Gott zu sehen ist das Ziel, das die Christologie des Irenäus bestimmt. Gott in seiner unsagbaren Herrlichkeit zu sehen bringt die Schöpfung des Menschen zur Vollendung, was der Heilige Geist wirkt, der im Getauften gegenwärtig ist und die Gläubigen fähig macht für das Sehen der unsagbaren Herrlichkeit Gottes. Auf Pannenberg bezogen ist in der Christologie zu reflektieren, wie „die Bestimmung des Menschen“ Gott Vater offenbart. Diese Frage ist nicht identisch mit dem Thema der Göttlichkeit Jesu. 2.

Christologie des Athanasius

Nach Athanasius nennt Pannenberg den Athanasius, der das Grundbild klassischer Christologie entworfen habe. Anthropologie werde mit der Logoslehre verknüpft, und „Jesus Christus ist der neue Mensch vom Himmel, der den Tod überwunden hat.“54 Pannenberg soll hier nicht in seinen Bezügen auf Athanasius in Einzelheiten korrigiert werden, sondern ich will eine wichtige systematische Frage herausarbeiten, die sich aus der Christologie des Athanasius an Pannenberg ergibt. Dazu skizziere ich erst die Anlage der Doppelschrift Contra gentes und De incarnatione, schließe aber noch Apollinaris von Laodicea an, weil Apollinaris die Konsequenz aus des Athanasius Lehre zieht. 2.1 Das Geschöpf Mensch und sein Vergehen Athanasius hat als erster einen Traktat mit dem Titel „Über die Menschwerdung des Logos und seine körperliche Erscheinung unter uns“ geschrieben.55 Es liegt uns also die Anlage der Christologie vor. Es ist zu beachten, daß der ältere Zeitgenosse des Athanasius einen gleichartigen Traktat überschreibt: 53 Vgl. Briggman, God and Christ (2019), Kapitel 5,1; das Zitat a.a.O., 198. 54 STh II, 335. 55 Τοῦ ἐν ἁγίοις πατρὸς ἡμῶν Ἀθανασίου ἀρχιεπισκόπου Ἀλεξανδρείας κατὰ Ἑλλήνων/Τοῦ αὐτοῦ λόγος περὶ ἐνανθρωπήσεως τοῦ Λόγου καὶ τῆς διὰ σώματος πρὸς ἡμᾶς ἐπιφανείας αὐτοῦ. Fest eingebürgert sind die Titel Contra gentes und De incarnatione. Der Text ist ediert und übersetzt von Robert W. Thomson, Athanasius. Contra Gentes and De Incarnatione, Oxford 1971. Eine eigene Edition mit italienischer Übersetzung hat gemacht Luigi Leone, Sancti Athanasii Alexandrinae Contra Gentes, Neapel 1965 (Collana di studi greci XLIII). Mit Thomson gleichzeitig erschien: Charles Kannengiesser, Athanase d’Alexandrie. Sur l’Incarnation du Verbe, Paris 1973 (SChr 199). Zu Abweichungen zwischen Thomson und Kannengiesser vgl. Chr. Stead, Rezension in JThS, n.s. 31 (1980) 378–390. Einzusehen sind die Kommentare von E.J. Meijering, Athanasius. Contra Gentes, Leiden 1984, und vor allem ders., Athanasius. De incarnatione Verbi. Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Amsterdam 1989.

Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie

Theophania.56 Athanasius dagegen geht von der Anthropologie aus. Er setzt wie Pannenberg Anthropologie mit Sündenlehre für die Christologie voraus. Denn über die Erschaffung des Menschen, des Adam, und über des Menschen Abfall von Gott mit seinen Folgen müsse zuerst gehandelt werden, damit klar wird, „daß wir die Veranlassung für die Herabkunft des Erlösers wurden und daß unsere Übertretung die Menschenfreundlichkeit des Logos hervorrief, so daß der Herr zu uns kam und unter Menschen erschien. Denn wir sind der Grund für seine Einkörperung“.57 Geschaffen war der Mensch, wie alles andere auch, aus dem Nichts. Die Natur des Menschen ist also eine solche, die dem Vergehen (φθορά)58 unterliegt und mit der Zeit ins Nichtsein zurückfällt. Aber Gott schenkte dem Geschöpf Mensch die Unvergänglichkeit und schuf ihn „nach seinem Bild und Gleichnis“ (Gen 1,26), so daß die Menschen Vernunft haben und Gott durch sein „Bild“ (εἰκών), den Gott-Logos, erkennen und schauen konnten und durch das Blicken auf Gott an der Ewigkeit teilhätten. „Da Gott aber auch wußte, daß der Wille der Menschen sich nach beiden Seiten neigen konnte, beschützte er vorsorglich mit einem Gesetz und mit einem Ort die ihnen verliehene Gnade. Denn als er sie in sein Paradies geführt hatte, gab er ihnen ein Gesetz, damit sie, wenn sie die Gnade bewahrten und gut blieben, das kummerlose, schmerzlose und sorglose Leben im Paradies behielten, wobei sie außerdem noch die Verheißung der Unvergänglichkeit im Himmel hatten; damit sie aber, wenn sie das Gesetz übertreten und sich (von Gott) abwendend böse würden, erkennen, daß sie dann das natürliche Vergehen im Tode zu erwarten hätten und nicht mehr im Paradiese leben, sondern fernerhin außerhalb des Paradieses sterbend im Tode und in dem Vergehen bleiben werden.“59 .

„Die Übertretung des Gebotes warf die Menschen auf ihre Natur zurück“, das Vergehen zum Nichtsein. Das läßt sich nicht aus Platon belegen. „Damit wäre deutlich, daß eine nicht geringe philosophische Denkleistung des Athanasius gerade darin liegt, die menschliche φύσις in höchster Paradoxie als das Nichtsein zu bezeichnen [inc. 4,4] und damit den bloßen Relationscharakter des Menschen, seine vollkommene Abhängigkeit von dem Blicken auf Gott, 56 Es ist bisher kein allgemein akzeptiertes Datum für des Athanasius Doppelwerk vorgeschlagen worden. Mir leuchtet der Zusammenhang mit dem Festbrief X (338 n.Chr.) ein; vgl. Rudolf Lorenz, Der zehnte Osterbrief des Athanasius von Alexandrien. Text, Übersetzung, Erläuterungen, Berlin 1986 (BZNW 49), 77f. Des Athanasius Werk könnte als ein Gegenentwurf zu Eusebius verstanden werden. 57 De incarnatione 4,2–3. Ich bitte um Nachsicht dafür, daß ich nicht für jeden Halbsatz Belege angebe. 58 Diesen Begriff hat Athanasius in Sapientia 14,12 gesehen und verbindet ihn mit der philosophischen Vorstellung von „Werden und Vergehen“. C. gent. 11 wird Sap. 14,12–21 zitiert. 59 De inc. 4,4 (Übersetzung nach Meijering, a.a.O., 54–55). Meijering übersetzt hier φθορά mit ‚Verwesung‘, an anderen Stellen mit ‚Untergang‘; ich bevorzuge durchgehend ‚Vergehen‘.

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seine restlose Geschöpflichkeit, ohne die er eben nichts ist, gekennzeichnet zu haben.“60 Wie beschreibt Athanasius den Fall des Menschen, den er in De incarnatione als Übertretung des Gottesgsetzes Gen 2,16–17 darstellt? Anschaulicher versucht er in dem ersten Teil des Doppelwerkes den Sachverhalt zu beschreiben. Denn, wie er vorweg mit einer existentiellen Begründung feststellt: „Das Böse war nicht von Anfang an; denn es ist auch jetzt nicht bei den Heiligen, und bei denen ist es überhaupt nicht. Menschen fingen nachträglich an, das Böse auszudenken und sich selber ein Bild davon zu machen.“61 Das soll so vor sich gegangen sein: „Die Menschen vernachlässigten das Bessere und wurden träge, das Höhere zu erfassen. Sie suchten lieber das, was ihnen näher war. Näher war ihnen der Körper und seine sinnlichen Regungen. Deswegen wandten sie ihre Vernunft vom Geistigen ab; sie begannen sich selber zu betrachten. Sich selber betrachtend und vom Körper und allen sinnlich wahrnehmbaren Dingen angelockt und sich sozusagen im eigenen Selbst getäuscht verfielen sie der eigenen Begierde; sie zogen das Eigene der Schau auf das Göttliche vor.“62 Eine origenistische Formulierung für den Vorgang: Sie mopsten sich in der Schau Gottes.63 Ein Grund für den „Sündenfall“ ist damit nicht gegeben, aber die Sphäre ist von Athanasius angegeben, in der sich der gefallene Mensch bewegt, nämlich die körperliche und sinnlich wahrnehmbare Welt. Und das Gute ist nun für den Menschen die Lust, der er unablässig nachjagt, und da die Lust Nicht-Seiendes, nämlich Geschaffenes, sucht, erzeugt das Begehren nach Lust die Furcht vor ihrem Verlust. Deswegen denken sich die Menschen Götter aus, die das Geschaffene als dessen Urheber sichern könnten. Es entsteht der Götzendienst, dessen Ende die Vergötterung der Gestirne ist. Dadurch ist die Schöpfung Gottes dämonisiert. Die Menschen sind unvernünftig geworden, weil sie die gegenständliche körperliche Welt vergöttert haben und das Geistige zugedeckt worden ist. Entsprechend sei das Verhalten der Menschen bestimmt von der unersättlichen Lust neuer Bosheiten. Athanasius faßt die Folgen der Abwendung von der Gottesschau so zusammen: Dem Vergehen ausgeliefert „verschwand der vernünftige und nach Gottes Bild geschaffene Mensch, und das von Gott geschaffene Werk war verdorben.“64 Diese allgemeine Feststellung 60 H. Langerbeck, Rezension zu A. van Haarlem, Incarnatie, in: ThLZ 88 (1963) 278–282, hier 281, mit Verweisen auf Platonstellen. 61 C. gent. 2. 62 C. gent. 3. 63 Justinian, Epistula ad Mennam (ACO III p. 191,15) und Anathematismus 1 im Edikt Justinians: Εἴ τις λέγει ἢ ἔχει προυπάρχειν τὰς τῶν ἀνθρώπων ψυχὰς οἷα πρώην νόας οὔσας καὶ ἁγίας δυνάμεις, κόρον δὲ λαβούσας τῆς θείας θεωρίας καὶ πρὸς τὸ χεῖρον τραπείσας..(ACO III p. 213,13–16). Rufin benutzt: neglegentia; vgl. De principiis II 9,5 (p. 170,2 Koetschau). 64 De inc. 6,1.

Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie

wird noch konkretisiert durch das von Gott selber gegebene Gesetz: Der Tod war für die Übertretung festgesetzt, so daß die Menschen dem Vergehen nicht entrinnen konnten. 2.2 Die Offenbarung Gottes Die Bestandsaufnahme der Geschichte der Menschen seit ihrer Erschaffung ist sozusagen beendet. Der Verweis auf das Gottesgesetz bereitet einen neuen Blickwinkel vor. Athanasius schließt ein kategorisches Urteil an: „Und das Geschehen war wahrhaftig widersinnig wie auch unziemlich.“65 Die neue Perspektive ist Gott selber. Athanasius will vorführen, inwiefern Gott selber von der Verderbensgeschichte der Menschheit betroffen ist. Literarisch gesehen ist die Wendung zu Gott eine rationale Apologie der christlichen Lehre von der Menschwerdung des Gott-Logos. Sachlich aber gewinnt Athanasius eine neue Begründung der Menschwerdung aus dem Gottesgedanken. Irenäus hatte nur gesagt, daß sich Gott seines gefallenen Geschöpfes erbarmte: Der Gott-Logos inkarnierte sich, um das verlorene ‚Schaf ‘ zu retten und begründete damit die Notwendigkeit einer neuen Gotteserkenntnis.66 Athanasius dagegen versucht verständlich zu machen, warum sich die Rettung der Menschen nur als Körperwerdung vollziehen konnte. Er setzt, daß ein Konflikt in Gott zu denken sei.67 Widersinnig und unziemlich sind die Stichworte, mit denen er zu arbeiten versucht.68 Widersinnig wäre es, wenn Gott sein Gesetz einfach zurücknähme. Athanasius greift den Gedanken der Wahrheit Gottes auf und deutet mehr an, als er tatsächlich in Worte zu fassen fähig ist. Mit dem Gesetz, daß der Mensch wegen seiner Übertretung sterben muß, ist nicht nur Gottes Gebot gemeint, das Gott auch wieder auflösen könnte, sondern die Übertretung ist ja die Abwendung des Menschen von der Gotteserkenntnis und dadurch der Verlust seiner Lebensquelle, so daß der Mensch auf seine Natur zurückfällt, das ist das Nicht-Sein und das Vergehen (φθορά). Im Vergehen wirkt sich aus, daß Gott und nur der wahrhaft seiende Gott, der Schöpfer, Unvergänglichkeit gewähren kann. Insofern sich die Menschen das Vergehen selber zuziehen, erfahren sie Gottes Abwesenheit und erleiden sie die Wahrheit Gottes; sie können Gott nicht durch die Götzen ersetzen, und es gelingt ihnen nicht, sich im Bereich der phänomenalen Welt über das Vergehen zu erheben. Das kann man die 65 De inc. 6,2. 66 Siehe oben bei Anm. 14 und 19. 67 Vgl. E. Mühlenberg, Vérité et bonté de Dieu. Une interprétation de De incarnatione, chapitre VI, en perspective historique, in: Ch. Kannengiesser (ed.), Politique et théologie chez Athanase d’Alexandrie. Actes du Colloque de Chantilly 23–25 Septembre 1973, Paris 1974 (ThH 27), 215–230. 68 Athanasius hält die beiden Stichworte (ἄτοπον, ἀπρεπές) nicht ganz konsequent durch. Textgrundlage ist Kapitel 6,3–10.

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Wahrheit Gottes nennen. Daß Athanasius den Begriff Wahrheit aufgreift, war ein genialer Einfall; ansonsten versteifte man sich auf die Gerechtigkeit Gottes wie Markion und erst recht seine Gegner. Besser als mit „widersinnig“ kann Athanasius mit dem Stichwort „unziemlich“ arbeiten. Denn es gehört zum Gottesgedanken das Gutsein. Deswegen war es für Gottes Gutsein „unziemlich“, daß das Gutsein zuschanden geworden war, weil das aus Gutsein Erschaffene zugrunde ging. Es wird ein Konflikt in Gott zwischen Wahrsein und Gutsein gedacht. Darin schließt er jeweils die Frage ein, was Gott tun müßte, um sein Wahrsein und sein Gutsein zu bewahren. Das Wahrsein Gottes wird durch die Menschwerdung gewahrt.69 Denn der Gott-Logos bereitete sich durch die reine Jungfrau einen Körper, in dem er anwesend war. Diesen seinen Körper übergab er dem Tod und blieb in der Auferstehung siegreich gegen den Tod. Sein Tod war das Opfer, das Gott geschuldet war und das Gottesgesetz erfüllte.70 Der Tod steht nun nicht mehr unter der Herrschaft des Vergehens. Für die Menschen gibt es die Verheißung der Auferstehung.71 Das Gutsein Gottes ist das nächste Thema.72 Der gefallene Mensch muß neu geschaffen oder erneuert werden. Das geschieht durch einen neuen Zugang zur Gotteserkenntnis. Ähnlich dem Irenäus geschieht die Erneuerung dadurch, daß das Ebenbild Gottes – das ist bei Athanasius der Gott-Logos – sich in einem menschlichen Körper manifestiert, so daß die Sinne der Menschen aus den Werken des Menschen Jesus, dem körperhaft gewordenen Gott-Logos, wieder zum Vater geführt werden. Aber über Irenäus hinausgehend begründet Athanasius dieses neue Offenbarwerden durch die Sündhaftigkeit der Menschen. Die sündigen Menschen hatten ihr Denken pervertiert und betrachteten nur noch, was „unten“ ist, Körperhaftes und Sinnlich-Wahrnehmbares. Genau dort erscheint der Gott-Logos. Nicht mehr nur in der Harmonie der Welt als ihr Schöpfer, nicht mehr nur als der Bewahrer der geschaffenen Welt (providentia), sondern in einem einzigen sichtbaren Körper ist Gott erkennbar, erkennbar durch die Werke (Wunder) als der Leben schaffende Gott.73 Die „Neuschaffung“ 69 De inc. 7–10. 70 Schriftstellen sind 2 Kor 5,14 und Hebr 2,9.10.14f und 1 Kor 15.21–22, zitiert in Kap. 10. 71 Athanasius ist sich bewußt, daß die Auswirkung des Todes Jesu, des Körpers des Gott-Logos, eigens zu begründen ist. Er rekurriert auf den Gedanken, daß es der Gott-Logos ist, der über alles ist und so für alle gilt. Er benutzt aber auch ein Beispiel: Ein König, der in einem einzigen Haus einer Stadt anwesend ist, bewahrt die ganze Stadt vor Feinden und Räubern. 72 De inc. 11–19. 73 Diesen Gedanken hatte schon Irenäus; er findet sich auch fast wortgleich mit Athanasius bei Eusebius von Cäsarea, Demonstratio evangelica VII 1,22–23. Meijering verweist in seinem Kommentar bei De inc. 15 auch auf Origenes, Contra Celsum 3,47; dort auch die Eusebstelle (a.a.O., 134f).

Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie

des Menschen geschieht also durch die Erneuerung der Gotteserkenntnis. Gott wird sichtbar in dem Körper, den sich der Gott-Logos durch die Geburt aus der reinen Jungfrau schafft. In der Harmonie der geschaffenen Welt blieb der GottLogos unsichtbar, ebenso in der Fürsorge (providentia) blieb der Gott-Logos unsichtbar. Wie der Schöpfer unsichtbar im Kosmos, einem Körper (σῶμα) anwesend ist, so wird der Gott-Logos in einem einzigen menschlichen Körper sichtbar. Durch den Sündenfall verloren die Menschen die Gotteserkenntnis. An Pannenberg gerichtet ergibt sich die gleiche Frage wie bei Irenäus: Er reflektiert nicht diesen Grundgedanken der altchristlichen Inkarnationstheologie. 3.

Zwischenbemerkung zur altchristlichen Forschungslage

Seit Pannenberg den christologischen Teil seiner Systematischen Theologie geschrieben hat (1991), hat sich in der altchristlichen Theologiegeschichte viel ereignet, aber die Geschichtsschreibung hat es noch nicht erreicht, ganz zu schweigen von der Dogmengeschichte. Ich nenne drei Phänomene. Erstens sind die Arianer verschwunden; sie sind jetzt Eusebianer und Homöer.74 Zweitens ist eine ganze Schrift des Eustathius von Antiochien entdeckt worden, wodurch sich die Frage nach der Seele Christi in den arianischen Auseinandersetzungen neu stellt. Eustathius behauptet, daß die Arianer einen seelenlosen Christus lehren. Geschrieben ist diese Schrift unmittel nach dem Konzil von Nicäa (also wohl 326 n.Chr.), überliefert aber in einer Epitome vom Ende des 4. Jahrhunderts.75 74 Vgl. Hanns Christof Brennecke, „Arianismus“. Inszenierungen eines Konstruktes, Erlanger Universitätsreden 83/2014 (3. Folge); dort auch Literatur. 75 Contra Ariomanitas et de anima, in: Eustathii Antiocheni, patris Nicaeni, opera quae supersunt omnia, edidit José H. Declerck, Turnhout 2002 (CChr.SG 51), frg. 1–61; Karl-Heinz Uthemann, Eustathios von Antiochien wider den seelenlosen Christus der Arianer. Zu neu entdeckten Fragmenten eines Traktates des Eustathios, in: ZAC 10 (2006) 472–521 (der Text sei ein nicht eindeutig auflösbas Dickicht); Sophie Cartwright, The Theological Anthropology of Eustathius of Antioch, Oxford 2015 (bei allem Verdienst in der Interpretation einzelner Texte befaßt sie sich nicht damit, daß der neu entdeckte Traktat in der Form einer nachträglichen Epitome vorliegt: sie überlegt auch nicht, ob des Eustathius Behauptung, einige Arianer lehrten den seelenlosen Christus, eine Hypothese sein könnte. In ihrem Literaturverzeichnis ist verzeichnet Rudolf Lorenz, Arius Judaizans? Untersuchungen zur dogmengeschichtlichen Einordnung des Arius, Göttingen 1979, aber nicht ausgewertet – es fehlt R. Lorenz, Die Christusseele im Arianischen Streit. Nebst einigen Bemerkungen zur Quellenkritik des Arius und zur Glaubwürdigkeit des Athanasius, in: ZKG 94 (1983) 1–51). Als eine ernste Warnung muß beachtet werden H.C. Brennecke, „Apollinaristischer Arianismus“ oder „arianischer Apollinarismus“.

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Drittens ist das Bekenntnis der antiochenisches Synode 379 n.Chr. identifiziert worden. Darin sind die Begriffe für die „antiochenische Christologie“ festgelegt. Sie lauten: „fleischtragender Gott“ (θεὸς σαρκοφόρος) und „Gott tragender Mensch“ (ἄνθρωπος θεοφόρος).76 4.

Christologie des Apollinaris von Laodicea

4.1 Apollinaris und Diodor von Tarsus Apollinaris muß vorgestellt werden, weil er die Konsequenzen der athanasianischen Christologie auszieht.77 Es läßt sich leider nicht eindeutig klären, ab wann Apollinaris seine Christologie formuliert hat.78 Einigermaßen sicher ist, daß Apollinaris 359/360 Bischof in seiner Heimatstadt Laodicea wurde.79 An der von Athanasius im Jahre 362 (Früjahr) in Alexandrien einberufenen Synode nahmen „Mönche des Bischofs Apollinaris“ teil.80 Von den Schriften des Apol-

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Ein dogmengeschichtliches Konstrukt? „Arianische“ Christologie und Apollinaris von Laodicea, in: S.-P. Bergjan/B. Gleede/M. Heimgartner, Apollinaris und seine Folgen, Tübingen 2015 (STAC 93), 73–92. Die Vermutung, daß der Text in Theodoret, HE IV 8 das Bekenntnis der antiochenischen Synode 379 sei, hat H.C. Brennecke in seiner Gedächtnisrede für Luise Abramawski am 23. Januar 2019 in Tübingen vorgetragen. Herr Brennecke hat mir freundlicher Weise erlaubt, von seinem Redetext Gebrauch zu machen. Vgl. meine Untersuchung: Apollinaris von Laodicea, Göttingen 1969 (FKDG 23); dazu wäre einiges zu ergänzen, wahrscheinlich auch zu korrigieren, aber an der These halte ich fest, daß Gott in dem inkarnierten Sohn Gottes erkannt werden soll. Meine Grundlage war die Analyse der einzigen Schrift, aus der der Aufbau der Christologie des Apollinaris hypothetisch entnommen werden kann, obwohl Gregor von Nyssa in seinem Durchgang emotionale Polemik betreibt: Ἀπόδειξις περὶ τῆς θείας σαρκώσεως καθ‘ ὁμοίωσιν ἀνθρώπου, deren Fragmente in Gregors Scrift gegen Apollinaris enthalten sind, auch gesammelt von H. Lietzmann, Apollinaris von Laodicea und seine Schule. Texte und Untersuchungen, Tübingen 1904, frg, 13–107. Wie lange vor Gregors Widerlegung Apollinaris diese Schrift verfaßt hat, ist völlig offen. Aöollinaris gibt als Gegner die Namen: Paulus (von Samosata), Photin und Markell an, aber daß auch Diodor von Tarsus gemeint sein kann, ist nicht auszuschließen. Ich dokumentiere ausführlich, da viel Unsinniges über die Lehre des Apollinaris umläuft. Gregor von Nazianz, der es in der Tat wissen konnte, schreibt im Jahre 382/3, Apollinaris habe den orthodoxen Glauben an die Unterscheidung gebunden: anzubeten sei der fleischtragende Gott (θεὸς σαρκοφόρος) und nicht der gott-tragende Mensch (ἄνθρωπος θεοφόρος) und das seit 30 Jahren (Ep. 102,22 Gallay). Das wäre Mitte der fünfziger Jahre. Siehe zuletzt Kelley McCarthy Spoerl, The Circumstances of Apollinarius’s Election in Laodicea, in: S.-P. Bergjan/B. Gleede/M. Heimgartner, Apollinaris und seine Folgen, Tübingen 2015 (STAC 93) 11–33. Athanasius, Tomus ad Antiochenos 9,3 (AW II p. 349, 13–14); auch AW III 1 Dokument 69,2 (mit deutscher Übersetzung und erläuternden Anmerkungen; ich übersetze die Passage p. 600, 24–27 ganz anders).

Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie

linaris, die meist nur in Fragmenten überliefert sind, lassen sich mit Sicherheit nur zwei datieren;81 das „Detaillierte Glaubensbekenntnis“ (Ἡ κατὰ μέρος πίστις) soll schon 362 geschrieben worden sein.82 Unklar bleibt, ab wann Apollinaris den Diodor, Presbyter in des Meletius antiochenischer Gemeinde und seit 378 Bischof von Tarsus, im Visier hat. Man beachte, daß Diodor im Jahre 362 eine herausragende Persönlichkeit ist.83 Diodors Schrift „Gegen die Synousiasten“ richtet sich gegen Apollinaris.84 Kaum zu entscheiden ist, ob Apollinaris oder Diodor zuerst die Frage erörtert, wie die Anwesenheit des Gott-Logos in 81 Ad Jovianum (363) und Epistula ad Diocaesareenses (374/375). Letztere Schrift ist eindeutig dem Apollinaris zugewiesen (gegen Lietzmann, a.a.O., 108); das Schriftbild der Handschrift Vat. gr. 2195 ist so geschrieben, wie es Brian E. Daley, Leontius of Byzantium, Oxford 2017, 560 druckt, so daß Apollinaris als Autor des folgenden Schreibens erkennbar ist. 82 So Spoerl, a.a.O. 83 Kaiser Julian nennt ihn einen Asketen und Lehrer, „der scharfsinnige Sophist einer Bauernreligion“ (Ep. 90 Bidez-Cumont); vgl. Susanna Elm, Apollinarius of Laodicea and Gregory of Nazianzus. The Early years, in: S.-P. Bergjan, a.a.O., 3–18, hier 10. 84 Der Beweis findet sich in BD 26 (John Behr, The Case against Diodore and Theodore. Texts and their Contexts, edited and translated, Oxford 2011, 188/191; zuverlassige deutsche Übersetzung des syrischen Textes bei M. Heimgartner, Neue Fragmente Diodors von Tarsus aus den Schriften „Gegen Apollinaris“, „Gegen die Manichäer“, und „Über den heiligen Geist“, in S.-P. Bergjan, Apollinarius (a.a.O., 185–204, hier 194/195 Anm. 42): Diodor referiert die gegnerische Ansicht, daß sie Gegensätze vereine. „Sie bekennen, dass der aus Maria [stammende] Leib wahrhaftig Same Davids und Abrahams ist, der in den letzten Zeiten im Sohn der Jungfrau gebildet wurde und die [Geschicke] des Leibes erduldete, und [andererseits bekennen sie], dass die Gott-Rede von allen diesen [Geschicken] frei blieb – sie die vor den Äonen aus dem Vater geboren wurde – ..Sie wollen aber nicht, dass dieser als von oben her und jener als von unten her benannt wird, sondern [sie bekennen] denselben als von Gott vor den Äonen und von David in den letzten Zeiten, als von Gott der Gottheit nach und von David der Menschheit nach, denselben [bekennen sie] als leidensunfähig und leidensfähig, das eine dem Geist nach, das andere dem Fleisch nach..es ist nicht richtig, [dass] die Gott-Rede Sohn Gottes genannt wird und nicht auch der Leib und der Leib Same Davids genannt wird und nicht [auch] Gottes Sohn, sondern beide sind ein [einziger] Sohn, sei es von David, sei es von Gott.“ An dieses Referat fügt Diodor an: „Du findest aber auch, dass von dem, welcher diese Neuerung vorgebracht hat, die Sache gemäss ihm in ebendiesen Worten wie folgt kurz zusammengefaßt ist: ‚Ich bekenne, dass Gottes Sohn Menschensohn wurde, und dass er ein [einziger] vollständiger Sohn ist und nicht zwei, er Gottessohn und er Menschensohn, eine [einzige] Hypostase und eine [einzige]Person, eine [einzige]Anbetung der Rede und des Fleisches. Und ich verdamme diejenigen, die „zwei“ sagen und verschiedene Anbetungen praktizieren, eine göttliche und eine menschliche.‘ “ Ich setze den griechischen Text nach Codex Vat. gr. 2195 (saec. X, p. 182)) her; Daley (a.a.O., 562–566) hat ihn richtig wiedergegeben: Der Text stammt, wie Leontius sagt, aus einer „alten Abschrift“ mit Werken (oder Exzerpten), die als Autor Apollinaris angeben. Zitiert wird: τοῦ αὐτοῦ· ἐκ τῆς κατὰ μέρος πίστεως, erst cap. 30+31 (Lietzmann 178–179 unten) dann πρὸ τοῦ (conieci, πρὸ τοῦ πρὸ cod., ἐκ τοῦ πρὸ Daley) = cap. 27–29 (Lietzmann: hier ab cap 28): “Ετι ὁμολογοῦμεν τὸν υἱὸν τοῦ θεοῦ υἱὸν ἀνθρώπου γεγενῆσθαι, οὐκ ὀνόματι ἀλλ’ ἀληθείᾳ προσλαβόντα σάρκα ἐκ Μαρίας παρθένου, καὶ εἶναι ἕνα τέλειον, οὐ δύο τέλεια ἡνώμενα αὐτόν, υἱὸν θεοῦ καὶ υἱὸν

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dem Menschen Jesus auszulegen sei. Diodor führt die Christologie des Markell weiter und vertritt eine Trennungschristologie, wie man gewöhnlich sagt. In der genannten Schrift „Gegen die Synousiasten“ besteht er darauf, daß Maria nicht Gott-Logos geboren habe, sondern einen Menschen. Denn, so verteidigt er sich gegen die Anschuldigen der Apollinaristen (er nennt seine Gegner nicht mit Namen), der Gott-Logos sei nicht zweimal geboren, einmal in der Trinität vom Vater und weiteres Mal von Maria.85 Dies ist sein Argument gegen Apollinaris. Entsprechend nennt Diodor Jesus „Sohn aus Gnade“.86 Für die klare Trennung zwischen Gott-Logos und Jesus gibt Diodor seine Auslegung von Gal 4,4 („Da

ἀνθρώπου, μίαν ὑπόστασιν καὶ ἓν πρόσωπον καὶ μίαν τὴν προσκύνησιν τοῦ λόγου καὶ τῆς σαρκός· καὶ ἀναθεματίζομεν τοὺς δύο λέγοντας καὶ διαφόρους προσκυνήσεις ποιοῦντας, μίαν θεικὴν καὶ μίαν ἀνθρωπίνην, καὶ τοὺς προσκυνοῦντας τὸν ἐκ Μαρίας ἄνθρωπον ὡς ἕτερον ὄντα παρὰ τὸν ἐκ θεοῦ θεόν.

Die als Gesamttextüberlieferung unter dem Namen Gregorius Thaumaturgus, die Lietzmann (a.a.O., 132) für den echten Text hält, weicht in einigen Wörtern ab, aber die hier gegebene Version ist durch Diodor gedeckt und deswegen authentischer. 85 „Gegen die Synousiasten“ ist überliefert in einem syrischen Florileg innerhalb von Texten, die Timotheus Aelurus verfaßt hat: London, British Library Add. 12156 (= Syr. 729; Wright II 639), datiert 562 n.Chr. Lietzmann gibt einen Überblick über den Inhalt der Handschrift (a.a.O., 93–95). Nach dem sog. Florilegium Edessenum (fol. 69r-80r), wie John Behr. The Case (a.a.O. 161–167) in seiner detaillierten Analyse mitteilt, folgen „Blasphemien Diodors, Theodors und des gottlosen Nestorius“ (fol. 80r-90r). Der ursprüngliche Titel, so könnte man annehmen, lautete Κατὰ συνουσιαστῶν. Denn mit diesem Titel überliefert Leontius von Byzanz im Florileg gegen den Häretiker Theodor (von Mopsuestia) 36 Exzerpte und „vom Urheber ihrer Gottlosigkeit“, Diodor, 4 Exzerpte „aus dem ersten Buch“ und 1 Exzerpt aus dem 4. Buch des genannten Titels (Vat. gr. 2195 p. 157–158; die Diodorfragmente bei Behr a.a.O., 494–498). Bei Leontius ist das Florileg angehängt an Deprehensio et Triumphus super Nestorianos. Die Fragmente der „Blasphemien“ (bei Behr) BD 27 (Behr 192) = Leontius LD 4a (Behr 132), BD 31+32 (Behr 192–194) = Leontius LD 2a+c (Behr 310–312), so daß sich der Titel „Gegen die Synousiasten“ für alle „Blasphemien Diodors“ nahelegt. Behr meint, daß die „Blasphemien“ Teil eines Florilegs waren, das Kyrill von Alexandrien zusammengestellt hat (a.a.O., 157; vgl. 133 ff). Heimgartner dagegen weist darauf hin, daß in den „Blasphemien Diodors“ die gegnerische (= apollinaristische) Position sehr ausführlich referiert werde, so daß der Ursprung dieser Sammlung nicht in einem Anti-Diodor Milieu verortet werden kann, sondern an Diodor freundliche Kreise in Antiochien sei zu denken. Heimgartner verweist darauf, daß in einem Florileg, welches im Codex Vatopedinus 236 überliefert ist, drei Diodorfragmente begegnen, die die gleiche Thematik wie in einem Teil der „Blasphemien Diodors“ behandeln, nämlich daß die Seele nicht präexistent ist. Das beträfe einen Vorwuf gegen Diodor, den er abwehrt. Diese drei Fragmente, von Heimgartner ediert, geben als Quelle an: Διοδώρου ἐκ τοῦ κατὰ Ἀπολιναρίου βιβλίου πρώτου τοῦ λεγομένου κατὰ κεφάλαιον (a.a.O., 190–197). Wir haben in den überlieferten Diodorfragmenten keinen Hinweis darauf, daß Diodor dem Apollinaris vorwarf, die menschliche Seele oder Vernunft durch den Gott-Logos ersetzt zu haben. 86 Frg. LD 2a, 3 und 4 (Behr 312); vgl. BD 27–32 (Behr 192–194).

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aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan.“) in folgenden Worten: „Denn auch Paulus fordert nicht, daß der Gott-Logos, wie er ein Mensch wird und wie er geschaffen wird, ein Kindlein von der Maria werde, sondern er sagt, daß der Mensch, der von der Maria geboren wurde, zu unserer Erlösung gesandt wurde. Denn Gott sandte seinen Sohn nicht, daß er geboren werde, sondern den, der geboren wurde, sandte er zur Erlösung. Das Wort des Paulus handelt von dem, der von der Maria geboren wurde.“87 .

4.2 Gott im Fleisch Apollinaris wendet sich in allem, was von ihm erhalten ist, gegen solche, die den Sohn Gottes, den Gott-Logos, von dem Menschensohn, dem von Maria geborenen Jesus, trennen.Wurde Apollinaris von Diodor und von seiner Christologie, die diejenige des Markell von Ankyra weiterführte, zu seiner Lehre von der einen Person und der einen Natur getrieben? Zu einer Waffe hat Apollinaris seine Lehre gemacht, indem er denen, die Himmlisches und Irdisches bei Jesus trennten, vorwarf, sie lehrten zwei Söhne und beteten zwei Söhne an, den einen davon als menschliches Geschöpf: das sei Blasphemie. Umgekehrt haben wir von Diodor nur eine einzige dogmatische Schrift, und diese richtet sich gegen des Apollinaris Lehre von der Einheit des Sohnes Gottes mit dem Menschensohn Jesus. Wer hat angefangen, den anderen zu provozieren? Wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Auf der Synode in Alexandrien 362 wird verhandelt, wie in Antiochien die Gemeinde des Paulinus, d. h. die Gemeinde des Eustathius, mit der Gemeinde des Meletius, der die „alte Kirche“ okkupierte, in einem einigen Glauben vereint werden kann. Nach der Übereinkunft in der Trinitätslehre, die Athanasius formulierte, ist die Christologie eine Streitfrage, die geklärt werden sollte (§ 7). Mir scheint, daß Athanasius nicht ohne Berücksichtigung der Mönche des Bischofs Apollinaris und nicht ohne Berücksichtigung der Meletiusgemeinde, der Diodor angehörte, formuliert hat. Ganz an Athanasius88 sich anschließend ar87 Übersetzung von Rudolf Abramowski, Der theologische Nachlaß des Diodor von Tarsus, in: ZNW 42 (1949) 31. Bei Behr = BD 12: „Paul does not stipulate that the God Word, when he became flesh and was formed, was the infant from Mary. But he says that the man born of Mary was sent for our salvation, for God did not send his Son to be born, but sent him who was born to save. The saying of Paul concerns him who was born of Mary [Gal. 4,4]..“ 88 Das WORT wohnte in Jesus nicht wie in einem heiligen Menschen analog den Propheten, sondern das WORT wurde Fleisch (§ 7,1); der Sohn Gottes wurde Menschensohn (§ 7,2), so daß derselbe spricht und handelt „göttlich“ und „menschlich“ oder „leiblich“ (§ 7,3). Athanasius nimmt Formulierungen auf, die sich in Oratio contra Arianos III 30–35 finden. Neu ist der Vorwurf einer Partei gegen die andere, der so formuliert aufgehoben wird: „Denn sie bekannten auch dieses, daß der Erlöser nicht einen seelenlosen und empfindungslosen und vernunftlosen Körper hatte..“ (§ 7,2). In AW II wird auf die Homöer Eudoxius und Lucius verwiesen, von

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beitet Apollinaris aus, wie der Gott-Logos in dem Jesus der Evangelien manifest ist. Gott handelt, Gott wirkt in dem beseelten Körper. Denn Gott erlöste vom Tod, nicht ein Mensch. Jesus war nicht ein Mensch und Sohn Gottes, wie die Erlösten es sind. Jesus unterschied sich von den Menschen, weil er sündlos war, und kein Mensch ist sündlos. Also hatte der Inkarnierte eine „unüberwindliche Vernunft“89 , „eine keiner Veränderung unterliegende Vernunft“90 . Gott-Logos, der Sohn im trinitarischen Gott, ist Mensch geworden „wie ein Mensch“, nicht „gleich“. Es besteht zwischen den Menschen und dem Mensch Jesus ein fundamentaler und qualitativer Unterschied. Der himmlische Mensch, von dem Paulus in 1 Kor 15,47 (vgl. Joh 3,13) spricht, ist nicht der neugeschaffene Adam, sondern „der Mensch vom Himmel“ ist der Grund und die Ursache für die Neuschaffung von Menschen.91 Göttlicher Geist92 in dem Leib Jesu, der von der Jungfrau Maria geboren wurde, bestimmt die Bewegungen seines Leibes.93

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denen sich beide antiochenischen Gruppen distanzieren; in AW III 1 heißt es, daß „nicht eindeutig auszumachen“ sei, „ob hier Homöer oder schon die Anhänger des Apolinaris im Blick sind“. Ich denke, daß Apollinaris gemeint ist. Man beachte die diplomatische Formulierung: „der Erlöser hatte nicht..,“ während Apollinaris hätte protestestieren müssen gegen: der GottLogos nahm keinen vernunftlosen Körper an. Vgl. aber Ep. ad Diocaesareenses 2 (p. 256,3–15 Lietzmann). Eine Auseinandersetzung mit der Literatur über die Christologie des Apollinaris, die nach meiner Monographie „Apollinaris von Laodicea“ (1969) erschienen ist, kann hier nicht vorgelegt werden. νοῦς ἀήττητος ( Ἡ κατὰ μέρος πίστις, cap. 30; p. 178,14 Lietzmann). θεῖον ὄντα νοῦν ἄτρεπτον οὐράνιον (Ep. ad Diocaesareenses 2; p. 256,7 Lietzmann); vgl. frg. 74–76 Lietzmann (= GNO III 1 p. 192,9–197,2 Müller). Hier irren R. Greer, The Man from Heaven. Paul’s Last Adam and Apollinaris‘ Christ, in W.S. Babcock (ed.), Paul and the Legacies of Paul, Dallas 1990 165–182; R. Daley, “Heavenly Man” and “Eternal Christ”. Apollinarius and Gregory of Nysse on the Personal Identity of the Saviour, in: JECS 10 (2002) 469–488. Es ist in den überlieferten Resten der Schriftstellerei des Apollinaris nicht auszumachen, wie er die Gleichsetzung von πνεῦμα mit νοῦς begründet. Zum Erleiden und Leiden Jesu, der fleischgewordenen Vernunft = des fleischgewordenen Gottes (νοῦς ἔνσαρκος, θεὸς ἔνσαρκος) vgl. Johannes-Kommentar Nr. 83 zu Joh 12,27–28 (Joseph Reuss, Johannes-Kommentare der griechischen Kirche aus Katenenhandschriften gesammelt und herausgegeben, Berlin 1966 [TU 89], 34; Anakephalaiosis cap. 30 (p. 246,13–19 Lietzmann); frg. 63 Lietzmann (GNO III p. 179,8–182,27; gemeint ist das Wort Jesu Mt 26,39); Εἰς τὴν ἐπιφάνειαν τὴν ἔνσαρκον τοῦ θεοῦ = frg. 109 (p. 233 Lietzmann). Nirgends sagt Apollinaris, daß Gott tot geht; der Gott-Logos erleidet den Tod σαρκί, im „Fleisch“, seinem Körper, d. h. der Leib ist drei Tage von seiner Seele getrennt. Ich übersetze Anakephalaiosis cap. 30, wo sicher sehr präzise formuliert ist (mir aber trotzdem enigmatisch erscheint): „Wenn das Fleisch von der Vernunft unterschieden ist, weil es der Vernunft widerstreitet, wie der Apostel sagt (Rom 7,23), dann hat Gott, der das Fleisch annimmt, vom Fleisch der Vernunft widerstreitende Regungen, die als der Vernunft widerstreitend nicht unterworfen sind, aber der Vernunft nicht als einem Widersacher widerstreiten. Wenn das so ist, dann leidet der Leidende nicht als Gott.“ (Εἰ σὰρξ ὡς ἐπιστρατευομένη τῷ νῷ κεχώρισται τοῦ νοῦ κατὰ τὸν

Dogmengeschichtliche Anfragen an Pannenbergs Christologie

Jesus ist ein durchgeistigter Leib (σῶμα θεόπνουν). Dieser Jesus ist himmlischer Geist (νοῦς οὐράνιος) in seinem Leibe, wesenhaft geeint und nicht wie Christenmenschen gnadenhaft mit Gott geeint. Jesus, der inkarnierte Gott, ist nicht das Vorbild, das nachzuahmen wäre, sondern ursächlich die Quelle, aus welcher Verbundenheit mit Gott erwachsen kann. Er ist der offenbare Gott, der im Körper „wie ein Mensch“ manifeste Gott. Ihn sollen wir, die Menschen, im Glauben in uns aufnehmen, ihm angeglichen werden.94 Wir sollen darum beten, an Christi Geist teilzuhaben, wie es beim Apostel Paulus (1 Kor 2,16) heißt: „Wir haben den Geist Christi.“95 . 5.

Fazit

Was hat das alles mit heutiger Christologie zu tun, was mit Pannenbergs Christologie? Athanasius und Apollinaris sind nicht irgendwie einzelne Theologen, sondern sie haben eine theologische Entdeckung gemacht und dadurch eine theologische Tradition begründet: Christologie begründet Gotteserkenntnis. In Stichworten: Die ureigene Tat des menschlichen Geschöpfes war die Abwendung von Gott, und Gottes Wahrsein erweist sich im Todesgeschick der Menschen, einem unentrinnbaren Verderben. Die Götter, die sich die Menschen gegen ihr Todesgeschick erfinden, dämonisieren die Welt, so daß die Welt nicht als geschaffener Kosmos erscheint. Gott ist nicht mehr erkennbar, nur in seiner Abwesenheit für den Menschen manifestiert sich sein Wahrsein. Es herrscht die Perversion, daß der vernunftbegabte Mensch das Gegenständliche zum Geistigen und Göttlichen macht, seine Vernunftbewegung also pervertiert. ἀπόστολον, ὁ τὴν σάρκα λαβὼν θεὸς ἀπὸ ταύτης ἔχει τὰς ἐπιστρατευομένας ἐπὶ νοῦν κινήσεις, αὐτῷ δὲ μὴ ὑποταττομένας ὡς ἀνταγωνιστῇ τῷ νῷ. εἰ δὲ τοῦτο, οὐκ αὐτὸς ὁ πάσχων καθὸ θεός.) 94 Vgl. Ἡ κατὰ μέρος πίστις cap. 31 (p. 179 Lietzmann) nach dem Leontiustext: “Ανθρωπον δὲ ὅλον ἀναλαβόμενον ὑπὸ τοῦ θεοῦ πρὸς σωτηρίαν φαμὲν ἕκαστον ἡμῶν τῶν ἁγιαζομένων καὶ τὴν ὁμοίωσιν τοῦ ἐπουρανίου λαμβανόντων (vgl. 1 Kor 15,49) καὶ θεοποιουμένων πρὸς ὁμοίωσιν τοῦ φύσει καὶ ἀληθῶς θεοῦ, κατὰ σάρκα δὲ ἀνθρώπου, κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ (Daley, a.a.O., 564). 95 Siehe das Fragment aus der Schrift, deren Anfang lautet: Δοξάζομεν πρεπόντως τὸν κύριον ἡμῶν Ἰησοῦν Χριστόν Frg. 155, p. 249 Lietzmann): Ζῶν δὲ Χριστὸς σῶμα θεόπνουν καὶ πνεῦμα ἐν σαρκὶ θεικόν, νοῦς οὐράνιος οὗ μετασχεῖν εὐχόμεθα (κατὰ τὸ Ἡμεῖς δὲ νοῦν Χριστοῦ ἔχομεν), σὰρξ ἁγία θεότητι συμφυὴς καὶ τοῖς μετέχουσιν αὐτῆς ἐνιδρύουσα θεότητι, θεμέλιος αἰωνίου ζωῆς, ἀπαρχῆς ἀφθαρσίας ἀνθρώποις, αἰωνίου κτίσεως δημιουργός, τοῦ μέλλοντος αἰῶνος πατήρ (Daley, a.a.O., 5504–10). Epipha-

nius berichtet, daß die Apollinaristen den Beweis für ihre Lehre in dem Pauluswort 1 Kor 2,16 sehen: „Sie sagen: ‚Siehst du, daß die Vernunft Christi eine andere ist als die unsrige?‘ “ (Panarion 77,31.34–35).

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Die Menschwerdung und Inkarnation Gottes hat die Gotteserkenntnis in Jesus neu begründet. Durch Tod und Auferstehung Jesu wurde einerseits das Todesverhängnis durchbrochen, ja aufgehoben, das Vergehen (φθορά) beendet, andererseits wurde in Jesus die lebensschaffende Macht Gottes sinnlich anschaubar (der Mensch vom Himmel ist ζωοποιός). Ob sich daraus eine heute vertretbare Christologie ausziehen läßt, ist Aufgabe der systematischen Theologen. Der Theologie- und Kirchengeschichtlichler kann auf die Traditionen hinweisen und anmahnen, diese zu reflektieren. Es ist zu einfach, Pannenberg zu folgen und die sog. klassische Christologie durch das Argument zu kritisieren, daß die Inkarnation auf die Jungfrauengeburt ausgerichtet sei und deshalb die „geschichtliche Besonderheit Jesu von Nazareth als Medium der Offenbarung des göttlichen Logos“ nicht angemessen habe entwickeln können.96 Man sollte weniger von polemischen Kampfesparolen und weniger von Modellen des Ineinanders von Göttlichem und Menschlichem bei Jesus in der frühen altkirchlichen Christologie ausgehen und mehr sehen auf deren Ziel: In Jesus Christus manifestiert sich schöpferisch lebenschaffende Macht und somit Gott selber – in total neuer Weise.

96 STh II, 341.

Friederike Nüssel

Theologia crucis? Zur Rezeption lutherischer Kreuzestheologie in Wolfhart Pannenbergs Systematischer Theologie

Auch wenn manche Theologen in Deutschland Wolfhart Pannenberg katholisierende Tendenzen nachsagten oder gar vorwarfen, hat er sich selbst als lutherischer Theologe verstanden und wurde im Übrigen auch von führenden lutherischen Theologen in Amerika, Skandinavien und Finnland stets so wahrgenommen. Auffallend ist gleichwohl, dass Pannenberg die Übereinstimmung mit Luther zwar in Bezug auf die Rechtfertigungslehre, Sakramententheologie, Kirchen- und Amtstheologie geltend gemacht hat, sich aber in den beiden anderen Zentralthemen der Theologie Luthers, der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und der theologia crucis von Luther abhebt. Was die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium betrifft, so bestreitet er den fundamentaltheologischen Stellenwert dieser Unterscheidung und markiert zudem Differenzen zwischen Luthers Lehre und der biblischen bzw. paulinischen Lehre. Was die theologica crucis betrifft, so greift er die programmatische Rede von der theologia crucis bei Luther nicht auf. Nur an zwei Stellen ist in der Systematischen Theologie von ‚Kreuzestheologie‘ die Rede1 , die allerdings gewichtige Hinweise bieten für die Frage, wie sich Pannenbergs Theologie zu Luthers theologia crucis verhält. Diese Frage wiederum ist insofern von Bedeutung, als sie zum einen erlaubt, genauer in den Blick zu bekommen, in welcher Weise die in Luthers theologia crucis enthaltenen theologischen Anliegen bei Pannenberg aufgenommen und weiterentwickelt werden, und zum anderen verstehen lässt, warum Pannenberg an die programmatische Verwendung des Terminus zur Charakterisierung lutherischen Denkens nicht anknüpft. Um diesen Fragen nachgehen zu können, ist zunächst das Profil der theologia crucis bei Luther knapp systematisch zu skizzieren.

1 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1990, 379.432 (im Folgenden: ST 2).

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Friederike Nüssel

1.

Die zwei Pole der Kreuzestheologie Martin Luthers

Luthers Theologie basiert auf der exegetisch gewonnenen Einsicht in Gottes unermessliche Gnade und Liebe, die dieser dem Menschen in der Rechtfertigung allein aus Glauben ohne alle Werke zuteil werden lässt. Die in Jesus Christus erwiesene und im Evangelium verheißene Gnade Gottes ist Grund und Gegenstand des Glaubens und wirkt in der Kraft des Geistes das Vertrauen auf Gott, durch das der Mensch gerecht wird. Der Glaube wiederum ist gerecht, weil er Gottes Gerechtigkeit annimmt und darin Gott gerecht wird. Auch wenn Luther die spätere Formel von der Rechtfertigungslehre als articulus stantis et cadentis ecclesiae selbst noch nicht wörtlich geprägt hat2 , sagt er doch in den Schmalkaldischen Artikeln von der in Christi Werk gründenden Rechtfertigung allein aus Glauben: „Von diesem Artikel kan man nichts weichen oder nachgeben, Es falle Himel und Erden oder was nicht bleiben will“3 . In den Heidelberger Disputationsthesen von 1518 werden die in der Einsicht in die Rechtfertigung aus Glauben ohne Verdienste implizierten Konsequenzen für das Theologieverständnis entfaltet. Gegenüber einer theologia gloriae, die die Situation des Menschen und die Kapazität der menschlichen Vernunft in Bezug auf die Gotteserkenntnis verkennt, argumentiert Luther für eine theologia crucis und formuliert: „Nicht der wird mit Recht ein Theologe genannt, der das unsichtbare [Wesen] Gottes erblickt, das durch das erkannt wird, was gemacht ist.“4 Theologe ist vielmehr der, „der das Sichtbare und die dem Menschen zugewandte Rückseite Gottes erkennt, die durch Leiden und Kreuz erblickt wird.“5 Während der Theologe der Herrlichkeit das Schlechte gut und das Gute schlecht nenne, sage der Theologe des Kreuzes, was die Sache ist.6 Die theolo2 Vgl. zur Entwicklung der Redewendung Theodor Mahlmann, Zur Geschichte der Formel „Articulus stantis et cadentis ecclesiae“, LuThK 17 (1993), 187–194. 3 Martin Luther, Schmalkaldische Artikel, Erster Teil, in: Irene Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Vollständige Neuedition, Göttingen 2014 (=BSELK), 728,7f. 4 Martin Luther, Heidelberger Disputation (1518), These XIX, in: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Bd. 1, hg. von Wilfried Härle unter Mitarbeit von Michael Beyer, Leipzig 2006, 53. 5 Martin Luther, Heidelberger Disputation, These XX, in: aaO., 53. Daraus ergibt sich für die Frage nach dem Gegenstand der Theologie, was Luther in Ennaratio Psalmi LI (1532) festhält: „Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica. Et ita cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator. quicquid extra istud argumentum vel subiectum quaeritur, hoc plane est error et vanitas in Theologica.” Siehe D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe (=WA), Band 40 II (Weimar 1914), 327,11–328,3. 6 Martin Luther, Heidelberger Disputation, These XXI, in: aaO., 52: „Theologus gloriae dicit, Malum bonum, et bonum malun, Theologus crucis dicit, id quod res est.“

Theologia crucis?

gia crucis enthält mithin die rechtfertigungstheologisch fundierte Kritik einer theologia gloriae, im Rahmen derer der Mensch meint, Gott mit den Mitteln der Vernunft in seiner Herrlichkeit erkennen zu können. Sie geht einher mit einer Kritik der aristotelischen Philosophie und der Erkenntnismöglichkeit der menschlichen Vernunft. Diese rechtfertigungstheologische Vernunftkritik stellt den einen Pol von Luthers Kreuzestheologie dar. Der zweite Pol der Kreuzestheologie liegt im Verständnis des Kreuzesleidens Jesu Christi selbst. Dieses versteht Luther nicht nur als Satisfaktionsleistung für die Sünde, sondern als stellvertretendes Strafleiden.7 Er unterläuft damit nicht nur den Anselmschen Grundsatz ‚satisfactio aut poena‘, sondern auch den Grundsatz, dass Jesus Christus am Kreuz nur nach seiner menschlichen Natur leidet. Luthers Theologie des Kreuzes ist vielmehr getragen von dem Gedanken, „daß im Sterben dieses Menschen Gott selbst sich ins Elend begibt“8 . Dass Gott selbst in Christus den Tod auf sich nimmt, ist für Luther soteriologisch deshalb so wichtig, weil nur dann Gewissheit besteht, dass die Macht des Todes wirklich und endgültig gebrochen ist, wenn Gott selbst in Jesus Christus den Tod verschlungen und besiegt hat. So heißt es in der berühmten Passage in Von Konziliis und Kirchen, die später in der Konkordienformel zitiert wird: „Denn wir Christen müssen das wissen, wo Gott nicht mit in der wage ist und das gewichte gibt, so sincken wir mit unser schüssel zu grunde, Das meine ich also: Wo es nicht solt heissen, Gott ist fur uns gestorben, sondern allein ein Mensch, so sind wir verloren, Aber wenn Gottes tod und Gott gestorben in der wageschüssel ligt, so sincket er unter und wir faren empor, als eine leichte ledige schüssel, Aber er kan auch wol auch wider emporfaren oder aus seiner schüssel springen. Er kündte aber nicht in die schüssel sitzen, Er müste uns gleich ein mensch werden, das es heissen kündte, Gott gestorben, Gottes marter, Gottes blut, Gottes tod, Denn Gott in seiner natur kann nicht sterben, Aber nu Gott und Mensch vereiniget ist in einer Person, so heissts recht Gottes tod, wenn der mensch stirbt, der mit Gott ein Ding oder eine Person ist“9 .

Weil Gott im Leiden des Sohnes am Kreuz und der Auferweckung die Macht des Todes selbst gebrochen und überwunden hat, sind Kreuz und Auferstehung nach Luther Grund der Erlösung des Menschen. Entsprechend kann Luther in den Tischreden pointiert sagen, Christus sei der adäquate Gegenstand der Theologie.10 7 Vgl. dazu Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, Bd. 1, München 1984, 62–73. 8 So formuliert Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, Bd. 1, 65. 9 WA 50, 590,11–22. Vgl. FC VIII, BSLK 1030,43–1031,16. Vgl. zu diesem Gedanken der Teilhabe der göttlichen Natur „an allen Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur“ Reinhard Schwarz, Gott ist Mensch. Zur Lehre von der Person Christi bei den Ockhamisten und bei Luther, ZThK 69 (1966), 289–351, hier: 312. 10 Vgl. Martin Luthers Tischreden, Nr. 1868: „Omnes universitates ignorarunt suiectum theologiae ante nostra tempora: Wovon sie reden sollen. Paulus nominat subiectum theologiae Rom.

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Im Hintergrund dieses Verständnisses des Kreuzestodes als Tod Gottes stehen Luthers Überlegungen zur Personeinheit Jesu Christi11 , die er in der abendmahlstheologischen Debatte mit Zwingli entwickelt hat und die als konsequente Auslegung des christologischen Dogmas von Chalcedon 451 zu verstehen sind. Die im christologischen Dogma bekannte Einheit der Person in den Naturen ist für Luther die christologische Maxime, die er Zwingli entgegenhält: „… wo du mir Gott hinsetzest, da mustu mir die menschheit mit hin setzen“12 . Luther versteht die Inkarnation als ein Geschehen der innigen Vereinigung des Logos mit der menschlichen Natur, ohne dies allerdings begrifflich auszubuchstabieren. Diese Aufgabe übernehmen seine Anhänger und Nachfolger – zuerst Johannes Brenz und Martin Chemnitz – in der Entwicklung der lutherischen Lehre von der communicatio idiomatum. Die Frage, wie die in der Inkarnation konstituierte Personeinheit des Erlösers so gedacht werden kann, dass die Integrität der Naturen gewahrt bleibt und die Erniedrigung nicht doketisch interpretiert werden muss, gleichwohl aber die in der Gemeinschaft der Naturen bestehende Personeinheit zu keinem Zeitpunkt des Lebens wieder aufgelöst erscheint, beschäftigt die Lutheraner bis in die Aufklärungszeit. Einig sind sie darin, dass die Personeinheit als eine durch Kommunikation von Gott und Mensch konstituierte zu denken ist. Denn sonst wäre die Person ein Drittes neben den Naturen, was in Chalcedon ausgeschlossen werden sollte. Im Verlauf der innerlutherischen Debatten zur Allgegenwart Christi und zum Verständnis der Inkarnation werden aber Differenzen in der Beurteilung der Frage manifest, wie die Allgegenwart genau zu verstehen ist und ob und in welcher Weise die Kommunikation der Naturen zwingend als reziproke zu denken ist. Dabei schält sich in der Tübinger Christologie das theologische Interesse an der Reziprozität als das die Christologie bestimmende Grundanliegen heraus. Im Hintergrund dieser gedanklichen Entwicklung stehen zum einen Luthers christologische Kernaussagen, die die Wechselseitigkeit der Kommunikation markieren und fordern. Zum zweiten wird in der Tübinger Christologie die Einsicht leitend, dass die Personeinheit des Erlösers in der Gemeinschaft der Naturen nur im Rahmen einer reziproken Kommunikation konsistent gedacht werden kann. 1.: Quem promisit Deus in scripturis per prophetas etc. Christus est subiectum theologiae, de quo dicitur: Subiectum adaequatum.“ (WA, Tischreden Bd. 2, Weimar 1913, Tischrede Nr. 1868, S. 242, 1–5). 11 Vgl. dazu Notger Slenczka, Christus, in: Albrecht Beutel (Hg.), Lutherhandbuch, Tübingen 2005, 381–392, bes. 382. 12 Das Zitat stammt aus Martin Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528), in: W26, Weimar 1909, 333, 6–7. Vgl. auch das Zitat dieser Aussage in der Konkordienformel Art. VIII, in: BSELK, 1542, 2–3. Eine moderne Übertragung der Abendmahlsschrift in Ausschnitten bietet Christopher Spehr, Bekenntnis (1528), in: Dietrich Korsch (Hg.), Martin Luther. DeutDeutsche Studienausgabe, Bd. 1: Glaube und Leben, Leipzig 2012, 551–569.

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Das impliziert wiederum, dass nicht mehr nur Kreuz und Auferstehung, sondern das Inkarnationsgeschehen als Konstitution der besonderen Person Jesu Christi als Grund der Erlösung erschlossen wird. In der vollendeten Form der Tübinger Christologie lehrt Theodor Thumm 1624, die Fleischwerdung des Logos bedeute, dass der Logos sich mit der menschlichen Natur oder essentia inniglich vereine und sich diese mit ihrem unschuldigen Leiden aneigne. Der Logos nehme die menschliche Natur und ihr Geschick nicht nur in seine Person auf, sondern in die Natur seiner Person, und zwar „in termino realissime pro modo unionis & communionis naturarum personalis & realis“13 . Was die Frage nach dem Verständnis des Kreuzesleidens betrifft, so wird zwar nicht gesagt, dass Gott in seiner Gottheit leidet und stirbt, aber es wird gesagt, dass der Logos sich die menschliche Natur mitsamt des Leidens nicht nur seiner Person, sondern der Natur seiner Person appropriiert. Jenseits der damals umstrittenen Frage, ob die Aussage im Medium der aristotelisch-metaphysischen Terminologie möglich und schlüssig ist, ist das Anliegen entscheidend, die Lebensvollzüge einschließlich des Leidens als die Person des Logos bestimmende und ihr nicht äußerlich bleibende zu denken. Zugleich ist aber auch wichtig zu sehen, dass die Tübinger Lutheraner zu diesem Gedanken nicht aus den Motiven heraus gelangt sind, die moderne Kreuzestheologien bestimmen. Das leitende Motiv war nicht, das Verständnis der göttlichen Allmacht und Allgegenwart umzuformen. Bestimmend war vielmehr die konsistente Bestimmung der Personeinheit in reziproker Kommunikation der göttlichen und menschlichen Natur. Soteriologisch war dieses Interesse wie schon in der alexandrinischen Christologie geleitet von dem Gedanken, dass sich in der Menschwerdung des Sohnes, der Erniedrigung bis zum Kreuz und Erhöhung in Auferstehung und Himmelfahrt nur dann Gottes wahres Wesen erkennen lässt, wenn sich dieses Geschehen als Offenbarung der wahren Gottheit des Sohnes verstehen lässt. Dies bringt Luther in seiner Zusammenfassung der drei Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses im Großen Katechismus mit dem Bild des Abgrundes zur Geltung: „Sihe, da hastu das gantze Göttliche wesen, willen und werck mit gantz kurtzen und doch reichen worten auffs aller feineste abgemalet, darin alle unser weisheit stehet, so uber aller 13 Theodor Thumm, Sanae de maiestate Christi theanthropou doctriinae repetitio, Tübingen 1624, 412: „Idem est ordine naturali hujus generis patet. Nam primo dum o logos caro factus est, uti essentiam seu naturam humanam assumpsit, sibi intime univit & communem fecit; sic etiam omnia illius assumptae humanae naturae innoxia pathä non suae personae, sed suae naturae in persona tanquam in termino realissime pro modo unionis & communionis naturarum personalis & realis appropriavit, unde fluit idiopoia, seu appropriatio, quae primum genus communicationis Idiomatum nobis constituit“. Siehe dazu Ulrich W. Wiedenroth, Krypsis und Kenosis. Studien zu Thema und Genese der Tübinger Christologie im 17. Jahrhundert, BhTh 162, Tübingen 2011, 512.

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Menschen weisheit, sinn und vernunfft gehet und schwebt. Denn alle Welt, wiewol sie mit allem fleis darnach getrachtet hat, was doch Gott were und was er im sinn hette und thete, so hat sie doch der keines je erlangen mögen. Hie aber hast du es alles auffs aller reichste, denn da hat er selbst offenbaret und auffgethan den tieffesten abgrund seines Veterlichen hertzens und eitel unaussprechlicher liebe in allen dreien Artickeln“14 .

2.

Pannenbergs Transformation lutherischer Kreuzestheologie

„Die Lehre von Jesus Christus bildet das Kernstück einer jeden christlichen Theologie“15 , so formuliert Pannenberg in seiner ersten Monographie Grundzüge der Christologie. Darin geht es ihm um eine „Neubegründung der Christologie“16 , die notwendig sei, weil der Gegensatz zwischen alexandrinischer und antiochenischer Christologie die Geschichte der Christologie bis in die jüngste Zeit „auf immer neuer Stufe“17 durchziehe und bisher nicht befriedigend überwunden sei. Hinzu komme aber, „daß sich seit der Aufklärung das historische Bild Jesu immer weiter von der dogmatischen Christologie überhaupt entfernt“18 habe: „Der Gottmensch des christologischen Dogmas erscheint seitdem als unvereinbar mit der menschlichen Wirklichkeit Jesu“19 . Entsprechend sieht Pannenberg die zentrale Aufgabe der Christologie darin, „aus der Geschichte Jesu die wahre Erkenntnis seiner Bedeutung zu begründen, die sich zusammenfassend durch den Ausdruck umschreiben läßt, daß in diesem Menschen Gott offenbar ist“20 . Dies impliziert nach Pannenberg für die Methode der Christologie die Aufgabe, „in der menschlichen Wirklichkeit Jesu die Konturen seiner göttlichen Sohnschaft zu entdecken“21 und die Gottheit Jesu christologisch nicht schon vorauszusetzen, wie dies in der traditionellen Christologie bis in die Aufklärungszeit hinein selbstverständlich geschah22 . Gegenüber einer solchen Chris14 BESLK 1066,27 – 1668,7. Vgl. dazu Friederike Nüssel, Das Konkordienbuch und die Genese einer lutherischen Tradition, in: Peter Gemeinhardt/Bernd Oberdorfer (Hg.), Gebundene Freiheit? Bekenntnisbildung und theologische Lehre im Luthertum, LKGG 25, Gütersloh 2008, 62–83. 15 Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, 1. Aufl. Gütersloh 1964, 2. veränderte Aufl. Gütersloh 1966, Zitat hier: 13. 16 Pannenberg, Grundzüge, Vorwort, 9. 17 Pannenberg, Grundzüge, 9. 18 Pannenberg, Grundzüge, 9. 19 Pannenberg, Grundzüge, 9. 20 Pannenberg, Grundzüge, 23, vgl. insgesamt 15–24. 21 Pannenberg, ST 2, 362, Hervorhebung FN. 22 Zu den drei Gründen, aus denen nach Pannenberg eine Christologie ‚von oben‘ nicht mehr möglich ist, vgl. ders., Grundzüge, 28f.

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tologie ‚von oben‘, die „von der Trinitätslehre […] ausgeht und die Frage stellt, wie die zweite Person der Trinität (der Logos) eine menschliche Natur angenommen habe“23 , entwickelt Pannenberg in den Grundzügen der Christologie die Methode einer Christologie ‚von unten‘. Sein erklärtes Ziel ist es dabei, aus der Rekonstruktion der Geschichte Jesu heraus „die Gründe für das Bekenntnis zur Gottheit Jesu darzulegen“24 . Solche Rechenschaft ist theologisch nach Pannenberg deshalb von hoher Bedeutung, weil die Gottheit Jesu „die Voraussetzung seiner Heilsbedeutung für uns“25 darstellt. Damit ist der enge Zusammenhang von Christologie und Soteriologie benannt, der auch bei Luther deutlich wurde. In vielen modernen christologischen Entwürfen beobachtet Pannenberg dabei, „daß vom soteriologischen Interesse her die Christologie konstruiert“26 und die Christologie – wie bei Paul Tillich offen ausgesprochen27 – zur Funktion der Soteriologie wird. Wenn dabei die soteriologische Bedeutsamkeit der Person Jesu jenseits der historischen Frage als relevant angesehen werde, bestehe die Gefahr der Projektion. Demgegenüber macht Pannenberg geltend: „Jesus hat Bedeutsamkeit ‚für uns‘ nur, sofern ihm selbst, seiner Geschichte und seiner durch sie konstituierten Person diese Bedeutsamkeit innewohnt. Nur wenn sich das zeigen läßt, können wir sicher sein, daß wir nicht nur unsere Fragen, Wünsche und Gedanken seiner Gestalt anheften“28 .

Aus der Diskussion zu seinem ersten christologischen Entwurf in den Grundzügen gewann Pannenberg wichtige Anregungen zur Fortentwicklung der christologischen Begründungsstruktur, die in die Konzeption der Christologie in der Systematischen Theologie29 eingegangen sind. So rekurriert Pannenberg hier in der Rekonstruktion des Überlieferungsprozesses nicht mehr nur auf die Berichte vom Leben Jesu, sondern auf „den gesamten traditionsgeschichtlichen Prozess vom Auftreten des historischen Jesus über seinen Tod und die Auferstehungsbotschaft der Apostel bis hin zur Ausbildung des christologischen Dogmas und zur gegenwärtigen christologischen Diskussion im Kontext der Gesamttheologie“30 .

23 24 25 26 27 28 29 30

Pannenberg, Grundzüge, 28. Pannenberg, Grundzüge, 28, Hervorhebung FN. Pannenberg, Grundzüge, 32. Pannenberg, Grundzüge, 42. Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, Berlin/New York 1958, 163. Pannenberg, Grundzüge, 42. Pannenberg, ST 1, Kap. 10: „Die Gottheit Jesu Christi“. Vgl. Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 164.

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Damit verbunden werden in der Systematischen Theologie die Christologie ‚von unten‘ und eine Christologie ‚von oben‘ explizit in ein komplementäres Verhältnis zueinander gebracht.31 Denn die Christologie ‚von unten‘ „rekonstruiert lediglich die offenbarungsgeschichtliche Basis, die die klassische Christologie faktisch immer schon vorausgesetzt hat, ohne sie eigens zu explizieren. Nur unter methodischem Gesichtspunkt kommt der Argumentation ‚von unten‘ ein Vorrang zu, – vorausgesetzt natürlich, dieses Verfahren führt zu dem Ergebnis, daß der Inkarnationsgedanke nicht eine Verfälschung, sondern eine sachgemäße Entfaltung der schon dem Auftreten und der Geschichte Jesu implizit eigenen Bedeutung ist. Dann gilt: Den sachlichen Primat hat der ewige Sohn, der durch seine Inkarnation in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist“32 .

Mit der herkömmlichen Christologie teilt Pannenberg zwar die Auffassung, dass aus „der Perspektive des Ostergeschehens die Erzeugung und Geburt Jesu als der Eintritt des ewigen Gottessohnes in die Verbindung mit diesem Menschenleben“33 zu verstehen ist. Doch wie er in der Systematischen Theologie deutlich macht, bedeutet das nicht, dass die Inkarnation als „ein mit der Geburt Jesu auch bereits abgeschlossenes Ereignis“34 zu verstehen wäre. Die „Aussage über die Inkarnation des ewigen Sohnes in Jesus von Nazareth“35 beziehe sich vielmehr „auf das Ganze seiner irdischen Geschichte, nicht nur auf ihren Beginn“36 . Waren in der altkirchlichen, mittelalterlichen und altprotestantischen Christologie der Akt der Annahme der menschlichen Natur durch den Logos und die Vereinigung der Naturen zu der einen Person des Erlösers als Voraussetzung seiner Lebensgeschichte in Erniedrigung und Erhöhung verstanden worden37 , so setzt sich nach Pannenberg „die Vereinigung des Logos mit diesem Menschenleben […] in der ganzen irdischen Geschichte Jesu fort, indem durch das Verhältnis Jesu zum Vater der ewige Gottessohn in ihm Gestalt gewinnt.“38 Dabei müsse 31 32 33 34 35 36 37

Vgl. Pannenberg, ST 2, 327. Pannenberg, ST 2, 327. Pannenberg, ST 2, 427. Pannenberg, ST 2, 427. Pannenberg, ST 2, 428f. Ebd. Nach Pannenberg kennzeichnet es die Problematik des traditionellen Inkarnationsverständnisses, dass die Inkarnation „unvermittelt als ein Akt der Annahme menschlicher Natur durch den Logos vorgestellt“ (Pannenberg, ST 2, 428) wird. Demgegenüber geht es Pannenberg darum, „die Verbindung des ewigen Sohnes mit diesen Menschenleben … vermittelt durch das Verhältnis Jesu zum Vater“ (ebd.) zu denken. 38 Pannenberg, ST 2, 427. „Bedingung der Möglichkeit der Inkarnation als Vereinigung des Sohnes mit einem individuellen Menschenleben“ ist dabei das „besondere Verhältnis der menschlichen Natur zum Logos als ihrem schöpferischen Ursprung“ (Pannenberg, ST 2, 430).

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„die kreatürliche Selbständigkeit der menschlichen Geschichte Jesu […] als Medium der Inkarnation gedacht werden, aber so, daß die Konstitution der Person Jesu sich im ganzen Prozeß dieser Geschichte vollzieht: Sonst wäre Jesus ja zuerst bloßer Mensch und würde erst später zum Sohne Gottes durch Vereinigung seiner menschlichen Person mit ihm“39 .

Pannenbergs auf den gesamten Lebensprozess Jesu bezogenes Verständnis der Inkarnation geht mit einer grundlegenden Reformulierung der chalcedonensischen Zwei-Naturen-Lehre einher. In Übereinstimmung mit der schon von Apollinaris von Laodicea im 4. Jahrhundert vorgetragenen und dann vor allem von Friedrich Schleiermacher wirksam vertretenen Auffassung hält Pannenberg fest, dass „(z)wei in sich vollkommene (und daher selbständig existierende) Wesenheiten [...] keine Einheit bilden“40 können. „Göttliches und Menschliches in Jesus Christus“ ließen sich daher „nicht als zwei ‚Naturen‘“ denken, „die ontologisch auf der gleichen Ebene stünden und außer ihrer Verbindung in der Person des Gottmenschen nichts miteinander zu tun hätten“41 . Die Aporien der Zwei-Naturen-Lehre und damit auch die in der Christologie seit den Auseinandersetzungen zwischen Alexandria und Antiochien iterierende Debatte zwischen Einigungs- und Trennungschristologie lassen sich vielmehr nach Pannenberg nur vermeiden, wenn die Gottheit Jesu nicht als „etwas Zusätzliches zu dieser menschlichen Lebenswirklichkeit“42 aufgefasst wird. Das wiederum sei aber nur möglich, wenn es gelinge, „in der menschlichen Lebenswirklichkeit Jesu die Konturen seiner göttlichen Sohnschaft zu entdecken, die dann auch als ewige Sohnschaft seinem geschichtlich-irdischen Dasein vorausgeht und sogar als schöpferischer Grund dieses seines menschlichen Daseins zu denken ist“43 . Entsprechend rekonstruiert Pannenberg die „Grundlagen für die Behauptung der Einheit Jesu mit Gott“44 aus den neutestamentlichen Berichten vom Auftreten und Geschick Jesu. Den Ausgangspunkt bildet Jesu Botschaft vom nahen Reich Gottes45 , die eine besondere Nähe Jesu zu Gott impliziert und, unterstrichen von Zeichenhandlungen und der Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, einen impliziten Vollmachtsanspruch46 enthält. Denn indem Jesus verkündigte, „daß das eschatologische Heil der Gottesherrschaft für den, der 39 40 41 42 43 44 45

Pannenberg, ST 2, 428f, Anm. 173. Pannenberg, ST 2, 429. Pannenberg, ST 2, 429. Pannenberg, ST 2, 365. Pannenberg, ST 2, 365. Hervorhebung FN. Pannenberg, ST 2, 365. Pannenberg, ST 2, 366. Im Unterschied zu der ebenfalls auf die Zukunft Gottes konzentrierten Gerichtsbotschaft Johannes’ des Täufers beinhalte in Jesu Botschaft „die Zukunft Gottes das Kommen seiner Herrschaft“ (ebd.) und sei „wesentlich Heilsbotschaft“ (aaO., 367). 46 Vgl. zum impliziten bzw. faktischen Vollmachtsanspruch Pannenberg, ST 2, 367–374.

