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German Pages [295] Year 2017
Gunther Wenz (Hg.)
Kirche und Reich Gottes Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs Pannenberg-Studien
Band 3
Pannenberg-Studien
Band 3
Herausgegeben von Gunther Wenz
Gunther Wenz (Hg.)
Kirche und Reich Gottes Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs
Vandenhoeck & Ruprecht
Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2367-4369 ISBN 978-3-666-56032-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gunther Wenz Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Friederike Nüssel Kirche als Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes. Zu Genese und Profil der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs . . . . . . . . . . . . . . .
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Josef Schmidt SJ Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden. (zum Kapitel 13, II aus W. Pannenbergs „Systematischer Theologie III“) .
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Thomas Oehl Nichtidentität, aber wirksame Gegenwart. Zum Zeichenbegriff in Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Kirche und Reich Gottes
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. . . .
Klaus Vechtel SJ Kirche und Herrenmahl. Die Bedeutung des Herrenmahls in Pannenbergs Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Stefan Dienstbeck Extra ecclesiam nulla salus? Ein ökumenischer Blick auf die Verhältnisbestimmung von Individualität und Sozialität in Wolfhart Pannenbergs Kirchenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Walter Dietz Kirche und Erwählung in der Theologie W. Pannenbergs
. . . . . . . . . 145
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Inhalt
Felix Körner SJ Glaubensgemeinschaft und politische Ordnung. Pannenbergs Ekklesiologie im Gespräch mit islamischen Staatstheorien . . . . . . . . . 157 Malte Dominik Krüger Pannenberg als Gedächtnistheoretiker. Ein Interpretationsvorschlag (auch) zu seiner Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Volker Leppin Pannenbergs Theologie der Kirchengeschichte. Voraussetzungen, Entfaltung, Probleme aus Sicht eines Kirchenhistorikers . . . . . . . . . . 203 Gunther Wenz Dienst an der Einheit. Zur Lehre vom kirchlichen Amt und ihrem ekklesiologischen Kontext in Pannenbergs Systematischer Theologie . . . 219 Peter Walter Gliederungsformen des ordinationsgebundenen Amtes bei Wolfhart Pannenberg. Bemerkungen eines römisch-katholischen Theologen in ökumenischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Peter Neuner Zur Geschichte der Münchner Institute für Fundamentaltheologie und Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Gunther Wenz Gründende Urzeit und kommendes Gottesreich. Schellings Philosophie der Mythologie und ihre geschichtstheologische Rezeption durch Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Verzeichnis der Autoren
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Vorwort
Wie am Tag der Bekanntgabe der Dogmatischen Konstitution „Pastor aeternus“ des I. Vatikanischen Konzils gingen am 3. November 1968 schwere Unwetter und sintflutartige Regenfälle über Rom nieder, die diesmal allerdings nicht nur die ewige Stadt, sondern weite Teile Italiens und des restlichen Europas betrafen. In der Isarmetropole hingegen blieb die meteorologische Lage entspannt; der Wetterbericht meldete zwar viele Wolken, aber nur wenig Niederschläge. Da auch die Münchener Studentenunruhen, die im Mai des Jahres die Feierlichkeiten anlässlich der Eröffnung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität verhindert hatten, eine Sonntagspause einlegten, konnte der öffentliche Vortrag Wolfhart Pannenbergs zum Reformationstag ungestört und wie vorgesehen stattfinden. Unter dem Titel „Reformation zwischen gestern und morgen“ kennzeichnete der erste Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie I am neugegründeten Münchener Fachbereich für evangelische Theologie die Reformation als ein mittelalterliches Phänomen und die Neuzeit als ihre unbeabsichtigte Folge, um nach einer Charakteristik neuzeitlicher Probleme jenseits ihres Horizontes die bleibende Relevanz der Reformation für Gegenwart und Zukunft zu würdigen. Drei wirkungsgeschichtlich bedeutsame Aspekte werden dabei eigens hervorgehoben: An erster Stelle findet die „Ermutigung der Selbständigkeit des Menschen“ Erwähnung, die von der Reformation ausgegangen sei. „Der Glaube im reformatorischen Sinne machte eben doch jeden einzelnen Christen unmittelbar zu Gott. Alle historische und institutionelle Vermittlung der Christusoffenbarung durch Bibel, Kirche und Pfarrer hatte ihr Ziel darin, den einzelnen Menschen in unmittelbare Gemeinschaft mit Gott zu bringen.“ (19) Zwar sei die Glaubensunmittelbarkeit im Sinne reformatorischer Theologie keine vermittlungslose, sondern an die Medien des Heils und zuletzt an den Mittler selbst gebunden; doch würden Gott und seine Verheißung in Jesus Christus „nicht mehr auf Autorität hin wahrgenommen“ (21), weil ihr Selbstbewährungs- und Selbstbeglaubigungsvermögen gewiss sei. Der „Abschied von jeder autoritätsgebundenen Denkweise“ (20) liege in der Konse-
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Vorwort
quenz dieser Annahme, auch wenn sie von den Reformatoren selbst nur ansatzweise gezogen worden sei. Als einen zweiten Aspekt wirkungsgeschichtlicher Bedeutung der Reformation hebt Pannenberg die von ihr betonte Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität in der communio fidelium hervor, welche zu sein die Kirche bestimmt ist. Weil die Gottunmittelbarkeit des Glaubens auf die in ihm ergriffene Wahrheit Gottes und seiner Verheißung beruht, ist die Freiheit des Glaubenden nicht diejenige „eines religiösen Individualismus, der sich isoliert von der Gemeinschaft und auf Kosten der übrigen Menschheit seine Rechte genießt“ (23). Sie stellt keine Freiheit unmittelbarer Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung dar, sondern „eine Freiheit des Dienstes an den Menschen, denen die frei machende Wahrheit in ihrer Allgemeinheit gilt“ (ebd.). Weil der christliche Glaube nach reformatorischer Lehre durch dienstbare Freiheit charakterisiert sei, habe sich hieraus, so folgert Pannenberg zum dritten, die Anerkennung einer Vielfalt im Glaubensverständnis zu ergeben. „Es muß der Pluralismus im Glaubensverständnis als notwendiger Ausdruck der durch den Glauben geschenkten Freiheit anerkannt werden.“ (24) Dieser Notwendigkeit sei man sich im Reformationsjahrhundert nur sehr bedingt bewusst geworden. Umso größer sei in dieser Hinsicht die gegenwärtige und künftige ökumenische Verpflichtung und das umso mehr, als die Reformation nach Maßgabe ihrer genuinen Absicht die westliche Christenheit nicht zertrennen und neue Kirchen gründen, sondern die una, sancta, catholica et apostolica ecclesia reformieren wollte. „Das erbärmliche Sichabfinden mit der Spaltung der Christenheit, die Selbstzufriedenheit, mit der man fortfährt, in konfessionell getrennten Kirchen zu leben und gar die konfessionellen Sondertraditionen ängstlich zu bewahren, obwohl doch jeder Christ die eine allgemeine christliche Kirche bekennt – das ist zutiefst unreformatorisch. Aber die Einheit der Kirche, für die die Reformatoren wirkten, wird nur möglich sein aus dem Geist der Glaubensfreiheit in Anerkennung der Pluralität des Glaubensverständnisses angesichts des Abstandes unseres Verstehens von der einen Wahrheit Gottes in der Person Jesu Christi. Durch solche Einigung werden die Christen nicht nur die Wahrheit ihres eigenen Glaubens glaubhafter bezeugen, sondern auch der neuzeitlichen Gesellschaft ein Beispiel geben für die Lösung eines ihrer Grundprobleme – für die Verbindung von Einheit und Pluralität.“ (25) Wolfhart Pannenberg (1928–2014) war ein evangelischer, der reformatorischen Tradition verbundener Theologe. Seine Theologie verleugnete ihre konfessionelle Herkunft ebenso wenig wie ihre geografische. „Dennoch geht es in ihr nicht um eine konfessionell lutherischer Theologie und auch nicht um eine europäische (i. U. zu einer beispielsweise lateinamerikanischen) Theologie, sondern um die Wahrheit der christlichen Lehre und des christlichen Bekenntnisses schlechthin. Möge sie der Einheit aller Christen im Glauben an ihren einen
Vorwort
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Herrn dienen.“1 Der Satz am Schluss des Vorworts von Pannenbergs opus magnum, der in den Jahren 1988 bis 1993 in drei Bänden erschienenen „Systematischen Theologie“, ist programmatisch für seine gesamte theologische Arbeit und insbesondere für seine Ekklesiologie, die er in dezidiert ökumenischer Absicht konzipierte. Dabei hatte er naheliegenderweise neben den reformatorischen Kirchen insbesondere die römisch-katholische Kirche im Blick, ohne das weite Feld der ostkirchlichen Orthodoxie unberücksichtigt zu lassen. Grundlegend für Pannenbergs ekklesiologischen Entwurf ist der differenzierte Zusammenhang von Kirche und Reich Gottes. Dieser war Thema des dritten Pannenberg-Kolloquiums, das am 21. Und 22. Oktober 2016 in der Münchener Hochschule für Philosophie SJ vom Pannenberg-Forschungsinstitut unter Leitung des Herausgebers veranstaltet wurde und dessen Beiträge abgesehen von demjenigen über Pannenbergs Wirken im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen von Dorothea Sattler im vorliegenden Sammelband dokumentiert sind. Das ursprünglich vorgesehene Referat von Frau Christine Axt-Piscalar zu den Wesensattributen der Kirche konnte aus Krankheitsgründen nicht gehalten werden. Dass er Theologe und ein ökumenischer Lehrer der Kirche werden sollte, war Pannenberg nicht an der Wiege gesungen. Sein zwar langer, aber bemerkenswert geradliniger Weg zur Theologie und in ihr zu Ekklesiologie wird im Einleitungsbeitrag des Herausgebers in Grundzügen nachgezeichnet, wobei das Hauptaugenmerk der Ausbildung der konzeptionellen Grundlagen der Lehre von der Kirche gilt, wie sie durch den eschatologischen Begriff des Reiches Gottes angezeigt ist. Diesem Begriff kommt in Pannenbergs Denken eine Schlüsselstellung nicht nur für die Ekklesiologie, sondern für das Gesamtsystem zu, ohne Kenntnis von dessen Struktur sich die Lehre von der Kirche nicht angemessen erfassen lässt. Kirche ist Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes. Nach Explikation dieses Grundsatzes der Pannenbergschen Ekklesiologie durch Friederike Nüssel und nach Bestimmung der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden durch Josef Schmidt SJ wird der Zeichenbegriff, welcher das Verhältnis von Kirche und Reich Gottes charakterisiert, von Thomas Oehl auf seine gedankliche Struktur hin analysiert und mit demjenigen der Sakramentenlehre verbunden. Die Bedeutung des Altarsakraments in Pannenbergs Ekklesiologie erörtert sodann Klaus Vechtel SJ. Das Herrenmahl kennzeichnet zusammen mit der Taufe die sakramentale Grundverfassung der Kirche in der Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität, welche die beiden sacramenta maiora wirksam bezeichnen.
1 W. Pannenberg, STh I, Göttingen 1988, 10.
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Vorwort
Eigens zum Thema erhoben wird die Verhältnisbestimmung von Individualität und Sozialität in Pannenbergs Kirchenverständnis von Stefan Dienstbeck. Eine Studie zu Kirche und Erwählung in der Pannenbergschen Theologie von Walter Dietz schließt sich an. Sodann bringt Felix Körner SJ Pannenbergs Ekklesiologie mit islamischen Staatstheorien ins Gespräch, und Malte Dominik Krüger unterbreitet einen Interpretationsvorschlag, der die Pannenbergsche Lehre von der Kirche unter dem Aspekt einer Gedächtnistheorie zu verstehen sucht. Von hier aus lässt sich unschwer eine sachliche Brücke zu Pannenbergs Theologie der Kirchengeschichte schlagen, die Volker Leppin aus der Sicht eines Kirchenhistorikers analysiert. Die beiden Folgeaufsätze sind der Lehre vom kirchlichen Amt gewidmet: Der Herausgeber entfaltet sie und ihren ekklesiologischen Kontext nach Maßgabe von Pannenbergs Systematischer Theologie; von Peter Walter wird sie in Bezug auf die Gliederungsformen des ordinationsgebundenen Amtes spezifiziert, insbesondere bezüglich des Verhältnisses von Persbyterat und Episkopat, woraus sich bemerkenswerte Perspektiven hinsichtlich des Problems der sog. apostolischen Amtssukzession ergeben. Zwei Referatartikel sind als Epilegomena beigegeben: Peter Neuner gibt aus persönlicher Erinnerung heraus Einblicke in die Geschichte der Münchener Institute für Fundamentaltheologie und Ökumene, während der Herausgeber am Beispiel von Pannenbergs geschichtstheologischer Rezeption von Schellings Philosophie der Mythologie noch einmal eigens den für das Pannenbergsche Ekklesiologiekonzept basalen eschatologischen Reich-Gottes-Gedanken in seinem Unterschied zum protologischen Gedanken gründender Urzeit ins Auge fasst, von welchem der Mythos handelt. Mit dem Schlussbeitrag ist bereits das Thema des für Oktober 2017 geplanten 4. Pannenberg-Kolloquiums antizipiert, welches die Prämissen, Implikationen und Konsequenzen der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ zum Gegenstand haben wird. Pannenberg hat sich, wie er im Juni 2000 im Vorwort des dritten Bandes der Beiträge zur Systematischen Theologie „Kirche und Ökumene“ schrieb, mit dem Begriff der Kirche und der Frage nach den für die kirchliche Gemeinschaft der Christen konstitutiven Faktoren nicht nur als Lehrer der Theologie beschäftigt, sondern auch durch seine Mitarbeit in ökumenischen Gremien und Institutionen: „Seit 1956 bin ich Mitglied des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen in Deutschland, von 1980 bis 1997 war ich sein wissenschaftlicher Leiter auf evangelischer Seite, und von 1975 bis 1990 war ich für die Evangelische Kirche in Deutschland Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung beim Weltrat der Kirchen.“2 Die Texte, die in Beziehung zu diesen Tätigkeiten stehen, wären einer eigenen Untersuchung wert. 2 W. Pannenberg, BSTh III: Kirche und Ökumene, Göttingen 2000, 9.
Vorwort
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Doch bleiben die Grundstrukturen der ekklesiologischen Argumentation seit den „Thesen zur Theologie der Kirche“ von 1970 im Wesentlichen gleich. In der Kirche als Zeichen und Werkzeug des kommenden Reiches Gottes „geht es um die vorwegnehmende Präsenz der menschlichen Bestimmung in der Gesellschaft. Daran ist die jeweilige geschichtliche Gestalt der Kirche zu messen.“3 Die Zukunft der Gottesherrschaft, wie sie in Auferweckung und Auferstehung des gekreuzigten Jesus von Nazareth in der Kraft des Heiligen Geistes antizipiert ist, bildet Maß und Möglichkeitsgrund der Kirche. Entsprechend findet die Ekklesiologie als Lehre von der Kirche Grund und Ziel nicht in dieser, sondern im Reich Gottes.4 München, 16. März 2017
Gunther Wenz
3 W. Pannenberg, Thesen zur Theologie der Kirche, München 21974, 9. 4 Vgl. W. Pannenberg, Reich Gottes und Kirche, in: ders., Theologie und Reich Gottes, Gütersloh 1971, 31–61.
Gunther Wenz
Vorschein des Künftigen Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie
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Studienjahre
Ekklesiologie und Ökumenik zählen traditionell nicht zu den bevorzugtesten Gegenständen im Studium evangelischer Theologen. Dies war bei Wolfhart Pannenberg im Grundsatz nicht anders, obwohl sich erstaunlich früh zumindest Ansätze seiner späteren Entwicklung zum wissenschaftlichen Ekklesiologen und ökumenischen Lehrer der Kirche entdecken lassen. Von Anfang an fokussierten sich Pannenbergs Studieninteressen auf die Systematische Theologie und auf Themen der Dogmatik, in deren Zusammenhang er sich schon bald auch mit ekklesiologischen und Fragen der Ökumenik beschäftigte. Doch waren es im Verein mit metaphysisch-religionsphilosophischen Grundlegungsfragen in erster Linie die Problemfelder der Christologie und der trinitarischen Gotteslehre, die seine gespannte Aufmerksamkeit auf sich zogen. Der programmatische Grundsatz im Vorwort seines opus magnum, wonach der Stoff der Dogmatik in allen seinen Teilen als Entfaltung des christlichen Gottesgedankens vorzutragen sei1, zeichnete sich bereits in frühen Studientagen ab. Dies gilt auch – selbst wenn sich die Begeisterung für die exegetischen Fächer zunächst in Grenzen hielt – für die enge Beziehung zwischen systematischer und historischer Arbeit, die kennzeichnend ist für Pannenbergs gesamtes Oeuvre. Aus der Verbindung systematischer und historischer Theologie ergibt sich umstandslos die Einsicht, dass die Dogmatik christlicher Theologie von der geschichtlichen Erscheinung der Kirche bzw. der konfessionellen Kirchentümer, die sich im Laufe ihrer Geschichte ausgebildet haben, nicht losgelöst werden kann. Dies sah Pannenberg nie anders. Dennoch hat er daraus nicht den Schluss gezogen, Systematische Theologie programmatisch als kirchliche Dogmatik oder als Lehre von den in einer jeweiligen Denomination aktuell in Geltung stehenden 1 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie (= STh) Bd. 1, Göttingen 1988, 7.
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Glaubenssätzen zu konzipieren. Einer solchen Folgerung begegnete er vielmehr stets mit kritischer Reserve, was sich im Verlauf seiner theologischen Entwicklung beizeiten andeutete. Pannenberg bekannte sich zu seiner konfessionellen Herkunftstradition, in der er vor allem im schulischen Kontext religiös sozialisiert wurde, ebenso wie zu seiner spezifischen Prägung durch die deutsche und europäische Geistesgeschichte. Gleichwohl ging es ihm in der systematischen Erschließung und Darlegung der Traditionsbestände des Christentums nie „um eine konfessionell lutherische Theologie und auch nicht um eine europäische … Theologie, sondern um die Wahrheit der christlichen Lehre und des christlichen Bekenntnisses schlechthin. Möge sie der Einheit aller Christen im Glauben an ihren einen Herrn dienen.“2 Nachdem er im März 1947 im pommerschen Wolgast an der Ostseeküste die Reifeprüfung abgelegt3 und eine lateinische Abiturrede gehalten hatte, in der er 2 A. a. O., 10. Am 8. August 2016 wurde mir von Frau Hilke Pannenberg, der ich für die Durchsicht des vorliegenden Textes danke, eine Leitz-Mappe mit Nachlassbeständen ihres Mannes übergeben, die gemäß Aufschrift folgende Materialien enthält: Lebensläufe, Berichte v. Studium, Studienbücher, 1. Verzeichnis der Veröffentlichungen. Hinzu kommen Zeugnisse der Wilhelmschule Wolgast, ein Empfehlungsschreiben des dortigen Pastors Lic. Dr. Klett vom 3. April 1947 an Prof. D. Dr. Ludwig Rost, Berlin/Universität und die erste Seite (lateinisch/ deutsch) samt drei Kopien der Abiturrede Pannenbergs, ein Tätigkeitsnachweis des Arbeitsamtes Köln vom Sommer 1945 mit zwei beigelegten amtlichen Bescheinigungen, diverse Seminarscheine und Studienzeugnisse, die den Studienbüchern bzw. dem Basler Testatbuch beigefügt waren, der handschriftliche Entwurf eines Briefes an Karl Barth (Heidelberg, 6. November 1951), Vermerke bezüglich des Evangelischen Konsistoriums Berlin-Brandenburg aus dem Jahr 1953, ein ausgefüllter Fragebogen des Department of State, Foreign Service of the United States of America vom 11. Januar 1963 samt beigefügten Meldebescheinigungen und ein Artikel der Mainzer AZ vom 4. Juni 1964 sowie ein die Mainzer Zeit betreffender launiger Sermon in englischer Sprache. Nach Durchsicht habe ich die Dokumente, denen die meisten in der vorliegenden Einleitung gegebenen Informationen zu Biographie und Werkgeschichte Pannenbergs entnommen sind, dem Leiter des Archivs der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Verwahrung übergeben; sie werden im Findbuch als Nachtrag verzeichnet. „An Autobiographical Sketch“ Pannenbergs mit wichtigen Hinweisen zu seinen Studienjahren enthält der von C. E. Braaten und Ph. Clayton herausgegebene Sammelband „The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques, with an Autobiographical Essay and Response“ (Minneapolis 1988, hier: 11–18); vgl. ferner: W. Pannenberg, An Intellectual Pilgrimage, in: D.R. Nelson, J.M. Moritz, T. Peters (Ed.), Theologians in Their Own Words, Minneapolis 2013, 151–161. 3 Als ältestes von vier Kindern des Oberzollsekretärs Kurt Bernhard Siegfried Pannenberg (geb. 1898 in Stettin) und seiner Ehefrau Irmgard Emma Amalie, geb. Kersten (geb. 1904 in Mühlhausen/Thüringen), am 2. August 1928 im heute polnischen Stettin an der Oder geboren und im nahen Altdamm aufgewachsen besuchte Wolfhart Ulrich Pannenberg die Grundschule zunächst (ab 1935) in seinem Geburtsort, dann (ab 1936) in dem weit im Osten gelegenen Schneidemühl und (ab 1938) in Aachen, wohin sein Vater jeweils versetzt worden war. 1939 wechselte er auf eine Aachener Oberschule, die er besuchte, bis 1942 eine erneute Versetzung des Vaters erfolgte, zunächst nach Potsdam, dann nach Berlin. Während der Zeit seines Besuchs der Oberschule I in Potsdam war Pannenberg im Winter 1942/43 und im Sommer 43 jeweils für mehrere Wochen in Kinderlandverschickungslagern untergebracht. Am 9. März
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mit Worten Ciceros die Sendung und Macht des Geistes beschwor, aller Tyrannenherrschaft ein Ende zu bereiten, damit friedfertige Tugend den Erdkreis bewohne, begann Pannenberg im Sommersemester selbigen Jahres sein Theologiestudium an der Humboldt-Universität zu Berlin4, wo er, gefördert durch ein 1944 wurde die Familie in Berlin ausgebombt, die Mutter mit Sohn und den 1939, 1941 und 1943 geborenen Töchtern nach Stolp evakuiert. Von dort ging es im Herbst des Jahres im Zuge einer erneuten Versetzung des Vaters nach Driesen in der ostbrandenburgischen Neumark, wo Pannenberg seinen Schulbesuch bis Januar 1945 fortsetzen konnte. Dann flohen Mutter und Kinder vor den anrückenden russischen Truppen zu Verwandten nach Wolgast, wo Irmgard Pannenberg aufgewachsen war. Unmittelbar nach der Flucht wurde Pannenberg am 12. Februar zur Deutschen Wehrmacht nach Neubrandenburg eingezogen und nach kurzer Ausbildung im März zur 304. Infantriedivision nach Usedom gebracht, von wo aus er im Monat darauf aus Krankheitsgründen mit einem Lazarettschiff nach Schleswig-Holstein gelangte. Am 8. Mai wurde er vom britischen Militär in Gewahrsam genommen und interniert. Nach Entlassung am 3. Juli wandte er sich zunächst nach Köln, wo er Verwandte vermutete, arbeitete dann einige Wochen in der Umgebung auf dem Lande, um schließlich im Oktober 1945 nach Wolgast zurückzukehren und den Oberschulbesuch bei raschem Vorrücken in die nächste Klasse (Zeugnis vom 29. März 1946) bis zur Ablegung der Reifeprüfung fortzusetzen. Als ein entscheidendes Datum in Pannenbergs Jugend sei eigens der 6. Januar 1945 vermerkt: „On the sixth of January, while I was walking back home from school (instead of using the train) – a somewhat lengthy walk of several hours – an extraordinary event occured in which I found myself absorbed into the light of the setting sun and for one eternal moment dissolved in the light surrounding me. When I became aware again of my finite existence, I did not know what had happened but certainly knew that it was the most important event of my life …“ (W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, 12) In den Monaten nach Kriegsende während des Rests seiner Schulzeit begann Pannenberg Interesse an einem Theologiestudium zu nehmen, das er dann zusammen mit dem Studium der Philosophie im Frühjahr 1947 an der HumboldtUniversität in Ostberlin aufnahm. Vgl. ferner: An Intellectual Pilgrimage, 152: „Early in the next year, 1945, shortly before my family had to leave our new home in the East of Germany to flee from the invading Russian army, the memorable event occurred that I talked about years ago in the Christian Century series ‚How My Mind Has Changed‘: on January 6, 1945, on my way home from music lessons, a long walk from one town to another, I had a visionary experience of a great light not only surrounding me, but absorbing me for an indefinite time. I did not hear any words, but it was a metaphysical awakening that prompted me to search for its meaning regarding my life during the following years …“ 4 Theologie zu studieren, war von Pannenbergs Herkunft her nicht nahegelegt: „I was not raised in a Christian family. Although I had been baptized as a child, I did not receive a religious education, because in my early years my parents had left the church. My adolescence was that of a young atheist during World War II and shortly thereafter.“ (An Intellecutal Pilgrimage, 151) Erst in den ersten Nachkriegsjahren wurde durch einen seiner damaligen Lehrer neben seinen philosophischen auch seine religiös-theologischen Interessen geweckt: „After that I found my family again in the Eastern occupation zone and went to school once more in 1946 and 1947. There, I had the good luck of having an excellent teacher, who taught us German classical literature. He also was a professed Christian. He did not fit, however, into the type of guilt-ridden, neurotic mentality Nietzsche had described. My teacher Dr. Lange was quite lively, and in his occasional public speeches he spoke on subjects such as ‚Goethe and His Women,‘ since he was a great admirer of Goethe. To the heart of a seventeen-year-old boy this came as a pleasant surprise, and I resolved that I had to find out for myself whether Christianity really had such an ascetic attitude towards life as Nietzsche claimed. That contributed to my decision that after school I should not only study philosophy, but also Christian theology.
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kirchliches Stipendium5, drei Semester bis Herbst 1948 blieb: nach dem ersten legte er die hebräische, nach dem dritten die griechische Ergänzungsprüfung ab. Eine Schwerpunktbildung in Systematischer Theologie und Philosophie6 zeichnete sich bereits in Berlin ab. Pannenberg besuchte Seminare über Leibniz, Kant sowie die Gegenwartsphilosophie und betrieb allgemeine philosophiegeschichtliche Studien unter Konzentration auf die Neuzeit. Intensiv beschäftigte ihn das Problem des Verhältnisses von Christentum und Sozialismus, wozu er zwei Lehrveranstaltungen besuchte. Die gleiche Zahl ist im Studienbuch zum Thema der Christologie verzeichnet; eine dieser Lehrveranstaltungen, im WS 47/ 48, wurde von Heinrich Vogel angeboten, bei dem Pannenberg im darauffolgenden Semester eine vierstündige Vorlesung zu Dogmatik II und ein zweistündiges Seminar zum Tridentinum besuchte. Vogel, Mitglied der Bekennenden Kirche, seit 1935 Dozent ihrer illegalen Ausbildungsstätte, die er später leitete, und während der Zeit des Nationalsozialismus mehrfach inhaftiert, lehrte nach dem Krieg Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin und scheint sich Pannenbergs besonders angenommen zu haben. Im Juli 1948 stellte er ihm ein glänzendes Zeugnis aus, um ihn der Göttinger Fakultät nicht nur zu Annahme, sondern zu spezieller Förderung zu empfehlen: „Er ist einer der begabtesten, wenn nicht überhaupt der begabteste unter allen Studenten, die bisher durch meine Kollegs und Seminare gegangen sind. In dem Urteil, das mich ihn als einen künftigen Forscher und Lehrer sichten lässt, stimme ich überein mit Herrn Professor Lieb, Basel, der hier z. Zt. Vorlesungen hält und in dessen Seminar Herr Pannenberg ebenso wie in meinem auffallende Leistungen gezeitigt hat. Die Erkenntnisleidenschaft und Fähigkeit, die sich in seinen sehr intensiven und umsichtigen Studien dokumentiert, verdient jede Förderung.“ So schrieb Then, after I began my studies at Berlin in 1947, I got so fascinated by theology that I became a theologian.“ (A. a. O., 152) 5 Der Wolgaster Pastor Lic. Dr. Klett hatte Pannenberg in einem Schreiben vom 3. April 1947 an Prof. L. Rost, das dieser umgehend an den amtierenden Dekan weiterleitete, der Berliner Fakultät mit Nachdruck zur Annahme und Förderung empfohlen. Pannenberg sei der „begabteste und fähigste Abiturient der Wolgaster Philipp-Otto-Runge-Oberschule“; er, Klett, kenne den Schüler seit langem und habe mit ihm in einer philosophischen Arbeitsgemeinschaft der Schule intensiv zusammengearbeitet. Er wolle für den aufgrund der Kriegsfolgen Mittellosen, den die Kirchengemeinde fürs erste unterstütze, ein Stipendium bei der Kreissynode beantragen; Pannenbergs ehemaliger Studiendirektor Dr. Lange beabsichtige als Mitglied der pommerschen Kirchenleitung beim Konsistorium das Gleiche tun. Es wäre, schreibt Pastor Klett, „ein großes Glück für unsere Kirche, solch befähigte junge Menschen als Theologen zu bekommen“. 6 Sein erstes philosophisches Buch las Pannenberg als 15-Jähriger: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872) von Friedrich Nietzsche (vgl. An Intellectual Pilgrimage, 151 f.). Zur Faszination durch die Frühschriften von Karl Marx und Pannenbergs Berliner Marxismusstudien vgl. An Autobiographical Sketch, 13.