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Jesu Botschaft annahm, schon gegenwärtig anbreche“47 , präsentierte er sich faktisch als der „Mittler des Heils der Gottesherrschaft“48 . Von entscheidender Bedeutung für Pannenbergs Rekonstruktion der Geschichte Jesu ist es nun, dass „das Ärgernis an Jesu Botschaft und Verhalten nicht zufällig entstand, sondern aus der Zweideutigkeit, in die die Person Jesu durch diese seine Botschaft geriet“49 , resultierte. Denn im Kontext des zeitgenössischen Judentums habe das Auftreten Jesu den Verdacht auf sich ziehen müssen, „daß er sich selbst die Autorität und Vollmacht anmaßte, die doch in Wahrheit nur als Widerschein seiner Gottesverkündigung auf ihn fiel“50 . Indem Jesus im Lichte seiner Botschaft selbst „als Heilbringer erschien und zum Anlaß eschatologischer Entscheidung wurde“51 , habe er sich „den Vorwurf der Gotteslästerung (Mk 2,7) wegen angemaßter Gottgleichheit“52 also zwangsläufig zugezogen. So sei mit seinem impliziten Vollmachtsanspruch die Frage nach Jesu Einheit mit dem Vater zur Streitfrage seiner Geschichte geworden.53 Mit Blick auf die dem Auftreten Jesu inhärierende Zweideutigkeit sei dabei der Versuch einer „Feststellung jüdischer Schuld am Tode Jesu“54 gänzlich unangebracht. In der Betrachtung des Geschicks Jesu muss es nach Pannenberg theologisch vielmehr allein darum gehen, den inneren Zusammenhang zwischen der Zweideutigkeit hinsichtlich der Person Jesu „und der daraus motivierten Ablehnung, Verhaftung und Übergabe an Pilatus zur Aburteilung als Aufrührer“55 zu verstehen. Denn so werde es im Lichte der Auferweckung möglich, diesen gesamten Geschehenszusammenhang „auf die göttliche Sendung Jesu und damit letztlich auf Gott selbst zurück“56 zu führen. „Wenn Ärgernis und Kreuz die (vorläufigen) Konsequenzen des Anspruchs waren, den die Botschaft Jesu hinsichtlich seiner eigenen Person implizierte, dann hat gerade die Gegenwart Gottes in ihm (als einem bloßen Menschen) ihn ans Kreuz gebracht und in die Situation der Gottverlassenheit geführt“57 . 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Pannenberg, ST 2, 375. Pannenberg, ST 2, 375. Pannenberg, ST 2, 384. Pannenberg, ST 2, 375. Hervorhebung FN. Pannenberg, ST 2, 376. Pannenberg, ST 2, 376. Vgl. Pannenberg, ST 2, 374ff. Pannenberg, ST 2, 384. Pannenberg, ST 2, 384. Vgl. aaO., 379: „Die Offenheit der Frage nach eine Bewährung des unerhörten Anspruchs für seine eigne Person, den das Auftreten und Wirken Jesu implizierte, ist für die Christologie wichtig, weil die damit verbundene Zweideutigkeit die ihm begegnende Ablehnung und damit den Leidensweg bis hin zum Kreuz als ein mit seiner Sendung wesentlich und nicht nur zufällig verbundenes Geschick erweist“. 56 Pannenberg, ST 2, 384. 57 Pannenberg, ST 2, 384f.

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Da Jesu Botschaft die nahe, in seiner Verkündigung bereits anbrechende Gottesherrschaft zum Inhalt hatte, konnte die Überwindung der Kontroverse um seine Person wiederum nur in Gestalt einer Bestätigung Gottes bzw. „durch das Eintreffen des angekündigten Ereignisses“58 erwartet werden. Entsprechend bedeutet die Auferweckung Jesu von den Toten durch den Vater im Geist nach Pannenberg „die Aufhebung der Verwerfung Jesu und seiner Botschaft“59 und damit „die Rechtfertigung Jesu“60 . Entscheidend ist für Pannenbergs Verständnis der Auferstehung dabei zunächst, dass sich das Faktum der Auferstehung und der Bedeutungsgehalt dieses Geschehens für den christlichen Glauben nicht voneinander trennen lassen61 und dass die Auferweckung „nicht anders als von Gott her geschehen verstanden werden kann“62 . Die in der Auferstehung geschehene Bestätigung besage dabei „mehr als lediglich die Enthüllung einer Bedeutung, die der Person und Geschichte Jesu auf dem Wege zu seinem Kreuzestod schon vorher eigen war, so daß sie Jesus auch ohne das Ostergeschehen zukäme“63 . Gegen Bultmanns „These, die Auferstehung sei ‚der Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes‘“,64 macht Pannenberg geltend, es werde „erst durch das Ostergeschehen über die Bedeutung der vorösterlichen Geschichte Jesu und über seine Person in ihrem Verhältnis zu Gott definitiv entschieden“65 . Dazu aber müsse „das Ostergeschehen zunächst einmal ein Ereignis von eigenem Gewicht und Inhalt sein, eben Auferstehung von den Toten zu einem neuen Leben mit Gott“66 . Nur wenn die Auferstehung als Ereignis „tatsächlich stattgefunden“67 habe, sei auch die „über Jesu Person und Geschichte liegende Zweideutigkeit aufgelöst und beseitigt“68 . Die in sieben Schritten entwickelte historische Argumentation für die Tatsächlichkeit der Auferstehung muss hier nicht nachgezeichnet werden.69 Wichtig ist zum einen das elementare Anliegen, die Auferstehung Jesu im Einklang mit dem neutestamentlichen Zeugnis als

58 59 60 61

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Pannenberg, ST 2, 377. Pannenberg, ST 2, 385. Pannenberg, ST 2, 385. Pannenberg betont, dass die Auferweckung Jesu als Grund des christlichen Glaubens nur „in ihrem Rückbezug auf die irdische Sendung Jesu und seinen Kreuzestod“ (Pannenberg, ST 2, 385) ihre Bedeutung gewinnt. Dieser sei dabei „nicht etwas, was zu dem Ereignis der Auferweckung Jesu noch hinzukäme“ (ebd.). Pannenberg, ST 2, 385. Pannenberg, ST 2, 386. Pannenberg, ST 2, 387. Pannenberg, ST 2, 387. Pannenberg, ST 2, 387. Pannenberg, ST 2, 387. Pannenberg, ST 2, 387. Vgl. dazu Pannenberg, ST 2, 387–405.

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Grund für die Hoffnung auf eine zukünftige leibliche Auferstehung der Menschen zu verstehen. Zum anderen zielt die Argumentation für die Auferstehung als ein eigenes, vom Kreuz unterschiedenes Ereignis darauf, die Auferweckung als Überwindung der Zweideutigkeit der Geschichte Jesu durch Gott selbst 70 und darin als Selbsterweis der Gottheit Gottes zu denken. Die Auferweckung Jesu bedeutet somit nach Pannenberg nicht nur die „Zurückweisung der gegen ihn vorgebrachten Anklage“71 und den Erweis der „Messianität des Gekreuzigten“72 , sondern bestätigt vor allem auch, dass Jesus „schon in seinem irdischen Wirken in der Autorität des Vaters handelte, so daß des Vaters Königsherrschaft in ihm gegenwärtig wurde: Schon in seinem irdischen Auftreten war er der Sohn des Vaters, wenngleich er erst durch seine Auferweckung in die Machtstellung des Sohnes eingesetzt wurde“73 .

Aus Gottes Bestätigung der Verkündigung Jesu in der Auferweckung resultiert für Pannenberg schließlich, dass Jesus nicht nur „in göttlicher Vollmacht handelte, sondern auch, daß Gott von Ewigkeit her der ist, als den Jesus ihn verkündigt hat“74 . Damit aber geht es in der Geschichte Jesu nicht nur um die Bewährung seiner Botschaft und seiner Einheit mit Gott, sondern ebenso um die Gottheit Gottes als des Vaters. Ist nämlich „der Vater in Ewigkeit der, als der er im Verhältnis zu Jesus, seinem Sohn, und durch ihn geschichtlich offenbar ist, dann gehört auch umgekehrt der Sohn in Ewigkeit zum Vater, kann der Vater nicht ohne den Sohn gedacht werden“75 . Mithin lässt sich die in der Geschichte

70 „Die ‚Einsetzung‘ in die Sohnschaft durch die Auferweckung (Röm 1,4) ist … als Ausdruck der Bestätigung der Autorisierung von Jesu Sendung durch Gott selbst zu verstehen“ (Pannenberg, ST 2, 407). 71 Pannenberg, ST 2, 406. 72 Pannenberg, ST 2, 408. 73 Pannenberg, ST 2, 408. 74 Pannenberg, ST 2, 410. 75 Pannenberg, ST 2, 410. Vgl. aaO., 413f: „Die Annahme einer Präexistenz des Gottessohnes, der in Jesu Verhältnis zum Vater geschichtlich in Erscheinung trat, ist unausweichlich, wenn nicht nur die Gemeinschaft Jesu mit dem ewigen Gott behauptet, sondern auch an der Bindung der ewigen Identität des von Jesus verkündeten Vatergottes an die Beziehung zu Jesus als seinem Sohn festgehalten werden soll. … Wenn aber die Beziehung zu einem Menschen konstitutiv sein soll für die ewige Identität Gottes selbst, dann muß das Korrelat dieser Beziehung selber ewig sein, und daraus ergibt sich die Präexistenz des Sohnes.“ Allerdings konnte die Präexistenz theologisch auch als „eine bloß ‚ideelle Präexistenz‘ göttlicher Schöpfungsgedanken vor ihrer menschlichen Realisierung“ (aaO., 414) verstanden werden. Demgegenüber habe erst Athanasius das entscheidende Argument für ein reales Verständnis der Präexistenz entwickelt, „daß der Vater nicht Vater wäre ohne den Sohn und daher nie ohne den Sohn war“ (aaO., 414).

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Jesu sich vollziehende Inkarnation des Gottessohnes rückblickend von der Auferstehung Jesu her als in der Ewigkeit Gottes begründet verstehen, in der Gott der Vater des Sohnes in der Gemeinschaft des Geistes ist. Mit dieser Überlegung kann Pannenberg dann die neutestamentlichen Präexistenzaussagen über den Sohn Gottes systematisch aufnehmen und von da aus die Selbstentäußerung und Selbsterniedrigung des Sohnes interpretieren, die im Philipperhymnus bekannt wird.76 Diese vollziehe sich in der durchgängigen Selbstunterscheidung Jesu vom Vater, die ihre „äußerste Zuspitzung“ in der „Gottesferne des Kreuzes Jesu“77 erreiche. Die Kenose des Sohnes in seiner Hingabe im Gehorsam gegen seine Sendung wiederum diene „dem Nahekommen des Vaters und ist darum Ausdruck der göttlichen Liebe, weil in der Nähe Gottes und in der Teilhabe an seinem Leben die Menschen zu ihrem Heil gelangen“78 . 3.

Konsequenzen für das Verständnis des christlichen Gottesgedankens

Pannenbergs aus der Rekonstruktion der Geschichte Jesu gewonnenes Verständnis der Inkarnation des Gottessohnes zum Heil der Menschheit antwortet auf eine nachaufklärerische Problemkonstellation und mag auf den ersten Blick wenig an Luther erinnern. Auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich, dass Pannenberg in seiner Konzentration auf die Einheit Jesu mit Gott unter den Bedingungen moderner historischer Kritik an Luthers Verständnis der in der innigsten Gemeinschaft von Gottheit und Menschheit gründenden Personeinheit des Erlösers anknüpft. Entscheidend ist dafür die Pannenbergs Christologie leitende These, Jesu Gottheit sei „nicht etwas Zusätzliches zu dieser menschlichen Lebenswirklichkeit, sondern der Reflex, der von der menschlichen Beziehung Jesu zu Gott dem Vater auf sein eigenes Dasein fällt, allerdings auch auf das ewige Sein Gottes“79 . Umgekehrt sei „die Annahme menschlichen Daseins durch den ewigen Sohn nicht als Hinzunahme einer seiner Gottheit wesensfremden Natur vorzustellen, sondern als das von ihm selber geschaffene Medium seiner äußersten Selbstrealisierung in Konsequenz seiner freien Selbstunterscheidung vom Vater, also als Vollzugsform seines ewigen Sohnseins“80 .

76 77 78 79 80

Vgl. dazu Pannenberg, ST 2, 419f. Pannenberg, ST 2, 418. Pannenberg, ST 2, 422. Pannenberg, ST 2, 365. Pannenberg, ST 2, 365.

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Für das entsprechende Verständnis der Personeinheit Jesu ist konstitutiv, dass dieses nicht mehr wie in der traditionellen Auslegung der Zwei-Naturen-Lehre die Unterscheidung der zwei Naturen als zweier unabhängig voneinander existierender Substanzen voraussetzt. Vielmehr wird für Pannenberg die Aussage, dass Jesus „zugleich wahrhaft Mensch und wahrhaft Gott“81 ist, nur im Rekurs auf die Jesu Lebensprozess bestimmende Selbstunterscheidung vom Vater möglich, in der sich sein wahres Menschsein und zugleich seine ewige Gottheit nicht nur manifestiert, sondern auch realisiert. Nur in der Geschichte Jesu „als der konkrete(n) Form der menschlichen Wirklichkeit Jesu […] hat er die Identität seines Personseins. In ihrem Vollzug ist er der Sohn des Vaters, so daß von dem einen und selben Jesus Christus beides zu sagen ist: er war und ist (nun als der vom Kreuzestode Auferstandene und Erhöhte) wahrhaft Mensch und wahrhaft Gott. In diesem und nur in diesem Sinne hat auch die sonst mißverständliche Rede von zwei Naturen dieser einen Person ihre Wahrheit“82 .

Die Bedingung der Möglichkeit für die „Vereinigung des Sohnes mit einem individuellen Menschenleben“83 und damit für die Personeinheit des Erlösers erblickt Pannenberg dabei in dem besonderen Verhältnis der menschlichen Natur zum Logos. Nicht nur sei „der Mensch seiner ‚Natur‘ nach von Gott als dem Schöpfer abhängig“84 , vielmehr sei „die menschliche Natur als solche […] zur Inkarnation des ewigen Sohnes in ihr bestimmt“85 . Denn die geschöpfliche Selbständigkeit, die der Mensch dem Logos als dem generativen Prinzip der Andersheit86 verdanke, bestimme und befähige ihn dazu, „Gott von sich und sich von Gott zu unterscheiden, so daß die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater in ihm Gestalt gewinnen kann“87 . Von daher sei das Ereignis der Inkarnation der menschlichen Natur nicht fremd, auch wenn die Realisierung der menschlichen Bestimmung in der adäquaten Selbstunterscheidung von Gott für den Menschen gerade nicht von sich aus möglich werde, sondern nur durch den Geist Gottes als dem „Prinzip der schöpferischen Gegenwart des transzendenten Gottes“88 , der in der Interaktion mit dem Vater und dem

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Pannenberg, ST 2, 433. Pannenberg, ST 2, 430. Pannenberg, ST 2, 430. Pannenberg, ST 2, 429. Pannenberg, ST 2, 429. Zu dieser Auslegung der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes vgl. Pannenbergs Rekonstruktion des trinitarischen Schöpfungsaktes im Kapitel 7 der Systematischen Theologie über „Die Schöpfung der Welt“, hier bes. 36–45. 87 Pannenberg, ST 2, 429. 88 Pannenberg, ST 2, 47.

Theologia crucis?

Sohn eine ekstatische89 , „die eigene Endlichkeit transzendierende Teilhabe an Gott“90 ermögliche. Mit dem Rückgriff auf den trinitarischen Ursprung des göttlichen Schöpfungshandelns wird dabei nicht nur die Aussage fundiert, dass die menschliche Natur zur Inkarnation des Sohnes bestimmt ist. Es wird auch deutlich, dass Gottes schöpferisches Handeln im Ereignis der Inkarnation kulminiert, das sich dem fortgesetzten schöpferischen Handeln Gottes verdankt und auf die dauerhafte Selbständigkeit und Freiheit des Menschen in der Selbstunterscheidung von Gott als seinem Schöpfer zielt. Die Inkarnation ist nach Pannenberg dabei nicht nur der menschlichen Natur nicht fremd. Sie ist auch Gott in seiner Gottheit weder fremd, noch bleibt sie ihm äußerlich. Denn indem Gott der Welt durch die Inkarnation offenbar werde und durch sie die Schöpfung „in die trinitarische Gemeinschaft“91 einbeziehe, sei die „Menschwerdung des Sohnes […] für die Gottheit des trinitarischen Gottes nicht belanglos“92 . In ihr komme vielmehr die Selbstbindung Gottes an seine Schöpfung und insbesondere an den Menschen zum Tragen, zu der Gott sich in seinem Wesen bestimmt habe. Diese Überlegung wiederum entspricht dem soteriologischen Sinn der lutherischen Inkarnationslehre, der zufolge die Fleischwerdung des Logos die bedingungslose, rückhaltlose und endgültige Annahme der menschlichen Natur bedeutet, sodass der Logos nach der Inkarnation nicht mehr auch noch außerhalb der menschlichen Natur existiert. Bleibt die Frage, wie sich Pannenberg zu der Frage nach der Teilnahme Gottes am Leiden verhält, die die lutherische Theologie im Anschluss an Luther – wie oben gezeigt – aus soteriologischen und inkarnationstheologischen Motiven heraus beschäftigt hat. In seiner Auseinandersetzung mit dem Gedanken „der schon bei Gregor von Nazianz gelehrten gegenseitigen Einwohnung (Perichorese)“93 und dessen Auslegung durch die lutherische Lehre von der Idiomenkommunikation betont Pannenberg einerseits, der Gottessohn nehme „im Gang der Geschichte Jesu […] teil an den mit seiner menschlichen Daseinsform verbundenen kreatürlichen Beschränkungen, Bedürfnissen und Leiden. Das ergibt sich zwanglos als Konsequenz aus der Selbstunterscheidung des ewigen Sohnes vom Vater als dem einen Gott, einer Bewegung, die in der Menschwerdung des Sohnes und im Leidensgehorsam Jesu ihre äußerste Tiefe erreichte“94 .

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Pannenberg, ST 2, 48. Pannenberg, ST 2, 47. Pannenberg, ST 2, 433. Pannenberg, ST 2, 433. Pannenberg, ST 2, 431. Pannenberg, ST 2, 432.

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Von daher kann er sagen, am Kreuz sei „der Sohn Gottes selbst gestorben, nicht nur die von ihm angenommene Menschheit“95 . Andererseits aber hebt er in kritischer Abgrenzung von „Hegels These vom Tode Gottes selbst am Kreuz“96 hervor, der Sohn Gottes habe „den Tod erlitten in seiner menschlichen Wirklichkeit und gerade nicht hinsichtlich seiner Gottheit“97 . Vielmehr habe die menschliche Wirklichkeit Jesu „im Tode Jesu den äußersten Punkt ihrer Selbstunterscheidung vom Vater [erreicht], durch die der ewige Sohn zugleich mit dem Vater verbunden ist, so daß auch seine Menschheit nicht im Tode bleiben konnte“98 . Wenn Pannenberg vom Tod des Sohnes Gottes, aber nicht vom Tod der Gottheit spricht, so erinnert dies an die lutherische Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Natur99 , mit Hilfe derer in der Entfaltung der Idiomenkommunikation von einem Leiden Gottes in Person bzw. hinsichtlich der konkreten Natur, aber nicht von einem Leiden der Gottheit Gottes gesprochen werden konnte. Aber damit ist noch nicht der volle Umfang erschlossen, in dem Pannenberg das Anliegen der lutherischen Inkarnationslehre aufnimmt. Entscheidend ist zudem, dass nach Pannenberg der Vater mit „der Übertragung seiner Macht auf den in Jesus erschienenen Sohn […] seine eigene Gottheit vom Gelingen der Sendung des Sohnes abhängig gemacht hat“.100 Indem die „Ablehnung, die dem Sohn widerfährt, […] auch das Königtum des Vaters in Frage“101 stellt, kann von einem solchen Mitleiden des Vaters im Leiden des Sohnes gesprochen werden, das Gott keineswegs äußerlich bleibt. Gott lässt seine Königsherrschaft in der Menschwerdung Jesu vielmehr so anbrechen, dass es zur Versöhnung zwischen Gott und Mensch erst kommt mit der „Annahme der Königsherrschaft Gottes“102 und erst „mit der Versöhnung der Welt das Reich Gottes in seiner Schöpfung aufgerichtet wird“103 . Gottes Selbstoffenbarung in der Sendung des Sohnes bedeutet darum nach Pannenberg, dass Gott sich selbst bestimmt „als den in der Welt Abwesenden, 95 96 97 98 99

Pannenberg, ST 2, 432. Pannenberg, ST 2, 432. Pannenberg, ST 2, 432. Pannenberg, ST 2, 432f. Vgl. dazu Walter Sparn, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts, CThM 4, Stuttgart 1976, hier bes. 81f und 95. Zur Anwendung der Unterscheidung in der lutherischen Theologie der Frühaufklärung vgl. Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, FSÖTh 77, Göttingen 1996, 98ff. und 124. 100 Pannenberg, ST 2, 435. 101 Pannenberg, ST 2, 435. 102 Pannenberg, ST 2, 435. 103 Pannenberg, ST 2, 435.

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der nur durch den Sohn in der Welt gegenwärtig ist“104 . Diese Selbstvergegenwärtigung Gottes geschieht – wie gezeigt – im Medium der zweideutigen Geschichte eines Menschen, dessen Lebensweg die Frage aufwirft, ob er ein Gotteslästerer oder Gottes Sohn war. Damit ist nicht nur Gottes Gegenwart in ihm strittig, sondern zugleich auch die Wirklichkeit des Gottes, den Jesus verkündigt hat. Wie Jesus in seiner Wirksamkeit und dem in dieser Wirksamkeit implizierten Vollmachtsanspruch auf die Bestätigung durch Gott in der Auferweckung angewiesen ist, so ist die Bedeutung der Auferweckung als proleptischer Vorausdarstellung des eschatologischen Heils angewiesen auf die Bewahrheitung durch die endgültige Durchsetzung der Gottesherrschaft. Der Gedanke, dass Gottes Wirklichkeit bis zum endgültigen Selbsterweis der Wahrheit Gottes durch die Heraufführung des Reiches Gottes strittig ist, bestimmt die gesamte Systematische Theologie Pannenbergs. Mit der Anerkennung der Strittigkeit der Geschichte Jesu als Offenbarung Gottes kann Pannenberg der philosophischen Diskussion zum Gottesgedanken in der Neuzeit ebenso Rechnung tragen wie dem Streit der Religionen über die Wahrheit ihrer Gottes- und Heilsvorstellungen. Der theologische Grund dafür, dass nach Pannenberg Gottes Wirklichkeit als strittige zu beschreiben ist, liegt dabei in der Zweideutigkeit der Geschichte Jesu, die wiederum aus der Indirektheit der Selbstvergegenwärtigung Gottes in dieser Geschichte resultiert. Indem Pannenberg Gottes Wirklichkeit von seiner Selbstbewahrheitung in der geschichtlichen Heraufführung des Reiches Gottes abhängig denkt, vertieft er den für die lutherische Soteriologie zentralen Gedanken, dass die Erlösung durch Gottes Selbsterniedrigung bis ans Kreuz geschieht, in wahrheitstheoretischer und geschichtstheologischer Hinsicht. Kritiker haben gegen Pannenbergs Rede von der Strittigkeit Gottes eingewandt, diese berühre letztlich nicht Gott selbst in seinem Sein und seiner Gottheit, weil Gottes ewiges immanent-trinitarisches Wesen als der Selbstverwirklichung in seinem ökonomisch-trinitarischem Handeln immer schon vorausgehend gedacht werde.105 Gottes Sein sei im Geschichtsprozess mithin nicht ernsthaft strittig. Diese 104 Pannenberg, ST 2, 435. 105 Vgl. z. B. Michael Murrmann-Kahl, ‚Mysterium trinitatis‘? Fallstudien zur Trinitätslehre in der evangelischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts, TBT 79, Berlin/New York 1997, 163–206. Mit Recht hält er fest, dass für Pannenberg die Einheit der trinitarischen Personen aus ihrer Selbstunterscheidung resultiere und dass durch die „Übertragung der Selbstunterscheidungsfigur […] aus der ökonomischen auf die immanente Trinität“ die immanente Trinität als Voraussetzung der ökonomischen gedacht werden könne. Fraglich ist aus meiner Sicht allerdings, ob man sagen kann, dies habe „fürs intellektuelle System die Konsequenz, daß die Gottheit Gottes auf der Ebene der Heilsökonomie als bis zum Eschaton ‚strittige‘ behauptet werden kann, weil die immanente Trinität immer schon konstituiert ist. Nur für uns im Weltzusammenhang ist Gott ‚strittig‘, nicht für sich selber!“ (AaO., 164) Eine eingehende

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Kritik hat ihren Anhaltspunkt darin, dass nach Pannenberg der Gedanke der Selbstverwirklichung ein Selbst voraussetzt. Entsprechend expliziert er die immanente Trinität als Voraussetzung der ökonomischen Trinität, wobei er in kritischer Abgrenzung von Hegel in der ewigen immanenten Selbstbeziehung des dreieinigen Gottes den Grund erblickt, weshalb Gott die Welt nicht schaffen musste, um seine Gottheit zu realisieren. Der auf diese Weise profilierte Gedanke der Freiheit Gottes ist dabei gerade die Voraussetzung dafür, dass Gott sich von den Bedingungen geschichtlichen Daseins abhängig und sich in der Zweideutigkeit der Geschichte Jesu zu vergegenwärtigen vermag. Solange die Zweideutigkeit nicht endgültig aufgehoben ist, ist auch Gottes Gottheit strittig. Gleichzeitig erschließt sich aber gerade in der Betrachtung und Auslegung dieser Geschichte Jesu einschließlich der Auferweckung für den Menschen die Möglichkeit, dieser Geschichte als Offenbarung Gottes zu vertrauen und darin die explizite Selbstunterscheidung im Glauben an Jesus Christus zu vollziehen, in der er wie Jesus Gott Gott sein lassen kann und darin seine Bestimmung zur Freiheit in der Gemeinschaft mit Gott zu realisieren vermag. So kommt die Realisierung der Freiheit Gottes in seiner Selbstbindung an die geschichtliche Welt, die in der Selbstoffenbarung in der Geschichte Jesu gipfelt, als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit in den Blick. Für die gegenwärtige Auseinandersetzungen lutherischer Theologie mit der innerchristlichen und außerchristlichen Pluralisierung von Religion und der auf den monotheistischen Gottesgedanken ausgerichteten Religionskritik des neuen Atheismus dürfte es entscheidend sein, hinter diese inkarnationstheologisch fundierte Einsicht in die Wirklichkeit Gottes nicht zurückzufallen. Im Blick auf die Frage nach Pannenbergs Rezeption von Luthers Kreuzestheologie lässt sich festhalten, dass Pannenberg die inkarnationstheologische Pointe transformiert und vertieft, dass er aber wie Luther selbst und die lutherische Theologie vor Hegel darauf bedacht ist, nicht vom Tod Gottes hinsichtlich seiner Gottheit zu sprechen.

Auseinandersetzung mit Murrmann-Kahls scharfsinniger Kritik am Gesamtsystem Pannenbergs würde jedoch über die Frage nach der Transformation lutherischen Denkens bei Pannenberg weit hinausführen und kann hier nicht erfolgen. Dasselbe gilt für die Auslegung der Trinitätslehre Pannenbergs durch Linn Tonstad, The ultimate consequence of his self-distinction from the Father …“: Difference and Hierarchy in Pannenberg’s Trinity, in: NZSTh 51 (2009), 383–399. Sie vertritt im Unterschied zur eben genannten Kritik die These, dass „the death of Jesus is read as an expression of the relation of the Son to the Father in such a way that God’s own being becomes tied to a logic of hierarchy and subordinations that threatens the divinity of all three Trinitarian persons“ (aaO., 396). Ihre Kritik richtet sich damit auf eine zu enge Anbindung der Bestimmung der trinitarischen Personen an das Kreuzesgeschehen. Aus diesem Grund gelinge es Pannenberg nicht, die hierarchische Ordnung in den innertrinitarischen Relationen zu vermeiden, die er mit der Kritik an den Ursprungsrelationen vermeiden wollte.

Dirk Ansorge

Stellvertretendes Strafleiden? Die Sünde des Menschen – und der Tod Jesu als universales Heilsereignis

In seinen Überlegungen zur Christologie beharrt Wolfhart Pannenberg wiederholt auf der Deutung des Kreuzestods Jesu als eines stellvertretenden Strafleidens. In diesem Verständnis sieht er eine überzeugende Alternative zur Satisfaktionstheorie Anselms von Canterbury und zu anderen soteriologischen Modellen gegeben. Die folgenden Überlegungen ordnen den Begriff „stellvertretendes Strafleiden“ in den weiteren Rahmen der Christologie von Pannenberg ein, problematisieren zentrale Begriffe wie „Sühne“ und „Stellvertretung“ und fragen nach der soteriologischen Bedeutung des Kreuzes Christi als eines universalen Heilsereignisses. Abschließend wird Pannenbergs Interpretation des Kreuzestodes Jesu als eines stellvertretenden Strafleidens auf seine theologische Tragfähigkeit hin befragt. 1.

„Stellvertretendes Strafleiden“

In seinen 1964 in erster Auflage erschienenen „Grundzügen der Christologie“ vertritt Wolfhart Pannenberg die auf den ersten Blick irritierende These, dass sich Jesu Tod im Licht seiner Auferweckung als stellvertretendes Strafleiden erweise: „Der Kreuzestod Jesu ist von seiner Auferstehung her als die an unserer Stelle erlittene Strafe für das gotteslästerliche Dasein der Menschheit offenbar“.1 1 Grundzüge der Christologie, Göttingen (1964) 2 1966, 251. Dabei betont Pannenberg, dass der Vorwurf der Gotteslästerung Jesus gegenüber „nicht einfach eine böswillige Verleumdung ohne jeden Anhaltspunkt gewesen [sei]: Wenn sich der Vollmachtsanspruch Jesu nicht als begründet erwies, wenn man nicht mit den Jüngern seiner künftigen Bestätigung vertraute, sondern nur nach dem gegenwärtig Vorhandenen urteilte, dann konnte Jesus sehr leicht als ein Gotteslästerer erscheinen, als einer, der sich selbst Gott gleichsetzt. Wenn der Vollmachtsanspruch Jesu nicht die künftige Bestätigung fand, auf die seine Jünger warteten, dann musste er als die furchtbarste Anmaßung verstanden werden“ (259). Es geht also weder um eine jüdische Schuld am Tod Jesu noch wird der Heils-Charakter der Tora bestritten. Vielmehr war das Auftreten Jesu in Israel hochgradig ambivalent. Erst im Licht der Auferstehung wird klar: „Was vorher Gotteslästerung war, das ist jetzt Ausdruck der höchsten Autorität, der wahrhaften Einheit mit Gott selbst; was vorher um des göttlichen Gesetzes willen geboten schien, das ist jetzt als gotteslästerlicher Frevel enthüllt. Durch die Auferweckung Jesu ist die Zweideutigkeit, die über dem vorösterlichen

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„Gotteslästerlich“ – blasphemisch – ist die Existenz der Menschheit deshalb, weil die Menschen Jesu Reich-Gottes-Botschaft nicht als die Wahrheit über das Wesen Gottes und über die Bestimmung des Menschen angenommen haben. Stattdessen haben sie auf ihren eigenen Vorstellungen davon beharrt, was es mit Gott und den Menschen auf sich hat. Dieses Beharren ließ sie Jesus nicht als den Gesandten Gottes, sondern als einen Menschen wahrnehmen, der göttliche Vollmacht beansprucht und sich an die Stelle Gottes setzt.2 Exemplarisch für die Selbstermächtigung der Menschen in Bezug auf Gott steht der Umgang der jüdischen Zeitgenossen Jesu mit dem Gesetz. Indem sie das Gesetz nicht als Zeichen ihrer Berufung verstanden, alle Völker zum Heil zu führen, sondern als exklusiven Besitz, so Pannenberg, hätten sie sich den Verheißungen Gottes verschlossen. Indem hingegen Jesus nicht sich selbst, sondern seinen Vater und dessen im Hier und Jetzt anbrechende Herrschaft zum Inhalt seiner Reich-Gottes-Botschaft machte, offenbarte er jene Wahrheit über Welt und Geschichte, die seine Gegner nicht zu akzeptieren bereit waren. Pannenberg betont, dass die für Jesu Hinrichtung Verantwortlichen nicht als Individuen gehandelt haben, sondern stellvertretend für das Judentum, ja für die gesamte Menschheit. Neigt doch ausnahmslos jeder Mensch dazu, sein Leben nicht aus der Beziehung zu Gott und aus der Erwartung künftigen Heils heraus zu führen. Vielmehr trachtet er danach, sich selbst zum allein gültigen Maßstab seines Denkens und Handelns zu setzen. Damit stellt er sich nicht nur gegen Gott, sondern unterwirft auch dessen gute Gaben seinen eigenen Zwecken. Wurde also Jesus aller historischen Wahrscheinlichkeit nach von den jüdischen Autoritäten als Gotteslästerer verurteilt (Joh 19,7; vgl. Kol 2,13f; Eph 2,14–16), so zeigt sich nach Pannenberg im Licht der Auferweckung die genaue Umkehrung dieses Tatbestandes. Nicht Jesus, sondern seine Richter haben blasphemisch gehandelt, indem sie jenen Menschen, der sich in seinem Denken und Handeln ganz von Gott – seinem „Vater“ (vgl. Joh 5,18 u. a.) – bestimmen ließ, zum Tode verurteilten.3 Jesus hingegen habe die Sünde der Menschen gerade dadurch auf sich genommen, dass er mit seinem Tod am Kreuz jene Strafe erlitt, die nach Paulus mit der Sünde Adams in die Welt gekommen ist (vgl. Röm 5,12. 17a). Im Licht seiner Auferweckung gebe es nun freilich gerade

Auftreten Jesu lag, beseitigt; und von ihr her ergeht darum die Botschaft der Freiheit vom Gesetz“ (261). 2 Verwiesen sei hierzu nur auf die Antithesen der Bergpredigt („Ich aber sage euch…“) und auf Jesu Kritik am Jerusalemer Tempel. Auch sein Anspruch, im Namen Gottes Sünden zu vergeben (Mk 2,5–12), musste in den Ohren der jüdischen Autoritäten als blasphemisch gelten. 3 Vgl. Pannenberg, Das Glaubensbekenntnis ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart, Hamburg 2 1974, 92f.

Stellvertretendes Strafleiden?

deshalb für alle Menschen eine begründete Hoffnung, von Gott gerechtfertigt zu werden.4 Von einem „Strafleiden“ Jesu spricht Pannenberg also in dem Sinne, dass Jesus den Kreuzestod als Strafe für die Sünde Adams und als Ausdruck des Zornes Gottes über die Sünde auf sich genommen hat (vgl. Röm 6,23). Damit folgt er im Wesentlichen Luther, dem zufolge Gott am Gekreuzigten die Strafe für die Sünden der Menschheit vollzog.5 Gegen Luther macht Pannenberg freilich geltend, dass jede Deutung des Kreuzesgeschehens nicht vom Inkarnationsdogma, sondern vom Leben Jesu her zu erfolgen habe. Andernfalls nämlich laufe sie Gefahr, mythologisch zu werden. Auch von einem „stellvertretenden Strafleiden“ dürfe deshalb nicht im Ausgang von der Menschwerdung des Gottessohnes, sondern allein vom Leben Jesu und von seiner Auferstehung her gesprochen werden.6 Tendenziell ähnlich, aber doch mit leicht veränderter Akzentsetzung findet sich diese Deutung des Kreuzestodes Jesu im 2. Band der „Systematischen Theologie“ von 1991. Hier heißt es: „Der Unschuldige erlitt die Strafe des Todes, der als Unheilsfolge der Sünde das Schicksal derer ist, an deren Stelle er starb“.7 Ohne ganz aufgegeben zu werden, tritt der Gedanke der Blasphemie zunächst in den Hintergrund. Betont hingegen wird in der „Systematischen Theologie“ die angesichts der Zweideutigkeit von Jesu Auftreten fast unvermeidliche Verblendung der Richter Jesu. Diese hätten sich in der Absicht, dem Willen Gottes Geltung zu verschaffen, „an dem Gesandten Gottes und damit an Gott selbst vergriffen.“8 Zweideutig ist Jesu Auftreten deshalb, weil Jesus sich in Wort und Tat vorbehaltlos seiner Sendung hingegeben hat, diese Sendung aber mit einer solchen Autorität vertrat, dass sich seinen Zeitgenossen unausweichlich die Frage nach seiner Person und der von ihm beanspruchten Vollmacht aufdrängte. Wer war dieser, der das allein gültige Verständnis des Gesetzes zu vertreten beanspruchte, der mit Sündern und Prostituierten Mahl hielt und der diese Gemeinschaft mit dem Gottesreich in Verbindung brachte? Indem die jüdischen Autoritäten Jesu Anspruch, den Willen Gottes letztverbindlich auszulegen, als gotteslästerlich zurückwiesen, traf ihre Ablehnung nicht nur die Botschaft, sondern in erster Linie Jesus selbst; vor dem Hohen Rat wurde ihm vorgeworfen, sich an die Stelle Gottes zu setzen. Ein solcher Anspruch war mit den jüdischen Überlieferungen unvereinbar; als Gotteslästerung 4 Zum Begriff des Strafleidens beruft sich Pannenberg in seiner Christologie (286–288) namentlich auf Osmo Tiililä, Das Strafleiden Christi, Helsinki 1941. 5 Pannenberg (Christologie, 286) zitiert einschlägige Aussagen Luthers in dessen Operationes in Psalmos (1519–21) und im Großen Galaterkommentar (1531). 6 Christologie, 287. 7 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, Göttingen 1991, 473. 8 Systematische Theologie, Bd. II, 471.

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war er ein todeswürdiges Verbrechen (vgl. Lev 24,16), das ein entsprechendes Urteil unausweichlich machte. Im Licht des Glaubens an die Auferweckung Jesu zeigt sich freilich, so Pannenberg auch in der „Systematischen Theologie“, dass der Tod am Kreuz keineswegs die Strafe dafür war, dass Jesus das Gesetz missachtet hätte. Paulus deutet Jesu Tod am Kreuz vielmehr als Stellvertretung: Gott hat Jesus, „der von keiner Sünde wusste, an unserer Stelle zur Sünde gemacht“ (2 Kor 5,21). Gesündigt hat demnach nicht Jesus; dieser ließ sich vielmehr rückhaltlos vom Willen seines Vaters bestimmen. Gesündigt haben allein diejenigen, die sich Jesu Ansage und Auslegung der Gottesherrschaft verschlossen. Von Ostern her erscheint der Umgang der jüdischen Autoritäten mit dem Gesetz als Ausdruck ihrer Selbstermächtigung gegenüber Gott. Indem nun Israel für die Menschheit als ganze steht, so Pannenberg, geht es nicht mehr bloß darum, einen einzelnen Urteilsspruch als ungerecht zu erweisen. Vielmehr entlarvt die Auferweckung Jesu das sündige Bestreben eines jeden einzelnen Menschen, sich der guten Gaben Gottes zu bemächtigen und sie seinen eigenen Zielen dienstbar zu machen. Für Pannenberg ist die Art und Weise, wie die Richter Jesu das Gesetz für ihre Zwecke instrumentalisierten, repräsentativ für die Situation der Menschheit insgesamt.9 Insofern haben auch Kreuz und Auferstehung Jesu eine Bedeutung für die Menschheit als Ganze. Kreuz und Auferstehung entlarven nicht nur das Bestreben des Menschen, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Darüber hinaus verheißen sie dem Menschen eine Zukunft, in der er – befreit von der ängstlichen Sorge um sich selbst – auf Gottes Lebensmacht setzen kann. Wenn der Tod nach Paulus als Konsequenz der Sünde Adams zu gelten hat, dann widerfuhr jenem Menschen, der als einziger von allen ohne Sünde war10 , jenes Schicksal, das den Sündern bestimmt ist, völlig unverschuldet. Inwiefern kann dann von einem „stellvertretenden Strafleiden“ Jesu gesprochen werden? Kann es Strafe für einen Unschuldigen überhaupt geben, will man keinen Justizirrtum unterstellen? Und wie kann das Strafleiden Jesu allen Menschen zugutekommen? Fragen wie diese zielen auf nichts Geringeres als auf die christologischen Grundlagen der Soteriologie. 2.

Jesu Tod als universale Versöhnung?

Um seine Deutung des Kreuzes Jesu als eines stellvertretenden Strafleidens plausibel zu machen, erinnert Pannenberg daran, dass nach biblischem Ver9 Vgl. Christologie, 268f; Systematische Theologie, Bd. II, 472. 10 Zur Sündlosigkeit Jesu vgl. Pannenberg, Christologie, 368–378.

Stellvertretendes Strafleiden?

ständnis der Tod vor allem als Ende der Gemeinschaft eines Menschen mit Gott zu verstehen ist. Ist doch Gott die Quelle allen Lebens (vgl. Ps 88,11f; Jes 38,18). Doch auch schon die Sünde des Menschen kann als selbstherrliche Aufkündigung seiner Gemeinschaft mit Gott verstanden werden. Die „incurvatio in seipsum“, von der Augustinus spricht, ist ja zugleich „aversio a Deo“.11 Für Pannenberg wichtig wird der Gedanke, dass der Sünder, indem er sich von Gott abwendet und ihm den schuldigen Respekt verweigert, gerade darin blasphemisch handelt, dass er sich selbst an die Stelle Gottes setzt: Er will „sein wie Gott“ (vgl. Gen 3,5). Ein weiteres kommt hinzu: Insofern nach biblischer Auffassung die Abkehr des Menschen von Gott das Wesen der Sünde ausmacht und der Tod als vollständiger Abbruch der Beziehung zwischen Gott und Mensch zu gelten hat, erleidet Jesus mit seinem Tod am Kreuz die Gottesferne der Sünder in ihrer abgründigsten Konsequenz. Dieses Leiden widerfährt ihm nun gerade als jenem Menschen, der wie kein anderer im Bewusstsein der Gemeinschaft mit seinem Vater gelebt hat. Sterbend nimmt der einzig Sündelose das unabwendbare Schicksal der Sünder auf sich: den Tod als Strafe der Sünde und die mit dem Tod verbundene Gottesferne.12 Pannenberg unterstreicht das Paradox: Gerade seine ihn von allen anderen Menschen unterscheidende Gottesnähe führte Jesus am Kreuz in die äußerste Gottesferne hinein.13 Erst von Ostern her zeigt sich, dass der Tod – und zwar nicht nur der Tod Jesu, sondern der Tod überhaupt – nicht das letzte Wort hat, sondern Hindurchgang zum ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Gott ist. Denn wenn die Gottesferne eines einzigen Menschen im Tod nicht endgültig ist, sondern in ein neues Leben verwandelt wurde, dann ist die Hoffnung aller gerechtfertigt, die diesem Menschen nachfolgen: die Hoffnung nämlich, dass auch sie nicht im Tod bleiben, sondern auferweckt werden.14

11 Vgl. Augustinus, De libero arbitrio II, 53–54 (CSEL 74, n. 199–205). 12 Von einem aktiven „Auf-sich-Nehmen“ kann dabei deshalb gesprochen werden, weil Jesus vermutlich die Möglichkeit gehabt hätte, sich seinem Schicksal zu entziehen. Aus freiem Entschluss jedoch ist er seiner Sendung treu geblieben. 13 Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 470. 14 Die Einsicht, dass Gott die Versöhnung der Sünder durch Christus und dessen Tod am Kreuz ermöglicht, eröffnet sich nach Pannenberg nicht losgelöst vom Ostergeschehen. Denn erst von Ostern her wird deutlich, dass Jesu Auslegung des göttlichen Willens Wahrheit und Geltung beanspruchen darf. „The reason for this saving potential of Jesus’s death is, of course, that his death was not the final event of his life history. Without the resurrection, there could be no salvific significance of the cross“ (A Theology of the Cross, in: Philosophie, Religion, Offenbarung: Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 1, Göttingen 1999, 296–307, hier 305). Erst die Auferweckung Jesu setzt seine Richter definitiv ins Unrecht, ihn selbst hingegen ins Recht.

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Damit aber eröffnet sich die Perspektive einer universalen Versöhnung. Denn zwar noch nicht im Kreuz, wohl aber in der Aufweckung Jesu, so Pannenberg, „erweist sich Gott als Sieger über Sünde und Tod zur Versöhnung der Welt“.15 Im Licht der Auferweckung Jesu kann dessen ganz und gar ungerechtfertigter Tod allen Sündern als eschatologisches Hoffnungszeichen gelten: „Dieses stellvertretende Strafleiden, das mit Recht als stellvertretendes Erleiden des Zornes Gottes über die Sünde beschrieben worden ist, begründet von Jesus Christus her die Gemeinschaft mit allen Menschen als Sündern und mit ihrem Schicksal. Dies ist eine Verbindung, die die Grundlage dafür bildet, dass der Tod Jesu allen Sündern als Sühne zu Gute kommt“.16

Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Sühne“?17 Einer Plausibilisierung dieses Begriffs bedarf es umso dringlicher, als die traditionelle Vorstellung, es sei möglich, anstelle eines anderen dessen sittliche Schuld abzubüßen, in der Neuzeit als nicht mehr nachvollziehbar gilt.18 Zwar gibt es heutzutage ein ausgeprägtes Bewusstsein für die verderbliche Macht überindividueller Schuldzusammenhänge, für „Strukturen der Sünde“ oder gar „sündige Strukturen“.19 Tatsächlich verwickeln globale Abhängigkeitsverhältnisse in Ökonomie oder Ökologie auch wohlgesinnte Menschen nur allzu oft in Handlungszwänge, die das Lebensförderliche erschweren, ja bisweilen sogar verunmöglichen. Doch genügen Hinweise auf universale Schuldzusammenhänge, in die alle Menschen verwoben sind, soll die anspruchsvolle Aussage gerechtfertigt werden, Jesu habe am Kreuz die Sünden aller Menschen „getragen“, und Gott habe 15 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 457. 16 Ebd., 437. 17 Vgl. neben den einschlägigen Lexikon-Artikeln vgl. Jürgen Werbick, Soteriologie, Düsseldorf 1990, bes. 226–275; Georg Fischer/Knut Backhaus, Sühne und Versöhnung (Die neue EchterBibel, Themen 7), Würzburg 2000; Rudolf Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001. 18 Nachhaltig in Frage gestellt wurde der Gedanke stellvertretender Sühne durch die Sozzinianer und in der Aufklärung. Nach Kant gilt: „Schuld ist keine transmissible Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld […] auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag noch so großmütig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann“: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (B 94–95/Akademie-Ausgabe VI, 7216–22 ). Vgl. auch Karl Rahners Feststellung der „Unmöglichkeit, die menschliche Freiheitstat durch die Tat eines anderen zu ersetzen“ (Versöhnung und Stellvertretung, in: Schriften XV, 251–264, hier 260). 19 Johannes Paul II. spricht zwar nicht von „sündigen Strukturen“, wohl aber von „Strukturen der Sünde“: Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ vom 30. Dezember 1987 (Verlautbarungen des Apostolisches Stuhles 82, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 1988, 45 (Nr. 37).

Stellvertretendes Strafleiden?

auf diese Weise die Menschen mit sich „versöhnt“? Inwieweit ist Jesu Leiden als ein „stellvertretendes Sühneleiden“ für die Menschen zu verstehen? Und wie kann es für alle Menschen versöhnend wirken?20 Und vor allem: Ist es zur Beantwortung solcher Fragen hilfreich, das Leiden Christi mit Pannenberg als ein stellvertretendes Strafleiden zu verstehen? Für Paulus ist die Idee eines stellvertretenden Leidens und Sterbens in Jes 53 präfiguriert: Der Unschuldige leidet und stirbt „für die Vielen“. Entsprechend ist der Gekreuzigte zentraler Inhalt paulinischer Verkündigung (vgl. 1 Kor 2,2; vgl. 1,23). Dieser Akzentsetzung sieht sich Pannenberg verpflichtet. Den Vorschlag Anselms von Canterbury hingegen, den Tod Jesu als eine ungeschuldete Satisfaktionsleistung zu verstehen, welche Gottes durch die menschliche Sünde missachtete Ehre und die universale Ordnung der Gerechtigkeit wiederherzustellen imstande ist, hält er für nicht tragfähig. Denn damit wäre die Versöhnung nicht durch den Vater erfolgt, sondern durch eine Tat des Mensch gewordenen Sohnes. Paulus konstatiert aber in 2 Kor 5,18f, dass es Gott ist, der die Menschen mit sich versöhnt hat.21 Entgegen einer breiten Tradition scholastischer Theologie, welche das Versöhnungswerk der menschlichen Natur Christi zugesprochen hatte, hätten die Reformatoren deshalb die Initiative Gottes im Versöhnungsgeschehen betont. Dieser Linie folgend unterscheidet Pannenberg Sühne und Versöhnung voneinander. Bei der stellvertretenden Sühne, die der Mensch gewordene Gottessohn durch sein unschuldiges Sterben am Kreuz vollzieht, handelt es sich um eine Tat Gottes. Versöhnung hingegen wird nur dann möglich, wenn Gottes Initiative vom sündigen Menschen angenommen ist. Die durch Christus vollzogene Sühne wird im Leben eines Menschen erst dann wirksam, wenn er oder sie vor Gott in einer Weise lebt, wie sie Jesus zu Lebzeiten gelebt und gepredigt hat: „Der Versöhnungsgedanke expliziert und verdeutlicht die Notwendigkeit der Zueignung und Aneignung der im Tode Jesu begründeten Sühne“, so Pannenberg.22 Beides muss demnach zusammenkommen, um heilsam wirken zu können: der Zuspruch Gottes und die Annahme dieses Zuspruchs von Seiten

20 Einen knappen Überblick über aktuelle Debatten zu diesen Themen bietet Dorothea Sattler, Erlösung. Lehrbuch der Soteriologie, Freiburg u. a. 2011, 150–155. Für das NT und die Theologiegeschichte weiterhin grundlegend bleibt Hans Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, Düsseldorf 1970. Vgl. auch Helmut Hoping/Jan-Heiner Tück, „Für uns gestorben“ – Die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu und die Hoffnung auf universale Erlösung, in: Eduard Christen/Walter Kirchschläger (Hg.), Erlöst durch Jesus Christus. Soteriologie im Kontext, Freiburg (Ue.) 2000, 71–107, bes. 74–85. 21 Vgl. hierzu Brian Ebel, A Dialogue in the Contrasting Christologies of Anselm of Canterbury and Wolfhart Pannenberg, Lexington (KY) 2016. 22 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 474.

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der Sünder. „Die Versöhnung kann ja nicht zustande kommen, ohne dass der Mensch auf sie eingeht“.23 Das notwendige Zusammenspiel von Sühne und Versöhnung mindert nicht die Tatsache, dass das Heilshandeln Gottes zur Rettung der Sünder aus dem Tod mit der Selbsthingabe Jesu am Kreuz und seiner Auferstehung bereits vollzogen ist. „Vollzogen“ nämlich in dem Sinne, dass mit Tod und Auferstehung Jesu die Heilsgeschichte in ein neues Stadium getreten ist. Damit ist zugleich gesagt, dass sie mit der Auferstehung Jesu noch keineswegs an ihr Ende gekommen ist. Gottes Macht über Sünde und Tod ist allerdings nach Ostern für diejenigen, die glauben, in einer zuvor bestenfalls erhofften Gewissheit offenbar geworden. Diese Gewissheit dispensiert die Christusgläubigen keineswegs davon, Gottes Barmherzigkeit an sich wirksam werden zu lassen, indem sie in der Nachfolge Jesu dessen Praxis des anbrechenden Gottesreiches zum Maßstab eigenen Handelns erwählen.24 3.

Jesu Tod als Sühne?

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der Begriff „Sühne“ (bzw. „Sühnendes“: ἱλαστήριον; vgl. Röm 3,25)? Nicht selten wird der Begriff einem vormodernen Wirklichkeitsverständnis zugeordnet.25 Seine Bedeutung kann womöglich durch einen Vergleich mit dem Begriff „Strafe“ erhellt werden: „Strafe“ meint eine dem Schuldigen von außen her auferlegte Leistung, die eine Art Ausgleich für das von ihm Verschuldete darstellen soll. „Sühne“ dagegen bezeichnet eine Handlung, durch die ein Mensch, der schuldig geworden ist, eine Leistung erbringt, welche seine Einsicht, Reue und Umkehr dokumentiert. Auf diese Weise kann Sühne den Geschädigten dazu bewegen, das ihm Widerfahrene zu verzeihen und so Versöhnung zu ermöglichen. Wendet Strafe die Folgen einer bösen Tat auf deren Täter zurück, so befreit Sühne den Täter von den für ihn selbst verderblichen Folgen seiner bösen Tat. Als Sühne gilt 23 Systematische Theologie, Bd. II, 460. 24 „Nur in der Form der Antizipation kann gesagt werden, dass im Kreuze Jesu die Versöhnung der Welt bereits geschehen ist. In der Geschichte der Verkündigung des Kreuzesgeschehens geht es um die Bewährung dieser Antizipation“ (Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 458). 25 Vgl. u. a. die kritischen Anfragen an den Sühnebegriff und das Ringen um seine Neubestimmung bei Meinrad Limbeck, Abschied vom Opfertod. Das Christentum neu denken, Ostfildern 2013, 92–101. Zur Diskussion vgl. auch Helmut Hoping, Jesus aus Galiläa. Messias und Gottes Sohn, Freiburg u. a. 2019, 289–301. – Zum Sühnegedanken in Röm 3,25 vgl. auch die kulturhistorische Einordnung von Dieter Karkowski, Opfer und Gabe. Kulturanthropologische Annäherungen an Röm 3,24f. (Diss. Neuendettelsau 2017).

Stellvertretendes Strafleiden?

dem entsprechend nach Pannenberg ein Vorgang, der „das Vergehen mit seiner Schuldverhaftung und deren Folgen“ aufhebt.26 Auch im Verständnis des Ersten Testaments ist Sühne nicht in erster Linie eine Leistung der vor Gott schuldig gewordenen Menschen – eine Leistung etwa, die darauf zielte, den göttlichen Zorn über menschliches Fehlverhalten zu besänftigen. Sühne ist vielmehr ein den Sündern von Gott gewährter Weg, eine gestörte Beziehung wieder ins Lot zu bringen.27 Dabei geht es sowohl um die Beziehung des Sünders zu Gott als auch um seine Beziehungen zu den Mitmenschen. Wohl ist Sünde in erster Linie eine von Menschen verschuldete Störung der Gottesbeziehung, doch wirkt sich diese Störung nach biblischem Verständnis auch auf das Verhältnis des Sünders zu seinen Mitmenschen aus. Terminologisch unterscheidet deshalb das Erste Testament nicht streng zwischen Sünde und Schuld.28 Nach biblischer Vorstellung geschieht die Versöhnung der sündigen Menschen mit Gott durch das vergossene Opferblut.29 Ihre rituelle Konkretion erfährt diese Vorstellung in der Darbringung von Sündopfern, vor allem jedoch in der Liturgie des Großen Versöhnungstages, wenn der Hohepriester einen Teil des Schächtblutes in das Allerheiligste und auf den Deckel der Bundeslade (kapporæt) sprengt (Lev 16). Indem die Opferpraxis als göttliche Einrichtung gilt, wird deutlich, dass Gott selbst den Menschen einen Weg gewiesen hat, ihr durch die Sünde gestörtes Gottesverhältnis wieder in Ordnung zu bringen. In welcher Hinsicht kann vor diesem Hintergrund Jesu Tod am Kreuz als Sühnetod verstanden werden, der den Sündern zum Heil gereicht? Pannenberg weist auf den Umstand hin, dass Paulus die durch das Kreuz Jesu vollbrachte Versöhnung nicht in erster Linie als Rettung aus einem künftigen Endgericht versteht.30 Vielmehr betone der Apostel, dass die Christgläubigen durch das Kreuz Christi bereits versöhnt „sind“ (Röm 5,10; vgl. 2 Kor 5,19). Wie ist das zu

26 Systematische Theologie, Bd. II, 456. 27 Vgl. Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur Sühnetheologie der Priesterschaft und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 55), Neukirchen-Vluyn 2 2000; Christian Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament. Die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten im kultischen Rahmen (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 94), Neukirchen-Vluyn 2002. 28 Vgl. Rolf P. Knierim, Art. Sünde II: Altes Testament, in: TRE, Bd. 32, Berlin – New York 2001, 365–373, bes. 365–367. 29 Vgl. dazu auch Arnold Angenendt, Sühne durch Blut, in: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), 437–467 (auch in: Liturgie im Mittelalter, Münster 2 2005, 191–225). 30 Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 473. – Vgl. Röm 5,18: „Wie es durch den Fall des Einen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so kommt es durch die Erfüllung der Rechtsordnung des Einen für alle Menschen zum Freispruch, der ins Leben führt.“

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verstehen? Wie kann im Licht der Auferstehung Jesu dessen zunächst unleugbares Scheitern am Kreuz als ein Ereignis verstanden werden, das zumindest bei denjenigen, die in der Taufe „mit Christus gestorben sind“ (Röm 6,8; vgl. Kol 2,20), die Versöhnung mit Gott schon jetzt bewirkt? Klar ist: Die Versöhnung der Getauften mit Gott ist nicht offen sichtbar. Sie ist jedoch in einer anfänglichen Weise bei denen wirksam, die an Christus glauben und auf seinen Namen getauft sind. Denn wer glaubt, lebt in der „Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21), und er kann deshalb auch dem entsprechend handeln. Diese Möglichkeit steht dem Getauften deshalb offen, weil für ihn der weiterhin unausweichliche Tod seinen Schrecken verloren hat (vgl. 1 Kor 15,55). Pannenberg betont: „Stellvertretung und Sühne haben […] nicht die Wirkung, den Vertretenen das eigene Sterben zu ersparen. Sie eröffnen den durch Jesus Christus Vertretenen die Chance, in ihrem eigenen Sterben – durch die Verbindung mit dem Sterben Jesu – Hoffnung auf Teilhabe an dem neuen Leben der Totenauferweckung zu gewinnen, das in Jesus verbürgt ist (Röm 6,5).31

In Jesu Auferstehung zeigt sich nach Pannenberg, dass die Furcht einflößende Macht des Todes über die Menschen an der Lebensmacht Gottes ihre unüberwindliche Grenze findet. Zwar sterben die Menschen weiterhin. Wer aber die Reich-Gottes-Botschaft Jesu als für sich maßgebend annimmt, sein Leben also in einer dem ursprünglichen Willen Gottes entsprechenden Weise zu führen gewillt ist, dem droht am Jüngsten Tag nicht mehr der endgültige Tod. Die Heilsbedeutung des Todes Jesus erschließt sich demnach in eschatologischer Perspektive: Wenn Gott über das endgültige Schicksal der Menschen befindet, dürfen sich die Getauften in der Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten wissen. Diese Gemeinschaft begründet ihre Hoffnung auf das ewige Leben auch dann, wenn sie sich zu Lebzeiten gegenüber dem Willen Gottes verfehlt haben. Vorausgesetzt ist freilich, dass die Sünder im Glauben an Gottes Versöhnungsbereitschaft dessen Vergebung an sich wirksam werden lassen. Vor diesem soteriologischen Hintergrund tritt die Deutung des Kreuzes Jesu als „stellvertretendes Strafleiden“ spürbar in den Hintergrund. Dies ist umso mehr der Fall, als Pannenberg im Anschluss an Albrecht Ritschl, Paul Althaus und andere zwischen einer inklusiven und einer exklusiven Dimension der Stellvertretung Christi unterscheidet.32 Exklusiv ist Jesu Sterben am Kreuz, weil jener, der ganz aus der Gemeinschaft mit seinem Vater her lebte, die Einsamkeit 31 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 473. 32 Vgl. Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 3 1888, 515; Paul Althaus, Das Kreuz Christi, in: Theologische Aufsätze, Bd. I, Gütersloh 1929, 1–50, bes. 27–41. – Vgl. zu Ritschl und Althaus:

Stellvertretendes Strafleiden?

des Todes in einer einzigartigen Weise durchlitt. Inklusiv ist Jesu Leiden und Sterben deshalb, weil es nur dann beim Sünder wirksam wird, wenn dieser sich dazu entschließt, sein Leben fortan aus dem Glauben an Gottes Lebensmacht zu führen. Inklusive Stellvertretung nimmt dem Sünder nichts ab, was er aus eigenem Vermögen und Entschluss zu leisten hat; vielmehr befähigt sie ihn dazu, etwas zu tun, was er aus eigenem Antrieb zu leisten womöglich nicht imstande wäre.33 In christologischer Perspektive kann „inklusive Stellvertretung“ deshalb auch so verstanden werden, dass Christus in Wort und Tat jene Möglichkeiten menschlichen Lebens verwirklicht, die ursprünglich von Gott her gewollt, durch die Sünde aber verdunkelt sind.34 In der frei gewählten Nachfolge Jesu ist jeder Getaufte dazu aufgerufen, sein Leben im Sinne der Reich-Gottes-Botschaft Jesu zu führen. In der Nachfolge Jesu bleibt Christen das Sterben nicht erspart; wohl aber ist ihnen die Möglichkeit eröffnet, ihr Sterben in der Hoffnung auf Gottes Macht über den Tod zu bestehen. Denn „Jesu Sterben enthält das unsere in sich und überwindet es dadurch zu einem Sterben in Hoffnung“, so Pannenberg.35 Es geht im Leiden und Sterben Jesu also nicht darum, den Sünder in seiner schmerzhaften Einsicht, Reue und Umkehr zu ersetzen. Jesus nimmt den Menschen nichts von dem ab, was sie selbst zu leisten haben.36 Vielmehr werden die Sünder durch Gottes Initiative zu Einsicht, Reue und Umkehr befähigt. „Indem Jesus den Tod seines besonderen Daseins auf sich nahm, gewährte er

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Karl-Heinz Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Einsiedeln u. a. 1991, 129–134; 240–243. Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 270f. – Vgl. auch Norbert Hoffmann: „Das Wesensentscheidende und -unterscheidende der Stellvertretungsstruktur scheint nicht einfach darin zu bestehen, dass jemand „an Stelle“ eines anderen („für ihn“) handelt, sondern darin, dass er sich so einsetzt, das er diesen nicht er-setzt, sondern – im Gegenteil – ihn setzt, ihn von seiner Stelle nicht verdrängt, vielmehr ihm gegen die Mächte der Verneinung die „Stelle“ seines eigenen Selbst eröffnet und frei macht, ihm das Selber-sein ermöglicht“ (Sühne. Zur Theologie der Stellvertretung, Einsiedeln 1981, 47). Nach Rahner bedeutet Erlösung, „dass Gott durch seine Gnade im Blick auf Jesus Christus und sein Kreuz dem Menschen die Möglichkeit gewährt und anbietet, in der radikalsten Selbstübergabe seiner Existenz durch Glaube, Hoffnung und Liebe seine eigene heilshafte Endgültigkeit zu konstituieren“ (Versöhnung und Stellvertretung, a.a.O., 261). Vgl. dazu u. a. Dorothee Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tode Gottes“, Stuttgart 2 1982, bes. 59–61. Christologie, 271. Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 473. Dies war nicht zuletzt die zentrale Intuition Anselms; vgl. Cur Deus Homo, II,20: „Was könnte barmherziger gedacht werden, als wenn Gott Vater zu dem Sünder, der zu ewigen Strafen verurteilt ist und nichts hat, wodurch er sich daraus befreien könnte, spricht: ‚Nimm meinen Eingeborenen und gib ihn für dich; und der Sohn: Nimm mich und erlöse dich!‘“ (ed. F.S. Schmitt II, 13129 –1324 ).

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den anderen Menschen Raum für das ihre“.37 Für Pannenberg eröffnet gerade die Besonderheit des Kreuzestodes Jesu denen, die ihm im Glauben nachfolgen, den Raum und die Möglichkeit, ihr Leben im Vertrauen auf die den Tod überwindende Macht Gottes zu leben. 4.

Jesu Tod als stellvertretendes Strafleiden?

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der Tod Jesu? Ist er nicht doch ein bloßer Unfall der Heilsgeschichte – ein tragischer Justizirrtum womöglich, der freilich wegen der Zweideutigkeiten im Auftreten Jesu auch wiederum irgendwie entschuldbar ist? Wie aber kämen dann Paulus und die ihm folgende Lehrtradition zu der Auffassung, dass gerade Jesu Kreuzestod heilsbedeutsam ist? Diese Fragen erscheinen umso dringlicher, als Pannenberg sich der Auffassung anschließt, dass Jesus selbst seinem absehbaren Tod vermutlich keine Heilsbedeutung beigemessen hat.38 Wäre dem so gewesen, so seine Argumentation, dann wäre die urchristliche Deutung seines Sterbens als eines Heilstodes nicht erst das Ergebnis eines eigenen Reflexionsprozesses gewesen. Vielmehr hätten sich die Jünger Jesu Deutung seines bevorstehenden Sterbens unmittelbar zu eigen gemacht. Stattdessen lasse die Vielfalt der Interpretationen in den neutestamentlichen Schriften das Ringen um eine theologische Deutung des Kreuzestodes erkennen.39 Dass Jesu Tod am Kreuz nicht das absolute Scheitern seiner Reich-GottesBotschaft bedeutet, wurde den Jüngern im Licht der Auferweckung Jesu deutlich. Insofern stand ihnen eine Deutungsmöglichkeit der Ereignisse offen, so Pannenberg, über die Jesus selbst noch nicht verfügt hatte. Zwar mochte Jesus seinen Tod als Hingabe an einen Gott verstanden haben, der ihm als Gott der Lebenden und der Toten vor Augen stand. Insofern könne er durchaus auf seine Auferweckung gehofft haben. Doch wird das Vertrauen Jesu auf seinen Vater kaum hinreichend gewesen sein, seinen eigenen Tod im Sinne eines stellvertretenden Sühnetodes zu verstehen.

37 Systematische Theologie, Bd. II, 480. 38 Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 462. In seiner Auslegung des Glaubensbekenntnisses hatte Pannenberg noch erwogen, dass Jesus sich in der Tradition leidender Propheten verstand (Das Glaubensbekenntnis, 86). Eine Deutung des Kreuzestodes durch Jesus selbst nimmt auch Helmut Merklein an: Der Tod Jesu als stellvertretender Sühnetod. Entwicklung und Gehalt einer zentralen neutestamentlichen Aussage, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 43), Tübingen 1987, 181–191. 39 Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 462.

Stellvertretendes Strafleiden?

Die Jünger hingegen suchten unter dem Eindruck der Auferweckung Jesu nach einer verborgenen Logik hinter den schrecklichen Ereignissen. Wenn Jesus der authentische Interpret des göttlichen Willens war, dann konnte sein Geschick nicht ohne Bedeutung für Gottes Heilsplan sein. „Wenn nicht für seine eigenen Sünden, dann konnte Jesus nur für andere gestorben sein“, so Pannenbergs Rekonstruktion jener Bemühungen, die die ersten Jünger angesichts von Tod und Auferweckung Jesu anstellten.40 Dabei ist die Vielzahl der „für-uns“-Formeln in den Briefen des Paulus noch kein Beleg dafür, dass Jesu Tod in der Urkirche von Anfang an als Heilstod gedeutet wurde. Weisen doch die Exegeten auf verschiedene Möglichkeiten hin, das neutestamentliche „für uns“ (ὑπὲρ ἡμῶν: Röm 5,8 u. a.) zu verstehen: darunter nicht nur im Sinne von „zu unseren Gunsten“, sondern auch als „an unserer Stelle“.41 Die von Paulus gebrauchten „für-uns“-Formeln können deshalb auch so verstanden werden, dass Jesus unverdientermaßen jenes Geschick getroffen hat, welches gerechterweise den Sündern zugedacht ist. Pannenberg teilt diese Auffassung, handelt sich damit aber die Notwendigkeit ein, eine mögliche Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu eigens zu begründen. Eben hierzu dient die Deutung des Kreuzes als eine stellvertretenden Strafleidens. Indem sich nämlich der Gottessohn dem Todesurteil der jüdischen Autoritäten unterworfen und damit eine Strafe erlitten hat, die er in keiner Weise verdient hat, hat er zwar die lebensverneinende Macht der Sünde entlarvt, die nach Paulus schon durch das Gesetz zutage trat (vgl. Röm 5,20). Endgültig überwunden ist diese Macht damit aber noch nicht. Denn auch dann, wenn Jesus „an Stelle“ der gerechterweise zu bestrafenden Sünder den Kreuzestod erlitten hat, ist noch nicht einzusehen, inwiefern seinem unschuldigen Sterben irgendeine Heilsbedeutung zukommen sollte, und inwiefern Jesu Hinrichtung in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Versöhnung der Sünder mit Gott steht. Wenn es etwa im schon mehrfach zitierten 2. Korintherbrief heißt: „Den, der von keiner Sünde wusste, hat er für uns zur Sünde gemacht“ (2 Kor 5,21a), dann ist damit zwar offenkundig gemeint, dass sich Christus in seiner Menschwerdung dem verhängnisvollen Zusammenhang von Sünde und Tod unterworfen hat. Inwieweit hieraus aber für die Sünder eine heilvolle Perspektive erwachsen kann, bleibt rätselhaft.

40 Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 469f. 41 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 464; dazu H. Patsch, Art. „ὑπὲρ“, in: Horst Balz/Gerhard Schneider, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. III, Stuttgart 1992, 948–951.

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Einen Hinweis zum Verständnis liefert die Tauftheologie des Paulus.42 Im Anschluss an Röm 6,1–11 sieht Pannenberg in der durch das Kreuz begründeten Gemeinschaft des Gottessohnes mit den Getauften die Grundlage dafür gegeben, dass ihnen der Tod Jesu als Sühne zugute kommen kann. Von einem „Platztausch“43 will Pannenberg freilich nur in einem bestimmten Sinne sprechen: Heilswirksam wird Jesu Sterben nicht schon dadurch, dass sich der Unschuldige an die Stelle der dem Tod verfallenen Sünder begibt, sondern erst dann, wenn der Gekreuzigte mit seinem Tod die Strafe für die Sünden aller Menschen auf sich genommen hat. Hier zeigt sich der systematische Ort der paulinischen Rede vom stellvertretenden Strafleiden Christi. Das Vertrauen auf die durch Übernahme der Sündenstrafe eröffnete Zukunft in der Gemeinschaft mit Gott setzt den Glauben an die Auferweckung des Gekreuzigten voraus. Die Schicksalsgemeinschaft mit dem Gekreuzigten, in welche die Sünder durch ihre Taufe eintreten, lässt sie darauf hoffen, Christus auch bei der allgemeinen Auferstehung nachzufolgen. Auch dann, wenn er sich als Sünder weiß, ist der Getaufte im Tod nicht verlassen noch muss er den Tod als Ende seiner individuellen Geschichte fürchten. Vielmehr kann er in Gemeinschaft mit dem Auferstandenen auf ein Leben nach dem Tod vertrauen.44 Allerdings kann man fragen, warum gerade der Kreuzestod Jesu die unabdingbare Voraussetzung der Hoffnung auf die Überwindung des Todes ist. Hätte die Hoffnung auf die Auferweckung aller von den Toten nicht auch unabhängig von Golgota ein festes Fundament, wenn nur die Auferweckung Jesu aus dem Tod glaubhaft verkündet würde? 5.

Jesu Tod als Vollzug seiner Selbstunterscheidung vom Vater

Ihre letzte und tiefste Begründung erfährt die Heilsbedeutung des Kreuzestodes durch ihre Verwurzelung in den innertrinitarischen Beziehungen zwischen 42 Ihre rituelle Gestalt findet die Selbstübereignung der Menschen an Jesu Tod in der Taufe. Hier werden die Sünder mit Christus „begraben durch die Taufe auf den Tod“. Zugleich ist die Taufe Unterpfand der künftigen Auferstehung von den Toten, die Christen von Christus bereits jetzt als Wirklichkeit bekennen (vgl. Röm 6,4). Vgl. dazu Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 466. 43 Vgl. Gal 3,13a: „Christus hat uns freigekauft vom Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch geworden ist.“ Vgl. auch Röm 8,3: „Gott hat seinen Sohn in Gestalt des von der Sünde beherrschten Fleisches gesandt, als Sühnopfer, und verurteilte damit die Sünde im Fleisch.“ 44 „We need no longer be alone in the event of death, nor look upon it as the end of our personal history. We are given the chance to go through that experience in communion with Jesus Christ and in the hope of participating in his future of a life beyond death“ (A Theology of the Cross, 306).

Stellvertretendes Strafleiden?

Vater, Sohn und Geist. Pannenberg erblickt im Kreuzestod Jesu den vorläufigen Zielpunkt einer in Gott gründenden Dynamik, die er als „Selbstunterscheidung“ des Sohnes vom ewigen Vater begreift. Diese schon in Gottes Ewigkeit als Gehorsam vollzogene Selbstunterscheidung ist nicht nur der Grund der trinitarischen Differenz zwischen Vater und Sohn in dem beiden gemeinsamen göttlichen Wesen.45 Sie ist vielmehr und vor allem auch die Weise, in der sich Jesus in Wort und Tat auf seinen himmlischen Vater bezieht: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden“ (Joh 4,34).46 Nach Johannes vollendet sich diese Sendung Jesu in seiner „Erhöhung“ am Kreuz. „Die Gottesferne des Kreuzes Jesu war die äußerste Zuspitzung seiner Selbstunterscheidung vom Vater“.47 Sie war der absolute Abbruch seiner Beziehung zum Vater; denn mit seinem Tod erlosch auch Jesu Selbstbewusstsein – und damit der Grund seiner durch Selbstunterscheidung vom Vater vermittelten Einheit mit Gott. Doch gerade die sich am Kreuz in so schrecklicher Weise vollendende Selbstentäußerung Jesu (vgl. Phil 2,7) erweist ihn nach Paulus als den „neuen Adam“ (vgl. Röm 5,12–21): Der Gekreuzigte ist das Gegenbild zum alten Menschen, der sich weigert, Gott Gott sein zu lassen.48 Denn in Jesus ist die ursprüngliche Bestimmung des Menschen exemplarisch – und darin zugleich auf das Ende der Geschichte vorausweisend und diese vorwegnehmend – verwirklicht, sich selbst nicht als Gott, sondern als Gottes Geschöpf zu verstehen und aus der Anerkenntnis dieser Unterscheidung zu leben. 45 Vgl. Systematische Theologie, Bd. II, 406–422. Zum Begriff „Selbstunterscheidung“ bei Pannenberg vgl. auch Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Band 1, Göttingen 2003, 186–189. Wenz macht hier auch auf eine Problematik des Begriffs aufmerksam, insofern im Tod Jesu mit seinem Selbstbewusstsein zugleich der Grund der Wesenseinheit mit dem Vater erlischt. 46 Hier nicht ausgeführt werden kann ein zweifellos fruchtbarer Vergleich der Überlegungen von Pannenberg zur Selbstunterscheidung von Vater und Sohn mit den Reflexionen von Norbert Hofmann zur Theologie der Stellvertretung. Vgl. Norbert Hoffmann, Sühne. Zur Theologie der Stellvertretung, Einsiedeln 1981, sowie Ders., Kreuz und Trinität. Zur Theologie der Sühne, Einsiedeln 1982. Vgl. etwa Hoffmanns Begriffsbestimmung von „Stellvertretung“: „Den begrifflichen Formalgehalt von „Stellvertretung“ sehen wir darin, dass ein setzendes Prinzip durch seinen Selbsteinsatz (Selbsthingabe) den „Raum“ (die „Stelle“) für das Selbersein des gesetzten Anderen er-stellt. Die Trinität wäre dann als eine Art „Urmatrize“ jeglicher Stellvertretung zu betrachten (Sühne, 49 Anm. 136). 47 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 418. 48 Vgl. Martin Luther, Disputation gegen die scholastische Theologie vom 4. Sept. 1517, These 17: „Non potest homo naturaliter velle deum esse deum. Immo vellet se esse deum et deum non esse deum“ („Der Mensch kann nicht von Natur wollen, dass Gott Gott sei; vielmehr wollte er, er sei Gott und Gott sei nicht Gott“: Weimarer Ausgabe 1,2251f /Luther Deutsch, Bd. 1, 356/Lat.-dt. Studienausgabe, Bd. 1, Leipzig 2006, 23).