Vorschein des Künftigen
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Vogel in einem auf den 2. Juli 1948 datierten maschinenschriftlichen und mit eigenhändiger Unterschrift versehenen Zeugnis.7 War die Ekklesiologie in den Berliner Semestern auch kein Schwerpunkt von Pannenbergs Studien, so sind doch immerhin der Besuch eines Seminars zum Problem der Einheit der Kirche, eines weiteren zur Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 und eines dritten zu Staat und Kirche sowie die Tatsache zu registrieren, dass er einen ganzen Vorlesungszyklus zu Kirchengeschichte I–IV bei Lic. Walther Dreß, dem Schwager Dietrich Bonhoeffers, hörte, der mit einer Studie zu Marcilio Ficino promoviert sowie mit einer Untersuchung zur Theologie Johannes Gersons und zur Verbindung von Nominalismus und Mystik im Spätmittelalter habilitiert wurde. In dem erwähnten Leibniz-Seminar hatte Pannenberg eine Arbeit zu den Bestrebungen des Philosophen hinsichtlich einer Reunion der christlichen Kirchen angefertigt. An der Göttinger Georg-August-Universität, wohin er von Berlin aus zur Vertiefung seiner Studien wechselte, blieb Pannenberg ein Jahr, vom WS 1948/49 zum SS 1949, um bei Friedrich Gogarten Dogmatik I und II und bei Hans Joachim Iwand Seminare zu Schleiermacher und zu Luthers Schrift gegen Erasmus „De servo arbitrio“ zu besuchen. Bei Gogarten nahm er zudem an einem Seminar über Luthers Auslegung des 1. Gebots, bei Ernst Wolf an einer Lehrveranstaltung zu „De libertate Christiana“ teil. Im Studienbuch sind ferner eine kirchengeschichtliche Übung bei Wilhelm Schneemelcher verzeichnet, der einen Lehrauftrag an der Universität Göttingen hatte und sich 1949 mit einer Arbeit zur Dogmengeschichte des 4. Jahrhunderts habilitierte, sowie ein Seminar von Karl Georg Kuhn zu Zeit und Ende der Zeit im Neuen Testament und ein weiteres über Willensfreiheit bei dem Philosophen Nicolai Hartmann, der von 1945 bis 1950 in Göttingen lehrte. Pannenberg hat Hartmann, der neben seiner – an Max Scheler orientierten – materialen Wertethik insbesondere durch seine Metaphysik der Erkenntnis und seine Erneuerung der Ontologie bekannt geworden ist, zeitlebens zu seinen wichtigsten philosophischen Lehrern gerechnet.8 7 Fritz Lieb, Schweizer reformierter Theologe und renommierter Slawist mit Spezialisierung auf russische Geistesgeschichte, musste nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die Universität Bonn, wohin er 1931 als außerordentlicher Professor berufen wurde, verlassen und emigrierte nach Paris, bis er 1937 einen Ruf auf eine a.o. Professor für Dogmatik und Theologiegeschichte in Basel erhielt. Nach dem Krieg lehrte er dann zudem für einige Jahre als Dozent für osteuropäische Kirchenkunde an der Humboldt-Universität Berlin. Pannenberg hörte ihn zu den Themen der Christologie sowie von Christentum und Sozialismus. Zu Vogel vgl. An Intellectual Pilgrimage, 154. 8 Vgl. W. Pannenberg, An Intellectual Pilgrimage, 152 f.: „Hartmann was probably the most knowledgeable German philosopher at that time, more so than Karl Jaspers and even Martin Heidegger. Hartmann gave the impression of carrying around with himself the entire history of philosophy. In dealing with any issue, he would start with discussing the proposed solutions from the entire history of philosophy before him. I was so impressed by this procedure, that I
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Auch zu Karl Barth („the dominating figure in theology at the time of my student days“9) stand Pannenberg in einem Schülerverhältnis: die sachlichen Bindungen blieben zeitlebens enger, als es die spätere Kritik an dem Schulhaupt der Wort-Gottes-Theologie vermuten lässt. Ein Stipendium des Ökumenischen Rates der Kirchen eröffnete die Möglichkeit, ein Auslandssemester in Basel zuzubringen. Pannenberg hörte dort im WS 49/50 erneut bei Fritz Lieb, den er schon aus Berlin kannte, und zwar Symbolik; auch ein Seminar zum Thema der Gottebenbildlichkeit besuchte er bei ihm. Sein vorrangiges Interesse aber gehörte Karl Barth, der 1935 in der Folge nationalsozialistischer Repressionen in die Schweiz zurückgekehrt war, und Karl Jaspers, der seit 1948 in Basel lehrte. Jaspers las Philosophie der Gegenwart und bot ein Seminar zu Kants Kritik der reinen Vernunft an; Barth hielt ein Ethikkolleg und ein Seminar zum tridentinischen Rechtfertigungsdekret. Während seines Aufenthalts vom 18. Oktober 1949 bis zum 10. März 1950 hatte Pannenberg mit materiellen Sorgen zu kämpfen und gab Klavierunterricht, um seine wirtschaftliche Situation zu verbessern. Nichtsdestoweniger empfing er, wie er in einem Bericht vom 17. März 1950 an die Studienstiftung des deutschen Volkes notierte, deren Stipendiat er seit April 1949 war, starke Eindrücke later adopted it somehow for dealing with theological issues in the light of their history.“ Ein Schüler Hartmanns konnte Pannenberg dennoch nicht werden: „for he was an atheist“ (153). Ebd. äußert sich Pannenberg auch zu seinem Basler Studium bei Jaspers und zu seiner intensiven Beschäftigung mit Hegel, die zeitlebens anhielt: „Nevertheless, I never became a Hegelian, although I was often labeled thus. I always had deep reservations with regard to fundamental assumptions in Hegel’s thought, and these reservations became stronger in the course of the years. Still, I consider Hegel to have come closer to the Christian idea of God than any other modern philosopher, although I cannot accept his claim to definitive knowledge concerning God and history. Concerning history, I was much more deeply influenced by reading Wilhelm Dilthey.“ Bemerkungen zu Whiteheads Prozessphilosophie und zum Pragmatismus von Willam James schließen sich an, mit denen sich Pannenberg seit seinem ersten USA-Aufenthalt auseinandersetzte. Inwieweit Nicolai Hartmanns (1882–1950) kritischer Realismus, den er in seiner berühmten „Metaphysik der Erkenntnis“ von 1921 gegen einen psychologischen, transzendentalen und logischen Idealismus zu rechtfertigen suchte (vgl. M. Morgenstern, Nicolai Hartmann zur Einführung, Hamburg 1997, 35 ff.), auf Pannenberg eingewirkt hat, wäre einer genaueren Untersuchung wert. Neben erkenntnistheoretischen Fragen hat sich Hartmann, der als einer „der wichtigste(n) Erneuerer der Metaphysik im 20. Jahrhundert“ (a. a. O., 7) gilt, mit Themen der Ontologie, der Natur- und Geistphilosophie sowie der Ethik und Ästhetik beschäftigt. Zum Marburger Neukantianismus, dem er anfangs angehörte, ging er unter dem Einfluss Husserls auf Distanz, ebenso zur sog. Existenzphilosophie; mit der Philosophischen Anthropologie verband ihn insbesondere die Berücksichtigung biologischer Aspekte für die Lehre vom Menschen. „Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Hartmanns Einfluss rapide zurück. Hermeneutik, kritische Theorie, analytische Philosophie und kritischer Rationalismus haben seine Philosophie kaum zur Kenntnis genommen und sie an Wirkung bei weitem übertroffen.“ (A. a. O., 173) Auch in Pannenbergs Publikationen wird nur vergleichsweise selten auf Hartmann Bezug genommen. 9 A. a. O., 154.
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nicht nur akademischer Art. Das Niveau der dortigen Presse beeindruckte ihn ebenso wie das politische Klima im Lande, in dem, wie es heißt, „die Möglichkeit der Entstehung einer rechten oder linken Diktatur schwer vorstellbar“ sei. Des Weiteren werden die Solidität der Lebensverhältnisse und die trotz abflauender Konjunktur gegebene berufliche Planungssicherheit hervorgehoben. Beklagt werden dagegen die hohen Kosten, wie sie sich namentlich für Fremde spürbar machten; Feriengäste zögen deshalb, wie Pannenberg notiert, „das devisengünstigere Oesterreich vor“. Wie auch immer: „Im Mittelpunkt meines Studiums stand“, so heißt es zum Schluss des Schreibens an die Studienstiftung, „die Beschäftigung mit der Dogmatik Barths, die ich in diesen Monaten durcharbeitete. Daneben nahm ich hauptsächlich an dogmatischen und philosophischen Vorlesungen und Seminaren (teil). Am Rande hörte ich auch exegetische und eine staatsrechtliche Vorlesungen. Besonders wertvoll wurde mir ein Seminar von Herrn Prof. Lieb über die Imago Dei sowie die Begegnung mit der Philosophie von Jaspers. Bei der Beschäftigung mit der Dogmatik Barths versuchte ich, meine Bedenken zu Einzelfragen in Zusammenhang zu bringen und sie schließlich auf einen Punkt zurückzuführen. Diesen Punkt glaubte ich im Problem des Analogiebegriffs als Bezeichnung für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu finden. Ich hatte Gelegenheit, in einem ausführlichen Gespräch mit Barth selbst diese Gedanken auseinanderzusetzen, mit dem Ergebnis, dass Barth mich aufforderte, das Problem im Einzelnen weiterzuverfolgen. Dieselbe Aufforderung sprachen die Herren Professoren Lieb und van Oyen aus. Aus diesem Grunde möchte ich noch einmal auf die Rundfrage der Studienstiftung wegen Auslandsstipendium zurückkommen. Da Herr Prof. Vogel mir inzwischen brieflich anbot, mit meiner im vorigen Sommer angefertigten Arbeit über Duns Scotus zu promovieren, und da ich im Anschluss an die Promotion gerne der Aufforderung dieser drei Herren folgend über das Problem der Analogie und seine Bedeutung bei Barth weiterarbeiten möchte, so wäre ich dankbar, wenn die Studienstiftung es vielleicht ermöglichen könnte, dass ich im nächsten Winter (wenn Barth den systematisch wohl wichtigsten Teil seiner Dogmatik, die Christologie, in der Vorlesung zu behandeln beginnt) noch einmal nach Basel gehen kann. In ein anderes Land möchte ich unter diesen Umständen vor meinem Examen nicht mehr gehen.“ Pannenbergs Ersuchen wurde stattgegeben. Im SS 1951 konnte er noch einmal nach Basel reisen und seine Beschäftigung mit der Theologie Karl Barths fortführen. Dieser attestierte ihm versehen mit viel Lob und guten Wünschen am 3. November 1951 handschriftlich die Teilnahme an dem erwähnten Seminar über die tridentinische Rechtfertigungslehre im WS 1949/50 und an einem weiteren über Schleiermacher sowie an einer Sozietät über Fragen von Kirche, Recht und Staat im SS 1951. Ein ebenfalls handschriftliches Testat Karl Jaspers bescheinigte zwei Tage später die Teilnahme an dem Seminar „Philosophie und
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Mythus“ im SS 1951: „Sein (sc. Pannenbergs) Referat über ‚Mythus und Wort‘ war vortrefflich. Er vermochte es in der Diskussion gut zu verteidigen.“ Die meiste Zeit seines Studiums, das ihn nach Berlin, Göttingen und Basel führte, verbrachte Pannenberg nicht an diesen Orten, sondern in Heidelberg, wo er sich am 2. Mai 1953 dem Fakultätsexamen unterzog und fünf Tage später zum Dr. theol. promoviert wurde. Im Jahr darauf, März 1954, legte er in Karlsruhe die zweite theologische Prüfung ab, um zwei Monate später wissenschaftlicher Assistent am Ökumenischen Institut und am 1. November 1955 aufgrund einer Habilitationsschrift über „Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung der Geschichte des Analogiebegriffs in der Gotteserkenntnis“ die venia legendi für das Fach der Systematischen Theologie an der Heidelberger Theologischen Fakultät zu erhalten; am 2. Dezember 1955 wurde Pannenberg zum Dozenten ernannt. Ein Jahr zuvor, am 19. Dezember 1954, hatte er Hilke Sabine Schütte aus Hamburg geheiratet, der er Anfang des Jahres 1951 begegnet war.10 Die Heidelberger Semester, die seinen Qualifikationsarbeiten und der Dozentur vorhergingen, brachten eine Erweiterung des Themenspektrums und des Problemhorizontes sowie eine Vertiefung des bisher Erworbenen. In Berlin hatte Pannenberg bereits in seinem zweiten Studiensemester bei Leonhard Rost, der damals am Wiederaufbau des dortigen Institutum Judaicum beteiligt war, eine vierstündige Geschichte Israels gehört. An der Heidelberger Universität wurden die alttestamentlichen Studien intensiviert. Pannenberg begegnete Gerhard von Rad, dessen Lehrveranstaltungen er eifrig besuchte: im SS 1950 neben einer ATBibelkunde eine vierstündige Jesaja-Vorlesung, im WS 1950/51 ein ebenfalls vierstündiges Kolleg zur Theologie des Alten Testaments, im WS 1951/52 drei (Genesis [Vätergeschichten], Hiob und ein Seminar zum Deuteronomium), im SS 1952 zwei Lehrveranstaltungen (Einleitung ins Alte Testament und ein Seminar über messianische Hoffnung).11 Daneben sind für die Heidelberger Zeit im
10 „Without her“, so Pannenberg in einer autobiographischen Skizze, „I would have never obtained the emotional stability and the discipline that is indispensable in working out the details of an intellectual vision, especially since that vision itself takes shape only in the course of detailed studies.“ (An Autobiographical Sketch, 15) 11 Durch v. Rad wurde Pannenberg nach eigenem Bekunden eine neue Welt erschlossen (vgl. An Autobiographical Sketch, 14). V. Rads Einsichten wurden nicht zuletzt für „the so-called Heidelberg Circle“ (ebd.) bestimmend: „It was al pity, or so it appeared to us students, that systematic theology at Heidelberg was not yet quite ut to that new agenda. Thus a group of students tried to find out for themselves what a systematic theology would look like on the basis of von Rad’s exegetical vision.“ (Ebd.) Zu H. v. Campenhausen und E. Schlink vgl. a. a. O., 15: „Although I could never persuade myself to conceive of the task of theology in what appeared to me the somewhat narrow limits of confessional Lutheranism, Schlink influenced my thought in important ways, especially by introducing me to ecumenical dialogue and to dialogue with other disciplines, particulary natural sciences.“ Vgl. auch An Intellectual Pilgrimage, 155. Ebd. äußert sich Pannenberg auch zu Löwith: „Although he
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Studienbuch noch Besuche von Rolf Rendtorffs alt- und neutestamentlicher Bibelkunde verzeichnet. Vergleichbar oft wie von Rad sind nur noch Günther und Heinrich Bornkamm, Hans von Campenhausen und Edmund Schlink genannt. Bei Günther Bornkamm hörte Pannenberg Einleitung ins Neue Testament, eine Römerbriefvorlesung, eine Vorlesung zum Johannesevangelium sowie eine Theologie des Neuen Testaments und besuchte Seminare zum Hebräerbrief, zu Paulus und zur Leidensgeschichte Jesu; bei Heinrich Bornkamm studierte er Reformationsgeschichte und die Wandlungen des Lutherbilds in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hans von Campenhausen machte ihn mit der Geschichte des Urchristentums, den altkirchlichen Dogmen und ihrer Genese sowie mit der Konfessionskunde vertraut. Schlink schließlich ist im Studienbuch mit einer Ethik-Vorlesung und einem Seminar zu Luthers Lehre von den zwei Regimenten im SS 50, einem Kolleg zur Theologie und Philosophie sowie einem Seminar zu Vernunft und Offenbarung im WS 50/51 samt einem dogmengeschichtlichen Kolloquium im WS 51/52 vertreten. Des Weiteren hat Pannenberg in Heidelberg Lehrveranstaltungen zu Homiletik, Katechetik, Liturgik, Seelsorge, zum Orgelspiel und zum Kirchenlied sowie – seiner Neigung zur Jurisprudenz folgend – zur Geschichte der Staatsphilosophie, zum deutschen Staatsrecht und zum Kirchenrecht besucht. Gelegentlich hörte er auch bei Peter Brunner. In philosophischer Hinsicht verdienen neben einem Seminar über Martin Heideggers „Holzwege“ der Besuch zweier Lehrveranstaltungen bei Karl Löwith im SS 1952 Erwähnung: nämlich eines Seminars über Descartes und mehr noch einer Vorlesung über Geschichtsphilosophie und -theologie, deren Einfluss auf die Formierung des Programms von „Offenbarung als Geschichte“ kaum zu unterschätzen ist. In der Dogmatik war Schlink derjenige, in Auseinandersetzung mit dem Pannenberg seine Konzeption kritisch und konstruktiv fortbildete und erprobte. Der Studienstiftung berichtet er am 1. August 1950, er habe die Schlinksche „Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften“ sowie zwei weitere Bücher des Lehrers gelesen und – „(v)on Barth her kommend … manche Fragen“, die im persönlichen Gespräch mit Schlink zu diskutieren er mehrfach Gelegenheit gehabt habe. Der eigentliche Differenzpunkt betreffe die Problematik von Gesetz und Evangelium. Pannenbergs Pläne für seine wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, die er in Heidelberg anfertigte, reichen in die Anfangsjahre seines Studiums zurück. Von Anbeginn fesselte ihn, wie er in Studienberichten wiederholt betonte, die Fragen gedanklicher Selbstvergewisserung des Christusglaubens und damit die Probleme der Systematischen Theologie. Weil er das Gespräch des christlichen Glaubens mit dem Denken der Zeit in ihr besonders entschlossen in Angriff intended his argument to deconstruct the philosophy of history, I took it as positive evidence for the connection of the modern sense of history with the biblical theology of history.“
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genommen sah, beschäftigte er sich nach eigenem Bekunden bald schon vorzugsweise mit der Theologie des 19. Jahrhunderts und philosophischen Entwürfen der Zeit; so hielt er im Februar 1948 im systematischen Seminar Heinrich Vogels ein Referat über David Friedrich Strauß. Auch in Bezug auf das 16. Jahrhundert sowie auf sein Studium der reformatorischen Theologie und ihrer Geschichte waren es vor allem systematische Fragen, die Pannenberg bewegten. So wurden ihm anlässlich eines Göttinger Luther-Seminars von Iwand im WS 1949/ 50 die philosophischen Voraussetzungen des lutherischen Denkens zum Problem, was seine Beschäftigung mit der scholastischen Theologie, insbesondere derjenigen des Duns Scotus, veranlasste, dem bekanntlich die Dissertation gewidmet war.12 In enge Verbindung mit dem Studium der Scholastik trat die systematische Reflexion erkenntnistheoretischer Probleme. Das brachte Pannenberg, wie er berichtet, beim Studium der Theologie Karl Barths in Basel 1949/50 und 1951 zu kritischen Erwägungen über die erkenntnistheoretische Rolle des Analogiegedankens und seine strukturelle Grundlegungsfunktion nicht nur in Barths theologischer Konzeption. Die Wahl des Themas der Habilitationsschrift zeichnet sich also schon zeitig ab. Erst später traten, wie schon vermerkt, die exegetischen Fächer in den Fokus des theologischen Blickfelds, wobei es vorzugsweise die Fragestellungen der formgeschichtlichen Forschung und namentlich diejenigen Rudolf Bultmanns waren, die Pannenberg faszinierten. An Bultmann und seiner Hermeneutik interessierte insbesondere die Beziehung zu Martin Heidegger und damit die Frage des Verhältnisses von Theologie und Philosophie. Von diesem Interesse gibt der handschriftliche Entwurf eines Briefes an Karl Barth vom 6. November 1951 beredtes Zeugnis. Er schließt mit der Forderung, dass eine fruchtbare Auseinandersetzung mit Bultmann bei seinen philosophischen Voraussetzungen ansetzen müsse. „Freilich“, so Pannenberg weiter, „denke ich damit nicht an eine ‚Vorfeldbereinigung‘. Ich kann den Ort dieser philosophischen Voraussetzungen auch nicht als ‚vorgelagerten Bereich‘ verstehen und nach ‚Gebieten‘ unterscheiden. Die philosophische Auseinandersetzung muss selbst theologisch sein.“ Die Zitate beziehen sich auf ein Seminarprotokoll, welches Barth, wie aus dem Beginn des Schreibens hervorgeht, Pannenberg hatte zukommen lassen und das dieser dem Absender nun offenbar mit einem Begleitbrief versehen zurückgibt. 12 Vgl. im Einzelnen: An Intellectual Pilgrimage, 156 f. Pannenberg schrieb aus Anlass von Iwands Seminar „a paper of about one hundred pages on divine and human freedom in John Duns Scotus. It was never returned to me, because somehow it disappeared in Professor Iwand’s paper materials. Fortunately, I had kept a copy and sent it to my mentor Professor Heinrich Vogel at Berlin, and from him I received an enthusiastic response telling me that this text was almost sufficient for a doctor’s dissertation.“ (A. a. O., 157; zur Rolle Schlinks vgl. ebd.)
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Auf den 26. Juni 1947 ist ein Dokument von eineinhalb Seiten datiert, das man als Pannenbergs frühesten Systementwurf bezeichnen könnte. Eine Kopie wurde mir freundlicherweise von Frau Pannenberg zur Verfügung gestellt. Wenige Wochen nach seinem Wolgaster Abitur hat der damals knapp 19-Jährige in mehreren Anläufen auf den Begriff zu bringen und in einem Satz zu fassen versucht, was das Wesen der Philosophie und die Bestimmung philosophischen Denkens sei. Die letzte Definitionsvariante lautet: „Die Philosophie ist diejenige Wissenschaft, die ungeachtet aller Misserfolge das Unternehmen nicht aufgibt, das Leben in seiner Totalität in sich zu fassen. Auch deshalb besteht ihre Wissenschaftlichkeit nicht in ihrem Sein, sondern in ihrer Bestimmung, und jeder neue Versuch ist ein neuer Wurf nach dem unendlichen Ziel.“ Für Pannenbergs Denken sind Sätze wie diese programmatisch geworden und zwar auch in Bezug auf die Theologie, die sich nach seinem Urteil von der Philosophie zwar unterscheiden, nicht aber trennen lässt. „An meinem Entschluss, das Studium der Theologie zu ergreifen“, heißt es in unveröffentlichten autobiographischen Notizen vom 2. Juni 1955, „waren seit 1944 gepflegte philosophische Interessen mitbeteiligt, die in erste Beziehung mit Nietzsche, Kant und Hegel gebracht hatten.“ Diese Interessen werden auch während des Theologiestudiums und unter der Voraussetzung der immer fester werdenden christlichen Basis des Pannenbergschen Denkens weiter gepflegt mit dem Ergebnis, dass Theologie und Philosophie im Gesamtoeuvre eine zwar differenzierte, aber unlösbare Einheit bilden.
2.
Dissertation
Pannenbergs Dissertation über „Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrauffassung“ hat der Heidelberger Theologischen Fakultät, an der er seit SS 1950 mit den Basler Unterbrechungen studierte, zur Promotion im Fach der Systematischen Theologie vorgelegen. Die mündliche Doktorprüfung erfolgte am 7. Mai 1953, die Publikation der Promotionsschrift im darauffolgenden Jahr im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht als 4. Band der Reihe der Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte.13 Im Vorwort dankt Pannenberg neben Hans Freiherr von Campenhausen, der ihm mannigfache Anregungen und Hinweise habe zuteilwerden lassen, insbesondere seinen „Referenten, den Herren Professoren Heinrich Vogel, Edmund Schlink und Heinrich Bornkamm“ (3). Den beiden Erstgenannten 13 W. Pannenberg, Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrentwicklung, Göttingen 1954. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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wird „darüberhinaus für ihre langjährige freundliche Anteilnahme an meinem Studiengang und dessen vielseitige Förderung (gedankt), wodurch mir wissenschaftliche Arbeit überhaupt erst ermöglicht wurde“ (ebd.). Auf Vogel, dem Pannenberg seit seinen Berliner Semestern verbunden war, geht das Promotionsangebot zurück, bei Schlink in Heidelberg wurde die Dissertation im Wesentlichen durchgeführt, deren thematische Wahl sich, wie erwähnt, der Anregung durch ein Göttinger Iwandseminar verdankt. Hauptgegenstand war damals Luthers Schrift „De servo arbitrio“, die zu Rückfragen nach ihren philosophischen Grundlagen im nominalistischen Voluntarismus Anlass gab. Pannenberg bearbeitete in diesem Zusammenhang das Thema „Prädestination und Freiheit bei Duns Skotus“. Diese Seminararbeit wurde zur Ausgangsbasis seiner Dissertation; sie besteht aus vier Hauptteilen. Nach einleitenden Bemerkungen zur Lehre des Scotus vom göttlichen Vorherwissen des Zufälligen (vgl. 17–27) wird der Begriff der Prädestination (vgl. 28– 43) im Kontext der scholastischen Lehrentwicklung dargestellt. Im Unterschied etwa zu Thomas, „für den Vorherbestimmung ein Entwurf des praktischen Intellektes“ (42) sei, fungiere Prädestination nach Scotus als „eigentlich reiner Willensakt. Der Akt des Intellekts hat in ihr nur noch begleitende Funktion, obwohl auch Skotus natürlich nicht leugnet, daß dieser Willensakt auf einen Akt des Intellektes, der die Möglichkeiten zeigt, folgt. Duns Skotus kann diesen Intellektsakt nicht mehr als einen Akt des praktischen Intellekts verstehen, in dessen Ganzheit sich das von niemand geleugnete Willensmoment in der Prädestination einordnen könnte; denn unabhängig von dem Akt des Willens erkennt der Intellekt nur wesensnotwendige Zusammenhänge, nicht aber Kontingentes.“ (40) Voluntaristisch will Pannenberg den scotistischen Prädestinationsbegriff dennoch nicht nennen; dieser stelle sich vielmehr „als eine Verbindung des Voluntarismus Bonaventuras mit dem von Albert und Thomas ausgebildeten Finalismus des innergöttlichen Handelns“ (41) dar und zwar dergestalt, dass die als Wahl des göttlichen Willens bestimmte ewige Prädestination qua Akzeptation auf das Ziel kreatürlichen Werdens in der Zeit bezogen sei, wobei die Kontingenz der Momente des Werdeprozesses erhalten bleibe. Was es mit der scotistischen Akzeptationstheorie näherhin auf sich hat, wird in den Folgeabschnitten ausgeführt, beginnend mit der Frage, ob ein Prädestinierter verdammt werden könne. Nachdem er den Prädestinationsakt als Akt göttlichen Willens bestimmt hat, erörtert Duns Scotus dessen Wirklichkeitsmodus (vgl. 44–68). Weil die Prädestination zum Heil frei und nicht aus einer Nötigung heraus erfolgt, kann sie nach Duns’ Urteil auch nicht erfolgen und zwar unbeschadet der Tatsache, dass Gott allen Menschen zu helfen gewillt ist. Ausgeschlossen ist allerdings, dass Gott die beiden entgegengesetzten Möglichkeiten, nämlich zu erwählen und nicht zu erwählen, gleichzeitig wählt, weil dies auf einen kontradiktorischen Widerspruch
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im Willen Gottes hinausliefe, der diesen zersetzen würde, was unmöglich ist. Auch können die beiden konträren Wahlmöglichkeiten realiter nicht nacheinander gewählt und gewollt werden, weil dies mit der anzunehmenden Unveränderlichkeit und Beständigkeit des göttlichen Willens unvereinbar wäre. Indes steht es in Gottes Vermögen, beides, Erwählung und Nichterwählung, von Ewigkeit her getrennt zu wollen. „Also kann der, welcher zur Seligkeit vorherbestimmt ist, verdammt werden.“ (44) Wäre dies nicht möglich, dann würde die Prädestination das Geschick des Prädestinierten in gleichsam naturkausaler Art determinieren und der freie Wille des Menschen wäre vermöge des göttlichen unmöglich, was nicht der Fall sein kann; vielmehr hat Duns Scotus zufolge zu gelten: „Der Wille des Menschen bleibt auch der göttlichen Willensbestimmung gegenüber frei!“ (Ebd.) Wegen der Wahrung der Willensfreiheit des Menschen darf nach Duns die Möglichkeit der Verdammnis eines Erwählten nicht ausgeschlossen werden. Zur näheren Begründung wendet er die in der scholastischen Tradition häufig begegnende Unterscheidung von sensus compositus und sensus divinus auf die Prädestinationslehre an (vgl. 45 ff.), um zu unterstreichen, „daß Gott im Hinblick auf verschiedene Zeitpunkte dasselbe Subjekt prädestinieren und nicht-prädestinieren kann“ (67). Das anschließende Kapitel über die Ursachen von Prädestination und Reprobation, also über Erwählung und Verwerfung, ist das umfangreichste der Pannenbergschen Disseratition: „Kann es ein Verdienst oder Verschulden geben, das im göttlichen Vorherwissen Ursache der Prädestination oder der Reprobation ist?“ (69) In einem ersten Abschnitt wird die Lehrmeinung der scholastischen Tradition sowie Duns’ Auseinandersetzung mit ihr und insbesondere mit der Lösung Heinrichs von Gent dargestellt, mit deren Grundhaltung die führenden Theologen des 13. Jahrhunderts nach Pannenbergs Urteil allesamt übereinstimmten. Nach Heinrich erfolgt Erwählung oder Verwerfung aufgrund des von Gott vorhergesehenen guten oder schlechten Gebrauchs, den der Mensch von seinem freien Willen macht. Dieser ist am Prädestinations- bzw. Reprobationsvorgang stets „entscheidend beteiligt“ (76) dergestalt, dass von einem Modell der Kooperation göttlichen und menschlichen Willens bzw. davon zu sprechen ist, dass der Bezug auf den eigenen Willen des Menschen und seinen getroffenen Wahlentscheid konstitutiv ist für das Wählen des göttlichen Willens. Dagegen macht Scotus geltend, dass der göttliche Wille trotz und unbeschadet der Berücksichtigung des menschlichen die alleinige Ursache von Prädestination und Reprobation sei, weil dies, was man gut oder schlecht, verdienstlich oder verdammenswürdig am Willen des Menschen zu nennen habe, um Gottes und seiner Akzeptation willen recht oder nicht recht sei. Gut ist das Gute, insofern es Gott als Gutes akzeptiert. Deshalb geschieht die Erwählung, ohne dass sie die Gutheit des Erwählten unberücksichtigt ließe, nach Duns allein wegen der Güte Gottes und
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seines Willens, der auch die Grund- und Letztursache der Verwerfung sei, ohne durch die Bosheit des Bösen zwangsläufig und notwendig bedingt zu werden. Denn die Freiheit Gottes ist in jeder Hinsicht und unter allen Umständen unbedingt. So eindeutig die Grundannahme zu sein scheint, auf deren Basis Duns die Frage nach den Ursachen von Prädestination und Reprobation erörtert, so zwiespältig ist nach Urteil Pannenbergs ihre konkrete Explikation. „Die Prädestinationslehre des Duns Skotus ist in ihrer Gestalt nicht einheitlich.“ (116) Sie ist, so Pannenberg, in zwei Fassungen überliefert (vgl. im Einzelnen 90 ff.), die sich erheblich voneinander unterscheiden und in ihrer Verschiedenheit nicht nur auf eine historische Entwicklung, sondern auf ein unbewältigtes systematisches Problem verweisen. Die zu konstatierende Lehrentwicklung vermag daher für sich genommen den Sinn der scotistischen Prädestinationslehre nicht entscheidend zu erhellen. „Sie zeigt nur, wie Duns sich gegen den Synergismus auf der einen und gegen den Determinismus auf der anderen Seite wehrt.“ (118) Pannenberg kommt zu dem Ergebnis: Die Prädestinationslehre des Duns Scotus ist und bleibt aporetisch und zwar nicht trotz, sondern wegen der Präzision ihres Ansatzes und der Feinheit der Argumentation, die für den „doctor subtilis“ kennzeichnend sei. Bemerkenswerterweise wertet Pannenberg die scotistische Aporie nicht negativ, sondern als Ort produktiver Erkenntnis, von dem her sich neue Horizonte gerade deshalb erschließen, weil bestehende Probleme nicht in überkommener Manier beseitigt, sondern offengehalten werden. Duns wolle beides, die Freiheit Gottes und des göttlichen Willens, der ein Wille des Heiles und der Güte sei, in antipelagianischer Absicht unmissverständlich herausstellen und zugleich einen theologischen Determinismus naturkausaler Art strikt vermeiden. Da aber die Behebung besagter Alternative unter scholastischen Disjunktionsbedingungen unmöglich sei, habe „die Meinung des doctor subtilis keinen abschließenden Lehrausdruck finden können“ (ebd.). Gerade dieser fehlende Abschluss stehe für eine Offenheit, welche die Voraussetzung dafür sei, „die Dimension einer neuen Fragestellung“ (ebd.) zu erreichen. „Sie erwächst aus einem radikaleren Verständnis der Situation des Sünders vor dem frei akzeptierenden Gott. Es ist das Neue an dem Verständnis des Skotus, daß er streng das persönliche Gegenüber zu Gott festhält, wie es in dem Grundsatz, daß wir alles Gute Gott, alles Böse uns selbst zuzurechnen haben, ausgedrückt ist.“ (Ebd.) Mit dieser Feststellung ist der Skopus der Pannenbergschen Untersuchung umschrieben. Die Annahme „der Souveränität der göttlichen Akzeptation und die Selbstverschuldung der Verwerfung“ (ebd.) lassen sich in keine einheitliche Theorie zwingen, sondern erschließen sich in ihrer untrennbaren Zusammengehörigkeit nur im religiösen Glaubensverhältnis des Menschen zu dem in Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes offenbaren Gott. Nur von Gottes Selbstoffen-
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barung her, wie der Glaube sie wahrnimmt, wird zur Gewissheit gebracht, was theoretisch und praktisch unmöglich und keiner gedanklichen Lösung zuzuführen zu sein scheint, und ein Prädestinationsverständnis jenseits von Synergismus und Determinismus erschlossen, in dem die Freiheit des Willens Gottes und die menschliche Willensfreiheit eine differenzierte, von Geist erfüllte Einheit bilden. Davon handelt das letzte Kapitel von Pannenbergs Dissertation. In ihm wird die Wirkungsgeschichte der scotistischen Prädestinationslehre in Grundzügen skizziert und angedeutet, inwiefern in ihren Zusammenhang auch der Reformator Martin Luther gehört, dessen Prädestinationsanfechtungen nur durch den Verweis auf die Faktizität der unableitbaren, allein durch Gottes freies Heilshandeln begründeten Erwählung in Christus und seinem Geist überwunden werden konnten (vgl. 149 Anm. 40; ferner bereits 11 Anm. 1). Nur im Blick auf die Geschichte Jesu Christi kann heilsam erkannt werden, was Prädestination bedeutet. Ansonsten führe der Prädestinationsgedanke nicht nur in eine theoretische Aporie, sondern in schiere Heillosigkeit.14 In einem umfangreichen, 1957 in der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ erschienenen Aufsatz zum „Einfluß der Anfechtungserfahrung auf den Prädestinationsbegriff Luthers“ hat Pannenberg die Bedeutung dieser Einsicht für die reformatorische Theologie detailliert herausgearbeitet. Weil er sie „unter dem Druck der Erwählungsanfechtung und von dem die Anfechtung überwindenden Trost des Christuszeugnisses her durchdacht“15 habe, sei Luther „zu einem den traditionellen Theorien gegenüber grundsätzlich neuen Verständnis der Präde14 Eine bündige, möglicherweise von Pannenberg selbst formulierte Zusammenfassung der Inhalte seiner Dissertation findet sich in: Das Neue. Berichte für Buchhändler, Stuttgart 1954, Folge 5/306, wo es heißt: „Die alte, aber doch immer neue Frage: Wie verhält sich die Freiheit des geschöpflichen Wesens (des Menschen), wie sie etwa in der Lehre von der Sünde, von der Buße, von der Verantwortung und von der Entscheidung des Menschen begriffen wird, zur Allmacht, zum Vorherwissen, zum absoluten Willen Gottes, wie das besonders in der Lehre von der Gnade, von der Prädestination und von der Versöhnung für den Menschen von Bedeutung wird und Bezug bekommt zu seiner Heilsgewißheit – diese Frage wird in einer gründlichen Analyse der Prädestinationslehre des Duns Skotus erörtert, wobei die gewonnenen Ergebnisse verglichen werden mit den Lösungen der anderen großen Dogmatiker der Hochscholastik, besonders mit Petrus Lombardus, Bonaventura, Thomas von Aquin und dem Lehrer Duns Skotus, Wilhelm von Ware. Dabei wird deutlich, daß Duns Skotus, obgleich verhaftet in der scholastischen Lehrtradition, Linien aufweist, die in der Konkordienformel dann viele Jahrhunderte später ihre Erfüllung finden, nämlich in dem Verständnis der Prädestination aus der Begegnung des Menschen mit Gott in Jesus Christus. Sein neues Verständnis der Prädestinationslehre erwächst aus einem radikalen Wissen vom Menschen als Sünder vor dem frei akzeptierenden Gott, indem er an dem paradoxen Grundsatz festhält, daß wir alles Gute Gott, alles Böse uns selbst zuzurechnen haben. Die daraus entspringende ‚mangelnde Einheitlichkeit‘ in der Lösung des Skotus wird aber gerade dogmatisch positiv zu werten sein, weil Duns konzessionslos in der Prädestinationslehre an der Souveränität Gottes festhält, ohne die Selbstverschuldung der Verwerfung aus dem Auge zu verlieren.“ 15 W. Pannenberg, Der Einfluß der Anfechtungserfahrung auf den Prädestinationsbegriff Luthers, in: KuD 3 (1957), 109–139, hier: 129.