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Nach Pannenberg ratifiziert Jesu Selbsterniedrigung am Kreuz die Selbstunterscheidung des Sohnes gegenüber dem ewigen Vater in Zeit und Geschichte. Denn christologisch ist ja zu bekennen: Im Menschen Jesus ist der ewige Sohn des Vaters Fleisch geworden. Nicht der Verzicht auf seine Gottheit also, so Pannenberg, sondern der Vollzug der ewigen Selbstunterscheidung des Sohnes ist innerer Grund der Selbstentäußerung Jesu am Kreuz. Deren „äußerste Zuspitzung“ ist die Gottverlassenheit des Gekreuzigten. Dabei bedeutet die Selbstentäußerung des Sohnes in seinem Tod am Kreuz keine Minderung seiner Gottheit; sie ist vielmehr deren Selbstvollzug. Keine Frage: Die trinitarische Rechtfertigung des Kreuzes ist allein im Glauben an die Menschwerdung Gottes zugänglich. Sie liegt nicht offen zutage. Sie erschließt sich erst dann, wenn der Glaube an die Auferstehung Jesu eine Interpretation seines Wirkens und seiner Person nahelegt, die in Jesus nicht bloß einen prophetisch begabten Menschen erkennt, sondern den aus der Ewigkeit Gottes in die Welt gesandten Sohn.49 Ist für Pannenberg die Menschwerdung Christi in erster Linie Vollzug der Selbstunterscheidung des ewigen Sohnes von seinem Vater, so ist sie erst danach Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen, insofern sie auch den Sündern – in der Taufe und Nachfolge Jesu – eine neue Gemeinschaft mit Gott ermöglicht.50 „Gott ist im Bunde mit denen, die – meist gegen den Strom ihrer Zeit und darum in Leiden, Schwachheit und Verfolgungen – reinen Herzens Gerechtigkeit, Frieden und barmherzige Liebe suchen. Darum ist die Gemeinschaft Gottes mit solcher menschlichen Schwachheit nicht als Entäußerung, als Ablegen einer Macht und Gewalt, die Gott bei sich selbst eigentlich schon besäße, zu verstehen“.51

Erst im Licht der Auferstehung erscheint das Kreuz als Vollzug und Höhepunkt der ewigen Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater in Zeit und Geschichte. 49 Die Vorstellung von einer Präexistenz des Gottessohnes begegnet bereits in den ältesten Texten des Neuen Testaments – so etwa in dem erwähnen Philipperhymnus: „Er, der doch von göttlichem Wesen war, hielt nicht wie an einer Beute daran fest, Gott gleich zu sein“ (Phil 2,6). 50 „Die Selbstentäußerung und Selbsterniedrigung des Sohnes, die in der Geschichte Jesu Christi ihren vollkommenen Ausdruck gefunden hat, sollte nicht in erster Linie als selbstlose Hinwendung zu den Menschen aufgefasst werden, ob wohl sie auch das ist. In erster Linie ist sie Ausdruck der Hingabe des Sohnes an den Vater […]. Gerade dadurch ist der Weg des Sohnes auch Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen. Denn durch die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater kommt Gott den Menschen nahe. Die Kenose des Sohnes […] ist darum Ausdruck der göttlichen Liebe, weil in der Nähe Gottes und in der Teilhabe an seinem Leben die Menschen zu ihrem Heil gelangen“ (Systematische Theologie, Bd. II, 422). 51 Wolfhart Pannenberg, Christologie und Theologie (1975), in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1980, 129–145, hier 140f.

Stellvertretendes Strafleiden?

Nur so kann der Gekreuzigte zugleich auch der Retter der Menschen sein. Retter aber ist er dadurch, dass derjenige, der am Kreuz den Abgrund der Gottesferne durchlitten hat, den Sündern in ihrer Gottesferne nahe sein kann. Von daher bestimmt sich nicht zuletzt auch die Charakterisierung des Leidens und Sterbens Jesu als Sühne und als stellvertretende Übernahme der Strafe für die Sünden der Menschen. Jesu Selbsthingabe am Kreuz wird dadurch zur Sühne für die Sünden der Menschen, dass sie radikaler Vollzug der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ist. Gerade so aber begründet sie die Gemeinschaft des Sohnes mit dem Sünder und überwindet dessen Trennung von Gott. Damit nämlich wird es möglich, dass die Menschen im Glauben „ihren eigenen Tod mit dem Tod Jesu verbunden sein lassen und dadurch die Zuversicht der Teilhabe am Leben Gottes über den eigenen Tod hinaus gewinnen“.52 Inwieweit versöhnt der Kreuzestod Jesu die Sünder schon jetzt mit Gott? Pannenberg betont zweierlei. Zunächst folgt er Paulus, der die sündentilgende Kraft von Jesu Tod eschatologisch versteht. In der Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen sind die Glaubenden von Gott gerecht gesprochen und so vor dem ewigen Tod bewahrt, der allen Sündern droht.53 Zwar bleibt der leibliche Tod den Getauften nicht erspart, lebten sie auch noch so fromm und gottesfürchtig. Aber: gerade in ihrem unausweichlichen Todesgeschick wissen sich die Getauften in der Gemeinschaft mit einem Gott, der in seinem Sohn den Tod durchlitten hat. Weil Christus gestorben und auferstanden ist, können die Getauften in der begründeten Hoffnung sterben, dass Gottes Herrschaft über den Tod auch sie vor dem ewigen Tod bewahren wird. Diese eschatologische Perspektive eröffnet sich auch mit Blick auf Jesu Verkündigung des Gottesreiches. Hier geht es ja vorrangig um die Wiederherstellung einer der ursprünglichen Schöpfung gemäßen Beziehung der Menschen zu Gott und der Menschen untereinander. Angesicht faktischer Sünde und Schuld sind hierzu Vergebung und Verzeihung unabdingbar (vgl. Mt 6,12 u. a.). Solange aber noch der Tod herrscht, bleibt Vergebung stets vorläufig und jede Versöhnung Fragment. Erst in der Perspektive der Auferstehung kann die Schöpfung am Ende der Geschichte zu dem werden, als was sie von Anfang an gewollt und bestimmt war. Dass Christus tatsächlich „für uns“ gestorben ist, leitet Pannenberg nicht zuletzt aus der Praxis Jesu her, mit Sündern und Ausgestoßenen Mahl zu halten. Insofern ist sein Abschiedsmahl Aufgipfelung seiner Hingabe an Gott und an die Menschen. Die kirchliche Praxis eucharistischer Mahlgemeinschaft vereint beides miteinander: die Annahme eines jeden Menschen in die Gemeinschaft 52 Systematische Theologie, Bd. II, 480. 53 Vgl. Röm 3,21–30 u. a.

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des Gottesreiches und die damit verbundene, sich aus der Erinnerung an Jesu Tod und Auferstehung speisende Hoffnung auf die endgültige Überwindung von Sünde und Tod.54 6.

Leistungen und Grenzen

Kann Pannenbergs Rekonstruktion des Kreuzestodes als eines stellvertretenden Strafleidens und gerade insofern universalen Heilsereignisses überzeugen? In seiner 1976 an der Gregoriana in Rom verteidigten Dissertation „The Death of Christ According to Wolfhart Pannenberg“ gelangt Francis Edward Virgulak zu einem weitgehend negativen Urteil. Insbesondere weist er Pannenbergs These zurück, wonach im Licht der Auferstehung Jesu dessen Kreuzestod in einem der vorösterlichen Sicht vollständig entgegengesetztem Sinne zu deuten sei. Deshalb sei auch Pannenbergs Interpretation des Kreuzes als eines stellvertretenden Strafleidens abwegig. Vielmehr zeige sich am Kreuz auf gänzlich unerwartete Art und Weise die Wirklichkeit der von Jesus verkündigten Gottesherrschaft. Nach Virgulak reicht es vollkommen aus, Jesu gewaltsamen Tod angesichts der menschlichen Sünde als Konsequenz unverbrüchlicher Treue zu seiner Sendung zu verstehen. „Jesus konnte den Tod eines Sünders sterben, ohne aufzuhören, frei von Sünde zu sein“.55 In der Tat fällt es schwer, das Strafleiden Jesu als ein von Gott verhängtes Geschick zu verstehen. Wäre damit nicht tatsächlich einem Gottesbild Vorschub geleistet, das Jesu Verkündigung vom anbrechenden Gottesreich entgegen stünde? Kann man wirklich guten Gewissens behaupten, der Vater habe seinen Sohn der Blasphemie beschuldigt und entsprechend verurteilt? Genügt es nicht, im Kreuzestod die schreckliche Konsequenz menschlicher Sünde zu erblicken? Sühnend in diesem Sinne wäre allein die bis zum Tod durchgehaltene Treue Jesu zu seiner Sendung; denn in dieser Treue manifestiert sich der unbedingte Heilswille Gottes gegenüber den Menschen auch in ihrer Sünde. Offenbar wird Gottes Heilswille anfanghaft in Jesu Leben und Sterben; definitiv hingegen geoffenbart ist er in Jesu Auferweckung. Pannenberg christologische und soteriologische Reflexionen fußen auf der Deutung des Todes als einer Folge menschlicher Sünde. Hierin folgt er Paulus, der den Tod als Strafe für die Sünde Adams deutet. Allerdings: fordert Sünde tatsächlich unausweichlich Bestrafung? Wäre nicht eben so gut – und womöglich 54 Vgl. Pannenberg, A Theology of the Cross, 307. 55 Francis Edward Virgulak, The Death of Christ According to Wolfhart Pannenberg. An Exposition and Criticism of Pannenberg’s Theology of the Cross (Pontif. Univers. Gregoriana), Roma 1977, 13.

Stellvertretendes Strafleiden?

dem Gottesverständnis Jesu sogar angemessener – ein barmherziges Verzeihen vonseiten Gottes vorstellbar gewesen? Wie also ist der Begriff des Strafleidens mit der Selbstoffenbarung Gottes als dreifaltig-eine Liebe zu vereinbaren? Bei Hegel findet sich die Auffassung, dass die Bestrafung des Übeltäters notwendig ist, um diesen als sittliches Subjekt anzuerkennen.56 Innerhalb sozialer und rechtlicher Zusammenhänge mag dies womöglich zu treffen. Allerdings geht es im Horizont der Sünde um nichts Geringeres als um das endgültige Geschick des Menschen. Ob der endgültige Tod des Sünders – traditionell gefasst als „ewige Verdammnis“ – als reale Möglichkeit gedacht werden muss, um Gottes Anerkennung des Menschen als eines sittlichen Subjektes zu gewährleisten, provoziert die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ist der ewige Tod des Sünders tatsächlich die einem vergebenden und barmherzigen Gott angemessene Reaktion auf die Sünde des Menschen? Augustinus hatte diesen Einwand mit dem Hinweis darauf zu entkräften versucht, dass wegen der alles Vorstellbare übertreffenden Größe Gottes die Abkehr von ihm eine unendliche Schuld darstelle, die eine ewige Verdammnis rechtfertige;57 Anselm war ihm hierin im Grundsatz gefolgt, um die Notwendigkeit der Menschwerdung und des Kreuzestodes des Gottmenschen zu erweisen.58 Zu Recht wird diese Deutung heutzutage als nicht tragfähig, ja verfehlt empfunden; denn sie widerspricht nur allzu klar dem Gottesverständnis Jesu, seiner Einladung zur Umkehr und seiner auch die Sünder nicht ausschließenden Praxis gemeinsamer Mahlfeiern.59 Sollte also Gott seinen Sohn willentlich einem „Strafleiden“ ausliefern? Pannenberg ist der Auffassung, dass Christus nur dann als Versöhner wirken kann, wenn er die Sünder auch in ihrer Strafwürdigkeit vertritt:

56 Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 99–100 (Gesammelte Werke 14,1, 91–93). Vgl. dazu Ludwig Siep (Hg.), G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Klassiker Auslegen 9), Berlin 1997, 114–116. 57 Vgl. Augustinus, De Civitate Dei XXI, 12 (CCL 48, 779). 58 Anselm fragt, „aus welchem Grunde nämlich und aus welcher Notwendigkeit (qua necessitate scilicet et ratione) Gott Mensch geworden sei und durch seinen Tod, wie wir glauben und bekennen, der Welt das Leben wiedergeschenkt habe, da er das doch entweder durch eine andere Person – sei sie engelhafter oder menschlicher Natur – oder durch den bloßen Willen hätte tun können“ (Cur Deus homo I,1: Ed. F.S. Schmitt, Bd. II, 48; vgl. auch I,6; I,8; I,10). 59 Die Weherufe hingegen können als Bekräftigung des Ernstes der Gottesreichpredigt Jesu interpretiert werden; vgl. Karl Löning, Die Auseinandersetzung mit dem Pharisäismus in den Weherufen bei Matthäus (Mt 23) und Lukas (Lk 11,37–53), in: Rainer Kampling (Hg.), „Dies ist das Buch.“ Das Matthäusevangelium: Interpretation – Rezeption – Rezeptionsgeschichte (FS Hubert Frankemölle), Paderborn u. a. 2004, 217–234; Peter Klein, Die lukanischen Weherufe (Lk 6 24–26), in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 71 (1980) 150–159.

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„Ohne stellvertretendes Strafleiden bleibt […] die Sühnefunktion des Todes Jesu unverständlich, es sei denn, man wollte den Tod Jesu als Gott dargebotene Ersatzleistung im Sinne der Satisfaktionslehre Anselms ansehen, wofür es aber […] keine Basis in der Schrift gibt“ 60

Erst durch das stellvertretende Erleiden des Todes als Strafe für die Sünde ist Jesus mit allen Menschen „zusammengeschlossen“.61 Aber – genügt es nicht, wenn Jesus in seiner entschiedenen Treue zum Vater für dessen unbedingte Versöhnungsbereitschaft einsteht? Pannenberg weigert sich entschieden, Jesu Tod als eine Sühneleistung aufzufassen, deren es bedurfte, um Gottes Zorn über die Sünde der Menschen zu besänftigen. Vielmehr versteht er das Kreuz als Konsequenz der Praxis Jesu und seines Anspruchs, den Willen Gottes authentisch auszulegen und unter den Menschen wirksam werden zu lassen. Wird man deshalb nicht sagen dürfen: Die Heilsbedeutsamkeit des Kreuzes gründet deshalb vor allem darin, Konsequenz einer entschiedenen Freiheit zu sein: der Freiheit Jesu, seiner Sendung bis zum Tod treu zu bleiben?62 . Für sich genommen bleibt die Bedeutung des Kreuzestodes durchaus zweideutig; denn in der Perspektive des zeitgenössischen Judentums und auch der Jünger Jesu konnte das Kreuz sehr wohl als Zeichen göttlicher Verdammnis interpretiert werden. Erst im Licht der Auferweckung Jesu erfahren seine Praxis und Predigt in den Augen der Jünger jene Bestätigung, die ihnen Jesus als denjenigen ausweist, der Gottes Willen für die Menschen gültig ausgelegt und verkündigt hat. Insofern setzt Pannenbergs Interpretation des Kreuzestodes den Glauben an die göttliche Sendung Jesu und deren Bekräftigung durch die Auferweckung voraus. Bedarf es hierzu aber der Deutung des Kreuzes als eines stellvertretenden Strafleidens? Auch der Gedanke der Selbstunterscheidung von Vater und Sohn erzwingt diesen Gedanken nicht. Die am Kreuz erlittene Gottesferne Jesu kommt auch ohne die Deutung des Kreuzes als eines stellvertretenden Strafleidens aus; es genügt der Hinweis auf die abgründige Verlassenheit und Todesangst Jesu, um von einer unbedingten Zuspitzung der Selbstunterscheidung von Vater und Sohn zu sprechen.

60 Systematische Theologie, Bd. II, 473 Anm. 94. 61 Systematische Theologie, Bd. II, 477. 62 Für Rahner ist das Kreuz deshalb „Realsymbol“ und „signum efficax“ der radikal für den Menschen entschiedenen Liebe Gottes, nicht aber Instrumentalursache der Erlösung: Karl Rahner, Das christliche Verständnis der Erlösung, in: Schriften zur Theologie, Bd. XV, 236–250, bes. 246. – Vgl. auch Anselm Grün, Erlösung durch das Kreuz. Karl Rahners Beitrag zu einem heutigen Erlösungsverständnis, Münsterschwarzach 1975, bes. 63–105 („Die Rolle des Kreuzes bei der Erlösung“).

Stellvertretendes Strafleiden?

Abgründig genug ist auch der Gedanke, dass der Auferweckte seine Verlassenheit und Todesangst fortan in das Innere des dreifaltigen Gottes hineinträgt – ein Gedanke, der sich freilich erst im Licht der geschichtlichen Offenbarung Gottes erschließt. Denn abgesehen von der Offenbarung erscheint eine innere Bezüglichkeit Gottes bestenfalls als denkbar und insofern als möglich, nicht aber als tatsächlich gegeben.63 Erst die Selbstmitteilung Gottes in Zeit und Geschichte lässt die Theologie sinnvollerweise von einer „Selbstunterscheidung“ von Vater und Sohn sprechen, wie sie von Pannenberg als Interpretament der Heilsbedeutung des Kreuzes beansprucht wird: Indem mit Jesus der Mensch gewordene Gottessohn am Kreuz stirbt, erleidet er den schmerzhaften Höhepunkt seiner ewigen Selbstunterscheidung vom Vater. Menschliches und Göttliches verschränken sich im Leiden und Sterben Jesu; auf Golgotha, so ließe sich wohl sagen, vollendet sich das, was mit der Inkarnation des ewigen Sohnes in Zeit und Geschichte seinen Anfang nahm. Alles dies erschließt sich erst dann menschlichem Verstehen, wenn Jesu Geschick als Selbstoffenbarung des dreieinigen Gottes gedeutet wird.64 Ohne einen aus dem christlichen Bekenntnis und der kirchlichen Tradition gespeisten Glauben an die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus von Nazareth bleibt lediglich der historisch wahrscheinliche Aufweis, dass Jesu Tod als katastrophale Konsequenz seines Anspruchs gelten kann, den Willen Gottes authentisch auszulegen. Aber selbst in der Perspektive des Glaubens drängt sich die verstörende Frage auf, warum Gott das Heil der Menschen nicht auch weniger blutig hätte erwirken können. Zweifellos war Jesu Tod am Kreuz in erster Linie die Konsequenz menschlicher Freiheit: der frei gewählten Treue Jesu zu seiner Sendung zuerst, aber auch des in Freiheit gefällten Todesurteils seiner Richter. Wie Versöhnung erst dann geschehen kann, wenn Menschen Gottes Vergebungsbereitschaft frei annehmen, so ist auch das Kreuz nicht unausweichliches Verhängnis, sondern Resultat menschlicher Freiheit. Dass sowohl Jesus wie auch seine Richter jeweils gute Gründe für ihre Entscheidungen geltend machen konnten, steht dem nicht entgegen. Andernfalls wären sie für ihr Tun nicht verantwortlich zu machen; sie hätten vielmehr gleichsam als Marionetten Gottes gehandelt. In freiheitstheoretischer Perspektive erscheint Jesu Tod am Kreuz notwendig und kontingent zugleich. In diesem Licht ist dann aber auch Gott von dem Vorwurf

63 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. I, 305–335. – Zur Denkbarkeit einer inneren Selbstbezüglichkeit Gottes vgl. Bernhard Nitsche, Gott und Freiheit. Skizzen zur trinitarischen Gotteslehre (ratio fidei 34), Regensburg 2008, bes. 165–213. 64 Zum Begriff der „Selbstoffenbarung Gottes“ und deren anthropologischen Verstehensvoraussetzungen vgl. Magnus Lerch, Selbstmitteilung Gottes. Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie (ratio fidei 56), Regensburg 2014, bes. 37–44. 76–139.

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entlastet, er habe den Kreuzestod seines Sohnes unmittelbar angezielt und ans Werk gesetzt. Kann man dann aber weiterhin noch von einem „stellvertretenden Strafleiden“ sprechen, das der Vater über seinen Sohn verhängt hat? Dass Gottes Gerechtigkeit ein Werk der Genugtuung oder die Bestrafung des Sünders fordert, wie es Anselm unterstellte (aut poena aut satisfactio), weist Pannenberg ausdrücklich zurück. „Stellvertretendes Strafleiden“ ist Jesu Tod am Kreuz allenfalls insofern, als der Tod als Konsequenz menschlicher Sünde nun den einzig Sündelosen trifft. Ein Verständnis des Kreuzes als ein Jesus von Gott auferlegtes stellvertretendes Strafleiden widerspräche wesentlichen Elementen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Allerdings: Mit der Deutung des Todes Jesu im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens kann Pannenberg durchaus den Gedanken der Solidarität Gottes mit den Sündern profilieren. Ist nämlich der Tod das unausweichliche Los der Sünder, so kann jeder, der sich als Sünder weiß und zugleich auf die barmherzige und Leben spendende Macht Gottes vertraut, seinen Tod in der Hoffnung bestehen, in der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen auf ewig zu leben. Ist dies eine dem biblischen Zeugnis und der theologischen Tradition angemessene Deutung des Kreuzestodes Jesu? Bedenkt man die ernsthaften Einwände gegen eine Interpretation des Kreuzestodes im Sinne stellvertretender Sühne,65 so böte eine Deutung des Kreuzes im Sinne der Solidarität Gottes mit den Sündern eine nachvollziehbare Deutung des Geschehens auf Golgota. Eine solche – „schwächere“ – Deutung könnte sich unter anderem auf Friedrich Schleiermacher berufen.66 Anspruchsvoll hingegen bleibt Pannenbergs Einbindung des Kreuzestodes in die trinitarische Dynamik Gottes.67 Beide Dimensionen des Kreuzes – die schwächere wie auch die anspruchsvolle Interpretation – erschließen sich nicht schon aus dem historischen Geschehen, sondern erst im Licht des Glaubens an die Auferstehung Jesu. „Erst von dem her, was zeitlich mit dem Gewicht des Endgültigen erscheint, ist mit rückwirkender Endgültigkeit entschieden, was in Gottes Ewigkeit wahr ist“.68 65 Vgl. Magnus Striet/Jan-Heiner Tück (Hg.), Erlösung auf Golgota? Der Opfertod Jesu im Streit der Interpretationen, Freiburg – Basel – Wien 2014. 66 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Auflage (1830/31), § 104, 4, Berlin 2008, Bd. II, 140–148. 67 Vgl. hierzu Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1986, bes. 470–505 („Der gekreuzigte Jesus Christus als vestigium trinitatis“); Hans Urs von Balthasar, Theodramatik, Bd. III: Die Handlung, Einsiedeln 1980, bes. 297–309; Theologie der drei Tage, Einsiedeln 1990, bes. 78–81 („Kreuz und Theologie“) (urspr. als „Mysterium Paschale“ in Mysterium Salutis, Bd. III/2, Einsiedeln 1969, 133–319). 68 Pannenberg, Christologie, 332.

Stellvertretendes Strafleiden?

Der Glaube an die Heilsbedeutung des Kreuzes Jesus steht und fällt mit dem Glauben an Jesu Auferstehung. Das Kreuz als stellvertretendes Strafleiden zu verstehen, scheint nur in der „schwächeren“ Variante mit Jesu Botschaft vom Gottesreich vereinbar. Den Kreuzestod hingegen als Höhepunkt der Selbstunterscheidung Christi vom Vater zu deuten, nimmt Jesu irdische Wirklichkeit in das innere Leben des dreifaltigen Gottes hinein. Gerade so aber kann Jesu Leben, Leiden und Sterben erlösend wirken und als Zeichen der Hoffnung für die Sünder gelten.

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Der Tod Jesu für uns Zum Paradigma der Stellvertretung bei Kant, Pannenberg und Hegel

Im Soteriologie-Kapitel seiner Systematischen Theologie kommt Wolfhart Pannenberg am Ende des Abschnitts über die Stellvertretung kurz auf die Behandlung der Versöhnungslehre in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion zu sprechen.1 Pannenberg deutet den Gedanken der Versöhnung bei Hegel als Stellvertretung in einem einseitig inklusiven Sinn und macht dagegen das exklusive Moment des Sterbens und der Auferstehung Jesu geltend. Im Folgenden möchte ich den inneren Zusammenhang zwischen exklusiver und inklusiver Stellvertretung untersuchen.2 Zunächst gehe ich zurück auf Immanuel Kant, dessen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft bis heute einen wichtigen Bezugspunkt der theologischen Debatte über die Versöhnung bildet.3 Anschließend werde ich die Funktion des Gedankens der Stellvertretung in der Christologie Pannenbergs genauer erörtern. Daran anknüpfend soll Hegels Deutung des Todes Jesu als stellvertretende Genugtuung untersucht und in den größeren Rahmen seiner Philosophie der christlichen Religion eingeordnet werden. Dabei wird sich zeigen, dass Hegel dem exklusiven Moment der Stellvertretung näher kommt, als Pannenberg einzuräumen bereit scheint.

1 Zum allgemeinen Kontext der neuzeitlichen Versöhnungslehre siehe F. Nüssel, Die Sühnevorstellung in der klassischen Dogmatik und ihre neuzeitliche Problematisierung, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 2005, 73–94. 2 Laut Pannenberg wurde die Redeweise durch Albrecht Ritschl geprägt, dem zufolge hinter dem exklusiven Gebrauch des Begriffs der Stellvertretung die verkehrte Auffassung steht: „Was Christus als Priester tut, braucht die Gemeinde nicht auch zu tun“. Die Stellvertretung sei vielmehr inklusiv gemeint: „Was Christus als Priester an der Stelle und als Repräsentant der Gemeinde ihr voraus tut, darin hat demgemäß die Gemeinde ihre Stellung selbst zu nehmen“ (A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Dritter Band: Die positive Entwicklung der Lehre, Bonn 1874; 3 1888, 515). 3 Die Rolle Kants für die Geschichte der Erlösungslehre wird als so bedeutsam gesehen, dass eine jüngere kirchenamtliche Abhandlung der kantischen Religionsphilosophie einen Abschnitt von mehreren Seiten widmet (vgl. Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Hg. im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2015, 94–100).

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1.

Die Antinomie der Erlösung (Kant)

Kant zufolge besitzt die religiöse Vorstellung von der Erlösung des Sünders antinomischen Charakter. Der Widerspruch lässt sich schlagwortartig wie folgt zusammenfassen: Entweder der Schuldige leistet selbst die Genugtuung; dann handelt es sich nicht um Erlösung durch die Gnade Gottes. Oder ein anderer leistet für den Sünder Genugtuung; dann hat die Erlösung nichts mit der sittlichen Besserung des Menschen zu tun. Man kann die Alternative auch so ausdrücken: Entweder Gott erlöst den Menschen oder der Mensch erlöst sich selbst. Im ersten Fall geht der religiöse Glaube an die Erlösung zu Lasten der menschlichen Freiheit; im zweiten Fall verliert die Wirksamkeit Gottes ihre Bedeutung. Doch für Kant ist nur ein Verständnis von Religion mit der Vernunft vereinbar, das dem Menschen die uneingeschränkte Verantwortung für sein Tun überträgt: Es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung zu glauben und sie (wie die Juristen sagen) utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen, und zwar dermaßen (mit der Wurzel sogar), dass auch fürs künftige ein guter Lebenswandel, um den er sich bisher nicht die mindeste Mühe gegeben hat, von diesem Glauben und der Akzeptation der angebotenen Wohltat die unausbleibliche Folge sein werde.4

Deshalb sucht Kant nach einer Bedeutung des Begriffs der stellvertretenden Genugtuung, die dem Subjekt nichts von seiner Freiheit nimmt. Das zweite Stück der Religionsschrift enthält eine Kritik der christlichen Erlösungslehre, in deren Rahmen Kant ein solches Paradigma der Stellvertretung entfaltet. Wie andere vor ihm,5 beklagt Kant, dass menschliche Schuld, sofern es sich um moralische Verfehlung handelt, eine im strengen Sinn stellvertretende Genugtuung nicht zulässt. Während jemand für andere einen materiellen Schaden ersetzen oder eine ökonomische Schuld begleichen kann, kann niemand die moralische Verantwortung für das unsittliche Handeln anderer übernehmen. [Die moralische Schuld] ist keine transmissible Verbindlichkeit, die etwa wie eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei ist, ob der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn bezahlt) auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, 4 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (= AA), Bd. VI, 116 f. 5 Hier wären etwa die Sozinianer oder die Neologen zu nennen. Siehe dazu G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, München 1984–86, Bd. 1, 100–127 und 170–216.

Der Tod Jesu für uns

nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großmütig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann.6

Infolgedessen scheint nicht einmal Gott an meiner Stelle Genugtuung leisten zu können. Sobald er sich meine Vergehen zurechnen ließe, wäre ich für meine Taten nicht mehr verantwortlich. Doch für etwas, für das ich nicht die Verantwortung trage, kann weder ich selbst noch jemand anderes an meiner Stelle Genugtuung leisten. Der juristische Begriff der Genugtuung, auf den Kant verweist, stammt aus der Theorie des Strafrechts. Dort bezeichnet der Ausdruck die Begleichung der Ansprüche eines Geschädigten durch den Täter.7 In einer Vorlesung aus der Entstehungszeit der Religionsschrift bestimmt Kant ‚Genugtuung‘ oder ‚Satisfaktion‘ allgemein als die „Vergeltung oder Entschädigung durch ein Äquivalent“.8 Eine Welt, in der die Idee des höchsten Guts wirklich werden soll, erfordert die Wiedergutmachung des Bösen. Da, wie gesagt, nur der Schuldige selbst die Genugtuung leisten kann, entwickelt Kant den Gedanken der Stellvertretung als einer Art innerer Beziehung.9 Sie bildet, wie wir sehen werden, eine extreme Form der inklusiven Stellvertretung. Im Hintergrund des kantischen Paradigmas der Stellvertretung steht die Lehre von der Revolution in der Gesinnung, die erforderlich ist, damit sich der Mensch von der Bosheit abkehrt und aus freien Stücken das Gute vollbringen kann.10 Eine solche Umkehr ist laut Kant nicht denkbar, ohne dass der Einzelne die negativen Folgen seines früheren bösen Tuns auf sich nimmt. Dabei erleidet der wohl gesonnene Mensch das Ungemach, das seine bösen Taten aus der Vergangenheit nach sich ziehen. Der Ausgang aus der verderbten Gesinnung in die gute ist (als ‚das Absterben am alten Menschen‘, ‚Kreuzigung des Fleisches‘) an sich schon Aufopferung und Antretung einer langen Reihe von Übeln des Lebens, die der neue Mensch in der Gesinnung des Sohnes Gottes, nämlich bloß um des Guten willen, übernimmt; die aber doch eigentlich einem anderen, nämlich dem alten (denn dieser ist moralisch ein anderer), als Strafe gebührten.11

6 Kant, AA VI, 72. 7 Hugo Grotius nennt die Genugtuung neben der Abschreckung künftiger Rechtsverstöße sowie der Besserung des Täters als den dritten Zweck der Strafe (vgl. H. Grotius, De iure belli et pacis II, cap. XX, n. 6). 8 I. Kant, Metaphysik der Sitten Vigilantius [1793/94], in: AA XXVII, 689. 9 Alexander Heit spricht von „innersubjektiver Genugtuung“ und grenzt sie von „externer Genugtuung“ ab (vgl. A. Heit, Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen 2006, 172–180). 10 Vgl. Kant, AA VI, 47 f. 11 Kant, AA VI, 74.

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Kant greift auf die Vorstellung zurück, dass es sich bei den uns widerfahrenden Übeln zumindest teilweise um die Strafe handelt, die wir für unsere moralischen Vergehen verdienen. Durch diese Erklärung trägt er der Erfahrung Rechnung, dass die Übel auch solche Menschen treffen, an deren Gesinnung es nichts zu bemängeln gibt. Die Theorie beruht auf der biblischen Unterscheidung zwischen dem alten und dem neuen Menschen. So erscheint ein und dieselbe Person einerseits als derjenige, der – durch seine bösen Taten – der Strafe verfallen ist, andererseits als derjenige, der – durch seine gute Gesinnung – Genugtuung zu leisten vermag. Demnach deutet Kant die Sühne als in der Bekehrung des Sünders enthalten. Im selben Augenblick, wie der Gläubige sich vom Bösen abwendet, übernimmt er die Strafe für sein vergangenes Leben. Kant macht sich die in der Kritik der reinen Vernunft zur Auflösung des Widerspruchs zwischen Natur und Freiheit gebrauchte Unterscheidung von Sinnesart und Denkungsart zunutze.12 Der Mensch und seine Handlungen können sowohl unter der zeitlichen Perspektive der Gesetze der Natur als auch nach dem moralischen Gesetz der Freiheit betrachtet werden. Dementsprechend besitzt jede Person einen intelligiblen Charakter, der ihrem äußerlich sichtbaren, empirischen Charakter zugrunde liegt. Die Revolution in der Gesinnung besagt nicht weniger als eine Änderung des intelligiblen Charakters. Der Mensch bleibt zwar physisch derselbe, aber er ist „moralisch ein anderer“ geworden. Kants transzendentaler Idealismus blieb bekanntlich nicht unwidersprochen. Doch sollen uns hier nicht die vermeintlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die kantische Lehre im Allgemeinen beschäftigen, sondern deren Anwendung auf das soteriologische Problem der Stellvertretung. Dass Kant die dem Gläubigen widerfahrenden Übel überhaupt als etwas deutet, das dieser „um des Guten willen“ übernimmt, ist Ausdruck seiner Überzeugung von der Notwendigkeit einer Genugtuung für das durch den Menschen verschuldete Böse. Dass der „neue Mensch“ die Genugtuung gleichsam stellvertretend für den „alten Menschen“ leisten muss, zeigt die Radikalität des Bösen in der menschlichen Gesinnung.13 Die eigentliche Pointe der kantischen Position besteht allerdings in der Rolle, die er dem Sohn Gottes bei der Erlösung des gefallenen Menschen zuschreibt.

12 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 579. 13 In einer scharfsinnigen Analyse der kantischen Religionsschrift unterscheidet Schaede zwei Momente der Stellvertretung, nämlich erstens der guten Gesinnung (des neuen Menschen) für die verderbte Gesinnung (des alten Menschen) und zweitens der guten Gesinnung für die dem moralischen Gesetz niemals vollkommen angemessenen Taten (vgl. Schaede, Stellvertretung, 614–620).

Der Tod Jesu für uns

In scheinbarem Gegensatz zu dem Verdikt über die Annahme einer stellvertretenden Genugtuung erklärt Kant nämlich, der Gläubige müsse die ihm zustoßenden Übel „in der Gesinnung des Sohnes Gottes“ auf sich nehmen. Weiter schreibt Kant, der Mensch stehe „in seiner neuen Gesinnung (als intelligibles Wesen) vor einem göttlichen Richter, vor welchem diese die Tat vertritt“.14 Im Fortgang des Satzes schwenkt Kant von dem Gedanken der Vertretung des Menschen durch sich selbst um zu der Vorstellung der Vertretung durch einen Repräsentanten. [Die neue Gesinnung] in ihrer Reinigkeit, wie die des Sohnes Gottes, welche er [sc. der Mensch] in sich aufgenommen hat, oder (wenn wir diese Idee personifizieren) dieser selbst [sc. der Sohn Gottes] trägt für ihn, und so auch für alle, die an ihn (praktisch) glauben, als Stellvertreter die Sündenschuld, tut durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug, und macht als Sachverwalter, dass sie hoffen können, vor ihrem Richter als gerechtfertigt zu erscheinen, nur dass (in dieser Vorstellungsart) jenes Leiden, was der neue Mensch, indem er dem alten abstirbt, im Leben fortwährend übernehmen muss, an dem Repräsentanten der Menschheit als ein für allemal erlittener Tod vorgestellt wird.15

Man wird nicht fehlgehen, wenn man die syntaktische Unübersichtlichkeit dieses Satzes als ein Indiz dafür nimmt, dass Kant in seiner Auffassung hinsichtlich der Bedeutung der Person Jesu schwankte. Wenn auf einmal nicht mehr der sündige Mensch, sondern der Sohn Gottes die Schuld trägt, entsteht einerseits der Anschein eines Zugeständnisses des Philosophen an die christliche Religion. Da der Sohn Gottes andererseits nicht mehr ist als eine personifizierte Idee, scheint die Wirksamkeit der stellvertretenden Genugtuung wiederum von dem gläubigen Subjekt abzuhängen. Dadurch gerät offenbar Kant selbst in die Aporie, dass der sündige Mensch zu seiner Erlösung etwas leisten muss, das er aus eigener Kraft gar nicht zu leisten vermag. Eine freundlichere und weniger aporetische Lesart wird Kant zugutehalten, dass er genau die Schwierigkeit erfasst hat, vor der jede Soteriologie steht, die

14 Kant, AA VI, 74. 15 Ebd. – Die Ansicht Karl-Heinz Menkes, das deutsche Abstraktum ‚Stellvertretung‘ sei von dem Erlanger Theologen Georg Friedrich Seiler geprägt worden (vgl. K.-H. Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Einsiedeln 1991, 82–85 und ders., Stellvertretung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971–2007, Bd. 10, Sp. 126–129, 126 f.) darf als überholt gelten. Wie Stefan Schaede gezeigt hat, sprach der Hallenser Theologe Sigmund Jakob Baumgarten (ein älterer Bruder des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten) bereits zwanzig Jahre früher von der „Vertretung der Stelle eines anderen“ (vgl. St. Schaede, Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, Tübingen 2004, 549–553). Kants Rede von dem Sohn Gottes als „Stellvertreter“ knüpft an diesen Sprachgebrauch an.

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das exklusive Moment des stellvertretenden Leidens Christi mit dem inklusiven Moment der Sühneleistung des Gläubigen in Einklang bringen will. Klar benennt Kant die Alternative zwischen dem Gedanken einer Übernahme der Strafe für die Verfehlungen des alten Menschen durch den neuen Menschen und der Vorstellung vom Tod Jesu als einmaliger Genugtuung für die Schuld der ganzen Menschheit. Im ersten Fall geschähe die Rechtfertigung des Sünders kraft eigenen Verdienstes; im zweiten Fall erfolgte sie, wie Kant ausdrücklich festhält, aufgrund der Zurechnung des Verdienstes Christi „aus Gnaden“.16 Damit erreicht Kant im zweiten Stück der Religionsschrift jene „merkwürdige Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst“,17 die er im dritten Stück weiter ausführt. Entweder der Mensch hofft, durch seinen eigenen guten Lebenswandel das Heil zu erlangen, das ihm die Religion verheißt; oder er glaubt, Gott wohlgefällig zu sein dank des Leidens und Sterbens Christi. Mit dem einen Horn der Alternative verbindet Kant den reinen moralischen Glauben, den er in der Kritik der praktischen Vernunft eingeführt und in der Religionsschrift entfaltet hat. Das zweite Horn bezieht der Philosoph auf den sogenannten Kirchenglauben, dem nicht das vernünftige Denken, sondern eine übernatürliche Offenbarung zugrunde liege. Doch kommen laut Kant auch die Verfechter des Offenbarungsglaubens nicht umhin einzuräumen, dass es widersinnig wäre, wenn Gott den Menschen für gerechtfertigt hielte, ohne dass dieser die geringste Anstrengung zu seiner eigenen sittlichen Besserung unternähme. Also, lautet die Schlussfolgerung Kants, verlangen beide Formen des Glaubens die Revolution der Gesinnung als notwendige Bedingung der Religion.18 Die stellvertretende Genugtuung hingegen spielt im Vernunftglauben und im Offenbarungsglauben eine unterschiedliche Rolle. Im moralischen Glauben vertritt der Gläubige sich selbst, das heißt der neue Mensch den alten Menschen. Der Kirchenglaube hingegen schreibt die Bekehrung des Menschen dem Wirken der Gnade Gottes zu. Den beiden Arten des Glaubens können nun die Begriffe der inklusiven und der exklusiven Stellvertretung zugeordnet werden. Der reine Religionsglaube legt den Akzent auf die Mitwirkung des Gläubigen und verlangt demnach eine inklusive Stellvertretung. Der Kirchenglaube setzt auf das Handeln Gottes und lehrt deshalb eine exklusive Stellvertretung. Doch

16 Kant, AA VI, 75. 17 Kant, AA VI, 116. 18 Für Johannes Reich laufen die Überlegungen „auf den Gedanken hinaus, dass der Mensch selbst eine gute Gesinnung ausbildet und daraufhin die Zuversicht haben kann, dass die unbewältigte Schuld eine Erreichung der Seligkeit nicht dauerhaft behindert“ (J. Reich, Heiligkeit und Gottes Beistand. Ein moraltheologischer Blick auf die Ethikvorlesungen und die Religionsschrift Immanuel Kants, Tübingen 2019, 306).

Der Tod Jesu für uns

wie es möglich sein soll, dem Menschen etwas zuzurechnen, das ein anderer getan hat, lässt sich für Kant nicht theoretisch erklären. Es kann ihn [sc. den Menschen] also, soviel die Vernunft einsieht, kein anderer durch das Übermaß seines Wohlverhaltens und durch sein Verdienst vertreten; oder wenn dieses angenommen wird, so kann es nur in moralischer Absicht notwendig sein, es anzunehmen; denn fürs Vernünfteln ist es ein unerreichbares Geheimnis.19

In moralischer Absicht lässt sich eine stellvertretende Genugtuung nur annehmen, wenn sie ein inklusives Moment besitzt. Freilich hieße es Kants Theorie zu verkürzen, wollte man der Person Jesu überhaupt keine Funktion mehr beilegen. Wie erwähnt, verkörpert Christus für Kant die personifizierte Idee des vollkommenen, Gott wohlgefälligen Menschen. Ein solches Ideal kann uns auf zweifache Weise gegeben sein, nämlich zum einen „an sich selbst“, das heißt als Idee der reinen praktischen Vernunft, zum anderen „in der Erscheinung“, das heißt als einzelner Mensch in Raum und Zeit. Ob ein solcher „Gottmensch“ wirklich existiert oder jemals existiert hat, hält Kant zwar für historisch nicht beweisbar, aber auch nicht zu widerlegen.20 Seine Existenz und die durch ihn zu leistende stellvertretende Genugtuung sind der Gegenstand des Kirchenglaubens. Im Rahmen seiner Vernunftreligion vertritt Kant demnach eine extreme Form der inklusiven Stellvertretung. Für den schuldig gewordenen Menschen sühnt nicht eine andere Person, sondern an seine Stelle tritt gleichsam eine Vorstellung der praktischen Vernunft. Diese Vernunftidee bezeichnet Kant als „das Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit“.21 Sie dient dem Gläubigen als Richtmaß bei seinem Bemühen, das Bild des vollkommenen Menschen an sich selbst auszuprägen. Welcher Zusammenhang zwischen der äußeren Erscheinung des Urbildes in dem Gottmenschen Jesus Christus und seiner Ausprägung im Leben des einzelnen Gläubigen für Kant möglicherweise besteht, bleibt indes unklar. An diesem Punkt lohnt ein Blick auf die Theologie Wolfhart Pannenbergs, der dem exklusiven Moment der Stellvertretung eingehende Untersuchungen gewidmet hat.

19 Kant, AA VI, 143. 20 Vgl. Kant, AA VI, 119. 21 AA VI, 119; vgl. 61 f. – Zum Begriffsgebrauch siehe T. Rosefeldt, Urbild/Nachbild, in: M. Willaschek u. a. (Hg.), Kant-Lexikon, Berlin 2015, 2420 f.

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2.

Sühne und Befreiung (Pannenberg)

Sowohl in den Grundzügen der Christologie als auch in der Systematischen Theologie befasst sich Pannenberg ausführlich mit dem Thema der stellvertretenden Genugtuung.22 Es geht ihm darum, die einseitige Perspektive einer reinen Inkarnationschristologie zu überwinden und den Aspekt der Kenosis zur Geltung zu bringen. Den Ausgangspunkt und Kern der Christologie Pannenbergs bildet bekanntlich der Glaube an die Auferstehung. Vor diesem Hintergrund wendet er sich in Paragraph 7 der Grundzüge dem Kreuzestod Jesu zu. Pannenberg schildert zunächst die Problematik der ältesten Deutungen, die ihn aus dem Alten Testament zu verstehen suchten. Anschließend erinnert er an das Selbstverständnis Jesu. Gemessen an seinem Vollmachtsanspruch, musste die Verurteilung Jesu als ein Verhängnis erscheinen. Das vermeintliche Scheitern Jesu auf der einen und seine Auferweckung durch Gott auf der anderen Seite führen zum Gedanken der Stellvertretung, dem sich Pannenberg in vier Schritten annähert. Der unmittelbare Sinn von Stellvertretung betrifft das Verhältnis Jesu zum jüdischen Volk. Indem Gott seinen Sohn nicht dem Tod überlässt, sondern ihn von den Toten auferweckt, erweist er die gegen Jesus vorgebrachte Anklage der Gotteslästerung nachträglich als verkehrt. In den Augen Gottes erscheinen plötzlich nicht mehr der Prophet aus Nazareth, sondern seine Ankläger und Richter als die wahren Lästerer. Da es gleichwohl Jesus ist, der Leiden und Sterben bereitwillig auf sich nimmt, wird er zum Stellvertreter für Israel. Im Nachwort zur 5. Auflage spricht Pannenberg von einer „Sinnumkehrung, durch die der als Gotteslästerer Verworfene als von Gott gerechtfertigt, seine Richter aber nunmehr als Gotteslästerer dastehen“.23 Dass die Stellvertretung das ganze jüdische Volk umfasst, begründet Pannenberg damit, dass „die Mitglieder der jüdischen Behörde nicht nur als besonders böswillige Individuen, sondern wenigstens im tieferen Sinne nach dem Gesetz gehandelt haben“. Durch die Auferweckung Jesu sei deshalb „prinzipiell jeder unter der Autorität des Gesetzes lebende und an sie gebundene Jude als Gotteslästerer erwiesen“.24 Im nächsten Schritt weitet sich der Blick auf die Menschheit im Ganzen. Hat man die Möglichkeit der stellvertretenden Genugtuung erst einmal grundsätzlich ins Auge gefasst, ist nicht einzusehen, warum lediglich einige Zeitgenossen Jesu oder nur die Angehörigen des Volkes Israel einen Nutzen aus ihr ziehen

22 Zur Christologie Pannenbergs im Allgemeinen siehe G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 164–196. 23 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964; 5 1976 (= Chr), 420. 24 Chr, 266 f.

Der Tod Jesu für uns

sollten. Wenn Gott den Tod Jesu als Sühne für die Verfehlungen einiger anerkennt, warum schließt er so viele andere, die ebenfalls Schuld auf sich geladen haben, davon aus? Der Apostel Paulus stellt einen Zusammenhang her zwischen der Verstrickung der ganzen Menschheit seit Adam in das Böse auf der einen Seite und der Gerechtsprechung aller Menschen durch das Sterben Jesu auf der anderen Seite (vgl. Röm 5). Daran knüpft sich der Gedanke von der stellvertretenden Bedeutung seines Todes für die ganze Menschheit. Mit dem dritten Schritt gibt Pannenberg dem Begriff der inklusiven Stellvertretung eine eigene Wendung. Gewöhnlich bezieht sich der Ausdruck ‚inklusiv‘ auf die Mitwirkung des Schuldigen an der Genugtuung. Damit die Stellvertretung wirksam wird, genügt nicht das Handeln des Vertreters, sondern der Vertretene muss selbst einen Beitrag leisten. Durch das inklusive Moment wird der ursprüngliche Akt der Genugtuung keineswegs überflüssig. Pannenberg macht im Gegenteil deutlich, dass sich die stellvertretende Genugtuung Jesu von dem Beitrag, den die übrigen Menschen leisten, gerade darin unterscheidet, dass Jesus in seinem Leiden und Sterben gänzlich alleingelassen war. Die Einsamkeit des Todes Jesu setzt sich nicht im Leiden und Sterben der übrigen Menschen fort. Der Glaube an die Auferstehung Jesu eröffnet vielmehr die Aussicht auf Gemeinschaft mit ihm auch in der Lage äußerster Bedrängnis. „Wer mit Jesus verbunden ist, der stirbt nicht mehr allein, nicht mehr von aller Gemeinschaft ausgeschlossen, vor allem nicht mehr als ein von der Gemeinschaft mit Gott und seinem zukünftigen Heil Geschiedener.“25 Wie gerade der Vergleich mit Kant lehrt, verzichtet Pannenberg bis hierher auf jede Form der Moralisierung des Geschehens der Rechtfertigung. Der Sünder wird gerecht nicht durch den Wandel der sittlichen Gesinnung, sondern kraft seiner Verbundenheit mit Jesus Christus. Durch die Ermöglichung der Geborgenheit in der Gemeinschaft mit ihm enthält auch die inklusive Stellvertretung „ein exklusiv nur dem Sterben Jesu zukommendes Element“.26 Im vierten und letzten Schritt seiner Ausführungen erläutert Pannenberg, inwiefern es sich bei der Stellvertretung nicht um ein einmaliges Merkmal des Lebensschicksals Jesu handelt. „Im sozialen Leben ist Stellvertretung ein allgemeines Phänomen, im Tun wie im Ergehen.“27 Pannenberg erinnert an die Bedenken, die gegen den Begriff der Stellvertretung ins Feld geführt wurden, insbesondere an die Kritik der Sozinianer, denen zufolge Schuld und Strafe nicht von einer Person auf die andere übertragen werden können.28 Dagegen macht er geltend, dass der jüdischen Mentalität die Strafe als ein naturbedingtes 25 26 27 28

Chr, 270. Chr, 271. Chr, 275. Vgl. Chr, 272 f.

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Ergehen erscheine. Sie ist nichts, das von einem Richter eigens verhängt werden müsste, sondern liegt in der gottgewollten Ordnung der Dinge. Da die üblen Folgen des Tuns eines jeden Menschen unweigerlich auch andere betreffen, tritt die Schuld von vornherein als gesellschaftliches Phänomen ins Bewusstsein. Die gegenseitige Stellvertretung innerhalb des allgemeinen Zusammenhangs von Tun und Ergehen erscheint somit als etwas ganz und gar Selbstverständliches. In diesem Horizont ist nach der Auffassung Pannenbergs der Tod Jesu zu sehen. Kurz zusammengefasst: Unter der Voraussetzung, dass in allen sozialen Beziehungen ein Element von Stellvertretung waltet, darf man auch den Tod Jesu als ein stellvertretendes Geschehen verstehen, angesichts jener eigentümlichen Umkehrung, dass der als Gotteslästerer Verworfene im Lichte seiner Auferweckung der wahrhaft Gerechte, hingegen seine Richter nun die eigentlichen Gotteslästerer sind.29

Im Kapitel 11 seiner Systematischen Theologie nimmt Pannenberg das Thema der Stellvertretung wieder auf. Seine Absicht bleibt im Wesentlichen die gleiche wie zweieinhalb Jahrzehnte zuvor. Er will die Unverzichtbarkeit der exklusiven Stellvertretung aufzeigen und zugleich deren Komplementarität mit der inklusiven Stellvertretung verdeutlichen. Indem Pannenberg das Leiden und Sterben Jesu von anderen möglichen Formen der Stellvertretung abhebt, erweist er die Komplexität des Geschehens.30 Auf der einfachsten Stufe besteht Stellvertretung in einer Leistung, die der eine für den anderen erbringt. Alle Dienstleistungen, wie sie in arbeitsteiligen Gesellschaften gang und gäbe sind, beruhen auf einem solchen Prinzip der Stellvertretung. Das gleiche gilt für solidarisches Handeln, mit dem wir einem Notleidenden zu Hilfe kommen. In diesen Fällen tritt derjenige, der etwas tut, an die Stelle jemandes, der vorübergehend oder dauerhaft nicht willens oder außerstande ist, die besagte Leistung selbst zu erbringen. Ein Sonderfall liegt vor, wo Menschen ihr eigenes Leben einsetzen, um das Leben anderer zu bewahren. Eine solche Stellvertretung ist nicht mehr an eine spezifische Rolle oder soziale Stellung gebunden. Um eine Dienstleistung zu erbringen, ist in der Regel eine bestimmte Fertigkeit oder Kompetenz erfordert. Wer sich solidarisch mit anderen zeigen will, muss sich in einer günstigeren Lage befinden als diese. Für andere oder für eine Gemeinschaft die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen verlangt hingegen keinen Unterschied der Position. Der Tod Jesu unterscheidet sich von den bisher genannten Weisen der Stellvertretung dadurch, dass sein Sterben die Gläubigen nicht vor dem eigenen Tod bewahrt, 29 Chr, 276. 30 Zum Folgenden vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Göttingen 1988–93 (= STh), Bd. II, 465.

Der Tod Jesu für uns

sondern ihnen die Aussicht eröffnet auf die Gemeinschaft mit Gott im Leiden und über den Tod hinaus. An diesem Punkt geht der exklusive Sinn des Sterbens anstelle eines anderen über in den Gedanken der Inklusion: Durch die Taufe wird der (künftige) Tod des Täuflings mit dem Sterben Jesu verbunden, und nur so empfängt der Christ die Hoffnung auf Teilhabe auch an dem Leben, das an Jesus in seiner Auferstehung schon in Erscheinung getreten ist.31

Ausdrücklicher als in den Grundzügen der Christologie kennzeichnet Pannenberg die stellvertretende Genugtuung in der Systematischen Theologie als Sühne. Bereits der Apostel Paulus spricht vom Tod Jesu als Sühnopfer, bei dem Christus die Stelle der Sünder einnahm (vgl. 2 Kor 5,21). Der Gedanke der Sühne folgt aus der Einsicht, dass Jesus keine eigene Schuld hatte. Die Schuldigen, an deren Stelle Jesus tritt, sind das Volk Israel und die ganze Menschheit.32 Hatte Pannenberg das inklusive Moment der Stellvertretung in den Grundzügen auf die Gemeinschaft der Menschen mit Gott bezogen, deutet er es nun als Vorgriff auf die erst noch zu verwirklichende Gemeinschaft der Gläubigen in der Kirche. Der inklusive Sinn der Stellvertretung aber hat antizipatorische Funktion. Er muss eingeholt werden im Prozess der Ausbreitung des Evangeliums durch die apostolische Verkündigung und ihrer Annahme durch Glaube, Bekenntnis und Taufe.33

Wie der frühe, so behandelt auch der reife Pannenberg inklusive und exklusive Stellvertretung nicht als einander ausschließende Gegensätze. An dem exklusiven Moment des Todes Jesu kann für ihn kein Zweifel bestehen, weshalb ihm an einer Deutung gelegen ist, die die exklusive nicht als wiederum durch die inklusive Stellvertretung bedingt erscheinen lässt. Er schreibt den Gedanken fort, dass der Tod Jesu die Menschen zurückführt in die Gemeinschaft mit Gott. Obwohl die Zusammengehörigkeit des Sohnes Gottes mit der ganzen Menschheit durch die Inkarnation grundgelegt ist, macht die Menschwerdung weder das Leiden und Sterben Jesu noch die Bekehrung des Sünders überflüssig. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben bildet keine anthropologische Konstante, die auch unabhängig von der stellvertretenden Genugtuung durch Jesus bestünde, sondern „es bedarf dazu einer ausdrücklichen Herstellung der Gemeinschaft mit ihm“.34 Pannenbergs Anliegen besteht ferner in dem Nachweis, dass durch die stellvertretende Genugtuung weder der Besonderheit des einzelnen Menschen noch 31 32 33 34

STh II, 466. Vgl. STh II, 470–473. STh II, 474 f. STh II, 476.

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seiner Selbständigkeit und Freiheit ein Abbruch geschieht. Den ersten Aspekt erläutert Pannenberg mittels der Metapher des Raumes, den jemand einnimmt. Die Sünder beanspruchen in ihrer Hybris – „als solche, die selber wie Gott sein wollen“ – einen Platz an der Seite Gottes, finden neben ihm jedoch keinen Raum. Das ändert sich mit dem Tod des Sohnes, der selbst „in der Besonderheit seines menschlichen Daseins stirbt“. Kraft des Sühnopfers Jesu gewährt Gott den übrigen Menschen Raum neben sich. Sie werden in ihrer Andersheit auch nicht von Jesus verdrängt, „so als ob seine menschliche Besonderheit das Maß aller Dinge wäre und alles andere von sich ausschlösse“.35 Damit tritt der zweite Aspekt ins Blickfeld. Mit der Besonderheit eines jeden Menschen geht seine Selbständigkeit und Freiheit einher. Pannenberg verweist auf den Gehorsam Jesu gegenüber Gott, der paradigmatisch sei für alle Menschen. „Darin ist Jesus der Sohn, der neue Adam, nach dessen Bild die übrigen Menschen erneuert werden sollen.“36 Doch Jesus wurde so zum Vorbild, dass er das individuelle Dasein der anderen nicht verdrängte. Das exklusive Moment des Sühnecharakters und das inklusive Moment des Sohnesgehorsams stehen für Pannenberg in keinem Gegensatz. Vielmehr wird gerade durch den exklusiven Sinn des stellvertretenden Sterbens Jesu solche Selbständigkeit der anderen neben ihm ermöglicht, weil nun, mit dem Tod Jesu verbunden, jeder Mensch sein eigenes Leben leben und seiner besonderen Berufung folgen kann aus der Gewissheit der Teilhabe an dem Leben, das in der Auferstehung Jesu den Tod überwunden hat.37

In seine systematischen Überlegungen flicht Pannenberg einige Hinweise auf die Geschichte des Stellvertretungsgedankens ein. Als wichtigsten Vertreter der exklusiven Deutung nennt er Anselm von Canterbury, als Kritiker von dessen Satisfaktionslehre die Sozinianer.38 Sodann verweist er auf die inklusive Deutung der Stellvertretung durch Philipp Marheineke. Dieser erklärte in seinen Grundlehren der christlichen Dogmatik, Jesus Christus leiste die stellvertretende Genugtuung „als der in seiner Einzelheit allgemeine Mensch“.39 Marheineke begründet die stellvertretende Genugtuung mit der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur. Jesus ist der Stellvertreter der Menschheit „nicht, sofern er außer ihr, sondern sofern er sie selbst ist, und das in allen Individuen Gleiche in sich vereinigt darstellt“.40 35 36 37 38 39

STh II, 480. STh II, 482. Ebd. Vgl. STh II, 475. Ph. Marheineke, Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft, Berlin 1819; 2 1827, 231 (§ 386). 40 Marheineke, Dogmatik, 239 (§ 398); zit. STh II, 475.

Der Tod Jesu für uns

Anmerkungsweise erwähnt Pannenberg an dieser Stelle auch Hegel, bei dem sich der Grundgedanke der inklusiven Stellvertretung schon finde.41 Nachdem sich Pannenberg außerdem von den Konzeptionen der inklusiven Stellvertretung bei Karl Barth und der vorübergehenden Stellvertretung bei Dorothee Sölle abgegrenzt hat,42 kommt er erneut auf Hegel zu sprechen. Letzten Endes besagt der an die Adresse des Philosophen gerichtete Vorwurf des Theologen, jener löse das Erlösungsgeschehen auf in einen innergöttlichen Prozess. Als Indizien nennt Pannenberg Hegels Rede vom „Tod Gottes“ und dessen Deutung als „Versöhnung des Geistes mit sich“.43 Unabhängig von der Frage, ob eine solche Lesart der Religionsphilosophie Hegels überhaupt gerecht wird, die uns im nächsten Abschnitt beschäftigen soll, ergibt sich die Schwierigkeit, dass sie die Unterscheidung zwischen exklusiver und inklusiver Stellvertretung zu verwischen droht. Was verdient an dem Leiden und Sterben Jesu exklusiv genannt zu werden, wenn sein Tod der Tod Gottes selbst ist? Und was bleibt von der inklusiven Stellvertretung übrig, wenn die Versöhnung nicht mehr ist als ein Moment der Beziehung des Absoluten auf sich selbst? Nicht zuletzt, um diese Verwirrung aufzulösen, ist ein genauerer Blick auf Hegel von Nutzen. 3.

Versöhnung des Geistes mit sich (Hegel)

Es mag verwundern, dass Pannenberg im Rahmen seiner Abhandlungen über die stellvertretende Genugtuung Kant nicht erwähnt. Weder in den Grundzügen der Christologie noch in der Systematischen Theologie geht er auf Kants Überlegungen zur Antinomie der Erlösung ein. Möglicherweise fürchtete er eine unzulässige Moralisierung der Religion. Dass er die Versöhnungslehre nirgends ausdrücklich mit der Frage nach der sittlichen Besserung des Gläubigen in Zusammenhang bringt, bezeugt jedenfalls Pannenbergs Nähe weniger zu Kant als zu Hegel. Ging es Kant um die Überwindung des Bösen und den Beitrag, den Gott oder die Religion dazu leisten können, bezweckt Hegel den philosophischen Nachvollzug der religiösen Vorstellung von der Geschichte Gottes in Menschengestalt. Ähnlich wie die Ausdrücke ‚Begriff ‘ und ‚Idee‘, so gebraucht Hegel auch ‚Vorstellung‘ in einem technischen Sinn. Bereits in der Phänomenologie des Geistes legt er dar, dass die Religion zwar das Absolute zum Inhalt hat, ihr Gegenstand aber nicht in der Form eines philosophischen Begriffs, sondern als Vorstellung gegeben ist. Hegel definiert Vorstellen als „die synthetische Verbindung der 41 Vgl. STh II, 475 Anm. 42 Vgl. STh II, 477 ff. 43 STh II, 481.

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sinnlichen Unmittelbarkeit und ihrer Allgemeinheit oder des Denkens“.44 In der Vorstellung verbindet sich die Anschauung eines empirischen Gegenstandes mit einem Begriff, unter den das Angeschaute gefasst wird. Durch die Vorstellung erhält das sinnlich Gegebene einen begrifflichen Gehalt. In den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion führt Hegel seine Überlegungen weiter aus. Er unterscheidet nun zwischen der unmittelbaren Anschauung (die er der Kunst zuordnet) und der Vorstellung als der spezifischen Form des religiösen Bewusstseins. Die Vorstellung bringe eine Mehrzahl von Bildern in einen „aus der Analogie, dem Bildlichen hergenommenen“ Zusammenhang.45 Als Beispiele notiert Hegel in seinem Manuskript die Rede vom Erschaffen der Welt durch Gott und von der Zeugung des Sohnes durch den Vater. Erschaffen ist nicht Grund, Ursache sein – ist ein Höheres als diese beschränkten Denkbestimmungen und enthält das spekulative Verhältnis, das Produzieren der Idee; Erzeugen ist dagegen ein bildlicher Ausdruck des Verhältnisses der absoluten Idee in sich selbst, der von dem Leben genommen ist, das allerdings die Idee in sich trägt, aber auf eine natürliche Weise.46

Wenn Gott die Welt erschafft, ist er nicht in der gleichen Weise Ursache wie ein Künstler, der eine Statue schafft, oder wie die Sonne, die einen Stein erwärmt. Der innergöttliche Hervorgang des Sohnes aus dem Vater wird zwar in Analogie zur menschlichen Fortpflanzung vorgestellt, die Vorstellung bezieht sich aber auf einen rein geistigen Zusammenhang. Hegels Theorie religiöser Vorstellungen gilt es im Blick zu behalten,47 soll seine Deutung des Leidens und Sterbens Jesu nicht missverstanden werden. Er entfaltet sie im dritten, dem Christentum gewidmeten Teil seiner religionsphilosophischen Vorlesungen. Unter der Überschrift „Konkrete Vorstellung“ handelt Hegel unter anderem von der Schöpfung und vom Sündenfall, vom Leben und von der Lehre Jesu. 44 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Gesammelte Werke. Hg. von der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. (= GW), Bd. 9, 408. – Zur Bedeutung religiöser Vorstellungen für die Philosophie Hegels siehe G. Sans, Philosophische Begriffe ohne religiöse Vorstellungen sind leer. Hegel über das Wissen vom Unbedingten und den Glauben an Gott, in: F. Resch (Hg.), Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als genuines Thema der Philosophie, Dresden 2016, 385–400. 45 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hg. von W. Jaeschke, Hamburg 1983–1985 (= VPR), Bd. 1, 157. 46 Ebd. 47 Zum systematischen Hintergrund siehe G. Sans, Hegels Psychologie der Religion, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 15 (2020), 191–215. – Dass sich Hegel der Grenzen des Vorstellungscharakters bewusst war, belegen Bemerkungen wie die folgende: „Der Opfertod gibt zu der Vorstellung Veranlassung, dass Gott ein Tyrann sei, der Opfer verlange; dies ist unwahr“ (VPR 3, 151).

Der Tod Jesu für uns

Danach kommt er ausführlich auf den Tod Jesu zu sprechen.48 Obwohl die Gliederung der Aufzeichnungen Hegels recht unübersichtlich ist, lassen sich drei Aspekte voneinander abheben. Der erste ist der Zusammenhang des Lebens und der Lehre Jesu mit seinem gewaltsamen Tod. Im Leiden und Sterben liegt für Hegel die „Besiegelung“ seiner Verkündigung des Reiches Gottes.49 Dazu gehört, dass durch den entehrenden Tod Jesu am Kreuz der Staat, der Jesus zum Missetäter gemacht hat, in seinen Grundfesten erschüttert wird.50 Der zweite Aspekt, den Hegel erörtert, betrifft das Verhältnis Jesu zu Gott. Hier fällt das viel zitierte Schlagwort vom Tod Gottes. „Die höchste Entäußerung der göttlichen Idee als Entäußerung ihrer selbst […] drückt sich aus: Gott ist gestorben, Gott selbst ist tot – ist eine ungeheure, fürchterliche Vorstellung.“51 Bekanntlich kann sich Hegel für diese Ausdrucksweise auf den Text eines reformierten Kirchenliedes zum Karfreitag berufen.52 Dennoch hat die Theologie durch die Unterscheidung zwischen den Personen des Vaters und des Sohnes sowie zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur stets den Anschein zu vermeiden gesucht, es handle sich bei seiner Passion Jesu um das Leiden und Sterben Gottes selbst.53 Hegel waren solche dogmatischen Lehren aus seinen Tübinger Studienjahren selbstverständlich geläufig. In seiner Religionsphilosophie versucht er, die hinter dem kirchlichen Dogma liegende Vorstellung auf den Begriff zu bringen. Für Hegel setzt sich in der Menschwerdung Gottes die Verendlichung des Absoluten fort, die mit der Schöpfung begonnen hatte. Ihren Höhepunkt und Abschluss findet diese Bewegung der Entäußerung im Tod des menschgewordenen Gottes. „Die höchste Endlichkeit ist nicht das wirkliche Leben im Zeitlichen, sondern der Tod, der Schmerz des Todes.“54 Dass sich Gott auf die endliche Wirklichkeit ganz einlässt, zeigt sich in der Vorstellung seines Todes als Mensch.55 48 Vgl. VPR 3, 59–66; 150 f.; 245–250 sowie dazu P. Hodgson, Hegel and Christian Theology. A Reading of the Lectures on the Philosophy of Religion, Oxford 2005, 169–175. – Es sticht ins Auge, dass die Abhandlung über die Bedeutung des Todes Jesu in Hegels Manuskript von 1821 einen deutlich breiteren Raum einnimmt als in der Nachschrift von 1824. Erst in den Vorlesungen von 1827 und 1831 scheint Hegel wieder genauer auf das Thema eingegangen zu sein. 49 VPR 3, 59. 50 Vgl. VPR 3, 64 f. 51 VPR 3, 60. 52 Vgl. VPR 3, 249 sowie dazu die Anmerkungen des Herausgebers VPR 3, 358. 53 Pannenberg bemängelt: „Hegel hat die sorgfältigen Unterscheidungen der orthodoxen Christologie zwischen göttlicher und menschlicher Natur in der Einheit der Person Christi vernachlässigt, indem er ohne solche Differenzierung vom Tod Christi als dem Tod Gottes selbst sprach“ (STh II, 481). 54 VPR 3, 60. 55 Hegel spricht mehrfach von einem „natürlichen Tod“ (VPR 3, 62), um anzuzeigen, dass Gott sich ganz den Gesetzen des Raumes und der Zeit unterwirft.

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Die Religion erblickt im „Aufgeben seiner Persönlichkeit“ und in der „Identität mit dem Anderssein“ zugleich den Ausdruck der höchsten Liebe.56 Mit dieser Feststellung leitet Hegel über zu dem dritten Aspekt, nämlich der Bedeutsamkeit des Todes Jesu für die übrige Menschheit: „Von diesem Tod gilt nun der Ausdruck, dass Christus für uns dahingegeben, als Opfertod vorgestellt wird, als der Akt der absoluten Genugtuung.“57 Wie gut Hegel die Diskussion um die stellvertretende Genugtuung kannte, belegt der Umstand, dass er sogleich die „allgemeine Einwendung“ zurückweist, jeder müsse für die eigenen Handlungen einstehen, niemand könne „für den anderen büßen“ und für ihn „dadurch Absolution erhalten“. Die Bestreitung der Möglichkeit stellvertretender Genugtuung gelte nur „auf dem formell rechtlichen Standpunkt“.58 Damit bricht Hegel den Bedenken Kants und der Sozinianer ihre Spitze ab. Seines Erachtens kommt es stattdessen darauf an, den Standpunkt zu suchen, von dem aus der Tod Jesu als „genugtuend für uns“ angesehen werden kann. Einen solchen Standpunkt findet Hegel in seiner Philosophie des Geistes. Auf den folgenden, dicht gedrängten Seiten des Manuskripts, aus denen Pannenberg mehrfach zitiert, verbindet Hegel die Gedanken der Genugtuung für uns mit dem der „Versöhnung des Geistes mit sich“.59 Es braucht keine besondere Vertrautheit mit der spekulativen Philosophie Hegels, um zu sehen, dass jemand oder etwas nur mit sich versöhnt sein kann, wenn eine Trennung oder Entzweiung vorauslag, diese aber nicht so tiefgreifend war, dass die beiden geteilten Pole gänzlich auseinandergerissen worden wären. Die Versöhnung mit sich erfordert daher sowohl Identität als auch Andersheit. Genau das ist für Hegel bei allem der Fall, was er ‚Geist‘ nennt. Da Gott im hegelschen Sinn Geist ist, versteht der Philosoph die Schöpfung und die Menschwerdung als Weisen der Beziehung des Absoluten auf sich. Die negative Selbstbeziehung ist umso vollkommener, je restloser sich das Absolute in das Endliche als sein Anderes entäußert. Deshalb liegt in der Vorstellung, dass Gott Mensch wird und als Mensch stirbt, für Hegel zugleich die Aufhebung und die Überwindung des Gegensatzes zwischen Gott und Mensch, Endlichem und Unendlichem. Damit stellt sich die Frage, inwiefern die „Versöhnung des Geistes mit sich“ als „Genugtuung für uns“ gelten kann. Hegel rechtfertigt die Bedeutsamkeit

56 VPR 3, 60. 57 Ebd. – In der nur sekundär überlieferten Vorlesung von 1831 spricht Hegel von einem scheinbaren Widerspruch des Schicksals Jesu „gegen die Lehre von der moralischen Imputation, wonach jedes Individuum nur für sich zu stehen hat, jeder der Täter seiner Taten ist“ (VPR 3, 248). 58 VPR 3, 61. 59 VPR 3, 62.

Der Tod Jesu für uns

des Todes Jesu für die übrigen Menschen, indem er die sich im Sterben Jesu vollziehende Versöhnung als etwas begreift, das auch das Leben und Sterben der Gläubigen bestimmt, wenn sie das Verdienst Christi ergreifen.60 Er erläutert den Zusammenhang anhand zweier Beispiele, das eine aus dem Bereich der organischen Natur, das andere aus dem Gebiet der Rechtsordnung. Beide sollen zunächst zitiert und dann kommentiert werden. Dass ich einen Apfel esse, ist, dass ich seine organische Selbständigkeit vertilge und ihn mir assimiliere. Dass ich dies tun kann, dazu gehört, dass der Apfel an sich – schon vorher, ehe ich ihn anfasse – in seiner Natur diese Bestimmung habe, ein zu Zerstörendes zu sein und zugleich ein solches, das an sich eine Homogenität mit meinen Verdauungswerkzeugen hat, dass ich ihn mit mir homogen machen kann.61

Ein Organismus kann sich von Äpfeln ernähren, weil es im Wesen der Früchte liegt, für lebendige Wesen verdaulich zu sein. Die Verdauung führt einerseits zur Zerstörung des Apfels, andererseits zu seiner Umwandlung in Energie oder neue Körpersubstanz. Ein so alltägliches Phänomen wie die Ernährung beruht demnach auf dem natürlichen Zusammenhang unseres Organismus mit seiner Umwelt. Dass dieser Verbrecher von dem Richter bestraft werden kann und dass diese [Strafe] die Durchführung, die Versöhnung des Gesetzes ist, dies tut nicht der Richter, nicht der Verbrecher durch sein Leiden der Strafe als eine partikuläre, äußerliche Begebenheit und Folge; […] sondern dies ist die Natur der Sache, die das Gesetz ausspricht, die Notwendigkeit des Begriffs.62

Hegels zweites Beispiel stammt aus der Rechtsphilosophie. Der Zusammenhang von Verbrechen und Strafe wird weder durch den Urteilsspruch des Richters noch durch das Erleiden eines Übels begründet. Vielmehr setzt beides eine rechtliche Ordnung voraus, in Bezug auf die ein bestimmtes Ergehen die gerechte Strafe für ein begangenes Unrecht bildet. Wir haben diesen Verlauf auf eine gedoppelte Weise vor uns, das eine Mal im Gedanken, Vorstellen des Gesetzes und Begriffs, und das andere Mal im einzelnen Fall, und in diesem einzelnen Fall ist der Verlauf dieser, weil die Natur der Sache dies ist; ohne diese wäre weder Richter noch seine Handlung noch das Leiden des Verbrechers Strafe und Versöhnung des Gesetzes. Der Grund, das Substantielle ist die Natur der Sache.63

60 61 62 63

Vgl. VPR 3, 63. VPR 3, 62 f. VPR 3, 63. Ebd.

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Ohne die zugrundeliegende Idee der Rechtsordnung lässt sich weder eine konkrete Handlung als Verstoß gegen das Gesetz begreifen, noch lässt sich die Strafe als Wiederherstellung des Rechts auffassen.64 Der Begriff des Rechts erscheint in dem konkreten Vorkommnis. Die beiden Seiten, Idee und Wirklichkeit, dürfen nicht voneinander getrennt werden. In Analogie zu den genannten Beispielen erläutert Hegel anschließend die Funktion des Todes Jesu: So ist es mit jener Genugtuung für uns – d. h. es ist an und für sich geschehen, nicht ein fremdes Opfer ist gebracht, ein anderer gestraft, damit Strafe gewesen sei – Leben negiert, Anderssein aufgehoben, natürlicher Tod; (ohnehin stirbt jeder für sich selbst). Und jeder muss für sich selbst, aus seiner eigenen Subjektivität und Schuld das sein, leisten, was er sein soll; er ergreift das Verdienst Christi; d.i. wenn er dies in sich vollbringt – diese Umkehrung und Aufgeben des natürlichen Willens, Interesses, in der unendlichen Liebe ist –, so ist dies die Sache an und für sich.65

Die Analogie zwischen den vorherigen Beispielen und der stellvertretenden Genugtuung liegt für Hegel in dem Zusammenhang zwischen einzelnen Vorkommnissen und der allgemeinen Natur der Dinge. Die „Sache an und für sich“ ist in der Christologie nicht mehr die Welt der Organismen oder der Bereich der Rechtsordnung, sondern das Verhältnis des Menschen zu Gott. Der Nachvollzug der Analogie wird dadurch erschwert, dass sowohl der Tod Jesu als auch die Leistung der Gläubigen als einzelnes Vorkommnis angesehen werden können, dessen allgemeines Wesen die Versöhnung des Geistes mit sich bildet. Die Genugtuung geschieht dadurch, dass Jesus seinen Tod als Opfer bringt, ohne dass die Grenze zu denen verschwimmen würde, für die er Sühne leistet. Mit den Worten Hegels: „Ohnehin stirbt jeder für sich selbst“, und „jeder muss für sich selbst […] das sein, leisten, was er sein soll“. Wie sich aus dem Kontext ergibt, spricht hier weniger Hegel selbst als sein fiktiver Widerpart, der den Einwand Kants und der Sozinianer wiederholt. Hegel gibt der Einrede statt, wenn er gemünzt auf den Gläubigen fortfährt: „Er ergreift das Verdienst Christi“. Nicht im Tod des einzelnen Menschen, auch nicht in seinem pflichtschuldigen Handeln, sondern im Ergreifen des Verdienstes Christi besteht demzufolge „die Sache an und für sich“. Pannenberg kommentiert die Stelle mit der Bemerkung, schon bei Hegel finde sich der „Grundgedanke der inklusiven Stellvertretung“.66 Legt man die 64 Zu Hegels Straftheorie siehe G. Mohr, Unrecht und Strafe, in: Ludwig Siep (Hg.), G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, (Klassiker auslegen), Berlin 1997, 95–124. 65 VPR 3, 63 f. – Pannenberg zitiert den ganzen Passus ab „Nicht ein fremdes Opfer…“ (vgl. STh II, 475 f. Anm.), allerdings nicht nach der kritischen Ausgabe Walter Jaeschkes, sondern nach der älteren Ausgabe von Georg Lasson (vgl. G.W.F. Hegel, Die absolute Religion, Hamburg 1929, 160). 66 STh II, 475 Anm.

Der Tod Jesu für uns

Ausführungen Hegels zugrunde, kann mit dem inklusiven Moment nur die Weise gemeint sein, wie die übrige Menschheit aus der Genugtuung durch Jesus ihren Nutzen zieht. Wo Hegel vom Ergreifen des Verdienstes Christi spricht, verweist Pannenberg auf den Prozess „der Ausbreitung des Evangeliums durch die apostolische Verkündigung und ihrer Annahme durch Glaube, Bekenntnis und Taufe“.67 Klar ist für beide Autoren, dass sich kein Mensch durch gute Werke selbst erlösen kann, und dass dem Tod Jesu aufgrund seines Opfercharakters eine besondere Bedeutung für die übrigen Menschen zukommt. Insofern scheinen mir sowohl Pannenberg als auch Hegel das exklusive Moment der Stellvertretung anzuerkennen. Im Leiden und Sterben Jesu kommt für Hegel zur Anschauung, dass es in der Natur des absoluten Geistes liegt, sich mit sich selbst zu versöhnen. „Der Grund der Erlösung ist also jene Geschichte.“68 Damit will Hegel offenkundig nicht sagen, dass der Tod Christi eine beliebige Instanz der Versöhnung des Geistes mit sich neben vielen anderen wäre. Denn entgegen der oben zitierten Feststellung, jeder sterbe für sich selbst und jeder müsse für sich selbst leisten, was die Pflicht von ihm verlangt, schreibt Hegel in Bezug auf das Schicksal Jesu: „Es ist nicht die Geschichte eines einzelnen, sondern es ist Gott, der sie vollbringt.“69 Im Tod Jesu zeigt sich weniger die Sterblichkeit des Menschen, als dass sich die Liebe Gottes offenbart. Mit meiner Rekonstruktion des einschlägigen Passus aus dem Manuskript der Vorlesungen über die Philosophie der Religion erhebe ich Einspruch gegen die Bemerkung Pannenbergs, Hegel habe „den Tod Christi ausdrücklich nicht als stellvertretendes Strafleiden des Unschuldigen anstelle der Sünder verstanden wissen wollen“ und stattdessen „ein aus der Perspektive des Inkarnationsgedankens begründetes, inklusives Verständnis des Versöhnungsgeschehens einseitig gegen das im Gedanken stellvertretender Sühne enthaltene exklusive Moment geltend gemacht“.70 Meines Erachtens verkürzt Pannenberg das hegelsche Verständnis von Stellvertretung. Der Philosoph räumt durchaus die Besonderheit des Todes Jesu ein, wenn er das Geschehen als etwas bezeichnet, das Gott vollbringt, und zugleich vom Ergreifen des Verdienstes Christi durch die übrigen Menschen spricht. Auch Pannenbergs These von der Grundlegung der Versöhnungslehre im Inkarnationsgedanken bedarf der Ergänzung. Nicht dass Gott Mensch wird, bildet für Hegel den höchsten Ausdruck der Versöhnung des Geistes mit sich, sondern dass er als Mensch stirbt.

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STh II, 475. VPR 3, 64. Ebd. STh II, 481.

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Georg Sans

Alles in allem ist Hegels Verständnis der stellvertretenden Genugtuung weniger weit von der Soteriologie Pannenbergs entfernt, als dieser glauben machen will. Der eigentliche Unterschied zwischen den beiden Denkern betrifft wohl die systematische Stellung der Geschichte. Für Pannenberg bildet das historische Geschehen des Todes und der Auferstehung Jesu den Ankerpunkt der christlichen Theologie. Hegel hingegen betrachtet das Schicksal Jesu von vornherein eingebettet in den Zusammenhang seiner Philosophie des Geistes. Er fasst das Geschehen als religiöse Vorstellung auf, durch die das Unendliche in endlicher Gestalt erscheint. Mit seiner Wortwahl setzte sich Hegel dem Verdacht aus, er verbanne die Religion in das Reich der Phantasie. Seitdem streiten die Interpreten, inwieweit er die Geschichte als wirklich anerkennt.71 Besitzt das Endliche einen Eigenstand? Oder bedeutet ‚Versöhnung des Geistes mit sich‘, dass alle Unterschiede im Absoluten verschwinden? Die Frage betrifft nicht nur die Philosophie, sondern sie richtet sich auch an die Theologie. Die Antwort wird dadurch erschwert, dass die Zufälligkeit des Endlichen und der Geschichte der Absolutheit Gottes zuwiderzulaufen droht. Die zuletzt angedeuteten Schwierigkeiten weisen weit über die Themenstellung dieses Beitrags hinaus. Hier ging es lediglich um das Paradigma der stellvertretenden Genugtuung. Die Sorge Wolfhart Pannenbergs, das exklusive Moment der Stellvertretung komme bei Hegel zu kurz, hat sich als unbegründet erwiesen. Wie schon Kant vor ihm, so trägt auch Hegel der Besonderheit Jesu bei seiner Rekonstruktion der Versöhnungslehre Rechnung. Dass der Philosoph dabei nicht alle Sprachregelungen der christlichen Theologie mitmacht, wird man ihm nicht vorwerfen können.

71 Zur Alternative zwischen einer realistischen und einer antirealistischen Lesart der hegelschen Religionsphilosophie siehe G. Sans, Tod Gottes und Andersheit des Geistes. Die Ambivalenz von Hegels Philosophie der geoffenbarten Religion, in: T. Oehl/A. Kok (Hg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden 2018, 529–547.

Malte Dominik Krüger

Der Gott vom Holz her? Auferstehung bei Eberhard Jüngel und Wolfhart Pannenberg

Im Folgenden soll es in drei Schritten um das Verständnis der Auferstehung Jesu Christi bei Wolfhart Pannenberg und Eberhard Jüngel gehen. Im ersten Schritt sollen das Problem und die Optionen deutlich werden. Im zweiten Schritt werden eine These und ihre Ausführung präsentiert. Und im Schlussteil wird ein Fazit gezogen und werden Perspektiven angesprochen. 1.

Einleitung: Problem und Optionen

„Nur ein Brett trennt uns vom Tod“, heißt es im Altertum.1 „Vier Finger dick nur ist es, und um so viel sind wir vom Untergang getrennt“, wird überliefert.2 Das Bild von dem Holzstück, das den Menschen nach dem Schiffbruch auf dem Meer rettet, ist – auch jenseits der antiken Lebenswelt des Mittelmeeres – unmittelbar eingängig. Vielleicht hat dieses Holz daher schon relativ früh bei den Griechen eine übertragene Bedeutung bekommen: Bei Platon wird etwa das philosophische Denken zur lebensrettenden Planke der Weisheit.3 Auch das frühe Christentum hat dieses Bild aufgenommen.4 In der sogenannten Theologie der Väter wird es mit anderen ähnlich gelagerten Bildern – insbesondere aus der Seefahrt – zu einer theologischen Gesamtschau der Glaubenserfahrung verbunden. Der Jesuit Hugo Rahner hat sie in seiner – m.E. noch immer viel zu wenig beachteten5 – Studie „Symbole der Kirche“ (1964) herausgearbeitet und ausdrücklich als „Bildtheologie“6 identifiziert. Wesentlich zu ihr gehört die 1 Vgl. Hugo Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, 450f. Grundsätzlich gilt für diesen Beitrag: Ist eine Aussage oder ein Beleg nicht unmittelbar am Ende durch eine Fußnote nachgewiesen, ist die Angabe der im Text nachfolgenden Fußnote darauf zu beziehen. Im Text werden die Titel der Originalausgaben mit Jahreszahl genannt, während in den Anmerkungen heute verwendete und gängige Ausgaben angeführt werden können. 2 A.a.O., 451. 3 Vgl. a.a.O., 453. 4 Vgl. a.a.O., 450–471. 5 Vgl. zur Theologie Hugo Rahners: Johannes Holdt, Hugo Rahner. Sein geschichts- und symboltheologisches Denken, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997. 6 Hugo Rahner, Symbole der Kirche, a.a.O., 8.

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Symbolik der „antenna crucis“7 : Hier wird nicht nur Odysseus am Mastbaum zum Vorbild des Christen; vielmehr wird auch das Kreuzesholz zum rettenden Holzstück, das beim Überleben auf dem bösen Meer der Welt hilft, sich dabei als Schiffsholz der Kirche erweist und in den endzeitlichen Hafen des Lebens führt. Diese Metaphorik des rettenden Holzes sieht die Theologie der Väter vorgeprägt in der Arche Noah. Und: Diese Metaphorik des Holzes hängt – gewissermaßen buchstäblich und zugleich vor dem inneren Auge gut sichtbar – am Kreuzesholz Jesu von Nazareth, dessen Auferstehung dabei immer schon im Blick ist.8 Insofern gilt für die Alten in der Tat: „Nur ein Brett trennt uns vom Tod“9 . Denn Holz ist hier nicht bloßes Holz, sondern in seiner Faktizität auch Sinnbild der Erlösung aus dem stürmischen Meer der Welt: Im Bild des Holzes fallen Bedeutung und Faktum zusammen, sein Sein und Erscheinen sind untrennbar eins. In dieser Fluchtlinie avanciert schon bei Tertullian das Holz entsprechend zum Ort, von dem ausgehend der christliche Gott handelt und rettet; Gott regiert vom Holz her: „Dominus regnavit de ligno“10 . In dem Hymnus „Vexilla regis“ heißt es schließlich: „Regnavit a ligno Deus“11 . Kreuzesholz und Auferstehungsbotschaft sind in dieser Tradition aufs engste miteinander verwoben, wenn durch den Tod am Kreuzesholz das Leben des Gottessohnes siegt.12 Dieses Verhältnis von Kreuzesholz und Auferstehungsbotschaft, von irdener Faktizität und schwebender Erlösung, von faktischem Ereignis und realisierter Bedeutung – zusammengezogen in der spannungsvollen Formulierung „Historizität der Auferstehung“13 – ist zwar schon im Altertum ausgiebig Gegenstand von Zweifel.14 Doch die urchristliche Überlieferung sieht in ihren Deutungshorizonten keine Veranlassung, Geschichte und Glaube zu trennen.15 Erst im Horizont der Neuzeit mit ihrem hermeneutisch auf die Geisteswissenschaften fokussierten Geschichtsverständnis, das – prägnant in Ernst Troeltschs Beitrag „Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie“ (1900)16 artiku7 Vgl. a.a.O., 237. 8 Vgl. a.a.O., 239–564. 9 Vgl. a.a.O., 450f. 10 A.a.O., 344. 11 Vgl. z. B. Breviarium Romanum. Pars verna, Rhedonis 1850, 515. 12 Vgl. ebd.; Hugo Rahner, Symbole der Kirche, a.a.O., 339–360. 13 Vgl. zur Formulierung etwa das aktuell gängige Lehrbuch: Rochus Leonhardt, Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie, Göttingen 4 2009, 303. 14 Vgl. dazu mit klassischen Stellenangaben etwa: Bernd Kollmann, Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, Stuttgart 2019, 236. 15 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 5 1976 (= Chr.), 106f. 16 Vgl. Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie (1900), in: Friedemann Voigt (Hg.), Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, Tübingen 2003, 2–25.

Der Gott vom Holz her?

liert – auf den Axiomen des Wahrscheinlichkeitsurteils, des Analogieprinzips und der Wechselwirkungsthese beruht, gerät das Verhältnis von Geschichte und Glaube, Bedeutung und Faktum in sachlicher Tiefe und breiter Wahrnehmung so unter Rechtfertigungsdruck, dass es als unerträgliche Spannung erscheint17 : Geschichte und Glauben widersprechen sich offenbar. Die damit zusammenhängende Transformationskrise des neuzeitlichen Christentums ist von ihrem Gehalt ein komplexer und in ihrer Bewertung kontroverser Vorgang.18 Denn dass die Vorstellung einer supranatural agierenden und eingreifenden Überwelt kraftlos wird, kann theologisch – jedenfalls im deutschsprachigen Protestantismus – im Extremfall als tragisches Menetekel beschworen oder als notwendige Einsicht gefeiert werden.19 Im Zentrum der in der Aufklärung aufbrechenden und sich dann in der Moderne fortspinnenden Debatte stehen die Wunder- sowie die Dogmenkritik und hierbei nicht zuletzt die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Auferstehung Jesu.20 Um sich an zwei klassischen Namen zu orientieren, kann man auf Gotthold Ephraim Lessing und David Friedrich Strauß verweisen.21 Als Lessing aus einer bis dahin nicht veröffentlichten Schrift von Hermann Samuel Reimarus die „Fragmente eines Ungenannten“ (1774–1778) einschließlich der Thesen publiziert, dass die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen hätten und es sich bei den neutestamentlichen Auferstehungsberichten um Phantasieprodukte handelt, ist die zeitgenössische Diskussionen ebenso anteilnehmend wie leidenschaftlich.22 Kann so der Name

17 Vgl. dazu etwa: Alister E. McGrath, Der Weg der christlichen Theologie, Gießen 3 2013, 447. 18 Vgl. dazu etwa: Wolfhart Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997. 19 Vgl. gegensätzlich etwa: Hans Joachim Iwand, Wider den Mißbrauch des „pro me“ als methodisches Prinzip in der Theologie, in: Evangelische Theologie 14 (1954), 120–125; Falk Wagner, Der Geist der neuzeitlicher Subjektivität – Realisator oder Konkurrent der christlichen Freiheit?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 82 (1985), 71–87. 20 Vgl. dazu etwa: Alister E. McGrath, Der Weg der christlichen Theologie, a.a.O., 421–449. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. dazu etwa: Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit I. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 218–225; Friedrich Mildenberger, Theologie für die Zeit. Wider die religiöse Interpretation der Wirklichkeit in der modernen Theologie, Stuttgart 1969, 18–29. Heute versetzen ähnliche Überlegungen über einen Scheintod Jesu am Kreuz in Johannes Frieds „Kein Tod auf Golgatha“ (2019), welche die Auferstehung als Nicht-Ereignis deuten, kaum mehr breite Gesellschaftsschichten in Erregung, auch wenn die Theologie hier – erst recht unter den Bedingungen einer erodierenden Volkskirche und eines sich frömmigkeitsmäßig verengenden Kernmilieus (vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011) – herausgefordert wird (vgl. Johannes Fried, Kein Tod auf Golgatha. Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus, München 2019; vgl. zur Einordnung und Diskussion: Rudolf Neumaier, Atmen kann man auch mit einem Lungenflügel, in: Süddeutsche Zeitung v. 11.02.2019, 9).

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von Lessing für einen Diskussionszusammenhang stehen, in dem die Auferstehung ein „Nicht-Ereignis“23 ist, so vermag der Name von Strauß für einen Diskussionszusammenhang zu stehen, in dem die Auferstehung als Mythos gilt.24 In seinem Werk „Das Leben Jesu“ (1835) erklärt Strauß die Evangelien zu einer Projektion des mythischen Glaubensbewusstseins.25 Auch die sich dem anschließende Diskussion wird zeitgenössisch mit Leidenschaft geführt.26 Auf diese fundamentale Infragestellung reagiert dasjenige Denken der evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert, das auf aktuell rechenschaftsfähiger Schlüssigkeit beharrt und das man mit dem Recht relativer Einseitigkeit als systematisch identifizieren kann, mit zwei Optionen: Entweder man trennt den Glauben von der Geschichte und weist dem Glauben eine außergewöhnliche Wirklichkeitserfahrung zu, die zwar noch Anhalt an der gewöhnlichen, geschichtlichen Wirklichkeit hat, sich aber grundsätzlich von ihr unterscheidet, oder aber man richtet auf dem Boden des modernen Geschichtsverständnisses den alten Bund zwischen Geschichte und Glaube neu auf, indem man den Begriff der Geschichte so weitet, dass auch religiöse Offenbarungen darin vernünftigerweise Platz haben. Den ersten Weg geht insbesondere die Kerygmatheologie von Eberhard Jüngel, die das theologische Erbe von Rudolf Bultmann und Karl Barth zusammenführt, den zweiten Weg geht insbesondere Wolfhart Pannenbergs Geschichtstheologie. Beide Wege scheinen – nicht zuletzt aus der Sicht ihrer Protagonisten, also von Jüngel und Pannenberg27 – miteinander relativ unverträglich zu sein. Wenn man den ersten Weg betrachtet, dann fällt auf: Es haben sowohl Bultmann in seinen Beiträgen „Neues Testament und Mythologie“ (1940) und 23 Alister E. McGrath, Der Weg der christlichen Theologie, a.a.O., 441. 24 Vgl. a.a.O., 441f. 25 Vgl. David Friedrich Strauß. Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Tübingern 4 1840. Vgl. zur Einordnung und Diskussion: Oliver Wintzek, Ermächtigung und Entmächtigung des Subjekts. Eine philosophisch-theologische Studie zum Begriff Mythos und Offenbarung bei D.F. Strauß und F.W.J. Schelling, Regensburg 2008, 30–124. 26 Vgl. ebd. Auch dies gilt in unserer Spätmoderne von entsprechenden Thesen nur eingeschränkt, und zwar selbst von der noch in manchen kirchlichen Milieus als Erschütterung wahrgenommenen Diskussion um Gerd Lüdemanns „Die Auferstehung Jesu“ (1994) und der amtskirchlichen Reaktionen darauf (vgl. Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, Göttingen 1994. Vgl. zur Einordnung und Diskussion: Alexander Bommarius (Hg.), Fand die Auferstehung wirklich statt? Eine Diskussion mit Gerd Lüdemann, Düsseldorf/Bonn 1995). 27 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 4 1982, XII; ders., Nihil divinitatis, ubi non est fides. Ist christliche Dogmatik in rein theoretischer Perspektive möglich? Bemerkungen zu einem theologischen Entwurf von Rang, ZThK 86 (1989), 204–235; Wolfhart Pannenberg, Den Glauben an ihm selbs fassen und verstehen. Eine Antwort, ZThK 86 (1989), 355–370.

Der Gott vom Holz her?

„Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus“ (1960)28 als auch Barth in seinem „Römerbrief “ (1922), in seiner Studie „Die Auferstehung der Toten“ (1923) und – vermeintlich relativiert – in der „Kirchlichen Dogmatik“ (1932–1967)29 die Auferstehung der kritischen Nachforschung historischen Wissens entzogen. Die Hauptstoßrichtung ihrer Argumentation lautet, so werde Gottes in Wort und Glaube zum Ausdruck kommende Unverfügbarkeit vor dem objektivierenden Wirklichkeitszugriff des sich darin verfehlenden Menschen bewahrt.30 Dabei wird sowohl bei Bultmann als auch bei Barth der Vollzug der Christusverkündigung eschatologisch so qualifiziert, dass – vorsichtig gesagt – die futurische Dimension mit ihrer vermeintlich missverständlichen Vergegenständlichung stark relativiert wird.31 Was die Frage 28 Vgl. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. ND der 1941 erschienenen Fassung hg. v. E. Jüngel, München 1985, bes. 53–63; Rudolf Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 445–469. Vgl. zur Einordnung und Diskussion: Antje Fetzer, Auferstanden ins Kerygma? Rudolf Bultmanns existentiale Interpretation der Auferstehung, in: Hans-Joachim Eckstein/Michael Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, 93–110. 29 Vgl. Karl Barth, Der Römerbrief (1922), Zürich 16 1999, bes. 6. 190; ders., Die Auferstehung von den Toten. Eine akademische Vorlesung über 1. Kor. 15, München 2 1926; ders., Kirchliche Dogmatik III/2, Zollikon-Zürich 2 1959, 528–555, bes. 531–537. Es ist richtig, dass Barths „Kirchliche Dogmatik“ ausdrücklich gegen Bultmann auf der Wirklichkeit der Auferstehung insistiert (vgl. KD III/2, 537; vgl. zum Verhältnis auch: Adriaan Geense, Auferstehung und Offenbarung. Über den Ort der Frage nach der Auferstehung Jesu Christi in der heutigen deutschen evangelischen Theologie, Göttingen 1971, 11–49). Allerdings hat diese Wirklichkeit der Auferstehung auch bei Barth nur einen „schmalen ,historischen Rand“ (KD III/2, 535) und ihr Kern ist etwas, was man historisch in der Moderne „gut und gerne ,Sage’ oder ,Legende’ nennen mag“ (ebd.). Insofern ist die Auferstehung für Barth eine Wirklichkeit, die aus dem Rahmen dessen herausfällt, was man in der geschichtlich denkenden Moderne als wirklich versteht, und die zugleich ein Mehr an Wirklichkeit aufweisen soll: „Es könnte Ereignisse geben, die viel sicherer wirklich in der Zeit geschehen sind als alles, was die ,Historiker’ als solche feststellen können. Wir haben Gründe, anzunehmen, daß zu diesen Ereignissen vor allem die Geschichte von der Auferstehung Jesu gehört“ (ebd.). Diese unwirkliche Wirklichkeit, die gleichsam wirklicher als die gewohnte, regelhafte Wirklichkeit sein soll, scheint wiederum Barths früherer Position nicht grundsätzlich zu widersprechen. Denn nach Barths früherer Auffassung ist die Auferstehung „kein Ereignis von historischer Ausdehnung“ (ders., Römerbrief, a.a.O., 190), sondern „berührt [die Welt, M.D.K.] … wie die Tangente einen Kreis“ (a.a.O., 6). Die Pointe ist: Es geht um ein Berühren, ohne zu berühren, und um ein NichtBerühren, das berührt (vgl. ebd.), – ganz in der Fluchtlinie einer unwirklichen Wirklichkeit, deren Mehr an Wirklichkeit der Welt fremd erscheint. 30 Vgl. dazu etwa: Alister E. McGrath, Der Weg der christlichen Theologie, a.a.O., 443–445. 31 Vgl. mit den einschlägigen Stellen und Literaturhinweisen: Folkart Wittekind, Eschatologie, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 323–334; Martin Hailer, Hoffnung für die Welt, in: Michael Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, 386–391.

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der Wirklichkeit der Auferstehung angeht, so wird sie sowohl von Bultmann als auch von Barth in gewisser Weise umgangen: Bultmann setzt sie faktisch mit ihrer Realisierung im Kerygma gleich, so dass ihre in Frage stehende raumzeitliche Tatsächlichkeit dem Verdacht verfällt, mythisch zu sein32 – offenbar mit der lutherischen Pointe, so jede intellektuelle Werkgerechtigkeit auszuschalten.33 Und Barth versteht, um genau diesen vermeintlichen Subjektivismus Bultmanns zu vermeiden und zugleich den Glauben von falscher Historizität freizuhalten, die Auferstehung in ihrem Kern – ungeachtet ihrer historischen Rahmung, wonach das leere Grab keine apologetische Legende sein soll – als dermaßen wirklich, dass sie paradoxerweise mit der als geschichtlich angesehenen Wirklichkeit nichts zu tun hat. Damit wird bei Barth die Auferstehung zu einer Wirklichkeit eigener Art.34 Eberhard Jüngel schlägt in seiner Theologie, die Barths Trinitätslehre und Bultmanns Entmythologisierung zusammendenkt und weiterführt35 , darum vor, die Wirklichkeit der Auferstehung als analogieloses Ereignis zu denken. Demnach ereignet sich die Auferstehung in ihrer eschatologischen Aktualität in der den gewohnten Weltenlauf heilsam unterbrechenden Christusverkündigung.36 Die Überfülle dieser nicht aus der Welt hochrechenbaren Selbstoffenbarung Gottes lässt sich letztlich nur metaphorisch ausdrücken, so dass das Metaphorische für Jüngel nicht für ein Weniger, sondern für ein Mehr an Sein stehen kann.37 Im metaphorischen Sprachereignis der Osterverkündigung kommt Gott selbst zur Welt und teilt genau darin die Kraft der Auferstehung so wirksam mit, dass sie an ihr glaubensweckendes und heilbringendes Ziel kommt.38 Damit geht eine Betonung der präsentischen Eschatologie der Auferstehungswirklichkeit einher, für die Vorstellungen futurischer Apokalyptik nur insoweit bedeutsam sind, als sie die existentielle Einstellung des Glaubens

32 Vgl. dazu etwa: Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 211f. 33 Vgl. etwa: Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. v. Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984, 134f. Vgl. zur Sache: Ulrich H.J. Körtner/Christof Landmesser/Mareile Lasogga/Udo Hahn (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in der Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010. 34 Vgl. Anm. 29. 35 Vgl. Rainer Dvorak, Gott ist Liebe. Eine Studie zur Grundlegung der Trinitätslehre bei Eberhard Jüngel, Würzburg 1999, 198–274. 36 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 203–248. 285–298. 312f. 383–430, bes. 391f. 396–400. 470–505, bes. 495–499; ders., Tod, a.a.O., 104. 109. 37 Vgl. ders., Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: ders./Paul Ricœur, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 71–122. 38 Vgl. ders., Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 312. 391f.; ders., Tod, a.a.O., 109.

Der Gott vom Holz her?

veranschaulichen, in der Gott und Menschen zusammenkommen.39 So ist für Jüngel – in der Sprache unserer Zeit – die Auferstehung ein sich in der aktuellen Performanz der sprachbildlichen Verkündigung einstellender Bruch, der in der gewohnten Realität als heilsamer Prägnanzgewinn von Unbestimmtheit den Glauben weckt, der Gottes Präsenz gerade in ihrem präzisen Entzug entdeckt, und zwar in der kontrafaktischen Deutung von Erfahrung (etwa von Leben aus dem Tod). Für die Frage der Modalität bedeutet dies für Jüngel eine Umkehrung der traditionellen Privilegierung der Wirklichkeit vor der Möglichkeit.40 Denn die Überfülle von Gottes Selbsterschließung in der Auferstehung kommt im Modus der Möglichkeit zur Welt: Gott spielt dem Menschen mit der Auferstehung eine sich aus der alten Wirklichkeit nicht ergebende und insofern nicht-notwendige Möglichkeit zu, die in dem existentiellen Einstellungswechsel des Glaubens dazu führt, dass der Mensch eschatologisch die alte Welt mit neuen Augen sieht.41 Insofern Jüngels Christologie dabei dezidiert von Gottes Selbstoffenbarung ausgeht, kann sie als eine „Christologie von oben“42 gelten. Ungeachtet der Korrekturen, die Jüngel an Barths und Bultmanns Entwürfen vornimmt, wenn er in seiner eigenen Theologie den historischen Jesus als Anhaltspunkt christologisch miteinbezieht und mit Ernst Fuchs das Kerygma – hermeneutisch von der Gleichnisauslegung inspiriert – als metaphorisches Sprachgeschehen fasst43 , steht Jüngel an dem Punkt klar in dem theologischen Fluchtlinien von Barth und Bultmann: Jüngels Hauptwerk „Gott als Geheimnis der Welt“ (1977), für dessen Auferstehungsverständnis insbesondere Jüngels Dissertation „Paulus und Jesus“ (1962) und seine Studien „Gottes Sein ist im Werden“ (1965), „Metaphorische Wahrheit“ (1974) und „Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus“ (1990) hilfreich sind, spricht hier im Sinn eines „hermeneutischen Barthianismus“44 eine klare Sprache; und in seiner Studie „Tod“ (1971) hat Jüngel auch die präsentische Akzentuierung der Eschatologie von Barth und Bultmann auf seine Art weitergeführt.45

39 Vgl. ders., Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, in: ders., Wertlose Wahrheit, München 1990, 214–242, 233f. 40 Vgl. ders., Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, in: ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Erörterungen, Tübingen 3 2000, 206–233. 41 Vgl. ders., Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 396–400. 289–298. 42 Vgl. zur Begrifflichkeit: Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 165. 43 Vgl. Rainer Dvorak, Gott ist Liebe, a.a.O., 198–274. 283–289. 44 Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 805. 45 Vgl. zu Jüngels Ansatz und Werk: Dirk Evers/Malte Dominik Krüger (Hg.), Die Theologie Eberhard Jüngels. Kontexte, Themen und Perspektiven (im Erscheinen).

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Von diesem kerygmatheologischen Weg weicht der von Wolfhart Pannenbergs Geschichtstheologie eingeschlagene und maßgeblich vom Problembewusstsein des Deutschen Idealismus inspirierte Weg signifikant ab.46 Pannenbergs These von der Tatsächlichkeit der Auferstehung darf wohl als bekanntestes Erkennungszeichen seiner Theologie gelten.47 Dies ist auch und vor allem gegen die Kerygmatheologie gerichtet, die nach Pannenberg ungewollt in die Sackgasse eines unhistorischen und anschlusslosen Glaubenssubjektivismus führt.48 Für Pannenbergs Werk lässt sich durchgehend die These von der Historizität der Auferstehung – etwa von seiner frühen Studie „Heilsgeschehen und Geschichte“ (1959) über die „Grundzüge der Christologie“ (1964) bis zum Spätwerk der „Systematischen Theologie“ (1988–1993) – belegen.49 Diese These von der Auferstehung schließt für Pannenberg zwar nicht die gewöhnliche Streitigkeit von historischen Ereignissen aus, weiß aber gerade in der Kontingenz der Auferstehung das Ende des Gesamtzusammenhanges der Welt vorweggenommen.50 Damit verbindet Pannenberg der Sache nach dreierlei.51 Erstens ist die Geschichte als theologischer Horizont keine andere Geschichte als diejenige, welche eine jede unvoreingenommene Forschung verstehen kann.52 Es bedarf also keines exklusiven Zugangs durch den Glauben, der die Profangeschichte ausschließt, um die Auferstehung sachgerecht einzuordnen. Dieser historische Zugang geschieht nach Pannenberg im Modus wissenschaftlich plausibler Hypothesenbildung.53 Insofern bietet Pannenberg eine „Christologie von unten“54 . Zweitens ist die Geschichte in Wahrheit ihre Überlieferungsgeschichte, weil so das Geschehene in seiner Einmaligkeit überliefert und somit als historisch realisiert wird.55 Insofern geht es in der Geschichtsschreibung nie 46 Vgl. dazu etwa: Christoph Kock, Natürliche Theologie. Ein evangelischer Streitbegriff, Neukirchen-Vluyn 2001, 111–169. 47 Vgl. dazu etwa: Alister E. McGrath, Der Weg der christlichen Theologie, a.a.O., 445–448. 48 Vgl. dazu etwa: Rainer Dvorak, Gott ist Liebe, a.a.O., 192f. 49 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 22–78, bes. 45–66; ders., Chr., 85–103, bes. 103; ders., Systematische Theologie I–III, Göttingen 1988–1993 (= STh), II, 385–405, bes. 402–405. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. zu den folgenden drei Punkten auch: Malte Dominik Krüger, Pannenberg als Gedächtnistheoretiker. Ein Interpretationsvorschlag (auch) zu seiner Ekklesiologie, in: Gunther Wenz (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 181–202, bes. 191–194. 52 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, a.a.O., 22–78, bes. 44–78. 53 Vgl. dazu auch: ders., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, bes. 299–348. 54 Vgl. auch: Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, a.a.O., 164f. 55 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Kerygma und Geschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 79–90, bes. 88.

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nur um vermeintlich objektive Fakten, sondern immer auch deren innewohnende Bedeutung. Auf diese Weise ist prinzipiell die Kluft zwischen Faktum und Bedeutung überbrückt.56 Und drittens erhellt wiederum aus diesem überlieferungsgeschichtlichen Ansatz, dass das Ganze der Geschichte als indirekte Selbstoffenbarung Gottes zu begreifen ist. Denn in der historisch erweisbaren Auferstehung Jesu ist das Ende der Geschichte vorweggenommen, auf das die zur Gottoffenheit führende Weltoffenheit des Menschen hinleitet, die sich selbst im Horizont der futurischen Apokalyptik auszudeuten weiß.57 Aus dem Bisherigen ergeben sich Gegensätze zwischen den Auferstehungschristologien von Jüngel und Pannenberg, die man m.E. auf zwei fundamentale Differenzen zuspitzen kann, die intern jeweils nochmals verschiedene Aspekte aufweisen.58 Erstens: Während die Auferstehung für Jüngel im Sinn einer „Christologie von oben“ wesentlich ein metaphorisches Sprachereignis des unhintergehbaren Glaubensvollzugs ist, ist sie für Pannenberg im Sinn einer „Christologie von unten“ wesentlich ein reales Geschichtsereignis des unvoreingenommenen Erkenntnisvollzugs. Dies kann man mit dem Recht relativer Berechtigung einen medialen Gegensatz nennen, insofern sich die Medien der Offenbarung unterscheiden, nämlich Sprache und Geschichte. Zweitens: 56 Vgl. ders., Chr., 61–69. 106f. 57 Vgl. ders., Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 7 1985, 5–103; ders., STh I, 207–281; ders., STh II, 203–314. 58 Vgl. grundsätzlich zu einer ersten summarischen und relativ aktuellen Überblicksorientierung über die vielschichtige und verzweigte Diskussion: Jacob Thiessen, Die Auferstehung Jesu in der Kontroverse. Hermeneutisch-exegetische und theologische Überlegungen, Zürich/Münster 2009, 11–78. Vgl. grundsätzlich zu Pannenbergs Auferstehungschristologie auch: Brian O. McDermott, Pannenberg’s Resurrection Christology. A Critique, Theological Studies 5 (1974), 711–721; Klaus Kienzler, Logik der Auferstehung. Eine Untersuchung zu Rudolf Bultmann, Gerhard Ebeling und Wolfhart Pannenberg, Freiburg/Basel/Wien 1976, bes. 102–143; Krzysztof Gozdz, Jesus Christus als Sinn der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg, Diss. Theol. Eichstädt 1986; James T. Bridges, Human Destiny and Resurrection in Pannenberg and Rahner, New York 1987; André Kendel, Geschichte, Antizipation und Auferstehung. Theologische und texttheoretische Untersuchung zu W. Pannenbergs Verständnis von Wirklichkeit, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2001; Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs STh, a.a.O., 181–186; San Myat Shwe, The Significance of the Resurrection of Jesus for Systematic Theology. A Comparative Study of Karl Barth’s and Wolfhart Pannenberg’s Understanding of Jesus’ Resurrection, Brno 2004; Jae Yang, Pannenberg’s Doctrine of Resurrection as Science, Open Theology 5 (2019), 466–481; Vgl. grundsätzlich zu Jüngel Auferstehungschristologie auch: John B. Webster, Eberhard Jüngel. An Introduction to his Thought, Cambridge 1986, 33–66. 79–92; Rainer Dovrak, Gott ist Liebe, a.a.O., 282–292; Piotr L. Malysz, The Resurrection as Divine Openness, in: R. David Nelson (Hg.), Indicative of Grace – Imperative of Freedom. Essays in Honor of Eberhard Jüngel in His 80th Year, London 2014, 143–154; Brent A.R. Hege, Myth, History and the Resurrection in German Protestant Theology, Eugene 2017, 116–129.

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Während die Auferstehung für Jüngel wesentlich die heilsame Unterbrechung des Gesamtzusammenhanges im Modus präsentisch bestimmter Möglichkeit ist, ist die Auferstehung für Pannenberg wesentlich die antizipierte Sinntotalität des Gesamtzusammenhanges im Modus futurisch bestimmter Wirklichkeit. Dies kann man mit dem Recht relativer Berechtigung einen modalen Gegensatz nennen, insofern sich die Weisen der Erschließung unterscheiden, nämlich unterbrechende Möglichkeit und antizipierte Wirklichkeit. Aufgrund dieser beiden basalen Gegensätze repräsentieren die Theologien von Pannenberg und Jüngel offenbar zwei einander ausschließende Weisen, mit der Auferstehung im Horizont des modernen Geschichtsverständnisses umzugehen. 2.

Hauptteil: These und Ausführung

M.E. täuscht dieser Eindruck, insofern es um Polarisierungen innerhalb einer gemeinsam vorausgesetzten Diskursgemeinschaft geht, die enger ist, als es den Anschein hat. Zwar sind die Ausgangspunkte von Jüngel und Pannenberg in der Frage der Auferstehung entgegengesetzt, doch ihre Einsichten schließen einander nicht zwingend aus.59 Entsprechend lautet die These des Folgenden: Die Auferstehungschristologien von Jüngel und Pannenberg weichen – ungeachtet unterschiedlicher Ausgangspunkte, verschiedener Schwerpunkte und interner Vertiefungen – nur relativ voneinander ab. Orientiert man sich an den beiden genannten Gegensatzpaaren und stellt dem noch eine Vorbemerkung voran, kann dies folgendermaßen erläutert werden. Die Vorbemerkung bezieht sich auf die Schlüsselstellung der Auferstehungsthematik und ihre trinitätstheologische Bedeutung. Sowohl bei Jüngel als auch bei Pannenberg ist Ostern das zentrale Erschließungsgeschehen Gottes, der sich darin für den christlichen Glauben als trinitarisch erweist: Die Auferstehung Jesu ist der Grund, ihn als Gott zu erkennen und Gott als trinitarisch zu denken. Denn wenn der lebendige Gott den toten Jesus auferweckt hat, dann muss man zwischen Vater und Sohn unterscheiden, die in dieser Unterscheidung als Geist aufeinander bezogen sind; damit ist untrennbar die Dialektik von Ewigkeit und Zeit, Leben und Tod verknüpft. Bei Jüngel ist diese Einsicht, die sich schon in „Paulus und Jesus“ findet und „Gott als Geheimnis der Welt“ steuert, das Axiom seiner Theologie.60 So wird in 59 Dies schließt weder unterschiedliche Fokussierungen bei Jüngel und Pannenberg noch – vielleicht gerade dadurch beim Gegenüber inspiriert – interne Detailverschiebungen im jeweiligen Werk aus. Letzteres darf allerdings auch nicht den Blick dafür trüben, dass sowohl bei Jüngel als auch Pannenberg sich die Grundauffassungen – auch im Fall der Auferstehung – werkgeschichtlich durch eine große Kontinuität auszeichnen. 60 Vgl. so auch: Rainer Dvorak, Gott ist Liebe, a.a.O., 47–59.

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„Paulus und Jesus“ die den christlichen Glauben ausmachende Einsicht, dass der geschichtliche Jesus der geglaubte Christus ist, mit Ostern begründet.61 Denn in der Kreuzigung und Auferstehung Jesu wird deutlich, dass sich das Eschaton mit dem historischen Jesus identifiziert hat.62 Diese Identifikation ist für Jüngel zum einen der Grund des christlichen Glaubens; zum anderen gibt sie Gottes Ja zum Menschen zu erkennen, in welchem sich Gottes Gottheit erweist, die aufgrund ihrer Menschlichkeit schon trinitarisch geprägt erscheint.63 In der Studie „Gottes Sein ist im Werden“ wird in einer Barth-Auslegung diese Entsprechung von Gottes An-sich-sein mit seinem Für-uns-sein explizit trinitätstheologisch ausbuchstabiert64 und in „Gott als Geheimnis der Welt“ in einen eigenständig verantworteten Entwurf übernommen.65 Auch hier wird der Schlüsselbegriff der Identifikation von Jüngel benutzt, um die Dreieinigkeit Gottes als sachgemäße Auslegung der biblischen Auferstehungsbotschaft zu deuten: Gott will nur Gott mit dem Menschen und für den Menschen sein.66 Der Begriff der Identifikation besagt: In der Auferstehung Jesu gibt sich Gott vollständig zu erkennen, und zwar phänomenal als Liebe und trinitätstheologisch als Perichorese; diese Selbstdefinition Gottes in der Auferstehung erweist wiederum Jesus als Ereignis des Wortes Gottes in Person und bedeutet in ihrer aller Welt zugutekommenden Einzigartigkeit eine den gewohnten Lebenszusammenhang unterbrechende Wahrheit.67 Ebenso ist bei Pannenberg die Auferweckung Jesu der Grund, Jesus als Gott und Gott als Trinität zu erkennen. In dem Werk „Grundzügen der Christologie“ legt Pannenberg Wert darauf, sich von anderen theologischen Entwürfen abzugrenzen, die nicht die Auferstehungsbotschaft als Grund der christlichen Gotteserkenntnis annehmen, sondern dies relativieren, indem sie in der Auferstehung – wie etwa Paul Althaus – lediglich die Bestätigung des vorösterlichen Anspruchs Jesu oder – wie etwa Rudolf Bultmann – den Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzestodes sehen; ebenso geht Karl Barth in die Irre, so Pannenberg, wenn Barth in seiner frühen Theologie faktisch Bultmann zustimmt und in seiner späten Theologie die Auferstehung zwar als Einzelereignis festzuhalten versucht, aber in seiner Auswirkung zugunsten der Inkarnati-

61 Vgl. Eberhard Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, Tübingen 6 1986, 279–300. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. so auch: Rainer Dvorak, Gott ist Liebe, a.a.O., 48–50. 64 Vgl. Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 4 1986, 16–53. 74–122. 65 Vgl. ders., Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 297–300. 446–453. 479–482. 495–499. 66 Vgl. bes. deutlich z. B.: a.a.O., 48. 67 Vgl. ders., IXf. 221f. 232. 409–543.

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on abschwächt.68 Demgegenüber stellt Pannenberg die Auferstehung Jesu als Grundlage der Theologie heraus: Aufgrund der Auferstehung muss von einer offenbaren und wesentlichen Einheit von Gott mit Jesus gesprochen werden, die in ihrer Identität maßgeblich Differenz einschließt; nichts anderes artikuliert letztlich die Trinitätslehre einschließlich ihrer schöpfungs- und inkarnationstheologischen Einsichten.69 In der „Systematischen Theologie“ werden diese Einsichten weitergeführt. Demnach gibt die Auferstehung Jesu dessen offenbare wie wesentliche Einheit mit Gott zu erkennen, die beinhaltet, dass der Sohn von Ewigkeit zum Vater gehört und insofern präexistent ist.70 So wird die Menschwerdung nachvollziehbar, wie auch die Einsicht, dass die Schöpfung in die trinitarische Selbstunterscheidung Gottes gehört. Hierbei steht mit der Sendung des Sohnes in die Welt und im Erscheinen Jesu die Gottheit des Vaters auf dem Spiel, die im Kreuzestod und in der Auferstehung sich als wirkmächtig erweist.71 Den ersten Gegensatz zwischen Jüngel und Pannenberg nannten wir medial, insofern es darum ging, ob die Auferstehung mit Jüngel im Sinn einer „Christologie von oben“ wesentlich ein metaphorisches Sprachereignis des unhintergehbaren Glaubensvollzugs oder mit Pannenberg im Sinn einer „Christologie von unten“ wesentlich ein reales Geschichtsereignis des unvoreingenommen Erkenntnisvollzugs ist. Dieser Gegensatz ist zu relativieren und bedeutet keinen zwingenden Ausschluss der jeweils anderen Position. Sicher ist es richtig, dass Jüngel in seinem Werk „Gott als Geheimnis der Welt“ und in dem Beitrag „Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus“ aufgrund seines offenbarungstheologischen und sprachhermeneutischen Verständnisses des Osterkerygmas offenkundig nicht Pannenbergs These von der Historizität der Auferstehung teilt. Doch dies schließt für Jüngel weder die Dimension historischer Rechenschaftspflicht noch den Anspruch menschlicher Plausibilisierung aus, wie es auch nicht die illusionäre Fiktionalität, sondern die überströmende Wirklichkeit der Auferstehung ist, die sich dagegen sperrt72 , als historische Tatsache neben und unter anderen zu erscheinen. In dem Sinn integriert Jüngel – inmitten noch so großer Übereinstimmung in der Auferstehungschristologie mit seinen Lehrern Barth und Bultmann in noch größerer Differenz zu ihnen – die Frage nach dem historischen Jesus in die Christologie: Jüngel unterstreicht, dass jede Chris68 69 70 71 72

Vgl. Wolfhart Pannenberg, Chr., 106–112. Vgl. a.a.O., 47–189, bes. 169–189. Vgl. ders., STh II, 283–364, bes. 288f. 342f. 357–360. Vgl. a.a.O., 34–49. 433–440. Vgl. z. B. Eberhard Jüngel, Tod, a.a.O., 104. 109; ders., Barth-Studien, Zürich/Köln/Gütersloh 1982, 258, Anm. 39.

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tologie eine – freilich nicht als Beweis misszuverstehende – Verankerung im historischen Jesus haben muss, will sie nicht dem Verdacht des Doketismus verfallen.73 Dabei agiert formal jede christliche Theologie im deutenden Rückblick, so Jüngel, insofern sie nach und im Licht von Ostern erfolgt. Material ergibt sich für Jüngel eine Entsprechung einer „Christologie von unten“ und einer „Christologie von oben“, insofern mit der Auferstehung aus dem Gleichnisprediger selbst das Gleichnis Gottes wird.74 Denn mit Ostern gehört Jesus definitiv auf Gottes Seite, so dass der christliche Glaube nur durch ihn seinen Gott erkennt. Zur Verkündigung Jesu gehört sein Verhalten als praktischer Kommentar, das wie seine Verkündigung den Charakter einer Freiheit heraufführenden Unterbrechung der gesetzeskonformen Frömmigkeit seiner Zeit hat. Infolgedessen liegt der das Leben Jesu integrierende Kreuzestod in einer historisch bedingt einsichtigen Weise in der Konsequenz seines Lebens, ohne dass man nach Jüngel von einer zwingenden Notwendigkeit reden könnte.75 Ist Jesu Tod mit seinen von der historisch-kritischen Exegese aufklärbaren Umständen allerdings insoweit geschichtlich greifbar, so kann man dies nach Jüngel von der Auferstehung nicht sagen. Ihre Realität ist nicht direkt und auch nicht historisch zugänglich, sondern zeigt sich indirekt und mittelbar. So manifestiert sich die unterbrechende Wirklichkeit der Auferstehung nach Jüngel im metaphorisch der Welt ein Mehr an Sein zusprechenden Osterkerygma, das den christlichen Glauben hervorbringt.76 Dessen Rechenschaft erschöpft sich nicht in einer bloß verbürgten Selbstgewissheit des Glaubens, so Jüngels Selbstkorrektur der Kerygmatheologie. Vielmehr bewährt sich die Glaubensgewissheit in einer auch für die nicht-glaubende Sicht einsichtigen Lebenserschließung des neuzeitlichen Menschen, der den christlichen Glauben als Erlösung aus dem aporetischen Versuch (un-) menschlicher Selbstbemächtigung verstehen kann.77 Somit kann und muss sich der Mensch nicht selbst begründen, sondern darf aus der Sprachbildlichkeit des christlichen Glaubens leben. Dies versucht Jüngel sprachphilosophisch zu plausibilisieren, wenn die Bildlichkeit der Glaubenssprache einem wesentlichen Grundzug menschlicher Sprachlichkeit entsprechen soll, und geistesgeschichtlich zu stützen, wenn die Neuzeit

73 Vgl. ders., Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, a.a.O., 214–242, bes. 218f.; ders., Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 479–482. 74 Vgl. ders., Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 383–408, bes. 395. 75 Vgl. a.a.O., 494, Anm. 36. 76 Vgl. a.a.O., 203–248. 285–298. 312f. 383–430, bes. 391f. 396–400. 470–505, bes. 495–499; ders., Tod, a.a.O., 104. 109; ders., Metaphorische Wahrheit, a.a.O., 71–122. 77 Vgl. auch: Christoph Herbst, Freiheit aus Glauben. Studien zum Verständnis eines soteriologischen Leitmotivs bei Wilhelm Herrmann, Rudolf Bultmann und Eberhard Jüngel, Berlin/Boston 2012, 285–433, bes. 427–433.

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ungewollt die sich theoretisch wie praktisch aus dem Drang nach Selbstbegründung ergebende Selbstzerstörung des Menschen vor Augen führt.78 Das heißt: Der christliche Osterglaube ist nicht abwegig, sondern wird einem sprachlich verfassten und geschichtlich vernehmenden Verstehen gerecht, das sich die Wirklichkeit nicht apriorisch ausdenkt, sondern ihr sprachlich und faktisch nachdenkt.79 Dem wird man noch verstärkend hinzufügen müssen, dass in „Gott als Geheimnis der Welt“ die Kerygmatheologie erst nach ihrer sprachphilosophischen und geistesgeschichtlichen Plausibilisierung entfaltet wird.80 Insofern wird im praktischen Vollzug von Jüngels Kerygmatheologie die Vorstellung verabschiedet, eine direkte Wortoffenbarung könne exklusiv das wahre Gottesverständnis garantieren, was zweifellos noch die von Jüngel theoretisch eingeräumte Berechtigung übertrifft, die Kerygmatheologie schließe philosophisch eine sprachliche und geschichtliche Anschlussfähigkeit ein.81 Ist damit für Jüngel die bildliche Sprache des Glaubens auf menschliche Geschichte und nachvollziehbare Rechenschaft verpflichtet, so dass sich auch der Gegensatz von einer „Christologie von oben“ und „von unten“ relativiert, so ist Entsprechendes in umgekehrter Weise von Pannenbergs Auferstehungschristologie zu sagen: Für Pannenberg schließt die geschichtliche Überlieferung der Auferstehung die metaphorische Sprache des Glaubens ein, in der die Antizipation der Gesamtwirklichkeit (Gottes) verständlich wird, so dass sich letztlich auch eine „Christologie von unten“ und „von oben“ nicht widersprechen müssen.82 Sicher ist es richtig, dass Pannenbergs Theologie sich dezidiert von der Kerygmatheologie unterscheidet, welche die Auferstehung aus der unhinterfragten Autoritätsversicherung des Gemeindeglaubens herleitet und als Wortoffenbarung versteht; stattdessen plädiert Pannenberg für eine vernunftgemäße und metaphysikbewusste Geschichtstheologie, die in der historischen Auferstehung 78 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 138–306. 79 Vgl. a.a.O., 203–214. Daher ist für Jüngel gerade (s)eine Offenbarungstheologie die Erfüllung der Absicht der natürlichen Theologie, mit Gottes Selbstverständlichkeit aktuell und vernünftig umgehen zu wollen (vgl. Eberhard Jüngel, Das Dilemma der natürlichen Theologie und die Wahrheit ihres Problems. Überlegungen für ein Gespräch mit Wolfhart Pannenberg, in: ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 158–177). 80 In „Gott als Geheimnis der Welt“ werden die Teile A) – C), die sich kritisch mit dem neuzeitlichen Menschen und seinem metaphysischen Gottesgedanken auseinandersetzen, den Teilen D) und E), in denen dann positiv das Offenbarungsverständnis und die Trinitätslehre entfaltet werden, vorgeschaltet. Vgl. zur fruchtbaren und zugleich kritikwürdigen Ambivalenz von Jüngels Theologie auch: Malte Dominik Krüger, Gott ist die Liebe. Eberhard Jüngels kreuzestheologische Trinitätslehre, in: Dirk Evers/Malte Dominik Krüger (Hg.), Die Theologie Eberhard Jüngels. Kontexte, Themen und Perspektiven (im Erscheinen). 81 Vgl. zur Sache z. B. auch: Christoph Herbst, Freiheit aus Glauben, a.a.O., 427–433. 82 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Chr., 422f.; ders., STh II, 316–336. 387–389.

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Gottes indirektes Geschichtshandeln von seinem Ende her vorweggenommen weiß.83 Doch dies schließt über die elementare Verbindung der Einsichten, dass Geschichte wesentlich Überlieferungsgeschichte ist und als solche an sprachliche Zeugnisse, Kommunikationen und Prozesse gebunden ist84 , keineswegs aus, die Bedeutung der Sprache zu würdigen: Schon eine Abschnittsüberschrift des Offenbarungskapitels der „Systematischen Theologie“ lautet „Offenbarung als Geschichte und Wort Gottes“85 . Dabei darf allerdings das Medium des Wortes nicht unter der Hand als unhistorisches, unmittelbares und direktes Offenbarungsmedium missverstanden werden.86 Sprache ist vielmehr, wie Pannenberg in „Was ist der Mensch?“ (1962) zeigt, eine antizipatorische Weise der Lebensbewältigung des stets geschichtlich verstandenen Menschen.87 Insofern vermag sich die Offenbarung mit der Auferstehungsbotschaft angemessen in Sprache auszudrücken, wie die „Systematische Theologie“ feststellt. Im Fall der Auferstehung kommt hinzu, weil sie von einem schlechthin neuen Ereignis spricht, dessen Realität sich der Alltagserfahrung entzieht, dass diese Sprache metaphorisch am Bild des Schlafens und Erwachens orientiert ist. So kommt für Pannenberg die seines Erachtens historisch erweisbare Auferstehung in der sprachlichen Metaphorik der Glaubenseinsicht zum Tragen.88 Insofern die Antizipation der Auferstehung sich im Glauben erschließt, dessen Zeugnisse von dem historischen Verstehen nachvollzogen werden können, aber nicht die Ambivalenz historischen Wissens verlieren, gibt es auch bei Pannenberg eine Grenze des geschichtlichen Wissens vom christlichen Glauben.89 Dahinter steht letztlich Gott, dessen Erkenntnis auf seiner Selbstoffenbarung beruht, insofern er sich von sich zu erkennen gegeben hat.90 Damit ist der Sache nach nicht nur der Gegensatz zwischen einer „Christologie von unten“ und „von oben“ relativiert91 , insofern erstere in gewisser Weise zur letzteren führt, sondern auch eine Nähe zu Jüngels korrigierter Kerygmatheologie hergestellt.92 Eine 83 Vgl. Offenbarung als Geschichte, in Verbindung m. R. Rendtorff/U. Wilckens/T. Rendtorff hg. v. Wolfhart Pannenberg, Göttingen 5 1982, 7–20. 91–114; ders., Chr., a.a.O., bes. 15–31. 415–426; ders., STh I, 207–281. 84 Vgl. auch: ders., Hermeneutik und Universalgeschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 91–122; ders., Über historische und theologische Hermeneutik, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 123–158. 85 Ders., STh I, 251. 86 Vgl. a.a.O., 251–281. 87 Vgl. ders., Was ist der Mensch, a.a.O., 13–22. 88 Vgl. ders., STh II, 385–389. 89 Vgl. a.a.O., 402–405, bes. 404f; ders., Chr., a.a.O., 417f. 90 Vgl. ders., STh I, 207–281. 91 Vgl. ders., STh II, 316–336, bes. 327f.; ders., Chr., 415–426, bes. 422f. 92 Vgl. zur Sache auch: Rainer Dvorak, Gott ist Liebe, a.a.O., 190–197.

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gewisse Differenz bleibt freilich weiterhin darin bestehen, dass Pannenberg die Kreuzigung – stärker als Jüngel – als Folge des historischen Jesus ansieht, dies allerdings – ähnlich wie Jüngel – an dessen Umgang mit dem Gesetz festmacht93 ; ebenso kann Pannenberg – wie Jüngel – den Tod Jesu als Integral von dessen Leben deuten.94 Den zweiten Gegensatz zwischen Jüngel und Pannenberg nannten wir modal, insofern es darum ging, ob die Auferstehung wesentlich die heilsame Unterbrechung des Gesamtzusammenhanges im Modus präsentisch bestimmter Möglichkeit oder wesentlich die antizipierte Sinntotalität des Gesamtzusammenhanges im Modus futurisch bestimmter Wirklichkeit ist. Dieser Gegensatz ist zu relativieren und bedeutet keinen zwingenden Ausschluss der jeweils anderen Position. Denn beide Auferstehungschristologien möchte das kategorial Neue denken, das mit der Auferstehung in der Geschichte geschieht. Sicher ist es richtig, dass Jüngels Beitrag „Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus“ in Jesu Verkündigung eine „Entapokalyptisierung“95 entdeckt. Denn es geht, so Jüngel, Jesus bei der Verwendung apokalyptischer Vorstellungen lediglich um eine Einschärfung der glaubenden Einstellung gegenüber dem in ihm präsenten Kommen der Gottesherrschaft, die sich in seiner Verkündigung als Gleichnis manifestiert.96 Dieses präsentische Kommen der Gottesherrschaft im Gleichnis kann nach Jüngel im Sinn chronologisch messbarer Zeit nicht prinzipiell in ein Früher und Später aufgespalten werden, auch wenn die Unterscheidung zwischen „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ eine relative Berechtigung behält. Nach Jüngels Studie „Tod“ überspannt die eschatologische Fülle der Gottesherrschaft die chronologische Unterscheidung von Früher und Später, ohne sie ganz zu tilgen97 , wie man vielleicht im Sinn einer rein präsentischen Eschatologie gewillt sein könnte zu meinen.98 Insofern öffnet Jüngel die präsentisch akzentuierte Eschatologie der Kerygmatheologie für eine im Sinn der chronologischen Zeit futurische Dimension. Diese Präsenz des Eschatons verdichtet sich in der Auferstehung zu einer solchen Überfülle von Wirklichkeit, so auch „Gott als Geheimnis der Welt“, dass sie nicht mehr mit der gewöhnlichen Wirklichkeit vergleichbar ist, sondern für letztere – negativ – die Unterbrechung alter Erfahrung und 93 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Chr., 257–265. Später hat Pannenberg diese Einsicht gegen das (Miss-) Verständnis abgegrenzt, damit sei das Judentum als Religion verworfen (vgl. ders., STh II, 384f. m. Anm. 54). 94 Vgl. ders., STh II, 418 m. Anm. 143. 95 Eberhard Jüngel, Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, a.a.O., 234. 96 Vgl. ders., Paulus und Jesus, a.a.O., 139–215. 263–289. 97 Vgl. ders., Tod, a.a.O., 128f. 98 Vgl. zum Stand der Diskussion auch: Rainer Dvorak, Gott ist die Liebe, a.a.O., 294, Anm. 96.

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– positiv – das Zuspiel neuer Möglichkeiten (im Glauben mit seinen neuen Sichtweisen des alten Daseins) darstellt.99 Es ist diese Analogielosigkeit der Überfülle der Wirklichkeit, die sich in der Auferstehung zeigt, die Jüngel dazu bringt, nicht nur zu einem auf vermeintlicher Kontinuität beruhenden Geschichtsverständnis auf Distanz zu gehen, sondern auch eine christologische Umwertung der Modalkategorien vorzunehmen. Demnach gebührt der Möglichkeit der Vorrang vor der Wirklichkeit und erscheint Gottes nicht aus dem gewohnten Weltzusammenhang erweisbares Handeln in der Auferstehung als Akt genuin schöpferischer Freiheit, der mehr als notwendig ist. Entsprechend kommt Jüngel zu einer gleichsam christologischen Revolution der Kategorien der herkömmlichen Metaphysik und versteht die Glaubensgewissheit als eine „Entsicherung“, die gerade – im Negativ gesprochen – im Verzicht auf Beweise ihre Dignität hat, weil sie sich – ins Positive gewendet – als Osterglauben von Gott getragen weiß.100 Die Dimension allgemeiner Notwendigkeit, welche die metaphysischen Gottesbeweise für den Glauben möchte, hängt so für Jüngel in Wahrheit an der christologischen Konzentration, die universal ausstrahlt. Für Pannenberg ist der apokalyptische Horizont für das Verständnis der Auferstehung Jesu wesentlich. Schon in seinem Beitrag „Heilsgeschehen und Geschichte“ begreift Pannenberg die Geschichte als umfassendsten Rahmen des christlichen Glaubens, und zwar als Universalgeschichte, wie sie durch die Apokalyptik in den Blick kommt. In deren Horizont ist für Pannenberg auch die Auferstehung Jesu zu verorten, in der das Ende der Geschichte vorweggenommen ist.101 Damit ist für Pannenberg bis zur „Systematischen Theologie“ eine dezidiert futurische Eschatologie verbunden und maßgeblich. Doch sie schließt – ebenso wie Jüngels präsentische Eschatologie die futurische Dimension – die präsentische Dimension ein. Nach Pannenberg vollzieht sich die präsentische Dimension gerade in Form der Antizipation des Glaubens. Es geht Pannenberg also um die Zukünftigkeit der präsentisch wirksamen Gottesherrschaft.102 Dies beinhaltet für Pannenberg, dem es wie Jüngel an der Wirklichkeit der Auferstehung gelegen ist, den Anspruch der Auferstehung auf Historizität im Sinn einer tatsächlichen Gegebenheit.103 Dahinter steht bei Pannenberg die Überzeugung, dass vorrangig die Erscheinungen des Auferstandenen und nachrangig die

99 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 203–248. 285–298. 312f. 383–430, bes. 391f. 396–400. 470–505, bes. 495–499; ders., Tod, a.a.O., 104. 109; ders., Metaphorische Wahrheit, a.a.O., 71–122. 100 Vgl. ders., Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., 227–306; ders., Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, a.a.O., 206–233. 101 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, a.a.O., 22–78. 102 Vgl. ders., STh II, 366–374; ders., STh I, 66–72. 103 Vgl. ders., STh II, 395–405.

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Auffindung des leeren Grabes jeweils und miteinander Zeugnisse für die Historizität der Auferstehung sind. Diese Historizität steht der geschichtlichen Forschung offen, die freilich nie absolut den kritischen Rückfragen enthoben ist.104 Damit geht Pannenberg einen anderen Weg als Jüngel, insofern Pannenberg nicht für eine christologische Umwertung der Modalkategorien plädiert, sondern stattdessen das Geschichtsverständnis prinzipiell für Neuheit öffnen möchte. So kritisiert Pannenberg Troeltschs Analogieprinzip, weil es aufgrund seiner gleichmacherischen Anthropozentrik das Neue bzw. Kontingente nicht wirklich zu verstehen erlaubt.105 Pannenberg erweitert das anthropozentrischen Geschichtsverständnis, indem er das schöpferisch Neue und Unvorhergesehene in der Geschichte zum Anlass nimmt, reflexiv den Gottesbegriff einzuspielen. Letzterer steht dann, wie ihn die biblische Tradition fasst, für den schöpferischen Ursprung von Neuem und Unvorhergesehenem in der Geschichte.106 Anders formuliert: Während Jüngel aufgrund der grundstürzenden und neuen Wirklichkeit der Auferstehung die Modalkategorien umstellt, hält Pannenberg grundsätzlich in der Fluchtlinie idealistisch inspirierter Philosophie am metaphysischen Erbe fest, doch dafür revidiert er den traditionalen Begriff der metaphysischen Wirklichkeit, der nunmehr der relativen Ambivalenz der Antizipation ausgesetzt wird. Aufgrund dieser unterschiedlichen Herangehensweise erscheint die unterschiedliche Bewertung modaltheoretischer Kategorien als Folge, deren Perspektiven nicht einander ausschließen, sondern jeweils unterschiedlichen Zeitauffassungen geschuldet sind, nämlich einem eher existenzphilosophischen oder eher geschichtsphilosophischen Verständnis. 3.

Schlussteil: Fazit und Perspektiven

Aufgrund des Bisherigen kann folgendes Fazit gezogen werden. Angesichts der neuzeitlichen Auffassung der Geschichte, die den Axiomen des Wahrscheinlichkeitsurteils, des Analogieprinzips und der Wechselwirkungsthese verpflichtet ist, wird der – von der urchristlichen Überlieferung in Kreuz und Auferstehung wahrgenommene und von der patristischen Theologie im Bild des Gottes vom Holz realisierte – Zusammenfall von Geschichte und Glaube bzw. von Tatsachenbehauptung und Osterbotschaft unglaubwürdig: Die Idee einer supranatural und heilsgeschichtlich eingreifenden Überwelt wird in der Neuzeit infolge der Einsicht in natürliche und geschichtliche Gesetzmäßigkeiten religiös kraftlos, so dass die Auferstehung zu einem „Nicht-Ereignis“ wird, das allenfalls 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. a.a.O., 403f.; ders., Heilsgeschehen und Geschichte, a.a.O., bes. 44–54. 106 Vgl. ebd.

Der Gott vom Holz her?

als Projektion eines mythologischen Glaubensbewusstseins einleuchtet. Auf diese Problemlage reagiert der moderne Protestantismus prinzipiell auf zwei Wegen, wenn man nicht schon in der Auflösung der Auferstehungsbotschaft einen religiös adäquaten Vollzug des neuzeitlichen Wahrheitsbewusstseins sehen möchte: Entweder macht man aus der Trennung von Geschichte und Glaube eine kerygmatheologische Pointe, wonach die geschichtliche Ungreifbarkeit indirekt der Analogielosigkeit des göttlichen Eingreifens entspricht, das sich ausschließlich im Glauben zeigt. Oder man nimmt das moderne Geschichtsbewusstsein direkt positiv auf, indem man es intern von seiner anthropozentrischen Verengung befreit und für die Dimension radikaler Kontingenz öffnet, die man als Transzendenz verstehen kann. In der Fachdiskussion der letzten Jahrzehnte im deutschsprachigen Protestantismus kann für den ersten Weg insbesondere die Auferstehungschristologie von Eberhard Jüngel und für den zweiten Weg die Auferstehungschristologie von Wolfhart Pannenberg stehen. Dabei ergeben sich offenbar zwei basale Gegensätze, die unvereinbar erscheinen: Erstens scheint in medialer Hinsicht die Auferstehung für Jüngel im Sinn einer „Christologie von oben“ wesentlich ein metaphorisches Sprachereignis des unhintergehbaren Glaubensvollzugs zu sein, während sie für Pannenberg im Sinn einer „Christologie von unten“ wesentlich ein reales Geschichtsereignis des unvoreingenommenen Erkenntnisvollzugs zu sein scheint. Und zweitens scheint in modaler Hinsicht die Auferstehung für Jüngel wesentlich die heilsame Unterbrechung des Gesamtzusammenhangs im Modus präsentisch bestimmter Möglichkeit zu sein, während die Auferstehung für Pannenberg wesentlich die antizipierte Sinntotalität des Gesamtzusammenhangs im Modus futurisch bestimmter Wirklichkeit zu sein scheint. Diese beiden Gegensätze sind zwar gut nachvollziehbar, aber in Wahrheit nur relativ, insofern es sich um Akzentsetzungen einer Denkbewegung mit unterschiedlichen Ausgangspunkten handelt. Denn erstens kommen Jüngel und Pannenberg in medialer Hinsicht überein, die von beiden gleichermaßen anerkannte grundstürzende Realität der Auferstehung in deren metaphorischer Artikulation zu verorten. Dabei öffnet Jüngel – teils theologisch bewusst, teils faktisch in seinem die eigene Programmatik unterlaufenden Denkweg – die Kerygmatheologie für geistesgeschichtliche und sprachphilosophische Anschlussplausibilitäten glaubensexterner Deutungen, wie Pannenberg umgekehrt vom Ende der Geschichte die antizipatorische Struktur der Gesamtwirklichkeit in der Auferstehung an die metaphorische Sprache des Glaubens geknüpft weiß. Damit wird bei Jüngel und Pannenberg auch der Gegensatz zwischen einer „Christologie von oben“ und „von unten“ entschärft. Zweitens kommen Jüngel und Pannenberg in modaler Hinsicht überein, die Realität der Auferstehung für eine solche Neuheit in der Geschichte zu halten, dass sie kritisch in der Distanzierung des menschlichen Analogieprinzips moderner Geschichtsschrei-

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bung und konstruktiv in der Neujustierung der alltäglichen Zeitauffassung übereinstimmen. Dabei versteht Jüngel die Auferstehung als existentielle Erfahrung von Lebensfülle vorrangig präsentisch als unterbrechendes Zuspiel von Daseinsmöglichkeiten, während Pannenberg die Auferstehung als antizipiertes Geschichtsende von Sinntotalität vorrangig futurisch als punktuelle Vorwegnahme der Gesamtwirklichkeit begreift. Darüber kommen Jüngels und Pannenbergs Auferstehungschristologien drittens zusätzlich noch in einer Hinsicht überein, die noch grundsätzlicher als die mediale und modale Hinsicht erscheint, auch weil sie bei ihnen faktisch schon immer mit im Spiel ist, und das ist die trinitätstheologische Hinsicht: Für Jüngel und Pannenberg ist die Auferstehungsbotschaft das Zentrum des christlichen Glaubens, das zur Einsicht in Gottes Dreieinigkeit leitet. Mit diesem Fazit lassen sich m.E. für die weitere Fachdiskussion drei Perspektiven verbinden, die diese drei Hinsichten aufnehmen können.107 Erstens kann in medialer Hinsicht kein Zugang zur Auferstehung erfolgen, der an dem Menschen vorbeigeht, indem er suggeriert, ohne Vermittlung des Menschen zustande gekommen zu sein. Gerade Jüngels faktische Selbstkorrektur, als Kerygmatheologie eben nicht mehr direkt mit dem Kerygma einsetzen zu können, sondern es indirekt geistesgeschichtlich und sprachphilosophisch vorbereiten zu müssen, spricht eine deutliche Sprache. Insofern dürfe einer „Christologie von unten“, die dann das Recht der Perspektive einer „Christologie von oben“ einholt, eindeutig der Vorzug gelten. Dabei liegt das Recht der letzteren darin, mit der Erfahrung religiöser Widerständigkeit bzw. Kontingenz ernst zu machen, wie sie sich in der Einsicht in das schöpferische Wesen Gottes zeigt. Doch diese Identifikation – bzw. theoretisch ermäßigt: Annäherung oder Affinität – von Gottheit und Kreativität ist nicht ohne menschliche Kreativität möglich, sondern muss von ihr ausgehen. Dass sich diese menschliche Kreativität wiederum im sprachlichen und geschichtlichen Handeln des Menschen zeigt, der damit das tierische Reiz-Reaktions-Schema durchbricht, vermag vielleicht das Gefälle menschlicher Deutung erklären, die Kreativitätsdimension religiös in einem Bild von Gott als von sich aus (wörtlich) Kommunizierenden und (geschichtlich) Handelnden zu symbolisieren. Zweitens kann man in modaler Hinsicht offenbar die Spannung zwischen Geschichte und Glaube im Fall der Auferstehung nicht auflösen. M.E. gelingt es weder Jüngel überzeugend, den Anspruch auf die Wirklichkeit mit modaltheologischen Überbietungen zu umgehen, noch Pannenberg überzeugend, diesen Anspruch mit der zukunftsverweisenden Antizipationsfigur zu erfüllen. 107 Vgl. zu dem Folgenden (dort auch Literatur und Belege) auch schon: Malte Dominik Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, bes. 151–194. 455–523, bes. 489–514.

Der Gott vom Holz her?

Vermutlich darf, kann und muss man daher theologisch die Auferstehung als Zugleich von Dasein und Nicht-Dasein erfassen. Darauf deuten auch zeittheoretische Fokussierungen von Modalkategorien wie präsentischer Möglichkeit und futurischer Wirklichkeit hin, die Präsenz und Entzug verschränkt denken wollen. Es ist zu fragen, ob man dieses Zugleich, wenn man es weder von der unter dem Vorzeichen der Präsenz stehenden Verkündigung noch von der unter dem Vorzeichen der Zukunftsoffenheit stehenden Geschichte (modal- und zeittheoretisch) auflösen kann, nicht stehen lässt und stattdessen (vermögenspsychologisch) in der für Sprache wie Geschichte anthropologisch gleichermaßen basalen Struktur des Bildvermögens – bzw. traditioneller formuliert: der Einbildungskraft – verankert. Denn das Bildvermögen zeichnet sich durch das Zugleich von Dasein und Nicht-Dasein aus, wie schon die Struktur von Bildern an der Wand zeigt108 , auf denen das Dargestellte einerseits da und andererseits aufgrund seiner Irrealität nicht da ist – und genau diese Struktur liegt (durch den Aufbau intrikater Verschiebungen und komplexer Anreicherungen) letztlich auch dem Sprechen und Denken zugrunde. Und: Diese Struktur des Bildvermögens kann religionstheoretisch als Kern des Glaubens gedeutet werden. In dem Fall ist der Glaube als das immer verkörperte Bildvermögen im Horizont des Unbedingten von diesem Zugleich bestimmt – und seine christliche Bindung an die Auferstehungsbotschaft hat die Pointe, dass in ihr der Glaube in seine Ursprungsgeschichte einkehrt, nämlich diejenige historische Initialsituation, in der die vermögenspsychologische Struktur von Religion ihre spezifisch christliche Prägung empfangen hat. Auferstehungsglaube ist dann das Reflexivwerden des christlichen Glaubens, der als verkörpertes Bildbewusstsein im Horizont des Unbedingten seinen historischen Ursprung realisiert. Ist Jesus dann wirklich auferstanden? Ja, insofern der Glaube in der Zurückführung seiner Zugleich-Struktur von Dasein und Nicht-Dasein auf ein geschichtlich verortbares Ereignis, das sich freilich geschichtlich nicht fassen lässt, die geschichtliche Initialsituation seiner anthropologisch fundierten Struktur (des Bildvermögens) erfasst und dieses Erfassen gehaltvoll vergegenständlicht bzw. projiziert, und zwar im Medium der hochgradig bildlich bestimmten Erinnerung.109 Und es gilt gleichermaßen: Nein, Jesus ist nicht wirklich auf108 Dies ist nur ein Beispiel. Der Bildbegriff ist vielschichtig. Neben externen Bildern an der Wand gibt es interne bzw. mentale Bilder im Kopf, metaphorische Bilder in der Sprache sowie sich zu Weltbildern zusammenschließende Bilder im Denken und Verhalten. Darauf kann hier nicht eingegangen werden (vgl. dafür: a.a.O., 56–84. 313–468). 109 Vgl. zum Diskurs von Erinnerung, Geschichte und Christologie in der neutestamentlichen Theologie auch: Jens Schröter, Geschichte im Licht von Tod und Auferweckung Jesu Christi. Anmerkungen zum Diskurs über Erinnerung und Geschichte aus frühchristlicher Perspektive, in: Berliner Theologische Zeitschrift 23 (2006), 3–25. M.E. ist es sinnvoll, die historische

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erstanden, insofern für den Nicht-Glauben dieser Weg unmöglich ist und er daher die Auferstehung für ein „Nicht-Ereignis“ hält. Das entsprechend im Medium der bildlich bestimmten Erinnerung erzeugte Bild, der Gekreuzigte sei auferstanden, gilt dem Nicht-Glauben allenfalls als eine leere Projektion mythologischen Glaubens.110 Auf diese Weise scheidet Ostern christlich zwischen dem Glauben und dem Nicht-Glauben, kann nicht der Ambivalenz entzogen werden und wehrt so jede Form intellektueller Werkgerechtigkeit ab. Drittens kann man in trinitätstheologischer Hinsicht diese Einsichten zuspitzen. Die Trinitätslehre wäre dann m.E. weniger der gleichsam logische Ausfluss der wirklichen bzw. über-wirklichen Auferstehung, sondern würde die projektive Binnenstruktur des geschichtlich an die Auferstehungsbotschaft zurückgebundenen Glaubens erhellen: Die Trinitätslehre artikuliert reflexiv die Grundstruktur des Glaubens bzw. des religiösen Bewusstseins. Wenn das – stets verkörperte und mit Sprache wie Vernunft verwobene und insofern auch intersubjektive – Bildvermögen im Horizont des Unbedingten der Ort der kreativen Transzendenz ist, dann kann man den dreistelligen Bildbegriff der bildtheoretischen Fachdiskussion darauf beziehen: Bildträger (wie beim profanen Bild an der Wand vergleichbar die Leinwand) ist dann das glaubende Bildvermögen („Geist“), Bildobjekt ist dann (wie beim Bild an der Wand vergleichbar die auf der Leinwand dargestellte Person) Jesus Christus („Sohn“) und Bildsujet ist schließlich (wie beim Bild an der Wand die mit ihrer Darstellung gemeinte Person) Gott („Vater“). Damit wird man übrigens – eingedenk der Umkehrung von Erkenntnis- und Seinsordnung – auch einer strengen, konfessionell der Orthodoxie affinen Lesart der Trinität („Der Vater durch den Sohn im Geist“) gerecht, welche die Problematik der hegelischen Konzeption wechselseitiger Anerkennung umgeht und mit einer nie aufgehenden Widerständigkeit auch in Gott ernst macht. Damit ist keineswegs die Bildtheologie der Väter mit ihrer

Rückbindung des religiösen Bildvermögens an drei Kriterien festzumachen, wenn man diese Rückbindung von (bloßen) Fiktionen in der Religion unterscheiden möchte, nämlich das Referenz-, das Kommunikations- und Normativitätskriterium (vgl. Malte Dominik Krüger, Pannenberg als Gedächtnistheoretiker. Ein Interpretationsvorschlag (auch) zu seiner Ekklesiologie, in: Gunther Wenz (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 181–202, bes. 182–190). Demnach ist – kurz gesagt – etwas historisch relativ plausibel, wenn es relativ gut bezeugt, relativ gelungen kommuniziert und relativ kritisch evaluiert ist. Selbstverständlich ist mit diesen Kriterien die entsprechende Diskussion nicht erschöpft, sondern allererst ansatzweise eröffnet. 110 Anders formuliert: Es führt ein Weg von den Erscheinungen des Auferstandenen, der darin zugleich da und nicht da ist, zur Kunde vom leeren Grab, nicht aber umgekehrt. Denn in den Erscheinungen ist die Struktur des Zugleich von Dasein und Nicht-Dasein direkt realisiert, in dem leeren Grab jedoch nur, wenn man die Auferstehung voraussetzt und das leere Grab als indirektes Zeugnis dieser Zugleich-Struktur wertet.