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stination durchgestoßen“16: „Er hat mit der Erkenntnis der in Christus gegenwärtigen Prädestination das scholastischen Kausalschema überwunden und damit auch den Parallelismus in der Struktur von Erwählung und Verwerfung durchbrochen.“17 Ansätze hierzu, wenngleich noch nicht den vollzogenen Durchbruch fand Pannenberg bereits bei Duns Scotus. Gerade dort, wo in Duns’ Denken Elementarschwierigkeit und unbehebbare Aporien überkommener Lösungen zutage träten und evident würden, bahne sich die ursprüngliche prädestinationstheologische Einsicht der Reformation an: „Die Prädestination ist Gottes Erwählung, die nicht jenseits der Zeit schon vollendet ist, sondern auf dem geschichtlichen Wege der Treue Gottes zu seinen Berufungen und Verheißungen ins Werk gesetzt wird.“18 Ein geschichtliches Verständnis der Offenbarung, um nicht zu sagen: ein Verständnis der Offenbarung als Geschichte ist nach Pannenbergs Urteil die Bedingung der Möglichkeit rechter Prädestinationstheologie.19 16 17 18 19
A. a. O., 129 f.. A. a. O., 130. A. a. O., 139. Vgl. ders., Art. Erwählung, III. Dogmatisch, in: RGG3 II, 614–621. Die Publikation seiner Doktorarbeit, die Pannenberg für den Druck geringfügig überarbeitet und erweitert hatte, wurde in der wissenschaftlichen Welt überwiegend positiv aufgenommen. Unter den Besprechungen sind einige aus der französisch sprechenden Welt, etliche auch aus den Reihen der katholischen Theologie. Der Rezensent in den „Franziskanischen Studien“ rechnete die Studie „zu dem Wertvollsten, was in den letzten Jahren über die Scotistische Theologie erschienen ist“ (V. Heynck OFM, Rez. W. Pannenberg, Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrentwicklung dargestellt, in: Franziskanische Studien 1955, 432–435, hier: 434). Eine vergleichbare Anerkennung sprach dem Werk die Kurzbesprechung eines Dillinger im dortigen „Klerusblatt“ aus: „Ein Seelsorgegeistlicher wird sich dieser Lektüre kaum zu seiner geistigen Erholung bedienen können; die theologischen Wissenschaft zollt dem Verfasser, der die katholische Literatur über diesen Gegenstand voll berücksichtigt hat, Anerkennung und Dank.“ (H. Lais, Rez. W. Pannenberg, Prädestinationslehre etc., in: Klerusblatt 1956, Nr. 13) Gewürdigt wird u. a., dass sich Pannenbergs Scotus-Analyse nicht im Historisch-Deskriptiven erschöpfe, sondern um eine systematische Urteilsbildung bemüht sei. Allerdings, so wird gelegentlich moniert, sei die Urteilsbasis noch nicht hinreichend klar und fest: „Der Eindruck ist stark, daß der Verfasser noch nicht im Reinen mit seinem Stoff lag und nicht zu der Überlegenheit gelangt ist, die die Darstellung prägnant und ihre Lektüre, wo nicht angenehm, so doch zu einer leicht erträglichen Mühe machen würde.“ (K. Weiß, Rez. W. Pannenberg, Prädestinationslehre etc., in: ThLZ 80 (1955), 607–611, hier: 611) Diese Vorbehalte beziehen sich v. a. auf den Maßstab, an dem Pannenberg Scotus bemesse: Zwar werde „in ständiger Wiederholung die Doppelfrage erhoben …, in wieweit Duns mit seinen jeweiligen Definitionen die Situation des Gegenüber richtig erfasst hat, und ob er darüber hinaus zum Verständnis geschichtlicher Begegnung, in der sich das göttliche Heilshandeln vollzieht, vorgedrungen ist“ (a. a. O., 608). Was aber unter geschichtlicher Begegnung präzise zu verstehen sei, bleibe trotz einiger begrifflicher Erläuterungsansätze ungeklärt. Ähnliche Bedenken hatte bereits Edmund Schlink in seinem auf den 16. April 1953 datierten Heidelberger Dissertationsgutachten vorgetragen; auch die Präzision des von Pannenberg in Anschlag gebrachten Determinismusbegriffs wurde von ihm in Zweifel gezogen. Dennoch schloss er sich mit dem Urteil „summa cum laude“ Heinrich Vogel an, der als externer Gutachter fungierte, weil die Anregung zu Pan-
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Die Habilitationsschrift
Nicht nur das Pannenbergsche Dissertationsprojekt, auch das Interesse an der Thematik, die Gegenstand seiner Habilitationsschrift werden sollte, reicht weit hinter die Heidelberger Zeit zurück. Ein wesentlicher Impuls ging, wie bereits vermerkt, von einem Referat aus, das Pannenberg im WS 1949/50 in einem Seminar von Fritz Lieb in Basel zu den systematischen Zusammenhängen der Lehre von der Imago Dei bei Karl Barth zu halten hatte. Die Beschäftigung mit den Prämissen, Implikationen und Konsequenzen der Barthschen Theologie der Gottebenbildlichkeit des Menschen führte ihn nach eigenem Bekunden auf das Grundsatzproblem theologischer Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, wie es für die Problematik des Analogiegedankens bei Barth und in der Theologiegeschichte vor ihm bestimmend gewesen sei. Diesem Thema und damit der Geschichte und systematischen Bedeutung der Analogielehre in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen sollte die Habilitationsarbeit gewidmet sein, wobei die Konzentration auf die mittelalterliche Scholastik von den Duns-Studien her nahelag. Dabei sollte die Untersuchung wie schon die Dissertation nicht lediglich in historischer, sondern zugleich in systematischer Absicht erfolgen. Seit Anfang der 50er Jahre war Pannenberg, wie er in einem Brief vom 1. November 1951 an Hilke Schütte eindringlich darlegte, mit gesteigerter Intensität um den Aufbau einer Konzeption bemüht, die auf eine differenzierte Einheit historischer und systematischer Theologie und zugleich auf eine erneuerte Verbindung christlichen Offenbarungsglaubens und einer ihm weitgehend entfremdeten Geisteswelt ausgerichtet war. „Es gibt Augenblicke“, so schreibt er, „wo diese Idee in ihrer Einheit mir fast visionär vor Augen steht“20; methodisches Ziel war es, sie fundiert zu begründen und gedanklich auszuarbeiten. Hierauf richtete sich die Beschäftigung mit der scholastischen Analogielehre primär aus. Aktuell motiviert wurde sie durch die von Barth ausgelöste Debatte um die theologische Legitimität bzw. Illegitimität der sog. analogia entis, in der es um die Frage einer „theologische(n) Verwendbarkeit des Analogiebegriffs überhaupt“21 und darüber hinaus um Grundlegungsfragen der Dogmatik und der Organisation ihrer Bestände ging. In diesem Kontext hat man den urnenbergschen Dissertation von ihm ausgegangen war und die Arbeit ursprünglich bei der Berliner Theologischen Fakultät zur Promotion hätte eingereicht werden sollen, was indes durch den Gang der politischen Entwicklungen unmöglich wurde. 20 Zit. n. der Abschrift des Briefes durch Frau Hilke Pannenberg. Vergleichbare Aussagen sind bereits in dem oben erwähnten Bericht an die Studienstiftung vom 17. März 1950 über das erste Basler Semester zu finden. Vgl. ferner: An Intellectual Pilgrimage, 157. 21 W. Pannenberg, Rez. H. Lyttkens, The Analogy between God and the World. An Investigation of its Background and Interpretation of its Use by Thomas of Aquino, Uppsala 1952, in: VuF 8 (1956/57), 136–142, hier: 136.
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sprünglichen Sitz im Leben von Pannenbergs Habilitationsschrift zu verorten. Eine Vorstudie zu ihr lieferte die im November 1951 geschriebene Untersuchung „Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth. Eine Auseinandersetzung mit Urs von Balthasar“, die zwei Jahre später in der „Theologischen Literaturzeitung“ veröffentlicht wurde und die erste Publikation Pannenbergs überhaupt darstellt.22 Die Habilitationsschrift selbst wurde in Heidelberg 1955 nur maschinenschriftlich vorgelegt und nicht bzw. erst Jahrzehnte später, nämlich 2007, in erweiterter und mit einem Vor- und Nachwort versehenen Form publiziert. Im Prolog und im Epilog der Publikation von 2007 „Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis“23 hat Pannenberg rückblickend die Gründe dargelegt, warum seine Heidelberger Habilitationsschrift von 1955 ungedruckt blieb. Dies sei im Wesentlichen deshalb der Fall gewesen, „weil das Kapitel über Duns Scotus und seine Nachwirkung nicht fertig …, die Frage der Fortsetzung der historischen Darstellung bei mir noch offen … und auch die systematische Urteilsbildung für mich nicht abgeschlossen war. Nach intensiven Arbeiten am Abschluss der Untersuchung“, so Pannenberg weiter, „musste dieses Ziel nach 1960 hinter anderen, für mich dringenderen Aufgaben zurücktreten, nämlich hinter die Notwendigkeit einer Verteidigung meiner 1961 publizierten Neufassung des Offenbarungsbegriffs und hinter seiner Anwendung auf die Christologie in meinen 1964 erschienenen Grundzügen der Christologie.“ (6) Was die Grundintention der Habilitationsschrift von 1955 angehe, die ihn bei ihrer Abfassung bestimmt habe, so sei es ihm vor allem um die sachliche Einsicht gegangen, „dass es zur Erkenntnis von Eigenschaften Gottes nach dem Zeugnis der Bibel durch Gottes geschichtliches Handeln kommt …, nicht durch Rückschluss aus den Gegebenheiten der Welt auf eine göttliche Ursache, wie es unter dem Einfluss des neuplatonischen Kausalschemas (Ähnlichkeit der Wirkungen mit der Ursache) für die mittelalterliche Lehre von der ‚Analogie‘ in der menschlichen Gotteserkenntnis maßgebend wurde“ (214). Sein Grundanliegen und der Widerspruch gegen die mit der scholastischen Theorie einer analogia entis verbundene Begründung der Lehre von der Gotteserkenntnis ist nach Pannenbergs eigenen Angaben 1955 und in der Entstehungszeit der Habilitationsschrift noch „stark bestimmt (gewesen) durch Karl Barths Kritik an dem, was er ‚natürliche Theologie‘ nannte“ (ebd.). Noch der 1957 in der dritten Ausgabe der RGG erschienene Analogieartikel Pannenbergs, den 22 Ders., Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth. Eine Auseinandersetzung mit Urs von Balthasar, in: ThLZ 78 (1953), 17–24. 23 Ders., Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis, Göttingen 2007. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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man „als einen sehr kurz gefassten roten Faden durch seine Arbeit von 1955 betrachten“24 kann, ist hingeordnet auf Barths Konzeption, mit deren Darstellung er endet. Barths Kritik an der analogia entis, so heißt es, treffe „weniger die ontologische Struktur des Gott-Welt-Verhältnisses als ihre … Zugänglichkeit für natürliche Erkenntnis sowie damit auch ihre Verwendbarkeit als philosophisches Konstruktionsprinzip der Theologie“25. Eine Analogie der Geschöpfe und namentlich des gottebenbildlichen Menschengeschöpfs bejahe auch Barth. Aber diese sei und bleibe Gottes Gabe und werde „nie selbständiger Besitz des Geschöpfes“; erkennen lasse sie sich daher „nur im Glauben an Gottes Offenbarungstat“, als „analogia fidei“. Von diesem „dogmatische(n) Strukturprinzip ausgehend“ habe Barth später für die menschliche Gottebenbildlichkeit den Begriff der analogia relationis und für das Verhältnis göttlichen und geschöpflichen Wirkens denjenigen der analogia operationis ausbilden können, wobei jede Form von Proportionalitätsanalogie zugunsten einer streng gefassten Attributionsanalogie verworfen worden sei. Bleibt die Frage, die Pannenberg zum Schluss seines Artikels auch ausdrücklich stellt, ob eine „als streng im göttlichen Akt beschlossen“ zu denkende Attributionsanalogie den Begriff der Analogie nicht überhaupt sprengt. Auf die Erkundung von Potentialen, die den Analogiegedanken von innen heraus, nämlich aufgrund seiner strukturellen Verfassung zu sprengen drohen, war Pannenbergs Habilitationsschrift konzeptionell von Anbeginn angelegt. Wenn die Scholastiker des 13. Jahrhunderts das Verhältnis von Gott und Mensch als Analogie bestimmten, um gemäß der Definition des 4. Laterankonzils 1215, wonach jede Ähnlichkeit von Gott und Geschöpf von umso größerer Unähnlichkeit umgriffen sei (DH 806: „inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.“), Pantheismus und Agnostizismus gleichermaßen zu vermeiden, dann taten sie dies in der von dem arabischen Aristoteliker Averroes nahegelegten „Annahme, die A(nalogie) sei ein Mittleres zwischen gänzlicher Gleichheit (Univozität) und gänzlicher Verschiedenheit (Äquivozität)“26. Ist diese Annahme zutreffend und haltbar? Auf diese Leitfrage ist Pannenbergs Habilitationsschrift von 1955 durchgängig bezogen.27 Sie begann mit einer bibeltheologischen Einleitung, die bei der Druck24 O. Reinke, Analogia entis und ein Ende, in: Deutsches Pfarrerblatt 9/2007, 489–492, hier: 489. Der Text bietet seinerseits eine knappe Beschreibung der einzelnen Kapitel des Buches „Analogie und Offenbarung“ von 2007. 25 W. Pannenberg, Art. Analogie, in: RGG3 I, Sp. 350–353, hier: 352. Die mit keiner Seitenzahl versehenen Folgezitate sind ebd. zu finden. 26 A. a. O., 351. Vgl. ferner: ders., Art. Analogie, in: EKL I, 113 f. 27 Die Abschnitte II–VI der Habilitationsschrift sind von den jeweiligen Überschriften her ganz und vom Inhalt her fast identisch mit den ersten fünf Teilen der späteren Publikation. In der in der Veröffentlichung weggefallenen Einleitung (I. Name und Bezeichnungen Gottes im Alten Testament) hebt Pannenberg sogleich die „Gebundenheit menschlicher Gotteser-
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legung wegfiel, und einem Abschnitt zu den Anfängen des aus der Mathematik übernommenen philosophischen Analogiegedankens bei den Griechen bis hin zu Aristoteles (vgl. 9–33). Darin wird gezeigt, dass noch bei Platon die Voraus-
kenntnis an die Tat göttlicher Selbstoffenbarung“ (W. Pannenberg, Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung der Geschichte des Analogiebegriffs in der Gotteserkenntnis, maschinenschriftliche Habilitationsschrift, Heidelberg 1955, 2. Die nachfolgenden Seitenverweise in dieser Anmerkung beziehen sich hierauf.) hervor, um von Anfang an den Unterschied eines biblisch-theologischen Ansatzes gegenüber der scholastischen Analogiekonzeption geltend zu machen, wie sie im Lehrstück „De divinis nominibus“ ausgebildet worden sei. Die strukturelle Grundlegung des offenbarungstheologischen Ansatzes erfolgt auf der Basis der hebräischen Bibel, des Alten Testaments der Christenheit. Zwar seien erst in Jesus Christus, dem personalen Grund und Inbegriff des Neuen Bundes, Inhalt und Offenbarung des Namens Gottes sowie der besondere historische Ort bzw. der geschichtlich einmalige Akt der Namensoffenbarung „schlechthin identisch. Erst hier ist deshalb die Offenbarung des Namens als historisch einmaliges Ereignis zugleich endgültig.“ (1, Anm. 1) Doch trete die Bindung menschlicher Gotteserkenntnis an die namentliche Selbsterschließung Gottes in der Geschichte schon im Alten Testament klar erkennbar zutage. „Grundlinien und Prädikationsweise der biblischen Gottesbezeichnungen sind also primär aus dem Alten Testament zu erheben.“ (2, Anm. 1) Das Verbot der hebräischen Bibel, den Namen Gottes auszusprechen, zu magischen Praktiken zu missbrauchen und in den Dienst eigener Zwecke zu stellen, wertet Pannenberg als Beleg für die These, dass nach Maßgabe des Alten Testaments die Erkenntnis Gottes an seine freie Selbsterschließung in der Geschichte gebunden sei. Entsprechendes wird in Bezug auf das alttestamentliche Bilderverbot namhaft gemacht, das ebenso gegen „das mit der Objektivität des Bildes verbundene menschliche Verfügen über die Gottheit“ (6) gerichtet sei. Sowohl das Verbot des Missbrauches des Gottesnamens als auch das Bilderverbot wendet sich Pannenberg zufolge gegen einen „Analogiezauber“ (5), der mittels der Annahme, „daß Ähnlichkeiten gesetzmäßige Zusammenhänge anzeigen“ (ebd.), Verfügungsmacht über die Gottheit zu erlangen sucht. Was es mit dem Zauber der Analogie und der Annahme gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen Gott, Mensch und Welt näherhin auf sich hat, wird anhand eines sprachanalytischen Exkurses exemplifiziert, wonach Ähnlichkeiten entweder substantialer, adjektivischer oder verbaler Art seien, also entweder in der Zugehörigkeit zur gleichen Gattung, in der Beschaffenheit oder in einer Verhaltensweise gründen können (vgl. 7 f.). Sei von Endlich-Relativem die Rede, dann habe das mit Ähnlichkeiten operierende Prinzip der Analogie ein begrenztes Recht; in Bezug auf die Unendlichkeit und Absolutheit Gottes hingegen könne es nicht in Anwendung gebracht werden, da sich Gottes Gottheit in ihrer Unvergleichlichkeit jeder unmittelbaren Vergleichung entziehe und nur vermöge freier Selbsterschließung offenbar werde. Das Ergebnis von Pannenbergs kritischer Untersuchung der Geschichte des Analogiebegriffs ist damit in bestimmter Weise schon antizipiert. Dass er die Lehre von der analogia entis aus bibeltheologischen Gründen ablehnen wird, steht bereits im Einleitungskapitel der Habilitationsschrift fest. Für eine Attributionsanalogie und eine analogia fidei scheint demgegenüber noch Platz, sofern nach Maßgabe dieser Lehren die Vergleichbarkeit durch das geschichtliche Offenbarungshandeln Gottes erschlossen wird. Wiederholt wird von Pannenberg darauf hingewiesen, dass in den in der Bibel häufig gebrauchten Bildworten und Metaphern die Vergleichsebene „immer in einer Tätigkeit oder in einer Weise tätigen Verhaltens zu suchen ist“ (12). Von Gottes geschichtlichem Verhalten her könne sich tatsächlich ein Verhältnis erschließen, welches einen Vergleich mit menschlichen Verhältnissen und Verhaltensweisen ermögliche. „Wenn aber ein Bild helfen kann, eine Tat Gottes auszudrücken, so kann es doch noch längst nicht dasselbe für Gottes nächste Tat
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setzung eines identischen logos analogans für die Analogie grundlegend war, weil, in der Sprache der Scholastik zu reden, „ein univokes Element die Analogizität der Analogie allererst ermöglicht“ (19). Erst bei Aristoteles bzw. im Zusammenhang der Aristotelesauslegung kündigte sich die These einer möglichen Analogie ohne univoken logos analogans an, die für die scholastische Lehrentwicklung höchst einflussreich werden sollte. Bevor Pannenberg auf diese Entwicklung näher eingeht, erörtert er die erste Anwendung der Analogie auf das Gott-Mensch-Verhältnis im Neuplatonismus und in der Alten Kirche (vgl. 34–51) sowie die problemgeschichtliche Situation vor der hochscholastischen Ausbildung des Analogiebegriffs (vgl. 52–69). Ungelöst blieb damals die Frage, wie die für das Kausalitätsschema der neuplatonischen und aristotelischen Scholastik kennzeichnende Annahme einer realen Wirklichkeitsvermittlung von der Ursache an die Wirkung, vom Schöpfer an das Geschöpf vereinbar sein soll mit dem Festhalten an einer strikten Transzendenz Gottes gegenüber Mensch und Welt. Einen Ausweg aus diesem Dilemma verhieß „der averroistische Begriff der Analogie als eines Mittleren zwischen Univokation und Aequivokation“ (69). Die Aufnahme dieses Begriffs in der vorwiegend neuplatonisch-augustinisch geprägten Hochscholastik stellt Pannenberg im vierten (vgl. 70–91), seine Weiterbildung bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin im fünften Kapitel (vgl. 92–122) dar, um dann in einem sechsten die kritische Auflösung der hochscholastischen Analogielehre und die These der Univokation des Seins bei Duns Scotus zu entfalten (vgl. 123–180). Auch wenn er bei Abgabe der Habilitationsschrift und beim Abschluss des Verfahrens noch nicht fertiggestellt war28, bildete der Scotus-Abschnitt den erleisten. Der Mannigfaltigkeit göttlichen Tuns sind unsere Worte und die dadurch bezeichneten Weltdinge ebensowenig kommensurabel wie dem Wesen Gottes.“ (14) Durch Gottes Handeln in der Geschichte wird nach Pannenberg seine Wirklichkeit offenbar, ohne dass sich diese aus einem göttlichen Wesen deduzieren oder auf dessen abstrakten Begriff festlegen ließe. Erst von Gottes geschichtlichem Offenbarungshandeln her sind metaphorische Vergleichungen mit Selbst- und Welterfahrungen des Menschen möglich, freilich „nicht in substantialer Abbildlichkeit“ (16), sondern immer nur im Modus einer von Gott her begründeten Wirkgemeinschaft. In einem Schreiben aus Göttingen vom 22. August 1955, das sich in der Pannenberg-Bibliothek neben Bestand Nr. 4477 findet, hat Rolf Rendtorff seinem Freund versichert, dass dessen Ausführungen zu Name und Bezeichnungen Gottes im Alten Testament in hohem Maße kenntnisreich und nicht zuletzt für die Klärung des Offenbarungsbegriffs nutzbringend seien. Die geringfügigen Einwände Rendtorffs hat Pannenberg in einer auf den Spätsommer bzw. Frühherbst 1955 zu datierenden Textüberarbeitung berücksichtigt. Die Belege finden sich ebenfalls neben Bibliotheksbestand Nr. 4477. 28 Die Untersuchung der kritischen Auflösung der hochscholastischen Analogielehre im VI. Kapitel der Publikation über „Analogie und Offenbarung“ von 2007 war in der Habilitationsschrift von 1955 noch in einem unfertigen Zustand. Pannenberg beschränkte sich in einem ersten Teil des abschließenden Ausblicks auf einige knappe Bemerkungen zu Kritik und Verfall des Analogiegedankens und zwar unter Bezug auf Heinrich von Gent, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham sowie auf Meister Eckhard und Nikolaus von Kues (vgl. W.
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kennbaren Skopus der gesamten Untersuchung, der sie zugleich mit der charakteristischen Problemlage zusammenschloss, welche die Dissertation hinterlassen hatte. Das Kriterium, das in ihr den Maßstab theologischer Urteilsbildung markierte, wird erneut zur Geltung gebracht. Man erinnere sich: Die Prädestinationslehre von Duns Scotus ist nach Pannenberg uneinheitlich und endet in einer Aporie. Gebrauche man das aporetische Resultat als usus elenchticus, dann verheiße es gerade im Modus des Fehlens bzw. Verfehlens einer Lösung einen Neuanfang in der Weise einer Theologie, „in der das Gegenüber von Gott und Mensch nicht aus einer objektiven Ordnung, im Sinne der Theologie der potentia
Pannenberg, Analogie und Offenbarung, maschinenschriftliche Habilitationsschrift 1955, 132–135. Die nachfolgenden Seitenverweise in dieser Anmerkung beziehen sich hierauf.). Zur scotistischen Lehre von der Seinsunivozität wird vermerkt: „Das Sein als solches geht logisch auch der Unterscheidung in endliches und unendliches Sein, Kreatur und Gott, voraus. Dieser Lehre der Seinsunivokation gibt Duns eine sehr solide Stütze durch den Nachweis, dass ohne gewisse univoke Elemente überhaupt keine Gotteserkenntnis möglich wäre. Solche univoken Voraussetzungen der Gotteserkenntnis sind für Duns die Begriffe Sein, Ursache, Erstes, auch Wahrheit (Intellekt) und Gutheit (Wille).“ (132 f.) Ausgearbeitet hat Pannenberg das Kapitel über Duns und die Kritik des theologischen Analogiegedankens noch in den 50er Jahren; handschriftliches Material aus den Jahren 1956– 1960 befindet sich neben Bibliotheksbestand Nr. 4477. Entsprechendes gilt für den Abschnitt über den Analogiebegriff der Neuzeit, der in der akademischen Qualifikationsschrift selbst ebenfalls sehr knapp gehalten war. Nur kurz wurde auf Cajetan und Franz Suarez Bezug genommen, bis Pannenberg dann rasch auf den Beginn der neuzeitlichen Natur- und Geschichtswissenschaften einging sowie auf den Analogiegedanken Kants, für welchen „die Analogie nur Ausdruck der Beschränktheit unserer Vernunft (sei), die aus moralischem Interesse Gott denken (müsse), den sie doch nicht erkennen (könne)“ (137). Nach beiläufigen Bemerkungen zu Fichte, Hegel und Schleiermacher wird die aktuelle Problemlage an Karl Barth exemplifiziert, der in KD I/1, VIII die analogia entis zur Erfindung des Antichrists erklärt hatte, um derentwillen man nicht katholisch werden könne: „Gotteserkenntnis wird nur durch Offenbarung möglich, nicht auf dem Wege eines Analogieschlusses von der geschöpflichen Wirklichkeit her.“ (138) Pannenberg stimmt dem im Grundsatz zu, merkt aber an, dass sich bei Barth selbst „seit etwa 1930“ (139) eine Analogielehre im Sinne der analogia attributionis vel fidei finde: „In Gotteslehre, Christologie, Anthropologie, in der Sakramentslehre wie in der Staatslehre hat der Analogiebegriff in Barths Dogmatik als systematisches Strukturprinzip breite Anwendung gefunden. Demgegenüber ist die Frage nach der theologischen Legitimität des Analogiegedankens zu stellen.“ (139) Das gelte auch in Bezug auf die Attributions- bzw. Glaubensanalogie. Wertvolle Ansätze in Bezug auf eine adäquate Problemlösung sind nach Urteil Pannenbergs bei Luther zu finden. Worin sie bestehen, skizziert er auf den letzten Seiten seiner Habilitationsschrift unter hamartiologischen und soteriologischen Gesichtspunkten mit dem Ergebnis: Von den „Ansätzen Luthers her scheint mir der Charakter der Offenbarung Gottes als einer Neues schaffenden geschichtlichen Tat in der theologischen Erkenntnis besser gewahrt werden zu können als in der Richtung von Barths Analogiegedanken“ (ebd.). Sei nach Luther unter postlapsarischen Verhältnissen jedwede Annahme einer Analogie zwischen Gott und Mensch gnoseologisch und damit faktisch unmöglich, so erschließe doch die geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus durch den Geist „mehr als nur die Gemeinschaft einer Ähnlichkeit zwischen Verschiedenem, nämlich Einheit der Person“ (140).
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ordinata, sondern als ‚Begegnung‘ bestimmt wird“29. Eine vergleichbare Verheißung tragen Pannenbergs Erwartung zufolge der Aufweis einer Aporie der klassisch-scholastischen Analogielehre und der von Duns erbrachte Beleg in sich, dass eine Analogie zwischen Schöpfergott und Geschöpf ohne univoken Kern nicht zu behaupten sei. Worin die Verheißung des kritischen Aufweises einer Aporie der klassischen scholastischen Analogielehre und der theologisch-konstruktive Sinn der These einer für Analogizität notwendigen Univokation bestehen soll, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, so offenkundig die inhaltlichen Bezugnahmen der Habilitationsschrift auf die Dissertation namentlich in dem entscheidenden vierten Kapitel zur Aufnahme des averroistischen Analogiebegriffs in der vorwiegend neuplatonisch-augustinisch geprägten Hochscholastik auch sind. Pannenberg betont dort wie schon in seiner Doktorarbeit wiederholt, dass die biblischen Gottesbezeichnungen im Unterschied zum scholastischen Denken nie auf die Konstruktion eines göttlichen Wesens und der Verhältnisse der Eigenschaften in Gott zielten, weil sie gemäß dem Zeugnis der Schrift vom geschichtlichen Handeln des Schöpfers Himmels und der Erden her erschlossen sind und zwar auf Zukunft hin. Die Bibel rede von Gott nicht zeitlos, sondern zeitbezogen und auf zukunftsoffene Weise, weshalb theologisch die hermeneutische Regel gelte: „Insofern sich unsere Gottesbezeichnungen auf eine einzelne Tat Gottes beziehen, haben sie einen prägnanten Sinn, bezeichnen aber gerade keinen allgemeinen Wesenszug Gottes. Wollen wir umgekehrt durch Worte wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit usw. etwas immer Wiederkehrendes in allem Verhalten Gottes bezeichnen, dann entgleitet der Sinn dieser Worte jedem Versuch endgültiger Fixierung. Solche Begriffe definiert Gott selbst durch das Ganze seines geschichtlichen Handelns. Uns ist ihr Inhalt entwunden; er ist uns weder als einheitlich noch als abgeschlossen überschaubar. Nicht als einheitlich, weil er Disparates vereinen müßte; nicht als abgeschlossen, weil Gott immer noch handelt.“ (74 f.) Pannenberg zieht aus beiden Einsichten den Schluss, dass „von einem effectus essentialis, der den natürlichen Gegenständen unserer Begriffe und dem, was sie in Gott bezeichnen, gemeinsam wäre, keine Rede sein“ (ebd.) könne. So gesehen wäre der Erweis der Angewiesenheit analoger Aussagen auf einen sinnidentischen, univoken logos analogans nichts weiter als der Beleg für ihre prinzipielle Unfähigkeit, das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zu bestimmen. Pannenberg belässt es aber nicht bei diesem Ergebnis, sondern wendet es ins Konstruktive und zwar primär in christologischer Hinsicht, indem er nämlich die biblische Annahme einer menschlichen Gottebenbildlichkeit, die für die scholastische Behauptung einer Analogizität von Schöpfer und Geschöpf grundle29 H.K., Rez. W. Pannenberg, Prädestinationslehre etc., in: PhR 4 (1956), 127.