Der Gott vom Holz her?

Vorstellung des Gottes vom Holz her restituiert, welche die urchristliche Zusammenschau von Faktum und Bedeutung angesichts von Ostern fortführt. Doch es muss uns möglich sein, mit diesem Erbe konstruktiv umzugehen, schließlich hängt das christliche Gottesbild sowohl an der Geschichte des Gekreuzigten als auch an dem Glauben an den Auferstandenen. Jüngels und Pannenbergs Auferstehungschristologien schärfen uns das auf ihre je eigene Weise ein.

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Felix Körner

Christus und die Andersgläubigen Religionstheologie nach Wolfhart Pannenberg

In1 seinem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Ecclesia in Medio Oriente blickt Benedikt XVI. auf die Begegnungen der nahöstlichen Kirchen mit Juden und Muslimen. Er nimmt die anderen mit Hochachtung2 wahr. In diesem Zusammenhang hebt Benedikt – auch im Schriftbild – einen Begriff hervor, dessen Zweideutigkeit er offenbar bewusst nutzen will. Der jüdische und muslimische Mensch, dem man so begegnet, sei ein altro credente – also ein Andersgläubiger, der zugleich anerkannt ist als ein anderer Gläubiger.3 Die Überschrift des vorliegenden Beitrags greift die Zweiseitigkeit der Rede vom „Andersgläubigen“ auf: Es gibt Menschen, die den christlichen Glauben ablehnen, die sich aber als gläubig wahrnehmen lassen – auch wenn sie ihre Sicht mitunter selbst nicht als Glauben bezeichnen – und die der Kirche jedenfalls Bedeutsames zu vermitteln haben. Was kann man christlich-theologisch zu diesen altri credenti sagen? Mit anderen Worten, hier ist „Theologie der Religionen“ zu betreiben, kurz „Religionstheologie“.4 Blicken wir dafür zunächst auf die Ausgangsschrift des Islam, nämlich auf die koranische Religionstheologie. Im Koran findet sich das, was man eine inklusive Theologie der Religionen nennen kann: Das früher Offenbarte will er bestätigen.5 Denn alle Prophe1 Der Beitrag ist am Wissenschaftskolleg zu Berlin entstanden. Peter Leutenstorfer SJ, Rotraud Wielandt und Thomas Würtz haben frühere Versionen gelesen und hilfreiche Verbesserungsvorschläge gemacht. Ihnen sei herzlich gedankt. 2 Nostra aetate 3. Vgl. Anja Middelbeck-Varwick, Cum aestimatione. Konturen einer christlichen Islamtheologie, Münster 2017. 3 Ecclesia in Medio Oriente (2012), 19; die deutsche Übersetzung kann die Doppeldeutigkeit allerdings kaum nachahmen, man hätte sonst umständlich vom ‚Andersgläubigen, anders Gläubigen‘ sprechen müssen: „Könnten doch die Juden, die Christen und die Muslime im Andersgläubigen einen Bruder entdecken, der zu achten und zu lieben ist, um in erster Linie in ihren Ländern das schöne Zeugnis der Gelassenheit und des freundschaftlichen Umgangs unter den Söhnen Abrahams zu geben!“ Hervorhebung im Original. 4 Methodisch ist vorauszuschicken, dass das hier Entwickelte für Theologinnen und Theologen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit gleichermaßen verständlich sein soll und dass daher der Haupttext Zitate erst einmal paraphrasiert, während der – deswegen besonders ausführliche – Fußnotenapparat die Originaltexte bietet. 5 Sure 10:37: „Dieser Koran ist doch nicht einfach aus der Luft gegriffen (yuftarā; wörtlich: ausgeheckt), (dann wäre er ja bloß eine freie Erfindung) ohne (dass) Gott (dahinter stünde. Er

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ten hätten im Grunde dasselbe verkündet.6 Die offenkundigen Unterschiede zwischen deren Offenbarungen seien entweder vernachlässigbar, weil bloß umständebedingt;7 oder aber eine entstellende Überlagerung,8 die sich die ist) vielmehr eine Bestätigung (tas. dīq, d.i. s. -d-q II) dessen, was (an Offenbarung) vor ihm da war. Er setzt die Schrift, an der nicht zu zweifeln ist, (im einzelnen) auseinander (und kommt) vom Herrn der Menschen in aller Welt“. Ich biete Koranstellen in Rudi Parets Übersetzung, habe sie aber meist leicht überarbeitet. 6 Vgl. Sure 2:135–137: Die Anhänger der früheren Offenbarungsreligionen, die sogenannten Leute der Schrift, „sagen: ‚Ihr müsst Juden oder Christen sein, dann seid ihr rechtgeleitet.‘ (Du, Prophet) sag: Nein! (Für uns gibt es nur) die Religion Abrahams, eines H. anīfen (eines Original-Monotheisten). Er war kein Heide (kein Polytheist, sg. mušrik; wörtlich: keiner von denen, die – dem einen Gott – andere Götter beigesellen)! (Ihr Gläubigen) sagt: ‚Wir glauben an Gott und (an das), was (als Offenbarung) zu uns, und was zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen (Israels) herabgesandt worden ist – und was Mose und Jesus und die Propheten von ihrem Herrn erhalten haben, ohne dass wir bei einem von ihnen (den anderen Propheten gegenüber) einen Unterschied machen. Ihm (Gott) sind wir ergeben (sg. muslim)‘! Und wenn sie an das Gleiche glauben wie ihr, sind sie rechtgeleitet. Wenn sie sich aber abwenden, sind sie eben in der Opposition (šiqāq). Doch Gott wird dir (als Helfer) gegen sie genügen. Er ist der, der (alles) hört und weiß.“—Vgl. auch Sure 4:163, derzufolge Gott zu Muh. ammad sagt: „Wir haben dir (Offenbarungen) eingegeben (ebenso) wie (früher) dem Noah und den Propheten nach ihm. Und wir haben dem Abraham (Offenbarungen) eingegeben (sowie dem) Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen (Israels), Jesus, Hiob, Jonas, Aaron und Salomo. Und dem David haben wir einen Psalter gegeben.“ 7 Vgl. Sure 5:48: „Und wir haben (schließlich) die Schrift (d. h. den Koran) mit der Wahrheit zu dir herabgesandt, damit sie bestätige (s. -d-q II), was von der Schrift vor ihr da war, und darüber Gewissheit gebe. Entscheide nun zwischen ihnen (d. h. den Juden und Christen?) nach dem, was Gott (dir) herabgesandt hat, und folge nicht – (in Abweichung) von dem, was von der Wahrheit zu dir gekommen ist, – ihren (persönlichen) Neigungen! – Für jeden von euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen angehört) haben wir ein (eigenes) Brauchtum (? šir‘a, hapaxlegomenon) und einen (eigenen) Weg (minhāǧ, hapaxlegomenon) bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er (teilte euch in verschiedene Gemeinschaften auf und) wollte euch (so) in dem, was er euch (d. h. jeder Gruppe von euch) (von der Offenbarung) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen! Zu Gott werdet ihr (dereinst) allesamt zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins wart.“—Vgl. auch Sure 43:3–6: „Wir haben (die Schrift, kitāb) zu einem arabischen Koran gemacht. Vielleicht wäret ihr verständig. Sie (die Schrift, oder: Er, der Koran) gilt in der Urschrift (umm al-kitāb) bei uns als erhaben und weise. Sollen wir euch denn die Mahnung (überhaupt) vorenthalten, weil ihr Leute seid, die nicht maßhalten? Wie viele Propheten haben wir an die früheren (Generationen) gesandt!“ 8 Vgl. Sure 2:75: „Wie könnt ihr (Muslime) verlangen, dass sie (d. h. die Juden) euch glauben, wo doch ein Teil von ihnen das Wort Gottes gehört und es daraufhin, nachdem er es verstanden hatte, wissentlich entstellt (h. -r-f II) hat!“—Vgl. auch Sure 4:46a: „Unter denen, die dem Judentum angehören, entstellen (h. -r-f II) einige die Worte (der Schrift? – indem sie sie) von der Stelle weg(nehmen), an die sie gehören. Sie sagen: ‚Wir hören und sind widerspenstig‘.“—Vgl. ebenfalls Sure 5:13f.41, derzufolge Gott zu Muh. ammad zuerst von den Kindern Israels sagt: „Und weil sie ihre Verpflichtung brachen, haben wir sie verflucht. Und wir machten ihre Herzen

Christus und die Andersgläubigen

ursprüngliche Botschaft im Laufe ihrer Überlieferungsgeschichte zugezogen hat. Dann ist Reinigung notwendig; und diese Reinigung will der Koran vornehmen.9 Der christliche Glaube ist kein solcher Grundbotschaftsinklusivismus, vertritt keine „Homoprophetie“.10 Er bekennt vielmehr etwas Einzigartiges, Neues: die geschichtlich erfahrbare endzeitliche Auferstehung eines am Kreuz Hingerichteten. Damit stehen apostolisches Zeugnis und koranische Botschaft gleich in zweifachem Widerspruch zueinander. Die ersten Christen verstanden ihr Osterzeugnis nicht nur als die Bestätigung anderer Gottesworte, sondern als deren Erfüllung: Mit Jesu Auferstehung ist die Vollendung der Geschichte er-

verhärtet, so dass sie die Worte (der Schrift) entstellten (h. -r-f II) (indem sie sie) von der Stelle weg(nahmen,) an die sie gehören. Und sie vergaßen einen Teil von dem, womit (oder: woran) sie erinnert worden waren. Und du bekommst von ihnen (d. h. den Juden) immer (wieder) Falschheit zu sehen – mit Ausnahme von (einigen) wenigen von ihnen (die aufrichtig und zuverlässig sind). Aber rechne es ihnen nicht an und sei nachsichtig! Gott liebt die Rechtschaffenen. Und (auch) von denen, die sagen: ‚Wir sind Nas. ārā (d. h. Christen)‘, haben wir ihre Verpflichtung entgegengenommen (mir treu zu sein). Aber dann vergaßen sie (ihrerseits) einen Teil von dem, womit (oder: woran) sie erinnert worden waren. Und da erregten wir unter ihnen Feindschaft und Hass (ein Zustand, der) bis zum Tag der Auferstehung (andauern wird). Aber Gott (der auch das Verborgene weiß) wird ihnen (dereinst beim Gericht) Kunde geben über das, was sie (in frevlerischer Weise) getan haben. — Du (mein) Gesandter! Diejenigen, die sich im Unglauben ereifern, brauchen dich nicht traurig zu machen, (Leute) die nur so obenhin sagen: ‚Wir glauben‘, aber mit dem Herzen nicht glauben, und (andere) die dem Judentum angehören, (sind Leute – oder: Und unter denen, die dem Judentum angehören, gibt es welche) die immer nur auf Lügen hören und auf andere Leute, die nicht zu dir gekommen sind. Sie entstellen (h. -r-f II) die Worte (der Schrift), nachdem sie (ursprünglich) an ihrer (richtigen) Stelle gestanden haben, und sagen: ‚Wenn euch dies (was wir euch hier sagen, von Muh. ammad vor)gebracht wird, dann nehmt es (als richtig) an! Wenn es euch aber nicht (vor)gebracht wird (und dafür etwas anderes, was mit unseren Aussagen nicht übereinstimmt), dann hütet euch (es anzunehmen)!‘ (Sie sind eben dem Irrtum verfallen.) Und wenn Gott von jemand will, dass er der Versuchung erliegt, vermagst du gegen Gott nichts für ihn auszurichten. Das sind die, denen Gott nicht das Herz rein machen wollte. Im Diesseits wird ihnen Schande zuteil, und im Jenseits haben sie eine gewaltige Strafe zu erwarten.“ 9 Vgl. Sure 4:171: „Ihr Leute der Schrift! Treibt es in eurer Religion nicht zu weit und sagt gegen Gott nichts aus – als die Wahrheit! Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und Geist von ihm. Darum glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht (von Gott, dass er in einem) drei (sei)! Hört auf (so etwas zu sagen)! Das ist besser für euch. Gott ist nur ein einziger Gott. Gepriesen sei er! (Er ist darüber erhaben) ein Kind zu haben. Ihm gehört (vielmehr alles), was im Himmel und auf der Erde ist. Und Gott genügt als Sachwalter.“ 10 Felix Körner, Kirche im Angesicht des Islam. Theologie des interreligiösen Zeugnisses, Stuttgart 2008, S. 103, sowie ders., „Das Prophetische am Islam“, in: Mariano Delgado und Michael Sievernich (Hg.), Mission und Prophetie in Zeiten der Transkulturalität, St. Ottilien 2011, S. 234–248, S. 239.

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öffnet.11 Ein zweiter Widerspruch zwischen apostolischem und koranischem Bekenntnis betrifft das Kreuz Christi: Die vierte Sure legt nahe, dass Jesus nicht getötet wurde; „vielmehr hat Gott ihn zu sich erhoben“.12 Der Koran spricht hochachtungsvoll von Jesus. Gott habe Jesus mit einem Offenbarungsbuch ausgestattet und mit bestätigenden Wunderzeichen.13 Nur hat der koranische Jesus nichts Neues gebracht. Jeder Prophet bestätigt dem Koran zufolge eben lediglich, dass Gott ein einziger ist und dass der Mensch, wenn er recht handelt, in Diesseits und Jenseits Gottes Wohlwollen erfahren wird. Für den entscheidenden Zeitenumschwung steht der koranische Jesus also nicht. Damit liegen hier zwei widerstreitende Bekenntnisse nebeneinander, das christliche und das islamische. Sie können viel voneinander lernen und miteinander tun.14 Wie lässt sich angesichts des Widerspruchs jedoch eine Theologie der Religionen, speziell eine christliche Theologie des Islam 11 Vgl. 1 Korinther 15,21–24: „Da nämlich durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden. Es gibt aber eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus; dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft entmachtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt.“ 12 Sure 4:158a: bal rafa‘ahū llāhu ilayhi. 13 Z.B. Sure 3:45–50: „Als die Engel sagten: ‚Maria! Gott verkündet dir ein Wort von sich, dessen Name Jesus Christus, der Sohn der Maria, ist! Er wird im Diesseits und im Jenseits angesehen sein, einer von denen, die (Gott) nahestehen. Und er wird (schon als Kind) in der Wiege zu den Leuten sprechen, und (auch später) als Erwachsener; und (wird) einer von den Rechtschaffenen (sein).‘ Sie sagte: ‚Herr, wie sollte ich ein Kind bekommen, wo mich kein Mann (wörtlich: Mensch) berührt hat?‘ Er (d. h. der Engel der Verkündigung, oder Gott) sagte: ‚Das ist Gottes Art (zu handeln). Er schafft, was er will. Wenn er eine Sache beschlossen hat, sagt er zu ihr nur: sei!, dann ist sie. Und er wird ihn die Schrift, die Weisheit, die Thora und das Evangelium lehren.‘ – Und als Gesandter (Gottes) an die Kinder Israels (wies Jesus sich aus mit den Worten:) ‚Ich bin mit einem Zeichen von eurem Herrn zu euch gekommen (das darin besteht), dass ich euch aus Lehm etwas schaffe, was so aussieht wie Vögel. Dann werde ich hineinblasen, und es werden mit Gottes Erlaubnis (wirkliche) Vögel sein. Und ich werde mit Gottes Erlaubnis Blinde und Aussätzige heilen und Tote (wieder) lebendig machen. Und ich werde euch Kunde geben von dem, was ihr in euern Häusern esst und aufspeichert (ohne es gesehen zu haben). Darin liegt für euch ein Zeichen, (an dem sich erweist) ob ihr gläubig seid. Und (ich bin gekommen, um) zu bestätigen, was von der Thora vor mir da war. Und ich will euch einiges von dem erlauben, was euch (durch euer Gesetz) verboten worden ist. Ich bin mit einem Zeichen von eurem Herrn zu euch gekommen. Daher fürchtet Gott und gehorchet mir!‘“ 14 Felix Körner, „Rücken an Rücken. Die dritte Dimension interreligiösen Miteinanders“, in: George Augustin/Sonja Sailer-Pfister/Klaus Vellguth (Hg.), Christentum im Dialog. Perspektiven christlicher Identität in einer pluralen Gesellschaft, Festschrift Günter Riße (Theologie im Dialog, Band 12), Freiburg 2014, S. 235–242 sowie jetzt Felix Körner, „Interaktive Theologie. Wie der Religionsdialog weitergehen kann“, in: Lebendige Seelsorge 70 (2019), S. 244–249.

Christus und die Andersgläubigen

entwerfen? Besonders überzeugend kann man dies im Anschluss an Wolfhart Pannenberg tun. Hierfür ist der Pannenberg’sche Grundgedanke ‚Offenbarung als Geschichte‘15 auf seine religionstheologische Erschließungskraft hin auszuloten.16 Pannenberg hat bereits entscheidende Hinweise in Richtung einer christlichen Theologie der Religionen gegeben. Sie sollen hier weiterverfolgt werden. 1.

Religionstheologie als Geschichtstheologie

Der Grundgedanke lautet: Alle Ereignisse in der Zeit sind Teil der einen Geschichte, an deren Ende sich erweisen wird, dass sie insgesamt die Offenbarung Gottes war. In Person und Geschichte Jesu Christi ist die Gesamtheit der Offenbarung vorweggenommen: die Geschichtsvollendung.17 Pannenbergs offenbarungstheologischer Neuansatz trifft regelmäßig auf zwei Einwände. a. Der erste lautet: Wer alle Geschichte als Offenbarung versteht, ist doch Hegelianer.18 Der Einwand verfinge allerdings nur, wenn Pannenbergs Grundgedanke auf seine erste Hälfte reduziert würde; er sieht dagegen zugleich das Ostergeschehen als – zwar in der Geschichte, aber bisher nur: – vorweggenommene Vollendung. Die Klärung und Versöhnung von allem ist Pannenberg zufolge also noch nicht abgeschlossen, noch zu erhoffen und zu erbeten; andernfalls müsste man den schon zu seiner Vollendung gekommenen Geist der Freiheit nun nur noch politisch umsetzen.

15 Wolfhart Pannenberg, „Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung“, in: ders./Rolf Rendtorff/Ulrich Wilckens/Trutz Rendtorff (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen ⁵1982 (¹1961), S. 91–114, sowie Gunther Wenz (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms (Pannenberg-Studien, Band 4), Göttingen 2018. 16 Vgl. auch die anders angelegte Dissertation von Urszula Pękala, Eine Offenbarung – viele Religionen. Die Vielfalt der Religionen aus christlicher Perspektive auf der Grundlage des Offenbarungsbegriffs Wolfhart Pannenbergs, Würzburg 2010. 17 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, Göttingen 1988, S. 270. Auf die drei Bände der Systematischen Theologie (1988, 1991, 1993; ²2015) wird im Folgenden verwiesen mit den Siglen STh I, bzw. II und III. 18 Man ordnete seinen 1961 dargelegten Offenbarungsbegriff „sachlich unrichtig als theologischen Hegelianismus ein“ (STh II, S. 250). Pannenberg weist im Gegenzug nochmals auf seinen damaligen Neuansatz hin und erinnert daran, dass „das idealistische Konzept der Geschichte dabei seinerseits entscheidend korrigiert wurde durch den Gedanken der Antizipation des Ganzen der Geschichte von deren Ende her in der eschatologischen Prägung der Lehre und des Geschickes Jesu“ (STh II, S. 250f.).

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b. Der zweite Einwand besagt, dass man doch spätestens „nach Auschwitz“19 nicht mehr ernsthaft alle Ereignisse als Offenbarung und damit als gottgewollt verstehen könne. Der Einwand wäre allerdings nur dann schlagkräftig, wenn man jedes Ereignis für sich bereits als Darstellung des Gotteswillens, des gottgewollten Endzustandes sehen wollte. Dann müsste man tatsächlich fragen, inwiefern ein Vernichtungslager denn Gottes gerechtes Gericht sein sollte. Das ist es selbstverständlich nicht. Gericht Gottes ist überhaupt nicht als Gottes Dreinschlagen von außerhalb der Geschichte zu verstehen.20 Wenn der auferstandene Christus die Vorwegnahme der Geschichtsvollendung ist, dann ist alles Geschehen in diesem Licht zu verstehen: Geschöpfe in ihrer Absonderung von Gott bewirken Furchtbares, Tödliches; aber sie können damit die Vollendung der Versöhnung nicht verhindern, sondern zeigen mit ihrem Tun unwillkürlich nur umso deutlicher, was geschieht, wo sich die Schöpfung dem Rechtswillen Gottes verschließt. Mit dem so gefassten Grundgedanken „Offenbarung als Geschichte“ ist nun aber nichts weniger als ein religionstheologischer Neuansatz begründet. Auf diesem Grundgedanken aufbauend lässt sich nämlich die Theologie der Religionen als Theologie der Geschichte anlegen.21 Das hat eine Reihe von Vorteilen gegenüber anderen religionstheologischen Ansätzen. 1. Begriffsgeschichte. Man versucht dann, Textzeugnisse auch über ihren Entstehungszusammenhang zu verstehen und achtet so auf die Entwicklung sprachlicher Ausdrucksformen, gerade in der Glaubenslehre.

19 Kurt Koch fällt auf, dass Pannenberg „von der ‚christlichen Legitimität der Neuzeit‘ sprechen kann, gleichsam als hätte es weder Verdun noch erst recht Auschwitz in ihr gegeben.“ Kurt Koch, Der Gott der Geschichte. Theologie der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg als Paradigma einer philosophischen Theologie in ökumenischer Perspektive (Tübinger theologische Studien, Band 32), Mainz 1988, S. 266. Koch zufolge „hat Pannenbergs universalgeschichtliche Hermeneutik die Beunruhigung durch [Johann Baptist] Metzens Weigerung nötig, die Katastrophen der Geschichte, wie er sie im Stech-Wort ‚Auschwitz‘ verschlüsselt findet, in eine übergreifende Geschichte einzuordnen und ihnen vorschnell Sinn zu entlocken“ (ebd.). Koch hatte allerdings vorausgeschickt: „die Wahrnehmung von Sinnlosigkeit und vom katastrophischen Charakter der Geschichte ist nur möglich unter der Voraussetzung aller Voraussetzungen, nämlich einer positiven Sinnhaftigkeit“ (ebd.). 20 STh III, S. 657: „Schon innergeschichtlich besteht das Gericht Gottes darin, daß Menschen sich selbst überlassen, ‚dahingegeben‘ werden an die Folgen ihres eigenen Verhaltens (Röm 1,24.28). Es besteht nicht etwa in Strafen, die äußerlich und willkürlich an bestimmte Verhaltensweisen geknüpft werden. Darum ist das Gericht nicht Ausdruck göttlicher Willkür. Es vollstreckt nur, was in der Natur der Sache liegt.“ 21 Vgl. meine ersten Andeutungen in diese Richtung: Felix Körner, „Religionstheologie als Geschichtstheologie. Dogmatischer Vorschlag“, in: Gianluca De Candia/Philippe Nouzille (Hg.), Sancta morum elegantia. Stili e motivi di un pensare teologico. Miscellanea offerta a Elmar Salmann (Studia Anselmiana, Band 177), St. Ottilien 2018, S. 535–541.

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2. Ereignisse. Man bevorzugt dann keine bestimmte Erscheinungsform von vornherein. Man berücksichtigt dann nicht nur das, was einen Transzendenzbezug herstellen will, was einen Offenbarungsanspruch erhebt, Kultformen aufweist, sich mittels Textauslegung untersuchen lässt oder was spirituell daherkommt. Auch etwa Kunst ohne konfessionellen Anspruch oder politische Ereignisse können ja für eine Erschließung beispielsweise des christlich–islamischen Verhältnisses hochbedeutsam sein. Im Folgenden kommen unter dieser Rücksicht die Gebietsgewinne des frühen Islam zur Sprache. Wird Religionstheologie als Geschichtstheologie betrieben, ist sie bereit, solche Erscheinungen einzubeziehen. 3. Religionsbegriff. Man kann dann religionstheologisch arbeiten, ohne erst einmal definieren zu müssen, was Religionen überhaupt sind. Der Religionsbegriff steht ja im Verdacht, anderen eine Kategorie überzustülpen, die sich im Blick auf europäische Entwicklungen herausgebildet hat. Eindrücklich hierfür ist die Auskunft Eric Voegelins, er verstehe unter Religionen „Erscheinungen wie das Christentum“.22 Betreibt man dagegen Religionstheologie gleich als Theologie der Geschichte, muss man nicht erst erklären, welche Erscheinungen nun unter Religion fallen und welche nicht. – Auf den Religionsbegriff verzichten werden wir im Folgenden allerdings nicht. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen bedeutet ja christliche Theologie seit jeher auch, den Wahrheitsanspruch Christi an anderen Verständnisweisen von Welt, Menschsein und Gottesgedanken zu überprüfen, sich also gerade mit Lebens- und Lehrformen auseinanderzusetzen, die durch Bezugnahme auf „Transzendenz“, „das Heilige“ und „Offenbarung“ vom Evangelium abweichen. Zum andern hat der Koran einen Religionsbegriff, der – um es so zu sagen – dem Voegelin’schen nahekommt. Koranisch kann man nämlich islām als „Religion“ haben,23 kann man „Religionen“ in der Mehrzahl sehen und sie voneinander unterscheiden24 – Juden und Christen sind im Zusammenhang mit dem Religionsbegriff ausdrücklich im Blick25 –, und korangemäß können, ja sollen diese verschiedenen Ansprüche miteinander in ein Streitgespräch eintreten.26 Man tut also der islamischen 22 Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 2007 [¹1936], S. 12. 23 Vgl. Sure 5:3, derzufolge Gott den Gläubigen (gegen Versende) sagt: „Ich bin damit zufrieden, dass ihr den Islam als Religion habt (rad. ītu lakumu l-islāma dīnan)“. 24 Vgl. Sure 109:6, wo es heißt, dass Muh. ammad zu den „Ungläubigen“ (sg. kāfir) sagen soll: „Ihr habt eure Religion, und ich die meine (lakum dīnukum wa-liya dīni)“. 25 Vgl. den oben bereits zitierten Vers Sure 4:171. Neben dīn gibt es das andere Wort für „Religion“: milla, das in Bezug auf Abrahams Glaubensform verwendet wird (Sure 18:123 etc.); aber auch, wenn es heißt, dass die Rechtgläubigen zurückfallen könnten in einen widergöttlichen Kult (Sure 18:20 etc.). 26 Vgl. Sure 29:46: „Und streitet (ǧ-d-l III) mit den Leuten der Schrift nie anders als auf eine möglichst gute Art (oder: auf eine bessere Art – als sie das mit euch tun?) – mit Ausnahme

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Ausgangsbotschaft keinen Zwang an, wenn man Christentum und Islam als zwei „Religionen“ bezeichnet. 4. Religion versus Offenbarung? Mit einer geschichtstheologischen Anlage der Religionstheologie im Stile Pannenbergs kommt man auch nicht in die Versuchung des religions-exklusivistischen Totschlagarguments. Es besteht in der Erklärung, dass es sich nur in einem Falle – etwa bei „der Bibel“ – um Offenbarung handle, also um Gottes Selbstmitteilung an die Menschheit; und alle übrigen Offenbarungsansprüche seien bloß „Religion“. Damit hätte man sich von vornherein der Aufgabe enthoben, andere ‚Religionen‘ als theologisch weiterführend zu untersuchen. „Religion“ wäre hier im Unterschied zur „Offenbarung“ dualistisch bestimmt als der rein menschliche Versuch, sich Gott zuzuwenden:27 als irdischer Annäherungsversuch; und der könne einer so ansetzenden Theologie der Religionen zufolge weder wahr sein noch heilsam. Wahr und heilsam und gottgeschenkt sei eben nur das Unsere. Die Behauptung ist zirkulär: Man verarbeitet das andere nicht theologisch; es könne ja gar keine Offenbarungsrolle haben. Deswegen lohne sich für die Theologie auch keine Auseinandersetzung mit dem anderen. 5. Historisch argumentieren. Wer mit Interesse an der Geschichte in die theologischen Fragen um die Religionen einsteigt, dürfte außerdem bereit sein, historische Begründungen im Religionsgespräch zu nutzen. Beispielsweise derer von ihnen, die Frevler sind! Und sagt: ‚Wir glauben an das, was (als Offenbarung) zu uns, und was zu euch herabgesandt worden ist. Unser und euer Gott ist einer. Ihm sind wir ergeben.‘“ 27 Vgl. Karl Josef Beckers als lectio magistralis angekündigten Vortrag „Teologia delle Religioni. Le religioni nell’ordine della Salvezza“ vom 17. Januar 2013 an der Gregoriana (https://www. youtube.com/watch?v=CeTsls3tDAo). Geht, wer Religionstheologie von einem so abwertenden Religionsbegriff aus betreibt, in den Fußspuren Karl Barths? Nicht wirklich. Denn wenn Barth festhält „Religion ist Unglaube“, so geht es ihm kaum um die nichtchristlichen Religionen. Vielmehr will er mit der These, Religion sei schlicht das Gegenstück zum Glauben, hauptsächlich Kirchenkritik üben, will „nicht nur irgendwelche andere mit ihrer Religion, sondern […] auch und vor allem uns selbst als Angehörige der christlichen Religion treffen“. Er betreibe damit „keine Bestreitung des Wahren, Guten und Schönen, das wir bei näherem Zusehen in fast allen Religionen entdecken können“ (alle drei Zitate finden sich bei Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Band I/2, Zürich 1938, S. 327 als Erklärung des Grundsatzes § 17 „Gottes Offenbarung als Aufhebung von Religion“). Vgl. auch Wolf Krötke, „Impulse für eine Theologie der Religionen im Denken Karl Barths“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 204 (2007) S. 320–335. Krötke versucht, auch von Barth wieder gestrichene Abschnitte für einen Nachvollzug der religionstheologischen Sicht Barths hinzuzuziehen, und fragt, warum dieser die Stellen vor der Veröffentlichung getilgt hat. Krötkes Antwort lautet, das Gestrichene wäre an Barths Grundabsicht vorbeigegangen, die Kirche zum wahren Christusglauben zurückzuführen. Barth habe nämlich nachträglich gemerkt, dass er damit den falschen „Eindruck erweckt, sich mit solchen und noch dazu negativen Urteilen den Religionen zuzuwenden“ (ebd., S. 335). Es ging Barth in seiner Religions-Kritik aber um die Reinigung der Kirche.

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die ja ebenfalls zirkuläre Behauptung, Jesus könne nicht hingerichtet worden sein, weil Gott das nie zugelassen hätte,28 lässt sich dann mit Hinweis auf die historisch tragfähige Bezeugtheit des Kreuzestodes Jesu entkräften. 6. Klärungsgeschichte. Man kann die gesamte Religionsgeschichte theologisch zu verstehen versuchen; das hieße, sie als Vorgang zu erkennen, in dem sich das Gottesbild mehr und mehr von falschen Festlegungen abkehrt – von den „Götzen“ – und sich immer mehr Gott in seiner Wirklichkeit zuwendet. 7. Gottesverständnis. Legt man die Religionstheologie geschichtstheologisch an, braucht man sich nicht auf eine Gegenüberstellung von Gottesverständnissen zu beschränken, als ginge es um den Gegensatz zwischen Trinität und reinem Monotheismus. So schafft man sich nämlich abwegige Schwierigkeiten. Es erscheint zuerst leicht, das christlich-theologische Gottesverständnis dem islamisch-koranischen entgegenzuhalten.29 Es wirkt zwar so, als ginge es schlicht um die Frage, wie Gott selbst zu denken ist, dreifaltig oder nur als der Eine; aber auf welche Seite hätten sich die Apostel gestellt? Sie kannten noch keine ausdrückliche Drei-Einheit. Erst recht stehen die späteren Gotteslehren des Judentums dem Dreifaltigkeitsglauben entgegen. Es führt jedoch in die Irre, wenn man den aus Hebräischer Bibel und Koran ableitbaren Gottesbegriff auf die eine Seite stellt und auf die andere das neutestamentlich-christliche Gottesverständnis. Offenbar ist eine rein auf Gottes Wesen ausgelegte Gegenüberstellung von Christentum und Islam verkürzend. Man muss vielmehr von vornherein klären, dass es bei der Dreifaltigkeitsfrage um die Geschichtsfrage geht: wie Gott seine eigene Wirklichkeit mit den Menschenereignissen in Beziehung setzt. Ob die noch offene Geschichte des Geschaffenen mit seinen Brüchen für Gott selbst wesensentscheidend ist, wird durch das Bekenntnis von Gott Vater, Sohn und Geist beantwortet; und zwar mit Ja.

28 Ein häufig zu hörendes Argument aufgrund der bereits angeführten Stelle aus Sure 4; sie setzt sich mit der Behauptung auseinander: „‚Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, getötet.‘ – Aber sie haben ihn nicht getötet und nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien es ihnen nur so. Und diejenigen, die darüber uneins sind, sind im Zweifel darüber. Sie haben kein Wissen über ihn, gehen vielmehr Vermutungen nach. Und sie haben ihn nicht ‚mit Gewissheit‘ getötet. Vielmehr hat Gott ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise“ (4:157f.). 29 Felix Körner, „Wir glauben und bekennen denselben Gott, wenn auch auf verschiedene Weise. Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie und im Denken Wolfhart Pannenbergs“, in: Gunther Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg (Pannenberg-Studien, Band 2), Göttingen 2016, S. 325–351 und etwa Joachim Ringleben, „Systematisch-theologische Anfragen an den Islam“, in: Jahrbuch der Göttinger Akademie der Wissenschaften 2016, S. 130–136.

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2.

Theologie der Religionsgeschichte

Dies sind die sieben Vorteile eines geschichtstheologischen Ansatzes der Religionstheologie. Was hat Wolfhart Pannenberg nun selbst bereits zur Durchführung des Ansatzes beigetragen? Aufbauend auf seinem Grundgedanken ‚Offenbarung als Geschichte‘ hat er im Laufe der Zeit drei unterschiedlich gelagerte religionstheologisch neue Gedanken entwickelt. 1. Nachösterliche Erschließungsgeschichte. In Jesu Verkündigung und Schicksal ist die endgültige Offenbarung Gottes vorweggenommen. Die Vollendung aller Zukunft ist jetzt erfahrbar und anschlussfähig geworden. Aber die Geschichte geht ja noch weiter. Daher ist das Christuszeugnis zugleich endgültig – es eröffnet in der Geschichte deren Vollendung – und offen; denn was diese Geschichte im Einzelnen mit sich bringt, ist damit noch nicht ausdrücklich geworden. Angesichts neuer Entwicklungen können wir die Bedeutung Jesu vielmehr immer neu und vollständiger erfassen.30 Auch was sich nach Christus ereignet, auch was nach Pfingsten in den anderen Religionen geschieht, gehört zur Erscheinungsgeschichte jenes Gottes, den Jesus als die Macht der Zukunft verkündet hat.31 Damit steht das Christentum vor der Herausforderung, sich angesichts neuer Welterfahrung neu zu verstehen; und jede Religion, die Gottes Erscheinungsgeschichte für noch nicht abgeschlossen hält, muss sich der Herausforderung stellen, sich aufgrund neuer Ereignisse neu zu verstehen. Vernachlässigt eine Religion diese Herausforderung, ist ihr Traditions- und Wirklichkeitsbezug „mythisch“.32 Eine christliche Theologie kann sich damit nicht zufriedengeben. Da die Begegnung mit Andersgläubigen – mit ihren Einsprüchen und Anfragen – zur christlichen Welterfahrung gehört, haben auch die anderen Religionen eine Rolle in der Erschließung dessen, was uns in Christus geschenkt, aber noch nicht durch und durch klar ist. 30 „So ist Gottes Offenbarung, obwohl in Jesu Geschichte endgültig geschehen, dennoch nicht einfach etwas schon abgeschlossen Vorliegendes, sondern weil die Geschichte Jesu nicht in diesem Sinne schon abgeschlossen ist, muß sie als Offenbarung des Gottes der Geschichte, dessen Herrschaft immer noch im Kommen ist, immer wieder neu verstanden werden.“ So Wolfhart Pannenberg in seinem Heidelberger Vortrag von 1964 „Über historische und theologische Hermeneutik“, erstmalig abgedruckt in ders., Grundfragen systematischer Theologie [Band 1]. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967 (²1971), S. 123–158, hier S. 139. 31 „Als die Macht der Zukunft ist der von Jesus verkündete Gott der kommenden Gottesherrschaft allen späteren Epochen der Geschichte der Kirche und der außerchristlichen Religionen schon voraus. Von daher stellt sich die Religionsgeschichte auch über die Zeit des Auftretens Jesu hinaus als Erscheinungsgeschichte des Gottes dar, der sich durch Jesus offenbart hat“ (ebd., S. 292). 32 „… noch heutige Traditionen neigen dazu, sich mit den mythischen Zügen des Urbildlichen auszustatten. Doch wer vom Urbildlichen her lebt und für die Gegenwart nur ihre optimale Teilhabe an der urbildlichen Wirklichkeit erstrebt, lebt ungeschichtlich …“ (ebd., S. 288).

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2. Gericht. Eine wie gewichtige Rolle die Nichtchristen für die Christenheit einnehmen können, zeigt eine überraschende Bemerkung Pannenbergs. Die frühen islamischen Eroberungserfolge in Ländern mit damals christlicher Bevölkerungsmehrheit33 sieht er als göttliches „Gericht“; sie legen die Verletzungen einer mit harter Hand durchgesetzten „christlichen“ Lehr-Politik offen. Die gereizte Sorge der oströmischen Kaiser um eine reichseinheitliche Glaubenslehre stärkt die Christenheit nicht, sondern treibt die so an den Rand gedrängten Christen geradezu in die Hand anderer, die ihnen in Glaubensdingen weniger hineinreden. Auf diesem Weg zerstört die Einheitsorthodoxie gerade das Glaubensreich, das sie absichern wollte.34 Wohlgemerkt sind hingegen die Verbrechen Hitlerdeutschlands nicht als göttliches Gericht deutbar. So offenbaren etwa die nationalsozialistischen Vernichtungslager in keiner Weise eine Schuld des jüdischen Volkes. Sie offenbaren nur, wozu Menschen fähig sind, wenn sie im Rassenwahn den Sinn für die Heiligkeit des Schöpfers und seiner Schöpfung verlieren und damit den Sinn für die unantastbare Menschenwürde. 3. Widerspruch. Zum hier vorgestellten Grundgedanken gehört wie gesagt die Einsicht, dass die Christusbotschaft das noch ausstehende Geschichtsende vorwegnimmt. Das bedeutet aber nicht nur, dass sich der Sinn der Verkündigung im Lichte neuer Welterfahrung weiter klärt; es bedeutet auch, dass der christliche Glaube eine Hypothese ist.35 Damit ist nicht gesagt, er werde von den Gläubigen halbherzig vertreten; Christenmenschen können durch und durch ergriffen sein. Beim Nachdenken über den eigenen Glauben lässt sich jedoch einsehen, dass erst das Geschichtsende die endgültige Bestätigung des Christuszeugnisses erbringen kann: Erst die Vollendung der Zeit als sinnvoller Verlauf macht die Wahrheit des apostolischen Bekenntnisses und der sich daraus entwickelnden Lehren offenkundig. Man kann die Ablehnbarkeit des 33 Vgl. James Howard-Johnston, Witnesses to a World Crisis. Historians and Histories of the Middle East in the Seventh Century, Oxford 2010. 34 Wolfhart Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen ¹1978, S. 109: Die frühe Reichskirche begann, ihre Sendung zu allen Menschen misszuverstehen; sie erkannte Israel nicht mehr als Gottesvolk an. „Später wurde der Universalismus des byzantinischen Imperiums selber durch solche intolerante Ausschließlichkeit pervertiert, vor allem durch die kaiserliche Durchsetzung dogmatischer Uniformität. Das Gericht Gottes über diese Perversion der christlichen Sendung erschien historisch im Aufstieg des Islam. Die leichte Eroberung der Provinzen, von denen das Christentum seinen Ursprung genommen hatte – Palästina und Syrien –[,] durch die islamischen Heere und in der Folgezeit die ebenso leichte Eroberung Ägyptens und Nordafrikas ist historisch nicht verständlich ohne die innere Entfremdung dieser Provinzen von Byzanz infolge der kaiserlichen Bemühungen um Durchsetzung dogmatischer Orthodoxie …“. Im Folgenden wird auf diese Schrift verwiesen mit dem abgekürzten Titel Bestimmung. 35 STh I, S. 66.

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christlichen Glaubens auch noch von einer anderen Seite aus nachvollziehen. Die Kirche hat im Laufe ihrer Geschichte Menschen regelrecht abgestoßen: Nichtchristen, aber ebenso eigene Mitglieder. Pannenberg fragt, ob nicht ein Nein zum christlichen Glauben kirchlicherseits auf Verständnis stoßen muss, weil dieses Nein aus Sehnsucht nach dem Gottesreich kommen und von der Kirche selbst verschuldet sein kann. Sie bezeugt das Evangelium ja oft dermaßen verdunkelt, dass sie anderen kaum als Anbruchsort des Gottesreiches aufleuchtet.36 Auch diese Gedankenkette schafft Verständnis dafür, dass sich nicht alle überzeugen lassen und dass der Glaube umstritten bleibt;37 und sie schafft Verständnis für die Bestreiter. Dieses Verständnis ist nicht bloß formal. Es ist vielmehr ein Interesse38 an den Menschen, an ihrem Desinteresse, an ihren Einsprüchen, aber auch an ihren Eigenantworten auf die Grundfragen der Lebensführung, ihren Abwendungs- und Ablehnungsgründen. Das Nein, auf das die Kirche stößt, wirft sie heilsam zurück auf ihren Anfang.39

36 STh III, S. 566: Die das Evangelium nicht Annehmenden wären nur dann die Verworfenen, „wenn die Kirche immer und überall in voller Deutlichkeit ihre Funktion als Zeichen und Darstellung der in Jesus Christus schon angebrochenen Vollendung der Menschheit im Reiche Gottes erfüllte. Da aber das Zeichen der Gottesherrschaft im Leben der Kirche oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist, darum kann es subjektiv berechtigte Gründe geben, sich distanziert zur Kirche zu verhalten. Heißt das nicht, daß einige von denen, die sich von der Kirche fernhalten oder sich von ihr abwenden, vielleicht aus enttäuschter Sehnsucht nach dem Gottesreich handeln, das sie im Leben der Kirche nicht zu erkennen vermögen?“ 37 Pannenberg zufolge „verändert die Erkenntnis des provisorischen Charakters unseres christlichen Lebens und sogar unserer Erkenntnis der göttlichen Offenbarung die christliche Einstellung gegenüber den nichtchristlichen Religionen“ (Bestimmung, S. 39). 38 Bestimmung, S. 39: „Im Bewußtsein der Vorläufigkeit ihrer Offenbarungserkenntnis können die Christen nicht fortfahren, als Besitzer der absoluten Wahrheit den anderen Religionen als offenkundigen Irrtümern zu begegnen. Christen können nun vielmehr anerkennen, daß die Anhänger anderer Religionen von der Suche nach demselben göttlichen Geheimnis bewegt sind, das wir als den Gott Israels und Jesu Christi kennengelernt haben, auch wenn andere es nicht in derselben Weise sehen können. Damit wird der Glaube an die endgültige Wahrheit Christi nicht etwa relativiert, sondern vertieft durch intensivere Besinnung darauf, was es heißt, daß die Wahrheit Christi die Majestät des Gekreuzigten ist. Die neue Einstellung zu Menschen anderen Glaubens bedeutet darum mehr als bloße Toleranz. Sie stellt eine neue und zeitgemäße Form christlicher Demut dar und kann den Christen sogar veranlassen, von anderen religiösen Überlieferungen zu lernen.“ 39 STh III, S. 567: „So erwächst aus geschichtlichen Katastrophen die Chance des Neubeginns. Das gilt auch für die Geschichte der Kirche: Die Gerichte Gottes über seine Kirche nötigen sie zur Erneuerung oder bringen auf einem Umweg zustande, wogegen die Kirche sich sträubte.“ Pannenbergs Beispiel hierfür ist die abendländische Kirchenspaltung, die in die Kirche schließlich die Haltung der Toleranz brachte: eine „Lektion, die auch das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen verwandelt“ (ebd.).

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3.

Mehrere Offenbarungen?

Die anderen Religionen kommen in diesen drei religionstheologischen Gedanken nur insofern vor, als sie den christlichen Gläubigen etwas über ihren eigenen Glauben erschließen: als Teil der Geschichte, die Erscheinungsgeschichte Gottes ist, und als Kritik an der Kirche, die hinter ihrem eigenen Anspruch zurückbleibt. Muss die christliche Theologie also andere Lebensdeutungen und „Religionen“ immer aus ihrer Beziehung zum Christentum deuten? Pannenberg verwahrt sich ausdrücklich dagegen.40 Andere Menschen und andere Religionen haben eine unmittelbare Beziehung zum göttlichen Geheimnis. Sie ist anzuerkennen.41 Pannenbergs Forderung sollte man aber nicht nur, wie er selbst es ausdrücklich tat, auf die verschiedenen Gottesverständnisse der Religionen beziehen. Vielmehr ist auch deren Kraft, Menschen zu heiligen, zu betrachten: das jeweilige ‚transformative Potential‘ der Religionen also. Um dies zu untersuchen, sollten wir Pannenbergs eigenen geschichtlichen Offenbarungsbegriff noch weiter in die Theologie der Religionen einbeziehen, als er selbst dies tat. Hier ist daher ein Gedanke zu entwickeln, der zwar von Pannenberg ausgeht, aber bei ihm nicht vorkommt. Anzusetzen ist bei seiner auferstehungsbezogenen Offenbarungstheologie. Ihr zufolge sind die Osterereignisse die Vorwegnahme des Geschichtsendes. Am auferstandenen Christus lässt sich erfahren, worauf nach christlichem Glauben alles zuläuft: auf das unbegrenzte Leben in der Gemeinschaft mit dem Vater Jesu Christi, die die jeweilige menschlichbesondere Eigenheit aber nicht beendet, sondern vollendet. Der Auferstandene ist erkennbar er selber – und zugleich vollkommen in der göttlichen Lebensgemeinschaft. Im Osterereignis ist daher die Vollendung der Schöpfung schon erfahrbar; und diese Erfahrung bewirkt in denen, die sich davon betreffen

40 Ihm zufolge „sollte der charakteristische Beitrag christlicher Theologie zur Religionswissenschaft nicht in irgendeiner dogmatischen Deutung von einem christlichen Standort aus bestehen“: Wolfhart Pannenberg, „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie [Band 1]. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967 (²1971), S. 252–295, S. 294f. Ursprünglich ein im Oktober 1962 in Berlepsch (Nordhessen) gehaltener Vortrag. Im Folgenden verweise ich auf diesen Aufsatz mit dem abgekürzten Titel „Erwägungen“. Der Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus hatte zu den „Erwägungen“ eine Reihe von Anfragen – Kerygma und Dogma 15 (1969), S. 87–104 –, auf die der Angesprochene zwei Jahre später einging: Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1977 (¹1971), Anm. 688, S. 369f. 41 „Ihre Unmittelbarkeit zum göttlichen Geheimnis zu respektieren, ist auch von der christlichen Offenbarung her geboten: Es entspricht der Art, wie Jesus mit seiner Botschaft von sich selbst wegwies auf den Gott, den er verkündete“ („Erwägungen“, S. 294). Gerade so konnte der unendliche Gott durch Jesus offenbar werden (ebd., Anm. 59).

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lassen, eine grundlegende Lebensklärung und eine Neuausrichtung all ihres Tuns. Nun kann man auf andere Angebote schauen, die lebensweisend sein sollen, seien es Vorbilder, Schriften, Gemeinschaften, Ereignisse oder Vollzüge. Auch diese anderen Angebote lassen sich verstehen – und verstehen sich mitunter selber – als Weisen, die Gesamtheit allen Lebens in den Blick zu nehmen: als Vorwegnahmen des Geschichtsendes. Der christliche Glaube sagt nun – ja er besteht in dem Grundzeugnis –, dass Christi Auferstehung die dichteste Vorwegnahme des Geschichtsendes ist: Ostern drückt das uns Erwartende am besten aus und hat die stärkste Verwandlungswirkung auf die Menschen. Andere Ereignisse und Angebote – auch andere religiöse Wahrheitsansprüche – lassen sich dann aber ebenfalls verstehen als versuchte Vorwegnahmen der Geschichtsvollendung. Wollen andere Religionen jedoch ausdrücklich das Geschichtsende vorwegnehmen? Man kann das nur jeweils am Einzelfall überprüfen. Im Falle des Koran ist es jedenfalls eindeutig. Der Mensch soll sich auf die endzeitliche Abrechnung42 vorbereiten. Dann wird offenkundig, was man getan hat.43 Gott ist der, der am Tag des Gerichts das Sagen hat.44 Seine Beurteilungsmaßstäbe legt er jetzt schon offen.45 Entsprechend soll man sich nun verhalten.46 Die Gläubigen verschiedener Religionen und Lebensweisungen können sich nun darüber streiten, welches die treffendste und wirksamste Vorwegnahme des Geschichtsendes ist. Dabei behaupten die verschiedenen Angebote nicht nur – ausdrücklich oder unausdrücklich –, sie selbst leisteten diese Vorwegnahme besonders treffend und wirksam; sie liefern vielmehr auch eigene Vorstellungen mit, was Wirksamkeit einer Vorbereitung auf das Endgericht sein soll. Wenn hierbei die Gerichtsvorstellung aufgerufen ist, so hat das einen guten Sinn. Es ist ein Urteil zu erwarten. Das ganze Menschenleben steht nämlich so unter

42 Sure 88:23f., derzufolge Gott Muh. ammad beauftragt, er solle seine Landsleute warnen: „Zu uns (d. h. zu Gott) kommen sie (schließlich alle) zurück. Und wir haben hierauf mit ihnen abzurechnen (wörtlich: Dann obliegt uns ihre Abrechnung, h. isāb).“ 43 Vgl. Sure 82:5, wo es nach der Aufzählung bedrohlicher offenkundig eschatologischer Ereignisse keine Schlachten mehr gibt, wo es vielmehr dann überraschend schlicht heißt: Jetzt „bekommt man zu wissen, was man früher (an guten Werken?) getan, und was man versäumt hat.“ 44 Vgl. Sure 1:4: Gott ist derjenige, „der am Tag des Gerichts regiert“. 45 Vgl. Sure 93:9f.: „Gegen die Waise sollst du deshalb nicht gewalttätig sein, und den Bettler sollst du nicht anfahren.“ 46 Vgl. z. B. Sure 66:8a. „Ihr Gläubigen! Wendet euch in aufrichtiger Buße wieder Gott zu! Vielleicht wird euer Herr euch (dann) eure schlechten Taten tilgen und euch in Gärten eingehen lassen, in deren Niederungen Bäche fließen.“

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der Frage, ob es vor Gott bestehen kann. Nach dem dann angelegten Maßstab kann man sich schon heute richten, von ihm kann man sich ausrichten und verwandeln lassen. Die Grundfrage, um die es geht, lautet, was gutes Leben ist, was wahrhaft zu leben bedeutet. Eine koranische Maßstabsformel wäre: Inwieweit Menschen sich „auf Gottes Weg (sabīl)“ einsetzen.47 Das kann bedeuten, nach seinem Vorbild zu leben,48 nach seinen Weisungen zu handeln,49 oder für die Sicherung und Ausweitung des muslimischen Herrschaftsgebietes zu kämpfen.50 Der Koran kennt allerdings auch die ausdrücklich für andere Monotheisten geöffnete Maßstab-Formel: glauben und tun, was recht ist.51 Hier stellt sich nun an die christliche Sichtweise die doppelte Frage, ob und wenn ja, wie die Andersgläubigen erlöst werden können.

47 Z.B. Sure 57:10: „Warum wollt ihr (denn) nicht um Gottes willen (wörtlich: auf dem Wege Gottes) Spenden geben, wo doch (dereinst) das Erbe von Himmel und Erde an Gott (allein) fällt? Diejenigen von euch, die schon vor dem Erfolg Spenden gegeben und gekämpft haben, sind (den anderen) nicht gleich(zusetzen). Sie nehmen einen höheren (wörtlich: gewaltigeren) Rang ein als diejenigen, die (erst) nachträglich Spenden gegeben und gekämpft haben. Aber allen (auch denen, die erst nachträglich gespendet und gekämpft haben) hat Gott das (Aller)beste (d. h. das Paradies) versprochen. Er ist wohl darüber unterrichtet, was ihr tut.“ 48 Vgl. Sure 64:14; die Andeutungen in diesem Vers ergänzt Rudi Paret überzeugend wie folgt: „Ihr Gläubigen! Unter euren Gattinnen und Kindern gibt es welche, die euch feind sind. Nehmt euch vor ihnen in Acht! Aber (lasst doch auch Milde gegen sie walten!) Wenn ihr verzeiht, Nachsicht übt und vergebt (folgt ihr damit dem Beispiel Gottes). Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben“; dazu auch Felix Körner, „Theologie der Barmherzigkeit. Ein christlich–islamisches Gespräch“, in: George Augustin (Hg.), Barmherzigkeit leben. Eine Neuentdeckung der christlichen Berufung, Freiburg 2016, S. 251–261, S. 258. 49 Vgl. z. B. den Vers 2:229, in dem Ehescheidungsfragen geregelt werden, wonach es heißt: „Das sind die Gebote Gottes. Übertretet sie nicht!“ 50 Z.B. 73:20: q-t-l III fī sabīli llāh; „kämpfen auf dem Wege Gottes“. Es wird sich um einen medinensischen Einschub handeln. Der „Weg Gottes“ ist in den mekkanischen Suren die göttliche Rechtleitung; erst in Medina ist mit diesem Weg-Engagement der kämpfende Einsatz für die Sache Gottes gemeint. So Rudi Parets Kommentar zu Sure 2:177 mit Verweis auf Gerd-Rüdiger Puin, Der Dīwān von ‘Umar ibn al-Ḫat. t. āb. Ein Beitrag zur frühislamischen Verwaltungsgeschichte, Bonn 1970, S. 43–57. Ausdrücklich heißt es dann in Sure 66:9a: „Prophet! Führe Krieg gegen die Ungläubigen und Heuchler – yā-ayyuhā n-nabiyyu ǧāhidi l-kuffāra wa-l-munāfiqīna“. 51 Sure 5:69: „Diejenigen, die glauben (d. h. die Muslime), und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die S. ābier und die Christen, – (alle) die, die an Gott und den jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung am jüngsten Tag) nicht traurig sein.“ Die erwähnten S. ābier sind wohl Anhänger von dem Islam nahestehenden Gemeinschaften, die einen Taufritus praktizieren.

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4.

Dem Ostergeheimnis verbunden?

Auf eine klärende Antwort lässt sich hinarbeiten mit einer Untersuchung der jüngeren römisch-katholischen Lehrentwicklung. Gerade als Pannenberg seine Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte vortrug, begann das II. Vatikanische Konzil. Es befasste sich bekanntlich auch mit der Frage nach der Heilsmöglichkeit von Nichtchristen. 1964 lehrt das Konzil in der Kirchenkonstitution: Sie können das ewige Heil erlangen, wenn sie nur versuchen, Gott zu finden und nach ihrem Gewissen zu handeln.52 An dieser Stelle war mit einem doppelten theologischen Einwand zu rechnen: Ist das Erlösungswerk Christi für diese Menschen dann bedeutungslos? Sie kommen ja offenkundig ohne dessen Kenntnis aus. Und: Ist für diese ethisch mehr oder weniger einwandfreien Nichtchristinnen und Nichtchristen dann eine andere Lebensvollendung zu erwarten als für die Christen? Sind die Religionen also doch Parallelen, ohne gemeinsamen Fluchtpunkt? Im Folgejahr geht das Konzil – in seinem letzten Dokument, der Pastoralkonstitution – darauf ein. Es lehrt nun: Dass Menschen hoffnungsvoll der Auferstehung entgegengehen, „gilt nicht nur für die Christgläubigen, sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt (vgl. Lumen gentium 1653 ). Da nämlich Christus für alle gestorben ist (vgl. Röm 8,32) und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein“.54 Die Konzilsväter gehen von dem Paulusbekenntnis aus, dass Christus für alle gestorben ist; die angegebene Römerbriefstelle ist dafür allerdings nicht der beste Beleg. Es heißt dort ja, dass Gott „seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben“ hat;55 und „uns“ kann auch lediglich die „Auserwählten“ bedeuten, von denen im darauffolgenden Vers die Rede ist. Ausdrücklich vom Tod Jesu für alle hatte Paulus im 2. Korintherbrief gesprochen: „Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für

52 Lumen gentium 16. 53 Die beiden eingeklammerten Angaben stehen im Original in Endnoten. In Lumen gentium 16, worauf hier verwiesen wird, heißt es: „Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen.“ 54 Gaudium et spes 22. 55 Römer 8,32.

Christus und die Andersgläubigen

sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde“.56 Alle Menschen können jetzt in Christus leben; können – müssen nicht, denn der Heilige Geist bietet ihnen „die Möglichkeit“57 an, so die Konzilsväter. Dreierlei schließen sie aus Jesu Tod für alle: a. das Lebensziel ist für Christen und Nichtchristen dasselbe: Alle haben die Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott; b. das Erlösungsamt Jesu Christi ist auch für die von Bedeutung, die nicht darum wissen. Das ist die bedenkenswerteste diesbezügliche Bemerkung. Denn es fragt sich ja, wie Kreuz und Auferstehung Christi sich auf die auswirken, die gar nicht darum wissen; c. auf eine Weise, die Gott kennt (modo Deo cognito), gibt der Heilige Geist auch denen eine Verbindung zu den Osterereignissen, die diese nicht kennen. Die Erlösung der Nichtchristen geschieht modo Deo cognito. Dass Gott diese Weise kennt, hätte man eigentlich nicht mitsagen müssen; was kennt Gott denn nicht? Die Konzilsväter haben es dennoch dazugesagt und sich damit für eine Kompromissformel entschieden. Damit haben sie nämlich zugleich in drei Richtungen gesprochen: a. Hätte man behauptet, „nur“ Gott kenne die Weise der Teilnahme von Nichtchristen am Ostergeheimnis, hätte man denjenigen, die tatsächlich darüber sprechen, den Weg verbaut. Nein, man kann durchaus auch laut darüber nachdenken, heißt es nun. Das tun etwa die ja schon alten Theologien des Karsamstag:58 Nach seinem Tod steigt Christus ins Totenreich, zu den Menschen, die zu Lebzeiten die Osterbotschaft nicht hören konnten; er holt die Gerechten ins wahre Leben, ja, er holt auch Adam und Eva heraus: den Menschen schlechthin.59 56 2 Korinther 5,17; vgl. auch 1 Timotheus 2,5f.: „Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle.“ Im Römerbrief sagt Paulus nicht nur, dass das Erlösungshandeln Christi allen galt, sondern dass es auch für alle tatsächlich wirksam ist: „Wie es also durch die Übertretung eines Einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so kommt es auch durch die gerechte Tat eines Einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung, die Leben schenkt“ (Römer 5,18). Allerdings kann man die Stelle nicht allzusehr belasten, denn die beiden Formen von „kommen“ in der Übersetzung sind ergänzt. Paulus selbst verzichtete in diesem Vers gänzlich auf Verben, so dass die Temporal- und Modalverhältnisse offen bleiben. 57 Gaudium et spes 22. 58 Vgl. Ernst Koch, „Höllenfahrt Christi“, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 15, Berlin 1986, S. 455–461 sowie die Kirchenväterstellen, die Pannenberg STh III, S. 662 Anm. 275 aufführt. 59 Kurz nach dem Konzil – 1967–schlägt Karl Rahner eine begriffliche Fassung für den Bewirkungszusammenhang in der Erlösungsvermittlung vor. Sie lautet „heilsbedeutsame Interkommunikation aller mit allen“ (Karl Rahner, „Der eine Mittler und die Vielfalt der Vermittlungen“, in: ders., Sämtliche Werke. Band 22/1b: Dogmatik nach dem Konzil, S. 714–728, S. 728). Aller-

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b. Hätte man die Zurückhaltungsformel modo Deo cognito ganz weggelassen, hätte man wiederum denen eine Absage erteilt, die – wie bereits Paulus – im Blick auf systematisch schwer Einzubauendes sagen, dass Gottes Entscheidungen unergründlich, seine Wege unerforschlich sind.60 Wir Menschen können eben Gottes Heilsplan und -wirken nicht durchleuchten. c. Gott jedenfalls kennt die Weise des Geistes, diejenigen Menschen, die die Erlösungsbedeutung von Christi Tod und Auferstehung nicht kennen, doch daran zu beteiligen; das heißt, man darf beruhigt sein und der göttlichen Weisheit trauen. Warum wollten die Konzilsväter betonen, dass auch die Nichtchristen an Christi Erlösungswirkung teilhaben? Sie hätten doch einfach auf die Gerichtsszene in Jesu Endzeitrede verweisen können. Ihrzufolge ist einzige Bedingung für die Erben des Gottesreiches nicht etwa Christuskenntnis, sondern die Werke der Barmherzigkeit getan zu haben.61 Warum genügte das den Konzilsvätern nicht? Warum wollten sie eine geheimnisvolle Teilhabe auch der anderen an der Christusgeschichte unterstreichen? Sie wollten drei verschiedene theologische Traditionen berücksichtigen: a. Christi Erlösungstat kommt allen zugute – so lassen sich schon die Paulusworte verstehen: Christus ist für alle gestorben. b. Alles, was Gott tut, ist durch Christus vermittelt. c. Die Menschheit für sich ist schlechthin verloren. Nur wer an Christus teilhat, kann Gottes Gnade finden.

dings ist Vorsicht geboten. Seine Frage war, inwiefern die Kirche (S. 715) und die Heiligen – allen voran die Mutter Jesu – (S. 716) an der Heilsvermittlung beteiligt sind. Zuerst blickt er auf Jesus und fragt nun nach der existentialontologischen Voraussetzung seiner Mittlerschaft; mit anderen Worten: nach der Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Jesus überhaupt für andere Erlösung bewirken kann. Hierfür bringt er nun den Gedanken der Verbundenheit aller Menschen ein. Er setzt jedoch gleich in Klammern eine entscheidende Einschränkung hinzu; wenn er seinen Begriffsvorschlag macht, sagt er: „heilsbedeutsame Interkommunikation aller (gerechtfertigten) Menschen untereinander“. Es ging Rahner hier nicht um die religionstheologische Frage, wie auch Nichtchristen am Ostergeheimnis teilhaben können; von einer heilsbedeutsamen Interkommunikation „aller mit allen“ sprach er vielmehr im Blick auf die Heiligen, und das in ökumenischer Absicht: als Gesprächsangebot an die Kirchen aus der Reformation. 60 Römer 11,33. 61 Laut Matthäus 25,37–40 stellt der endzeitliche Richter einige zu seiner Rechten, die ihm tätige Barmherzigkeit erwiesen haben. Sie aber fragen: „‚Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?‘ Darauf wird der König ihnen antworten: ‚Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.‘“

Christus und die Andersgläubigen

Nun kehren wir zurück zu Pannenberg. Wir müssen fragen, wie er die Heilsmöglichkeit für Nichtchristen einschätzt; und wir müssen – zuvor – fragen, wie er sich denn erklärt, dass das Ostergeschehen überhaupt für Menschen Heil bewirken können soll. Beidemale werden wir auch Schriften von Pannenberg hinzuziehen, die er vor seiner Systematischen Theologie verfasst hat. 5.

Sündenvergebung

Jesus verheißt Menschen die Sündenvergebung, wenn sie sich ihm nur anschließen. Und Jesu Vollmacht, eine solche Zusage im Namen Gottes zu machen, ist durch seine Auferstehung göttlich bestätigt.62 Aber nochmals gefragt: Wie soll denn eine solche Sündenvergebung ‚funktionieren‘? Der Ausgangspunkt ist die Zusage Jesu, dass die angesprochene Person am Gottesreich teilnehmen darf.63 Damit ist ihr alle Absonderung von Gott, die Sünde, genommen. Hat Sünde dann Pannenberg zufolge gar nichts mit Verfehlung zu tun, mit unserem Handeln? Doch. Das wird daran deutlich, wie er das Leben derer beschreibt, die die Zusage vom Gottesreich trifft: Die Freude über die ewige Gemeinschaft mit Gott verwandelt auch das Entscheiden und Tun der so Angesprochenen.64 Dann ist aber deutlich, dass die Kenntnis Christi eine wichtige Rolle spielt im Vorgang der Erlösung. Daher zur zweiten Frage. 6.

Die Andersgläubigen

Wie sieht Pannenberg die Heilsmöglichkeit von Nichtchristen? Ihm zufolge wird der Gerichtsmaßstab nicht etwa das Christusbekenntnis sein, sondern: Inwieweit Menschen Liebende geworden sind.65 Menschen, die Christus nicht 62 Das sagt der sprachlich schwierige Satz, dass „nach der Botschaft Jesu im Vertrauen auf ihn als den Boten der Herrschaft Gottes Vergebung für alle Sünden beschlossen ist“; mit anderen Worten: Jesus hat Menschen zugesagt, wer sich auf ihn verlässt, für den beginnt das Gottesreich bereits und dem ist auch alles genommen, was ihn von Gott trennte. Wolfhart Pannenberg, Das Glaubensbekenntnis, ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart, Gütersloh 1972, ⁶1995 (im Folgenden abgekürzt mit „Gl“), S. 95. 63 Gl, S. 173: „Wenn Jesus einem Menschen Vergebung seiner Sünden zusprach, dann sagte er damit, daß dieser Mensch am Heil der kommenden Gottesherrschaft Anteil haben wird, somit auch am neuen Leben der Totenauferstehung.“ 64 Gl, S. 173: „Eine solche befreiende Hoffnung wird sich dann freilich auch im gegenwärtigen Leben schon auswirken. Insofern bleibt der ethische Aspekt gewahrt. Es ist nicht gleichgültig, was sich im Verhalten der Menschen und in ihrem Zusammenleben ändert.“ 65 Vgl. 1 Johannes 4,16cf.: „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm/ihr. Darin ist die Liebe bei uns vollendet, so dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts. Denn

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kennen oder nicht anerkennen, können ins ewige Heil gelangen. Darin stimmen II. Vatikanum und Pannenberg überein. Einen Unterschied aber scheint es zu geben: Für Pannenberg ist die Beziehung zwischen Jesus und einer Person, die ihn zwar nicht kennt, aber in die Ewigkeit kommt, offenbar keine Beziehung der Bewirkung, sondern der Entsprechung: Die betreffende Person hat lediglich das gelebt, was Jesus als die Liebe im Reich Gottes verkündet hat. In seiner Systematischen Theologie nimmt Pannenberg keinen Bewirkungszusammenhang an zwischen dem Ostergeschehen und der Erlösung von Nichtchristen. Außerhalb seiner Systematischen Theologie finden sich bei Pannenberg aber sehr wohl Andeutungen eines Bewirkungszusammenhangs zwischen Christushandeln und der Erlösung von Nichtchristen. 1988 sagte er zwar – wie im Eschatologie-Teil der Systematischen Theologie von 1993 –, dass die Verheißung der Heilsteilhabe „nicht auf die Zugehörigkeit zu Jesus durch das ausdrückliche Bekenntnis zu ihm beschränkt“ ist.66 Pannenberg verwies dafür auf die Seligpreisungen und das Gleichnis vom Weltgericht. Er machte damals aber zwei Bemerkungen, die uns noch beschäftigen müssen. Einerseits lehnte er ausdrücklich ab, dass Andersgläubigen „das Heil durch die Institutionen ihrer Religionen zuteil wird“.67 Entsprechend sagte er andererseits, dass die in die Ewigkeit eingehenden Nichtchristen „dann durch Jesus Christus und nicht durch die kultischen Einrichtungen ihrer Religionen am Heil teilhaben, sosehr wie jener ist, sind wir in der Welt.“ Pannenberg, STh III, S. 661f.: „Es ist richtig, daß das Ereignis einer persönlichen Begegnung mit Jesus durch die christliche Botschaft und die gläubige Antwort darauf nicht das universale Kriterium für die Teilhabe am Heil oder für den Ausschluß vom Heil sein kann, wenn die neutestamentlichen Aussagen über die sich auf alle Menschen erstreckende Liebe Gottes zur Welt ernst genommen werden. Viele Menschen sind nie von der Verkündigugn des Evangeliums erreicht worden. Ausschlaggebend für ihr ewiges Heil kann nicht die von historischen und lebensgeschichtlichen Zufälligkeiten abhängende Tatsache persönlicher Begegnung mit Jesus durch die Verkündigung der Kirche sein, wohl aber die faktische Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung des individuellen Verhaltens mit dem von Jesus verkündeten Gotteswillen. Die Botschaft Jesu bildet die Norm für das Urteil Gottes auch über die Menschen, die Jesus nie persönlich begegnet sind. Das bedeutet, wie das Gleichnis vom Weltgericht es darstellt, daß Menschen, die Jesus nicht gekannt, aber die Werke der Liebe getan haben, welche seiner Botschaft entsprechen, faktisch am Heil des Gottesreiches teilhaben und im Gericht Gottes freigesprochen werden, während die nur nominellen Christen von diesem Heil ausgeschlossen bleiben. Auch alle diejenigen, auf die die Seligpreisungen von Mt 5,3ff. (Lk 6,20ff.) zutreffen, werden am kommenden Heil teilhaben, ob sie nun in ihrem diesseitigen Leben von Jesus gehört haben oder nicht. Denn sie haben faktisch an Jesus und seiner Botschaft teil, wie der Tag des Gerichts offenbar machen wird.“ 66 So in der 1988 in Tübingen gehaltenen und 1989 erstmalig veröffentlichten Gastvorlesung: Wolfhart Pannenberg, „Die Religionen als Thema der Theologie. Die Relevanz der Religionen für das Selbstverständnis der Theologie“, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie. Band 1: Philosophie, Religion, Offenbarung, Göttingen 1999, S. 160–172, S. 172. 67 Ebd., S. 171. Hervorhebung im Original.

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ihnen die Heilsthematik ihres Lebens bewußt werden mag im Zusammenhang mit dem kultischen Leben ihrer nichtchristlichen Religionen.“68 Hieran müssen sich drei Fragen anschließen: a. Wie ist denn nun die Christusbeziehung von Menschen zu denken, die ihn nicht kennen? Das beantwortet Pannenberg selbst eindrucksvoll: Menschen können in ihrem Leben auch eine bloß hoffende, ja ahnende Christusbeziehung haben. In der Ewigkeit werden sie dem Erhofften, Erahnten dann persönlich begegnen.69 b. Warum sollte Gott denn so kleinlich sein, nur an einem bestimmten Punkt in der Geschichte Heil in Fülle zu schenken? Darauf lässt sich mit Pannenbergs Gedanken antworten, dass es Gott um die Einheit der Menschheit geht;70 man könnte einen weiteren Gesichtspunkt beisteuern: Menschen kommen nur zum Heil, wenn sie sich aufmachen, das heißt, wenn sie anerkennen, dass sie das Entscheidende nicht in sich haben. Sie sind in Liebe geschaffen und müssen daher in Beziehung kommen, ihre Angewiesenheit anerkennen. Dass es nach biblischem Zeugnis offenbar nicht überall volle Heilsquellen gibt, sondern nur diese eine – das Volk Israel, Christus, die Kirche –, heißt: Jeder Mensch muss eingestehen, es selbst nicht zu besitzen, muss bereit werden, sich beschenken zu lassen, muss in diesem Sinne „aufbrechen“; und auch die Christenmenschen müssen immer wieder aufbrechen und anerkennen, dass die bisherige Kirche noch erschreckend bedürftig ist – und dass sie sich von außerhalb reinigen und bereichern lassen muss.71 c. Warum wäre die Annahme, Gerichtsmaßstab sei ein Leben wie Jesus – nicht mit Jesus, doch unzulänglich, ein ethischer Reduktionismus? Darauf ist nochmals von drei Seiten aus zu schauen. Man sieht aus allen drei Blickrichtungen, dass Pannenberg entscheidende Vorlagen geboten hat. Sie sind aber im Nachvollzug ausdrücklicher zu machen, als sie es bei ihm selbst sind. 68 Ebd., S. 172. 69 Ebd.: „Sie werden erst in der Vollendung des Gottesreiches Jesus Christus als den erkennen, auf den ihre Heilshoffnung im ahnungsvollen Dunkel ihres Leben immer schon bezogen war.“ 70 STh III, S. 58: „Als Zeichen und Werkzeug des kommenden Gottesreiches hat die Kirche ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern in der Zukunft einer mit Gott versöhnten und durch den gemeinsamen Lobpreis Gottes in seinem Reich vereinten Menschheit.“ Ebenso dann STh III, S. 402: „Im christlichen Gottesdienst kommt die Kirche in ihrer Gemeinschaft mit Christus zur Darstellung als Zeichen und Werkzeug der künftigen Einheit der Menschheit im Reiche Gottes.“ Hier klingt natürlich Lumen gentium 1 an: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ 71 Vgl. Felix Körner, „Der eine Christus und die vielen Geistesgegenwarten. Ein Vorschlag zur Religionstheologie“, in: Guido Vergauwen/Andreas Steingruber (Hg.), Veni, Sancte Spiritus! Theologische Beiträge zur Sendung des Geistes. Festschrift für Barbara Hallensleben zum 60. Geburtstag (Glaube und Gesellschaft, Band 7), Münster 2018, S. 602–615.