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gend war, von Jesus Christus her und auf ihn hingeordnet versteht. Bei Jesu Christi Gottebenbildlichkeit schließe „das Bildverhältnis eine substantielle Verbundenheit ein“ (90), die „gerade nicht eine bloße in der Distanz verharrenden Ähnlichkeit, sondern Identität“ (ebd.) ist. Die Lehre von Wesen und Eigenschaften Gottes sowie von seinem Verhältnis zu seinen Geschöpfen hat daher Pannenberg zufolge nicht bei Spekulationen, die von der Selbsterschließung des ewigen Gottes in der Zeit abstrahieren, sondern bei der geschichtlichen Manifestation personaler Gott-Mensch-Einheit in der Gestalt Jesu Christi ihren Ausgang zu nehmen. In Bezug auf die gottmenschliche Personeinheit Jesu Christi als des inkarnierten Logos ist von Gott und Mensch sinnidentisch und univok zu reden: Dieser Mensch ist wahrhaft Gott! Dass mit diesem Satz implizit auch das entscheidende Wort über das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf gesagt ist, steht trotz gegebener Differenzierungsbedürftigkeit für Pannenberg ebenso fest wie die Tatsache, dass er für den Gesamtzusammenhang der Theologie von der Schöpfungslehre bis hin zur Eschatologie von grundlegender Bedeutung ist. Welche konstruktive Relevanz hat in diesem Kontext die kritische These von Duns, dass die Annahme einer Analogie zwischen Gott und Mensch auch im Falle der sog. Attributionsanalogie eine Gemeinsamkeit mit einem univoken Kern zur Voraussetzung habe? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich für Pannenberg aus der Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte, in deren Verlauf zum einen Duns allmählich zu seiner prinzipiellen Kritik an der Analogielehre gelangt und zum andern „die auf Avicennas Entdeckung des Seins als des ersten und allgemeinsten Bewusstseinsinhaltes zurückgehende Tendenz zu einem univoken Seinsbegriff“ (139) zum Durchbruch gekommen sei. Dieser Durchbruch habe neben der kritischen „Auflösung der averroistischen Analogielehre in der Hochscholastik“ (ebd.) die Einsicht mit sich gebracht, dass ein Gottesbegriff nicht anders „als unter der Voraussetzung der Univokation des Seinsbegriffs zu bilden“ (152) sei. Die „Lehre von der Univokation des Seins in Bezug auf Gott und Mensch“ (154) bildet Pannenberg zufolge die konstruktive Basis von Duns’ Kritik an der Analogielehre, der er seine eigene Lehre von der Gotteserkenntnis kontrastiere. Zwar stimme er mit Thomas und anderen scholastischen Analogielehrern in der Annahme überein, dass im gegenwärtigen Zustand des Menschen alle Erkenntnis einschließlich der Gotteserkenntnis von der Sinneswahrnehmung ausgehe und sinnlich vermittelt sei. Dennoch bestreite er, dass die „quidditas rei materialis“ Erst- und Letztobjekt unseres Intellekts sei, und zwar unter Aufbietung eines eschatologischen Arguments: „Im Stande des Seligkeit kann der Mensch nur dann Gott schauen, wenn die Struktur seines Intellekts diese Möglichkeit nicht ausschließt. Das aber wäre der Fall, wenn man mit Thomas die Erkenntniskraft des Menschen wesentlich auf die Essenz von Sinnesdingen einschränkte.“ (156)
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Nach Duns, so Pannenberg, ist eine solche Einschränkung aus eschatologischen Erwartungsgründen unhaltbar. Ist aber der Mensch zur Gottesschau bestimmt, dann lässt sich daraus auch in protologischer Hinsicht ein Schluss ziehen, nämlich dass des Menschen Erkenntnis schöpfungsgemäß darauf angelegt ist, Gott zu erkennen, was ontologisch impliziere, dass es zwischen dem Sein des Menschen samt allem Seienden seiner Welt und dem Sein Gottes als dem Sein selbst ein Identitätsmoment gebe. Eine univoke Geltung des Seinsbegriffs sei somit zu behaupten. Pannenberg hat im Vorwort der Druckfassung seiner Habilitationsschrift unterstrichen, dass die Auseinandersetzung um die Frage, „(o)b die Rede vom Sein und andere Prädikate in Aussagen über Gott gleichsinnig (univok) oder analog im Verhältnis zum sonstigen Sprachgebrauch zu verstehen sind“ (5), „mehr als ein Schulstreit“ (ebd.) und die Einsicht von Duns, derzufolge auch analoges Reden von Gott um der Analogizität der Analogie willen ein univokes Element einschließen müsse, von durchaus epochaler Bedeutung sei, wie dies in der neueren Diskussion anerkannt und mit Recht herausgestellt werde. Bedenke man die wirkungsgeschichtliche Relevanz der scotistischen Lehre von der Univozität des Seinsbegriffs, dann erhelle daraus die Notwendigkeit eines besseren Verständnisses ihrer problemgeschichtlichen Prämissen von selbst. Dies gibt Pannenberg als den wesentlichen Grund dafür an, dass er sich nach Jahrzehnten zu einer Publikation seiner mit einigen Ergänzungen versehenen Habilitationsschrift von 1955 entschlossen habe. Im Blick auf die Wirkungsgeschichte werden insbesondere drei Folgen der These einer Univokation des Seinsbegriffs hervorgehoben: „Sie mag“, so Pannenberg im Vorwort unter Bezug auf neuere Forschungstendenzen, „auf dem Wege über Wilhelm Ockham in der Tat mitverantwortlich sein für die moderne Wendung zur Epistemologie und zur Subjektivität, aber auch für die Erneuerung der philosophischen Theologie bei Descartes durch die These von der transzendentalen Priorität der Idee des ens infinitum vor aller Erfahrung endlicher Inhalte.“ (Ebd.) Im Nachwort hat Pannenberg erneut auf die „epochale Bedeutung für den Prozess des Übergangs vom mittelalterlichen zum modernen Denken in Philosophie und Theologie“ (212) Bezug genommen, die der Erkenntnis der Univokation des Seinsbegriffs in der aktuellen Diskussion zuerkannt werde, und dabei neben dem epistemologischen und subjektivitätstheoretischen besonders den „erkenntnispsychologische(n) Gesichtspunkt (hervorgehoben), den Duns Scotus von Avicenna übernommen hat und der für seine Lehre von der Univokation des Seinsbegriffs maßgebend wurde: Der Gedanke des Seins ist das erste, was unser Intellekt erfaßt, vor aller Wahrnehmung der konkreten Dinge als seiender, aber als Voraussetzung dafür.“ (213) Zwar habe Duns mit dem Gedanken des Seins als des intellektuell Ersterkannten im Unterschied zu Heinrich von Gent nicht unmittelbar ein Be-
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wusstsein von Gott verbunden. Um zu einem entwickelten Gottesbewusstsein zu gelangen, bedürfe es der expliziten Unterscheidung des unendlichen vom endlichen Sein. Ohne sie und damit ohne reflexive Vermittlung sei der Gottesgedanke nicht in der ihm eigenen Bestimmtheit zu erfassen. „Dennoch“, fährt Pannenberg fort, „ist der Gedanke des Seins als Urintention des Intellekts in der Folgezeit immer wieder mit dem des Unendlichen und so auch mit dem Gottesgedanken verbunden worden.“ (Ebd.) Als hervorragendes Beispiel wird René Descartes angeführt, der in der dritten seiner metaphysischen Meditationen die philosophische Theologie mit der Einsicht neu begründet habe, dass „der Gedanke des Unendlichen in aller Erfassung von Endlichem schon vorausgesetzt sei, so dass alles Endliche (auch das eigene Ich) nur als Einschränkung des Unendlichen zu denken ist“ (ebd.). Sei bei Descartes der Gedanke des Unendlichen noch mit dem Seinsbegriff verbunden gewesen, so ändere sich dies im 18. und frühen 19. Jahrhundert, bei Schleiermacher etwa und Hegel, wo an die Stelle des Seins als des Ersterkannten das Unendliche „als Urintuition des Intellekts“ (ebd.) trete. Dennoch bleibe wie die Einsicht Descartes, die auf sie folgte, „die bei Duns Skotus endgültig vollzogene Wendung zu dem Gedanken Avicennas, mehr noch als dessen Deutung im Sinne der Univokation des Seinsbegriffs, bahnbrechend für den weiteren Weg der philosophischen Theologie“ (ebd.). Dass diese Feststellung auch für Pannenbergs eigene philosophische Theologie zutrifft, lässt sich unschwer nachvollziehen.30 Lässt sich die bahnbrechende Bedeutung, die er der scotistischen These von der Univokation des Seinsbegriffs attestiert, wirkungsgeschichtlich bis in Pannenbergs eigenes System hinein verfolgen, so gilt dies auch in Bezug auf die Kritik der Analogielehre, die Scotus aus seiner ontologischen Univokationsthese folgerte. Pannenberg spitzt sie zu, um ihr zugleich eine konstruktive offenbarungstheologische Wende zu geben. Zu erkennen ist dies nicht erst aus den der Druckfassung zu entnehmenden Ergänzungen, mit denen er seine Habilitationsschrift von 1955 in Bezug auf Duns, Ockham sowie bezüglich des Ausklangs der Geschichte des Gedankens der Seinsanalogie bei Meister Eckhard und beim Kusaner versehen hat (vgl. 181–211), oder aus den abschließenden Bemerkungen im Nachwort von 2006 (vgl. 212–215), mit der er seine in Jahrzehnten theologischer Arbeit entwickelte systematische Urteilsbildung zum Ausdruck bringen wollte (vgl. 6). Pannenbergs in offenbarungs- und geschichtstheologischer Absicht vollzogene Zuspitzung der scotistischen Kritik des Analogiegedankens, die dessen Verblassen auf dem Wege vom spätmittelalterlichen Platonismus zur 30 Vgl. im Einzelnen: G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016 (Pannenberg-Studien 2), 15–70, bes. 25 ff. Ferner: F. Nüssel, Wolfhart Pannenbergs Descartes-Rezeption, in: a. a. O., 89–104.
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neuzeitlichen Philosophie initiierte (vgl. 181), lässt sich schon seiner allerersten Publikation entnehmen, nämlich der bereits erwähnten, zu einer eigenständigen Studie ausgebauten Rezension des 1951 erschienenen Buches von Hans Urs von Balthasar über Darstellung und Deutung der Theologie Karl Barths.31 Gegenläufig zur Absicht von Balthasars, der die Barthsche analogia fidei mit der analogia entis zum Ausgleich zu bringen sucht, ist Pannenbergs Argumentation auf den Nachweis angelegt, dass unter der Voraussetzung, Barths offenbarungstheologische, auf die freie Ereignung der Gnade Gottes in Jesus Christus angelegte Intention werde konsequent verfolgt, der Analogiebegriff durchbrochen und zerbrochen werden müsse. Illustriert wird dies, was im Blick auf die damals in Arbeit befindliche Dissertation zur Prädestinationslehre des Duns Scotus eigens erwähnt zu werden verdient, an der Erwählungslehre Barths, in der die Intention von dessen Theologie als eines Denkens vom Akt her ihren „grundlegenden Ausdruck“32 gefunden habe. Sie sei konstitutiv auf die „Begegnungssituation“33 bezogen, in der das Offenbarungsgeschehen den Menschen betreffe. Werde der geschichtliche Begegnungscharakter der Offenbarung missachtet, dann müsse dies auf eine Verkennung der Grundintention der Barthschen Theologie hinauslaufen. Achte man ihn hingegen sowie mit ihm den basalen Ansatz Barths und halte sich an die im freien Gnadenwillen Gottes gegründete Geschehenskontingenz des offenbaren Christusereignisses, dann sei die theologische Unbrauchbarkeit des Analogiegedankens evident. „Die Intention Barths auf den Begegnungscharakter der Offenbarung Gottes in Jesus Christus kann nur ergriffen werden, wenn der Analogiebegriff zerbricht, dem die systematische Struktur der Dogmatik Barths noch verhaftet bleibt. Das theologische Denken muss auch in seiner Struktur bestimmt sein durch die Situation, in welcher die Offenbarung Gottes begegnend den Menschen hineinstellt, bestimmt und begrenzt durch die Struktur des Gegenübers in dieser Begegnung.“34 Man ahnt,
31 Vgl. H.U. v. Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Olten/Köln 1951. 32 W. Pannenberg, Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth, 17. 33 A. a. O., 24. 34 Ebd. In anderem Zusammenhang hat Pannenberg konstatiert, „daß das Ereignis der Offenbarung jenen Zusammenhang zwischen ‚Jenseits‘ und ‚Diesseits‘ allererst stiftet“ (Rez. H. Wagner, Existenz, Analogie und Dialektik. Religio pura seu transcendentalis. 1. Halbband, München/Basel 1953, in: ThLZ 79 [1954], 318–320, hier: 320), den die Analogielehre selbstverständlich, aber unbegründet voraussetze. Im Übrigen hebe sich diese der Dialektik ihres Begriffs gemäß selbst auf: „Weil das Sein (esse) von der Kreatur und Gott nicht in gleichem Sinne ausgesagt werden kann (univok), deshalb kann auch das als Analogie gedachte Verhältnis zwischen beiden jedenfalls nicht in dem Sinne verstanden werden, daß beide in einer Hinsicht voneinander verschieden sind, in anderer aber übereinstimmen; denn dann würde in dieser letzteren Hinsicht das Sein doch univok von Gott und Kreatur prädiziert.“ (319)
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worauf Pannenberg hinaus will, wenngleich die strukturelle Ausarbeitung dessen, was ihm vorschwebt, noch in der Zukunft liegt.35
4.
Forschungserträge
Ein Jahr vor Erscheinen der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“, die „als eine deutliche Provokation des theologischen Grundkonsens wahrgenommen (wurde), wie er sich auf den inzwischen konventionell gewordenen Vorgaben der dialektischen Theologie gebildet hatte“36, äußerte sich Pannenberg in der „Theologischen Literaturzeitung“ in sieben Thesen, die als Zusammenfassung des systematischen Ertrags seiner Beschäftigung mit dem Thema gelesen werden können, zu „Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Analogieprinzips in der evangelischen Theologie“37. Am Anfang steht die Bestreitung der „die traditionelle Analogielehre beherrschende(n) Voraussetzung“ (226), wonach die Analogie „ein Mittleres zwischen gänzlicher Gleichheit und Ungleichheit“ (ebd.) sei. Diese Prämisse habe als unzutreffend zu gelten, da alle Analogie „einen Kern gleichsinniger Gemeinsamkeit“ (ebd.) voraussetze. Dies gelte sowohl von der sog. Proportions-, als „auch von der sog. Attributionsanalogie, die entweder (mehr neuplatonisch) als Kausalanalogie auf der Seinsteilgabe der Ursache an die Wirkungen beruht, oder aber (aristotelisch) ein seinshaft gemeinsames Medium der verschiedenen Kategorien, das Sein der Substanz, voraussetzt“ (227). Für
35 Zu Biographie und Werkgeschichte des doctor subtilis vgl. W. Pannenberg, Art. Johannes Duns Scotus, in: EKL I, 980–982 sowie seine Rezension I. Duns Scotus, Opera Omnia Vol, I–IV (ed. Carolus Balic´), Civitas Vaticana 1950/54, in: ThLZ 81 (1956), 550–552 bzw. 83 (1958), 361 f., wo Pannenberg die historisch-kritische Edition der Ordinatio bespricht und auf die mannigfachen Probleme ihrer überlieferten Textgestalt eingeht. Zum Verhältnis der Ontologie von Duns zu seinem Personbegriff vgl. Pannenbergs Rezension der „Erstlingsarbeit“ von H. Mühlen, Sein und Person nach Johannes Duns Scotus, Werl 1954, in: ThLZ 80 (1955), 353–355, hier: 353. 36 T. Rendtorff, in: Chr. Henning/K. Lehmkühler (Hg.), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen 1998, 59–77, hier: 67. A. a. O., 67 f. äußert sich Rendtorff zur Verfassung des „Kreises“, einem „lockere(n) Zusammenschluß von jungen Theologen, der sich in den 50er Jahren in Heidelberg gebildet hatte, mit Wolfhart Pannenberg, Rolf Rendtorff, Dietrich Rössler und Ulrich Wilckens, sodann Klaus Koch und Martin Elze, in den ich 1960 aufgenommen wurde und der sich zu regelmäßigen Arbeitstagungen traf, in denen ein starkes theologisches Selbstbewußtsein gegenüber dem herrschenden Geist gepflegt wurde. … Eine neue theologische ‚Schule‘ wollten wir … nicht begründen, denn die positionelle Verschulung der Theologie wollten wir ja gerade durch den Anschluß an die außertheologischen Verständigungsdebatten hinter uns lassen.“ 37 W. Pannenberg, Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Analogieprinzips in der evangelischen Theologie, in: ThLZ 85 (1960), 225–228. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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genauere Informationen wird auf die Heidelberger Habilitationsschrift von 1955 verwiesen. Aus dem Nachweis, dass alle Analogie einen univoken Kern enthalte, ergibt sich für Pannenberg, dass diese „(a)ls Strukturprinzip von Aussagen über das Wesen Gottes … theologisch illegitim“ (ebd.) sei, weil „alle Einwände, die gegen eine Gleichheit geschöpflicher mit göttlichen Wesenszügen“ (ebd.) sprächen, „auch gegen die analoge Übertragung geschöpflicher Worte und Begriffe auf Gott geltend zu machen“ (ebd.) seien. Pannenberg unterstreicht diese Feststellung unter einem hamartiologischen Aspekt, den er zum „schwerwiegendste(n)“ (ebd.) des ganzen Sachverhalts erklärt. Durch die sündige Verkehrung der menschlichen Natur sei mit allen sonstigen auch das Erkenntnisvermögen des Menschen „in Mitleidenschaft“38 gezogen mit der Folge, dass unter postlapsarischen Bedingungen eine theologische Erkenntnis nicht möglich sei, welche sinnidentische Aussagen über Gott, Mensch und Welt zu machen erlaube. Würden entsprechende Aussagen dennoch getätigt, sei dies von Grund auf verkehrt und an sich selbst ein Beleg für den Fall der Sünde. Denn dadurch werde „Gott in das Koordinatensystem der Seinsperspektive des Sünders“ (ebd.) eingezeichnet, was Gottes Heiligkeit verwehre. Faktisch zwar vollziehe sich menschlich-welthafte Seinserkenntnis in der Weise analogisierenden Vergleichens, wie Kants Erkenntnistheorie dies prinzipiell und Troeltsch speziell hinsichtlich der historischen Methode aufgewiesen habe. Diese Gebundenheit unseres vorstellenden Denkens an das Analogieprinzip erlaube aber „keinen Schluß auf seine theologische Legitimität“ (ebd.). Als strukturelles Prinzip menschlicher Aussagen über das Wesen Gottes sei die Analogie im Gegenteil abwegig und irreführend und nichts als „Mittel intellektueller Bemächtigung Gottes durch den Sünder“ (ebd.). Als solches sei das Analogieprinzip nicht nur theologisch ungeeignet, sondern in seiner theologischen Anwendung selbst ein Indiz sündiger Verkehrung des Menschen. Bleibt zu fragen, ob unter den gekennzeichneten hamartiologischen Bedingungen überhaupt noch menschlich von Gott die Rede sein kann. Pannenberg bejaht diese Frage unter Voraussetzungen, die charakteristisch sind für die in der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ eingenommene Position und die für deren Verständnis gebührend zu berücksichtigen sind, soll es angemessen sein. „Trotz der angedeuteten, alle theologischen Aussagen brechenden Grenze ist ein Reden von Gott“, so heißt es, „geboten und also auch möglich, freilich nur im Bewußtsein jener Gebrochenheit. Rechtes Reden von Gott innerhalb dieser Gebrochenheit wird dadurch ermöglicht, daß Gott uns zwar nicht in seinem Wesen gleich ist, aber dennoch ‚sich uns gleich macht‘.“ (Ebd.) Mit den Menschen 38 So Pannenbergs Formulierung in seiner Rezension von L. Oeing-Hanhoff: Ens et unum convertuntur, Münster 1953, in: ThLZ 79 (1954), 505 f., hier: 506.
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gleichgemacht hat sich der ihnen ungleiche, unvergleichlich andere Gott in seiner Offenbarungstat, deren „Paradoxie“ (ebd.), wie Pannenberg sagt, „durch die Analogiethese zu einer überschaubaren, strukturellen Ähnlichkeit verflacht“ (ebd.) werde. Am ehesten sei Gottes paradoxe Offenbarungstat, wenn sie denn „überhaupt allgemein bezeichnet werden“ (ebd.) solle, als persönliches Handeln zu umschreiben. Doch stehe auch diese Wendung unter dem Vorbehalt, dass der sich offenbarende Gott „nicht Person im Sinne einer menschlichen Person“ (ebd.) und sein Handeln „nicht nach Analogie menschlichen Handelns zu verstehen“ (ebd.) sei, „schon weil jene für das Handeln konstitutive Freiheit in keinem menschlichen Handeln empirisch greifbar ist“ (ebd.). Je mehr sich der Glaube des Menschen seiner Bestimmung gemäß in das Offenbarungsgeschehen vertiefe, desto deutlicher werde ihm die Unvergleichlichkeit des offenbaren Gottes, für dessen selbsterschließendes Handeln absolute Freiheit und Kontingenz kennzeichnend seien. Zwar erweise sich Gott in seinem kontingenten Handeln in der Geschichte als derjenige, der er seinem ewigen Wesen nach ist. Aber Gottes ewiges Wesen sei und bleibe in der manifesten Einheit mit seinem Handeln frei erschlossen und nicht in der Weise eines (Analogie-)Schlusses von einer vermeintlich fassbaren Offenbarungstat auf ihren Grund hin zu begreifen. Die Form gläubiger Rede vom Wesen des offenbaren Gottes könne daher nur doxologisch sein, wie Pannenberg unter Verweis auf seinen Lehrer Edmund Schlink vermerkt.39 Die in geschichtlicher Kontingenz manifesten Taten Gottes sind nach Pannenberg in ihrer konkreten Vielfalt und Verschiedenheit wahrzunehmen und aus keinem vorgefassten Begriff göttlicher Einheit zu deduzieren, welche Deduktion einer Missachtung der Freiheit Gottes in seiner Offenbarung gleichkäme. Die Wahrnehmung der Einheit Gottes in seinem geschichtlichen Offenbarungshandeln erschließe sich nicht durch begriffliche Abstraktion von Ereigniskontingenz als Indiz göttlicher Freiheit, sondern aus dem, was die Bibel die Treue Gottes nenne, welche sich in seinem Verhalten zu Mensch und Welt zum Ausdruck bringe und „ein hohes Maß an Analogie (Typologie)“ (228) zwischen den verschiedenen Taten Gottes erkennen lasse. „Allerdings“, so Pannenberg, „ist die Analogie zwischen den Taten Gottes begrenzt dadurch, dass er – der in seinem Wesen Unvergleichliche – immer wieder Neues wirkt.“ (Ebd.) Die Neuheit dieses Neuen sei aus keiner Vergangenheit und aus nichts Gegenwärtigem zu erschließen, sondern ergebe ich kontingent und im Vollzug einer Freiheit, die alles Herkömmliche transzendiere. „Die trotzdem verbleibenden Analogien werden 39 Vgl. im Einzelnen: W. Pannenberg, Analogie und Doxologie, in: W. Joest/ders. (Hg.), Dogma und Denkstrukturen (FS E. Schlink), Göttingen 1963, 96–115; wiederabgedruckt in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 181–201. Vgl. a.a.O., 159–180: Was ist eine dogmatische Aussage?; zuerst erschienen in: KuD 8 (1962), 81–99.
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erst ex eventu sichtbar. So wird die Weise, wie Gott sich treu ist, uns immer wieder unbegreiflich. Ähnlich gewinnen auch die anderen Bezeichnungen von Eigenarten alles göttlichen Handelns eine Offenheit auf zukünftige Füllung, eine eschatologische Struktur, die für den die Grenzen alles Begreifens überschreitenden Glauben an Gottes Eigenschaften Raum läßt. Dagegen führt das Beharren auf der Erwartung der Analogizität des künftigen zu Gottes bisherigem Handeln zum Unglauben.“ (Ebd.) Es ist unschwer zu sehen, dass mit Sätzen wie diesen Argumentationsfiguren aufgebaut werden, die für das Theologieprogramm Pannenbergs grundlegend sind, auch wenn sich dessen Durchführung erst skizzenhaft abzeichnet. Der Folgesatz bestätigt diese Annahme in wünschenswerter Deutlichkeit: „Eine Sonderstellung im Zusammenhang des göttlichen Handelns nimmt das Geschick Jesu Christi ein, insofern in Jesu Kreuz und Auferstehung das Eschaton vorweggenommen ist. Zur Charakteristik dieser Sonderstellung reicht das Analogieprinzip jedoch wiederum nicht zu, weil einerseits Gott gerade im Geschick Jesu Christi sein unbegreifliches Wesen als solches offenbart und weil andererseits Vorwegnahme mehr als bloß Analogie besagt.“ (Ebd.) Dem proleptischen, das Eschaton antizipierenden Charakter der Selbstoffenbarung Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu entspricht der Glaube Pannenberg zufolge dadurch, dass die Erinnerung an den auferstandenen Gekreuzigten sich geistesgegenwärtig mit der Erwartung des kommenden Reiches Gottes verbindet, auf das er der Bestimmung des Menschengeschöpfs gemäß ausgerichtet ist. Im Glauben realisiert sich so die menschliche Gottebenbildlichkeit als eine von geschichtlichem Verhältnis des Schöpfergottes zu seinem Geschöpf her begründete „funktionale Einheit des strukturell unüberbrückbar Verschiedenen“ (ebd.). Zu denken ist diese funktionale Einheit des unvergleichlich Verschiedenen nicht nach Maßgabe des Prinzips der Analogie, sondern als dialektische Identität von Identität und Differenz, deren Begriff indes nicht ohne die Offenbarungsgeschichte, sondern nur aus dieser zu gewinnen ist. Pannenberg beschließt seine Thesenreihe, wie er sie begonnen hat, nämlich unter Bezug auf seinen Basler Lehrer, der nun explizit kritisiert wird: Im Vergleich zu der bezeichneten „dialektischen Realpräsenz Gottes schreiben Barths Hinweise auf strukturelle Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen innerhalb der Distanz, dem Menschen zugleich zuviel und zuwenig zu: zuviel, weil das selbständig-Menschliche keine strukturelle Entsprechung in Gott hat; zuwenig, weil in der dynamischen Einheit mit Gottes Handeln der Mensch mehr als nur Gott ähnlich ist.“ (Ebd.) Der geschichtstheologische Skopus, auf den Pannenberg die Kritik der Analogielehre im Zuge seiner Habilitationsschrift ausgerichtet hat, tritt ebenso deutlich im Gefolge seiner Studien zur Prädestinationslehre des Duns Scotus zutage, der seine Dissertation gewidmet war. Dass dem doctor subtilis für beide
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Themenfelder eine wirkungsgeschichtliche Schlüsselstellung zukommt40, wurde gezeigt. Duns habe, so Pannenberg, mit der Aporie des Analogiegedankens zugleich diejenige eines prädestinationstheologischen Ansatzes nachgewiesen, welcher den Gedanken ewiger Prädestination tendenziell von der geschichtlichen Erwählung des Menschen durch Gott in Jesus Christus ablöse und dadurch in das unauflösbare „Dilemma zwischen Determinismus und Synergismus“41 gerate. Beheben lasse sich dieses Dilemma nur, wenn die Prädestinationstheologie bei Gottes konkreter Offenbarungsgeschichte ihren Einsatz nehme und wenn Erwählung und Verwerfung nicht „am Leitfaden der allmächtigen und alleinwirksamen Kausalität des verborgenen Gottes“42 konstruiert würden. Die ewige Prädestination ereignet sich Pannenberg zufolge in der zeitlichgeschichtlichen Offenbarung und nicht abgelöst von dieser. Löse man sie von dieser ab und lasse ihr die göttliche Vorherbestimmung als einen besonderen Akt vorhergehen, dann ende das Verfahren zwangsläufig in dem besagten Dilemma zwischen Determinismus und Synergismus sowie in der aporetischen Parallelisierung von Erwählung und Verwerfung, welche den universalen Heilsratschluss Gottes zweifelhaft werden lasse und Gottes Freiheit dem Verdacht willkürlichen Beliebens aussetze. Halte man sich hingegen an Gottes konkrete Offenbarungsgeschichte, deren eschatologisches Ziel in der Erscheinung Jesu Christi antizipiert sei, dann erschließe sich Gottes Wille als in seiner Freiheit auf universale Gnade ausgerichtet. Lexikaartikel Pannenbergs zur Gnade und ihren Wirkmitteln bestätigen die gewonnene Einsicht. Die Wirklichkeit der Gnade und ihre Wirksamkeit in den sie vermittelnden Medien43 ist allein von Gott gewirkt: „denn die G(nade) ist Gott selbst, und das geschöpfliche Mitwirken stellt wegen der gänzlichen Abhängigkeit des Geschöpfes vom Schöpfer keine Ergänzung des göttlichen Wirkens dar. Die alleinwirksame G(nade) setzt zu ihrer Wirksamkeit am Menschen nichts voraus, was nicht seinerseits schon G(nade) ist. Die G(nade) knüpft also nicht an eine von ihr verschiedene Natur an, baut nicht auf ihr auf. Der G(nade) gegenüber, weil von ihr ursprungsverschieden, steht nur die Sünde.“44 Gleichwohl dürfe die Gnade nicht „nach Analogie der Ursächlichkeit einer mechanisch wirkenden Kraft gedacht werden. Das ist ausgeschlossen, weil die G(nade) der persönliche Gott selbst ist, der sich in seiner Verheißung persönlich dem Menschen zuwen40 Zusammenfassend hat sich Pannenberg zu den für sein eigenes Denken höchst einflussreichen Franziskanertheologen und -philosophen geäußert in dem erwähnten Duns-Artikel, in: EKL I, 980–982. 41 W. Pannenberg, Art. Prädestination IV. Dogmatisch, in: RGG3 V, Sp.487–489, hier: 489. 42 A. a. O., 487. 43 Vgl. ders., Art. Gnadenmittel, in: EKL I, 1615–1617. Zum Unterschied der Konfessionen im Verständnis der Übermittlung des durch Christus erworbenen Heils vgl. 1616 f. 44 Ders., Art. Gnade IV. Dogmatisch, in: EKL I, 1612–1614, hier: 1613 f.