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1. Gebot und Überforderung. Pannenberg beantwortet selbst eine zu erwartende Gegenfrage; nämlich, welchen Vorteil denn Christinnen und Christen noch haben, wenn man sich ja nur bergpredigtgemäß verhalten muss, um ins Gottesreich zu gelangen.72 Pannenbergs Antwort darauf ist zweifach. Zum einen, „dass sie in der Person Jesu den Maßstab der Teilhalbe am ewigen Heil und so auch des Gerichts kennen“.73 Das heißt nun aber nicht nur, dass Christen eben die Gebote haben, oder besser – da es ja fast überall Gebote gibt –, dass sie die richtigen, die endgültigen Gebote haben. Christsein ist ja nicht die Erfüllung einer einigermaßen beliebigen Auftragsliste, die man anerkennt, weil sie nun einmal aus dem Munde des eigenen Herrn und Meisters kommt oder dessen Stil entspricht. Aber man befolgt die betreffenden Gebote auch nicht deshalb, weil man sie als vernünftig einsieht, weil man sie als philosophisch-ethisch richtig erkannt hat. Vielmehr handelt eine Jüngerin oder ein Jünger Jesu aus einer Haltung. Die betreffende Person lässt sich im Laufe ihrer Beziehung zu Christus immer mehr umgestalten; gedanklicher Nachvollzug, Überprüfung und Vertiefung der Christuskenntnis gehören dazu. Dabei geht es jedoch kaum um einzelne Gebote. Sie würden ja von außen auf die handelnde Person treffen. Man kann die handlungsbezogene Ebene des Lebens „in Christus“74 – statt einer Gebotsbefolgung – vielmehr als ‚geprägtes Herz‘ bezeichnen. Die Gebote, die sich im Neuen Testament finden, sind dabei weniger Weisungen, was zu tun ist. Das „neue Gebot“ Jesu lautet, zu lieben, wie er geliebt hat.75 Das aber ist genau besehen gar keine Aufforderung mehr, ihn nachzuahmen. Es versetzt die so angesprochene Person vielmehr in eine beschämende Lage. Sie erkennt: Ich bin überfordert. Lieben wie Christus ist zu viel für einen gewöhnlichen Menschen. Diese Erkenntnis jedoch gehört zum Verwandlungsvorgang des neuen Gebotes hinzu. Die Person weiß um ihre eigene Schwäche, darf aber auch wissen, dass sie als solche von Christus geliebt ist; was sie jetzt bewegt, ist nicht mehr die eigene Bemühung, sondern die Liebe Christi.76 Gebote, Regeln, gerade Riten sind damit nicht überflüssig; sie haben jedoch einen anderen Sinn. Sie helfen, das Herz zu prägen, Gemeinschaft zu stiften und auch den Durchgang von Schwäche und Scheitern zur geschenkten Liebesfähigkeit erneut zu erleben. 72 STh III, S. 663: „Worin besteht dann noch der Vorzug der Christen angesichts des künftigen Gerichts?“ 73 STh III, S. 663, Hervorhebung bei Pannenberg. 74 Vgl. z. B. Römer 8,1f.: „Jetzt also gibt es keine Verurteilung mehr für die, welche in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes.“ 75 Johannes 13,34 und 15,12. 76 Vgl. 2 Korinther 5,14: „[…] die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben.“

Christus und die Andersgläubigen

2. Ergriffenheit und Vorfreude. Pannenberg erwähnt nun noch einen zweiten christlichen Vorzug, der Menschen ohne Christuskenntnis fehlt: „Die Glaubenden gehen dem Gericht mit Zuversicht entgegen“.77 Denn sie dürfen schon um das kommende Heil wissen. Damit ist aber auf mehr verwiesen als auf die kleine Zugabe einer angenehmen Begleitempfindung. Hiermit ist vielmehr angesprochen, was seit Ostern das christliche Lebensgefühl ist. Neutestamentlich ist häufig die Rede von einer bestimmten „Hoffnung“.78 Sie ist kein vager Optimismus, erst recht keine selbsterzeugte positive Stimmung. Diese christliche Hoffnung lässt sich vielmehr treffend bezeichnen als „Vorfreude“. Das Reich Gottes wurde im Reden und Handeln bereits des irdischen Jesus erfahrbar, gerade in seinen Heilungen. Nach Ostern aber ist die Freude über das anbrechende Reich zum Grundlegenden geworden, was der Kirche ihr Leben gab und was sie seither vermitteln will. Sie verkündet nicht nur im Wort; auch nicht nur im dienend-helfenden Tun und durch ihr Bestehen als sichtbare Gemeinschaft. Sie vermittelt diese Vorfreude vielmehr auch auf eine Weise, die sowohl die bewusste Wahrnehmung und den gedanklichen Nachvollzug anspricht als auch unser vorbegriffliches Empfinden. Die Kirche vermittelt die Osterfreude nämlich durch bestimmte christusbezogene Feiern: durch die Sakramente. Deshalb wird man weniger sagen, dass christliches Leben in der Kenntnis des Gerichtsmaßstabs bestehe und deshalb etwa in der Anstrengung, den Jesusgeboten nachzukommen; aber auch nicht, dass christliches Leben zusätzlich zu seinem Ethos ein gewisses Plus an Zuversicht hat. Vielmehr wird man wie Paulus das christliche Leben beschreiben als Ergreifenwollen der Vollendung aus Ergriffensein. Die so geschenkte Vorfreude ist der Ausgangspunkt alles weiteren Entscheidens und Handelns: „Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin“.79 Der von Pannenberg erwähnte christlicherseits gekannte ethische Maßstab ist also keine vor mir, über mir liegende Messlatte, sondern nur ein Ausdruck meiner Ergriffenheit; und die Zuversicht ist keine nur begleitende Zugabe: Paulus empfindet sich hineingezogen in ein neues Leben. Es wirkt sich schon in ihm aus; und um es zu vermitteln, drückt er es gelegentlich auch in Form von Geboten aus. Grundlegend aber ist für sein Urteilen und Tun die ergriffene Ausgerichtetheit auf die Erfüllung, das schon empfundene Leben des Gottesreiches, die Hoffnung aufgrund der Auferstehung Christi, die österliche Vorfreude. 77 STh III, S. 663. 78 Schon 1 Thessalonicher 4,13: „Brüder und Schwestern, wir wollen euch über die Entschlafenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben.“ Später 1 Petrus 3,15: „[…] Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt“. 79 Philipper 3,12.

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3. Die Skandala Christi. Pannenberg sieht deutlich die Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus im Christuszeugnis: Seinen himmlischen Vater hat Jesus als den barmherzigen Vater aller verkündet – einerseits; und andererseits soll Bedingung für die Teilhabe am Gottesreich der Eintritt in die Gemeinschaft mit Christus sein,80 „das Ereignis einer persönlichen Begegnung mit Jesus durch die christliche Botschaft und die gläubige Antwort darauf “?81 Pannenberg löst diese Spannung bekanntlich auf, indem er auch denjenigen Menschen eine Teilhabe an Jesus zugesteht, die ihn gar nicht kennen, aber die Werke der Liebe tun.82 Das soll auch im Folgenden nicht mehr eingeschränkt werden. Denn wer sind die „Gesegneten“, die am Geschichtsende das Reich erben? Die schlicht und ohne Christuskenntnis die spontan-anständige Nächstenliebe geübt haben, gerade sie.83 Wer aber Christus begegnet ist, ist offenbar zu mehr gerufen als zu der ja vielerorts geforderten und gelebten Menschenfreundlichkeit. Um das zu verstehen, sollte man bedenken, was genau geschieht, wenn eine Person nach dem neutestamentlichen Zeugnis Jesus begegnet und dann eintritt – oder nicht eintritt – in die Lebensgemeinschaft Christi. Offenbar geht es Christus nämlich um mehr als um tätige Nächstenliebe.84 Leben in der Gemeinschaft mit Christus bedeutet neutestamentlich nicht nur, allgemeine Tugendkataloge zu erfüllen. Sechs neutestamentliche Besonderheiten zeigen vielmehr, worin die Herausforderung der Lebensgemeinschaft Christi besteht. Zu ihr gehört nämlich – die Bereitschaft, sein ganzes Leben in eine neue Wertordnung bringen zu lassen, in der auch der Verzicht auf eigenen Besitz verlangt sein kann – man denke an den „reichen Jüngling“;85 80 Vgl. Lukas 12,8f., ein für Pannenbergs Christologie grundlegendes Jesuslogion (z. B. Grundzüge der Christologie, Gütersloh ⁷1990, S. 53 sowie STh II, S. 375 und S. 442): „[…] Jeder, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln Gottes bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, der wird auch vor den Engeln Gottes verleugnet werden.“ 81 STh III, S. 661. 82 Vgl. den oben Anm. 65 zitierten Abschnitt von STh III, S. 661f., in dem dreimal das Wort „faktisch“ vorkommt – offenkundig im Sinne von ‚zwar nicht ausdrücklich, aber durch ihr unbewusst jesusgemäßes Tun‘. 83 Matthäus 25,34. 84 Pannenberg erinnert selbst daran, „daß Gott nicht nur die Christen, sondern alle Menschen unter dem Gesichtspunkt ihres expliziten oder impliziten Verhältnisses zu Jesu Lehre und Geschick sieht und beurteilt, vor allem aber mit dem Blick der erbarmenden Liebe, die in der Sendung Jesu ihren Ausdruck gefunden hat. […] Das aber schließt die Teilnahme an der Verwandlung des gegenwärtig gelebten Daseins ein, ohne die es keine Gemeinschaft sterblicher Geschöpfe mit Gott geben kann“ (STh III, S. 686). 85 Matthäus 19,21f.: Einer fragt, was ihm noch zur Vollkommenheit, zum ewigen Leben fehlt: „Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und

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– die Bereitschaft, nicht nur in barmherziger Aktion zu leben, sondern auch in hingegebener Passion – man denke an die leichtfertig erklärte und erst uneingelöste Hingabebereitschaft des Petrus sowie an das Pauluszeugnis, die Todesleiden Christi am eigenen Leib zu tragen;86 – die Bereitschaft, nicht eine Fortsetzung des Bisherigen als das Liebste zu erachten, sondern den Umbruch der Zeit und der Weltordnung durch die Neuheit des Gottesreiches – man denke an die Beunruhigung des Königs Herodes, wie sie die Kindheitsgeschichten ausmalen:87 Er scheint mit aller Gewalt und aus Angst vor einem Verlust seiner Eigenmacht eine Neuordnung verhindern zu wollen, wie sie mit der Herrschaft Gottes anbricht; – die Bereitschaft, anzuerkennen, dass das, was diese Welt zu bieten hat, nicht ausreicht für das wahre Glück, dass man nur durch das Geschenk der göttlichen Zuwendung Trost finden kann – man denke daran, dass die Bergpredigt ausgerechnet den Armen, Trauernden, nach Gerechtigkeit Hungernden – also denen, die empfinden, dass ihnen Entscheidendes noch fehlt – die Freude des Gottesreiches zusagt;88 – die Bereitschaft, in einer irdischen Person, und zwar in einem nicht kämpfenden Menschensohn, einem gekreuzigten Messias89 die wahre Macht Gottes zu sehen; also Gott nicht als den sich gewaltsam Durchsetzenden, sondern als den zu erkennen, der durch Dienst und Beteiligung wirkt – man denke

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gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach! Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.“ Johannes 13,37: „Petrus sagte zu (Jesus): Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Mein Leben will ich für dich hingeben.“ 2 Korinther 4,10: „Immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird.“ Matthäus 2,3: Sterndeuter berichten, dass sie den Stern des neugeborenen Königs der Juden aufgehen sahen: „Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem.“ Die Sterndeuter verraten Herodes entgegen seinem Auftrag nicht, wo das Jesuskind ist. „Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig; und er sandte aus und ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte“ (Matthäus 2,16). Matthäus 5,3–6: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.“ 1 Korinther 1,22–24: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“

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an die Ablehnung der Leidensankündigung seitens sogar der engsten Jesusjünger;90 – die Bereitschaft, einer bestimmten – von Christus dazu bestimmten – Menschengemeinschaft zu trauen und sich ihr anzuvertrauen trotz ihrer wahrhaft anstößigen Fehlerhaftigkeit – man denke an die von Paulus gehörte Frage: „warum verfolgst du mich?“,91 die sich auf die christliche Gemeinde bezieht – sprechendes Ich ist hier ja Christus, der sich also mit der Kirche identifiziert; und man denke an Paulus, der sich seiner Übereinstimmung mit der Jerusalemer Gemeinde versichert, weil er fürchtet, ohne eine von ihren Repräsentanten bestätigte Einheit mit der ganzen Kirche als dann bloß angeblicher Apostel „ins Leere“ zu laufen.92 Man kann diese sechs Herausforderungen als die ‚jesuanischen Skandala‘ bezeichnen.93 In der Zuversicht des Gottesreiches können Menschen sich auf diese Skandala freudig einlassen. Der Kirche ist seit Christi Auferstehung die Sendung anvertraut, diese Vorfreude durch ihr Dasein und Tun, in Wort und Sakrament zu vermitteln. Sich auf ein Ethos entsprechend der aufgezählten Skandala einzulassen ohne eine Kenntnis der Osterereignisse, ist äußerst schwierig; vor allem aber: Es kann dann leicht von verkehrten, in Wirklichkeit lieblosen Haltungen bestimmt sein, etwa von einer Selbstentwürdigung, einer Verachtung des Irdischen oder von einer Verniedlichung Gottes. Der neutestamentliche Gerichtsmaßstab für diejenigen, die Christus nicht begegnet sind, ist: ob sie barmherzig gehandelt haben. Für die, die Christus kennen, legt das Neue Testament einen weitergehenden Maßstab an: inwieweit eine Person im Vollsinne – im Sinne Jesu, mit Jesus – Liebende geworden ist; und dazu gehört auch, warum jemand sich darauf einlässt. Kann also nur derjenige Christ ins ewige Heil kommen, der sich in der Gemeinschaft Jesu – mit ihm persönlich und mit seiner Gemeinde – vollkommen

90 Matthäus 16,22, nachdem Jesus vorausgesagt hat, er werde in Jerusalem gefoltert und getötet: „Da nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen, und sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!“ 91 Apostelgeschichte 9,4; 22,7; 26,14. Vgl. auch STh III, S. 54, wo Pannenberg in Auseinandersetzung mit Eberhard Jüngel schreibt: „als Leib Christi gehört die Kirche mit Christus untrennbar zusammen, obwohl Christus als das Haupt von den Gliedern unterschieden bleibt“. 92 In seinem Brief an die Galater 2,2 erklärt Paulus, warum er nach seiner Berufung noch einmal Jerusalem besucht hat: „Ich ging hinauf aufgrund einer Offenbarung, legte der Gemeinde und im Besonderen den Angesehenen das Evangelium vor, das ich unter den Völkern verkünde; ich wollte sicher sein, dass ich nicht ins Leere laufe oder gelaufen bin.“ 93 Immer wieder stellt sich neutestamentlich die Frage, ob die Anhänger Jesu, deren Erwartungen er ja nicht erfüllt, an ihm „Anstoß nehmen“ (Markus 14,29: „Auch wenn alle Anstoß nehmen – ich nicht!“), σκανδαλισθήσονται.

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in Liebe verwandeln ließ; und derjenige Nichtchrist, der stets barmherzig gehandelt hat? Nein. Um dies zu klären, lässt sich an die von Pannenberg treffend gedeutete Vorstellung vom reinigenden Feuer erinnern. In die ewige Lebensgemeinschaft mit Gott kommt all das Geschaffene, das im Laufe seiner Geschichte zur Liebe geworden ist; alles Übrige vergeht, verbrennt sozusagen im Feuer der göttlichen Liebe. „So ist das Feuer des Gerichts läuterndes, nicht zerstörendes Feuer.“94

94 STh III, S. 666. Pannenberg merkt allerdings auch (STh III, S. 667) an: „Es mag im Einzelfall, nachdem das Feuer der göttlichen Herrlichkeit alles getilgt hat, was mit der Gegenwart Gottes unvereinbar ist, nichts übrigbleiben.“

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Alexander und der Friedenskönig Eine alttestamentliche Spurensuche im Anschluss an Pannenbergs Deutung von Mk 11,1–10

1.

Jesu Einzug in Jerusalem

Wenige biblische Geschichten haben das Bewusstsein der Christenheit und ihres Glaubens so nachhaltig bestimmt wie die Erzählung von Jesu Einzug in Jerusalem. Sie hatte und hat „erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Passionswoche“1 , und sie war und ist prägend für die christliche Adventsfrömmigkeit, wie u. a. das kirchliche Liedgut beweist. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit“: „Er ist gerecht, ein Helfer wert; Sanftmütigkeit ist sein Gefährt …“ (EG 1,1f.) „Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn …“ (EG 11,2) „Er kommt zu uns geritten auf einem Eselein und stellt sich in die Mitten für uns zum Opfer ein.“ (EG 9,2) Die Beispiele ließen sich unschwer fortsetzen bis hin zum von Georg Friedrich Händel vertonten „Tochter Zion, freue dich“ (EG 13). Am Sonntag zu Beginn der Karwoche wird die Adventsbotschaft modifiziert aufgenommen und vielfältig umgestaltet, etwa in Form von Prozessionen, die das biblische Geschehen nachspielen, um es sich auf diese Weise anzueignen. Obwohl der Züricher „1522 in der Limmat ertränkt“2 worden sein soll, hat der Palmesel in anderen Gebieten die Reformation und selbst die Aufklärung weitgehend unbeschadet überlebt. Nur die Palmweihe wurde unter protestantischen Bedingungen nicht weiter gepflegt. Im Evangelium nach Markus ist die Einzugsgeschichte zu Beginn des 11. Kapitels überliefert (vgl. Mk 11,1–11). Jesus hat – von Jericho im Jordantal kommend – das Ziel der irdischen Mission, zu der er gesandt war, fast erreicht. Er befindet sich mit den Seinen in unmittelbarer Nähe von Jerusalem, „bei Betfage und Betanien am Ölberg“ (Mk 11,1). Betanien lag ca. 3 km von der Stadt und vom Tempel entfernt und galt schon im Alten Testament „als Stätte des Gebets“3 (Ez 11,23; 2. Sam 15,32) und als – gegebenenfalls mit messianischen Konnotationen verbundener – Ort in der Gegend, von woher das Reich Gottes 1 O. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband: Mt 18–25, Neukirchen 1997, 190. 2 A.a.O., 192. 3 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: Mk 8,27–16,20, Neukirchen 1979, 116.

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anbrechen soll (vgl. Sach 14,4). Im Mk wird die Ortschaft später als Quartier Jesu und seiner Jünger beim Jerusalemaufenthalt noch mehrfach benannt (Mk 11,11f.,19; 14,3). Über die Lage Betfages, was auf Deutsch „Feigenhaus“ heißt, ist nichts Genaues bekannt; wahrscheinlich wird es sich um einen Flecken am Abhang des Ölbergs direkt beim beginnenden Stadtgebiet gehandelt haben. Bevor der eigentliche Einzugsbericht (Mk 11,8–11) anhebt, wird von der Bereitstellung des Reittiers gehandelt (Mk 11,2–7). Zwei Jünger bekommen von Jesus den Auftrag, in ein vor ihnen liegendes Dorf zu gehen, wo sie sogleich, wenn sie hineinkämen, ein Eselsfüllen finden würden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen habe: „bindet es los und führt es her!“ (Mk 11,2) Wenn aber jemand nachfrage und wissen wolle, was sie da machten, sollten sie sagen: „Der Herr bedarf seiner, und er sendet es alsbald wieder her.“ (Mk 11,3) Wie Jesus voraussagt, so geschieht’s. Nicht nur, dass die Jünger seinen Befehl umgehend befolgen; auch ansonsten ereignet sich alles in einer Weise, wie sie dem Anspruch Jesu von vorneherein entspricht. Das Verfügungsrecht des Herrn (kyrios), das mit unrechtmäßiger Enteignung nichts zu tun hat, wird umstandslos anerkannt. Auftrag und Erfüllung koinzidieren. Als das Fohlen zu Jesus gebracht war, belegte man es mit Kleidern „und er setzte sich darauf “ (Mk 11,7). Die Inthronisation dessen, der sich anschickt, seine Herrschaft als rex Judaeorum anzutreten, ist erfolgt (vgl. 1. Kön 1,38–40; 2. Kön 9,13); der messianische Einzug in Jerusalem kann beginnen. Im Hintergrund der märchenhaft anmutenden Erzählung von der Bereitstellung des Reittiers stehen die alttestamentlichen Schriftworte Gen 49,11 und Sach 9,9, auch wenn sie bei Mk nicht eigens zitiert werden. Die erste Textstelle gehört in den Zusammenhang von Jakobs Segen über seine Söhne, näherhin über Juda, von dem es heißt: „Er wird seinen Esel an den Weinstock binden und seiner Eselin Füllen an die edle Rebe.“ Sach 9,9 hinwiederum steht geschrieben: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.“ Dass dieser Vers, auf dessen Kontext noch näher einzugehen sein wird, wie auf seine Weise auch schon Gen 49,11 und der Segen über den Herrscherstamm Juda messianisch zu deuten ist, duldet keinen Zweifel. Auf den unberührten Esel, den noch keiner als Lasttier in Gebrauch genommen hatte, sitzt der eschatische „Friedenskönig, der Streitwagen, Rosse und Kriegsbogen vernichtet und für die Völker den Frieden bringen wird“4 . Der Empfang, der dem Einzug Haltenden bereitet wird, bestätigt dies: „Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg, andere aber grüne Zweige, die sie auf den Feldern abgehauen hatten. Und die vorangingen und die nachfolgten, schrien: 4 Ebd.

Alexander und der Friedenskönig

Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt! Hosianna in der Höhe!“ (Mk 11,8–10) Wie das Ausbreiten der Kleider (vgl. 2. Kön 9,13) und frischer Zweige auf dem Weg, so sollten auch die Akklamationen mit Psalmworten (vgl. etwa Ps 118,26a) Jesus als denjenigen kenntlich machen, „der in Gottes Auftrag auftritt, nämlich als sein bevollmächtigter Messias, was im Licht von Sach 9,9 als demütiger König des Friedens zu verstehen ist“5 . Diese Feststellung hat unabhängig von der Antwort auf die Frage Bestand, ob es sich beim anschließenden Lobpreis des kommenden Reiches „unseres Vaters David“ (Mk 11,10) um einen Textzusatz handelt oder nicht. Der markinische Einzugsbericht schließt mit dem Hinweis, dass Jesus nach Jerusalem in den Tempel hineinging, um ringsum Ausschau zu halten und sich alles zu besehen: „(S)pät am Abend ging er hinaus nach Betanien mit den Zwölfen“ (Mk 11,11). So ward aus Abend und Morgen der erste Tag der Passionswoche, die Jesus dem Kreuz und der österlichen Auferstehung zuführen sollte, damit sich sein Advent in der Kraft des göttlichen Geistes vollende.6 2.

Prophetische Zeichenhandlung nach Sach 9,9f

Mit dem markinischen Text liegt die wohl „älteste Überlieferungsgestalt“7 der Szene von Jesu Einzug in Jerusalem vor. Die Berichte der übrigen Evangelien (Mt 21,1–11; Lk 19,28–40; Joh 12,12–19) gehören aller Wahrscheinlichkeit nach einem späteren Traditionsstadium an. Bemerkenswert ist, dass sowohl bei Joh als auch bei Mt im Zusammenhang der Reittierepisode der Bezug zu Sach 9,9 explizit hergestellt wird. Gemäß Joh 12,14f. fand Jesus „einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: ‚Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.‘“ Die Jünger hätten diese Zusammenhänge zuerst nicht verstanden, heißt es anschließend: „(D)och als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.“ (Joh 12,16) In einem anderen Wortlaut als beim vierten Evangelisten findet sich der Bezug auf Sach 9,9 (vgl. auch Jes 5 P. Dschulnigg, Das Markusevangelium, Stuttgart 2007, 296. 6 Zur Strukturierung der Heiligen Woche im Markusevangelium vgl. u. a. E. Klostermann, Das Markusevangelium, Tübingen 1926, 124ff. 7 R. Pesch, Das Markusevangelium. II. Teil: Kommentar zu Kap. 8,27–16,20, Freiburg/Basel/Wien 21980, 187. „Die Überlieferung der vormk Passionsgeschichte dürfte im kerygmatisierten Bericht ein Ereignis aus den letzten Tagen des Lebens Jesu vor der Ankunft im Jerusalemer Tempel festgehalten haben, dem eine ursprüngliche, von den Teilnehmern des Zuges Jesu von Jericho nach Jerusalem und auch wohl Jesus selbst intendierte messianische Bedeutung nicht abgesprochen werden kann.“ (Ebd.)

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62,10f.) bei Mt, wo es heißt: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.“ (Mt 21,5)8 Die Stelle wird ausdrücklich als Erfüllungszitat präsentiert: „Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten …“ (Mt 21,4). Die matthäische Lesart des Prophetenspruches brachte u. a. die Merkwürdigkeit mit sich, dass Jesus auf zwei Tieren reitet, auf einer Eselin und ihrem Fohlen (vgl. Mt 21,2f. sowie 7). „Ob Mt dabei den Parallelismus membrorum (sc. in Sach 9,9) nicht erkannt hat oder ihn bewußt seinem eigenen Gedanken der wörtlichen Erfüllung einer Schriftweissagung dienstbar gemacht hat, kann man nicht entscheiden.“9 Wichtiger ist ohnehin die sachliche Aussageintention, die klar zutage tritt: „Der Messias von Sach 9,9f. kommt nicht hoch zu Pferde, er wird vielmehr Kriegswagen und Waffen abschaffen und den Völkern Frieden bringen. Indem Jesus die Weissagung dieses Zitats erfüllt, zeigt sich auch sein Gehorsam gegen Gottes Wort (vgl. 4,1–11). Daß Jesus auf einer Eselin und dem Jungen einer Eselin reitet, soll als Ausdruck seiner Freundlichkeit, Friedfertigkeit und Milde verstanden werden.“10 Von Martin Luther wurde dieser Skopus klar erfasst, worauf Joachim Gnilka in seinem Kommentar zu Mt 21,1–11 eigens aufmerksam gemacht hat. Im Lichte des von Mt zitierten Prophetentextes wird dem Reformator die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem zu einem „Bild vom gnädigen Gott. Jesus zeigt sich gerade den Sündern gegenüber als gnädiger König. Er kommt nicht mit schrecklicher Pracht und Gewalt, sondern sitzt auf einem Esel, der kein Streittier ist, sondern bereit zu Belastung und Arbeit, um den Menschen zu helfen.“11 Neben demjenigen auf Luther verdient ein weiterer Hinweis Gnilkas Beachtung: Er betrifft Wolfhart Pannenbergs Deutung des jesuanischen Einzugs nach Jerusalem und die Annahme, „daß mit dem Gang in die Hauptstadt die Absicht, eine Entscheidung herbeizuzwingen, verbunden gewesen sei. Der Tod als Abschluß seines Wirkens ist für Pannenberg die Herausforderung Gottes durch Jesus.“12 Die Bemerkung findet sich in Gnilkas Kommentar zu Mk 11,1–11 und bezieht sich auf Ausführungen in Pannenbergs „Grundzügen der Christologie“ zum „proleptischen Zug im Vollmachtsanspruch des vorösterlichen Jesus“ im Kontext der zentralen These, wonach die Einheit Jesu mit Gott noch nicht durch

8 Zur Genese des Mischtextes vgl. etwa U. Luz, a.a.O., 178. 9 A.a.O., 179f. Dort finden sich auch Hinweise, warum aus dem Esel des Sacharjabuches beim ersten Evangelisten eine Eselin wurde. 10 A.a.O., 181. 11 J. Gnilka, Das Matthäusevangelium. II. Teil: Kommentar zu Kap. 14,1–28,20 und Einleitungsfragen, Freiburg/Basel/Wien 1988, 205 unter Verweis auf Luthers Adventspostille von 1522. 12 Ders., Das Evangelium nach Markus. Zweiter Teilband, 121 f.

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den in seinem vorösterlichen Auftreten implizierten Anspruch, sondern erst durch seine Auferweckung von den Toten begründet sei.13 Nach Pannenbergs Urteil „besteht kein Anlaß für die Annahme, daß der Vollmachtsanspruch Jesu für sich allein genommen den Glauben an ihn begründet hat“ (61). Beruhe dieser doch nicht auf der unmittelbaren Beanspruchung formaler Autorität, sondern auf seiner inhaltlichen Bestimmtheit, nämlich überzeugendes Zeugnis zu geben vom kommenden Gottesreich. Die konsequente Ausrichtung des Vollmachtsanspruches Jesu auf das Reich Gottes begründe sowohl dessen proleptisch-antizipative Struktur als auch seine für ihn konstitutive Anlage auf eine Bestätigung durch Gott. Der vorösterliche Jesus, so Pannenberg, beansprucht keineswegs unmittelbar göttliche Autorität, sondern weiß sich von Gott dezidiert unterschieden mit der Folge, dass er die Beglaubigung seiner Sendung in Wort und Tat ausschließlich von diesem erwartet, der allein sie zu autorisieren vermag. „Das ganze Wirken Jesu blieb also auf zukünftige Bewährung seines Vollmachtsanspruches angelegt, auf eine Bestätigung, die Jesus selbst nicht leisten konnte, eben weil und insofern es sich dabei um die Legitimierung seiner eigenen Person handelte, die an das Eintreffen des angekündigten Endgeschenes gebunden ist. … Auch die Jünger des vorösterlichen Jesus konnten seinem Vollmachtsanspruch nur folgen im Vertrauen auf seine künftige Bestätigung durch Gott selbst, bzw. durch den Vollzug des Endgeschehens.“ (59f.) Pannenbergs Deutung des jesuanischen Zuges nach Jerusalem steht unter dieser Prämisse, in deren Zusammenhang sie begegnet. Erst wenn man sehe, dass der Vollmachtsanspruch des vorösterlichen Jesus nicht durch förmliche Unmittelbarkeit, sondern durch seine Reich-Gottes-Botschaft inhaltlich vermittelt und mithin proleptisch strukturiert gewesen sei, erschließe sich der Sinn der Einzugsgeschichte: „Jesus wollte sich offenbar bewußt einer Entscheidung stellen.“ (60)14 Gnilka hat zu diesem Satz vermerkt, der Historiker müsse „kritisch fragen, ob die Quellen die Rekonstruktion einer bestimmten Absicht ermöglichen. Man wird sagen können, daß Jesus aufgrund der ihm entgegenbrandenden zunehmenden Feindschaft schon längere Zeit vor dem Ende mit dem Schlimmsten rechnete. Der tödliche Zugriff der Gegner zeichnete sich erst und überraschend schnell in der Hauptstadt ab.“15 . 13 Vgl. W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966, 47ff. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 14 Formuliert ist Pannenbergs These unter ausdrücklichem Bezug auf U. Wilckens, Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, in: W. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, Göttingen 3 1965, 42–90, wo es heißt: „Im Blick auf die Ereignisse in Jerusalem hat Jesus offenbar das eschatologische und ihn selbst endgültig bestätigende Tun Gottes erwartet; eine Verzweiflungstat jedenfalls ist der Gang nach Jerusalem gewiß nicht gewesen.“ (61) 15 J. Gnilka, a.a.O., 122.

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Wie immer es sich genau verhalten haben mag und wie immer man im gegebenen Zusammenhang die sog. Tempelreinigungsszene historisch zu beurteilen hat, an die sich im 11. Kapitel des Mk die Frage nach Jesu Vollmacht direkt anschließt: Die Prämisse, gemäß der Pannenberg die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem verstanden wissen will, dass nämlich der jesuanische Vollmachtsanspruch nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern mittelbar und proleptisch strukturiert gewesen sei, bleibt von Gnilkas Vorbehalten unberührt. Auf sie aber kam es Pannenberg wesentlich und dauerhaft an, wie erneute Bezugnahmen auf die Einzugsgeschichte im 2. Band des opus magnum der „Systematischen Theologie“ belegen können.16 In seiner „Der Weg Jesu Christi“ betitelten „Christologie in messianischen Dimensionen“ hatte Jürgen Moltmann im Anschluss u. a. an Otto Betz17 die These vertreten, Jesus sei mit den Seinen von Galiläa nach Jerusalem gezogen, damit er „seine messianische Botschaft in die Heilige Stadt“18 bringe und die Entscheidung über seinen Messianitätsanspruch herbeiführe. Moltmann nimmt an, um es mit den Worten Pannenbergs zu sagen, „daß Jesus sich durch seinen nach Sach 9,9 stilisierten Einzug in Jerusalem (Mk 11,1–11) und durch die Zeichenhandlung der ‚Tempelreinigung‘ (Mk 11,15–17) als Messias zu erkennen gegeben und daß er sich in der Verhandlung vor Kaiphas (Mk 14,61f.) und vor Pilatus (Mk 15,2) als solchen bekannt habe“19 . Pannenberg gesteht unumwunden zu, dass dies „die Meinung der Evangelisten gewesen“ (353) sei, bezweifelt aber, dass diese Auffassung „dem historischen Sachverhalt entspricht“ (ebd.). Anmerkungsweise wird darauf hingewiesen, dass Moltmanns These „nicht ohne weiteres vereinbar“ (353 Anm. 125) sei mit dessen zuvor geltend gemachten Annahme, wonach „der christliche Sinn des Messiastitels und seiner Verbindung mit dem Namen Jesu von seinem Kreuz her bestimmt sei. Jedenfalls müßte dann mit der Umformung auch einer vorgehenden Verwendung des Titels bei Jesus selbst gerechnet werden oder aber mit einer Neuinterpretation des Titels durch Jesus schon vor seinem Einzug in Jerusalem.“ (Ebd.) Unter dieser Voraussetzung könne Moltmanns Behauptung, das Volk habe Jesu An-

16 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 2, Göttingen 1991, 353f., 362, 438; vgl. ferner: ders., Systematische Theologie. Bd. 3, Göttingen 1993, 42f., wo im Zusammenhang der Ausbildung der Erwartung des kommenden Gottesreiches auf Sach 9,9f. und damit indirekt auch auf die Auszugsgeschichte Bezug genommen wird. 17 O. Betz, Probleme des Prozesses Jesu, in: H. Temporini/W. Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, Berlin 1982, 565–647. 18 J. Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989, 182. 19 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 2, 353. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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kunft in Jerusalem „als messianischen Einzug begrüßt“20 , nicht unmodifiziert bleiben. Von einem unmittelbar geltend gemachten Messianitätsanspruch des in der Heiligen Stadt einreitenden Jesus kann nach Pannenberg in keiner Weise die Rede sein. „Der Einzug in Jerusalem wird als prophetische Zeichenhandlung zu verstehen sein, die das Kommen der Gottesherrschaft nach Sacharja 9,9 darstellt, nämlich im Gegensatz zu politisch-kriegerischer Machtentfaltung.“ (353) Vergleichbares sei in Bezug auf die nachfolgende Tempelaktion zu vermuten, bei der es sich wahrscheinlich ebenfalls um eine zeichenhaft-symbolische Unternehmung gehandelt haben wird, die in prophetischer Tradition steht und zu der „keine messianische Vollmacht erforderlich“ (354) gewesen sei. 3.

Levantischer Gewaltmarsch nach Sach 9,1–8

Mk 11,1–11 ist von den Exegeten recht unterschiedlich ausgelegt worden. Häufig vermerkt wurde, dass der Text von zwei Geschehnissen berichtet, die zwar eng verzahnt, aber dennoch zu unterscheiden seien: Vom eigentlichen Einzugsbericht (Mk 11,8–11) hebe sich die Geschichte von der Bereitstellung des Reittiers erkenntlich ab. Wie hat man sich das Verhältnis beider Textteile, die Markus wohl schon in verbundener Form vorgefunden hat, genau zu denken? Zumeist wird, so auch bei Gnilka21 , das Motiv vom Eselsritt des Friedenskönigs als erweiternde Zufügung zu dem Bericht vom Einzug selbst und den Akklamationen verstanden, die ihn begleiteten. Doch sprechen auch Gründe für die Annahme, dass das Reittiermotiv am Anfang stand, an das sich der Einzugsbericht anschloss, damit sich eine Klimax ergebe. „Schon V. 1–6 weisen verhalten auf Jesu prophetische Voraussicht und königliche Hoheit hin, sofern ihr Hintergrund in Sach 9,9 erkannt wird. Wenn Jesus in V. 7–10 dann das Füllen besteigt, auf Jerusalem zureitet und die Huldigung seiner Begleiter erfährt, dann erweist er sich als jener verheißene König des Friedens, der gerecht und demütig ist, den Völkern den Schalom verkündet und ein Reich des Friedens schafft (Sach 9,9f.).“22 .

Nach Pannenbergs Urteil liegt der markinischen Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem eine prophetische Zeichenhandlung zugrunde, für die keine messianische Vollmacht erforderlich gewesen sei. Zwar hätten Mk mitsamt den anderen Evangelisten und schon, wie man hinzufügen darf, die vormarkinische Tradition die Einzugsgeschichte messianisch gedeutet. Aber dass diese – in den 20 J. Moltmann, a.a.O., 182. 21 Vgl. J. Gnilka, a.a.O., 114. 22 P. Dschulnigg, a.a.O., 293.

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Akklamationen des Volkes reflektierte – Deutung dem historischen Sachverhalt entspreche, müsse bezweifelt werden. Dieser sei viel eher in einer symbolischen Darstellung des Kommens der Gottesherrschaft zu entdecken, wie Jesus sie im Anschluss an die Tradition prophetischer Zeichenhandlungen und unter Bezug namentlich auf Sach 9,9 vollzogen habe. Der Skopus der Gleichnisaktion sei dabei primär in dem Gegensatz der von Jesus in Wort und Tat angesagten Gottesherrschaft zu jedweder Form politisch-kriegerischer Entfaltung von Macht und Gewalt zu suchen und zu finden. Dieser Gegensatz ist grundsätzlicher Natur, zugleich aber historisch profiliert etwa in Beziehung auf die Herrschaft der Römer, die Jesus als vermeintlich politischen Messiasprätendenten, der auf Aufruhr sann, aburteilten und damit auf abgründige Weise ihre die jesuanische Sendung verkennende Ignoranz bewiesen. Auch ein anderer Bezug legt sich nahe, nämlich derjenige auf den Makedonenkönig und Weltenherrscher Alexander, den man den Großen genannt hat. Seinen Spuren im Alten Testament soll des Weiteren in der Absicht gefolgt werden, an einem prominenten Fallbeispiel die Alternative zu exemplifizieren, in welcher die jesuanische Botschaft vom kommenden Gottesreich zur Herrschaft irdischer Machthaber und des Boten steht.23 Die prophetische Zeichenhandlung, dessen, der wie der Friedenskönig von Sach 9,9 in Jerusalem auf einem Esel einzieht, widerspricht der Hoffärtigkeit aller, die hoch zu Rosse sitzen und ihre Größe dadurch zu beweisen trachten, dass sie Gewalt üben, statt gerecht, sanftmütig und arm zu sein. Alexander der Große ist ein Antitypos Jesu. Diese scheinbar weit hergeholte These gewinnt an Plausibilität, wenn man den Kontext der Verheißung des Friedenskönigs in Sach 9,9f., welche im Hintergrund der prophetischen Zeichenhandlung Jesu bei seinem Jerusalemer Einzug steht, und namentlich diejenige Textpassage in Betracht zieht, welche ihr unmittelbar vorausgeht, nämlich Sach 9,1–8. In einem Beitrag für die „Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft“ von 1950 hat Karl Elliger, wie unter Vorbehalten vor ihm schon der alte Johann Gottfried Eichhorn, die These vertreten, dass das der Gattung des Orakels zugewiesene Textstück entgegen der häufig vertretenen 23 Die literarischen Spuren, die Alexander der Große (356–323 v. Chr.) im Alten Testament hinterlassen hat, sind nicht von mir entdeckt worden. Meine diesbezüglichen Kenntnisse verdanke ich im Wesentlichen einem anregenden Vortrag, den Beate Ego anlässlich des „XXI Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament“ gehalten hat, der vom 4.-9. August 2013 an der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfand; Egos Text ist publiziert in: Chr. M. Maier (Ed.), Congress Volume Munich 2013 (Supplements to Vetus Testamentum Vol. 163), Leiden 2014, 18–39: Alexander der Große in der alttestamentlichen Überlieferung – eine Spurensuche und ihre theologischen Implikationen. Darin finden sich auch forschungsgeschichtliche Bezüge, die in den nachfolgenden Erwägungen aufgegriffen sind.

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Meinung, er sei durch eine „der üblichen Strafexpeditionen der assyrischen, babylonischen oder persischen Herrscher“24 bzw. durch einen „der mehr oder weniger unbedeutenden Züge der Diadochen“ (107) veranlasst, „aus dem Jahre 332 stammt, dem Jahre, in dem die persische Herrschaft in Syrien, Phönikien und Palästina durch Alexander zusammenbrach“ (ebd.). Entwickelt hat Elliger seine These in der Absicht, „einen festen Ausgangspunkt für die Lösung des deuterosacharjanischen Problems zu gewinnen“ (64) und zwar durch Festlegung des zeitgeschichtlichen Rahmens der Kapitel 9ff. des Sacharjabuches, die sicher nicht auf einen Propheten des ausgehenden 6. Jahrhunderts zurückzuführen sind. Zur Thesenbegründung kommen insbesondere „Methoden der territorialgeschichtlichen Forschung“ (ebd.) zur Anwendung. Elliger kann wahrscheinlich machen, dass die in Sach 9,1ff. erwähnten Ortsbzw. Gebietsnamen Hadrach, Damaskus und Hamat, Sidon und Tyrus sowie Askalon, Gaza, Ekron und Asdod gut zur Situation des Jahres 332 passen. Hadrach verweist auf das „Übergangsgebiet zwischen Kleinasien, der nördlichen Mittelmeerküste und dem Zweistromland“25 , von dem Alexanders Levantezug mit der Schlacht bei Issos seinen Ausgang nahm. Damaskus ist der Ort, an dem der Tross des Dareios samt einigen prominenten Mitgliedern der königlichen Familie einer makedonischen Heeresabteilung unter Führung des Feldherrn Parmenion in die Hände fiel und in Gewahrsam gehalten wurde. Über Hamat wendet sich der Blick in Verfolg der militärischen Aktion in südwestliche Richtung dem an der Mittelmeerküste gelegenen Sidon, das klugerweise umgehend die Waffen streckte, und der erst nach monatelanger Belagerung gefallenen und niedergemachten Inselfestung Tyrus zu sowie von dort aus den Philisterstädten, denen ein unterschiedliches Schicksal zuteil wurde. An dem weit ab von der Küste im judäischen Bergland gelegenen Jerusalem ging der Alexanderkelch vorbei, „(w)as theologisch als Ausdruck des schützenden Handelns JHWHs gedeutet wird“26 . Da seine ersten Verse „offensichtlich kriegerische Ereignisse als Hintergrund (haben), die sich im Augenblick um Tyrus konzentrieren“ (79), grenzt Elliger den geschichtlichen Standort des Orakels auf den „Anfang des Jahres 332“ (109) ein. Der Sieg über den Perserkrieg im Herbst 333 bei Issos und die Erfolge Alexanders im mittleren und südlichen Syrien einschließlich Phönikiens seien bereits vorausgesetzt. „Jetzt steht der Sturm vor Tyrus. Die Inselfestung leistet Widerstand und wird wirklich Strafe erleiden. Sie vertraut auf ihre militärische 24 K. Elliger, Ein Zeugnis aus der jüdischen Gemeinde im Alexanderjahr 332 v. Chr. Eine territorialgeschichtliche Studie zu Sach 9,1–8, in: ZAW 62 (1950), 63–115, hier: 107. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf. 25 B. Ego, a.a.O., 21. 26 A.a.O., 22f.

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Stärke (3a) und ihre wirtschaftliche Kraft (3b). Der Prophet sagt ihr gründliche Zerstörung voraus: ihr Reichtum wird ihr genommen (4aa), ihre Mauer ins Meer gestürzt (4ab), und die Stadt geht in Flammen auf (4b). Im Augenblick ist sie schwer bedrängt und steht vor dem Fall. Aber noch bildet ihr Widerstand das retardierende Moment, das die Erfüllung des Geschickes des südlich benachbarten Palästina noch aufhält. Oder haben die Wogen Palästina doch schon erreicht, etwa von Damaskus her? Es scheint nicht. Desto auffälliger ist es, daß das nördliche und mittlere Palästina im folgenden mit keinem Worte erwähnt wird. Es ist, als ob der Prophet an Galiläa und Samaria überhaupt kein Interesse hat. An der Küste entlang erwartet er den Vormarsch der gottgesandten Macht. Im Philisterlande wird nun die entscheidende Wendung der Dinge eintreten, an der er den allerstärksten Anteil nimmt. Vier von den insgesamt neuen Zeilen des Orakels widmet er allein diesem Thema.“ (80) Ziel des Prophetenorakels ist es Elliger zufolge, dem damaligen Volk von Juda und Jerusalem, dessen „eigentümlich(es)“ (84) Verhältnis zu den Philisterstädten ausführlich erörtert wird, in Anbetracht möglicher bevorstehender Drangsale Trost zu spenden. Während Tyros die Zerstörung und dem Philisterstolz Ausrottung prophezeit werde, gelte Juda und Jerusalem sowie einem „Rest“ darüber hinaus der Zuspruch, dass „Jahwe sich selbst als Wache postieren wird für sein Haus“ (ebd.): Gott hat ein Einsehen mit der Not seines Volkes und ist auf dem Posten, „dass sie nie mehr ein Zwingherr überfällt“, wie Elliger Sach 9,8b übersetzt. Eine andere Übersetzung von Vers 8 des Sacharjabuches lautet: „Und so lagere ich meinem Haus als ein Postenstand / vor Vorüberziehenden und Zurückkommenden: / Und nicht noch einmal wird gegen sie vorüberziehen ein Bedränger, / denn jetzt habe ich es mit meinen Augen gesehen.“ Die zitierte Textwiedergabe stammt von Ina Willi-Plein und ist ihrem Aufsatz „Prophetie und Weltgeschichte. Zur Einbettung von Sach 9,1–8 in die Geschichte Israels“ entnommen, der 2010 in der Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags von W. Thiel erschienen ist. Wie Elliger plädiert Willi-Plein entschieden dafür, den Text in das Jahr nach der Issosschlacht. zu datieren. In Sach 9,1–8 spiegele sich ein „Moment weltgeschichtlicher Bedeutung“27 , nämlich „die Situation des Jahres 332 vor der im Juli/August erreichten Einnahme von Tyrus durch Alexander“ (311). Dazu passten alle Einzelzüge des Textes: „Sach 9,1–8 kann in der Tat am einleuchtendsten als eine Momentaufnahme der Situation im Sommer 332 v.Chr. verstanden werden, die mit dem Autoritätsanspruch schriftlicher Prophetie, 27 I. Willi-Plein, Prophetie und Weltgeschichte. Zur Einbettung von Sach 9,1–8 in die Geschichte Israels, in: P. Mommer/A. Scherer (Hg.), Geschichte Israels und deuteronomistisches Geschichtsdenken. Festschrift zum 70. Geburtstag von Winfried Thiel, Münster 2010, 301–315, hier: 302. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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aber – v.a. im Vergleich mit den anderen Worten in Sach 9–14 – in erstaunlich anspielungsfreier, wenig intertextueller Sprache und d. h. noch ganz in eigener prophetischer Verantwortung die Undurchschaubarkeit der Lage als das noch undurchschaubare Vorgehen des Wortes Gottes deutet, aber nicht entschlüsselt. Insofern bildet 9,8 zwar einen formalen Abschluß der in v.1–8 vorliegenden Worteinheit, aber einen inhaltlich offenen und nach einer lösenden Wendung rufenden Schluß.“ (313) Kann die lösende Wendung in der Aufforderung zum Jubelruf in Bezug auf die bevorstehende Ankunft des Friedenskönigs in den folgenden Zeilen gefunden werden? Willi-Plein bejaht diese Frage und interpretiert Sach 9,9f. von seiner Schlusspointe her „als Auflösung bedrängender Rätsel der Gegenwart durch den Blick auf die von Gott her eingeleitete Wende zum allgemeinen Frieden“ (ebd.): „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin. Ich vernichte die Streitwagen aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem, vernichtet wird der Kriegsbogen. Er verkündet für die Völker den Frieden; seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer und vom Eufrat bis an die Enden der Erde.“ (Sach 9,9f.)28 Der auf einem Esel helfend und Recht schaffend entgegenkommende Demutsfürst wird den Erdkreis auf ganz andere Weise zu beherrschen sich anschicken, als der militante Makedone dies tat. Man muss Alexander nicht für jenen unausstehlichen und mordlüsternen Trunkenbold halten, als den ihn sein Zeitgenosse Ephippos von Olynthos schildert, um Anlass zur Frage zu finden, „mit welchem Recht ein

28 Ina Willi-Plein führt zu diesem gehaltvollen Passus folgendes aus: „Sollte der Heroldsruf Sach 9,9–10 von Anfang an das Zielwort des prophetischen ‚Auftrags’ von 9,1–8 gewesen sein, so wäre allenfalls darin die eigenständige Aufnahme und Transformation des Sacharjawortes 2,14–15 zu erkennen und wohl auch anzunehmen, daß zumindest das Kapitel Sacharja 9 von Anfang an als Weiterführung von Sach 1–8 konzipiert wurde. Die in 2,14–15 am Beginn der Perserzeit gegebene Zusage der Rückkehr Gottes zum Zion wird erinnernd in der bedrohlichen und desorientierenden Zeit des Umbruchs aktualisiert: Es ist Gottes Wort und Anliegen, das auch hinter den beängstigenden und verwirrenden Nachrichten, die man im Süden Palästinas von den Menschen und Städte vernichtenden Kriegszügen der großen Herren vernimmt, buchstäblich zum Zuge kommt. Anders als in 2,13–15 wird aber hier nicht Gottes Kommen, sondern das Kommen von Zions Friedenskönig vorgestellt. Er ist anders als die militanten Machthaber und Eroberer; er erobert nicht, sondern er läßt sich helfen und kann dabei auf einem vielleicht störrischen, aber jedenfalls nur im Frieden brauchbaren Esel reiten. Pferd, Wagen und Waffen sollen von Gott selbst abgeschafft werden, und das wird dann auch den vielen Völkern, die in den großen Heeren hin und her marschieren, Frieden bringen. In diesem Licht gelesen enthält das Sacharjabuch Anfang und Ende der Prophetie der persischen Zeit.“ (313)

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König der Große genannt wird, dessen Wirken Tausenden und Abertausenden von Menschen Elend, Kummer und Tod brachte“29 . 4.

Der rasende Ziegenbock aus dem Westen nach Dan 8

Drei, drei, drei, bei Issos Keilerei: Ende Oktober/Anfang November des Jahres 333 v. Chr. brachten die Truppen Alexanders des Großen30 dem zahlenmäßig 29 H.-U. Wiemer, Alexander der Große, München 2005, 15. Zu den literarischen und nichtliterarischen Quellen, die aus erster oder zweiter Hand über Alexanders Leben und seine Zeit informieren vgl. 16ff., zu Ephippos von Olynthos, 29f. Aus der von Alexanders Vater 348 zerstörten Chalkidikestadt Olynthos stammt auch der um 370 v. Chr. geborene Kallisthenes, „ein jüngerer Verwandter des Aristoteles“ (27), der im Haus des Philosophen aufwuchs und gemeinsam mit ihm, dem zum Hauslehrer des dreizehnjährigen Alexanders Bestellten, „343/42 an den makedonischen Hof in Pella (kam). Von da an brachte Kallisthenes sein gesamtes Leben in der Umgebung makedonischer Könige zu, erst derjenigen Philipps und dann derjenigen Alexanders. Am Alexanderzug nahm er von Anfang an und auf Einladung Alexanders Teil.“ (28) In seinen Berichten, die wie alle zeitgenössischen im Original verloren und nur noch über Sekundärliteratur fragmentarisch zu erfassen sind, verherrlichte er Alexander, „indem er ihn als unwiderstehlichen Helden homerischen Formats schilderte und in eine übermenschliche Sphäre erhob“ (ebd.). Der Forderung der Proskynese soll er sich dennoch verweigert haben, als sein abgöttisch verehrter Heroe sie im Frühjahr 327 auch für seine makedonischen und griechischen Untertanen erhob (vgl. 137ff.). Nach Arian von Nikomedia, der dem Alexanderzug in der römischen Kaiserzeit zwei Werke gewidmet hat, begründete Kallisthenes seine Weigerung mit dem Hinweis, „dass die Proskynese allein Göttern gebühre“ (139). Wenig später musste er seinen Freimut „teuer bezahlen“ (ebd.): „entweder wurde er auf Alexanders Geheiß hingerichtet oder kam als Gefangener elend ums Leben“ (28). 30 Alexander wurde im Sommer 356 v. Chr. als Sohn des Makedonenkönigs Philipp II. und der Epirotin Olympias, einer Tochter des Molosserfürsten Neoptolemos, in Pella geboren. Sein Vater hatte die Grundlage eines makedonischen Einheitsstaates geschaffen, der Territorien des südlichen und südöstlichen Balkans unter Einschluss von Teilen Griechenlands umfasste. Nach der Ermordung Philipps durch Pausanias im Jahr 336, die er wohl nicht in Auftrag gegeben hatte, die ihm und seiner Mutter aber auch nicht ungelegen kam, trat Alexander die Regierung in Makedonien an und sicherte seine Herrschaft nach Innen und Außen (vgl. H.-U. Wiemer, a.a.O., 82ff.). Am 10. Juni 323 starb der große Makedone im Alter von knapp 33 Jahren in Babylon, nachdem ihn seine Eroberungszüge bis an die Mündung des Indus geführt hatten. (Zu den drei Alexanderzügen von der Überquerung des Hellespont bis zum Brand von Persepolis 334–330 v. Chr., vom Aufbruch aus Persepolis bis zur Ankunft an der Mündung des Indus 330–325 v. Chr. sowie vom Marsch durch die Wüste Gedrosien bis zum Ende in Babylon vgl. im Einzelnen a.a.O., 86ff., 118ff., 151ff. Zum Nachleben Alexanders im Hellenismus, in der Römerzeit, im westeuropäischen und orientalischen Mittelalter sowie in der Moderne vgl. 186ff. A.a.O. 188 erläutert Wiemer seine These, dass die „entscheidenden Voraussetzungen für das Fortwirken Alexanders über das Ende der antiken Welt hinaus .. im jüdischen Bereich geschaffen“ wurden. Der Name des Sterbeorts von Alexander, Babylon, bildete stets und nachgerade im Judentum eine „ausdrucksstarke Parabel“ (A. Nunn, Fundamente eines Mythos,

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weit überlegenen Heer des Perserkönigs Dareios III. bei dem kleinen, nicht mehr genau lokalisierbaren Ort nördlich des Flusses Pinaros am Golf von Iskenderun eine vernichtende Niederlage bei. „Der Nimbus der persischen Weltmacht und ihres großen Königs war schwer erschüttert. In offener Feldschlacht, nicht nur gegen ein Satrapenheer, sondern gegen den Herrscher selbst, war Alexander erfolgreich gewesen. Wie einst die legendären und heroisierten Kämpfer von Marathon und Salamis hatte er eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld erzielt, und dies im Lande des Gegners.“31 Begonnen hatte der kleinasiatische Feldzug der Makedonen im Frühjahr 334. Den Übergang in die Asia am Hellespont Anfang Mai hatte Alexander in ritueller Symbolik und mit deutlichen Bezügen zum griechischen Kampf um Troja und zu den Perserkriegen von 480/79 v. Chr. gestaltet. Am asiatischen Ufer jenseits von Europa angelangt, stieß er seinen Speer vom Boot aus in den Boden, um seinen und der Hellenen Anspruch auf das Land der Barbaren sinnenfällig zum Ausdruck zu bringen. Nach einem ersten Sieg am Fluss Granikos und der Einnahme von Milet, Halikarnassos und anderen mediterranen Hafenstädten hatte Alexander bald die gesamte Westhälfte Kleinasiens unter seine Kontrolle gebracht. Der gordische Knoten wurde zerschlagen, die direkte Konfrontation mit Dareios stand unmittelbar bevor. Alexander suchte sie eilends, ohne sich weiter um die Sicherung der in Anatolien eroberten Gebiete zu kümmern. Nach Überquerung des Taurus durch die Kilikische Pforte traf er im Spätherbst bei Issos auf den Großkönig und errang einen glänzenden Sieg, in dessen Konsequenz sein Zug durch die Levante lag, obwohl er nach Lage der Dinge auch direkt in die Zentren der Persermacht hätte marschieren können. Der Levantemarsch „entzog Palästina für rund ein Jahrtausend der Dominanz orientalischer Großmächte und öffnete das Land politischen Einflüssen des Westens“32 . in: Programmheft zu Jörg Widmanns Oper in sieben Bildern „Babylon“ [Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper. Libretto von Peter Sloterdijk], München 2012, 67–84, hier: 67), wobei sich das negative Image der mythischen Stadt erst in der säkularen Welt „in eine positive Kraft gekehrt“ (ebd.) hat. Traditionell war Babylon ein Symbol „für Heidentum und Götzendienst, für Böses, das zum Verschwinden verdammt ist“ (ebd.). Zur „Geschichte Alexanders des Großen“ nach wie vor lesenswert ist J.G. Droysens historiografischer Erstling, der 1833 in Berlin erschienen ist und mit dem die moderne Alexanderforschung begann. Das Werk zeigt „deutliche Züge der Hegel’schen Geschichtsphilosophie“ (St. Jordan, Hegel und der Historismus, in: E. Weisser-Lohmann/D. Köhler (Hg.), Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bonn 1998, 205–224, hier: 215). Erst Ende der dreißiger Jahre wandte sich Droysen von Hegels geschichtsphilosophischen Spekulationen ab, um seine eigene – historistische – Geschichtstheorie zu konzipieren. „Eine endgültige Trennung vom Primat Hegelschen Denkens vollzieht Droysen in seiner Historik-Vorlesung, die er zwischen 1857 und 1882/83 insgesamt 17 mal hält.“ (Ebd.) 31 H.-J. Gehrke, Alexander der Große, München 2000, 43. 32 H.-P. Kuhnen, Israel unmittelbar vor und nach Alexander dem Großen. Geschichtlicher Wandel und archäologischer Befund, in: St. Alkier/M. Witte (Hg.), Die Griechen und das

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Alexanders Unterwerfung der persischen Satrapie in der Levante 333/32 beendete die Herrschaft der persischen Achämeniden über den syrischpalästinischen Raum, die seit der 539 v.Chr. erfolgten Zerschlagung des neubabylonischen Reiches währte. Außer in den Küstenstädten Tyrus und Gaza traf Alexander auf seinem Zug durch die Levante nach Ägypten „anscheinend auf keinen nennenswerten Widerstand im Land“33 . Tyrus, die Mutterstadt Karthagos, fiel nach achtmonatiger Belagerung im August 332; an den Einwohnern wurde zwecks Abschreckung und Einschüchterung von potentiellen Widerständlern in anderen Bevölkerungsteilen ein brutales Strafexempel statuiert. Ähnlich erging es den Leuten von Gaza, die die Unterwerfung verweigert hatten.34 Bei abebbendem Nilwasser im Frühherbst 332 in Ägypten angelangt ließ sich Alexander wahrscheinlich schon in Memphis zum Pharao krönen, gründete die nach ihm benannte Stadt Alexandreia, die sich bald zur Metropole und größten Stadt des hellenistischen Ostens entwickeln sollte, und zog in die Oase Siwa, um das Amun-Orakel zu befragen und den Mythos um seine Person zu pflegen. Im April 331 brach er sodann zum Angriff auf das Zentrum der Persermacht auf. Mit der Schlacht von Gaugamela am 1. Oktober des Jahres war der als panhellenisch in Szene gesetzte Sieg Alexanders über Dareios perfekt, das Reich der Perser erkämpft und gewonnen. Die Namen der Städte Babylon, Susa, Persepolis seien nur mehr aufgelistet, ohne den Weg dorthin und über sie hinaus nach

antike Israel. Interdisziplinäre Studien zur Religions- und Kulturgeschichte des Heiligen Landes, Fribourg/Göttingen 2004, 1–27, hier: 1. 33 A.a.O., 2. 34 Zu den geografischen Rahmenbedingungen des Feldzugs entlang der Levanteküste und zu ihren demografischen Implikationen vgl. a.a.O., 5ff. Von entscheidender Relevanz war der Gegensatz zwischen den Küstenebenen und dem Bergland: „Während in den Bergen die traditionalistischen Stammesgesellschaften der Judäer und Samaritaner leben, sind die Ebenen seit der Eisenzeit von Phoenikern besiedelt. Diese standen seit der frühen Perserzeit in Kontakt mit griechischer Kultur und hatten vereinzelt wohl auch griechische Familien als Nachbarn, die als Kolonisten, Händler oder Veteranen in das Land gekommen sein konnten. Als Alexander 332 v. Chr. an der Levanteküste entlang nach Süden zog, hatte sich die Bevölkerung der großen Ebenen in Stadtstaaten organisiert, die nach dem Vorbild der griechischen Poleis ihr jeweiliges Umland als Wirtschaftsterritorium nutzten. Eine herausragende wirtschaftliche Stellung hatten seit den Tagen der Perserherrschaft die Küstenstädte Gaza, Sidon und das bedeutende Münzzentrum Tyrus inne, die unter den neuen politischen Bedingungen des Alexanderreichs und seiner Nachfolgestaaten bessere wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten durch Privilegien wie Münzprägung und Steuerfreiheit erzielten, was ihnen zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Blüte im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. verhalf.“ (6f.) Zur historischen Entwicklung Palästinas vor und nach Alexander und zu den wenigen Spuren seines Eroberungszugs, die sich dort finden, vgl. 8ff.

Alexander und der Friedenskönig

Zentralasien hinein und zu den Enden der damaligen Welt weiterzuverfolgen.35 Angemerkt sei nur noch, dass sich nach dem Tod Alexanders am Frühabend des 10. Juni 323 und nach den anschließenden Diadochenkämpfen Ptolemaios I. Soter 301 v. Chr. die Herrschaft über Ägypten und Palästina sicherte. Doch rund hundert Jahre später mussten sich die Ptolemäer endgültig aus Palästina zurückziehen und das Land den syrischen Seleukiden überlassen, die schon lange Annexionspläne gehegt hatten. Fortan gehörte das palästinische Territorium zum seleukidischen Großreich, „das unter Seleukos IV. Philopator (187–175 v. Chr.) eine gezielte Hellenisierungspolitik einleitete, und alle Teile des Landes nach dem Vorbild der syrischen Militärmonarchie gliederte, was unter Antiochus IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.) im judäischen Bergland zum Aufstand der Makkabäer und zur Entstehung des Hasmonäerreiches führte“36 . Alexanders mit levantinischen Exkursionen verbundener Zug von West nach Ost musste den Betrachtern der Szene als unaufhaltsam erscheinen. Die Schau des Sehers von Susa in Dan 8 bestätigt dies. Mit Ziegenböcken ist bekanntlich nicht zu spaßen: Sind sie erst einmal in Fahrt, hält ihren Sturmlauf nichts mehr auf; wer sich ihnen in den Weg stellt, bleibt leicht auf der Strecke. Ein Ziegenbock der besonderen Art erscheint in der Vision, von der das 8. Kapitel des biblischen Danielbuches berichtet. Dem Seher wird seine Schau in Susa, der Hauptstadt des medisch-persischen Großreiches zuteil, im dritten Jahr des Regierung des Königs Belsazar, wie eingangs gesagt wird. Mitten im Zweistromland sieht er „einen Widder mit zwei Hörnern stehen. Die beiden Hörner waren hoch, das eine höher als das andere, wobei das höhere hinten (später) emporwuchs. Ich sah den Widder gegen Westen und Norden und Süden stoßen. Kein Tier vermochte ihm standzuhalten, und es gab niemand, der vor seiner Macht hätte erretten können. Immerfort tat er, was er wollte, und ließ seiner Stärke freien Lauf.“ (Dan 8,3f.)

Der angriffslustige Widder symbolisiert, wie unschwer zu erkennen ist, das Reich, in dessen Zentrum die Erscheinung zuteil wird, und die beiden Hörner stehen für Meder und Perser bzw. ihre Könige. Noch ist der Betrachter ganz im Banne unbändiger Widderstärke, da kommt urplötzlich Bewegung ins Bild, denn ein Ziegenbock betritt nicht, sondern stürmt die Szene. „Ohne den Boden 35 Zu Alexanders Vorstellungen vom Ende der bewohnten Welt vgl. H.-J. Gehrke, a.a.O., 73ff. Nach Eroberung der persischen Gebiete in Zentralasien wandte sich der Welteroberer dem sog. Punjab zu, um im Frühjahr 326 mit seinem Heer den Indus zu überschreiten und Gebiete östlich des großen Stroms bis zu seiner Deltalandschaft hin zu erobern. Von einer Indusmündung ließ sich Alexander später aufs offene Meer hinausfahren, „bis kein Land mehr sichtbar war“ (80): finis terrae! Zum katastrophalen Rückzug durch die Gedrosische Wüste und zu den Arabienplänen, die wegen des frühen Todes nicht mehr realisiert werden konnten, vgl. 80ff. 36 H.-P. Kuhnen, a.a.O., 3.

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zu berühren“, wie es heißt, rast er – „ein auffallendes Horn zwischen den Augen“ – „von Westen“ heran, um ohne Zögern auf den medisch-persischen Widder loszugehen und ihn „mit ungestümer Gewalt“ anzugreifen (Dan 8,5f.): „Ich sah, wie er gegen den Widder vorging, wie er gegen ihn in Raserei geriet, wie er den Widder stieß und seine beiden Hörner zerbrach. Der Widder hatte nicht die Kraft, ihm standzuhalten. Der Ziegenbock warf ihn zu Boden und zertrat ihn, und es gab niemand, der den Widder vor ihm hätte retten können.“ (Dan 8,6)

Es ist offensichtlich, wer mit dem rasenden Ziegenbock aus dem Westen gemeint ist: Alexander der Große, dessen Macht alles übertraf, was bisher auf Erden gesehen war. Doch ist seine herrscherliche Herrlichkeit nicht von Dauer. Als es am Ziegenbock war, „seine Stärke voll zu entfalten“, da „brach das große Horn ab, und an seiner Stelle schossen vier beachtliche Hörner hervor nach den vier Himmelsrichtungen hin“ (Dan 8,8). N.W. Porteous, aus dessen Danielkommentar die zitierte Übersetzung stammt, spricht aus, was ohnehin fraglos feststeht: Die vier Hörner, die an die Stelle des einen großen treten, versinnbildlichen „die vier hauptsächlichen Nachfolgereiche der Diadochen“: „Makedonien und Griechenland, Kleinasien, Syrien mit Babylonien und dem Fernen Osten und schließlich Ägypten. Obwohl es andere kleinere Staaten gab, so war doch keiner von ihnen den genannten vier großen Staaten ebenbürtig, und es kann nicht überraschen, daß diese schematische Betrachtung der Verhältnisse sich dem Gedächtnis breiter, volkstümlicher Kreise einprägte. Es erscheint weniger wahrscheinlich, daß der Verfasser hier von irgendeiner Zahlentheorie beeinflußt ist. Die Vier-Reiche-Theorie hat es jedenfalls mit aufeinanderfolgenden Reichen zu tun.“37 .

So rasend schnell Alexander der Große die Weltbühne betrat, so plötzlich musste er von ihr wieder verschwinden. Mit Dan 11,3f. zu reden: Kaum wird der kriegerische König aufgestanden und auf den Plan getreten sein, um über ein weites Reich nach seinem Gutdünken zu herrschen, da wird dieses „zerbrechen und nach den vier Himmelsrichtungen auseinanderfallen“. Aus der Sicht des Danielbuches kommt allerdings nichts Besseres nach; denn was folgt, ist für das jüdische Volk wenig erfreulich, wie namentlich das Beispiel Antiochus IV. Epiphanes belegt, von dessen Zeit aus „der Schriftsteller seine Beobachtung macht“38 . Die Danielvisionen haben ihren historischen Sitz im Leben „in der Zeit der hellenistischen Krise in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., in der die Existenz des Judentums durch die seleukidische Religionsverfolgung bedroht ist“39 . 37 N.W. Porteous, Das Buch Daniel, Göttingen/Zürich 1985, 102. 38 A.a.O., 130. 39 B. Ego, a.a.O., 25.

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Diese Bedrohung nimmt der Visionär zum Anlass eines weltgeschichtlichen Rückblicks, in dem zweimal an prominenter Stelle Alexander der Große ins Auge gefasst wird. In Dan 8,1–8 wird vergleichbar der Schilderung des Siegeszuges des Perserkönigs Kyros in Jes 41,3 („Er jagt ihnen nach und zieht unversehrt hindurch und berührt den Weg nicht mit seinen Füßen.“) der Sturmlauf der Makedonen chiffriert zur Darstellung gebracht, mit dem er das Perserreich überrannte und der Vernichtung zuführte. Doch just als der wüste Ziegenbock in der Vollkraft seiner Stärke steht, bricht ihm sein großes Horn ab, und vier andere wachsen an dessen Stelle nach Ost und West, nach Nord und Süd empor. Was das geschaute Geschehen zu bedeuten hat, offenbart in Dan 8,20ff. kein Geringerer als der Erzengel Gabriel höchst persönlich.40 Der zweihörnige Widder verweist auf das Königreich der Meder und Perser, das durch Alexander, den ersten König Griechenlands, wie es heißt, mit enormer Schnelligkeit zur Strecke gebracht wurde. Doch das große Horn des mächtigen Ziegenbocks, mit dem er alles zu Tode stieß, bricht rasch entzwei, um durch vier weniger mächtige ersetzt zu werden, die auf die Diadochenreiche hindeuten. Schließlich, „wenn das Maß der Frevler voll ist“ (Dan 8,23a), wird ein „frecher und verschlagener König“ (Dan 8,23b) die Szene betreten, Antiochus IV. Epiphanes, dessen Sinnen und Trachten sich gegen das heilige Volk richtet und viele ins Verderben reißt; doch auch er, der „Frevler par excellence“41 , wird wie Alexander „zerbrochen werden ohne Zutun von Menschenhand“ (Dan 8,25): „dann wird das Heiligtum wieder sein Recht erhalten.“ (Dan 8,14) Was das genaue Verhältnis betrifft, in welches Alexander und Antiochus IV. in Dan 8,1–8 und 11,2–4 gesetzt werden, so scheint einerseits der Erstere „nur eine Etappe“42 zu sein, die auf Letzteren hinführt; andererseits kann man in der Alexanderfigur, wenn man will, bereits die prototypische Vorwegnahme des gottlosen Seleukiden entdecken, den seine Hybris zu Fall bringt. Zu denken ist dabei an Alexanders Bestreben, als Erbe des persischen Großkönigs die Proskynese für sich zu reklamieren. Was schon bei seinen Landsleuten auf wenig Gegenliebe stieß43 , musste bei frommen Juden blankes Entsetzen hervorrufen: 40 Zum Problem, warum Alexander mit einem Ziegenbock und nicht mit einem Widder verglichen wird, der seit dem Besuch in der libyschen Wüste bei Zeus-Ammon traditionell als sein Symboltier fungiert, in Dan 8,1ff. aber das Reich der Meder und Perser bezeichnet, vgl. a.a.O., 26 und den dort angegebenen Forschungsbericht. 41 A.a.O., 25. 42 A.a.O., 27. 43 Kniefällige Verehrung „war nach makedonischer wie griechischer Vorstellung überhaupt nur im Umgang mit Göttern angemessen. Menschen gegenüber in die Knie zu gehen, war Sache von Sklaven.“ (H.-J. Gehrke, a.a.O., 64) Griechen und Makedonen galt Herrscherproskynese daher generell als Symbol für Despotie: „Was Alexander zu vereinigen trachtete, die Würde des makedonischen und des persischen Königs, prallte hier unversöhnlich aufeinander.“ (Ebd.)

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Gott und Gott allein ist derjenige König, vor dem sich aller Knie zu beugen haben, wohingegen ein irdischer Herrscher, der Proskynese und gottgleiche Verehrung verlangt, als ein gottwidriger Frevler und Lästerer zu beurteilen ist.44 5.

Der Fall des Großkönigs nach 1. Makk 1,1–7

In den beiden bisher erwähnten Texten blieb Alexander der Große anonym und wurde nicht explizit beim Namen genannt. Seine „erste und einzige namentliche Nennung“ (Ego, 28) im Alten Testament findet sich in 1. Makk 1,1–7. Das in seiner hebräischen Urfassung verlorene, nur auf Griechisch und in anderen Übersetzungen überlieferte 1. Makkabäerbuch gehört zwar zum LXX-, nicht aber zum palästinensischen Kanon. Ungeachtet des Streits um ihren kanonischen Rang sind die Makkabäerbücher spannend zu lesende Texte. Das erste von ihnen beschreibt die jüdische Befreiung von der Unterdrückung durch den Seleukidenherrscher Antiochus IV. Epiphanes in den Jahren 167 bis 164 v. Chr. und die Errichtung einer makkabäischen Dynastie.45 Es setzt ein mit einem Bericht über Alexander den Großen und die Entstehung des Reiches der Diadochen, wo es heißt: „Und es geschah, nachdem Alexander, der Sohn des Philippos, der Makedonier, aus dem Land Chettim herangezogen war, und Dareios, der König der Perser und Meder geschlagen hatte, da wurde er, der vorher schon über Griechenland geherrscht hatte, statt seiner König. Und er führte zahlreiche Kriege, eroberte Festungen und tötete die Könige der Erde. Und er zog weiter bis zu den Enden der Erde und machte Beute bei vielen Völkern, und die Erde wurde still vor ihm. Und er wurde stolz und sein Herz wurde hochmütig. Und er stellte ein gewaltiges Heer zusammen und wurde Herrscher 44 Welche Auswirkungen die Konzepte hellenistischer Königsherrschaft seit Alexander auf das Verständnis und die Rede vom Gott Israels hatten, untersucht unter besonderer Berücksichtigung frühjüdischer und der sog. deuterokanonischen Schriften der Septuaginta B. Schmitz in dem Beitrag „Tradition und (Er-)Neuerung. Die Rede von Gott in jüdisch-hellenistischer Literatur“, in: ThLZ 141 (2016), 722–736. Genauer in Betracht kommt die theologische Bedeutung folgender dem König zugeschriebener Epitheta: Epiphanes, Soter, Energetes und Ktistes. 45 Näheres zur Entstehungsgeschichte des Buches und zu Beginn und Verlauf des jüdischen Aufstands unter dem Priester Mattathias und seinen Söhnen Judas, Jonathan und Simeon bis zum Jahr 135 v. Chr. findet sich bei K.-D. Schunck (Hg.), Jüdische Schriften aus hellenistischjüdischer Zeit. Bd. I/4: 1. Makkabäerbuch, Gütersloh 1980. Der Text von 1. Makk. wurde ca. 120 v. Chr. verfasst, aller Wahrscheinlichkeit nach in Jerusalem, wo das nötige Archivmaterial zur Verfügung stand. Autor war „ein der Familie der Makkabäer treu ergebener, national gesinnter und zugleich dem Gesetz fest verbundener Jude“ (a.a.O., 292). Sein aus einem verlorenen hebräischen Original ins Griechische übersetzte Werk setzt ein mit Bemerkungen zu Alexander dem Großen und der Aufteilung seines Riesenreiches unter die Diadochen.