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det, indem er sich persönlich an ihn bindet.“45 Der Glaube nimmt dies wahr und verlässt sich auf die Gnade Gottes und auf sie allein, um gerade in ihrer Externität seine Erfüllung zu finden und ganz bei sich zu sein. Die „(e)inzige Vorbereitung“46 des Gnadengeschehens, das Gott allein wirkt und vom Glauben allein zu empfangen ist, besteht nach Pannenbergs Urteil in „Gottes Prädestination, die sich jedoch nicht hinter, sondern in der G(nade)nmitteilung ereignet“47. Gnadenmitteilung, Erwählungsgeschehen und der Vorgang der Prädestination lassen sich nicht trennen, sondern stellen Differenzierungsmomente eines Zusammenhangs dar, der auf universales Heil zielt, ohne dass dieses Ziel im deterministischen Sinne vorherbestimmt wäre. Zwar ist nach Pannenberg jeder Synergismus gnaden-, erwählungs- und prädestinationstheologisch auszuschließen, nicht jedoch die Möglichkeit und Wirklichkeit der Verwerfung, die gerade dann bestehen bleibe und bestehen bleiben müsse, wenn Gottes Offenbarung in Jesus Christus geschichtlich konkret begriffen werde.48 Der Ansatz der Pannenbergschen Prädestinations-, Erwählungs- und Gnadentheologie, wie er ihn im Zusammenhang seiner Dissertation gewonnen und in einer Reihe einschlägiger Lexikaartikel ausgearbeitet hat, stimmt mit dem konstruktiven Resultat seiner Analogiekritik vollkommen überein und gibt wichtige Aufschlüsse im Blick auf die Grundlegung seines theologischen Systems49 einschließlich der Ekklesiologie. Zwar wird diese in den frühen Schriften selten direkt erörtert, aber indirekt ist ihre Thematik präsent und in strukturellen Grundzügen bereits ausgeprägt, wie abschließend an den beiden – bereits mehrfach zitierten – dogmatischen Artikeln zu Prädestination und Erwählung in der Drittauflage des Handwörterbuchs für Theologie und Religionswissenschaft „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ illustriert werden soll. 45 46 47 48 49
A. a. O., 1614. Ders., Art. Gnade, III. Dogmengeschichtlich, in: EKL I, 1607–1612, hier: 1611. Ebd. Vgl. hierzu im Einzelnen ders., Art. Erwählung III. Dogmatisch, in: RGG3 II, bes. 617–619. Vgl. dazu fernerhin den ebenfalls mit programmatischem Anspruch formulierten Artikel: Gott. V. Theologiegeschichtlich, in: RGG3 II, 1717–1732, wo Pannenberg, wie dann auch in der Studie über „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie“ (ZKG 70 [1959], 1–45) Möglichkeiten und Probleme der Verbindung der christlichen Theologie mit der antiken Metaphysik herausarbeitet: „So unumgänglich und theologisch legitim die Rezeption des philosophischen G(ott)esbegriffs war (gegen Harnack), so verhängnisvoll wirkte es sich aus, daß die Aneignung nicht kritisch genug erfolgte.“ (A.a.o., 1718; vgl. ders., Art. Ontologie, in: EKL II, 1689–1691. Ein zentrales Thema scholastischer Ontotheologie behandelt der Aufsatz „Akt und Sein im Mittelalter“, in: KuD 7 [1961], 197–220 mit dem Ziel, die Begründung der Kontinuität des natur- und kulturgeschichtlichen Schöpfungsgeschehens aus der göttlichen Freiheit in der Kontingenz seines Offenbarungshandelns heraus zu verstehen: „Nur in der von Gott ausgehenden, zur eschatologischen Zukunft hin offenen Geschichte ist die Kontingenz des Geschehens mit der seine Einheit verbürgenden Kontinuität innerlich verbunden.“ [A. a. O., 219])
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Gott erwählt im Vollzug seines prädestinatorischen Heilsratschlusses in Jesus Christus, in dem er sich in der Kraft seines Geistes und in Erfüllung all seiner geschichtlichen Manifestationen als er selbst offenbart, „einzelne, um sich durch sie ein Volk zu schaffen, und er erwählt ein Volk als die Gemeinschaft von einzelnen“50. Beides geschieht um der Realisierung seines eschatologischen Reiches willen, welches im Geschehen der Auferweckung des Gekreuzigten proleptisch antizipiert ist. Das Fundament der Pannenberg-Ekklesiologie ist damit gelegt. Der Zusammenhang von Christus und Eschaton bildet die Basis des Verhältnisses von Kirche und Reich Gottes, das sich im Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft reflektiert. Individualität und Sozialität stehen in Pannenbergs Ekklesiologie gleich ursprünglich in Geltung. Im Christusgeschehen, in welchem sich das Ende der Geschichte vorweg ereignet, sind Gottes Prädestination und Erwählung auf die ganze Menschheit, ja auf die Schöpfung insgesamt bezogen und nicht auf den isolierten Einzelnen. Umgekehrt ist der Einzelne vermöge der Offenbarung Gottes in Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes nicht zum Funktionsmoment eines abstrakt Allgemeinen und Gemeinschaftsganzen herabgesetzt, sondern dazu bestimmt, ein singuläres, ebenso einzigartiges wie einmalige Individuum zu sein, dessen Name im Himmel geschrieben ist (vgl. Lk 10,20). In der einigen communio sanctorum, welche zu sein die Kirche bestimmt ist, wird individuelle Differenz nicht beseitigt, sondern im Gegenteil gesteigert, weil sie ihren trennenden Charakter verloren hat. Noch bevor er mit einer expliziten Thesenreihe zur Theologie der Kirche an die Öffentlichkeit trat51, hat Pannenberg den Ansatz und die skizzierten Grundzüge seiner erwählungstheologisch fundierten Lehre von der Kirche in einer von drei Studien komprimiert zur Darstellung gebracht, die eine Zusammenfassung seines theologischen Denkens unter den Gesichtspunkten der Gotteslehre, der Ekklesiologie und der Ethik boten.52 Sie wurden „1966/67 in englischer Sprache verfaßt und an verschiedenen Universitäten in den USA vorgetragen“53; auf Deutsch erschienen sie im Jahr 1971 unter dem Titel „Theologie und Reich Gottes“ zusammen mit dem am 2. November 1965 in Basel 50 Ders., Art. Erwählung III. Dogmatisch, in: RGG3 II, 616. 51 Vgl. ders., Thesen zur Theologie der Kirche, München 1970. Der erste Teil ist überschrieben „Reich Gottes und Kirche“, der zweite „Kirche als messianische Gemeinde“. 52 Vgl. ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977. Die Verbindung beider „Themenkreise bringt die Annahme zum Ausdruck, daß die Institutionalisierung der religiösen Thematik in der Kirche einen bedeutsamen Platz im Zusammenhang der allgemeinen Probleme der Ethik beanspruchen darf. Aber auch umgekehrt ist damit angedeutet, daß eine sachlich angemessene Erörterung und Darstellung der Lehre von der Kirche sich in den weiteren Zusammenhang der ethischen Fragen nach Gesellschaft, Staat und Recht einordnen sollte.“ (A. a. O., 5) 53 Ders., Theologie und Reich Gottes, Gütersloh 1971, 7. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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auf Einladung der dortigen Philosophischen Gesellschaft erstmals vorgetragenen Text „Erscheinung als Ankunft des Zukünftigen“ (vgl. 79–91), der bereits „bei der amerikanischen Veröffentlichung (1969) in den Band mitaufgenommen wurde“ (7), weil er, so Pannenberg, von demselben Grundgedanken und Verfahren gekennzeichnet sei wie die drei übrigen. Allerdings wird ausdrücklich davor gewarnt, deren grundlegende Denkfigur in ihm auf einen formalen Begriff gebracht zu sehen: „die Zukunft der Gottesherrschaft, die der vorhandenen Welt nicht ausschließend entgegentritt, sondern durch Jesus von Nazareth definitiv, aber als ihre Zukunft in ihr gegenwärtig geworden ist“ (ebd.). Zu bedenken sei stets: „Das formale Begriffsverhältnis von Wesen und Erscheinung hat nur Näherungswert für die Beschreibung des ‚Erscheinens‘ Gottes in Jesus Christus, das solche abstrakten Kategorien übersteigt, dabei aber ein Licht auf die ihnen eigene Problematik wirft. Immerhin“, so fährt Pannenberg fort, „ist die Näherung vielleicht geeignet, das Verfahren zu erläutern, das im Vertrauen auf die Inkarnation der Zukunft Gottes in der Geschichte Jesu bei Phänomenen menschlicher Erfahrung einsetzt, um sich von ihnen auf den in Jesus offenbaren Gott als das Geheimnis des Daseins verweisen zu lassen.“ (Ebd.) Ekklesiologisch variiert wird die für Pannenbergs Theologie grundlegende Denkfigur der in der Erscheinung Jesu Christi proleptisch antizipierten eschatologischen Zukunft von Menschheit und Welt in dem Beitrag „Reich Gottes und Kirche“ (vgl. 31–61), der in nuce alles enthält, was später in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ von 1970 und dann im 12., 13. und 14. Kapitel des opus magnum der Systematischen Theologie 1993 im Detail entfaltet wird.54 Die Kirche ist in der Nachfolge ihres Herrn, in dessen Geschichte sich das Eschaton vorwegereignet hat, wesentlich dazu bestimmt, Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes zu sein, in dem sich die Menschheits- und Weltgeschichte, ja die ganze Schöpfung im Geist der Gerechtigkeit und der Liebe vollendet. Pannenbergs ursprüngliche ekklesiologische Einsicht ist damit umschrieben. Erschlossen hat sie sich ihm nicht im unmittelbaren Kontext der Lehre von der Kirche, sondern aus der konstruktiven offenbarungstheologischen Kritik jener Ansätze heraus, mit denen er sich in seinen akademischen Qualifikationsarbeiten auseinandersetzte, deren thematische Ausrichtung sich bereits zu Zeiten seines Studiums abgezeichnet hatte.
54 Vgl. ders., STh III, Göttingen 1993, 13 ff. Hierzu auch: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie (= BSTh) Bd. 3: Kirche und Ökumene, Göttingen 2000.
Friederike Nüssel
Kirche als Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes Zu Genese und Profil der Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs
1.
Werkgeschichtliches
Im WS 1962/63 hielt Wolfhart Pannenberg seine erste Vorlesung zur Lehre von der Kirche an der Universität Mainz. Die Vorlesung wurde fester Bestandteil des auf vier Semester aufgeteilten Zyklus dogmatischer Vorlesungen (Dogmatik I– IV), in denen Pannenberg die Themen der Dogmatik von der Gotteslehre bis hin zur Eschatologie traktierte1. Nachdem er die Vorlesung im SS 1966 in Mainz und im WS 1968/69 in München wiederholt hatte, kam er der Bitte nach, die Vorlesung in Form von Thesen zu publizieren2. Das geschah – wie Pannenberg im Vorwort festhält – nicht ohne Zögern. Denn in seiner Forschung war Pannenberg in dieser Zeit mit der Ausarbeitung seiner Wissenschaftstheorie befasst, die der Begründung der Wahrheitsfähigkeit theologischer Aussagen in Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus und der Bestimmung der Theologie als Wissenschaft diente. Dieses Werk, das 1973 unter dem Titel „Wissenschaftstheorie und Theologie“ erschien3, bietet zusammen mit der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ (1983) die fundamentaltheologische Basis für die Ausarbeitung der Systematischen Theologie. Da Pannenberg unter diesen Bedingungen die Ausarbeitung der Ekklesiologie in der für sein Theologieverständnis konstitutiven theologiehistorischen Erschließung nicht möglich war, entschied er sich für die Form der Thesen.
1 Vgl. zu den Lehrveranstaltungen die Übersicht in G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“, Pannenberg-Studien Bd. 1, Göttingen 2015, 251–262. 2 W. Pannenberg, Thesen zur Theologie der Kirche, Claudius Thesen Heft 1, München 11970, 2 1974. Im Folgenden wird aus der zweiten Auflage zitiert mit dem Kürzel Thesen unter Angabe von Paragraph und Seite. 3 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973. Nachdrucke erschienen 1977 und 1987.
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Doch nicht nur in der Form der Präsentation waren in der Publikation der frühen Ekklesiologie Abstriche nötig. Wie Pannenberg ebenfalls im Vorwort der „Thesen zur Theologie der Kirche“ darlegt, sah seine Konzeption der Ekklesiologie drei Teile vor: einen ersten Teil zur Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Kirche und Reich Gottes, einen zweiten Teil zur speziellen Ekklesiologie unter der Überschrift „Die Kirche als messianische Gemeinde“, und einen dritten Teil, in dem die Geschichte der Kirche unter dem Gesichtspunkt des göttlichen Erwählungshandelns als Erwählungsgeschichte rekonstruiert und kritisch reflektiert werden sollte4. Die ersten beiden Teile finden sich in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ entfaltet. Den dritten Teil konnte Pannenberg für die Vorlesung und Publikation noch nicht ausarbeiten, obwohl er im Vorwort bereits auf eine Reihe von publizierten Vorarbeiten verweisen kann5. Erst im dritten Band der Systematischen Theologie von 1993 findet sich die Ausarbeitung dieses Teils der Ekklesiologie in dem Kapitel 14 „Erwählung und Geschichte“, das das Scharnier zwischen der Ekklesiologie und der Eschatologie darstellt.
2.
Die frühe Ekklesiologie in den „Thesen zur Theologie der Kirche“
Die Aufgabe der Ekklesiologie in seinen frühen Vorlesungen zur Lehre von der Kirche besteht für Pannenberg in der Leitfrage, „wozu die Kirche als Institution überhaupt nötig ist“6. Die Beantwortung dieser Frage wird gelenkt durch die These: „Kirche ist auf einen von ihr selbst verschiedenen Zweck hin zu verstehen, vorhandene Kirchlichkeit daran zu messen und von daher zu reformieren“7. Mit dieser These gibt Pannenberg zu verstehen, dass die ekklesiologische Selbstbesinnung im Dienste der Orientierung und Reform kirchlichen Lebens zu geschehen hat, und wendet sich zugleich dezidiert gegen die ekklesiologischen Ansätze, die die Kirche als etwas „Gegebenes behandeln, das nur zu interpretieren wäre“8. Eine solche Ekklesiologie steht nach seinem Urteil „in der Gefahr, bestehende kirchliche Institutionen als Ausdruck ‚der‘ Kirche ideologisch zu verklären“9. Im Rahmen der Thesenform führt Pannenberg nicht an, in welchen Ansätzen er diese Problematik gegeben sieht. Es dürfte jedoch die evangelische 4 5 6 7 8 9
Vgl. W. Pannenberg, Thesen, Vorwort, 3. Vgl. W. Pannenberg, Thesen, Vorwort, 4 f. Ders., Thesen, Nr. 1, 9. Ebd. Ebd. Ebd.
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Kirchensoziologie10 der Nachkriegszeit gemeint sein11. Im Gegenzug zu einer soziologischen Selbstbeschreibung der Kirche kommt es Pannenberg in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ darauf an, die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Kirche konsequent von ihrem Bezug auf das Reich Gottes her zu beantworten. Denn „(d)as Reich Gottes ist historisch wie sachlich der Zweck von so etwas wie Kirche“12, von dem allein her zu verstehen ist, wofür die Kirche als Institution bestimmt ist und wie sie zu gestalten ist. Den Ausgangspunkt für die ekklesiologischen Überlegungen Pannenbergs bildet dabei Rudolf Bultmanns Bestimmung der Kirche als ‚eschatologische Gemeinde‘. Ihr eschatologischer Charakter gründe im Auftreten und der Verkündigung Jesu vom nahen Reich Gottes, durch dessen Heraufführung Gott seine Macht und Gerechtigkeit erweisen werde. Weil zum Gottesgedanken untrennbar der Gedanke der Macht Gottes gehöre, sei „die Wirklichkeit Gottes nicht ohne sein Reich, beziehungsweise seine Herrschaft denkbar“13. Die Zukünftigkeit der Gottesherrschaft, die Pannenberg im Unterschied zu Bultmann betont, impliziert dabei eo ipso die Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes bis zur endgültigen Heraufführung des Reiches Gottes14. Daraus wiederum erklärt sich, dass auch die Rolle der Kirche in der Gesellschaft strittig ist. Entsprechend geht es Pannenberg in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ darum, die Bedeutung der Kirche als eschatologische Gemeinde aus ihrem Bezug auf die zukünftige Gottesherrschaft zu erklären und zugleich ihren Unterschied zu menschlichen Herrschaftsformen zu markieren. Der Unterschied zwischen menschlichen Herrschaftsformen und der Gottesherrschaft gründet in dem Unterschied zwischen menschlichem Recht und dem in der Gottesherrschaft aufzurichtenden Gottesrecht. Nach Pannenberg formuliert „das Menschenrecht oder Naturrecht“, das er in diesem Zusammenhang bewusst nicht unterscheidet, „die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit von Gemeinschaft überhaupt als menschliche Gemeinschaft“15. Die normative Struktur menschlicher Gesetze lege dabei „das Verhalten der Menschen auf jeweils eine normative Möglichkeit“16 fest und sei in diesem Sinne durch Starrheit gekennzeichnet. Im Unterschied dazu sei das Gottesrecht, dessen 10 Vgl. dazu D. Rössler, Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin/New York 21994, 106–109. 11 Diese bot auch für Pannenbergs theologischen Weggefährten Trutz Rendtorff, der mit Pannenberg an der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ (1961) beteiligt war, einen wesentlichen Bezugspunkt für seine theologische Entwicklung. Vgl. dazu M. Laube, Theologie und neuzeitliches Christentum: Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006. 12 W. Pannenberg, Thesen, Nr. 2, 9. 13 Ders., Thesen, Nr. 3, 11. 14 Vgl. ebd. 15 Ders., Thesen, Nr. 18, 15. 16 Ders., Thesen, Nr. 17, 14 f.
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Aufrichtung im Auftreten Jesu anhebt, bestimmt durch die Freiheit der Liebe, die auf die Besonderheit der Menschen und ihre jeweilige Situation eingehe. Denn die Liebe entdecke „erst am besonderen Fall die Gesichtspunkte, die zur Neuformulierung von Bedingungen menschlicher Gemeinschaft überhaupt führen können“17. Die Liebe gehe so über menschliches Gesetz hinaus und eröffne „eine im Prinzip unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten schöpferischer Situationsbewältigung“18. In der Verkündigung Jesu vom Reich Gottes geht es nach Pannenberg um die Aufrichtung dieses Gottesrechtes. Voraussetzung sei dabei zum einen die biblische Gottesvorstellung, der zufolge die Herrschaft Gottes durch die Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit bestimmt ist19. Zum zweiten sei vorausgesetzt, dass nach jüdischer Überlieferung dem Messias die Funktion zukomme, „die Gottesherrschaft unter den Menschen zu repräsentieren“20. Das Wirken des Messias bestehe dabei in der „Vermittlung der Menschen in die Unmittelbarkeit zu Gott“21. Insofern unterscheide sich die messianische Aufrichtung der Gottesherrschaft grundlegend von einer theokratischen, unmittelbaren Gottesherrschaft22. Indem Jesus in seinem gesamten Auftreten das Gottesrecht repräsentiert habe, sei er von seiner Gemeinde mit Recht als der Messias verstanden worden. „Durch seine Verkündigung der definitiven Wahrheit des Rechtes Gottes als Liebe“ habe Jesus als der Messias nun allerdings „die Gottesherrschaft als Aufhebung des Gegensatzes zwischen Herrschenden und Beherrschten (auch zwischen Gott und Mensch) und in diesem Sinne die prinzipielle Aufhebung der Herrschaft selbst eingeleitet“23. In der Überwindung dieses Gegensatzes zwischen Herrschenden und Beherrschten kulminiert für Pannenberg die Aufrichtung des Gottesrechtes im Wirken Jesu. Im Lichte der in Jesus anbrechenden Gottesherrschaft könne Herrschaft nunmehr „nur noch im Hinblick auf ihre die Individuen einende Funktion legitimiert werden, während der dabei immer wieder entstehende Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten zum Verschwinden bestimmt“24 sei. Indem die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden mit Jesus und seiner Verkündigung der Gottesherrschaft im Glauben verbunden ist, ist sie nach Pannenberg ihrem Wesen nach „Gemeinschaft am Heiligen“25 und darin zugleich 17 18 19 20 21 22 23 24 25
AaO., 15. Ebd. Ders., Thesen, Nr. 4, 11. Ders., Thesen, Nr. 9, 12. Ebd. Ebd. Ders., Thesen, Nr. 11, 15. Ebd. Ders., Thesen, Nr. 32, 21.
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messianische Gemeinde. Als solche partizipiere sie selbst an der spezifischen Repräsentanz der Gottesherrschaft, die die Struktur des messianischen Wirkens Jesu ausmache. Wie in Jesu Wirken die Gottesherrschaft schon anbreche und in ihrer endgültigen Verwirklichung schon antizipativ erfahrbar werde, so bestehe die besondere Bestimmung der Kirche in ihrer Partizipation an der messianischen Wirksamkeit Jesu darin, die durch die Aufrichtung des Gottesrechtes gekennzeichnete künftige Gottesherrschaft vorweg darzustellen. In dieser Funktion der Vorwegdarstellung unterscheidet sich die Kirche nach Pannenberg einerseits von Grund auf von jeder anderen menschlichen Institution. Andererseits ist gerade die mit der Funktion der Kirche verbundene Selbstunterscheidung von der Gesellschaft und ihren Institutionen die Voraussetzung für ihren konstruktiven Bezug auf die Gesellschaft. Dieser besteht nach Pannenberg eben darin, dass die Kirche die Bestimmung der Menschheit in der Gesellschaft vorwegnehmend präsentiert26, die erst eschatologisch im Reiche Gottes vollkommen realisiert werden wird. In dieser Funktion ist die Kirche zwar selbst auch eine Institution in der Gesellschaft, aber ihre Besonderheit im Unterschied zu allen anderen gesellschaftlichen Institutionen besteht darin, dass sie auf das Ganze der Gesellschaft bezogen ist27. Das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft bildet das zentrale Thema der Thesenreihe, mit dessen Erörterung Pannenberg auf die kirchensoziologische Betrachtung antwortet. Konstitutiv für die Aufgabe der Kirche in der Gesellschaft ist es nach Pannenberg in Entsprechung zu den bereits genannten Überlegungen, sich von politischer Ordnung und gesellschaftlichen Institutionen zu unterscheiden und gerade so „das Bewußtsein von der Vorläufigkeit des politischen Rechtszustandes wach“28 zu halten. Zugleich vermöge die Kirche auf diese Weise die Möglichkeiten der Veränderung des politischen Rechtszustandes offen zu halten29. Indem die Kirche die Bestimmung der Menschheit zur Gemeinschaft in Freiheit und Gerechtigkeit und darin zur Humanität vorwegnehmend repräsentiere, sei sie auf das Gemeinwohl der Menschen bezogen, auf das sich die „Aufgabe demokratischer Politik“30 zu richten habe. Die Demokratie appelliere „bei allen Bürgern an einen Sinn für das gemeinsame Wohl“31 und lebe davon, dass die Bürger der Gesellschaft fähig und bereit sind, ihre Sonderinteressen dem Gemeinwohl ein- bzw. unterzuordnen. Die moderne Demokratie habe dabei „insofern – neben anderen Voraussetzungen – christliche Wurzeln, als der christliche Glaube die Skepsis gegen die Möglichkeit öffentlicher Tugend in der 26 27 28 29 30 31
Vgl. ders., Thesen, Nr. 2, 9. Ebd. Ders., Thesen, Nr. 20, 16. Vgl. ebd. Ders., Thesen, Nr. 27, 19. Ders., Thesen, Nr. 26, 19.
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Menge überwand, also die Auffassung, daß die Menge nicht fähig sei, den Eigennutz dem gemeinen Wohl unterzuordnen“32. Indem die moderne Demokratie das Wagnis eingehe, „von Natur ungleiche und nicht in gleicher Weise freie Individuen auf ihre Bestimmung zur Gleichheit und Freiheit“33 anzusprechen, und darauf hinarbeite, die der Bestimmung zur Gleichheit und Freiheit entgegenstehenden Verhältnisse abzuschaffen, rekurriere sie faktisch auf die christlichen Wurzeln und mache von den in der Kirche zeichenhaft gegenwärtigen „Bedingungen der Gottesherrschaft schon gegenwärtig auch für das politische Leben Gebrauch“34. Daraus erhellt eine doppelte Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Zum einen wird in ihr die Erfahrung der Freiheit und Gleichheit in der Verkündigung und Lebensform im Modus der Vorausdarstellung möglich. Zum zweiten ist nach Pannenberg der Sinn für das Gemeinwohl „letzten Endes nur religiös zu begründen“35 und lasse sich nur durch Bildung entwickeln. In ihrer Unterschiedenheit von politischen Einrichtungen des Staates seien die Kirchen die „jedenfalls historisch bedeutendsten Institutionen zur Bildung der einzelnen Bürger im Hinblick auf die Ein- und Unterordnung der Sonderinteressen einzelner und partikularer Gruppen oder Gesellschaften unter die Forderungen der Humanität als Ausdruck des Gesamtwohls der Menschheit in der Gesamtheit ihrer Individuen“36. Damit kann Pannenberg den Beitrag der Kirchen zum gesellschaftlichen Zusammenleben und zur Förderung der Demokratie wie folgt zusammenfassen: „Indem die Kirche die Individuen religiös ihres im gesellschaftlichen Leben nie schon unzweideutig realisierten Heils (der Ganzheit und des Gesamtsinns ihres Daseins) versichert, befähigt sie sie, sich dem Wohle anderer unter den vorläufigen geschichtlichen Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft zu widmen. Daher ist gerade das spezifisch religiöse und gottesdienstliche Leben der Kirche ihr bedeutendster Beitrag für die Gesellschaft“37. Wenngleich Pannenberg im Rahmen des frühen ekklesiologischen Entwurfs die Ausgangsfrage, „wozu Kirche als christliche Institution überhaupt nötig ist“38, mit besonderem Augenmerk auf den Beitrag der Kirche zur Förderung der Demokratie beantwortet, darf dies nicht dahingehend missverstanden werden, als sei die Bestimmung der Kirche aus ihrer Funktion für die Gesellschaft und damit letztlich soziologisch ableitbar. Pannenberg macht vielmehr geltend, dass für die Rolle der Kirche die Bestimmung der Menschheit zur Freiheit und Gleichheit in der Gemeinschaft mit Gott vorausgesetzt ist, deren universale und endgültige 32 33 34 35 36 37 38
Ders., Thesen, Nr. 26, 18. AaO., 19. AaO., 18 f. AaO., 19. Ders., Thesen, Nr. 29, 19 f. Ders., Thesen, Nr. 30, 20. Ders., Thesen, Nr. 1, 9, Hervorhebung FN.
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Bedeutung in der Offenbarung Gottes in Wirken und Geschick Jesu Christi zu erkennen ist. Die Frage, inwiefern die Hoffnung auf die Heraufführung des Reiches Gottes und Aufrichtung des Gottesrechtes begründet ist, kann jedoch im Kontext der Ekklesiologie für sich genommen nicht beantwortet werden.
3.
Die Bestimmung der Kirche in der Systematischen Theologie
Während in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ der Akzent der Ausführungen auf der Bedeutung der Kirche für die Gesellschaft liegt, ist die Ekklesiologie in der Systematischen Theologie (1988–1993) konsequent eingebunden in die übergeordnete Aufgabe der systematischen Entfaltung des Wahrheitsanspruchs der christlichen Lehre39 und näherhin in die Darstellung der Vollendung der Heilsökonomie durch den Geist. Entscheidend für die Wesensbestimmung der Kirche ist das Kap. 12 über „Geistausgießung, Reich Gottes und Kirche“. Diese wird hier aus der Reflexion auf die konstitutive Rolle und auf die Eigenart des schöpferischen Geistwirkens in der Sammlung der Kirche heraus entwickelt40. Dabei ist Pannenberg daran gelegen, die Kontinuität des Geistwirkens in Schöpfung, Erlösung und Sammlung der Kirche herauszustellen, die in der Leben spendenden und synthetisierenden Kraft des Geistes bestehe41. Sie macht das Spezifikum der Wirksamkeit des Geistes im Verhältnis zum Vater als dem Prinzip des Anfangs und dem Sohn als dem Prinzip des Andersseins aus42, und zwar nicht erst im Zusammenwirken von Vater, Sohn und Geist in den sog. opera ad extra, sondern schon innertrinitarisch in der Vermittlung der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater. So geschieht nach Pannenberg das „Handeln des Geistes […] überall in enger Verbindung mit dem des Sohnes“43. Entsprechend ist auch die 39 Vgl. STh III, 11. Zu Verständnis und Aufgabe der systematischen Theologie bei W. Pannenberg vgl. F. Nüssel, „Dogmatik als Systematische Theologie!“ Zur Aktualität des Dogmatik-Verständnisses bei Wolfhart Pannenberg, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“, Pannenberg-Studien Bd. 1, Göttingen 2015, 57–74. 40 Vgl. dazu STh III, 13–33, bes. 16 und 24. 41 AaO., 19: „Grundform des Geisteswirkens ist … die schöpferische Tätigkeit der Hervorbringung von Leben und Bewegung“. Siehe zur synthetisierenden Wirksamkeit außerdem Pannenberg, STh II, Göttingen 1990, 47. 42 Vgl. zu Pannenbergs Analyse des trinitarischen Schöpfungshandelns F. Nüssel, Challenges of a Consistent Language on the Spirit in Creation and New Creation, in: M. Welker (Hg.), The Spirit in Creation and New Creation. Science and Theology in Western and Orthodox Realms, Grand Rapids Michigan/Cambridge 2012, 120–133. Die altkirchliche Einsicht, der zufolge die Werke der Trinität nach außen nicht getrennt werden können, bezieht Pannenberg auf das schöpferische Handeln Gottes, welches sich nicht nur in der Schöpfung und Erhaltung der Welt, sondern ebenso in Erlösung und Vollendung realisiert. 43 STh III, 16. Pannenberg erläutert: „Bei der Schöpfung wirken Logos und Geist so zusammen, daß das Schöpfungswort das gestaltende Prinzip, der Geist aber Ursprung von Bewegung und
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Kirche nach Pannenberg „Geschöpf des Geistes und des Sohnes zugleich. Sie ist Geschöpf des Geistes, indem sie die Schöpfung des erhöhten Christus durch das Wort des Evangeliums ist“44. Die konstitutive Bedeutung des Geistwirkens bringt Pannenberg im Gegenzug zu einer christologischen Engführung der Ekklesiologie zum Zuge, die s. E. auch bei der reformatorischen Auffassung der Kirche als creatura verbi droht, „wenn nicht ebenso die ‚Geistgebundenheit des Wortes‘ betont wird wie die Bindung des Geistes an das Wort“45. Umgekehrt sei aber gegenüber einer einseitigen Akzentuierung des Geistwirkens in der Ekklesiologie die Beziehung des Geistes auf den Sohn herauszustellen46. „Die Funktion der pneumatologischen Begründung der Kirche ist es, die eschatologische Vollendung der Schöpfung, auf die schon die irdische Sendung Jesu zielte, als die Herrlichkeit Jesu Christi erkennbar werden zu lassen, kraft derer er der neue Adam und so auch das Haupt der Kirche als seines Leibes ist“47. Unter den neutestamentlichen Charakterisierungen der Kirche ist nach Pannenberg darum die Bestimmung der Kirche als Leib Christi die grundlegende48. Für das Verständnis der inhaltlichen Bestimmung der Kirche und ihrer Berufung ist für Pannenberg in der Systematischen Theologie wie schon in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ der Bezug auf das Reich Gottes und zugleich die Unterscheidung zwischen Kirche und Reich Gottes konstitutiv. Die Kirche sei berufen, „(d)er Welt die Wahrheit des Evangeliums zu bezeugen“49, indem sie „selbst in dieser Welt Vorzeichen der Bestimmung der Menschheit ist“, die darin besteht, „zu einer Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden in der Zukunft des
44 45 46
47 48 49
Leben der Geschöpfe ist. In der eschatologischen Vollendung ist der Geist tätig als die die Geschöpfe zur Teilnahme an der Herrlichkeit Gottes befähigende und verwandelnde Macht, während der Sohn als Träger des Endgerichts das Kriterium der Zugehörigkeit zu Gott und seinem Reich oder auch der Unvereinbarkeit mit ihm ist. Im Vollzug des Versöhnungsgeschehens und der geschichtlichen Vermittlung seiner Heilswirkungen geht die Inkarnation des Sohnes – gehen also sein irdischen Wirken, sein Tod und seine Auferstehung – der Mitteilung des Geistes an die Glaubenden voraus. Nur in diesem Zusammenhang ist von einer ‚Sendung‘ des in Ewigkeit vom Vater ausgehenden Geistes durch den Sohn die Rede (Joh 15,26f; 16,7).“ STh III, 31. Ebd. Dies betont Pannenberg insbesondere in Bezug auf eine Auslegung der Pfingstgeschichte in der Apostelgeschichte, die einseitig das spiritualistisch-enthusiastische Geschehen in den Vordergrund rückt, vgl. STh III, 25–28. „Grund des Daseins der Kirche ist Pfingsten auch nach der Darstellung der Apostelgeschichte nicht einfach als Ereignis eines kollektiven Enthusiasmus geworden, sondern weil es Ausgangspunkt der Verkündigung von der Auferweckung des Gekreuzigten und seiner Einsetzung in die eschatologische Machtstellung des Gottessohnes und Kyrios war“ (aaO., 40). STh III, 33. AaO., 117–128. AaO., 11.
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Reiches Gottes erneuert zu werden“50. Anknüpfend an die Erwartung der Gottesherrschaft, die in Israel ausgebildet worden ist, habe Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes „die Glieder des Gottesvolkes dazu“ aufgerufen, „sich mit allen Konsequenzen der Zukunft der Gottesherrschaft und dem Anspruch derselben auf ihr Leben zuzuwenden“51. Berufung und Aufgabe der vom Geist gesammelten Kirche sei es, diesen Anspruch zu realisieren und darin „vorlaufendes Zeichen für die künftige Gemeinschaft der Menschen in der Gottesherrschaft“52 zu sein. Um dieser Berufung zu folgen und als „Zeichen des Gottesreiches erkennbar zu sein“53, müsse sich die Kirche „selbst unterscheiden von der künftigen Gemeinschaft der Menschen im Reich Gottes“54. Die Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes ist mithin wie in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ die Bedingung, unter der allein die Kirche ihre Bestimmung zu realisieren vermag55. Allein im Modus des Zeichens bzw. Vorzeichens vermittelt „die Kirche den Glaubenden die Gewißheit der Teilhabe am eschatologischen Heil“ und wird „in ihrem gottesdienstlichen Leben Ort der Gegenwart des Geistes schon diesseits der eschatologischen Vollendung“56. Wie diese Aussagen aus der Systematischen Theologie verdeutlichen, bringt Pannenberg nunmehr im Unterschied zu den „Thesen zur Theologie der Kirche“ die Bestimmung der Kirche nicht mehr nur mit dem Begriff der Vorwegdarstellung oder Vorausdarstellung57 zum Zuge, sondern verwendet als zentralen Begriff zur Charakterisierung der Kirche den Begriff des Zeichens58. Mit dem Begriff der Darstellung hatte Pannenberg in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ einen Begriff gewählt, der auch bei Karl Barth im pneumatologisch-ekklesiologischen Teil seiner Versöhnungslehre über die Versammlung59, Erbauung60 und Sendung der Gemeinde in der Kirchlichen Dogmatik begegnet. Nach Barth ist es Ziel der Versammlung und Erbauung der christlichen Gemeinde, „die allen Menschen in Jesus Christus schon widerfahrene Heiligung darzustellen“61, und zwar vorläufig, „weil sie sie ja nicht vollbracht hat, noch jemals vollbringen wird, sondern nur eben bezeugen kann“62. Mit der 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Ebd. AaO., 43. AaO., 44; vgl. auch 155. AaO., 45. Ebd. Vgl. ebd. AaO., 11. So aaO., 155. AaO., 45. Vgl. K. Barth, Kirchliche Dogmatik Bd. IV/1, Zürich 1953, § 62, 718. Vgl. ders., Kirchliche Dogmatik Bd. IV/2, Zürich 1955,§ 67, 695. AaO., 702. Ebd.
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Versammlung und Erbauung verbindet sich nach Barth die Sendung, in der der Geist der christlichen Gemeinde „den Dienst an seinem prophetischen Wort und damit die vorläufige Darstellung der in ihm ergangenen Berufung der ganzen Menschenwelt, ja aller Kreaturen anvertraut“63. Zur Sendung des Geistes gehört, dass er sich zu der von ihm berufenen Gemeinde „als zu seinem Leib, d. h. als zu seiner eigenen irdisch-geschichtlichen Existenzform“64, bekennt. Wenngleich Barth die Wahl des Begriffs der Darstellung terminologisch nicht erörtert, markiert er mit diesem Terminus der Sache nach die repräsentative Bedeutung der Kirche als Zeugnisgestalt im Gegenüber der Welt und unterstreicht darin ihre missionarische Funktion. Pannenberg nimmt diese Konnotation des Darstellungsbegriffs in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ der Sache nach zwar auf, betont aber mit dem Begriff der ‚Vorausdarstellung‘ nicht nur die Vorläufigkeit der Darstellungsgestalt der Kirche, sondern zugleich ihren eschatologischen Bezugs- und Zielpunkt im Reich Gottes65. Wenn in der Systematischen Theologie an die Stelle des Begriffs der (Voraus-)Darstellung der Begriff des Zeichens tritt, so ist damit keine Verschiebung in der Bestimmung der Kirche verbunden, wohl aber eine Verschiebung des Horizonts der Ekklesiologie. Pannenberg rezipiert hier die Veränderung der ekklesiologischen Gesprächslage durch die ökumenische Diskussion, die durch die Reflexion auf das Wesen der Kirche in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium (LG) des Zweiten Vatikanischen Konzils eingeleitet wurde und den gesellschaftspolitischen Horizont überlagert, auf den sich die „Thesen zur Theologie der Kirche“ konzentrierten. Von zentraler Bedeutung ist nunmehr die Auseinandersetzung mit der Bestimmung der Kirche als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“66, der zufolge die Kirche gleichsam ein Sakrament („veluti sacramentum“) sei. Pannenberg befasst sich mit diesem Kirchenbegriff in einem eigenen Unterabschnitt von Kap. 12 über „Die Kirche als Heilsmysterium in Christus“67, bevor er dann wie in den „Thesen zur Theologie der Kirche“ das Verhältnis von Kirche und politischer Ordnung thematisiert68. Dabei stellt er zuerst heraus, dass die innigste Vereinigung mit Gott und der Einheit der ganzen Menschheit, auf die die Bestimmung der Kirche als Zeichen und Werkzeug bezogen ist, „der Sache nach eine Umschreibung des 63 Vgl. ders., Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/3, 2. Hälfte, Zürich 1959, 780. Vgl. auch ders., Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/1, Zürich 1953, 718 und Bd. IV/2, Zürich 1955, 695. 64 K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/3, 780. 65 Diese Unterscheidung korrespondiert der Unterscheidung zwischen Jesus Christus und dem Reich Gottes, die Pannenberg bei Barth vermisst, vgl. dazu STh, 59, Anm. 152. 66 LG I,1, in: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_ const_19641121_lumen-gentium_ge.html. 67 Vgl. STh III, 51–62. 68 Vgl. aaO., 62 ff.
Kirche als Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes
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Begriffs Reich Gottes“69 sei. Mit Recht habe man darum der Konzilsaussage entnommen, „die Kirche sei ‚das Sakrament der Gottesherrschaft‘“70. Angesichts der Verbindung zwischen der Aussage in LG 1 und der Aussage über die Kirche als das Mysterium des schon gegenwärtigen Reiches Christi in LG 3 sei es berechtigt, „den Ausdruck sacramentum in LG 1 im Sinne von ‚Sakrament des Gottesreiches‘ zu interpretieren“71. In einer äußerst dichten Argumentation erörtert Pannenberg sodann die evangelische Kritik am römisch-katholischen Verständnis der Kirche als Sakrament, wie sie insbesondere von Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel vorgebracht worden ist. Diese Kritik basiert, wie Pannenberg darlegt, auf dem Eindruck, es werde in der ekklesiologischen Aussage über die Kirche als Sakrament der Kirche etwas zugeschrieben, „was in Wahrheit nur Christus zukommt“72. Denn im Neuen Testament werde der im Lateinischen mit sacramentum wiedergegebene Begriff mysterion nur auf Jesus Christus und den in ihm offenbaren göttlichen Geschichtsplan bezogen, nicht jedoch auf die Kirche oder die Handlungen von Taufe und Abendmahl. Letzteres hatte bekanntlich schon die reformatorische Exegese in der Auseinandersetzung mit der Siebenzahl der Sakramente festgehalten. Pannenbergs Überlegungen zielen dabei darauf zu prüfen, ob die Ausweitung des Sakramentsbegriffs auf die Kirche und das damit verbundene Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche dazu nötigt, mit Ebeling festzustellen, eine Kirchengemeinschaft mit der römischkatholischen Kirche sei unter dieser Voraussetzung aus evangelischer Sicht nicht möglich73. Für Pannenberg ist dieses Urteil nicht zwingend, wenn man den Skopus der Konzilsaussage vor dem Hintergrund der neutestamentlichen Aussagen im Epheser- und Kolosserbrief zu Jesus Christus als mysterion bedenkt. Aus diesen ergibt sich nach Pannenberg, dass Christus nicht nur „Offenbarungszeichen der Gottesherrschaft“74 ist, sondern dass in ihm als dem Verkünder der Zukunft Gottes die Gottesherrschaft auch bereits angebrochen ist. Insofern sei er nicht nur das Zeichen der Gottesherrschaft, sondern zugleich „das Werkzeug, durch das Gott seine Herrschaft in der Welt aufrichtet“75. Weiter könne „die Identifizierung des göttlichen Heilsmysteriums mit Jesus Christus nicht exklusiv“76 verstanden werden, weil Jesus Christus als das mysterion Gottes der ganzen 69 AaO., 51. 70 Ebd., mit Bezug auf Otto Semmelroth mit seinem Beitrag: Die Kirche als Sakrament des Heiles, in: Mysterium Salutis IV/1, 1972, 309–355. 71 STh III, 52. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd., unten. 74 AaO., 53. 75 Ebd. 76 Ebd.
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Schöpfung das Heil bringe und darin selbst Erbe des Gottesreiches sei. Mithin seien diejenigen, die ‚in Christo‘ sind, von dieser Rolle nicht ausgeschlossen. Es sei vielmehr gerade „die Absicht des göttlichen Geschichtsplans […], alles in Christus zusammenzufassen“77. Insofern schließe die Rede von Christus als Heilsmysterium die Kirche nicht aus. Umgekehrt bringe wiederum die Konzilsaussage über die Kirche als Sakrament im Einklang mit den neutestamentlichen Aussagen die Abhängigkeit des sakramentalen Charakters der Kirche von Christus zum Ausdruck. Denn die Formulierung laute ja, „die Kirche sei ‚in Christo‘ (LG 1) gleichsam Sakrament der Einheit der Menschen mit Gott und untereinander“78. Entsprechend habe katholische Theologie „die christologische Basis der Sakramentalität der Kirche hervorgehoben“79. Indem die Konzilsaussage über die Kirche als Zeichen und Werkzeug nach Pannenbergs Auslegung sowohl die christologische Basis als auch den eschatologischen Bezug des sakramentalen Charakters der Kirche festhält, erscheint sie Pannenberg für sich genommen nicht problematisch. Wohl aber sei die theologische Ausdeutung der Rede von der Kirche als Sakrament in der Bestimmung als Ursakrament problematisch, weil diese im Kontrast zu dem eben beschriebenen Skopus der neutestamentlichen Aussagen gerade „die Unterschiedenheit von Christus als dem ‚Begründer der sakramentalen Heilsordnung‘“80 herauskehre. Auch die Differenzierung zwischen Christus als dem Ursakrament und der Kirche als Wurzelsakrament stelle in dieser Hinsicht keine Verbesserung dar81. Denn für das Urchristentum liege die „Pointe der Rede von Christus als dem Heilsmysterium […] in der heilsgeschichtlichen Universalität Christi als Versöhner der Welt (Kol 1,20)“82. Damit sei die Offenbarung des Heilsmysteriums gerade nicht als ein abgeschlossenes Werk Gottes zu verstehen, das als Werk Christi der Kirche vorausliege und von ihr zu unterscheiden sei. Vielmehr könne man die „Zusammengehörigkeit von Christus und seiner Kirche im Begriff des Heilsmysteriums […] auch als Ausdruck der Gemeinschaft von Sohn und Geist im Werk der Versöhnung verstehen“83. Mit Medard Kehl hält Pannenberg darum die Rede von dem einen Heilsmysterium als ‚Sakrament des Geistes‘ für möglich, wobei er aber betont, dass die Kirche Sakrament des Geistes nicht im Unterschied zum Sohn sei. Vielmehr sei „Jesus Christus durch das Zeugnis und Wirken des Geistes in seinem Leibe, der Kirche, das eine Heilsmysterium Gottes“84. Diese 77 78 79 80 81 82 83 84
Ebd. AaO., 54. AaO., 53. AaO., 54, mit Bezug auf Otto Semmelroth. Ebd. AaO., 54 f. AaO. 3, 55. Ebd.
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Einsicht in die eschatologische Bedeutung der Kirche werde am besten in der von Jürgen Moltmann vorgeschlagenen Bezeichnung der Kirche als „Sakrament des Reiches“ zur Geltung gebracht.85 Diese christologisch und pneumatologisch fundierte Bestimmung der Kirche als Heilsmysterium und Zeichen des Reiches Gottes impliziere dabei eo ipso, dass die Sakramentalität der Kirche nicht als solcher eignet oder selbständig zukommt86. Pannenberg betont vielmehr, die Kirche sei „nur ‚in Christo‘, also im Ereignis der Teilhabe an Jesus Christus“87 Heilsmysterium der Gottesherrschaft. Die Kirche werde „zum Zeichen der Zukunft der Menschheit im Reiche Gottes durch ihre Beteiligung an dem in Jesus Christus offenbaren Heilsplan Gottes, und an ihm wird sie beteiligt, indem sie als Leib Christi existiert“88. Weder die gesellschaftliche Verfassung der Kirche noch ihre jeweilige geschichtliche Gestalt könnten für sich genommen als Zeichen des Gottesreiches fungieren. Was den zweiten Teil der vatikanischen Bestimmung der Kirche als Werkzeug in LG 1 betrifft, so rezipiert Pannenberg diesen zwar ebenfalls und kann die Kirche an verschiedenen Stellen der Systematischen Theologie als „Zeichen und Werkzeug des kommenden Gottesreiches“89 titulieren. Doch die Charakterisierung als Werkzeug wird dem Zeichen-Begriff ein- bzw. untergeordnet und von der Zeichenfunktion her interpretiert: „Die Kirche ist als Leib Christi nur Zeichen der künftigen Gemeinschaft im Reiche Gottes, und sie ist Werkzeug für die Einheit der Menschen mit Gott und untereinander nur durch ihre Zeichenfunktion“90. Als Zeichen und Werkzeug des kommenden Gottesreiches habe „die Kirche ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern in der Zukunft einer mit Gott versöhnten und durch den gemeinsamen Lobpreis Gottes in seinem Reich vereinten Menschheit“91. Zwar verkündige die Kirche in der Kraft des Geistes das Evangelium von der Gnade Gottes in Jesus Christus und seinem künftigen Reich, aber darin sei sie weder selbst Subjekt des Heilsgeschehens noch das Ziel desselben. Entsprechend müsse eine „einseitige Betonung der Instrumentfunktion der Kirche in bezug auf die Gemeinschaft der Gottesherrschaft“92 ausgeschlossen werden. Denn die Kirche vermöge die Welt nicht in das Reich Gottes zu verwandeln93 und sei mithin nicht das „‚Werkzeug‘, mittels dessen es [das Reich Gottes; FN] in der Geschichte der Menschen Wirklichkeit werden soll“94. Das 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94
AaO., 55 und 59. AaO., 55. Ebd. AaO., 57. AaO., 58. AaO., 61. AaO. 3, 58. AaO., 61. Ebd. Ebd.
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Reich Gottes komme vielmehr „allein von Gott selber her“95. Einen ekklesiologischen Synergismus schließt Pannenberg nachdrücklich aus. Auch besage die Tatsache, dass die Kirche als Zeichen und Werkzeug der Wirksamkeit Christi im Geist diene, nicht, „daß Christus und sein Geist durch sie ‚die Verwirklichung des Reiches in der Geschichte der Welt sowie – in expliziter und verdichteter Form – im Raum der Kirche beschleunigen‘“96. Damit verbunden lehnt Pannenberg eine Ethisierung der Bestimmung der Kirche als Zeichen der zukünftigen Einheit der Menschheit ab, die er in der Auslegung der Zeichenfunktion im Ökumenischen Weltrat der Kirchen findet, indem das ethische Interesse an einer in Gerechtigkeit geeinten Menschheit hier nicht deutlich genug gegründet werde in der religiösen Einheit mit Gott „als Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens“97. Wenngleich somit der Werkzeugcharakter der Kirche ganz von ihrer Zeichenfunktion und der dafür konstitutiven Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes zu verstehen ist, deutet Pannenbergs Rezeption der Bestimmung ‚Zeichen und Werkzeug‘ darauf hin, dass die Kirche als Zeichen nicht wirkungslos ist und ihr Zeichencharakter sich nicht darin erschöpft, Hinweiszeichen auf eine von ihr gänzlich unterschiedene und rein zukünftige Realität zu sein. Zwar sei einerseits „das Reich Gottes mit der Kirche nicht einfach identisch“ und die Kirche „nicht einmal als die unvollständige Anfangsgestalt des Reiches Gottes aufzufassen“98. Aber andererseits sei sie das Zeichen der Heilszukunft des Reiches Gottes doch in der Weise, dass die Heilszukunft Gottes in ihrer Verkündigung und ihrem gottesdienstlichen Leben schon zugänglich wird99. Indem die Heilszukunft des Gottesreiches in den zeichenhaften Vollzügen der Kirche und insbesondere in der Feier des Herrenmahls bezeichnet und darin „bereits gegenwärtig wirksam“100 werde, sei das gottesdienstliche Leben der Kirche „(g)erade als Zeichen […] wirksame Gegenwart und Vermittlung des künftigen Heils.“101 Wie Thomas Oehl in seinem Beitrag zu diesem Band analysiert, vereint Pannenberg in der Anwendung des Zeichenbegriffs auf die Kirche in ihrem Verhältnis zum Reich Gottes die Bestimmungen der Nichtidentität zwischen dem Zeichen mit dem Bezeichneten und zugleich die Annahme der wirksamen Gegenwart des Bezeichneten im Zeichen. Vereinbar sind diese einander eigentlich ausschließenden Bestimmungen, wie Oehl argumentiert, nur unter der Voraussetzung quasi-personaler Verhältnisse, wie sie im Falle der Kirche als Leib Christi
95 96 97 98 99 100 101
Ebd. Ebd., mit einem Zitat aus Leonardo Boff. Ebd. AaO., 42. AaO., 50. AaO., 44. Ebd.
Kirche als Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes
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gegeben sind102. Die Bestimmung der Kirche als Zeichen des Reiches Gottes weist mithin eine ähnliche Struktur auf wie der Begriff des Symbols bei Paul Tillich, für den kennzeichnend ist, dass das Symbol an der Wirklichkeit, die es symbolisiert, selbst partizipiert103. Diese strukturelle Übereinstimmung mit Tillichs Symbolbegriff dürfte der Grund dafür sein, dass Pannenberg im Schlussabschnitt der „Thesen zur Theologie der Kirche“ die Kirche als Symbol bestimmen104 und die Bestimmung der Kirche als ‚Zeichen und Werkzeug‘ rezipieren kann. Zeichen und Werkzeug des Gottesreiches ist die Kirche nach Pannenberg insofern, als in ihrem gottesdienstlichen Leben das Reich Gottes zeichenhaft schon gegenwärtig und auf diese Weise wirksam wird. Aus der Bestimmung der Kirche als Zeichen und Werkzeug in der beschriebenen Weise erhellt von selbst, dass für die Zeichenfunktion der Kirche zum einen die Übereinstimmung mit der apostolischen Botschaft konstitutiv ist, in der die Kirche in ihrer Verkündigung Gemeinschaft am Heiligen vermittelt105. Zum zweiten ist ihr damit die Bestimmung zur Katholizität und Einheit wesentlich. Entsprechend sind die Spaltungen und wechselseitigen Ausgrenzungen zwischen den Kirchen als tiefster Widerspruch zur Berufung der Kirche zu bewerten, Zeichen des einen Reiches Gottes zu sein. Kaum ein anderer Faktor verdunkelt nach Pannenberg die Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus so sehr wie „die Tatsache der Zerrissenheit der Kirche“106. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Kirche ihre Berufung zum Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes so wahrzunehmen vermag, dass in ihrem gottesdienstlichen Leben das künftige Reich Gottes bereits wirksam gegengegenwärtig werden kann. Die Antwort entfaltet Pannenberg im Anschluss an die Lehre von den Sakramenten107 in dem Abschnitt über das kirchliche Amt. Bemerkenswert ist hier, dass Pannenberg die Bestimmung der Kirche als Zeichen und Werkzeug nun auch zur Kennzeichnung des Leitungsamtes verwenden kann, und zwar bereits prominent in der Überschrift: „Das Leitungsamt als Zeichen und Werkzeug der Einheit der 102 Für die genaue Analyse und Begründung sei auf den Beitrag von Thomas Oehl verwiesen. 103 Vgl. dazu P. Tillich, Was ist ein Symbol, 1928, MW IV, 213–228, ders., Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, Gesammelte Werke, Bd. 5, Stuttgart 1961, 237–244. Vgl. dazu auch U. Kühn, Sakramente, HST 11, Gütersloh 1985, 183 f. 104 Vgl. Pannenberg, Thesen, Nr. 147–149, 56 f. Siehe bes. These 147: „Nicht nur in der Symbolik des Gottesdienstes wird die kommende Gottesherrschaft schon gegenwärtig, sondern die kirchliche Gemeinschaft selbst ist gegenwärtiges Symbol der kommenden Gottesherrschaft als Erfüllung der Bestimmung der Menschheit. Die Kirche muß daher Sorge tragen, daß sie durch ihre organisatorische Gestalt, sowie durch das Verhalten der Glieder und besonders ihrer Amtsträger die Hoffnung, die sie verkündet, nicht verdunkelt, sondern in ihrem eigenen Dasein diese Hoffnung zur Darstellung bringt“. 105 Zum Zusammenhang von Apostolizität und Heiligkeit der Kirche vgl. STh III, 443. 106 AaO., 10. 107 So die Überschrift zu Kapitel 13, III, in: aaO., 265.
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Kirche“108. Elementare Aufgabe des Leitungsamtes sei es, in der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament für die Einheit der Kirche und ihren Zeichencharakter als gottesdienstliche Gemeinde Sorge zu tragen109. Das Leitungsamt steht mithin im Dienst der Gemeinschaft der Glaubenden, die bestimmt ist, im Gottesdienst „Zeichen der künftigen, Gott in Ewigkeit lobenden und preisenden Gemeinschaft der Menschen im Reiche Gottes“110 zu sein. Wenngleich alle Christen durch die Taufe am Priestertum Christi teilhaben und berufen sind, „die Sendung Jesu Christi zum Zeugnis für die Gottesherrschaft fortzuführen“111 und das Evangeliums weiterzusagen, liegt das Spezifikum des Leitungsamtes nach Pannenberg in der Verantwortung für die Einheit und Apostolizität der gottesdienstlichen Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament und in der konsequenten Hinordnung des gesamten kirchlichen Lebens auf den Gottesdienst112. Gegenüber der Verantwortung der Kirche als ganzer und aller einzelnen Christen für die Treue zur apostolischen Botschaft konzentriert sich der besondere Auftrag des Leitungsamtes dabei auf die öffentliche Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament in der Verantwortung für die Bewahrung der Einheit im gottesdienstlichen Leben. Die Wahrnehmung dieses Auftrags setzt die theologische Ausbildung voraus und bedarf der ordentlichen Berufung in Gestalt der Ordination unter Handauflegung und Gebet als dem Zeichen der Berufung Gottes113. Die Notwendigkeit des Dienstes an der Einheit kommt dabei schon in den neutestamentlichen Aussagen zum Tragen. Der weiteren Ausbildung des an die Ordination gebundenen Leitungsamtes als Bischofsamt in der Alten Kirche lassen sich nach Pannenberg darüber hinaus die Grundzüge entnehmen, die für die dogmatische Lehre vom Amt wesentlich sind114. Dazu gehört zuerst die Einsicht, dass das kirchliche Leitungsamt selbst historisch geworden ist und „nicht unmittelbar auf eine Anordnung der Apostel in Verbindung mit einer Einsetzung von Nachfolgern“115 zurückgeht. Zweitens werden in dieser Entwicklung Lehrautorität und Leitungsfunktion als Teilaspekte des Apostelamtes auch für das Leitungsamt konstitutiv116. Drittens ist deutlich, dass das apostolische Evangelium die Norm ist, „die allein dieses Amt zu legitimieren vermag und an die die Bischöfe in der
108 AaO., 404, vgl. den ganzen Abschnitt 404–469. 109 Pannenberg begreift das gottesdienstliche Leben als „die manifeste Gestalt der Kirche“, vgl. aaO., 405. 110 AaO., 404. 111 AaO., 406. 112 Ebd. 113 Vgl. aaO., 428–441, bes. 440. 114 Vgl. dazu aaO., 413–417. 115 AaO., 414. 116 Ebd.
Kirche als Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes
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Ausübung ihres Amtes gebunden bleiben“117. Und viertens ergibt sich „aus dem Befund der Entstehung des Bischofsamtes um der Einheit der Gemeinden im Glauben an das Evangelium willen, daß dieses Amt seinerseits in dem an das Evangelium gebundenen Glauben der Gemeinden verwurzelt ist, so sehr es andererseits den Gemeinden gegenüber die Autorität des Evangeliums und Jesu Christi selbst repräsentiert“118. Auf die Frage, inwieweit die in der historischen Entwicklung erkennbaren Grundzüge der Ausbildung des Leitungsamtes normativ sein können, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Wichtig für das Verständnis der Kirche als „Zeichen und Werkzeug des kommenden Gottesreiches“119 ist hier stattdessen das dialektische Verhältnis in der Betonung und Zuordnung der Begriffe ‚Zeichen‘ und ‚Werkzeug‘ in Bezug auf die Kirche und auf das Leitungsamt. Während in der Bestimmung der Kirche der Werkzeug-Charakter in der Zeichenfunktion besteht, betont Pannenberg beim Leitungsamt umgekehrt, dass dieses durch seine Werkzeugfunktion Zeichen der Einheit der Kirche zu sein vermag. Pannenberg nimmt damit der Sache nach den für die apostolische Sukzession im Bischofsamt bestimmenden Gedanken der Symbolisierung der Einheit auf, interpretiert ihn aber allein aus der Dienstfunktion für die Einheit der Verkündigung und des gottesdienstlichen Lebens. Nur insofern das Leitungsamt bzw. Bischofsamt in der Verantwortung für die öffentliche Evangeliumsverkündigung der Einheit des Leibes Christi dient, ist es nicht nur Werkzeug, sondern auch Zeichen der Einheit der Kirche. Indem der oder die Amtsträger/in der Kirche diesen Dienst wahrnimmt, handelt er/sie in diesem spezifischen Sinne im Namen Christi und repräsentiert die ganze auf die Apostel zurückgehende Kirche. Unter Bezug auf die Konvergenzerklärungen über Taufe, Eucharistie und Amt des Ökumenischen Rates der Kirchen kann Pannenberg festhalten, der Amtsträger oder die Amtsträgerin sei „in Person […] ‚Bezugspunkt für die Einheit des Lebens und Zeugnisses der Gemeinschaft‘“120. Diese Funktion komme den Amtsträgern nun allerdings „nicht in dem Sinne zu, daß sie selber Grund der Einheit der Kirche am jeweiligen Ort ihre Wirkens wären“121. Wie für die Kirche als Zeichen und Werkzeug des Gottesreiches ihre Selbstunterscheidung vom künftigen Reich Gottes konstitutiv ist, so ist für die Rolle des Amtes die Selbstunterscheidung von Jesus Christus als Grund der Einheit der Kirche konstitutiv. Nur in der Selbstunterscheidung von Jesus Christus vermag der Amtsträger Werkzeug der Einheit der Kirche und darin zeichenhafter Bezugspunkt für die Einheit der Kirche zu sein122. 117 118 119 120 121 122
AaO., 415. AaO., 416. AaO., 58. AaO., 427. Ebd. AaO., 427: „Auf ihrer Funktion als Zeichen und Repräsentanten der Sendung Christi und
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Die Zeichenfunktion des Amtes ist dabei der Zeichenfunktion der Kirche zuund untergeordnet. Während im gottesdienstlichen Leben die Gottesherrschaft schon wirksam und erfahrbar wird und die Kirche insofern in ihrer Existenz zur Vergewisserung der Botschaft beiträgt, ist das Amt im Dienst an der Wahrheit und Einheit der Verkündigung Zeichen der Einheit der Gemeinde und verweist auf Jesus Christus als Grund der Einheit des Leibes, der im Dienst des Amtes wirksam präsent wird. Dieser Sachverhalt gewinnt für Pannenberg nun gerade unter den Bedingungen der gespaltenen Konfessionskirchen Relevanz. Denn im Dienst der Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament verweist das Amt auf Jesus Christus als den Grund und Herrn der Kirche und bezeugt so, dass die Einheit der Kirche dieser nicht nur aufgegeben, sondern in Jesus Christus auch vorgegeben ist123. Die Spaltungen der Kirchen sind mithin kein Grund „zur Resignation an der Aufgabe des kirchlichen Amtes“124. Vielmehr lässt sich der Dienst der öffentlichen Evangeliumsverkündigung und sein Bezug auf die Einheit der Kirche selbst als Zeugnisgestalt dessen verstehen, dass Jesus Christus Grund und Herr der Kirche ist und dass darum auch trotz der Spaltungen „die Einheit der Christenheit […] nicht schlechthin verloren ist“125. Indem das Amt in seinem Dienst in der Selbstunterscheidung von Jesus Christus diesen repräsentiert, entspricht es zugleich der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater in der Kraft des Geistes, der in seiner Verkündigung des Reiches Gottes keine Herrschaft und Macht für sich selbst beansprucht, sondern die Heraufführung des Reiches Gottes allein von Gott erwartet hat. Gerade so dient das Amt als Zeichen und Werkzeug der Bestimmung der Kirche, im gottesdienstlichen Leben Zeichen und Werkzeug des Gottesreiches zu sein, ohne selbst das Reich Gottes hervorbringen zu wollen. In der Rezeption der sich wechselseitig interpretierenden Termini ‚Zeichen‘ und ‚Werkzeug‘ in der Lehre von Kirche und Amt zeigt Pannenberg so nicht nur, in welchem Sinne die Kirche als Zeichen des Gottesreiches zu verstehen ist und wie die Bezeichnung der Kirche als Sakrament evangelisch aufgenommen werden kann, ohne in einen ekklesiologischen Synergismus zu verfallen. Er zeigt zugleich auch, dass und warum das Amt zum Sein der Kirche als Zeichen und Werkzeug des Gottesreiches gehört.
der in ihm begründeten Einheit der Kirche beruht die Autorität der Amtsträger in den einzelnen Gemeinden, und sie werden Autorität haben in dem Maße, wie sie diese Funktion glaubwürdig erfüllen. Das aber geschieht nicht einfach durch das Dasein der Pastoren als ‚Bezugspunkt‘ und Zeichen für die Einheit der Gemeinde, sondern durch die Verkündigung des Evangeliums, zu der sie berufen sind, und durch die Ausübung ihres Hirtenamtes.“ 123 AaO., 441. 124 Ebd. 125 Ebd.
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Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden (zum Kapitel 13, II aus W. Pannenbergs „Systematischer Theologie III“)
„Als Zeichen der künftigen Gemeinschaft der Menschen im Reiche Gottes vermag die Kirche nicht, durch die von ihr ausgehenden Wirkungen diese Welt in das Reich Gottes zu verwandeln. Aber sie hält durch ihr gottesdienstliches Leben den Raum offen – in den Herzen der Menschen und auch im Leben der Gesellschaft – für die Hoffnung auf die Zukunft Gottes und vermittelt dem einzelnen schon jetzt die Gewissheit der Teilnahme an ihrem Heil“ (113)1. Insofern ist die Kirche „Gemeinschaft der Glaubenden“ (115). Aber wie ist deren Verhältnis als einzelner zur Kirche genauer zu denken? Der Glaube des einzelnen ist durch die Kirche vermittelt. Sie geht ihm aber nicht in jeder Hinsicht voraus. „Die Hoffnung auf die Gottesherrschaft ist in ihrem Inhalt politisch bestimmt; denn das Gottesreich wird die gesellschaftliche Bestimmung des Menschen zu einer durch Frieden und Recht gekennzeichneten Gemeinschaft vollenden. Jesu Verkündigung der nahen Gottesherrschaft wandte sich aber trotz dieses politischen Inhalts der Reichgotteshoffnung an den einzelnen und verkündete nicht etwa ein politisches Programm der Befreiung. Nur im Glauben des einzelnen, der dem Aufruf Jesu folgend alle anderen Anliegen seines Lebens der Nähe der Gottesherrschaft unterordnet, wird deren Zukunft schon Gegenwart“ (115 f.). Diese Gegenwart der Zukunft Gottes ist seine Gegenwart, seine Präsenz im Einzelnen in dessen Ausrichtung auf ihn. Ihre Ermöglichung ist die Gegenwart des Geistes. Er befähigt den einzelnen, in einem extra se bei Gott selbst zu sein, bei ihm in der Teilnahme an der Sohnschaft des Sohnes in dessen Einheit mit dem Vater im heiligen Geist. Es ist die „Erhebung des einzelnen Christen über sich selbst durch Glaube, Hoffnung und Liebe“ (155).
1 Wenn nicht anders vermerkt beziehen sichh die Seitenzahlen auf: Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band III, Göttingen 1993.