Alexander und der Friedenskönig

über die Länder von Völkern und Fürsten, und sie wurden ihm tributpflichtig. Dann aber wurde er bettlägerig und merkte, dass er sterben würde. Und er rief seine Offiziere, angesehene Leute von Jugend auf mit ihm vertraut, und teilte sein Königreich unter ihnen auf, während er noch lebte. Und Alexander hatte zwölf Jahre als König geherrscht, als er starb.“ (1. Makk. 1,1–7; Übersetzung LXX Deutsch) Mit dem Land Chettim bzw. Chittim, von dem der große Makedone auszog, die Welt zu erobern, ist wie in 1. Makk 8,5 Gesamtgriechenland gemeint. Unter Alexanders Erfolgen wird als erster der Sieg gegen Dareios III., den letzten der Achämeiden, eigens erwähnt. Die Schilderung der weiteren Kriegszüge erfolgt eher pauschal. Bei dem Passus, wonach der siegreiche Held stolz und hochmütig wurde, dürfte es sich um einen späteren Zusatz handeln. Er „hat wahrscheinlich den Anspruch Alexanders auf Vergöttlichung, der für Juden besonders anstößig sein musste, im Auge“46 ; zu vergleichen ist Ps 22,29f. oder was im Estherbuch 3,1f. über Mordechais Verweigerung der Proskynese gegenüber Haman gesagt ist. Dazu fügt sich trefflich der unvermittelte Vermerk von plötzlicher Erkrankung, Sterblichkeitserkenntnis und eines raschen Todes ebenso wie die lakonische Bemerkung, Alexander sei zwölf Jahre König gewesen, als er starb. Darauf folgt der Verweis auf die Machtkämpfe und auf die Herrschaft der Diadochen bis der, wie es heißt, „sündhafte Sproß“ (1. Makk 1,10) die Szene betritt, um Frevel zu bereiten und Unheil anzurichten: Antiochus IV. Epiphanes. Die finstere Erscheinung des Seleukiden bildet den Skopus, auf den der Kurzbericht 1. Makk 1,1–7 hingeordnet ist: „Ungefähr 160 Jahre bewegter Weltgeschichte werden hier in nur wenigen Zeilen komprimiert. Im Anschluss an die Überlieferungen wendet sich der Autor des 1. Makkabäerbuches in einer nur aus zwei Versen bestehenden Notiz den Diadochen zu (1 Makk 1,8f.), um dann gleich in epischer Breite von dem frevelhaften Antiochus und seinen Machenschaften zu erzählen, die Israel in der Zeit der Makkabäer in eine große Bedrängnis brachte (1 Makk 1,10–6,16).“47

Erneut ist zu fragen, in welches Verhältnis Alexander zu dem Schandbaren gesetzt wird. Mag die Bewertung des großen Makedonen in Dan 8,1–8; 11,2–4 noch mit einer Ambivalenz versehen sein, so fällt sie nun eindeutig negativ aus. Explizit wird von der Hybris Alexanders gesprochen. Dass er im Zuge seiner militärischen Erfolge als Großkönig „göttlichen Status für sich beanspruchte“48 , hatte seinen raschen Fall zur Folge, der als vom wahren Gott gewirkt zu gelten 46 K.-D. Schunck, a.a.O., 298 Anm. 3b. 47 B. Ego, a.a.O., 29. 48 A.a.O., 30.

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hat, der die Hochmütigen vom Thron stößt und in bodenlose Abgründe stürzen lässt. In diesem Sinne fungiert Alexander „geradezu als eine Art ‚Typus‘ für die Gestalt des frevlerischen Antiochus“ 49 . Der Makedonenkönig und Weltenherrscher Alexander wird der Große genannt, und auf seine Weise ist er gewiss groß gewesen und bis heute geblieben. Seine Biografie, sein Werk und seine Wirkung sind in Europa und darüber hinaus fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. „In der gesamten Weltliteratur gibt es keine geschichtliche Persönlichkeit, die die gleiche bedeutsame Rolle spielt und die so oft und so vielgestaltig in Geschichtsbüchern, Epen, Romanen und Legenden, Liedern und dramatischen Dichtungen, in frommen Erbauungsbüchern und in prophetischen Offenbarungen dargestellt wurde wie Alexander der Große. Räumlich umfaßt der Bereich dieser Literatur das ganze Gebiet von Island bis zur Wüste Sahara und bis Äthiopien und von Spanien bis nach China und den Sundainseln, und in rund 35 Sprachen dieses Gebietes wurde von ihm, mündlich und literarisch, erzählt.“50 Bezieht man diese Feststellung auf den dargelegten alttestamentlichen Befund, dann könnte der Kontrast kaum eklatanter ausfallen: Im Alten Testament stellt der große Alexander eine randständige Figur dar. Lediglich an drei Stellen hat er literarische Spuren hinterlassen und auch das nur, wenn man Sach 9,1–8 mit dem Levantefeldzug des makedonischen Heeres verbindet, was keineswegs alle Exegeten tun.51 Dabei fällt die Bewertung seiner Erscheinung problematisch und in der Gesamttendenz negativ aus. Erst bei Flavius Josephus begegnet im jüdischen Kontext „eine narrativ ausgestaltete und zudem sehr positive Alexanderfigur“52 . Der große Makedone erscheint nun „als Verehrer des einen Gottes und als Freund und Förderer des jüdischen Volkes“53 . Zu denken ist an die legendäre Szene, die Josephus in seinen Jüdischen Altertümern (11,8) erzählt, wonach Alexander nach der Niederwerfung Gazas „Jerusalem besucht und Jahwe durch ein Opfer im Tempel 49 Ebd. Zu weiteren Entsprechungen von Alexander und Antiochus im 1. Makkabäerbuch vgl. a.a.O., 30f., zu eventuellen sonstigen „Alexanderspuren“ im Alten Testament, 34ff. 50 Art. Alexanderroman, Einleitung (E. Sch.), in: Kindlers Literaturlexikon Bd. 1: Werke A-Cu, Zürich 1965, 389f.; die Kursivierung wurde nicht übernommen. 51 Anders urteilt etwa P.L. Redditt, Zechariah 9–14, Stuttgart 2012, der Sach 9,1ff. auf die erste Hälfte der persischen Periode der Geschichte Israels datiert und zum Bericht eines Unternehmens erklärt, das nicht ein irdischer Befehlshaber, sondern Gott selbst ausgeführt habe. Für A. Kunz, Zions Weg zum Frieden. Jüdische Vorstellungen vom endzeitlichen Krieg und Frieden in hellenistischer Zeit am Beispiel von Sacharja 9–14, „legt sich eine zeitliche Verortung des Textes in die ausgehende Ptolemäerzeit und den Beginn der seleukidischen Herrschaft in Palästina nahe“ (7). Zur Forschungsgeschichte vgl. etwa D.L. Petersen, Zechariah 9–14 and Malachi, London 1995, 3ff. 52 B. Ego, a.a.O., 85. 53 Ebd.

Alexander und der Friedenskönig

seine Reverenz erwiesen“54 habe. Man hat vermutet, dass hinter dieser „fadenscheinigen Erfindung“ (106) möglicherweise „eine jüdische Gesandtschaft an Alexander“ (ebd.) stecke, und die Ausgestaltung der Geschichte auf das Milieu der größten jüdischen Gemeinde der hellenistischen Welt zurückgeführt, nämlich derjenigen im ägyptischen Alexandreia, die Alexander als „ihren Gönner und Beschützer“ (188) angesehen habe. („In Alexandreia entstand schließlich auch die aus dem Propheten Hesekiel herausgesponnene Legende, Alexander habe den am Ende der Tage drohenden Einfall der Völker Gog und Magog dadurch aufgehalten, dass er im äußersten Norden eine eiserne Mauer errichtete.“ [Ebd.]) Über die Richtigkeit dieser Zuordnung und den tendenziösen Charakter der Alexanderdarstellung von Flavius Josephus ist hier nicht zu urteilen. Konstatiert sei nur noch, dass das Neue Testament zwar einige Alexandroi, nicht aber Alexander den Großen erwähnt. Auch im altkirchlichen und im späteren christlichen Schrifttum wurde seine Gestalt eher reserviert behandelt. Erhalten hat sich der Vergleich des Makedonen mit einem Ziegenbock, der als tragos aigon bzw. hircus caprarum bei griechischen und lateinischen Kirchenvätern begegnet. Ob man die symbolische Charakterisierung als passend empfindet oder nicht55 : sie verbindet die christliche Einschätzung der geschichtlichen Erscheinung Alexanders mit derjenigen, die sich im Danielbuch und dann unter ausdrücklicher Nennung des Alexandernamens im 1. Buch der Makkabäer findet, wo der große Makedone kometenhaft aufsteigt, aber ebenso rasch verglüht. Nachdem er bis ans Ende der Welt gelangt war, viele Völker ausgeplündert und die ganze Erde unterjocht hatte (vgl. 1. Makk 1,3), ergriff ihn und sein Heer Hochmut, der den baldigen Fall zur Folge haben sollte: Zwölf Jahre regierte Alexander, dann starb er, heißt es lakonisch (vgl. 1. Makk 1,7). Mit dem Schluss der im Jahr 1397 vollendeten baierischen Fassung des „Großen Alexanders“ zu reden, eines mittelhochdeutschen Reimpaarepos zum Thema herrscherlicher superbia und irdischer Vergänglichkeit: „Der Kayser wirt zu ainem mist“ (v. 6452).56 54 H.-U. Wiemer, a.a.O., 106. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 55 Der berühmte Altphilologe Manfred Fuhrmann hat den Ziegenbockvergleich bei Gelegenheit als „wenig passend“ (M. Fuhrmann, Die Mönchsgeschichten des Hieronymus. Formexperimente in erzählender Literatur, in: Entretiens sur l’antiquiuté classique tome XXIII, Genf 1977, 41–99, hier: 41) qualifiziert, sich aber zugleich und wiederholt dafür ausgesprochen, dass sich klassische Philologie und Altertumswissenschaft bei ihrem Bemühen um die geistigen Ursprünge der europäischen Kultur in Studium und Unterricht nicht nur mit den Traditionen der paganen Antike, sondern etwa auch mit der griechischen und lateinischen Kirchenväterliteratur, mit der Vulgata und der Septuaginta etc. beschäftigen sollten, was die Beschäftigung mit dem Hebräischen und den jüdischen Überlieferungen notwendig mit sich führe, ohne welche die literarischen Zeugnisse des frühen Christentums nicht zu verstehen seien. 56 Zit. n. C. Händl, Der Große Alexander, in: W. Killy (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 1, München 1988, 104f., hier: 105.

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Schlimmer noch: Im 1. Makkabäerbuch und ähnlich auch im Danielbuch wird der makedonische Weltenherrscher zum Ahnherrn des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes erklärt, der durch sein unstatthaftes Eingreifen in Querelen um das Jerusalemer Hohepriesteramt und seine gewaltsame Hellenisierungspolitik den makkabäischen Aufstand im Jahr 166 v. Chr. provozierte und den Gesetzestreuen seither als Inbegriff eines gottlosen Despoten galt. Sach 9,9 stellt dem – wie immer man den historischen Sitz im Leben der vorhergehenden Verse zu beurteilen hat – ein ganz anderes Herrscherkonzept entgegen, an das Jesus bei seinem Jerusalemer Einzug anschließt: Dort der göttliche Alexander und seine divinisierten Nachfolger bis hin zum Divus Augustus, hier der auf einem Esel reitende Friedenskönig von Sach 9,9, in dem Jesus seinen alttestamentlichen Typos erkennt, um nach Karfreitag und Ostern im Pfingstgeist von den Seinen als der Messias bekannt zu werden, der durch sein Leiden und Sterben „dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium“ (2. Tim 1,10). Auch wenn der Christus Jesus gelegentlich als ein Messias der Macht verkannt wurde, der den Feinden Israels und der Kirche mit Gewalt Herr zu werden trachtete57 , so ist er in Wahrheit doch der Überwinder der Welt nicht in Gestalt eines machthabenden Herrschers, sondern als der Crucifixus, der die Schwachen stärkt, den Kraftlosen Mut verleiht und diejenigen, die dem Abgrund des Bösen verfallen sind, zu bekehren und in den Himmel zu führen vermag.

57 Zum Missverständnis, Jesus sei ein neuer David im Sinne eines Gegenkönigs Roms, der vom Joch der Besatzungsmacht zu befreien verspreche und zu anderen Fehlbestimmungen der Messianität dessen, der auf die Welt gekommen ist, um ans Kreuz zu gehen vgl. u. a. E. Drewermann, Das Markusevangelium. 2. Teil: Mk 9,14–16,20, Olten/Freiburg i. Br. 1988, 166–187. Der David redivivus, der als alttestamentlicher Typos der Messianität des auferstandenen Gekreuzigten fungiert, „verkündet die Vernichtung der Rosse und Streitwagen aus Jerusalem und den Frieden für alle Völker und die ganze Welt (Sach 9,9–10). Wie weit und wie direkt die grotesk utopische Ikone des Königs auf seinem friedlich dahintrottenden Esel als Gegenbild zu Alexander konzipiert ist, bleibt ungewiss. So oder so ist es ein provokatives Kontrastbild zu einer der dominierenden Alexander-Ikonen. Diese zeigt den König, wie er von einem sich aufbäumenden Pferd aus seine Gegner niederzwingt.“ (O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Göttingen 2007, 1131 unter Verweis auf den Alexandersarkophag von Sidon und das Alexanderschlacht-Mosaik von Pompeji)

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Zehn Worte der Weisung Der Dekalog als Inbegriff der Tora und seine Bedeutung für das Christentum

1.

Die christologische Neubegründung des Gottesrechts nach Pannenberg

Im II. Kapitel des 7. Paragraphen seiner „Grundzüge der Christologie“1 von 1964, der den Kreuzestod Jesu als stellvertretendes Strafleiden zum Thema hat (vgl. 251–288), handelt Pannenberg von Jesu Selbstverständnis und vom Verhängnischarakter seiner Verurteilung (vgl. 257–265), die er in ihrem innersten Grund auf einen Konflikt mit dem jüdischen Gesetz zurückführt. In den sog. Antithesen der Bergpredigt und in Akten der Sündenvergebung, die er vornahm, habe Jesu den Vollmachtsanspruch seiner Reich-Gottes-Sendung der Autorität der mosaischen Tora in einer Weise entgegengestellt, die zum Streit und zwar zu einem theologischen Streit führen musste. Auch seine demonstrativen Tischgemeinschaften mit gesetzeswidrigen Sündern konnte frommen Juden nicht anders als „unerträglich und gotteslästerlich“ (258) erscheinen. Mag die zur schließlichen Verurteilung durch die Römer führende Anklage konkret durch bestimmte Vorfälle wie etwa sein Auftreten im Tempel (Mk 11,15–17) bzw. sein Wort gegen ihn (Mk 14,58) veranlasst worden sein, der tiefere Grund des Konflikts ist Pannenberg zufolge „gewiß im Ganzen des Auftretens Jesu zu suchen, und zwar in der Weise, wie er sich über das Gesetz hinweggesetzt und die Autorität Gottes selbst für sein Auftreten in Anspruch genommen hatte“ (ebd.): „Der Vorwurf der Gotteslästerung (Mk 14,64) durch die Inanspruchnahme einer nur Gott zukommenden Vollmacht dürfte das eigentliche Motiv für das Vorgehen der jüdischen Behörden gegen Jesus gewesen sein, was auch immer die Vorwände im einzelnen gewesen sein mögen, mit denen die Anklage selbst arbeitete. Erst recht kommt der Vorwand, unter dem Jesus den Römern überliefert wurde, die Anklage des Aufruhrs durch den angeblichen Messiasprätendenten, für ein tieferdringendes Verständnis der Ursachen der Verwerfung Jesu nicht in Betracht. Jesus dürfte die Bezeichnung als Messias ja ausdrücklich zurückgewiesen haben.“ (258f. unter Verweis auf 224 Anm. 21)

1 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh2 1966. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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Es ist der Gesetzeskonflikt, der die Ursache für die Anklage Jesu abgab. Jesu eschatologische Verkündigung war gemäß Pannenberg in Wort und Tat darauf angelegt, zwischen der Autorität des mosaischen Gesetzes und dem Rechtswillen des Gottes Israels zu unterscheiden, dessen kommendes Reich vollmächtig anzusagen er sich berufen wusste. Diese Unterscheidung musste den jüdischen Zeitgenossen als hoch problematisch erscheinen, weil ihnen die Tora als unmittelbar göttlich autorisiert galt. Ihr wesentlicher Grund, Jesus dem Tode am Kreuz zu überliefern, ist damit benannt. Besteht er rechtens? Diese Frage ließ sich nach Pannenberg vor Ostern nicht eindeutig beantworten, weil der jesuanische Vollmachtsanspruch in seiner eschatologischen Ausrichtung und proleptischen Struktur auf Bestätigung durch Gott angelegt war. Wäre diese ausgeblieben und der Gekreuzigte im Grabe belassen worden, hätte seine Reich-Gottes-Botschaft und seine Einstellung zum Gesetz als falsifiziert zu gelten. „Erst von der Auferweckung Jesu her erhält alles ein anderes Licht. Wenn die Auferweckung Jesu von den Toten nur als eine Tat Gottes selbst an Jesus, somit nur als Bestätigung seines vorösterlichen Auftretens verstanden werden konnte, dann stürzt sie das begründete Urteil der Juden um. Wenn Jesus wirklich auferweckt worden ist, dann – und nur dann – ist nicht Jesus, sondern der, der ihn im Namen des Gesetzes verwarf, der Gotteslästerer gewesen. Ja, sogar noch mehr: Wenn der im Namen des Gesetzes verworfene Jesus von Gott auferweckt worden ist, dann ist damit das überlieferte Gesetz selbst als zumindest unzulänglicher Ausdruck seines Willens enthüllt.“ (261)

Nun aber ist Jesus, wie Pannenberg im grundlegenden ersten Teil seiner Christologie ausführlich dartut (vgl. 47ff.), tatsächlich auferweckt worden und kraft des Geistes in seiner Einheit mit Gott österlich offenbar, worauf im Grundsatz folgt: „(D)as Gesetz der Juden – und mithin das Judentum selbst als Religion – ist abgetan.“ (261) Paulus habe dies „im Unterschied zu anderen urchristlichen Richtungen“ (ebd.) im Grundsatz begriffen. Wie von keinem anderen sei von ihm „die Entmächtigung des Gesetzes durch das Kreuz des Auferstandenen erkannt“ (262) worden. „Christus ist des Gesetzes Ende, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.“ (Röm 10,4) Was ist damit genau gesagt? Auf diese Frage und auf das Problem, wie man sich das Verhältnis des in der Auferweckung des Gekreuzigten offenbaren Rechtswillens Gottes zum mosaischen Gesetz präzise zu denken hat, ist Pannenberg nach Publikation der „Grundzüge der Christologie“ wiederholt zurückgekommen. Als entscheidend war bereits dort die Verhältnisbestimmung zwischen Gesetzesforderung und Liebesgebot identifiziert worden, auf das Jesus seine Toraauslegung konzentriert habe (vgl. 262ff.). Wie verhält sich die Gerechtigkeit, die um der Vergleichgültigung der Differenz von Recht und Unrecht zu wehren, notwendigerweise zu richten hat, zur Macht der Liebe, die

Zehn Worte der Weisung

den Ungerechten zu rechtfertigen gewillt ist, der auf sie vertraut? Inwiefern kann das Evangelium Jesu Christi nicht nur als Ende des Gesetzes, sondern zugleich als dessen Vollendung gelten? In seinen „Grundzügen zur Christologie“ hat Pannenberg bezüglich dieser Fragen selbst Differenzierungsbedarf angemeldet: „Uns scheint, daß die Erkenntnis des fundamentalen strukturellen Unterschiedes der Liebe vom Gesetz innerhalb der beide umgreifenden Thematik des Rechtlichen (in der Mehrsinnigkeit des Wortes) hier noch vertieft werden muß. Dann läßt sich vielleicht verstehen, daß einerseits die Geltung der jüdischen Rechtstradition durch ihren Konflikt mit Jesus ihr Ende gefunden hat und daß andererseits der in ihr ursprüngliche lebendige Gotteswille die neue und endgültige Gestalt des Liebesgebotes Jesu, oder vielmehr der in seinem Auftreten und Geschick offenbaren Macht der Liebe erhalten hat.“ (264)

Vertiefungen und Differenzierungen der geforderten Art hat Pannenberg unter Rückgriff auf die bereits 1963 in der „Zeitschrift für Evangelische Ethik“ erstmals erschienenen Erwägungen „Zur Theologie des Rechts“2 vor allem in den breit angelegten Ausführungen zur Thematik von „Gesetz und Evangelium“ im dritten Band des opus magnum seiner „Systematischen Theologie“ eingebracht.3 Die christologische Grundlegung hierfür erfolgte im vorhergehenden Band, in welchem gezeigt wird, wie Jesus seine Auslegung der göttlichen Rechtsforderungen vom Anspruch der Zukunft Gottes auf die Menschen her begründete, welche Begründung österlich bestätigt und zum Fundament eines evangeliumsgemäßen Gerechtigkeitsverständnis wurde, welches alle gesetzlichen Bestimmungen einschließlich derjenigen der mosaischen Tora vom Liebesgebot her aufhebt.4 Auf dieser Basis werden zunächst das heilsgeschichtliche Verständnis des Gesetzes bei Paulus (75–85), die altkirchliche und mittelalterliche Deutung des Evangeliums als „nova lex“ (85–94) sowie die reformatorische Lehre von Gesetz und Evangelium (94–103) entfaltet. Der abschließende Teil handelt von der christlichen Gesetzesfreiheit und vom Rechtswillen Gottes. In ihm zieht Pannenberg die Summe aus den geschichtlichen Erörterungen und bringt zusammenfassend seine eigene Position zur 2 Ders., Zur Theologie des Rechts, in: ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 11–40. „Geschrieben zu einer Zeit, als die Diskussion von der christologischen Rechtsbegründung auf der einen, naturrechtlichen Ansätzen in der Rechtsphilosophie auf der andern Seite bestimmt wurde, sucht dieser Beitrag im Rückgriff auf Hegels Rechtsphilosophie ein christlichen Prinzip der geschichtlichen Wandelbarkeit des Rechts zu gewinnen, wobei dann aber auch schon im Horizont der Zukunft der Gottesherrschaft die Zusammengehörigkeit und Unterscheidung von Kirche und Gesellschaft in den Blick kommt.“ (A.a.O., 5 [Vorwort]) 3 Vgl. ders., Systematische Theologie. Bd. III, Göttingen 1993, 71–113. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk. 4 Vgl. bes. Kap. 10 in: ders., Systematische Theologie. Bd. II, Göttingen 1991, 365ff.

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Darstellung. Die diesbezüglichen Passagen zählen zu den bedeutendsten, aber nach meinem Urteil zugleich deutungsbedürftigsten Abschnitten des Gesamtwerks, für dessen systematische Organisation sie entscheidend sind. Besagte Diskussionsbedürftigkeit hat Pannenberg selbst angezeigt, nachgerade im Bezug auf den Apostel Paulus, dessen Aussagen über das Gesetz „viele Fragen offen“ (85) ließen: „so manche wirklichen und scheinbaren Widersprüche in ihnen sollten in der Geschichte des christlichen Denkens immer wieder als Herausforderung zu genauerer Klärung wirken.“ (Ebd.) Die nachfolgenden Überlegungen zum Dekalog als Inbegriff der Tora nehmen diese Herausforderung in einer bestimmten, zugestandenermaßen sehr eingeschränkten Hinsicht wahr und zwar mit der Intention, im Stile von Prolegomena einen ersten Anstoß zur fälligen Diskussion zu geben. Motiviert sind die Erwägungen primär von dem bereits angesprochenen Problem rechter Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Liebe sowie von der Frage, ob die auf ihre innere Mitte zurückgeführte Tora unter christlichen Bedingungen nur als vorläufige Ausdrucksgestalt des Rechtswillen Gottes oder nicht als eine Weisung mit universalem und in gewisser Weise zeitinvariantem Geltungsanspruch angesehen werden kann, insofern sie allgemeinverbindlich umschreibt, was die Bestimmung des Menschen als Gottes Geschöpf darstellt und gebietet. Nicht nur für die theologische Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium sowie die theologische Interpretation des Todes Christi, auch für den religiösen Bezug von Christentum und Judentum ist die Antwort auf diese Frage von weichenstellender Relevanz, wie sich unschwer erkennen lässt. 2.

Die Zehnzahl der Gebote und ihre Zählung

Der Worte biblischer Weisung sind viele. Sie auf zehn zu konzentrieren, liegt aus didaktischen Gründen nahe. Der Mensch hat zwei Hände mit jeweils fünf Fingern, was insgesamt zehn ergibt. Die Zehnzahl stellt entsprechend ein grundlegendes Ordnungsprinzip für Angelegenheiten dar, die den Menschen betreffen. Es überrascht daher nicht, wenn die Vielzahl biblischer Weisungsworte dekalogisch geordnet ist. „Die Zehn hat primär mnemotechnische Absicht und Bedeutung und dies ‚naturgemäß‘ in den verschiedensten Kulturen und seit den ältesten Zeiten.“5 Dass das Dezimalsystem für die Ordnung dessen, 5 L. Perlitt, Deuteronomium. 1. Teilband: Deuteronomium 1–6, Neukirchen 2013 (Biblischer Kommentar Altes Testament Bd. V/1,1), 460. Bei Perlitt finden sich umfangreiche Literaturhinweise zur Forschungs- und Textgeschichte sowie zur Exegese des Dekalogs (449–453). Ferner wird sehr gehaltvoll über die Probleme der Bezeichnung, der Zehnzahl, der Zählung, der zwei Tafeln, der uneinheitlichen Reihung und des „Sitzes im Leben“ der Gebote informiert

Zehn Worte der Weisung

was als „Zehngebot“ firmiert, ursprünglich formgebend war, ist nicht wahrscheinlich. „Für Entstehung und Wachstum des Dekalogs war die Zehnzahl nicht Ausgangspunkt, sondern eine Chiffre am Ende der Entwicklung für die Dignität der Reihe: Was man an den 2mal 5 = 10 Fingern abzählen kann, ist merk-würdig.“6 Der Begriff Dekalog stammt aus dem Griechischen, näherhin aus der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, in welcher in Bezug auf Dtn 4,13 und Dtn 10,4 von hoi deka logoi die Rede ist. In der sog. ökumenischen Einheitsübersetzung wird der erste der beiden Verse wie folgt wiedergegeben: „Der Herr offenbarte euch seinen Bund, er verpflichtete euch, ihn zu halten: Die Zehn Worte. Er schrieb sie auf zwei Steintafeln.“ Auch Dtn 10,4 spricht von zehn Worten auf zwei Tafeln. Vom Deuteronomium, dem sog. zweiten nomos her scheint der Dekalog-Zehnwort-Terminus dann auf Ex 20 (vgl. Ex 34) als der Erstfassung der in Dtn 5 in variierter Form wiederholten bzw. wiederbegegnenden Weisungsworte zurückbezogen worden sein. Im Deutschen ist es üblich geworden, in Bezug auf Ex 20,2ff. und Dtn 5,6ff. von den Zehn Geboten zu sprechen. Abgesehen davon, dass die Zehnerordnung den Textbeständen selbst nicht zu entnehmen, sondern rezeptionsgeschichtlicher Natur ist, bleibt klärungsbedürftig, wie sich der Begriff „Gebot“ zu dem hebräischen „mizwa“ und zu der apodiktischen Verbotsform verhält, in welcher die Mehrzahl der sog. Zehn Gebote überliefert sind. Auch unter Voraussetzung ihrer dekalogischen Ordnung variiert die Zählung der im Deutschen Zehn Gebote genannten Worte der Weisung und zwar nach den Grundmustern des Weglassens, des Zusammenziehens oder des Zweiteilens7 . Welche Systematisierungsinteressen dabei jeweils am Werke sind, bedarf ebenso der Einzeluntersuchung wie die Motivik der Aufteilung der Weisungsworte auf zwei Tafeln und der unterschiedlichen Weisen, in der sie (458–470), sodann über die Doppelüberlieferung samt Prioritätsfrage (471–481). Ergänzungen zu Ex 20,1–21 werden beispielsweise von Chr. Dohmen (Exodus 19–40. Übers. und ausgel. von Chr. Dohmen [Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament], Freiburg/Basel/Wien 2004, 82–137), zu Dtn 5,6–21 von T. Veijola (Das 5. Buch Mose. Deuteronomium. Kap. 1,1–16,17. Übers. und erkl. v. T. Veijola [ATD 8,1], Göttingen 2004, 147–173) oder – sehr ausführlich – von E. Otto (Deuteronomium 1–11. Zweiter Teilband: 4,44–11,32. Übers. u. ausgel. v. E. Otto [Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament], Freiburg/Basel/Wien 2013, 651–769) geliefert. 6 L. Perlitt, a.a.O., 461. Zu der Bezeichnung Zehnwort bzw. Dekalog und ihrer geschichtlichen Entwicklung vgl. a.a.O., 458f., hier: 459: „In der abendländischen Kirchengeschichte wurden aus den decem verba der Vulgata die decem praecepta, seit Luthers Kleinem Katechismus volkssprachlich die Zehn Gebote.“ 7 Vgl. hierzu den Überblick in: M. Vogt/P. Marinkovic, Die Gliederungsbedeutung des Dekalogs in Ansehung der Tora, in: W. Korff/M. Vogt (Hg.), Gliederungssysteme angewandter Ethik. Ein Handbuch. Nach einem Projekt von W. Korff, Freiburg/Basel/Wien 2016, 117–147.

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Judentum 5+5 1. Jhwhs Herrschaft 2. Fremdgötter + Götzenbilder 3. Jhwhs Name 4. Sabbat 5. Eltern 6. Mord 7. Ehebruch 8. Diebstahl 9. Falschzeugnis 10. Begehren

Katholische + lutherische Kirchen 3+7

Orthodoxie, Reformierte, Anglikaner 4+6

1. Fremdgötter 2. Gottes Name 3. Feiertag 4. Eltern 5. Mord 6. Ehebruch 7. Diebstahl 8. Falschzeugnis 9. Begehren (Frau) 10. Begehren (Güter)

1. Gottes Herrschaft + Fremdgötter 2. Götzenbilder 3. Gottes Name 4. Sabbat 5. Eltern 6. Mord 7. Ehebruch 8. Diebstahl 9. Falschzeugnis 10. Begehren

vorgenommen wurde. Die Unterscheidung der Gebote in solche, welche die Gottesbeziehung des Menschen, und solche, welche seine Beziehung zu Mitmensch und Welt betreffen, begegnet in der christlichen Überlieferung zwar häufig, ist aber nicht die einzig denkbare und traditionsgeschichtlich geurteilt kaum genuin; in keinem Fall darf sie zu einer Trennung des Unterschiedenen führen, da beide Relationen im Verein mit menschlicher Selbstbeziehung im biblischen Kontext stets einen differenzierten Zusammenhang bilden. Während die hebräische Bibel „noch keine Nummerierung der Gebote“8 kennt, ist für das hellenistische Judentum eine fixierte Zählung bezeugt, die in der östlichen Christenheit, später auch von Anglikanern und Reformierten übernommen wurde, nicht aber vom rabbinisch-talmudischen Judentum und ebenso wenig von der katholischen Kirche und den Kirchen der Wittenberger Reformation. Folgende Unterschiede der Zählung sind bei den einzelnen Gruppen zu registrieren9 : (siehe Kasten S. 31) Das 3:7–Schema, das auch der Dekalogauslegung in Luthers Katechismen zugrunde liegt, verbindet die Bedeutung der Zehnzahl mit der Siebenzahl der Vollendung und der für die Christentumsgeschichte nicht minder bedeutsamen Dreizahl und erschließt so schon unter formalen Gesichtspunkten signifikante Strukturierungs- und Systematisierungsmöglichkeiten. So hat Martin Luther, dem Beispiel Augustinus folgend, gemäß dem neutestamentlichen Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37–40; Mk 12,29–31) drei Gebote der Gottesliebe von sieben der Nächstenliebe unterschieden und sie entsprechend auf beide Tafeln verteilt.

8 L. Perlitt, a.a.O., 462. 9 Aus: M. Köckert, Die Zehn Gebote, München 2007, 35. Vgl. auch L. Perlitt, a.a.O., 463 und E. Otto, a.a.O., 704ff.

Zehn Worte der Weisung

Das Alte Testament selbst kennt die Verteilung auf zwei Tafeln ebenso wenig wie ihre Nummerierung. „Das Motiv ist dem Dekalog zugewachsen; er ist vom Tafelmotiv nicht abhängig, allenfalls dieses vom Dekalog.“10 Daraus und aus sonstigen formalen Unausgeglichenheiten wie der unterschiedlichen Gebotsreihung erklärt sich, warum der Dekalog im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte in unterschiedlichen Gestalten begegnet. Diese Vielgestaltigkeit muss die Einheit des Gebotsgehalts nicht problematisieren. Der biblische Befund legt im Gegenteil nahe, dass sie zur sachlichen Identität der Weisungsworte gehört. 3.

Genese und Geltung des Dekalogs

Die nach dem Formprinzip der Zehnzahl geordneten Worte der Weisung, die traditionell als Dekalog bezeichnet werden, begegnen in der hebräischen Bibel in zwei Fassungen. Versuche, sie auf einen einheitlichen Urdekalog zurückzuführen, haben zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt. Generell gingen und gehen die Forschungsmeinungen über Herkunft und ursprüngliche Form der sog. Zehn Gebote weit auseinander. Fast ausnahmslos geteilt wird in der „scientific community“ der historisch-kritische Befund, dass der Dekalog mitsamt der sonstigen Gesetzgebung des Alten Testaments nicht unmittelbar auf eine Gottesoffenbarung in der Wüstenzeit am Berge Sinai (Horeb) zurückgeht, sondern Resultat und Reflexionszeugnis späterer Entwicklungen der Religionsgeschichte Israels ist, die man dann in die Urgeschichte der Volksgemeinschaft zurückprojiziert und zu ihrem theologischen Fundament erklärt hat. Die Analysen von Julius Wellhausen haben diesbezüglich die Richtung gewiesen, auch wenn ihre Ergebnisse im Einzelnen keineswegs allgemein übernommen wurden, wie die beiden Thesen zu Form und Herkunft der Zehn Gebote belegen, die im 20. Jahrhundert lange Zeit im Zentrum der Forschung standen.11 A. Alt differenzierte zwischen sog. apodiktischen und sog. kasuistischen Rechtssätzen, um erstere, wie er sie in den Prohibitiven des Dekalogs vorfand, als genuin jahwistisch-israelitisch und von der kanaanäischen Rechtskultur charakteristisch unterschieden zu qualifizieren. Zwar rechnete Alt nicht mit einer direkten Gottesoffenbarung der Zehn Gebote, zählte sie aber zum genuinsten Glaubensgut Israels, dem Offenbarungsqualität eigne. Ein zweiter – von S. Mowinckel vertretener – formgeschichtlicher Entwurf interpretierte die Dekaloggebote vom Ritual eines Tempelfestes her, bei dem die Ursprungsgeschichte Israels und mit ihr die von Gott gegebene verbindliche Ordnung 10 L. Perlitt, a.a.O., 464. 11 Zu der die Dekaloge betreffenden Forschungsgeschichte vgl. im Einzelnen den Exkurs bei E. Otto, a.a.O., 685ff.

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vergegenwärtigt werden sollte. Auf diese Weise waren die Zehn Gebote erneut zum genuinen Glaubensgut des Volkes erklärt und mit dessen Anfängen rückvermittelt. In jüngerer Zeit haben die Forschungsansätze Alts und Mowinckels kaum mehr Anhänger gefunden. Auch G. v. Rads Annahme, die Verkündigung der Dekaloge habe ihren Sitz im Leben bei einem Bundeserneuerungsfest in Sichem gehabt, wird heute in der Regel nicht mehr vertreten. Die Mehrheit der Forscher nimmt an, dass der Dekalog, von dem sich keine formal einheitliche Urfassung rekonstruieren lasse, nicht vor spätvorexilischer Zeit entstanden sei und zwar durch redaktionelle Komposition vorgefundener Rechtssatzbestände, deren überlieferungsgeschichtliche Herkunft im Einzelnen der Klärung bedürfe. Umstritten ist, welche der beiden Dekalogfassungen als die ursprünglichere zu gelten hat. Einige Forscher geben dem Dekalog der Sinaiperikope in Ex 20 den Vorzug, andere demjenigen in Dtn 5. Wahrscheinlich ist mit einer komplexen „literarischen Abhängigkeit beider Fassungen voneinander“12 zu rechnen, die einseitige Genealogien unmöglich macht. Wahrscheinlich haben beide Dekalogversionen sich im Laufe des traditionsgeschichtlichen Prozesses ihrer Entwicklung in Teilen wechselseitig beeinflusst. Die größte inhaltliche Differenz zwischen ihren kanonisierten Endfassungen bildet die unterschiedliche Begründung des Sabbatgebots, die Dtn 5,14f. geschichtstheologisch und in Erinnerung an das Exodusgeschehen erfolgt, in Ex 20,10f. hingegen schöpfungstheologisch und unter wohl nachträglichem Verweis auf Gen 2,2f.13 Auch ansonsten finden sich eine Vielzahl von Abweichungen, die im Zuge der definitiven Festschreibung und Kanonisierung beider Texte nicht beseitigt wurden. Anhand nachfolgender Synopse14 lassen sich gemeinsamer Text (fett) und Unterschiede zwischen Ex 20 (normal) und Dtn 5 (kursiv) kenntlich machen: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der ich dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bild machen, und zwar keinerlei Gestalt, 12 M. Köckert, a.a.O., 39. Dass ein literarischer Zusammenhang besteht, ist in der Forschung unstrittig; strittig ist allerdings, wie man ihn genau zu bestimmen hat. 13 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ex 20,2–17 und Dtn 5,6–21 werden im Detail durch die Textgegenüberstellung bei Chr. Dohmen, a.a.O., 94–97 sichtbar gemacht; vgl. zusammenfassend a.a.O., 92f.; ferner: T. Veijola, a.a.O., 149, der „insgesamt zwanzig Unterschiede“ erkennt. 14 Aus: W.H. Schmidt, Die Zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik, Darmstadt 1993, 34f.

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die im Himmel oben oder auf Erden unten oder im Wasser unter der Erde ist. Du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen; denn ich, Jahwe, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der heimsucht die Schuld von Vätern an Nachkommen bis ins dritte und vierte Glied an Söhnen und Enkeln und Urenkeln bei denen, die mich hassen, aber Treue übt an Tausenden bei denen, die mich lieben und meine seine Gebote halten Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht zu Nichtigem erheben; denn Jahwe wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen zu Nichtigem erhebt Gedenke an Halte den Sabbattag, daß du ihn heiligst, wie Jahwe, dein Gott, dir befohlen hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun, aber der siebte Tag ist ein Sabbat für Jahwe, deinen Gott. Du sollst keinerlei Arbeit tun, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Sklavin und dein Rind und dein Esel und all dein Vieh und dein Fremdling, der in deinen Toren weilt; denn in sechs Tagen machte Jahwe den Himmel und die Erde, das Meer und alles, was in ihnen ist, aber am siebten Tag ruhte er; darum hat Jahwe den Sabbattag gesegnet und ihn geheiligt. damit dein Sklave und deine Sklavin ruhen können wie du. Und denke daran, daß du Sklave warst im Lande Ägypten und daß Jahwe, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit starker Hand und ausgestrecktem Arm; darum hat Jahwe, dein Gott dir befohlen, den Sabbattag zu halten. Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie Jahwe, dein Gott, dir geboten hat, damit deine Tage lang sind und damit es dir gut geht auf dem Boden, den Jahwe, dein Gott, dir gibt. Du sollst nicht töten. Und du sollst nicht ehebrechen. Und du sollst nicht stehlen. Und du sollst nicht gegen deinen Nächsten aussagen als Lügenzeuge. nichtiger Zeuge Und du sollst nicht begehren das Haus die Frau deines Nächsten Und du sollst nicht begehren (h. md) die Frau, begehren (’wh) das Haus

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deines Nächsten, sein Feld und seinen Knecht und seine Magd und sein Rind und seinen Esel und alles, was deinem Nächsten gehört.“

Die kanonische Bewahrung der Doppelüberlieferung einer Gebotsreihe ohne harmonisierende Ausgleichsversuche ist für das Alte Testament singulär und unter systematischen Gesichtspunkten u. a. deshalb bemerkenswert, weil die Variabilität eines gegebenen Grundbestands rechtlich-ethischer Bestimmungen nach Urteil der Tradition dessen substanzielle Identität offenbar nicht probematisiert, sondern dieser im Gegenteil wesentlich zugehört. Wie immer sich beide Fassungen unter Prioritätsgesichtspunkten zueinander verhalten mögen und wie immer es um ihr Alter und um dasjenige der Bausteine bestellt sein mag, aus welchen sie sich zusammenfügten: Bemerkt zu werden verdient, dass die Komplexität seiner Genese, die ihm durch die Doppelgestalt seiner Überlieferung förmlich eingezeichnet ist, die Geltungsansprüche des Dekalogs ebenso wenig limitiert oder gar unterminiert wie seine Auslegungsbedürftigkeit, welche durch gegebene Textvarianten indiziert wird. Ob nun die lectio brevior der Ex-Fassung für Priorität spricht oder nicht, ob die Zusammenfügung des Dekalogs spätvorexilisch, exilisch, frühnachexilisch oder noch später anzusetzen ist: Seine Geschichte ist mit Abschluss seiner Genese nicht beendet. Für deren Vorläufigkeit spricht rein formal die erhalten gebliebene Doppelüberlieferung; der traditionsgeschichtliche Prozess setzt sich in Form der Auslegungsgeschichte fort, deren Ziel jedenfalls unter christlichen Bedingungen darauf ausgerichtet ist, den spezifischen Entdeckungszusammenhang der Zehn Gebote mit dem begründeten Anspruch auf universale Geltung zu verbinden. Die Spannung zwischen dem Anspruch auf humane Allgemeingültigkeit und seiner Konstitution durch eine an das Bundesvolk ergangenen Offenbarung Gottes ist für den Dekalog in seinen beiden Fassungen, für deren Verhältnis zueinander sowie für die jahrhundertelange Wirkungsgeschichte von Anfang an bestimmend und stets bedeutsam gewesen. Zu einem angemessenen Umgang mit dieser charakteristischen Spannung kann u. a. die Beobachtung verhelfen, dass der Dekalog einerseits in die Gesamttora als die Fülle göttlicher Weisungen für sein Bundesvolk eingeordnet ist, andererseits als summarisches Konzentrat fungiert, worauf die Stellung von Ex 20 in Bezug auf das Heiligkeitsgesetz und von Dtn 5 in Bezug auf das Gesamtdeuteronomium hindeutet. Bereits im hellenistischen Judentum zeigte sich eine Tendenz, den als sachliche Einheit begriffenen Dekalog den einzelnen Weisungen der Tora vorzuordnen, seine Bestimmungen mit den Prinzipien des – namentlich durch die stoische Philo-

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sophie repräsentierten – Ethos zu vermitteln und so als allgemein verbindlich zu erweisen. Dieser Trend verstärkte sich unter christlichen Bedingungen. Welche Funktion dabei Röm 13,9 und der Zusammenfassung der Zitate aus Dtn 5,17–19 LXX im Gebot der Nächstenliebe (bzw. im Doppelgebot der Liebe) zukommt, bedarf unter besonderer Berücksichtigung von Röm 2,15 oder auch Jer 31,33 etc. genauer Untersuchung. Faktum ist, dass im Christentum die Dekalogbestimmungen nicht selten mit den Gehalten dessen gleichgesetzt wurden, was man lex naturalis vel rationalis nannte oder mit vergleichbaren Termini bezeichnete. Mit den Begriffen nomos, lex und ihrer deutschen Wiedergabe als Gesetz ist eine ganze Reihe zusätzlicher Probleme von keineswegs nur terminologischer, sondern zugleich elementarer sachlicher Bedeutung verbunden. Sind die dekalogischen Weisungen Worte des Rechts, des Gesetzes, des Ethos, der Sittlichkeit, der Moral etc. und was ist unter diesen Bezeichnungen jeweils präzise zu verstehen? Ohne gesteigerte Begriffsschärfe wird man eine befriedigende Antwort solcher und ähnlicher Fragen nicht leisten können. Fest steht, dass die Klassifizierung von Tora und Dekalog als gesetzlich unter der Voraussetzung abwegig ist, dass sich mit Gesetzlichkeit, Nomismus oder Legalismus unter der Hand pejorative Assoziationen verbinden. Damit ist nicht gesagt, dass die Gesetz-Evangeliums-Thematik, wie sie nicht nur in reformatorischer Tradition unter vielfältiger Bezugnahme auf die Gebotsthematik erörtert wurde, sachlich obsolet und unbesehen zu verabschieden sei. Doch auch und gerade hier ist begriffliche Differenzierung geboten, etwa diejenige zwischen der grundsätzlichen Güte der Gebote und der „gesetzlichen“ Funktion, welche sie unter postlapsarischen Bedingungen haben, wobei auch diesbezüglich zwischen verschiedenen usus legis zu unterscheiden ist. 4.

Die dekalogischen Einzelgebote

Die Gebote des Dekalogs, der im Exodusbuch den Sinaiereignissen eingepasst und im Deuteronomiums auf den Bundesschluss am Horeb bezogen ist, umschreibt die Verhaltensweisen, „die Voraussetzung für die Gemeinschaft mit Gott und für das Zusammenleben von Brüdern und Schwestern sind, die das Volk Gottes ausmachen“15 . Auch wenn sie nicht aus einer einzigen Quelle stammen, sondern Komponenten unterschiedlicher Herkunft darstellen, die auch unter kanonischen Bedingungen nicht zu völliger Deckungsgleichheit gebracht sind, bilden sie doch eine sachliche Einheit, was bei der Auslegung der einzelnen Gebote nachgerade dann zu beachten ist, wenn man ihre universale 15 J. Scharbert, Exodus, Würzburg 1989, 83.

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Verbindlichkeit zur Geltung bringen will, wie das im Christentum obligat ist. Nichtsdestoweniger hat eine auf Universalgeltung ausgerichtete Interpretation die spezifische Eigenbedeutung zu berücksichtigen, welche den einzelnen Geboten von ihrer traditionsgeschichtlichen Herkunft her eignet. Zwar gemahnt der apodiktisch-prohibitive Stil, in dem sie vorgetragen werden, gleichsam von Hause aus an Urformen humaner Kommunikation, wie sie sich unter Menschen aller Zeiten finden. Doch ist damit über den Gehalt dessen, was gesollt oder nicht gesollt wird, noch nicht hinreichend befunden. Er muss von Fall zu Fall einer genauen Bestimmung zugeführt werden, wie die Einzelgebote dies vorsehen und zu leisten versuchen. Nur so kann die vom Dekalog intendierte Allgemeingültigkeit konkret in Anschlag gebracht werden. Umgekehrt transzendiert im dekalogischen Gesamtkontext die einzelne Weisung die eigentümliche Beschränkung, die ihr von Herkunft und Perspektivität der Betrachtung auferlegt ist. Was für weite Passagen des Alten Testaments im Allgemeinen gilt, trifft für den Dekalog im Besonderen zu: er ist im Laufe seiner Traditionsgeschichte zu einem Ganzen geworden, das mehr ist als die Summe seiner Teile, obwohl er ohne diese in seiner Ganzheit nicht erfasst werden kann. Im Übrigen ist er als verschrifteter Text in einem innerbiblischen Prozess der Auslegung von Traditionsbeständen entstanden, um auch nach erfolgter Kanonisierung nicht durch bloße Repetition, sondern durch situative Interpretation seiner aktuellen Verbindlichkeit zugeführt zu werden. An den einzelnen Geboten und namentlich am ersten ließe sich dies durch überlieferungs- und rezeptionsgeschichtliche Studien detailliert nachweisen. Das nach lutherischer Zählung erste Gebot umfasst nach Maßgabe beider Fassungen des biblischen Dekalogs zwei namentlich in Dtn 5 sehr eng verbundene Verbote, nämlich dasjenige, andere Götter neben dem einen Gott Jahwe zu haben, der Israel aus dem Sklavenhause Ägyptens herausgeführt hat, und das Bilderverbot. Die Selbstpräsentation Jahwes als des Gottes Israels zeigt, dass die Beziehung zwischen ihm und seinem Volk konstitutiv ist für die nachfolgenden Worte der Weisung, was deren universalen Gültigkeitsanspruch nicht aus-, sondern einschließt. Ohne die israelspezifische Genese und Begründung des Dekalogs zu leugnen, hat das Christentum zugleich dessen menschheitsgeschichtliche Relevanz dezidiert behauptet, wie das tendenziell schon im hellenistischen Judentum der Fall war. Dies geschah unter ausdrücklicher Voraussetzung eines strikten Monotheismus, auf welchen das Fremdgötterverbot zumindest vorausweist. Zwar scheint „die Formulierung des Verbots einen polytheistischen Referenzrahmen“16 vorauszusetzen, „da sie ja nicht im monotheistischen Sinne die Existenz anderer Götter leugnet, sondern unter 16 Chr. Dohmen, a.a.O., 105.

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der Voraussetzung der Existenz verschiedener Götter den Bezug zum hier sprechenden Gott einfordert“17 . Doch ist der Weg von einem monolatrischen Henotheismus zum Monotheismus konsequent. Andere Götter, die neben Jahwe und ihm zum Trotz, Anspruch auf göttliche Anerkennung erheben, kann es in Anbetracht seiner Selbstmanifestation für sein Volk weder in Israel noch überhaupt geben. Denn diese ist derart über alles erhaben, was sonst manifest und gegenwärtig ist, dass ein Vergleich Jahwes mit anderen Göttern sich von selbst verbietet. Das Verbot, sich von ihm analog zu anderen Göttern ein Kultbild zu machen, unterstreicht Jahwes Einmaligkeit. Keinerlei Gestalt – ob auf Erden oder im oberirdischen Himmel bzw. den unterirdischen Wassern – soll mit Jahwe gleichgesetzt oder auch nur verglichen werden. Deshalb verbietet sich die Anbetung und kultische Verehrung anderer Gestalten neben ihm als Götzendienst. „JHWH geht nicht in seinen Geschöpfen auf. In ihrer Endlichkeit vermag die Welt nicht die Unendlichkeit Gottes zu fassen. Das Bilderverbot sichert als Aussage der Transzendenz Gottes auch seine Unverfügbarkeit. Jede Vergegenständlichung Gottes im Abbild bedeutet Verfügbarkeit für den Menschen. Darin interpretiert das Bilderverbot das Gebot der Alleinverehrung.“18 Fremdgötter- und Bilderverbot sind eins in dem Alleinverehrungsgebot des Gottes Jahwe, der eifersüchtig über seine Einhaltung wacht. Ausgeübt wird das göttliche Wächteramt nach Maßgabe ausgleichender Gerechtigkeit, wie sie der Gottheit Jahwes eigen ist, jedoch so, dass die barmherzige Treue gegenüber den Verehrern die strafende Heimsuchung der Schuld seiner Verächter bei Weitem, ja „unendlich“19 überwiegt. Die Gottheit Jahwes transzendiert alles Gegebene und kann nicht bildlich fixiert werden. Mit der ikonographischen ist auch jede andere Form gegenständlicher Festlegung Jahwes in Abrede gestellt. Das Namensmissbrauchsverbot gehört in diesen Sachzusammenhang.20 Dem Exklusivanspruch Jahwes auf Verehrung und dem Verbot, sich ein Kultbild sei es von anderen Göttern oder vom Gott Israels selbst zu machen, widerspricht die missbräuchliche Praxis, den Namen Gottes zwecks menschlich-weltlicher Angelegenheiten zu verwenden. „Das Judentum hat das Verbot auf alle unbedachten Äußerungen bezogen und darum aus lauter Ehrfurcht vor dem Gottesnamen Jahwe … ihn selbst beim Vorlesen der Hei-

17 Ebd. Zu den religionsgeschichtlichen und literaturhistorischen Ursprüngen der Monolatrie vgl. E. Otto, a.a.O., 720ff. 18 E. Otto, a.a.O., 693. 19 A.a.O., 730. 20 Zum Ursprung des Gebots und seiner Redaktionsgeschichte vgl. im Einzelnen E. Otto, a.a.O., 734ff.

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ligen Schrift in der Synagoge nicht ausgesprochen, sondern durch das Wort Adonai ‚der Herr‘ ersetzt.“21

Man wird dies als eine konsequente Weiterführung des Namensmissbrauchsverbots zu werten haben, „zumal wenn man beachtet, dass es einen breiten theologischen Strom innerhalb des Alten Testamentes gibt, der die Gegenwart Gottes mit seinem Namen verbindet und im Gegenüber zur Existenz Gottes ‚im Himmel‘ vom Wohnen-Lassen (oder Hinlegen) des Namens Gottes im irdischen Tempel ausgeht“22 .

Nach dem mit Strafandrohung und weit mehr noch mit einer ins Unendliche gehenden Treueverheißung versehenen Kultbildverbot, das den Alleinverehrungsanspruch Jahwes unterstreicht, sowie dem strafbewehrten Verbot, den Namen Gottes zu missbrauchen bzw. zu Nichtigem zu erheben, folgt das Gebot der Sabbatheiligung: Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag aber ist ein Sabbat für Jahwe, deinen Gott. An ihm sollst du keine Arbeit tun; du, dein Sohn und deine Tochter nicht, auch nicht dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh – in Dtn 5,14 spezifiziert als Rind und Esel – und der Fremde, der in deinen Toren weilt, will heißen: Bleibe- und Wohnrecht in Israel gefunden hat. Die Begründung für das Gebot der Sabbatheiligung wird in Ex 20,11 schöpfungstheologisch, in Dtn 5,15 dagegen mit der Erinnerung an den Exodus gegeben: Im Gedenken daran, selbst Sklave im Lande Ägyptens gewesen und von Jahwe mit starker Hand und ausgestrecktem Arm von dort herausgeführt worden zu sein, soll Israel am siebten Wochentag seinen Sklaven und Sklavinnen Arbeitsruhe gönnen. Unbeschadet der unterschiedlichen Begründungen des Sabbatgebots in Ex 20,8–11 und Dtn 5,12–1523 ist davon auszugehen, dass beide Dekalogfassungen bereits einen entwickelten Begriff des Sabbats und seiner Verbindung mit dem letzten Tag einer Siebentagewoche hatten. Im Unterschied zum Jahr und seinen Monaten hat die Woche keinen unmittelbaren Anhalt an astronomischen Vorgängen. Doch wird vermutet, die Zahl von sieben Tagen, welche eine Woche ausmachen, sei an derjenigen der antiken Planeten orientiert. Denkbar ist auch eine Rhythmisierung des Monats, die von Versorgungsbedürfnissen und entsprechenden Marktfrequenzen herrühren. Fernerhin ist an Regelungen von Arbeitsruhephasen zu denken, denen auf ihre Weise die Praxis der Landbrache entspricht. Im Kalender der Babylonier 21 J. Scharbert, a.a.O., 84. 22 Chr. Dohmen, a.a.O., 116. 23 Zu weiteren Unterschieden beider Dekalogfassungen in der Formulierung des Sabbatgebots vgl. z. B. a.a.O., 93.

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begegnet schabattum als Bezeichnung eines Vollmondfestes. Ob der hebräische Sabbatbegriff sich hieraus ableitet, ist unbewiesen. Wörtlich bedeutet das dem Nomen zugrundeliegende Verb schabat so viel wie „aufhören, ruhen“. Manches spricht dafür, dass der Tag des Aufhörens und Ruhens in Israel nicht sofort, sondern erst im Laufe der Zeit mit dem anderweitig zu erklärenden Rhythmus von 6+1 Wochentagen verbunden wurde. Wie auch immer: In den beiden Dekalogfassungen wird die Synthese von siebtem Wochentag und Sabbat als gegeben vorausgesetzt, wenngleich theologisch unterschiedlich begründet. Die Erklärung von Dtn 5,15 wirkt gerade wegen ihres entschieden sozialen Skopus, auf den das Exodusgedächtnis ätiologisch ausgerichtet ist, ursprünglicher als die ins Universale greifende Begründungsperspektive von Ex 20,11, wonach das Sabbatgebot auf einer in der göttlichen Schöpfung begründeten, dem Kosmos mitsamt der Weltgeschichte durchwaltenden Ordnung basiert. Das Sabbatgebot ist dasjenige unter den Zehn Geboten, „das außerhalb des Dekalogs am breitesten bezeugt ist. Seine große Verbreitung verdankt sich dem Umstand, dass der Sabbat neben der Beschneidung zur nota ecclesiae Israels avancierte, die unabhängig vom Tempel an jedem Ort beachtet werden konnte“24 .

Beschneidung und Sabbatheiligung sind charakteristische Kennzeichen jüdischer Identität, was durch die Auseinandersetzungen um sie im Zuge der Jesusbewegung und des werdenden Christentums unterstrichen wird. Zwar liegen die Transformation des Sabbats in den Sonntag als dem Gedächtnistag der Auferstehung Jesu Christi und die impliziten Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Transformation außerhalb der Perspektive der hebräischen Bibel. Doch den Weg zu einer – die spezifische Begründung dieses mitsamt der anderen Gebote in sich aufhebenden – Universalisierung göttlicher Weisung für das auserwählte Volk hat sie durch die im Exodusbuch gegebene schöpfungstheologische Begründung gebotener Sabbatheiligung gewiesen. Jeder Mensch ist Kind von Eltern. Dass Vater und Mutter zu ehren sind, hat daher als ein humanes Grundgebot von allgemeinmenschlicher Verbindlichkeit zu gelten. Doch darf, gerade weil der universale Geltungsanspruch beim Gebot der Elternehrung unmittelbarer und deutlicher zutage tritt als im Falle etwa des Sabbatgebots, der israelspezifische Kontext des Elternehrungsgebots nicht unberücksichtigt bleiben. Ursprünglich richtet es sich „an die erwachsenen Männer und verlangte von ihnen eine ehrerbietige und fürsorgende Behandlung der betagten Eltern. Die Mutter wird hier gleichberechtigt neben – in Lev 19,3 sogar vor – dem Vater erwähnt, denn als Mutter ihrer Kinder stand die Frau hinter dem Mann an Ehre nicht zurück (vgl. Sir 3,1–16), und sie blieb auch 24 T. Veijola, a.a.O., 161.

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wegen ihrer Verheiratung im jungen Alter häufiger als der Mann als Witwe allein.“25 Ihr gegenüber hatte daher die Sohnesverpflichtung zu materieller Altersfürsorge besondere Relevanz. Bemerkenswert ist im Übrigen die Zusage langen Lebens mit der beigefügten Erwähnung der Landgabe, die sich in beiden Dekalogfassungen findet. Sie deutet darauf hin, dass die Ehrung seiner Eltern jeder Mensch nicht zuletzt sich selbst schuldig ist, damit das gegebene leibliche Leben erhalten und gefördert werde. Elternhass zeitigt destruktive Folgen für das eigene Leben, Elternliebe hilft der gebotenen Selbstliebe auf, die nur gedeiht, wenn sich der Mensch in ein grundsätzlich affirmatives Verhältnis zur Kontingenz seiner Herkunft setzt, was nachgerade für die Befolgung des Tötungsverbots als des Grundgebots der Nächstenliebe von elementarer Bedeutung ist. Wie das dekalogische Gebot der Elternehrung ist auch das nach lutherischer Zählung fünfte Gebot todesrechtlichen Ursprungs und knüpft „an das Tötungsverbot des ‚Bundesbuches‘ in Ex 21,12–14 und seine deuteronomistischen Fortschreibung in Dtn 19,2–13“26 an, ohne die dort begegnenden Falldifferenzierungen zu übernehmen. Ausgesprochen wird „ein generelles Tötungsverbot“27 . Inwieweit man dies als einen – tendenziell für den Gesamtdekalog in Anschlag zu bringenden – „Übergang vom Recht zum Ethos“28 zu werten hat, hängt wesentlich davon ab, was man unter Recht und Ethos versteht und wie man das Verhältnis beider Größen zueinander bestimmt. Faktum ist, dass mit der fallabgehobenen Formulierung des Tötungsverbots das zu achtende Grundrecht auf Leib und Leben in bestimmtester Form, nämlich apodiktisch eingeschärft wird. Ohne grundsätzliche Achtung von Leib und Leben aller Kreatur und derjenigen des Menschengeschöpfs zumal, ist humane Sitte und Sittlichkeit prinzipiell nicht denkbar. Wo sich Bluttat an Bluttat reiht (vgl. Hos 4,2), gibt es „keine Treue und keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land“ (Hos 4,1). Vergleichbares gilt, wenn sich Diebstahl und Ehebruch im Verein mit gerichtlichen Falschaussagen breit machen (vgl. Hos 4,2; auch Jer 7,9). Gegen die genannten Verfehlungen sind die dem Tötungsverbot folgenden Weisungen gerichtet, wobei abermals nicht auf einzelne Fälle eingegangen wird. Wollte man dies tun, dann müsste man beim Ehebruchsverbot gezielt danach fragen, ob es auf mono-, bi- oder polygame Verhältnisse bezogen ist. In der Regel wird gesagt, dass Adressaten des Gebots – in einer patriarchal geprägten Gesellschaft nicht überraschend – allein der freie männliche Bürger sei, dem es 25 26 27 28

A.a.O., 164f. E. Otto, a.a.O., 746. Ebd. Ebd. Vgl. M. Köckert, a.a.O., 22: „Der Dekalog gehört … nicht zum Recht, sondern zum Ethos und zur Gesittung. Er zieht äußerste Grenzen, die allem Recht vorausliegen.“

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als todeswürdig verboten wird, in die bestehende Ehe eines anderen freien Mannes einzubrechen. Demgegenüber hat man zu bedenken gegeben, dass wohl auch im Ehebruchsverbot „auf Grundsätzlicheres als die Differenzierung bzw. Zusammenfassung verschiedener möglicher Delikte abgehoben wird“29 , etwa auf den der gebotenen Elternehrung korrespondierenden „Schutz der Nachkommen“30 , der in materieller und sozialer Hinsicht unbedingt zu wahren sei. Das Diebstahlsverbot ist ursprünglich gegen Menschenraub sowie angemaßte Leibeigenschaft gerichtet. Daraus erklärt sich der enge Zusammenhang mit dem Verbot der Elternmissachtung, der Tötung und des Ehebruchs, die ebenfalls todesrechtlichen Ursprungs sind. Zunächst lautete der Grundsatz: „Wer einen Menschen raubt …, wird mit dem Tod bestraft“ (Ex 21,16); erst später ist das Verbot zu stehlen auch auf die unstatthafte Aneignung von Sachwerten ausgedehnt worden, was Bezüge zu den nachfolgenden Begehrensverboten erschließt. Im zwischengeschalteten Verbot falschen Zeugnisses ist der Bezug ausdrücklich dadurch hergestellt, dass das in den Folgebestimmungen wiederholt begegnende Stichwort „Nächster“ eingeführt wird. Es gibt diesem, obwohl ursprünglich auf den Fall von gerichtlichen Falschaussagen bezogen, und den anschließenden Weisungen eine auf das Humane überhaupt verweisende mitmenschliche Note wie denn auch eigennützige Lüge und falsches Begehren in ihrer Verkehrtheit darin übereinkommen, die allgemeinverbindlichen Grundlagen von Menschlichkeit zu untergraben. Was die Objekte begierigen Verlangens näherhin betrifft, so kommen Frau und Haus (Dtn 5,21) bzw. in umgekehrter Reihenfolge Haus und Frau (Ex 20,17) des Nächsten in Betracht, sodann sein Feld, dies allerdings nur in Dtn 5,21, sein Knecht und seine Magd respektive sein Sklave oder seine Sklavin, schließlich sein Rind und sein Esel und alles, was ihm gehört. Ob es sich bei diesen Bestimmungen in den beiden Dekalogfassungen formal um ein oder um zwei Gebote handelt, kann dahingestellt bleiben. Luther hat in seinen Auslegungen die Begehrensverbote „stets als eine Einheit behandelt, lediglich im KK sucht er zwei Gebote zu gewinnen“31 , um sie dann allerdings im GK, im Großen Katechismus, wieder in einem Interpretationsgang zu behandeln.

29 Chr. Dohmen, a.a.O., 123. 30 A.a.O., 124. Vgl. M. Köckert, a.a.O., 78: „Das Verbot des Ehebruchs schützt also die Familie vor illegitimen Erbberechtigten. Es zielt auf Rechtssicherheit, nicht auf eheliche Treue im moralischen Sinn.“ 31 A. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1: Die Zehn Gebote, Luthers Vorreden. Hg. v. G. Seebaß, Göttingen 1990, 296.

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Doppelgebot der Liebe. Zur neutestamentlichen Dekalogrezeption

Der Dekalog ist konzentrierter Inbegriff des in der Tora offenbaren Gotteswillens. Er hat den Charakter eines theologischen Grundgesetzes, was durch seine Doppelüberlieferung und die prominente Stellung beider Fassungen in ihrem jeweiligen Kontext eindrucksvoll unterstrichen wird. Spätere Rückblicke auf die Vorgänge am Gottesberg Sinai bzw. Horeb, wie sie in Dtn 4,13 und 10,4 begegnen, erbringen durch Einführung des eingängigen Titels „Zehn Worte“ einen weiteren Beleg, der durch die Verbindung von Dekalog und Tafelmotiv in Ex 34,28 ergänzt wird. Die Stellung des auf zwei Tafeln verteilten Zehnworts bzw. Zehngebots innerhalb der Tora kann durchaus als einzigartig gelten. „Doppelte Überlieferung, Vorordnung vor alle Gesetze, Unmittelbarkeit der göttlichen Mitteilung, Verschriftung durch Gott selbst, Urkunde des ‚Bundes‘, bleibende Gültigkeit und unbeschränkter Geltungsbereich zeichnen den Dekalog vor allen anderen Mitteilungen Gottes in der Bibel aus.“32 . In der Tradition prophetischer Überlieferung und namentlich auf der Basis des sog. Bundesbuches stellt der Dekalog eine Summe der Rechtssätze Israels dar, die er konzentriert, elementarisiert und universalisiert. Diese Stellung wird durch die Septuaginta betont hervorgehoben: Sie setzt „die schon im hebräischen Text erkennbare Tendenz fort, die Anlage zu systematisieren und die Bedeutung der einzelnen Gebote auszuweiten“ (88); im Übrigen wird versucht, die Dekalogfassung Ex 20 an Dtn 5 als „die aktualisierte Fassung letzter Hand“ (89) anzugleichen. Im hellenistischen Judentum war der Dekalog in der LXX-Übersetzung „als Zusammenfassung der Tora und grundlegende ethische Norm gut bekannt“ (ebd.), wohingegen seine Bedeutung im rabbinischen Judentum eher zurücktrat. Was hinwiederum das frühe Christentum betrifft, so begegnet im Neuen Testament zwar weder der Begriff „Dekalog“ noch gar eine förmliche und vollständige Auflistung seiner Inhalte. Dennoch werden die von der hebräischen Bibel in Ex 20 und Dtn 5 überlieferten Worte der Weisung rezipiert, wobei, wie am sog. Doppelgebot der Liebe exemplarisch zu ersehen ist, die Konzentrationstendenz noch einmal verstärkt wird. In einer Lk 10,25–27 parallel zum nachfolgenden Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,29–37) gestalteten Dialogszene fragt ein Gesetzesfrommer in versucherischer Absicht, wie es heißt, den als Lehrer apostrophierten Jesus, was zu tun sei, um das ewige Leben zu ererben. Jesus repliziert mit Gegenfragen: „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“ (Lk 10,27), worauf die Antwort mit Dtn 6,5 und Lev 19,18 erfolgt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deiner Kraft und deiner 32 M. Köckert, a.a.O., 18f. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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ganzen Gesinnung und: deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“ (Lk 10,28) Darauf Jesus: „Du hast gut geantwortet; tue dies, so wirst du leben.“ (Lk 10,29) Was es mit der Nächstenliebe näherhin auf sich hat, erklärt das anschließende Gleichnis, ohne dabei die gebotene Gottesliebe auszublenden: „Für Lk sind Gottes- und Nächstenliebe nicht voneinander zu trennen.“33 Dies gilt entsprechend für Mt und Mk. In Mt 22,34–40 fragt ein pharisäischer Gesetzeslehrer, der Jesus auf die Probe stellen wollte, nach dem wichtigsten Gebot in der Tora, worauf er die Antwort erhält, er solle den Herrn, seinen Gott, mit ganzem Herzen, ganzer Seele und mit all seinen Gedanken lieben. Dies sei das erste und wichtigste Gebot. Ebenso wichtig aber sei es, den Nächsten wie sich selbst zu lieben. An diesen beiden Geboten hänge das ganze Gesetz samt den Propheten. Die Szene Mk 12,28–34 führt zu einem analogen Ergebnis: „Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Mk 12,31) Der synoptische Jesus konzentriert den Dekalog im Doppelgebot der Liebe. Dies hat im Laufe des Christentums Anlass dazu gegeben, die Weisungen des Dekalogs nach Maßgabe beider Tafeln in solche der Gottesund solche der Nächstenliebe zu unterteilen; auch eine systematische Aufgliederung gemäß der Dreierstruktur von Gottesbeziehung, Selbstbeziehung und Beziehung zum Mitmensch und Welt bietet sich an. In jedem Fall bleibt der Dekalog auch unter christlichen Bedingungen erhalten und wird inhaltlich affirmiert. Wie immer man die unter offenkundigem Bezug auf das Sinai- bzw. Horebmotiv gestaltete Bergpredigt Jesu zu deuten hat: eine Verabschiedung des Dekalogs wird in Mt 5–7 keineswegs intendiert. Der Dekalog steht auch im Christentum unverbrüchlich in Geltung. Die in den synoptischen Evangelien hergestellten Bezüge zu einzelnen Geboten und zu Teilreihen des Dekalogs bestätigen dies. Zu denken ist an Jesu Schriftzitat Dtn 5,9 und 6,13, mit denen er in Mt 4,10 den Nachstellungen des Satans Einhalt gebietet und ihn dazu bringt, seine Versuchungen vorerst einzustellen: „Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen.“ (Vgl. hierzu auch 1. Kor 15,28) Der eingeborene Sohn Gottes hebt das erste Gebot nicht auf, sondern erfüllt es durch konsequente Selbstunterscheidung vom göttlichen Vater. Seine Nachfolger haben sich daran wie auch an alle sonstigen Dekaloggebote zu halten. Die Pflicht, Vater und Mutter zu ehren, ist und bleibt verbindlich und zwar nicht nur bedingungsweise, sondern unbedingt (vgl. Mk 7,10; Mt 15,4). Entsprechendes gilt im Bezug auf das Verbot von Tötung, Ehebruch, Diebstahl, Raub und Falschaussage (vgl. Mk 10,19; Mt 19,18f.; Lk 18,20; ferner Mt 5,21.27). Eine Sonderstellung nimmt in mehrfacher Hinsicht das Sabbatgebot ein (vgl. Lk 13,14); doch auch diesbezüglich kann von einer Verabschiedung keine Rede 33 H. Klein, Das Lukasevangelium übers. u. erkl., Göttingen 2006, 394.

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sein, was durch den Übergang von der Sabbat- zur Sonntagsfeier nicht falsifiziert, sondern verifiziert wird. Im Hinblick auf die neutestamentlichen Briefe ergibt sich ein ähnliches Bild wie in den Evangelien, was Stellen wie Röm 2,21f., 7,7 und 13,9 sowie Eph 6,2f. und Jak 2,11 belegen. „Wie schon im Judentum genießt der Dekalog auch bei den Christen eine besondere Wertschätzung“ (96), wobei die Tendenz im Zuge der Christentumsgeschichte dahin geht, ihn als „Ausdruck des Naturrechts“ (101) will heißen: als Explikation der Bestimmung zu denken, die universal und für alle Menschen verbindlich in Geltung steht. 6.

Tora, Dekalog und Liebesgebot

Tora heißt auf Deutsch so viel wie Weisung. Alltagssprachlich kann das hebräische Wort etwa Anweisungen von Mutter und Vater oder anderer Respektspersonen bezeichnen; als terminus technicus fungiert der Begriff in vorexilischer Zeit zumeist im Sinne priesterlicher Anweisung oder eines förmlichen Kultbescheids, „bei dem der Priester einen kultisch relevanten Tatbestand mit einem Nominalsatz als rite gültig festhält“34 . Auch Worte von Propheten und Weisheitslehrern können Tora genannt werden. „Im Deuteronomium schließlich wird Tora zum wichtigsten Begriff für den einen, umfassenden und schriftlich vorliegenden Willen Gottes (z. B. Dtn 4,44f.; 30,10; 31,9). Schon hier umfasst ‚Tora‘ Erzählung (bes. Dtn 1,5) wie Gesetz (vgl. bes. auch Ps 78,1.5.10).“35 Auf den gesamten, in der persischen Periode zwischen Exil und Beginn der hellenistischen Zeit zusammengestellten Pentateuch wird der Begriff wohl „erst ab dem 2. Jahrhundert v. Chr.“ (384) angewendet. Erst ab diesem Zeitpunkt sind die in einem langen Prozess entstandenen Rechtskorpora insbesondere des sog. Bundesbuches, des Deuteronomiums sowie des priesterschriftlichen Kodex samt der dazugehörigen erzählerischen Partien zu dem einen Gesetz des Mose vereint.36 „Kodizes, die ihre Vorgänger kritisiert haben und ersetzen wollten, wurden zu einer Einheit zusammengefügt“ (381) und zur einheitlichen „Basis den gesamten weiteren jüdischen Rechtsgeschichte“ (ebd.). Ist der endgültige Pentateuch und die mit den fünf Büchern Mose identifizierte Tora aller Wahrscheinlichkeit nach erst ein „Produkt der persischen 34 K. Koch, Art. Gesetz. I. Altes Testament, in: TRE 13, 40–52, hier: 44f. 35 F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. Sonderausgabe, Gütersloh3 2005,8. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 36 Zur Rückfrage nach dem historischen Mose und zur Frage, warum einem mit seinem Namen versehenen Gestalt die fünf ersten Bücher der Bibel zugschrieben wurden, obwohl sie ausweislich nicht auf einen Autor zurückzuführen sind, vgl. etwa E. Zenger, Art. Mose/Moselied/Mosesegen/Moseschriften, in: TRE 23, 330–341.