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Der Glaube
„Glaube ist eine Form des Sichverhaltens zur Wahrheit, darin der Erkenntnis und dem Wissen vergleichbar“ (156). So ist im Hebräischen „emet“ und „he-emin“ sprachlich verbunden und meint das Bauen auf das Beständige, Verlässliche. Zwar ging es auch dem griechischen Denken darum, das Beständige, Seiende zu erfassen, aber als das Unveränderliche. Nach dem biblischen Verständnis wird erst die Zukunft erweisen, „was wahrhaft beständig“ ist (157). Damit erhält die Gewissheit über das Beständige zeitlichen Charakter und ist mit der Erwartung von „Neuem“ verbunden (157). Das bedeutet: die Wahrheitsgewissheit weiß sich geschichtlich vermittelt. Denn die Wirklichkeit des letztlich Beständigen zeigt sich an seinem Wirken, wobei sein Wirken in der Vergangenheit auch das Bauen auf sein Wirken in der Zukunft begründet. Das Verhältnis zur Wahrheit wird damit zum Vertrauen, zu einem Vertrauen in die letzte Macht der Zukunft. Die in ihr enthaltene Wahrheit ist dem Menschen nur gegeben im extra se eines vollkommenen Sich-Verlassens auf dies Letzte. Ein solches, über ein distanzierendes Kalkül hinausgehendes Sich-selbst-Verlassen ist nur als personales Verhältnis zu denken, als fiducia: nach Luther als die vertrauende Unmittelbarkeit zu dem Zukunft eröffnenden Gott, als fiducia promissionis (161 f.). Ihre innere Voraussetzung ist die Zustimmung, der assensus, zu den in der notitia aufgenommenen Taten und Verheißungen Gottes. Fiducia, assensus und notitia verweisen aufeinander. Sie sind innerlich verbunden, aber auch nicht aufeinander zu reduzieren. Für die Reformatoren ist die Kenntnis und Anerkenntnis der historischen Ereignisse keine Nebensache. Luther: „so es da zu keme, dass man vergessen solt illam historiam, so were der Grund hin“ (164). Zu dieser Historie gehören die Wunder und die Auferstehung Jesu. Auch die Dämonen müssen all dies anerkennen. Die innere Hinkehr zur darin liegenden Botschaft fehlt ihnen allerdings. Doch erst sie macht den wahren Glauben aus. Die historischen Ereignisse der Heilsgeschichte galten bis in die frühe Neuzeit ganz allgemein als gesicherte Tatsachen. Das änderte sich erst mit dem Aufkommen der historischen Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert. Für die Antike war das historische Wissen im Unterschied zum Wissen der Vernunft prinzipiell durch Glauben vermittelt, nämlich an die Autorität von Zeugen. Der christliche Glaubensbegriff war von diesem Autoritätsglauben geprägt. Den unmittelbaren Zeugen der geschichtlichen Ereignisse des Heiles war Glauben zu schenken. Zudem war dies geboten durch die Autorität Gottes, die ja durch jene Ereignisse sprach. Doch auch sonst hatte „die Abhängigkeit historischer Kenntnis von autoritativer Vermittlung eine unvermeidliche Gegebenheit gebildet, die jeder hinnehmen musste, der nicht überhaupt auf Kenntnis der Vergangenheit verzichten wollte, so dass die autoritativen Ansprüche der Kirchenlehre samt ihren Grundlagen in
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der Heiligen Schrift damit geradezu einen Rahmen allgemeiner Plausibilität besaßen. Von nun an aber konnte der historische Gehalt der biblischen Überlieferungen nur noch durch Teilnahme am Prozess der historischen Urteilsbildung, also in der Form freier Einsicht, als allgemeingültig festgestellt werden, und auch das nur in Gestalt von Wahrscheinlichkeitsurteilen und mit dem Vorbehalt möglicher Revision im weiteren Fortgang der historischen Forschung und Diskussion“ (168). Zwei Wege schienen sich anzubieten, dieser Schwierigkeit zu begegnen. Für beide steht die Verstärkung, mithin fast die Verabsolutierung des „Fiducia“Elementes im Glaubensvollzug. Mußte denn der Nachweis der Historizität der Heilsereignisse den historischen Wissenschaften überlassen werden? Konnte nicht der Glaube selbst sich die Sicherheit über sie verschaffen? David Hollaz steht nach Pannenberg für diesen oft beschrittenen Weg (170). Der andere Weg besteht darin, die historischen Ereignisse für eher belanglos zu halten, da sich der Glaube in der Begegnung mit dem Kerygma erfülle. Bei Friedrich Gogarten mündet diese Auffassung in die Zuspitzung, dass ein Sich-Stützen auf historisches Wissen dem Sich-Verlassen im Glaubensakt geradezu widerspreche (171). Pannenberg lehnt beide Wege ab und wirft ihnen „Glaubenssubjektivismus“ vor, d. h. eine Begründung des Glaubens im eigenen Vollzug (171), was sogar eine versteckte Form von Werkgerechtigkeit sein könne. Das gilt nach Pannenberg auch für die Vorordnung des „assensus“ vor der „notitia“ bei Karl Barth, d. h. für die von ihm vertretene gehorsame Zustimmung zur Heilsbotschaft vor der „notitia“. Was nichts anderes ist, als die „gewaltsame Vorstellung einer Anerkennung, der keine Kenntnisnahme von dem Anzuerkennenden vorausgehen sollte“ (172). Demgegenüber bleibt (mit den ersten Reformatoren) festzuhalten, „dass der christliche Glaube seine Grundlage und Voraussetzung in der geschichtlichen Offenbarung Gottes hat“ (171) als „logischen Bedingungen dafür, dass das gläubige Vertrauen zu dem in Jesus Christus offenbaren Gott als sachlich begründet gelten kann“ (172). „Der Glaube ist als personaler Akt des Vertrauens letztlich allein auf Gott bezogen. Doch dieses personale Verhältnis des Glaubens zu Gott ist vermittelt durch die geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes und durch die Kenntnisnahme von ihr“ (174). Doch der moderne Blick auf das historische Wissen, muss den Glauben keineswegs zerstören, sondern vermag in ihm einen Aspekt deutlich zu machen, der vorher so nicht gesehen wurde. Es gilt nämlich sich klar zu machen, „dass die Überzeugung vom Eingehen Gottes in die geschichtliche Welt des Menschen und von seiner Offenbarung in einer ganz bestimmten Ereignisfolge dieser Geschichte nicht ohne die Relativität und Vorläufigkeit zu haben ist, die alles geschichtliche Wissen umgibt“ (175 f.). „Das Wahrheitsbewusstsein des Glaubens selbst muss der Relativität und Vorläufigkeit des Wissens vom Gegenstand des Glaubens Raum geben […], denn gerade so öffnet sich das
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christliche Bewusstsein der geschichtlichen Wirklichkeit, in der Gott sich der Menschheit verbunden hat“ (176). Diese grundsätzliche Relativität des historischen Wissens bezieht sich auch auf das Gesamtverständnis der Heilsereignisse, d. h. auf ihre dogmatische Auslegung. Nach Wilhelm Herrmann verlangt dies nach der Unterscheidung zwischen „Glaubensgrund“ und „Glaubensgedanken“ (178 f.), eine Unterscheidung, die Pannenberg aufnimmt, allerdings präzisiert. Denn gegen Herrmanns strikte Trennung beider ist zu sagen, „dass wir den Glaubensgrund, Person und Geschichte Jesu, immer nur in Gestalt einer bestimmten Auslegung, also im Medium von Glaubensgedanken fassen können“ (179). Deren Relativität kann durchaus zusammen gedacht werden mit einer fortschreitenden und selbstkritischen Interpretation, die sich in ihrer Selbstbescheidung ihrer durch die eigene eschatologische Botschaft geforderten Vorläufigkeit bewusst ist. Entsprechendes gilt von der Heilsgewissheit, die eine Ichgewissheit im extra nos der vollen Offenbarung in Christus ist. Es ist damit nicht eine „anmaßende Heilssicherheit“ gemeint, wie es der Vorwurf gegen die Reformatoren war. Vielmehr wird nach Luther die Person durch das extra nos des Glaubens „neu konstituiert“ (185). Dieser Glaube ist bereits in der Ausrichtung des Menschen auf das Ganze des Lebens und der Wirklichkeit gegeben, einer Ganzheit, in der er sich gegründet weiß, wenn auch nur „unthematisch“ (Rahner) oder im „Gefühl“ (Schleiermacher), wobei diese Unbestimmtheit ihren sachlichen Grund in der faktischen Unabgeschlossenheit dieses Ganzen als eines konkret geschichtlichen hat. Auch der den Begriff dieser Ganzheit klärende Gottesgedanke ist von dieser noch unabgeschlossenen Vermittlung betroffen, ja nicht nur dies, sondern diese offene geschichtliche Vermittlung ist genau die Weise wie der Gott des christlichen Glaubens in seiner Schöpfung präsent zu sein vermag.
2.
Die Hoffnung
Der Zukunftsbezug im Glauben als Vertrauen wird in der „Hoffnung“ explizit. Umgekehrt wird die Hoffnung, um die es hier geht, durch das Vertrauen als „extra nos“ spezifiziert, und so ist sie das personale Sich-Verlassen auf die Zukunft als Verheißung (196). Zugleich tritt mit der Hoffnung das Moment der „Selbstbeziehung“ im vertrauenden Glauben hervor, denn: „Sie richtet sich auf den Inhalt der Verheißung als auf die den Glaubenden selber betreffende Heilszukunft“ (197). Die dem Glauben gegebene Verheißung extrapoliert nicht einfach menschliche Hoffnungen. Dies ist gesagt gegen Bloch und seine Ableitung des Erhoffbaren aus den Potenzen der Mater Materie, die ja immer auch in die Vergänglichkeit mündet. So lehrt es schon die antike Hoffnungs-Skepsis (198 f.) (die sich bis in die deutsche Klassik erhält: vgl Schillers Gedicht „Resi-
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gnation“ oder: Goethe2). Paulus sagt über Abraham, er habe „wider alle Hoffnung hoffend geglaubt“ (Röm 4, 18), d. h. über alles menschlich Erwartbare hinaus, und dies in Ausrichtung auf den Schöpfer und seine Schöpfer-Macht, d. h. auf den „der die Toten erweckt und das Nichtseiende ins Dasein ruft“ (Röm 4, 17). Doch darf dieser radikal andersartige Verheißungsinhalt auch nicht als „Widerspruch zur vorhandenen Wirklichkeit des Menschen“ gesehen werden (dies als Kritik an Moltmann) (199). Der Inhalt könnte sonst nicht als Verheißung verstanden werden. Doch schon die „Selbsttranszendenz“ des menschlichen Geistes (198), die sich im „extra nos“ des Glaubens vollendet, bringt beide Momente zur Geltung. „Die Menschen können ihr Heil, die Ganzheit und Vollendung ihres Daseins, ihre Identität, mit ihrer Bestimmung, wahrhaft sie selbst zu sein [also mit der Bestimmung ihres Selbstbezuges], nicht von sich aus und durch ihr eigenes Handeln hervorbringen“ (200), sondern nur indem sie Stand finden im prinzipiellen „extra nos“ des hoffenden Glaubens. In diesem „ekstatischen Außersichsein des Glaubens […] ist zugleich die Überwindung der egoistischen Struktur menschlicher Hoffnung begründet. Die Christen hoffen nicht nur für ihre jeweilige eigene Person, wo dann häufig die Hoffnung des einen auf Kosten der Hoffnung anderer geht. In Christus nehmen die Christen an einer allgemeinen Menschheitshoffnung teil“ (201). Pannenberg merkt an, dass dieser Gesichtspunkt der Hoffnung in der Theologie „unterentwickelt“ geblieben sei (201). Nach Kol 1, 27 ist die Hoffnung deutlich gemeinschafsbezogen; „Christus in euch (!), die Hoffnung auf die Herrlichkeit“. „Daher begründet der Glaube eine Hoffnung, die nicht mehr nur am eigenen Ergehen interessiert ist, sondern […] das Heil der ganzen Menschheit zum Ziele hat und nur in diesem weiten Rahmen auch das Ich des Glaubenden mitumfasst“ (203). Erst so kann man sich den Vorwurf entkräften, der am prominentesten von Feuerbach erhoben wurde [sich aber z. B. auch bei Schleiermacher findet: Über die Religion, II gegen Schluss, reclam 87 f.], die Hoffnung auf die Unsterblichkeit sei Ausdruck des Egoismus. „Nur im Zusammenhang der auf die ganze Menschheit geöffneten Weite christlicher Hoffnung kann das spezifisch christliche Interesse am Individuum unmissverständlich geltend gemacht werden“ (203) „Die Liebe Gottes zum Verlorenen [Luk 15] begründet eine in der vorchristlichen Antike unerhörte Auszeichnung des einzelnen Menschen“ (203 f.), nämlich seiner Unverwechselbarkeit und Kostbarkeit. „Das ist die christliche Wurzel noch der modernen Menschenrechte. Aber die ewige Liebe Gottes ist dem einzelnen nicht für sich allein zugewandt, sondern im Zusammenhang mit der neuen Gemeinschaft der Menschen im Reiche Gottes“ (204). „Die christliche Hoffnung ist also wesentlich eschatologische Hoffnung, die über dieses irdische 2 Klugheit: „Zwei der größten Menschenfeinde, / Furcht und Hoffnung angekettet, / Halt’ ich ab von der Gemeinde; / Platz gemacht! Ihr seid gerettet“ Faust II, 5441.
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Leben und den gegenwärtigen Weltzustand hinausgeht“ (205). „Erst die Hoffnung auf endgültige Vollendung aber macht ein Leben in Hoffnungen überhaupt sinnvoll, statt es letztlich illusionär erscheinen zu lassen“ (205) Sie „bewahrt vor Verzweiflung, aber auch davor, endliche Hoffnungsziele illusionär zu überschätzen oder gar zu verabsolutieren“ (205).
3.
Die Liebe
„Hoffnung und Liebe gehören zusammen. Nur wer mit anderen Menschen und für sie hofft, kann sie auch lieben – nicht im Sinne egoistischen Begehrens nach dem Besitz des Geliebten (amor concupiscentiae), sondern im Sinne liebenden Wohlwollens […] (amor amicitae). Ohne Hoffnung wird Liebe zum bloßen „Mitleid“. „Hoffnung ohne Liebe aber verengt sich zu egoistischem Verlangen oder wird zur Flucht in ohnmächtige Wunschbilder. Christliche Hoffnung beflügelt die Liebe“ (206). Die „Erhebung des Menschen zu Gott“ im Glauben „ist bereits implizit Liebe zu Gott, Antwort auf die Botschaft von der in der Sendung Jesu Christi erwiesenen Liebe Gottes zu den Menschen, und sie führt hinüber zur Dynamik der Liebe Gottes zur Welt“ (206). „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt“ (1 Joh 4,19) (209). So ist auch das Liebesgebot Jesu zu verstehen, als das mit dem Gebot der Nächstenliebe zusammen (Mk 12,28 ff., parall.) höchste Gebot. Liebe zu Gott ist liebende Antwort auf den liebenden Gott, den liebenden Vater und zugleich Einstimmung in seine Liebe zu uns, d. h. zu „uns“, zu mir wie zu jedem anderen seiner Kinder. Insofern ist Liebe zum Nächsten Konsequenz der Liebe zu Gott als dem Liebenden. „Der Glaubende nimmt durch die Liebe also in der Tat an Gottes eigenem Wesen und Wirken, an der Bewegung seiner Liebe zur Welt teil“ (208). „Die vorherrschende Tendenz in den neutestamentlichen Texten über die Liebe ist nicht die einer zu Gott hinaufsteigenden (anabatischen) Liebe im Sinn des platonisch-augustinischen eros, sondern die einer mit Gott zur Welt hinabsteigenden (katabatischen) Liebe“ (208). In der anabatischen Sicht droht die Nächstenliebe zum Mittel der Gottesliebe zu werden. Augustinus: „Caritatem voco motum animi ad fruendum deo propter ipsum et se atque proximo propter deum“ (210 Anm. 247). Liebe ist in ihrer Dynamik auf das höchste Gut ausgerichtet, Gott insofern auf sich selbst. Die Liebe ist im höchsten Sinn realisiert in der Selbstliebe Gottes, die Liebe zu uns also Weg zur Selbstliebe Gottes. Augustinus sagt von Gott: „Non ergo fruitur nobis, sed utitur“ (Anm. 253). Nach dem NT aber ist die Liebe Gottes die des Schöpfers, der seine Geschöpfe um ihrer selbst willen liebt. Der Hintergrund für das zähe Beharren auf dem anabatischen Liebesbegriff ist zu verstehen aus der Sorge, durch eine Festlegung Gottes auf den katabatischen Liebesbegriff Gott von seinen Geschöpfen abhängig zu machen (211 f.). Dem ist nur dann zu begegnen, wenn die Liebe zum Anderen in
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Gott selbst begründet wird, in seinem trinitarischen Leben. Von dem gilt: „Die Liebe des Vaters ist von Ewigkeit her dem Sohne zugewandt und nur in ihm auch dem geschöpflich anderen“ (212). An dieser Liebe nimmt der Mensch teil. Dazu erhebt ihn die „Liebe Gottes“ (Genitivus subjectivus.), die „in unsere Herzen ausgegossen ist durch den Heiligen Geist“ (Röm 5,5). Im Sohn sind wir vom Vater als Gegenüber, als andere zu ihm, um unserer selbst willen geliebt, und unserseits dazu befähigt, ihn in Selbstunterscheidung von uns als Anderen anzuerkennen, „indem wir ihn uns gegenüber Gott sein lassen, wie Jesus den Vater sich gegenüber Gott sein lässt“ (218). Ein Wesensmoment der Liebe ist uns hier vorgezeichnet, denn „Liebe ist auch die Kraft der Anerkennung des Verschiedenen. Dadurch ermöglicht sie Gemeinschaft“ (216). „In der Liebe zu Gott als durch den Heiligen Geist ermöglichter Antwort auf die von Gott empfangene Liebe nimmt der Mensch teil am innertrinitarischen Leben Gottes, an der Gegenseitigkeit der Gemeinschaft zwischen Vater, Sohn und Geist. Durch die Nächstenliebe nimmt er teil an der Bewegung des trinitarischen Gottes zur Schöpfung, Versöhnung und Vollendung der Welt“ (218). Nur so wird die katabatische Liebe Gottes nicht in der Nächstenliebe aufgehen (214 f.). Umgekehrt kann der anabatischen Sicht ein Wahrheitsmoment zugebilligt werden. Denn die Liebe zu Gott gehört zur Wesensbestimmung des Menschen, und so bringt sie sich in ihm auch zur Geltung, bereits „in jener dunklen Form einer ins Unbestimmte gerichteten Sehnsucht, wie sie eben die erotische Liebe, nach Platons Beschreibung, charakterisiert“ (220). Bei Paulus heißt es: „die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen ist, durch den Heiligen Geist“ (Röm 5,5). Nach der Interpretation des Petrus Lombardus ist danach der Heilige Geist selbst die Liebe, die unsere Herzen zu Gott hin kehrt und innerlich verwandelt. Doch diese Identität des Heiligen Geistes mit unseren Herzen schien den Theologen der Hochscholastik die Transzendenz Gottes zu gefährden (219, 225). So kam es zur Lehre von der gratia creata, nach der die Wirkung des Heiligen Geistes im Menschen geschöpflichen Charakter hat. Von den Reformatoren wurde diese Lehre als unbiblisch abgelehnt und Lombardus rehabilitiert. Pannenberg würdigt allerdings das Anliegen in jener Lehre, die ja zugleich mit der Transzendenz auch die Nichtäußerlichkeit der Gnade, also ihre Identität mit dem menschlichen Herzen gegen einen Pelagianismus sichern wollte (219, 223). Doch kann nach Pannenberg auf sie verzichtet werden, „eben durch die Vorstellung einer ekstatischen Teilhabe am göttlichen Leben extra nos in Christo“ (219). „Erst unter Voraussetzung dieser ekstatischen Erhebung zu Jesus Christuns durch den Glauben kann dann auch umgekehrt gesagt werden, dass ‚Christus in uns‘ ist (Röm 8,10; Gal 2,20) und mit ihm die Liebe Gottes“ (226). Durch diese allerdings nur trinitarisch zu denkende Einheit mit dem Leben Gottes erfüllt der theologische Begriff der Liebe den des Glaubens und der Hoffnung.
Thomas Oehl
Nichtidentität, aber wirksame Gegenwart Zum Zeichenbegriff in Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Kirche und Reich Gottes
Die folgenden Überlegungen wollen Pannenbergs Verständnis von Reich Gottes und Kirche in ihrem Verhältnis zueinander erschließen, indem der Zeichenbegriff einer näheren Analyse unterzogen wird, durch welchen Pannenberg das Verhältnis von Reich Gottes und Kirche bestimmt.1 Wie für Pannenbergs Systematische Theologie aus prinzipiellen Gründen angemessen2, soll diese Analyse des Zeichenbegriffs zunächst eine reinbegriffliche sein, d. h. mit rein philosophischen Mitteln3 erfolgen. Dabei wird sich präzise zeigen lassen, dass und warum ein so analysierter Zeichenbegriff den Denkerfordernissen, denen Pannenberg durch selbigen zu genügen intendiert, aus prinzipiellen Gründen nicht zu genügen vermag. Es bedarf deshalb einer theologischen Positivierung des nur negativ gedachten Zeichenbegriffs, d. h. eine denkende Verbindung desselben mit genuinen Gehalten der positiven Religion oder Theologie. Diese Positivierung lässt den vorher rein negativ analysierten Zeichenbegriff nicht einfach als erübrigt zurück, sondern bringt die in ihm als unvereinbar aufgewiesenen Denkbestimmungen positiv denkend zur Versöhnung, wodurch die Klarheit der negativen Analyse als Voraussetzung präsent bleibt. Erst mit diesem positivierten Zeichenbegriff ist dasjenige auch tatsächlich zu denken, was Pannenberg durch ihn gedacht wissen will. Eine solche zweischrittige Analyse wahrt einerseits die 1 Wie bedeutend das rechte Verständnis des Zeichenbegriffs für das Unternehmen der Ekklesiologie insgesamt ist, zeigt sich daran, dass Pannenberg es gerade als Kernaufgabe derselben sieht, das zeichenhafte Verhältnis von Kirche und Reich Gottes herauszuarbeiten. Die „Lehre von der Kirche“, so Pannenberg, könne „sich nur bemühen, die Zeichenfunktion der Kirche auf das Reich Gottes hin, gerade auch im Unterschied zu ihm, herauszuarbeiten“ (STh III, 11). 2 Dass, inwiefern und warum dem so ist, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht: Vgl. T. Oehl, Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg. Pannenberg-Studien Band 2, Göttingen 2016, 233–263. 3 Was sprachphilosophisch begründete Ausblicke in die (empirische) Sprach- und Literaturwissenschaft, vor allem aber eine Reflexion auf unsere alltägliche Vertrautheit mit Zeichen, nicht ausschließt. Vgl. dazu U. Eco, Zeichen. Einführung in seinen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, zitiert nach der 162015 [hier: v. a. 16 ff.].
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für Pannenberg so wichtige Anschlussfähigkeit theologischen Begriffs an den philosophischen (und die Sicherstellung von Klarheit des ersteren durch die genuin philosophische Arbeit am Begriff), andererseits trägt sie der exklusiven Ausprägung Rechnung, die der Zeichenhaftigkeit der Kirche gegenüber allen anderen – profanen – Zeichen zukommt.4 Um die Untersuchung zu orientieren, sei vorab zitiert und festgehalten, worin die schon angesprochenen zwei zentralen Denkerfordernisse bestehen, die nach Pannenberg in einem Zeichenbegriff (nämlich in seinem ekklesiologischen Zeichenbegriff) zusammen zu denken sind:
Erstes Denkerfordernis: Nichtidentität „[D]as Reich Gottes [ist] mit der Kirche nicht einfach identisch. Die Kirche ist nicht einmal als die unvollständige Anfangsgestalt des Reiches Gottes aufzufassen. Die Kirche steht zwar ähnlich wie das Gottesvolk des Alten Bundes in einer für ihr Dasein konstitutiven Beziehung zum Reiche Gottes, und diese Beziehung ist in beiden Fällen verschieden, hat aber weder im Falle Israels, noch in dem der Kirche die Form einfacher Identität oder auch nur einer Teilidentität.“ (STh Bd. III, 42) „Zur Struktur des Zeichens gehört, daß Zeichen und Sache verschieden sind. Ein Zeichen weist über sich selbst hinaus auf die Sache. Zeichen und Sache zu unterscheiden, ist also für die Funktion des Zeichens unerläßlich. Die Sache darf nicht etwa mit der Ärmlichkeit ihres Zeichens verwechselt werden. Nur durch Unterscheidung des Zeichens von der Sache kann letztere in bestimmtem Sinne präsent sein durch ihr Zeichen. So verhält es sich auch mit Kirche und Reich Gottes.“ (STh Bd. III, 44 f.) Also: Das Zeichen und das von ihm Bezeichnete (= das, wofür das Zeichen Zeichen ist) müssen als nichtidentisch in einem starken Sinne, der auch Teilidentität ausschließt, gedacht werden.
4 Dass Pannenberg selbst eine, wie er wörtlich sagt, „begrifflich präzise“ Formulierung des Zeichenbegriffs als für die Ekklesiologie möglich und erforderlich beurteilt, ist in STh III, 387 Anm. 785 (mit Verweis auf 332 Anm. 639) klar ausgesprochen, wenngleich explizit nur in Bezug auf die Sakramentenlehre. Dabei hebt Pannenberg auch hervor, dass ein „abstrakter Zeichenbegriff“ (STh III, 382) – Pannenberg denkt hier an denjenigen des Augustinus – zu gravierenden theologischen Missverständnissen führt. Mit unseren Worten: Dass ein Zeichenbegriff, der der theologischen Positivierung entbehrt, die positiven ekklesiologischen Denkerfordernisse nicht einzulösen vermag.
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Zweites Denkerfordernis: Wirksame Gegenwart „Die Kirche ist also nicht identisch mit dem Reiche Gottes, aber sie ist Zeichen seiner Heilszukunft, und zwar Zeichen in einer Weise, daß die Heilszukunft darin selber schon gegenwärtig und den Menschen durch die Kirche, durch ihre Verkündigung und ihr gottesdienstliches Leben, zugänglich wird.“ (STh III, 50) „Gerade als Zeichen ist das gottesdienstliche Leben der Kirche also auch wirksame Gegenwart und Vermittlung des künftigen Heils.“ (STh III, 44) Also: Das vom Zeichen Bezeichnete muss als im (oder durch das) Zeichen wirksam gegenwärtig gedacht werden können.
1.
Die philosophische Analyse des Zeichenbegriffs5 und deren Aporetik in theologisch-ekklesiologischer Absicht
Diese beiden Denkbestimmungen, die nach Pannenberg in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen6, müssen für das philosophische Denken unmittelbar den Verdacht der logischen Nichtkompatibilität erwecken. Denn wie soll dort, wo das Bezeichnete im Zeichen wirksam gegenwärtig ist, von einer Nichtidentität die Rede sein können, die sogar eine Teilidentität ausschließt? Dieser Verdacht lässt sich zunächst erhärten, indem man die philosophische Arbeit des Begriffs auf sich nimmt und folgende zwei alternative Zeichenbegriffe analytisch expliziert:
i:
Der sprachliche Zeichenbegriff
Beim sprachlichen Zeichenbegriff handelt es sich um den uns alltäglich wohl vertrautesten. So schwierig er in allgemein zeichentheoretischer Analyse zu fassen ist, so klar lassen sich einige Aspekte am sprachlichen Zeichenbegriff namhaft machen, die für die hier verfolgte Analyse zureichen. Betrachten wir als Beispiel ein Wort, z. B. das Wort „Stein“. Offenkundig besteht zwischen dem Wort und dem, was es bezeichnet, Nichtidentität. Ein Stein (oder das ‚Steinsein‘) ist etwas kategorial anderes als das Wort „Stein“, was sich unter anderem daran 5 Einige der im Folgenden vorgetragenen Gedanken sind in Auseinandersetzung mit Umberto Eco entstanden, auf dessen unübertroffene synoptische Studie zum Zeichenbegriff hier verwiesen sei: U. Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, 162015. 6 Dieses findet sich ausgesprochen im oben zitierten Satz: „Nur durch Unterscheidung des Zeichens von der Sache kann letztere in bestimmtem Sinne präsent sein durch ihr Zeichen.“
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zeigt, dass man Steine ins Wasser werfen kann, aber nicht Wörter, und dass sich mit dem Wort „Stein“ Sätze bilden lassen, nicht aber mit Steinen.7 Der sprachliche Zeichenbegriff genügt also Pannenbergs erstem Denkerfordernis, nämlich demjenigen der Nichtidentität zwischen Zeichen und dem, was es bezeichnet oder wofür es Zeichen ist. Nicht jedoch genügt er dem zweiten Denkerfordernis, demjenigen der wirksamen Gegenwart des Bezeichneten im Zeichen. Zwar ist ein Stein im Wort „Stein“ (oder genauer: in dessen sprachkompetentem Gebrauch) präsent, etwa als erfasster, vorgestellter oder intentionaler Gehalt. Man muss noch nicht einmal die antirealistische These vertreten, als ein solcher Gehalt sei der Stein nicht der „wirkliche“ Stein, sondern allenfalls ein Abbild desselben. Doch klar ist, dass selbst unter realistischen Bedingungen nicht von einer „wirksamen Gegenwart“ des Steins im wiederum realistischen Sinne die Rede sein kann. Denn es ist ja nicht der Stein in seiner realen (kausalen) Wirksamkeit (z. B. als harter oder fallender), der sich im Gebrauch des Zeichens „Stein“ geltend macht.8 Dies zeigt sich daran, dass die Begrifflichkeit, mit der wir die Rolle des Steins im Gebrauch des Zeichens „Stein“ beschreiben, nicht abbildbar ist auf diejenige, mit der wir die Rolle des Steins in seinem genuinen, kausalen Wirklichkeitszusammenhang, der (unbelebten) Natur, beschreiben.9 7 Es ist, nebenbei bemerkt, die Achillesverse sowohl einer Identitätsphilosophie, die die Identität von Begriff und Gegenstand behauptet, als auch eines Sprachidealismus, der die Identität von Sprache und Welt behauptet, diesem basalen Faktum nicht Rechnung zu tragen. Bezüglich der Identitätsphilosophie findet sich bei Schelling, im Kontext seiner Abkehr von selbiger, eine bezeichnend-lakonische Bemerkung dazu: Die These der Identität von Begriff und Gegenstand sei absurd, sollte sie „so verstanden werden, als könnte man z. B. den Feind anstatt mit einer Armee mit dem Begriff einer Armee schlagen“ (F.W.J. Schelling, Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, herausgegeben von T. Buchheim, Hamburg 22011, 16). 8 Es ist aber genau dieser Sinn von „wirksam“, den Pannenberg nach Maßgabe seiner ontologischen Prämissen im Sinne haben muss. „x ist wirksam gegenwärtig“ schließt dann ein: „x übt eine Wirkung in demjenigen Wirklichkeitszusammenhang aus, in dem x ursprünglich und paradigmatisch verortet ist“. Dass ein solches das einzig (theologisch) plausible Verständnis von „wirksam gegenwärtig“ im zeichentheoretischen Kontext ist, erhellt aus folgender Überlegung: Angenommen, das Vorkommen Gottes als Inhalt von intellektuellen Vollzügen im weiteren Sinne (Vorstellen, Denken, Sprechen …) würde schon als „wirksame Gegenwart“ im Sinne des Denkerfordernisses verstanden werden dürfen, wäre ein geradezu inflationärer Zeichenbegriff die Folge: Dann wäre jedes Schmähgedicht, in dem Gott vorkommt, schon ein Zeichen (des Reiches) Gottes. Ein solcher Zeichenbegriff wäre theologisch inakzeptabel – und zudem, aufgrund seines inflationären Charakters, als Begriff kaum noch von distinkter Bedeutung und – damit – Aussagekraft. 9 Diese These ist eine, die dem reduktiven Naturalismus widerspricht. Der reduktive Naturalismus ist diejenige philosophische Position, die behauptet, dass nicht nur nichts ist außer Natur, sondern dass des Weiteren unsere Beschreibung z. B. der Zusammenhänge im Sprachgebrauch auf die Beschreibung von Naturzusammenhängen reduzierbar sei. Analytische Formulierungen wie z. B. „Eine Person stellt sich einen Gegenstand mittels eines Zeichens und seiner Einbildungskraft vor“ wären demnach zu analysieren in eine Deskription eines reinen Naturzusammenhangs, deren Teil sodann auch die kausale (und damit reale) Wirk-
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ii:
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Der symptomatische Zeichenbegriff
Der symptomatische Zeichenbegriff ist, sozusagen, die logische Umkehrung des sprachlichen Zeichenbegriffs. Schon das Attribut „symptomatisch“ zeigt an, in welcher Domäne wir nach einem Beispiel zu suchen haben: in der Medizin. So sagen wir, dass Nackensteifheit ein typisches Zeichen (oder An-Zeichen) für eine Meningitis (oder andere Hirnerkrankungen) ist. Bezüglich der beiden Denkerfordernisse Pannenbergs verhält es sich beim symptomatischen Zeichenbegriff nun umgekehrt wie beim sprachlichen: Dasjenige der wirksamen Gegenwart ist erfüllt, aber – ipso facto, wie es scheint – dasjenige der Nichtidentität nicht. Offenkundig lässt sich sinnvoll sagen, dass die Meningitis in ihren Symptomen wirksam gegenwärtig ist; „wirksam“ deshalb, weil es eben die Erkrankung ist, die Ursache der Symptome ist (so ist ein Krankheitssymptom gerade definiert) und zumindest teilweise in und aus ihren Symptomen besteht; „gegenwärtig“ deshalb – und sogar in einem starken Sinne −, weil die Meningitis medizinisch ja nicht „nackt“, sondern eben (auch) durch ihre Symptome, in denen sie ihr Gesicht zeigt, also gegenwärtig ist, erkenn- und diagnostizierbar ist. Daher ist die Meningitis aber auch (teil-)identisch – und nicht nichtidentisch – mit ihren Symptomen, die ihr (An-)Zeichen sind. Daraus ergibt sich folgende zweifaltige Aporie, den Zeichenbegriff vor dem Hintergrund der beiden zusammen zu denkenden Denkerfordernisse Pannenbergs betreffend: [Aporie1] Das Denken einer wirklichen Nichtidentität von Zeichen und Bezeichnetem hebt die gleichzeitige Denkmöglichkeit einer wirksamen Gegenwart des Bezeichneten im Zeichen auf.
samkeit des Steins sein könnte. Es ist hier nicht der Ort, diese sehr fundamentale Theorie einer Kritik zu unterziehen. Das ist auch gar nicht nötig. Denn angenommen, der reduktive Naturalismus behielte recht, so könnte zwar in der Tat gesagt werden, dass Pannenbergs zweites Denkerfordernis, dasjenige der wirksamen Gegenwart, im sprachlichen Zeichenbegriff realisiert sei; auch das erste Denkerfordernis wäre erfüllt, da zwei kausale Faktoren ja nicht dadurch, dass sie in einem Wirksamkeitszusammenhang stehen, identisch (oder auch nur teilidentisch) werden. Aber: Der so gedachte Zusammenhang wäre offenkundig kein zeichenhafter mehr, da unter reduktiv-naturalistischen Bedingungen keine zeichenhaften Verhältnisse mehr in Anschlag zu bringen sind (Zeichen und (Be-)Deutung wären ihrerseits dann ja Phänomene, die sich reduktiv-naturalistisch in Naturzusammenhänge auflösen lassen würden). D. h. es wären zwar beide Denkerfordernisse an sich, nicht aber als in einem Zeichenbegriff zusammengedachte eingelöst. Also scheitert auch eine reduktiv naturalistische Analyse des sprachlichen Zeichenbegriffs daran, die beiden Denkerfordernisse in einem Zeichenbegriff zusammenzudenken.