Zehn Worte der Weisung

Zeit“ (vgl. 381ff.), so reicht der traditionsgeschichtliche Entstehungsprozess seiner Teile bis weit in die vorexilische Zeit Israels zurück. Was die einzelnen Rechtskorpora betrifft, so gilt der Forschung das sog. Bundesbuch in Ex 20,22–23,33 als „das älteste Rechtsbuch des Alten Testaments“ (132). In seinen literarischen Zusammenhang sind als Quellen „die beiden ältesten rekonstruierbaren Rechtstexte Israels aufgegangen: die Mischpatim, das Rechtsbuch des Jerusalemer Obergerichts, das in enger Entsprechung zu den altorientalischen Rechtskorpora steht, und eine Sammlung grundlegender Regeln der Alleinverehrung Jhwhs, die im Nordreich als Alternative zum Staatskult der Stierbilder formuliert wurde“ (229). Nach Frank Crüsemann, der einen breit angelegten „Versuch einer Nachzeichnung bzw. Rekonstruktion von Hauptlinien einer alttestamentlichen Rechtsgeschichte von den ersten, nur schwer fassbaren Anfängen in vorstaatlicher Zeit bis zum Abschluss des Pentateuch“ (7) unternommen hat, stammt das Bundesbuch wahrscheinlich „aus der Zeit zwischen dem gesicherten Königtum und dem Deuteronomium“ (135). Es weise bereits alle spezifischen Kennzeichen des juristische, ethische und religiöse Gesichtspunkte integrierenden sowie theologische und geschichtliche Aspekte umfassenden biblischen Rechts auf und bilde so die „tragende Grundlage“ (132) der weiteren Entwicklung. Mit dem Bundesbuch sei „die Grundstruktur der Tora entstanden“ (229), als deren „prägende Ausgestaltung“ (235) sodann das Deuteronomium fungiere. „Mit dem deuteronomischen Gesetz (Dtn 12–26) setzt Israel ein zweites Mal an, den Willen seines Gottes in einem Rechtsbuch zu formulieren.“ (235) Wann genau das deuteronomische Gesetz zu seiner vorliegenden Gestalt gelangte, ist in der Forschung umstritten. Nach Crüsemann muss die alte Verbindung des Rechtskorpus „mit dem Gesetz des Josia im Kern nach wie vor als unwiderlegt gelten“ (247). In jedem Falle steht fest, dass mehrere Generationen an dem Zustandekommen des Werkes gearbeitet haben (vgl. 239ff.). Das sog. zweite Gesetz weitet die im Bundesbuch geregelten Bereiche erheblich aus. „Vor allem werden die großen Felder der politischen und öffentlichen Institutionen, der Familie sowie des Umgangs mit Tieren und Umwelt einbezogen. Bereits damit sind im Ansatz alle Lebensbereiche von der Weisung Gottes erfaßt.“ (424) Die Priesterschrift als „die notwenige Transformation“ (323) der göttlichen Weisung unter exilisch-nachexilischen Bedingungen und das in sie eingegliederte sog. Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) setzen den Erweiterungsprozess fort und formulieren die für das Gottesvolk verbindlichen Bestimmungen so, dass sie auch nach Wegfall der bisherigen Rechtsgrundlagen wie Landbesitz und Tempelkult ihre Gültigkeit bewahren. Die Pentateuchkomposition schließlich vereint die Abfolge der Rechtsbücher zu einem einzigen Dokument, nämlich der einen Tora als des Resultats der Religions- und Theologiegeschichte Israels

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und der kanonischen Urkunde des Judentums, ohne welches das Christentum keinen Bestand hat.37 Innerhalb der die Vielzahl göttlicher Weisungen vereinenden Tora kommt dem Dekalog eindeutig ein Sonderstatus zu, wie sich bereits an seiner kompositionellen Funktion für den Gesamtpentateuch ablesen lässt. „Als Auftakt des zentralen Sinaigesetzes Ex 20 hebt er sich von der übrigen Masse der Gesetze dadurch ab, daß er allein als direktes Gotteswort an das Volk ergeht.“ (407) In Dtn 5 hinwiederum bindet er mittels seiner „literarischen Verweisfunktion“ (408) das Deuteronomium im Sinne eines zweiten, das bisherige fortschreibenden Gesetzes „an den so andersartigen Tetrateuch“ (ebd.), was die Möglichkeit einer priesterschriftlichen Modifikation des Dtn-Dekalogs, wie sie besonders auffällig in der Begründung des Sabbatgebotes in Ex 20,11 zutage tritt, erschließt. Wie immer es um das genaue Verhältnis seiner beiden Fassungen zueinander bestellt sein mag: die „überragende Sonderrolle“ (409) des Dekalogs und der „abgehobene Status dieses Textes gegenüber der übrigen Tora“ (408) steht außer Zweifel und wird durch die Funktion offenkundig bestätigt, „die die vorliegende kanonische Komposition diesem Text zuweist“ (409). Aus der kompositionellen Sonderstellung, die ihm innerhalb der Pentateuchtora zukommt, und aus der Direktheit der Gottesrede, mit der er im Unterschied zu anderen Gesetzesbestimmungen vorgetragen wird, kann zwar nicht gefolgert werden, der Dekalog sei als inhaltlicher Extrakt vielfältiger göttlicher Weisungen und mit der Absicht konzipiert worden, ihn im Unterschied zu geschichtlichen und situativ ausgerichteten Bestimmungen mit zeitinvariant-übergeschichtlicher Bedeutung zu versehen; eine solche Annahme trifft exegetisch nicht zu. Dennoch kann aufgrund der Sonderstellung, die dem Dekalog in der Pentateuchkomposition und damit in der kanonischen Tora zukommt, der Trend zu seiner Abhebung von anderen Gesetzesbestimmungen der hebräischen Bibel verständlich gemacht werden, wie er im Zuge christlicher Rezeption- und Wirkungsgeschichte virulent geworden ist. Vorbereitet war diese Entwicklungstendenz bereits in Teilen des hellenistischen Judentums, denen es im Interesse der Universalisierung der Torabestimmungen um Reduktion ihrer Komplexität durch Elementarisierung zu tun war. Man wird das elementarisierende Reduktionsbestreben hinsichtlich der Tora nicht einfachhin als unstatthaft und abwegig beurteilen können, zumal es sich von der Traditionsgeschichte des Pentateuch und mehr noch von derjenigen der Septuaginta her nahelegt. So hat beispielsweise gemäß der Priesterschrift die Israel gegebene Tora zugleich als verbindliche Weisung für das gesamte

37 Zur Frage, wie und warum die Tora mit dem Gottesberg Sinai bzw. Horeb und der Mittlergestalt des Mose verbunden wurde, vgl. F. Crüsemann, a.a.O., 39ff. sowie 76ff.

Zehn Worte der Weisung

von Gott geschaffene Menschengeschlecht und für alle Welt zu gelten; die „Begründung des Sabbatgebotes in Ex 20,11 auf Gen 2,1–3“ (408) weist eindeutig in diese Richtung. An diese Tendenz konnte nicht erst in der frühen Christentumsgeschichte angeknüpft werden, welche die Differenz von Juden und Heiden theologisch grundsätzlich und historisch fortschreitend aufheben sollte; an sie vermochten schon einige innerjüdische Bewegungen anzuschließen, wie sich an Philo und an anderen Repräsentanten des hellenistischen Judentums exemplifizieren ließe, die dem Dekalog in der Absicht der Universalisierung der Toragebote eine spezielle normative Verbindlichkeit zuerkannten und damit einer von der Septuaginta vorgezeichneten Linie folgten. In seiner LXX-Übersetzung ist der Dekalog auf den Weg gebracht, „ein normativer Text zu werden“38 und zwar ein normativer Text von universaler Reichweite und Verbindlichkeit. Philo hat dazu „erstmals auf breiter Basis den Dekalog als Summe des Sinaigesetzes zur Geltung gebracht. Er hat damit dem Ort der Zehn Gebote vor allen anderen Weisungen Rechnung getragen. Sein Versuch, stoisch-hellenistische Philosophie und Tora über den Dekalog miteinander zu vermitteln, hatte weitreichende Folgen über das Judentum hinaus. Weniger mit seiner Identifizierung von mosaischem Gesetz und Weltgesetz, wohl aber mit seiner Deutung des Dekalogs als allgemeines Sittengesetz für alle Menschen hat er das Tor für eine breite Rezeption der Zehn Gebote bis zu Ambrosius und Luther, ja bis in die gegenwärtigen Bemühungen um ein universales Weltethos geöffnet.“39 So wenig der Erfolg dieser Bemühungen, die im Übrigen so neu nicht sind, von einem Einzelkonzept abhängt, so wenig lassen sie sich mit dem Hinweis delegitimieren, alles Ethos sei ethnisch bedingt und im Falle des biblischen dergestalt an das Volk Israel gebunden, dass dessen göttliche Erwählung in ihrer unvergleichlichen Singularität nicht auf die Bestimmung jedes Menschen in allen Völkerschaften zu beziehen sei. Behält man die Gottesbeziehung nicht ausschließlich Israel vor, was unter christlichen Bedingungen kaum möglich sein dürfte, dann darf der ja bereits in Teilen des vorjesuanischen Judentums erkennbare, in der Hervorhebung der Sonderstellung des Dekalogs angelegte Trend zur Universalisierung der Torabestimmungen zur Unterscheidung volks- und landesspezifischer Gebote von solchen, denen menschheitsgeschichtliche Verbindlichkeit zukommt, seine grundsätzliche Berechtigung nicht bestritten werden. Zwar trifft es zu, dass das rabbinische Judentum dieser Tendenz mehrheitlich reserviert begegnete und entsprechend die dem Dekalog innerhalb der Tora zuerkannte Sonderrolle kritisch beurteilte (vgl. 408f.); doch ist diese kritische Reserve nicht repräsentativ für das Gesamtjudentum und sachlich vor allem einem Bedürfnis nach 38 M. Köckert, a.a.O., 89. 39 A.a.O., 91.

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Abgrenzung gegenüber dem Christentum nach erfolgter Trennung von Kirche und Synagoge geschuldet. Für das Christentum, aber keineswegs nur für dieses, sondern auch für weite Teile des Judentums der vorjesuanischen und jesuanischen Zeit ist das Bestreben nach Entgrenzung der Weisungen Gottes für das Volk seiner Erwählung kennzeichnend. Die Verstärkung der bereits vorher virulenten Tendenz, den Dekalog zum Inbegriff der Tora zu erklären, gehört in diesen Zusammenhang. Sie liegt im Trend der Universalisierung der Torabestimmungen, die mit Elementarisierungen untrennbar verbunden sein musste. Dass es im Zuge der universalisierungsorientierten Konzentration zu Differenzierungen und zu kritischen Unterscheidungen kam, war unvermeidlich. Darin per se einen Antijudaismus am Werke zu sehen, ist abwegig. Die hebräische Bibel selbst gibt vielfältige Zeugnisse für eine notwendige Sonderung bleibend gültiger Rechtsbestimmungen von solchen Statuten, die als sozial- und kultgeschichtlich überholt zu gelten haben. An diesen traditionsgeschichtlichen Prozess anzuschließen, bedeutet nicht etwa eine Geringschätzung des Erbes Israels, sondern dient im Gegenteil dazu, es für Menschheit und Welt zu wahren. Die ursprüngliche Einsicht des Judentums, wie sie sich im Laufe der Religionsgeschichte Israels herausgebildet und in exilisch-nachexilischer Zeit zur Geltung gebracht hat, ist von welt- und menschheitsgeschichtlicher Relevanz. Sie besagt: Es existiert ein Gott von unvergleichlicher Einheit und Einzigkeit. Der eine und einzige Gott ist als Gott Israels Schöpfer Himmels und der Erden, also von schlechterdings universaler Mächtigkeit. Hinzu kommt als drittes, nicht minder entscheidendes Moment der Ursprungseinsicht jüdischer Religion: Der eine, allmächtige Gott hat seine Gottheit in der Tora manifest werden lassen und in, mit und durch sie sich selbst als gerecht, als umfassende Gerechtigkeit offenbart. Die Wahrnehmung dieser Wahrheit, wie sie in der göttlichen Weisung für Israel und im Dekalog als ihrem Inbegriff erschlossen wurde, ist für das Christentum nicht weniger obligat als für das Judentum. Ein Judentum ohne Christentum hat religiösen Bestand; ein Christentum ohne Judentum kann es nicht geben. Antinomismus ist keine christliche Option, weil Gottes Weisungswort für Israel als Grundgesetz aller Menschengeschöpfe zu gelten hat. Was Tora, Dekalog und Doppelgebot der Liebe grundsätzlich gebieten, galt nicht nur ehedem, gilt auch nicht nur heute, sondern wird für alle Zeiten bis ans Ende der Tage gelten und zwar in der unbedingten Weise der Allgemeinverbindlichkeit: Sei ein gottunterschiedener Mensch unter Menschen in einer gemeinsam gegebenen Welt!40 So steht es geschrieben. 40 Zur systematischen Ausführung dieses Grundsatzes vgl. G. Wenz, Die Zehn Gebote als Grundlage christlicher Ethik. Zur Auslegung des ersten Hauptstücks in Luthers Katechismen, in: ZThK 89 (1992), 404–439.

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Christologie und Ontologie Zu einem unveröffentlichten Vortrag von Wolfhart Pannenberg

1.

Hinführung

Eberhard Busch, einer der letzten Schüler und Biograph Karl Barths, erzählt in seinem umfangreichen Werk „Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968“ folgende Episode: „Ein anderes Mal sprachen wir über Wolfhart Pannenbergs Schrift ‚Offenbarung als Geschichte‘, und in dem Zusammenhang erzählte Barth von einer Begegnung mit diesem Kollegen und dessen Frau in seinem Haus. Anscheinend um ihm Eindruck zu machen, habe Pannenberg dabei bemerkt: Was würde Barth denken, wenn er jetzt einmal eine Christologie veröffentlichte? Barth überrascht: ‚Nein, das fände ich gar nicht gut. Von Ihnen erwarten wir jetzt keine Christologie, sondern ein großes Geschichtswerk, in dem Sie den Beweis für Ihre kühnen, knappen Thesen über ‚Offenbarung als Geschichte‘ in Ihrer Programmschrift liefern. Sie können Ihre Thesen nicht bloß behaupten, sondern müssen das nun praktisch anhand der Kirchen- und Weltgeschichte durchführen, belegen und bewähren, dass Offenbarung Geschichte und Geschichte Offenbarung sei‘. Daraufhin habe Pannenberg seine Frau merkwürdig angesehen … Und wie erstaunt sei Barth gewesen, als ihm Pannenberg bald darauf seine Christologie zuschickte. Er habe ihm also verschwiegen, dass jene Christologie bereits im Druck war. Aber er halte das Erscheinen dieses Buches mit diesem Inhalt innerhalb von Pannenbergs Konzeption nicht für konsequent. Es ist fast ein Ausweichen vor dem von ihm selbst aufgerissenen Problem.“1

Wer von den zwei so einflussreichen Theologen des 20. Jahrhunderts kühner war: Der ältere Barth mit seiner monumentalen Kirchlichen Dogmatik oder der jüngere Pannenberg, der zeitweise dessen Schüler in Basel war und sich alsbald zu einem seiner schärfsten und versiertesten Kritiker entwickelte, das sei einmal dahingestellt. Manche Kühnheit seiner frühen Thesen von 1961 konnte Pannenberg im Laufe seines langen, reichen Gelehrtenlebens und im Vergleich zu Barth nicht minder erstaunlich umfangreichen Lebenswerkes durchaus relativieren, wie er es in den wenigen autobiographischen Rückblicken andeutet2 . 1 Das Werk E. Buschs erschien 2011 in Göttingen, Zitat: 101 (Hervorhebungen im Original). 2 Vgl. etwa die folgende Bemerkung in: W. Pannenberg, God’s Presence in History, Christian Century, March 11, 1981, 260–263: „strong claims in some of my earlier statements concerning the universal intelligibility of God’s revelation in Jesus Christ have been replaced by more

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Aber dass die Christologie ein Ausweichen Pannenbergs vor der Aufgabe gewesen sei, die in „Offenbarung als Geschichte“ angedeutete Konzeption nun auch konsequent durchzuführen, wird man schwerlich behaupten können. Es gibt wohl wenige Denker, deren Grundgedanken sich so konsequent innerhalb ihres gesamten Werkes erkennen lassen, wie das bei Pannenberg der Fall ist. Zu diesen Schlüsselideen gehört die These vom Primat der Eschatologie als Konsequenz aus der Verkündigung Jesu der kommenden Herrschaft Gottes, die in der Auferstehung Jesu von den Toten in ihrer Endgültigkeit bereits im Voraus erschienen ist. Im Vorwort seiner 1964 in erster Auflage erschienenen Christologie bemerkt Pannenberg, implizit auf Barths Forderung nach einer Bewährung seiner „kühnen knappen Thesen“ eingehend: „Das theologische Recht der geschichtstheologischen Fragestellung hängt entscheidend an dem mit ihr verbundenen Christusverständnis. Es ist durch den Begriff der Vorausereignung des Endes im Auftreten und Geschick Jesu bezeichnet worden. Dieser Gedanke mußte der Frage nach seiner Bewährung an der ganzen Fülle der christologischen Probleme unterworfen werden. Außerdem kann die These einer Erkennbarkeit der Offenbarung Gottes aus ihrer historischen Erscheinung in der Geschichte Jesu die erforderliche Verdeutlichung und Bewährung nur durch die ausgeführte Interpretation der christologischen Traditionen als Entfaltung der dem Auftreten und Geschick Jesu eigenen Bedeutsamkeit finden.“3

Dass diese, wie Pannenberg in etwas merkwürdig anmutender Diktion sagen kann, „futuristische Erfahrung der Wirklichkeit“4 , wie sie sich in der Verkündigung und in dem Geschick Jesu manifestiert, sich am gesamten Wirklichkeitsverständnis und im Gespräch mit den Natur- und Geisteswissenschaften zu bewähren habe, spiegelt sich in seinem gesamten, nicht zuletzt in seiner wissenschaftlichen, fächerübergreifenden Breite beeindruckenden Œuvre. Hierbei maß er dem Gespräch mit der Philosophie insofern noch einmal eine gesonderte Rolle zu, als nur ihr, im Unterschied zu den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die Aufgabe zukommt, die jeweiligen Erkenntnisse in eine „alles umfassende Orientierung über die Wirklichkeit“ zusammen zu führen, darin nur mit der Theologie vergleichbar.5 Im weiteren Verlauf des Vorwortes zu seiner Christologie deutet er an: „Ich bin allerdings weit entfernt von der Annahme, daß damit diese zentrale Problematik (der Bewährung der These von der Offenbarung als Geschichte und des Primats der Esrestrained formulas that take more account of the intricacies of human language and belief.“ (263) 3 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh7 1990, hier zit. n. der 3. Aufl. 1969, 7f. 4 So Pannenberg in einem unveröffentlichen Vortrag aus dem Jahr 1966; s. u. Anm. 9. 5 Vgl. W. Pannenberg, ThuPh, Göttingen 1996, 16.

Christologie und Ontologie

chatologie; F.v.D.) schon zureichend geklärt wäre. Vielmehr weisen die christologischen Erwägungen dieses Buches auf Schritt und Tritt ontologische und erkenntnistheoretische Implikationen auf, die einer eigenen, umfassenden Erörterung bedürfen. Die theologische Relevanz einer solchen Theologie der Vernunft, bzw. einer eschatologisch orientierten Ontologie wird aber, so hoffe ich, auf dem Hintergrund einer wenigstens in Grundzügen ausgeführten Christologie deutlicher sichtbar werden.“6

Pannenberg war sich der Aufgabe bewusst. Und dass er akribisch daran arbeitete, die angedeuteten philosophischen Implikationen seiner Christologie mit ihrer These des Primats der Eschatologie explizit herauszuarbeiten und eigens zu erörtern, damit letztendlich vor dem Forum einer allgemein zugänglichen Vernunft zu bewähren, soll im Folgenden anhand eines unveröffentlichten handschriftlichen Manuskripts eines von Pannenberg am 25. Mai 1966 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main gehaltenen Vortrags dargestellt werden. Darin wird deutlich, dass Pannenberg seine eschatologisch pointierte Christologie von Anfang an im Rahmen einer philosophisch-theologischen Gesamtkonzeption zu entfalten suchte, die das darin implizierte Daseins- und Wirklichkeitsverständnis, „nicht bloß behaupte(t)“, sondern „das nun praktisch anhand der Kirchen- und Weltgeschichte durchführ(t), beleg(t) und bewähr(t), dass Offenbarung Geschichte und Geschichte Offenbarung sei“7 , wie der alte Barth es im Gespräch mit dem jungen, aufstrebenden Pannenberg gefordert hatte. Zentrale Topoi der Christologie – wie Jesu Verkündigung des kommenden und in seinem Wirken schon gegenwärtigen Reiches Gottes und das eschatologische Ereignis der Auferweckung Jesu von den Toten – implizieren ein Seins- und Daseinsverständnis, das eschatologisch orientiert ist, mithin Sein und Zeit entgegen dem Hauptstrom der klassischen griechisch-philosophischen Tradition zusammendenkt. Ontologie ist auf dem Hintergrund der christologischen Erkenntnisse neu zu denken, und der Dreh- und Angelpunkt hierbei ist das bereits im Voraus sich ereignet habende Ende, das aus Gottes Zukunft in die Gegenwart hinein wirkt. Christologie und Ontologie sind also eschatologisch vermittelt. Des Weiteren wird sich zeigen, dass Pannenberg einen engen Zusammenhang von Theologie und Philosophie in ihrer jeweiligen Geschichte8 behauptet hat, der für sein Gesamtwerk von Anfang an charakteristisch ist. Darüber hinaus wird auffallen, dass Pannenberg in diesem relativ frühen Vortrag manche Linie noch nicht zieht bzw. Bezüge noch nicht herstellt, die sich in seinem späteren Werk finden – was darauf hinweist, dass er auch den Prozess der Bewährung seiner grundlegenden Thesen als in seinem eigenen Werk niemals abgeschlossen, 6 A.a.O., 8 (Hervorhebung F.v.D.) 7 Vgl. E. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, 101. 8 Vgl. den Untertitel von ThuPh: „Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte“.

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sondern immer vorläufig und von neuen Erkenntnissen überholbar verstand. Schließlich sei in einem Ausblick beispielhaft darauf hingewiesen, dass aktuelle philosophische Entwürfe, die sich interessanterweise um ein neues Verständnis von Metaphysik bemühen, Ansätze zu dem aufweisen, was Pannenberg vor mehr als 50 Jahren mit dem Schlagwort „eschatologische Ontologie“ zu benennen versuchte. 2.

Gedanken zu einer eschatologischen Ontologie9

Im gleichnamigen Vortrag nimmt Pannenberg zunächst Bezug auf die Frage, was die Suche nach einer von ihm vorläufig so betitelten „eschatologischen Ontologie“10 veranlasst: „Der eigentliche Anlaß dazu liegt im Primat der Eschatologie für das Gottesverständnis Jesu.“ Religiöse Erfahrung in der Traditionslinie Jesu definiert den Glauben an Gott „ganz und gar und ausschließlich als Vertrauen auf seine kommende Herrschaft“11 . Dies enthalte „für die Theologie die Aufgabe, die Welt als Schöpfung eben dieses kommenden Gottes zu denken“, wobei es seltsam sei, dass „die christliche Theologie diese Aufgabe bisher kaum erkannt“ habe. Es sei nämlich übersehen worden, „daß der so betont eschatologische Charakter des Gottesverständnisses Jesu eigentlich ein anderes Welt- und Schöpfungsverständnis erfordert, nicht wie im Mythos von einer gründenden Urzeit her, sondern von der Zukunft Gottes her.“12 (1) 9 Das handschriftliche Manuskript des Vortrags, neun eng beschriebene DIN A5 Seiten, ist mit eben diesem Titel überschrieben. Es befindet sich in einem Ordner mit unveröffentlichten Manuskripten in der Pannenberg-Forschungsstelle in München (Teil der religionsphilosophischen Abteilung der Münchner Hochschule für Philosophie). Die im Folgenden im Text in runden Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die handschriftlich beschriebenen Seiten des Manuskripts. 10 W. Greive weist in seinem Aufsatz „Wolfhart Pannenbergs Vorlesung ‚Theologie der Vernunft‘. Eine Skizze“ (in: Kerygma und Dogma 58, 2012/2, 96–131, hier 104) darauf hin, dass Pannenberg den Begriff „eschatologische Ontologie“ in seiner mehrfach in den 1960er Jahren gehaltenen Vorlesung „Theologie der Vernunft“ (WS 1963/64, SS 1967, SS 1969) verwendet hat. S. a. den Hinweis von T. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophischtheologische Untersuchung, Göttingen 2017, 298 und Anm. 829. Die Verwendung des Ausdrucks im oben zitierten Vorwort zur ersten Auflage der Christologie belegt, dass Pannenberg sich in den 1960er Jahren wiederholt dieser Begrifflichkeit bedient hat. In den Veröffentlichungen der späteren Jahrzehnte taucht sie dagegen, soweit dem Verfasser bekannt, nicht mehr explizit auf. 11 Die Worte „kommende Herrschaft“ hat Pannenberg unterstrichen. 12 Hier deutet Pannenberg an, was zur Grundthese seines theologischen Programms gehört: Wenn Gott tatsächlich als die alles bestimmende Wirklichkeit verstanden werden soll – und alles andere wäre dem Gottesbegriff nicht angemessen -, dann muss die jeweilige religiöse Gotterfahrung und das daraus resultierende Gottesverständnis sich konsequenterweise

Christologie und Ontologie

Nun zieht Pannenberg in seinem frühen Vortrag von 1966 eine wichtige Konsequenz, die zu den Grundpfeilern seines Systementwurfs gehört, nämlich folgende: Wenn Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist, deren geschichtliche Macht sich sowohl in der religiösen Erfahrung Israels13 als auch dann noch einmal besonders klar und eindeutig, das eschatologische Ende vorwegnehmend, in dem Auftreten, der Verkündigung und dem „Schicksal“ Jesu in Tod und Auferstehung offenbart hat, dann kann dies – konsequent verstanden – keine in irgend einer Weise gesonderte, partikulare religiöse Erfahrung sein und bleiben, sondern dann muss sich, wenn sich denn diese religiöse Erfahrung als wahr herausstellen sollte, diese Gotteserfahrung auch im sonstigen Verständnis von Welt, Mensch und Wirklichkeit widerspiegeln, also etwa auch im Prozess der Entwicklung des philosophischen Seins- und Wahrheitsverständnisses der klassischen griechischen Philosophie. Ganz in diesem Sinne fährt Pannenberg in seinem Vortrag fort: „Es fragt sich, ob nicht auch dazu (gemeint ist ein Seins- und Wirklichkeitsverständnis von der Zukunft her, die in die Gegenwart hineinwirkt; F.v.D.) in der klassischen griechischen Philosophie Ansatzpunkte vorhanden sind. Das müßte man ja wohl erwarten: Wenn tatsächlich das Seiende durch seinen Zukunftsbezug konstituiert sein sollte, dann müßte jeder Versuch eines Seinsverständnisses so oder so auf diese wahre Natur des Seienden stoßen. Selbst wenn dabei mehr oder weniger der eigentliche Sinn der Struktur des Seienden verkannt sein sollte, müßte sich doch zeigen lassen, daß und inwiefern das faktische Seinsverständnis der betreffenden Philosophen als eine Verkehrung eben dieser eschatologischen Wahrheit des Seienden zu verstehen ist. Erst so würde ein Verständnis der vorhandenen Wirklichkeit im Lichte der eschatologischen Zukunft mehr sein als eine theologische Behauptung, die diese vorhandene Wirklichkeit als solche und ihr philosophisches Verständnis nichts anginge.“ (1–2)

Leitend bei dieser Argumentation ist die These, dass Theologie und Philosophie Welt und Wirklichkeit zwar von einem unterschiedlichen Ansatz her und mit unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen, aber sich dabei doch immer auf die gleiche Wirklichkeit beziehen und sich an dieser auch bewahrheiten lassen müssen. Auf dem Hintergrund dieser Fragestellung wendet sich Pannenberg in seinem Vortrag zunächst der vorsokratischen Philosophie zu und stellt fest: auch abbilden in dem jeweiligen Verständnis von Welt und Mensch. Dies ist allerdings kein Automatismus, sondern oft erst das Ergebnis eines längeren geschichtlichen Prozesses. So wie die christliche Theologie diese Aufgabe erst allmählich erkannt habe, so entstand diese „neue Erfahrung der Zeit“ im alten Israel „nicht mit einem Schlage, sondern hat sich erst im Laufe der Geschichte deutlicher herausgebildet.“ (W. Pannenberg, Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums, in: ders., GSTh 2, Göttingen 1980, 188–206; Zitat 192.) 13 S. vorherige Anmerkung.

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„Hier kann von einer Bedeutung der Zukunft für das Seinsverständnis unmittelbar kaum die Rede sein. Nicht nur ist ein derartiger Gedanke von keinem der vorsokratischen Philosophen explizit ausgesprochen worden. Er läßt sich auch nicht durch Reflexion auf das von ihnen faktisch Formulierte als darin notwendig impliziert erheben. Damit ist ja grundsätzlich immer zu rechnen, daß eine Aussage mehr impliziert[,] als dem Redenden selbst bewußt wird.“ (2)

Pannenberg findet ein solches implizites Moment allenfalls in der Tatsache, dass den Vorsokratikern „die vorhandene Wirklichkeit nicht mehr ohne weiteres durchsichtig auf ihre αρχη [sic!] hin (war)“ und sie diese zwar als von diesem vorhandenen Seienden „verschieden, aber ihrerseits wiederum als vorhanden“ dachten – „obwohl man denken könnte, daß etwas, das von allem Vorhandenen verschieden ist, seinerseits nicht vorhanden, also nicht gegenwärtig wäre. In solcher Nicht-Gegenwart des Ursprungs könnte man einen Reflex seiner Zukünftigkeit finden.“ (3) Der darin liegende Widerspruch sei letztlich im System des Parmenides offen zutage getreten, „der die ἀρχή nun ausdrücklich als das Seiende bestimmte und sich dadurch genötigt sah, die Vielheit der entstehenden und vergehenden Dinge zum bloßen Schein herabzusetzen“, womit der Sachverhalt auf den Kopf gestellt worden sei: „Die vorhandenen Dinge wurden als Schein, die von ihnen verschiedene (also eigentlich doch nicht vorhandene) ἀρχή als Sein bestimmt, und zwar im Sinne des Vorhandenseins, des wandellos Gegenwärtigen.“ Von hier aus wiederum habe sich der Schritt zur sophistischen Überzeugung eröffnet, „dass alles Schein sei, sobald die dogmatische These des Parmenides auch ihrerseits zweifelhaft wurde.“ (3) Dass eine Aussage oder auch ein einzelner Begriff möglicherweise mehr beinhaltet, als dem, der diese Aussage trifft oder jenen Begriff gebraucht, zunächst selbst bewusst wird, behauptet Pannenberg nun für die sokratische Fragestellung nach dem gemeinsam Guten und nach der Tugend. Auch sie habe zwar „nicht explizit die Bedeutung der Zukunft für das Seinsverständnis in den Blick genommen. Aber im Gedanken des Guten als des Erstrebten (…) liegt doch implizit [im Original unterstrichen; F.v.D.] das Moment der Zukünftigkeit. Denn was erstrebt wird, das ist noch nicht im Besitz des Strebenden; es ist für ihn insofern noch ausstehend[,]14 und als ihm Zukommendes, weil sein [im Original unterstrichen] spezifisches Gutes, ist das Gute ihm zukünftig.“ (3–4) Das Gute und Zweckmäßige, das zukünftig erstrebt wird, übernimmt die Funktion der ἀρχή. Der platonische Gedanke der Idee wiederum sei aus der sokratischen Frage nach dem Guten und Zweckmäßigen hervorgegangen, „indem der sokratische Gesichtspunkt ausgeweitet wurde über den menschlichen Bereich hinaus auf alles Seiende.“ (4) Platon habe aber, obwohl er das Gute in 14 Es erleichtert den Sinnzusammenhang des gesamten Satzgefüges, wenn an dieser Stelle ein Komma ergänzt wird, das im handschriftlichen Original nicht vorhanden ist.

Christologie und Ontologie

der Politeia als „jenseits des Seienden“15 charakterisiert, „die Idee als das wahrhaft Seiende im parmenideischen Sinne gedacht“ und damit das Moment der Zukünftigkeit, das nach Pannenberg im Begriff des Guten und Zweckmäßigen implizit vorhanden ist, eher wieder verdeckt: „Erst durch die eleatische Deutung der Idee als des wahrhaft Seienden hat jedenfalls Platons Ideenlehre den fatalen Sinn der Annahme einer Hinterwelt hinter der sinnlich vorhandenen Welt erhalten. Erst dadurch ergab sich die Verdoppelung, die bereits Platon selbst im Parmenides als Abweg erkannt hat und gegen die sich später die Kritik des Aristoteles richtete.“ (4)

Aristoteles habe insofern wieder zu der ursprünglichen Intention der sokratischen Fragestellung zurückgelenkt, als er in der „Verbindung von εἰδος und τέλος“ für den „sokratische(n) Grundgedanken(n) des Strebens der Dinge nach ihrem [im Original unterstrichen; F.v.D.] Guten eine neue ontologische Formulierung gefunden“ habe (4–5). Die bei Sokrates nur implizite Zukünftigkeit des Guten und also des Wesens der Dinge trete in der aristotelischen Analyse der Bewegung deutlicher hervor. Aber auch bei Aristoteles werde „der Zukunftsbezug des Seienden nicht ausdrücklich thematisiert. Das Thema ‚Sein und Zeit‘ wird nicht explizit aufgeworfen. Aber es steckt implizit in den aristotelischen Aussagen.“ (5) In der natürlichen Bewegung nehme nämlich „das Wesen der Dinge, sein ειδος [sic!], erst am Ende der Bewegung Gestalt an. Es ist also dem in Bewegung Befindlichen selbst zukünftig. Dabei kommt es zur Bewegung selbst dadurch, daß das noch nicht erreichte Ziel vorweg [im Original unterstrichen; F.v.D.] im zu Bewegenden gegenwärtig und wirksam wird als Entelechie.“ (5)

Pannenberg stützt diese Deutung auf die These, „daß die aristotelische Wortprägung ‚εντελεχεια‘ [sic!] primär das vollkommene Ergebnis [im Original unterstrichen; F.v.D.] der Bewegung bezeichnet (…), während die Bewegung das noch unvollendete Insichhaben des Zieles heißt“ (5). Pannenberg interpretiert die teleologische Natur der aristotelischen Entelechie insofern als eschatologisch, als sie „nicht als bloße Entfaltung des in einer keimhaften Anlage schon Beschlossenen“ zu verstehen sei, sondern umgekehrt „das Ziel Bewegung hervorbringt, in dem16 im [sic!] bewegten [sic!] gegenwärtig wird, nämlich als abwesendes [sic!], noch nicht Erreichtes und gerade so Erstrebtes.“ (5) Ähnliches sei auch an der Verhältnisbestimmung von energeia und dynamis zu 15 Vgl. Platon, Rep. 509 B. 16 Es ist im handschriftlichen Original nicht ganz eindeutig, ob „in dem“ oder „indem“ zu lesen ist. Damit der Satz insgesamt grammatikalisch und syntaktisch korrekt ist, ist eher „in dem“ zu lesen und das anschließende „im“ zu streichen. Der Sinn der von Pannenberg intendierten These liegt auf der Hand, für welche Lesart auch immer man sich entscheidet.

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zeigen, „nämlich in der Vorordnung [im Original unterstrichen; F.v.D.] der mit eidos und telos zusammengehenden energeia vor die dynamis.“ (5) Pannenberg ist sich darüber im Klaren, mit diesem Verständnis von zentralen Begriffen der aristotelischen Physik eine Interpretation vorzulegen, der mit guten Gründen auch widersprochen werden kann. Er selbst weist im Folgenden auf Spannungen und Ambivalenzen in der aristotelischen Begrifflichkeit und Darstellung hin, die die angedeutete teleologische bzw. eschatologische Tendenz eigentümlich umbiegen „wiederum zurück zum Primat des Vorhandenen im Sinne des eleatischen Seinsverständnisses.“ (6) Dies führe insgesamt zu einer Unterbewertung des Kontingenten und Individuellen, letztlich vermutlich auch zur aristotelischen These der Ewigkeit der Welt, an der sich die christliche Scholastik reiben musste. Bei allen Ambivalenzen attestiert Pannenberg der aristotelischen Analyse der Bewegung, „ein Stück weit einen ontologischen Vorrang der Zukunft vor dem schon Vorhandenen“ zum Tragen zu bringen. „Sie bietet damit vielleicht einen Ansatzpunkt für ein Verständnis der gegenwärtigen Wirklichkeit von einer letzten Zukunft her, im Sinne der Botschaft Jesu vom Kommen der Gottesherrschaft.“ (6) Er plädiert dafür, gerade die „innere Gebrochenheit der aristotelischen Position da, wo sie die Fragen nach dem Guten als Ziel der Bewegung zurückbiegt auf das eleatische Seinsverständnis“ zum Anlass zu nehmen, philosophisch „in der bezeichneten Richtung aristotelische und letztlich sokratische Ansätze über Aristoteles hinaus zu entwickeln.“ (6–7) Es gelte ein Denken zu entwickeln, das der Kontingenz Raum zu bieten in der Lage ist und ein Gottesverständnis fördert, das Gott nicht mehr als „seiend im Sinne der Vorhandenheit“ denkt, sondern als Macht der Zukunft. Theologisch sei zu konstatieren, „daß Gott aller Zeit gleichzeitig ist, sofern alles aus der Macht seiner Zukunft hervorgegangen ist. Aber eine solche Aussage ist nicht ohne weiteres auf derselben Ebene vollziehbar wie die Feststellung des Vorhandenseins der gegenwärtigen Dinge. Es wäre vielmehr zu zeigen, daß Gott auch in Zukunft niemals so vorhanden sein wird, wie das allerdings von allem endlich Zukünftigen gilt.“ (8) Ansätze zu einem solchen Denken und damit zu der gesuchten eschatologischen Ontologie findet Pannenberg in der hermeneutischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts (W. Dilthey) und der Prozessphilosophie des 20. Jahrhunderts (A.N. Whitehead). 3.

Implikationen und Schlussfolgerungen

Im Rückblick auf den Gedankengang dieses werkgeschichtlich relativ frühen Vortrags sei folgendes thesenartig festgehalten, um die Implikationen dessen, was Pannenberg darstellt, bzw. die Stringenz des Gedankengangs noch deutlicher hervortreten zu lassen:

Christologie und Ontologie

1. Religiöse Erfahrung ist in der Sicht Pannenbergs eine Machterfahrung, die das menschliche Welt- und Selbstverständnis entscheidend beeinflusst, sich an der weiteren Wirklichkeitserfahrung aber auch zu bewähren, also im strengen Sinne des Wortes zu bewahrheiten hat. 2. In der Verkündigung Jesu von der kommenden Gottesherrschaft, die bereits in die Gegenwart hineinwirkt, und im Geschehen seiner Auferweckung von den Toten geht es um eine Gotteserfahrung, die Pannenberg als „futuristische Erfahrung der Wirklichkeit“ beschreibt. 3. Der Gottesbegriff impliziert, dass mit ihm die alles bestimmende Wirklichkeit benannt ist. Wenn dies in der Traditionslinie Jesu und des Christentums als eine „futuristische Erfahrung der Wirklichkeit“ verstanden werden muss, dann folgt daraus zwingend, dass sich dieses religiöse Wirklichkeitsverständnis auch im Seinsverständnis generell wiederfinden können muss bzw. sich auf Dauer zu bewahrheiten hat. Vorausgesetzt ist dabei immer, dass Theologie (als die vernünftige Entfaltung religiöser Erfahrung) und Philosophie jeweils das Ganze der Wirklichkeit thematisieren, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive bzw. mit unterschiedlichen Ansätzen und Voraussetzungen. 4. Dies ist der sachliche Grund dafür, dass Pannenberg sich auf die Suche macht nach einer „eschatologischen Ontologie“, deren Spuren und Ansätze er in der klassischen antiken griechischen Philosophie aufzuspüren sucht. 5. Pannenberg rechnet aktiv mit Entwicklungen und Tendenzen innerhalb des Ganges der Philosophiegeschichte aber auch im Denken einzelner Philosophen, die ausgelöst werden durch Krisensituationen, in denen das jeweils etablierte bzw. vorherrschende Denken der faktischen Welt- und Selbsterfahrung immer weniger gerecht zu werden vermag. Diesen Entwicklungen und Tendenzen schenkt er erhöhte Aufmerksamkeit, weil sie im Hinblick auf ein besseres und angemesseneres Verständnis der Wirklichkeit von besonderem Interesse bzw. gesteigerter Aussagekraft sind. 6. Im Hinblick auf die Vorsokratiker stellt Pannenberg fest, dass sich bei ihnen, so unterschiedlich die Vorstellungen im Hinblick auf den einen Ursprung der Welt ausfallen, weder explizit noch „notwendig implizit“ ein Zukunftsbezug in den jeweiligen ontologischen Entwürfen ausmachen lässt. Pannenberg legt allerdings besonderes Augenmerk auf die Tatsache, dass den Vorsokratikern je auf ihre Weise die Selbstverständlichkeit abhanden geht, die Wahrheit der vorhandenen Dinge in ihnen selbst anzunehmen, weshalb sie sie jeweils in einer von diesen unterschiedenen Wirklichkeit, der einen ἀρχή suchen und finden. 7. Pannenberg erwägt die Möglichkeit, dieses Differenzmoment der vorhandenen Dinge und ihrer eigentlichen ἀρχή bzw. ihrer eigentlichen Wahrheit in zeitlichen Kategorien, also teleologisch bzw. eschatologisch zu interpretieren. In der von den Vorsokratikern jeweils behaupteten „Nicht-Gegenwart“ des

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Ursprungs in den vorhandenen Dingen könnte man einen „Reflex seiner (des Ursprungs; F.v.D.) Zukünftigkeit“ finden. 8. Diesen impliziten Zukunftsbezug findet Pannenberg ausdrücklich insofern in der sokratischen Frage nach dem Guten bzw. Zweckmäßigen, als das Erstrebte noch aussteht, als ihm jeweils Zukommendes eben noch nicht im Besitz des nach ihm Strebenden, sondern ihm zukünftig ist. 9. In der platonischen Ideenlehre wird laut Pannenberg trotz der Behauptung, dass das Gute jenseits des Seienden liege, das Zukunftsmoment im Begriff des Guten als höchster Idee eher abgeschwächt durch die Tendenz zu einem diastatischen Auseinandertreten der Welt der Ideen und des sinnlich Vorhandenen. Die Unterscheidung zwischen den Ideen und den vorhandenen Dingen wird statisch und verliert jenes dynamische Moment, das die sokratische Frage nach dem Guten und der Tugend bzw. des Zweckmäßigen besitzt. 10. Aristoteles kritisiert genau dieses diastatische Auseinandertreten der Ideen und der Einzeldinge bei Platon (Chorismos!) und dynamisiert die zur Statik neigende Seinslehre Platons insofern wieder, als er die Ideen, gewissermaßen als dynamisches, den Zweck der Einzeldinge repräsentierendes und teleologisch erfüllendes Moment, in die Dinge selbst hineinverlegt. 11. Aus Sicht Pannenbergs bietet dann insbesondere die aristotelische Analyse der Bewegung innerhalb seiner Physik durch die Verbindung der Begriffe Eidos und Telos insofern Ansatzpunkte zu einer Ontologie, die teleologisch bzw. eschatologisch interpretiert zu werden vermag, als das Wesen eines Dinges (Eidos) erst am Ende einer Bewegung Gestalt annimmt, während die Bewegung selbst dadurch zustande kommt, dass das noch nicht erreichte Ziel vorweg im zu Bewegenden gegenwärtig und wirksam wird. 4.

Das Schweigen über Plotin – eine werkgeschichtliche Beobachtung

In seinen Grundzügen zur Christologie von 1964 stellt Pannenberg fest, dass „Gott selbst in aller Selbigkeit doch als ein in sich Lebendiger, der etwas werden kann und gerade darin sich treu und derselbe bleibt, zu verstehen ist. Zu dieser Einsicht haben die Diskussionen um die Selbstentäußerung Gottes beigetragen… Aber das Werden Gottes und seine Selbigkeit muß doch noch genauer in seinem Zusammenhang bedacht werden. Es dürfte kaum genügen, nur vom einem Werden ‚am andern‘ zu sprechen, als ob davon ein inneres Wesen Gottes zu unterscheiden wäre, das von solchem Werden ganz unberührt bliebe. Durch die Hervorbringung eines andern und durch dessen Gestaltung ändert sich auch, was der Hervorbringende selbst ist. Die Veränderung kann vom inneren Sein Gottes nicht ferngehalten werden. Aber das braucht seine Selbigkeit nicht anzutasten. Allerdings kann diese mit einem Werden in Gott selbst nur dann

Christologie und Ontologie

zusammen gedacht werden, wenn Ewigkeit und Zeit sich nicht gegenseitig ausschließen.“17 Diese grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen Gottes und zum Verhältnis von Ewigkeit und Zeit legen einen Bezug auf Plotins Denken nahe, wie er sowohl in Pannenbergs Systematischer Theologie erfolgt als auch in „Metaphysik und Gottesgedanke“18 . In den „Grundzügen zur Christologie“ unterbleibt er interessanterweise. Auch in dem hier vorgestellten Vortrag von 1966 fällt das Fehlen eines Bezuges auf Plotin und den Neuplatonismus als gewissermaßen letzte Entwicklungsstufe antiker griechischer Philosophie auf.19 Geschieht dies aus trivialen bzw. rein formalen Gründen, etwa, weil es den Rahmen des Vortrages gesprengt hätte? Auch wenn dies nicht schlichtweg auszuschließen ist, erscheint es doch als unwahrscheinlich, und zwar deshalb, weil wesentliche Aspekte der von Pannenberg herausgestellten Tendenzen und Entwicklungen innerhalb der Geschichte der antiken griechischen Philosophie im Neuplatonismus kulminieren, mithin zu einem Höhepunkt bzw. Abschluss kommen. Es hätte also nahe gelegen, die aufgezeigten Linien und Entwicklungen bis in die Spätantike weiter zu verfolgen. Dass dies nicht geschieht, weist eher darauf hin, dass Pannenberg zu diesem Zeitpunkt (1966) mit dem Neuplatonismus und speziell mit dem Werk Plotins noch nicht so eingehend vertraut war, als dass ihm die souveräne Bezugnahme auf diese möglich gewesen wäre und sie deshalb unterbleibt bzw., was die Antike betrifft, mit Aristoteles schließt.20 Dass Pannenberg auf seiner Suche nach einer „eschatologischen Ontologie“ innerhalb der klassischen griechischen Philosophie auf frappierende Weise schon 1966 Beobachtungen macht und zu Schlussfolgerungen gelangt, die sich 17 Vgl. a.a.O., 331. 18 Vgl. STh I, 436–442; STh II, 114–116; STh III, 642.646; MuG, 52–65. 19 Vgl. hierzu: E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Dritter Teil. Zweite Abteilung: Die nacharistotelische Philosophie, Hildesheim 6 1963 (Fotomechanischer Nachdruck der 5. Aufl., Leipzig 1923); G. Wenz, Gott. Studium Systematische Theologie Band 4, Göttingen 2007, 293–312; J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004. 20 Dass sich in Pannenbergs Nachlass keine der einschlägigen Plotin-Editionen befindet, weist in diese Richtung. Lediglich die von seinem Münchner Kollegen Werner Beierwaltes aus der philosophischen Fakultät gesondert herausgegeben, teilweise neu übersetzten bzw. eingeleiteten und kommentierten Enneaden III 7 und V 3 sind Teil von Pannenbergs Bibliothek. Erstere erschien in erster Auflage 1967 (also ohnehin später, als Pannenbergs Vortrag „Überlegungen zu einer eschatologischen Ontologie“), wurde von Pannenberg aber offenbar erst in der dritten, ergänzten Auflage 1981 zur Kenntnis genommen, letztere 1991. Auf diese Plotin-Texte und die entsprechenden Erläuterungen und Interpretationen von Beierwaltes hat Pannenberg sich in seinen Veröffentlichungen ab 1985 substanziell gewichtig bezogen, insbesondere auf Enneade III 7. Neben den jeweiligen Bezügen in seiner dreibändigen Systematischen Theologie sei hier besonders hingewiesen auf MuG, vor allem in dem Abschnitt „Sein und Zeit“ (52–65).

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in Plotins Denken wiedererkennen bzw. bestätigen lassen, ohne dass Pannenberg dies vor Anfang der 1980er Jahre bewusst wurde, ist erstaunlich und nicht zuletzt als indirekte Bestätigung seiner grundlegender These aus „Theologie und Philosophie“ zu verstehen, dass beide Disziplinen in einem besonderen Verhältnis stehen „im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte“21 , deren Tendenzen und Entwicklungen von hoher Bedeutsamkeit sind sowohl für philosophisches als auch theologisches Urteilen. An dieser Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, inwiefern sich die Aspekte und Berührungspunkte einer von Pannenberg 1966 gesuchten und ansatzweise anhand der Analyse der antiken griechischen Philosophie umrissenen eschatologischen Ontologie bei Plotin wiederfinden lassen: 1. Zunächst eine eher allgemeine Beobachtung: Pannenberg bezieht sich unter anderem auf Parmenides sowie den platonischen Parmenides-Dialog mit der Bemerkung, Platon habe in diesem bereits erkannt, dass seine Ideenlehre mit dem „fatalen Sinn der Annahme einer Hinterwelt hinter der sinnlich vorhandenen“ auf einen Abweg geführt habe. Der berühmte Dialog dokumentiere gewissermaßen „die Schwierigkeiten, mit denen Platon seit dem Parmenides rang“22 , seine angestrengte Suche nach einem Ausweg aus dem philosophischen Dilemma. Es ist ein Allgemeinplatz in der Plotin-Forschung, dass Plotin, der für seine eigene Philosophie keine Originalität beansprucht, sondern sich als authentischer Ausleger der platonischen Tradition versteht, dem ParmenidesDialog besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat und dass sich wesentliche Aspekte seines philosophischen Systems der Auseinandersetzung mit den Gedanken und Argumenten gerade dieses Dialogs verdanken.23 2. Das von Pannenberg schon bei den Vorsokratikern festgestellte und im Sinne eines sehr vagen impliziten Reflexes der Zukünftigkeit interpretierten Differenzmoment zwischen der sichtbaren Welt bzw. den wahrnehmbaren Einzeldingen und der wahren ἀρχή ist in Plotins Prinzipienlehre, insbesondere im Gedanken des Einem als gründendem Grund, radikalisiert24 und – wenn man so will – nach den Entwicklungsschritten bei Parmenides (die ἀρχή ist das Seiende, die Vielheit der Dinge in ihrer Veränderung und Vergänglichkeit bloßer Schein), den Sophisten (Alles ist Schein und damit relativ), Sokrates (das Streben nach dem jeweils Guten und Zweckmäßigen), Platon (das Gute als 21 Siehe der Untertitel von ThuPh. 22 Seite 4 des Manuskripts. 23 Vgl. die Bemerkung Halfwassens in: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 15: „Die Neuplatoniker verbinden in ihrer Platonauslegung die ungeschriebene Prinzipientheorie mit den Angaben der Dialoge, um dadurch zu einem möglichst vollständigen und in sich folgerichtigen System des Platonischen Denkens zu kommen. Der wichtigste Dialog ist dabei seit Plotin der Parmenides, dessen Thema das Eine und sein Verhältnis zur Vielheit ist“. 24 Vgl. dazu Halfwassen, a.a.O., 32–58.

Christologie und Ontologie

jenseits alles Seienden, Diastase von Ideen und Seiendem) und Aristoteles (Idee als bewegendes Moment der Einzeldinge, das diesen zwar inhärent ist, aber in gewisser Weise dem Bewegten jeweils vorausliegt) in prägnanter Weise zu Ende gedacht: Die von Pannenberg festgestellte Inkonsequenz, dass bei den Vorsokratikern der wahre Ursprung des Seienden in Differenz zum Vorhandenen, aber dann selbst wieder als vorhanden/seiend gedacht wird, ist beseitigt, indem das Eine/Gute konsequent, die Linie von Platons berühmten Diktum in der Politeia weiterführend, als jenseits des Seins verstanden und seine „Vorhandenheit“ als grundsätzlich verschieden von derjenigen der Einzeldinge behauptet wird. 3. Das Eine/Gute liegt zwar jenseits von Sein und Denken, auch – im Unterschied zur Sachlage bei Aristoteles – jenseits des Geistes, der Sein und Denken integriert, tritt aber nicht mehr, wie dies tendenziell noch bei Platon der Fall ist, als höchste Idee in abstrakter Weise in Diastase zu allem Seienden, sondern ist Sein und Denken gleichzeitig immanent und damit – um Pannenbergs spätere Diktion zu verwenden – wahrhaft unendlich bzw. absolut.25 4. Das implizite Moment der Zukünftigkeit, das Pannenberg in der sokratischen Frage nach dem Guten und Zweckmäßigen entdeckt, wird bei Plotin klar aufgenommen und tendenziell expliziter: Die Seele strebt aus der Zerstreuung ins Vielfältige in einer Bewegung nach „innen“ und „oben“ durch die Hinwendung zum Geist nach der Einung mit dem Einen, das als wahrer Ursprung ganz in sich bleibt und ruht. Das Ziel alles Vielfältigen und so auch des Strebens der individuellen Seele ist die Rückkehr in die Einheit des Einen.26 Auch wenn bei Plotin nach wie vor das Zeitliche mit der unseligen Zerstreuung der Seele ins Vielfältige in Zusammenhang gebracht wird, also negativ konnotiert ist, so stellt sich über die Begriffe des Einen/Guten bzw. über die Thematik des Strebens der Seele nach Rückkehr und Einung mit dem Einen/Guten eine Verzeitlichung ein, damit auch ein stärker werdendes Moment der Zukünftigkeit27 . Pannenbergs nebenbei, fast lakonisch eingestreute Bemerkung: „Damit ist ja grundsätzlich immer zu rechnen, daß eine Aussage mehr impliziert als dem Redenden selbst bewußt wird“, scheint sich auch bei Plotin zu bewahrheiten: Der Begriff des Einen und die Thematik des Strebens der Seele nach Rückkehr ins Eine trägt gewissermaßen einen Hang zur Verzeitlichung und Zukünftigkeit

25 Vgl. MuG, Abschnitt 2 (Das Problem des Absoluten), 20–33. 26 Vgl. dazu J. Halfwassen, a.a.O., 98–109. 27 Vgl. MuG, 57: „Infolge des Verfalls der Einheit des Lebens ins Teilhafte wird Ganzheit zum Zukunftsziel des Strebens im Bereich des Endlichen, und der Weg dahin ist die Zeit. Die Orientierung des Zeitverständnisses an der Ganzheit des Ewigen hat somit einen Primat der Zukunft für das Zeitverständnis zur Folge.“

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in sich28 , auch wenn Plotin selbst das möglicherweise gar nicht so deutlich bewusst gewesen sein mag. 5. Dieses Moment der Zukünftigkeit, das im Begriff des Einen und der Thematik der Rückkehr ins Eine liegt, wird nun tatsächlich explizit thematisch in Plotins Reflexion über Ewigkeit und Zeit in Enneade III 729 . Das Thema 28 Vgl. die Bemerkung Pannenbergs in MuG: „Das absolute Eine läßt sich nicht nur als Ursprung, sondern auch als Vollendung der Dinge thematisieren“. (92, Anm. 3 zur ersten Abhandlung: „Das Ende der Metaphysik und der Gottesgedanke“). Pannenberg attestiert dem Begriff des Einen also in gewisser Weise nicht nur protologisches, sondern gleichzeitig auch eschatologisches Potential. 29 Vgl. hierzu die unter Anm. 17 bereits erwähnte Neu-Herausgabe dieser wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Enneade durch W. Beierwaltes mit ihren ausführlichen Kommentierungen/Interpretationen der einschlägigen Textstellen (Plotin. Über Ewigkeit und Zeit. [Enneade 3, 7], Frankfurt 5 2010). Pannenberg hat dieses Werk seinerzeit in der 3. Auflage (1981) mit Akribie zur Kenntnis genommen, wovon die intensiven Anstreichungen in seinem Handexemplar Zeugnis geben. Die Plotinsche Verhältnisbestimmung von Ewigkeit und Zeit, dass nämlich die Ewigkeit der Zeit nicht einfach entgegengesetzt, sondern vielmehr als der Ermöglichungsgrund alles Zeitlichen anzusprechen ist, hält Pannenberg für unübertroffen bis in die Gegenwart hinein: „Es ist Plotins These gewesen, daß das Wesen der Zeit nur in bezug zur Ewigkeit verstanden werden kann, weil sonst die Übergänge von einem Zeitmoment zum andern unverständlich bleiben. Zum Verständnis dieses Sachverhalts ist die Anschauung des Ganzen des Lebens, das in der Zeit im Nacheinander seiner Momente gegeben ist, vorausgesetzt, und die simultane Gegenwart dieses Ganzen ist eben die Ewigkeit im Sinne Plotins.“ (STh I, 439). Mit ausdrücklichem Bezug auf Plotins Zeittheorie kann er urteilen: „Der Gedanke der Ewigkeit, der der Zeit nicht nur entgegengesetzt, sondern zugleich positiv auf sie bezogen ist und sie in ihrer Totalität umfaßt, bildet eine geradezu paradigmatische Veranschaulichung und Konkretisierung der Struktur des wahrhaft Unendlichen, das dem Endlichen nicht nur entgegengesetzt, sondern diesen seinen Gegensatz zugleich umgreift.“ (STh I, 441). Plotins Ewigkeitsverständnis und Zeittheorie ist somit verstanden als Explikation des für Pannenbergs religionsphilosophische Überlegungen zentralen Begriffs der wahren Unendlichkeit. Und dass die Zukunft das wahre Wesen der Zeit ist, wertet Pannenberg als eine bedeutende Einsicht Plotins, die die biblische Eschatologie aus philosophischer Perspektive bestätigt. Plotin spricht in der entscheidenden Passage in Enneade III 7, auf die sich Pannenberg wiederholt bezieht, von einer „Natur, geschäftig und danach strebend, Herr ihrer selbst zu sein und sich selbst zu gehören; sie war gewillt, mehr zu suchen als bei ihr war: so geriet sie in Bewegung, es geriet aber auch in Bewegung die Zeit, und wir wurden bewegt zum Immer-Künftigen und Späteren und niemals Selbigen hin, sondern zum immer wieder Anderen“ (III 7, 11, 15–19; zit. n. Beierwaltes, 3 1981, 127). Das sich selbst genügende, in sich ruhende ewige Leben des Geistes tritt in dieser Verzeitlichung der Seele auseinander in ein Nacheinander, eine niemals zur Ruhe kommende Bewegung hin zum Künftigen: „statt der Selbigkeit und Unwandelbarkeit und des Verharrenden: das nicht in dem Selben Verharrende, immer wieder Anderes Tätigende; statt des Abstandslosen und Einen: das durch Zusammenhang Eine als Nachbild des Einen; statt des Vollendet-Unendlichen und Ganzen: das Immer-im-Nacheinander-ins-Unendliche; statt des einig Ganzen: das teilweise und immer nur Künftig-Ganze.“ (III 7, 11, 51–56; Beierwaltes, 129). Für Pannenberg ist das nicht weniger

Christologie und Ontologie

„Sein und Zeit“, von dem Pannenberg noch im Hinblick auf Aristoteles bemerkt, dass es „nicht explizit aufgeworfen (wird)“30 , bricht auf einmal hervor als eigenes Philosophem, und zwar in einer Art und Weise, wie Pannenberg später in „Metaphysik und Gottesgedanke“ argumentieren wird, die Heideggers Jahrhundertwerk „Sein und Zeit“ in den zentralen Gedanken vorwegnimmt.31 Die detaillierte Analyse seines unveröffentlichten Vortrags aus dem Jahr 1966 hat ergeben, dass Pannenberg die Geschichte der antiken griechischen Philosophie akribisch daraufhin untersucht hat, ob sich in ihr Ansätze zu einer Verschränkung von Sein und Zeit finden, die sich mit der biblischen Eschatologie, insbesondere mit dem Thema der kommenden Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu und der damit verbunden Zukunftsorientiertheit des Wirklichkeitsverständnisses, in eine positive Relation setzen lassen. Dass sich dies – außer den Anknüpfungspunkten bei der Lehre vom Guten bei Platon sowie der Entelechie-Lehre des Aristoteles – vielleicht am deutlichsten für Plotin behaupten lässt und somit zentrale Beobachtungen und Thesen seines damaligen Vortrags sich bestätigen lassen, war Pannenberg 1966 noch nicht klar, sondern erst ein Ergebnis seiner später ab Anfang der 1980er Jahre einsetzenden, intensiveren Auseinandersetzung mit Plotins Denken.32 Aufgrund seiner Überzeugung, dass Theologie und Philosophie immer in einem wechselseitigen Verhältnis stehen und insofern auch eine gemeinsame Geschichte aufweisen, suchte Pannenberg nicht nur bei den antiken griechischen Denkern, sondern auch in zeitgenössischen philosophischen Entwürfen nach Ansätzen zu einer Wiederbelebung der Metaphysik bzw. einer Ontologie, die eschatologisch interpretiert zu werden vermag. Was Letzteres anbetrifft, konnte er die Leistung Heideggers – bei aller sonstigen Gegnerschaft, was die Frage nach dem (vermeintlichen) Ende der Metaphysik anbetrifft – wiederholt herausstellen33 . Auch die amerikanische Prozessphilosophie war ihm, nicht

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als die philosophische Entdeckung der biblischen Eschatologie: „Die Zukunft wird damit konstitutiv für das Wesen der Zeit, weil nur von ihr her dem Zeitlichen jene Ganzheit zuteil werden kann, die die Einheit und Kontinuität des Prozesses der Zeit ermöglicht.“ (STh I, 441). Diese Erkenntnis, die erstmals von Plotin formuliert wurde, impliziert auch ein neues Verhältnis von Sein und Zeit, eine Art „eschatologische Ontologie“, wie Pannenberg sich in seinen frühen Veröffentlichungen der 1960er Jahre ausdrücken kann. Zu dieser Zeit freilich hatte Pannenberg Plotin als philosophischen Gewährsmann noch nicht wirklich entdeckt. Manuskript Seite 5. „Nicht erst Heidegger, sondern schon Plotin hat einen Primat der Zukunft für das Verständnis der Zeit behauptet, und analog zu Heidegger ist dieser Primat darin begründet, daß die Ganzheit des Daseins nur von seiner Zukunft her möglich ist.“ (MuG, 57f). Pannenberg wurde hier entscheidend angeregt durch den seit 1982 an der philosophischen Fakultät der LMU München lehrenden Neuplatonismus-Experten Werner Beierwaltes angeregt, mit dem er sich fortan in einem intensiven philosophischen-theologischen Austausch befand. MuG, 52–65.

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nur in der Phase seines Gastaufenthaltes in den USA in den 1960er Jahren, ein wichtiger Gesprächspartner34 . Inwiefern Pannenberg die neuere französische Phänomenologie35 aktiv wahrgenommen hat, die sich unter anderem an Heidegger, vor allem aber auch an das Erbe Edmund Husserls anschließt, muss hier dahin gestellt bleiben. Auffällig ist, dass diese auch im deutschen Kontext einflussreicher werdende philosophische Strömung die vielleicht vielversprechendsten Ansätze zu dem liefert, was Pannenberg seinerzeit mit dem Stichwort „eschatologische Ontologie“ zu benennen versuchte. Dies soll in einem Ausblick skizzenhaft beleuchtet werden. 5.

Ausblick: Phänomenologische Metaphysik – oder: Vom offenen Wesen der Dinge

Der im gleichen Jahr wie Wolfhart Pannenberg im Alter von 60 Jahren plötzlich verstorbene, vormals langjährig an der Bergischen Universität Wuppertal lehrende ungarische Philosoph László Tengelyi (1954–2014) hat kurz vor seinem zu frühen Tod mit seiner letzten großen Monographie „Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik“36 ein opus magnum vorgelegt, das denjenigen, der sich mit Pannenbergs Werk und insbesondere mit seinem Metaphysikverständnis auskennt, aufhorchen lassen muss. Unter starker Bezugnahme auf Heidegger und – noch deutlicher – den späten Husserl entwickelt Tengelyi das Programm einer phänomenologischen Metaphysik, die – entsprechend Pannenbergs Forderungen zur Erneuerung der Metaphysik – der Kontingenz bzw. der Kategorie der Zeit, damit der Geschichtlichkeit und Zukünftigkeit im Hinblick auf das wahre Wesen der Dinge mehr Gewicht einzuräumen in der Lage ist. Tengelyi stellt unter Bezug auf einige

34 Vgl. MuG, 80–91. 35 Vgl. hierzu: H.D. Gondek/L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011. Die Autoren thematisieren unter anderem das von Dominique Janicaud geprägte Schlagwort von einer „theologischen Wende“ in der französischen Phänomenologie (s. dazu die Einleitung, 9–36). Denker wie der späte Merleau-Ponty, Emanuel Levinas, Michel Henry, Jean-Luc Marion und Jean-Louis Chrétien sahen bzw. sehen sich offenbar „verschiedentlich dazu gedrängt und genötigt (…), die Grenze des unmittelbar Erscheinenden zu überschreiten.“ (Einleitung, 12). Nach Janicaud könne man diese theologische Wende präziser auch als „Nötigung zum Überstieg“ bzw. als „höchst eigentümlichen Transzendenzdrang“ bezeichnen (13). Während Janicaud gegenüber diesen Tendenzen in der neuen französischen Phänomenologie darauf insistiere, an einem methodologischen Atheismus festzuhalten, sei bei den erwähnten Philosophen eine „neue Bereitschaft“ zu erkennen, „diese methodologische Forderung nicht zu beachten.“ (14; Hervorhebung im Original). 36 Freiburg/München 2014, (3 2015).

Christologie und Ontologie

Bemerkungen Husserls im „zweiten Buch der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ fest, dass dieser „davon ausgeht, dass die Dinge in der Welt kein von vornherein feststehendes und ein für alle Mal erfassbares Eigenwesen haben, dass ihnen vielmehr stets nur ein ‚offenes Wesen‘ zukommt, das immer wieder neue Eigenschaften annehmen kann.“ Husserl habe sich in der Spätphase seiner Philosophie dazu genötigt gesehen, „die Frage nach einer offenen Unendlichkeit der Welt zu stellen.“37 Im Hinblick auf das „offene Wesen der Dinge“ hält Tengelyi mit Husserl fest, dass hiermit nicht etwa Eigenschaften der Dinge gemeint sind, „die neu entdeckt werden, sondern Eigenschaften, die neu entstehen. Der Ausdruck ‚offenes Wesen‘ hat hier ebendeshalb keinen epistemologischen, sondern einen ontologischen Sinn.“38 Man vergleiche damit folgende Bemerkungen Pannenbergs in „Metaphysik und Gottesgedanke“: „Könnte es sein, daß die antizipative Form des Erkennens einem Moment des ‚Noch nicht‘ in der Wirklichkeit entspricht, auf die sich das Erkennen richtet?“39 – „Nicht nur unser Erkennen, sondern auch die Identität der Dinge selbst ist im Prozeß der Zeit noch nicht abgeschlossen vorhanden. Diltheys Analysen der Geschichtlichkeit des Erlebens ergaben, daß sich im Fortgang der Zeit mit der Veränderung des Kontextes auch die Bedeutung der Ereignisse und Dinge ändert, die wir erleben.“40 Diese „Verbindung von Sein und Zeit“, wie sie von Pannenberg wiederholt gefordert wurde im Sinne einer eschatologisch orientierten Ontologie und wie sie in Tengelyis Programm einer phänomenologischen Metaphysik ebenfalls frappierend deutlich hervortritt, ermöglicht, wie Pannenberg feststellt, „eine größere Nähe des philosophischen Denkens zur biblischen Wirklichkeitsauffassung.“41 Tengelyis letzter, posthum veröffentlichter Aufsatz trägt den Titel: „Philosophie als Weltoffenheit“42 . In diesem spricht er in Auseinandersetzung mit einem Diktum des späten Schelling von einer „Offenheit der Welt für die Zukunft“. Diese sei jedoch „keineswegs eine einst noch kommende Gegenwart, sondern vielmehr nur eine grundsätzliche Zukunftsoffenheit der Welt, die jede künftige Gegenwart erst ermöglicht.“43 Der Welt kommt damit 37 L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg/München 32015, 543. 38 Ebd., 544. 39 MuG, 75. 40 Ebd., 76. 41 Ebd., 79. 42 Veröffentlicht in: DZPhil 2015; 63(5), 958–976. 43 Ebd., 973. Hier liegt der Gedanke nicht fern, dass die Ewigkeit als das eigentliche Wesen der Zeit (so Pannenberg im Anschluss an Plotins Ewigkeits- und Zeitverständnis) dem Dasein aus (Gottes) Zukunft jeweils zufällt und ihm so zur eigentlichen Ganzheit verhilft (vgl. W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 56–63).

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Friedemann vom Dahl

„eine Zukunftsoffenheit zu, die über jede Seinstotalität hinausweist. In ihrer Zukunftsoffenheit ist die Welt – mit einem Ausdruck, der aus der platonisch-neuplatonischen Tradition stammt (…) – etwas ‚Überseiendes‘, das nur insofern überhaupt im Sein verankert ist, als es vom Vermögen der Transzendenz – oder, mit anderen Worten, von der Fähigkeit zur Weltoffenheit – getragen ist.“44

Dass diese Bemerkungen eine Fülle von Bezügen zu Pannenbergs Denken und insbesondere zu einer eschatologischen Ontologie in sich tragen, dürfte hinreichend deutlich sein und wartet auf eine eigene, eingehende Untersuchung, für die an dieser Stelle nicht der Raum ist.45 In jedem Falle darf man davon ausgehen, dass Pannenberg, hätte er den Entwurf Tengelyis noch kennenlernen können, dessen Gedanken mit hohem Interesse und einer viel weitgehenderen Zustimmung zur Kenntnis genommen hätte, als er es der Prozessphilosophie und der in seinen Augen „atomistischen Auffassung der Konstitution der dauerhaften Gestalten aus Elementarereignissen, wie sie Whitehead entwickelt hat“46 , jemals zuzugestehen sich in der Lage sah. 44 Ebd., 975. 45 Besonders interessant erscheinen auf den ersten Blick folgende Punkte: 1. Tengelyi kritisiert – bei allem positiven Anschluss an dessen Philosophie – Heideggers kategorische Ablehnung jeglicher Metaphysik mit ganz ähnlichen Argumenten, wie Pannenberg das in „Metaphysik und Gottesgedanke“ tut (vgl. dazu den ersten Teil in Tengelyis Monographie mit dem Titel „Metaphysik und Ontotheologie“, 23–168, bes. 25–45). 2. Tengelyi sucht ähnlich wie Pannenberg den positiven Anschluss an die aristotelische Tradition, indem er darauf hinweist, dass sich die aristotelische Metaphysik – entgegen Heideggers Auffassung – durch einen „aporetischdiaporetischen Charakter“ ausweise, die sie von einem „ontotheologischen“ Verständnis des Seins im Sinne einer strengen, hierarchischen Seinsordnung, die in einem höchsten Sein gründet, unterscheidet. Metaphysik bleibe bei Aristoteles „gesuchte Wissenschaft“, womit eine „niemals zum Abschluss kommende Suche“ gemeint sei (vgl. 46–55; Zitat: 52). 3. Tengelyis Ablehnung der Möglichkeit bzw. Legitimität einer „Ontotheologie“ (vgl. dazu seine Schlussgedanken: „Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie“, 549–556) trifft sich im Wesentlichen sachlich mit Pannenbergs kritischen Gedanken gegenüber der klassischen metaphysischen Tradition, wie er sie zum Beispiel in „Metaphysik und Gottesgedanke“ äußert (vgl. dort etwa: 18–19). 4. Tengelyi bemüht sich um eine Erneuerung des philosophischen Weltbegriffs im Sinne einer Totalität alles Wirklichen, auf dessen Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit auch Pannenberg immer wieder hingewiesen hat (vgl. bei Tengelyi 297–425 und dazu Pannenberg in „Theologie und Philosophie“, Göttingen 1996, 15–19). 5. Hierbei unterscheidet Tengelyi den Begriff der Gesamtwirklichkeit der Welt noch einmal kritisch von dem des Unendlichen (vgl. 435–548) und erreicht gerade dadurch die Dynamisierung des ontologischen Verständnisses von Einzelding und Welt im Sinne einer „Offenheit“: „Die so verstandene Offenheit unterscheidet das Unendliche nicht nur von der Seinstotalität des Dinges, sondern auch von der Gesamtwirklichkeit der Welt.“ (547). Dass der philosophische Begriff der Unendlichkeit eine ähnliche Funktion in Pannenbergs Religionsphilosophie bzw. philosophischer Theologie einnimmt, ist hinreichend bekannt. 46 W. Pannenberg, MuG, 78.

Christologie und Ontologie

6.

Schluss

„‚(Sie) müssen das nun praktisch anhand der Kirchen- und Weltgeschichte durchführen, belegen und bewähren, dass Offenbarung Geschichte und Geschichte Offenbarung sei‘“, so hatte Karl Barth den jungen Wolfhart Pannenberg aufgefordert. Seine Christologie verstand Pannenberg keineswegs als ein Ausweichen vor dieser Aufgabe, wie Barth es ihm zunächst unterstellte: als einen theologischen Entwurf, der Offenbarung setzt und sich bei der Explikation dieser Offenbarung kaum um ein Welt- und Wirklichkeitsverständnis zu kümmern braucht, wie es den Natur- und Geisteswissenschaften, insbesondere der Philosophie zugänglich ist und innerhalb der einzelnen Disziplinen wissenschaftlich diskutiert wird. Er war sich darüber im Klaren, dass seine christologischen Erwägungen auf Schritt und Tritt ontologische und erkenntnistheoretische Implikationen aufwiesen, die sich vor dem Forum einer allgemeinen Vernunft zu bewähren hatten bzw. haben. Dass er beständig versuchte, seinen Beitrag zu diesem Unternehmen zu leisten, zeigt der Vortrag von 1966 exemplarisch. Und er rechnete damit, falls das eschatologische Wirklichkeitsverständnis der Bibel, insbesondere wie es sich in der Verkündigung bzw. im Geschick Jesu manifestiert, tatsächlich stichhaltig sein sollte, die Vernunft früher oder später selbst auf dieses Phänomen der Zukünftigkeit des Wesens aller Dinge aufmerksam werden wird. Ansätze dazu fand er bereits in der klassischen griechischen Philosophie. Und vielleicht darf man Tengelyis jüngsten philosophischen Entwurf als eine eindrucksvolle Bestätigung dieser Pannenbergschen Annahme verstehen. In jedem Fall sind Christologie und Ontologie in Pannenbergs Denken von Anfang an auf höchst eindrucksvolle und nachdenkenswerte Weise eschatologisch verschränkt: „Gott ist aus seiner Ewigkeit, durch die Auferstehung Jesu, die seiner Ewigkeit immer schon gegenwärtig ist, eine der Menschheit zunächst verborgene Einheit mit diesem Menschen eingegangen, eine Einheit, die ihr Licht auf den Weg Jesu vorauswarf, deren Grund und Wirklichkeit aber erst mit der Auferstehung Jesu offenbar geworden ist.“47

47 Grundzüge der Christologie, a.a.O., 333.

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Dirk Ansorge, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstraße 242, 60599 Frankfurt a.Main Dr. Georg Bruder, Holzstraße 12, 80469 München Pfr. Friedemann vom Dahl, Kurhausstraße 43a, 65719 Hofheim am Taunus PD Dr. Wolfgang Greive, Mühlstraße 11, 82467 Garmisch Prof. Dr. Malte Dominik Krüger, Philipps-Universität Marburg, EvangelischTheologische Fakultät, Lahntor 3, 35032 Marburg Prof. Dr. Dr. Felix Körner SJ, Pontifica Università Gregoriana, Facoltà di Teologia, Piazza della Pilotta 4, I-00187 Roma Prof. Dr. Ekkehard Mühlenberg, Georg-August-Universität Göttingen, Theologische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen Prof. Dr. Friederike Nüssel, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Theologische Fakultät, Ökumenisches Institut, Plankengasse 1–3, 69117 Heidelberg Dr. des. Thomas Oehl, B.A., M.A., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Joachim Ringleben, Georg-August-Universität Göttingen, Theologische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen Prof. Dr. Georg Sans SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Prof. Dr. Klaus Vechtel SJ, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstraße 224, 60599 Frankfurt a.Main Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München (Pannenberg-Forschungsstelle)