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Das Denken einer wirksamen Gegenwart des Bezeichneten im Zeichen hebt die gleichzeitige Denkmöglichkeit einer wirklichen Nichtidentität von Zeichen und Bezeichnetem auf. Nun ließe sich mutmaßen, die Aporie entstehe nur aufgrund einer ungünstigen oder unvollständigen Wahl der beiden alternativen Zeichenbegriffe.10 Ein Vollständigkeitsbeweis, der diese Mutmaßung widerlegen könnte, lässt sich hier nicht führen, allenfalls andeuten. So mag man als eine geeignete Vermittlungsinstanz beider Zeichenbegriffe, welche die besagte Aporie zu unterlaufen vermag, den symbolischen Zeichenbegriff im Sinne Hegels ins Feld führen.11 Im Unterschied zum sprachlichen Zeichen ist das symbolische Zeichen eines, dessen Gestalt eine Ähnlichkeit zu derjenigen des Bezeichneten aufweist. Während dies für das Wort „Löwe“ im Verhältnis zum Löwen nicht gilt, gilt es sehr wohl für den Löwen als Symbol der Stärke. Denn einem Löwen kann, etwa an seinen Zähnen oder seinem Brüllen, die Tugend der Stärke ‚angesehen‘ werden. Ein Symbol ist anschaulich. Zwar ist es richtig, dass der symbolische Zeichenbegriff nicht den jeweiligen Extremcharakter der beiden vorher diskutierten aufweist (Nichtidentität ohne wirksame Gegenwart oder wirksame Gegenwart ohne Nichtidentität), doch leistet er ebenso keine Vermittlung zwischen diesen Extremen, die die Kompatibilität der beiden Denkerfordernisse gewährleisten würde. Vielmehr 10 In Bezug auf Pannenberg ist allerdings zu bemerken, dass er eine noch gröbere Alternative vorschlägt: nämlich die schon von Schoonenberg vorgeschlagene zwischen einem „bloß informierenden“ und einem „realisierenden Zeichen“ (vgl. dazu STh III, 332 Anm. 639). Gemäß dieser Alternative muss das, was ich das „symptomatische Zeichen“ nenne, zusammen mit dem Zeichen, das die Kirche ist, auf die eine Seite des „realisierenden Zeichens“ fallen. Zu bedenken ist allerdings, dass besagte Anmerkung im Kontext der Sakramentenlehre und nicht der Lehre von der Kirche im engeren Sinne lokalisiert ist – und der Sinn, in welchem ein Sakrament Zeichen zu nennen ist, ist zu unterscheiden von dem, in welchem die Kirche als Zeichen zu gelten hat, worauf später zurückzukommen sein wird. Die Differenz besteht mitunter darin, dass das Sakrament selbst kein Aktzentrum ist, zu dessen Zeichenhaftigkeit eine Aktivität der Selbstunterscheidung gehören würde, sondern der anzeichenhafte Vorläufer des Reiches Gottes: „Jedes Zeichen zeigt auf das Bezeichnete und „ist“ darin etwas anderes, als ohne die Zeichenfunktion da sein würde. Dabei bleibt in der Regel, etwa beim Wegweiser, das Zeichen von der bezeichneten Sache verschieden, während das Brotwort Jesu sagt: „Das ist mein Leib“. Zeichen und Sache fallen hier in eins so wie in den Fällen, in denen das Zeichen Anzeichen ist für die Gegenwart der bezeichneten Sache […]. So ist mit der Morgenröte der Tagesanbruch, den sie anzeigt, schon da. So brach in der Botschaft und im Wirken Jesu die Gottesherrschaft, die er verkündete, schon an.“ (STh III, 331 f.) 11 Kurz expliziert findet er sich in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 458 Z. Als eine weitere Alternative mag einem das Zeichen im Sinne eines pfeilartigen Wegweisers in den Sinn kommen, das Pannenberg selbst einmal zu negativen Explikationszwecken bemüht (vgl. STh III, 331). Hier ist das Denkerfordernis der Nichtidentität zwar erfüllt, nicht aber dasjenige der wirksamen Gegenwart: Denn der Ort, auf den der Wegweiser verweist, ist in keinem Sinne in selbigem wirksam gegenwärtig.
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liegt im symbolischen Zeichenbegriff weder Nichtidentität noch wirksame Gegenwart vor: Erstere deshalb nicht, weil es ja gerade ein Teilaspekt des Löwen (z. B. die Kraft seines Gebisses) ist, der (teil)identisch mit dem von ihm Symbolisierten, nämlich der Stärke, ist. Zweiteres deshalb nicht, weil es zwar richtig ist zu sagen, die (Tugend der) Stärke sei im Löwen und durch ihn präsent (und zwar in der besagten anschaulichen Weise), falsch allerdings, diese Präsenz als „wirksame Gegenwart“ in einem wiederum realistischen Sinne zu verstehen; denn (die Tugend der) Stärke ist eine abstrakte Idee, ein Konzept oder eine Eigenschaft, allerdings nichts Wirkliches, das sich in Wirklichem, wie z. B. dem Lebewesen Löwe, etwa in kausaler Weise wirksame Gegenwart verschaffen würde.12 Anders gesagt: Die (Tugend der) Stärke tut und bewirkt überhaupt nichts (aus kategorialen Gründen) – wohingegen etwa die Meningitis, wie wir sagen, sehr wohl etwas tut: nämlich Nackensteifheit verursacht oder, alltäglicher gesprochen, ‚macht‘. Dies nur als Exkurs, um die philosophische Analyse des Zeichenbegriffs weiter anzureichern. Der besagte Vollständigkeitsbeweis, der sich (hier) nicht führen lässt, ist – genauer besehen – nämlich gar nicht erforderlich. Denn: Dass das Defizit im bisherigen (negativen) Modus des Denkens mit Notwendigkeit auftritt, lässt sich auch dadurch zeigen, dass man die prinzipiellen Gründe dafür namhaft macht. Mit anderen Worten: Es gilt nun zu begreifen, warum das Zusammendenken beider Denkerfordernisse im bisherigen Modus des Begreifens misslingen musste. Von diesem Begreifen ausgehend kann sich das Denken orientierend umsehen, um dasjenige Gegebene („Positive“) zu finden, auf das es Bezug nehmen muss, um beide Denkerfordernisse sodann zusammendenken zu können.
12 Dies ergibt sich nicht aus der Wahl unseres Analysebeispiels, dem Löwen und der Stärke, sondern aus der Logik der Symbolik als solcher; denn es sind ja immer Abstrakta, die symbolisiert werden, und nicht Konkreta. Konkreta, z. B. der Magen des Löwen, müssen und können nicht symbolisiert (im Sinne Hegels) werden. Sobald es darum zu tun ist, Konkreta zeichenhaft zur Darstellung zu bringen, haben wir es entweder mit sprachlichen Zeichen oder Bildern zu tun. Das sprachliche Zeichen haben wir ja bereits diskutiert; und das Bild steht hier nicht in Frage, da es sich beim Reich Gottes offenbar nicht um etwas bildlich Visualisierbares handelt – abgesehen davon, dass das Denkerfordernis der wirksamen Gegenwart in der Logik von Bild und Abgebildetem ohnehin nicht erfüllt ist.
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2.
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Pannenbergs theologische Positivierung des Zeichenbegriffs durch das Geltendmachen personaler Verhältnisse
Die besagten prinzipiellen Gründe für das Misslingen des Zusammendenkens beider Denkerfordernisse im bisherigen Modus des Denkens sind nur und genau dadurch offenzulegen, dass die besagte Aporie ihrerseits nach ihren inneren Gründen befragt und so tiefer verstanden wird. Es hat sich Folgendes gezeigt: [Aporie2] Die Enthebung des Zeichens in eine andere Wirklichkeits-/Organisationssphäre (z. B. den regelgeleiteten Sprachgebrauch) als das Bezeichnete ermöglicht das Denken von (realer) Nichtidentität, hebt aber die gleichzeitige Denkmöglichkeit wirksamer Gegenwart auf. Die Versetzung des Zeichens in dieselbe Wirklichkeits-/Organisationssphäre (z. B. der kausal organisierten Natur) wie das Bezeichnete ermöglicht das Denken wirksamer Gegenwart, hebt aber die gleichzeitige Denkmöglichkeit von (realer) Nichtidentität auf. Daraus folgt: Denkend zu suchen ist nach einer Verhältnisbestimmung zwischen Zeichen und Bezeichnetem so, dass eine die Denkmöglichkeit wirksamer Gegenwart nicht aufhebende Nichtidentität zwischen der Wirklichkeit des Zeichens und derjenigen des Bezeichneten denkbar wird. Genauer: Zu suchen ist nach einer Wirklichkeit, die in eine andere Wirklichkeit wirksam hineinwirkt und -reicht, ohne sich diese im Sinne einer teilweisen oder vollständigen Identität schlicht und notwendig „einzuverleiben“. Solches wird gefunden im Denken personaler Verhältnisse. Dies lässt sich – noch diesseits genuin theologischer Zusammenhänge, und damit für unsere Zwecke noch vorläufig – sehr einfach an einem in unserer Lebenserfahrung verankerten Beispiel verdeutlichen: Es ist offenkundig kein Widerspruch, von meiner Mutter und meinem Vater zu sagen, dass sie in meinem Leben wirksam gegenwärtig waren und sind, und gleichzeitig, dass sie und ihr Leben jeweils in einem starken Sinne nichtidentisch mit mir bzw. meinem sind. Meine Mutter ist meine Mutter und ich bin ich; sie lebt ihr Leben und nicht meines (und kann es auch gar nicht leben) – und vice versa. Es überrascht daher nicht, dass die theologische Positivierung des Zeichenbegriffs durch Pannenberg mittels des Explizierens personaler Verhältnisse erfolgt – und zwar sowohl von der Seite der Kirche als auch von der Seite Gottes und seines Reichs her ansetzend. Denn die Kirche wird nach Pannenberg als eine noch näher zu erläuternde quasi-personale Instanz gedacht, die in einer ebenfalls
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noch näher zu bestimmenden Analogie zu Jesus Christus einer gelingenden oder misslingenden Selbstunterscheidung von Gott und seinem Reich fähig ist; dass Gott (und damit auch sein kommendes Reich) – bei Pannenberg und darüber hinaus – personal zu denken ist, dürfte so bekannt wie einleuchtend und daher jedenfalls an dieser Stelle nicht weiter begründungsbedürftig sein.13 Bevor wir uns besagter theologischer Positivierung des Zeichenbegriffs im Einzelnen näher widmen, sei noch etwas Allgemeines zum Charakter derselben bemerkt: Die Frage ist, ob es sich bei einer Positivierung immer um eine theologische in einem über die Philosophie hinausgehenden Sinne handeln muss, wo sie doch im Kern ‚nur‘ darin besteht, personale Verhältnisse in Betracht zu ziehen, die als solche (noch) nichts mit genuinen Inhalten der positiven Religion oder Theologie zu tun haben (müssen). Diese Frage ist berechtigt. Sie zielt darauf ab, ob eine Positivierung des Begriffs nicht schon innerhalb der Philosophie statthaben könnte oder müsste und die Philosophie dadurch nicht Philosophie bleiben würde, ja erst voll zu sich selbst kommen würde? Man kann diesen Vermutungen Recht geben und ihnen auch eine philosophiehistorische Traditionslinie zuordnen: Es ist die von der Spätphilosophie Schellings ausgehende Unterscheidung einer negativen und einer positiven Philosophie, wie sie sich bei sich explizit als Philosophen verstehenden Denkern wie Franz Rosenzweig in weiterentwickelter Form verfolgt finden lässt.14 Die Positivierung des Begriffs an sich ist also noch nicht notwendig ein Übergang von der Philosophie zur Theologie15, sondern von einem negativ-begrifflichen zu einem positiv-begrifflichen Denken, von einem unter Abstraktion der Eigenlogik personaler Verhältnisse räsonierenden Denken zu einem am Maßstab besagter Eigenlogik (und seiner Implikate) orientierten Denken.16 Nun gilt es also, zwei Ebenen an der Positivierung des Begriffs zu unterscheiden: Die erste, die wir die allgemeine nennen können, besagt nicht mehr als das schon Gezeigte, nämlich dass bestimmte Verhältnisse, da sie im Kern personal sind, eben nur unter Berücksichtigung der Eigenlogik personaler Verhältnisse auf den Begriff zu bringen sind, es für das negative Denken jedoch kennzeich13 Das heißt: Wirksam gegenwärtig ist das Reich Gottes in der Kirche und durch sie in dem Sinne, dass Gott als Person selbst wirksam gegenwärtig ist. 14 Vgl. F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (1921), Frankfurt a.M. 1988, Einleitung [v. a. 14 f. u. 19 f.]. 15 Deshalb ist Pannenbergs nicht näher kommentierter Bezug auf Luthers plakative Antithese „Signum philosophicum est nota absentis rei, signum theologicum est nota praesentis rei“ in STh III, 387 Anm. 785 erklärungs- und differenzierungsbedürftig. 16 Zu diesen Zusammenhängen vgl. T. Oehl, Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs, in: Gunther Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg. Pannenberg-Studien Bd. 2, Göttingen 2016, 233–263.
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nend ist, von solchen Verhältnissen zu abstrahieren und, sofern es dies vergisst, das Bewusstsein seiner Begrenztheit und Vorläufigkeit ebenso zu vergessen und daher in Irrungen mannigfacher Art zu geraten. Die zweite Ebene hingegen, die sodann die besondere zu nennen ist, besagt nun – da personale Verhältnisse ja niemals abstrakt, sondern immer konkret vorkommen – welche (konkreten und bestimmten) personalen Verhältnisse es sind, die sodann in ihrer entsprechend konkreten und bestimmten Ausprägung besagter Eigenlogik zu explizieren sind. Auf dieser zweiten Ebene liegen die der positiven Religion und dogmatischen Tradition entspringenden Gehalte, die jeweils auf bestimmte Weise personal strukturierte Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Vater und Sohn, zwischen Kirche und Reich Gottes etc. Wenn nicht schon für die erste, so ist doch spätestens für die zweite Ebene aus Sicht Pannenbergs zu sagen, dass sie nur von der Theologie, die sich selbstbewusst als Theologie versteht, zu bewältigen ist.17 Zwei allgemeine, also auf der ersten Ebene lokalisierte, Züge der Positivierung des Begriffs können nun kontrastiv zur im negativen Denken erfolgten, oben durchgeführten Analyse des Zeichenbegriffs zur Abhebung gebracht werden: (Allgemein1) Für das negative Denken ist es keine Option, dass Personen in irgendeinem Sinne als Zeichen fungieren könnten. Dies ist deshalb so, weil das negative Denken über keinen Kontext verfügt, in welchem die konkrete Denkbarkeit einer Person als Zeichen aufgegeben wäre. Schlichter gesagt: Wie sollte das ‚unbefangene‘ Denken überhaupt je auf die Idee kommen, eine Person als Zeichen aufzufassen? Zugespitzter gesagt: Muss diese Idee für das reinrationale Bewusstsein nicht sogar als gefährliche Instrumentalisierung der Person gelten? Ist eine Person nicht das, was für sich ist – und niemals hin auf anderes, wie es das zeichenhafte Verhältnis ja impliziert? Für uns hatte sich ein Kontext ergeben, in der die Idee dringlich (und unverfänglich) wird: Die ekklesiologischen Denkerfordernisse (Pannenbergs), die ja bereits durch und durch positiv sind, und zwar auf der zweiten der beiden soeben unterschiedenen Ebenen – kirchen-, dogmen-, religions- und theologiegeschichtlich vermittelt. (Allgemein2) Die besagte Eigenlogik personaler Verhältnisse wurde bereits anhand eines Beispiels vorläufig illustriert. Kontrastiv zu demjenigen Verhältnis, das im negativen Denken das Denkerfordernis der wirksamen Gegenwart einlösen kann, nämlich demjenigen der (Natur-)Kausalität, lässt sich diese Eigenlogik präzisieren: Die wirksame Gegenwart in personalen Verhältnissen ist der ‚Einfluss‘ einer Person, die sie auf eine andere Person in ihrem Leben haben kann. Als dieser ‚Einfluss‘ ist sie die positive Nachfolgekategorie zur negativen Kate17 Erkennen lässt sich dies auch aus der Anlage der hier vorgetragenen Argumentation: Die Denkerfordernisse entstammen ja erst aus einer mit Positivität gesättigten materialdogmatischen Problemkonstellation.
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gorie der (Natur-)Kausalität. Sie ist – wenngleich in einem durchaus anderen Sinne als bei Kant – treffend eine „Kausalität aus Freiheit“ zu nennen, sind für Pannenberg Personen doch gerade durch eine Aktzentrizität gekennzeichnet, die es verbietet, ihr Handeln nach der regressiv-determinativen Logik einer an der Kategorie der Naturkausalität ausgerichteten Untersuchung zu betrachten.18 Nun ist in metastufiger Betrachtung hinreichende Klarheit über die Logik der vorgetragenen Überlegungen gegeben, um selbige in concreto, d. h. bezogen auf die auf der zweiten Ebene lokalisierte ekklesiologische Positivierung, durchzuführen. Wiederum zwei Züge sind es, die Pannenberg am personalen Verhältnis, in dem sich das zeichenhafte Verhältnis von Reich Gottes und Kirche entsprechend der beiden Denkerfordernisse realisiert, vonseiten der Kirche her in Anschlag bringt. Die Kirche hat (1) eine quasi-Personalität19, als die sie (2) sich selbst von Gott und seinem kommenden Reich zu unterscheiden oder nicht zu unterscheiden vermag. Pannenberg reflektiert wenig explizit auf (1), sehr prominent jedoch auf (2). (1) ist jedoch ein logisches Implikat von (2), da sich Akte überhaupt nur von einer quasi-personalen Instanz sinnvoll prädizieren lassen. Aus dieser Bestimmung der Kirche ergeben sich entsprechend zwei Fragen, die einer Antwort zuzuführen sind, wenn die tatsächliche („positive“) Denkbarkeit des zeichenhaften Verhältnisses von Kirche und Reich Gottes im Sinne der beiden Denkerfordernisse erwiesen werden soll: (Frage1) Wer oder was ist (oder gewährleistet) die quasi-Personalität der Kirche? (Frage2) Wie ist der Akt (oder Vollzug, Prozess) der Selbstunterscheidung der Kirche von Gott und seinem kommenden Reich näher zu verstehen, vor allem im Hinblick auf die von Pannenberg angedeutete Analogie zum Akt der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater? Beide Fragen zielen darauf ab, besagter Eigenlogik personaler Verhältnisse auf der zweiten Ebene der Positivierung des Begriffs auf den Grund zu kommen. Aus erst später einzusehenden Gründen ist es sinnvoll, mit (Frage2) zu beginnen. Ad (Frage2). Dass die Selbstunterscheidung der Kirche von Gott und seinem kommenden Reich nicht mehr als in Analogie20 zu derjenigen Jesu vom Vater 18 Hier zeigt sich einmal mehr ein Grund dafür, weshalb Pannenberg ein „Hermeneutiker“ zu nennen ist, der – im Geiste Diltheys – die Eigenlogik zu verstehender nichtnatürlicher Prozesse zu schärfen und in theologischer Absicht zur Geltung zu bringen versucht. 19 Von einer „quasi-personalen Identität“ ist deshalb zu sprechen, weil es – aus kategorialen oder grammatischen Gründen – eine identifizierbare Instanz, ein Aktzentrum, sein muss, von welcher der Akt der Selbstunterscheidung ausgesagt wird, diese Instanz, insofern selbigem dieser Akt gelingt oder misslingt, Träger von Zurechenbarkeit ist, aber – wie sich zeigen wird – keine Person im eigentlichen Sinne (wie ein menschliches Individuum es ist) ist, noch auf eine solche reduzierbar. 20 Der Begriff der „Analogie“ darf nicht dahingehend verstanden werden, als stünden beide zueinander in Analogie stehenden Akte dadurch schlicht nebeneinander. Vielmehr ist mit
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stehen kann, erhellt unmittelbar daraus, dass die Kirche anders als Jesus keine Einzelperson ist (und, soll das Denkerfordernis der Nichtidentität nicht gebrochen werden, auch keine Identität oder Teilidentität mit ihm aufweist) und zudem nicht ohne Sünde. Ersteres wirft erneut (Frage1) auf, wie – wenn nicht qua Einzelperson – der Kirche überhaupt ein personaler (oder quasi-personaler) Charakter zuerkannt werden kann, der so stark ist, dass sich überhaupt sinnvoll sagen lässt, die Kirche vollziehe (gelingend oder misslingend) den Akt der Selbstunterscheidung von Gott und seinem kommenden Reich. Zweiteres – die Sündhaftigkeit der Kirche – lässt sich nüchtern wie folgt bestimmen: Anders als Jesus, der – wenngleich in voller Freiheit – nie der Versuchung aufsaß, sich selbst nicht konsequent vom Vater zu unterscheiden, sitzt die Kirche dieser Versuchung immer irgendwie und in gewissem Maße auf, in bestimmten Phasen ihrer Geschichte sogar in hohem, wenn nicht gar maximalem Maße. Ganz wie jedoch auch Heilige trotz ihres Sünderseins das Reich Gottes in ihrem Leben und Wirken sichtbar werden lassen, kann die Kirche – entsprechend bestimmt als communio sanctorum – dies tun; wenn auch in immer gebrochener und unvollkommener Weise, so doch zugleich mit Zügen des Gelingens. Worin genau besteht also trotz der beiden Differenzen zur Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater der Grund, immerhin von einer Analogie der Selbstunterscheidung der Kirche von Gott und seinem kommenden Reich mit derjenigen Jesu vom Vater zu sprechen? Die Antwort darauf muss lauten, dass nach Pannenberg die Eigenlogik (oder besser: Eigendynamik) des sich aus dem jeweiligen Akt der Selbstunterscheidung jeweils ergebenden personalen Verhältnisses im Kern dieselbe ist. Um dies verstehen zu können, bedarf es eines thetischen Rückblicks auf Pannenbergs christologische Grundfigur, eben jenen für die unveräußerliche Zugehörigkeit Jesu Christi zur Gottheit Gottes konstitutiven Akt der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater. Besagte christologische Grundfigur ist der Gedanke, dass Jesus sich als (einziger) Mensch konsequent selbst von Gott unterscheidet und somit seiner geschöpflichen Bestimmung als Mensch voll und ganz gerecht wird. Insofern er dies tut, erscheint in ihm geschichtlich der sich von seinem Vater unterscheidende ewige Sohn (vgl. zusammenfassend STh II, 420). Durch diese konsequente Selbstunterscheidung des Pannenberg hervorzuheben, dass „die Zeichenfunktion [der Kirche] vermittelt durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus“ (STh III, 57) ist – und zwar auf folgende Weise: In Jesus Christus bilden „Heilsmysterium und Zeichenfunktion keinen Gegensatz, sondern in der Zeichenfunktion seines irdischen Wirkens und seiner Geschichte für die Zukunft der Gottesherrschaft ist er die Verkörperung des Heilsmysteriums, durch die der göttliche Heilsplan selber zur Durchführung kommt. Dazu gehören auch Entstehung und Funktion der Kirche.“ (a. a. O.; Kursivierung T.O.) Da durch Christi Wirken und den darin vollzogenen Heilsplan die Kirche selbst ursprünglich gesetzt und in ihrer normativen Bestimmung festgelegt ist, ist die Struktur der Zeichenhaftigkeit der Kirche mitsamt ihrer normativen Kraft von derjenigen der Zeichenhaftigkeit Jesu Christi abzuleiten.
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Sohnes vom Vater legt der Sohn den Blick auf seinen Vater und dessen Reich frei, sodass dieses den-Blick-Freilegen für das Offenbarwerden des Vaters als Vater konstitutiv ist. Die konsequente Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ist ein Akt, der zusammen mit dem Akt der vollständigen Selbstoffenbarung des Vaters durch den Sohn in differenzierter Akteinheit aufgeht. Von einer Selbstoffenbarung Gottes ist daher nur mit und durch diesen sodann ewigen Akt der Selbstunterscheidung zu sprechen, wodurch der Sohn, Jesus als Christus, als zu Gottes Selbst, d. h. zu Gott selbst, wesentlich und ursprünglich zugehörig zu denken ist. Diese Eigenlogik lässt sich nun auf die Selbstunterscheidung der Kirche von Gott und seinem kommenden Reich – eingedenk der angesprochenen Grenzen der Analogie – übertragen: Wo die Kirche von sich selbst absieht, legt sie eben dadurch den Blick auf das Reich Gottes frei, das dadurch vernehmbar hervortritt. Beide Akte, der des demütigen von-sich-selbst-Absehens der Kirche und der des vernehmbar-Hervortretens des Reiches Gottes, zeigen sich sodann ebenfalls als eine differenzierte Einheit, als zwei zu unterscheidende Aktaspekte an einem Akt: Die Kirche weiß sich als von dem, worauf sie demütig verweist, in die Freiheit und Kraft gesetzt, durch die allein sie überhaupt von sich ab, über sich hinaus, sehen und verweisen kann. Allerdings gibt es kein umgekehrtes Dependenzverhältnis, entsprechend der Tatsache, dass die Kirche – anders als der ewige Sohn – nicht zur Gottheit Gottes und – entsprechend dem Denkerfordernis der Nichtidentität – auch nicht zu seinem Reich gehört. Nur eingedenk dieser Differenz lässt sich sagen, dass der Aktaspekt der Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes und des Aufscheinens des Reiches Gottes in der Kirche und durch sie in einer differenzierten Akteinheit stehen – eben unbeschadet ihrer Unterscheidbarkeit und Unterschiedenheit: Die Kirche muß sich selbst unterscheiden von der künftigen Gemeinschaft der Menschen im Reiche Gottes, um als Zeichen des Gottesreiches erkennbar zu sein, durch das seine Heilszukunft den Menschen in ihrer jeweiligen Zeit schon gegenwärtig wird. Unterläßt es die Kirche, diesen Unterschied deutlich zu machen, dann maßt sie sich selber die Endgültigkeit und Herrlichkeit des Gottesreiches an und macht umgekehrt durch die Erbärmlichkeit und das allzu Menschliche in ihrem eigenen Daseinsvollzug die christliche Hoffnung unglaubwürdig. Ebenso wie Jesus in seiner irdischen Verkündigung sich selbst vom Vater und der Zukunft seines Reiches in Demut unterschied […], so muß auch die Kirche ihr eigenes Dasein von der Zukunft des Reiches Gottes unterscheiden. Nur in der geistlichen Armut und Demut solcher Selbstunterscheidung ist sie der Ort, an dem durch die Kraft des heiligen Geistes die eschatologische Zukunft der Gottesherrschaft schon gegenwärtig zum Heil der Menschen wirksam ist. Nur unter Verzicht auf exklusive Ansprüche für ihre jeweilige eigene, partikulare Gestalt kann sie deutlich Zeichen der Universalität des Reiches Gottes über alle die Menschen voneinander und von dem Gott Israels trennenden Gegensätze hinweg sein. (STh III, 45)
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In einem solchen Akt der Selbstunterscheidung sind beide Denkerfordernisse offenbar versöhnt, da schon durch die Selbstunterscheidung als solche der Nichtidentität von Kirche und Reich Gottes Rechnung getragen und im damit in differenzierter Akteinheit verbundenen Aufscheinen des Reiches Gottes, das eine wirksame Gegenwart desselben in der Kirche – mit ihr und durch sie – ist, eben auch dem Denkerfordernis der wirksamen Gegenwart Rechnung getragen wird. Anders als im Falle der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater liegt hier – allein aufgrund der schon angesprochenen Sündhaftigkeit der Kirche – allerdings keine Aufnahme der Kirche in die Wirklichkeit des Reiches Gottes vor. Die Zusammenhänge liegen also wie folgt: Aufgrund der Sündhaftigkeit ist und bleibt die Kirche unter präeschatologischen Bedingungen notwendig nichtidentisch mit dem Reich Gottes. Zu diesem Faktum kann sie sich nun gelingend – d. h. mit (tätigem) Bewusstsein dieses Unterschieds, im Akt einer (bewussten) Selbstunterscheidung – oder misslingend – d. h. ohne (tätiges) Bewusstsein dieses Unterschieds, im Fehlen eines Aktes der (bewussten) Selbstunterscheidung – verhalten. Wenn Ersteres, weist sie unbeschadet ihrer Sündhaftigkeit Züge des Gelingens, der Heiligkeit, auf; wenn Zweiteres, stellt sie ihre Sündhaftigkeit zur Schau. Entsprechend sind zwei Ebenen zu unterscheiden: (i) Unter Bedingungen der Sündhaftigkeit kann die Nichtidentität nicht aufgehoben werden. Jeder Versuch, es dennoch zu tun, und jede Äußerung, die dieses Faktum verschleiert, hat als Ausdruck der Sündhaftigkeit zu gelten. In diesem Sinne soll keine Identität angestrebt werden. (ii) Unter eschatologischen Bedingungen, wenn die Sünde ein Ende hat, wird die Kirche schon aus dem trivialen Grund nicht mehr nichtidentisch mit dem Reich Gottes sein, da das Reich Gottes dann da – und Gott selbst alles in allem – ist, damit aber eine Bedingung der Möglichkeit der Nichtidentität von Kirche und Reich Gottes, nämlich ihre vorausweisende Zeichenhaftigkeit, nicht mehr gegeben ist. In diesem Sinne soll – und wird – die Kirche identisch mit dem Reich Gottes werden.21 21 So ist denn der Übergang der Kirche in das Reich Gottes in eschatologischer Zukunft auch als ein „Identischwerden“ jener mit diesem zu verstehen, das Pannenberg als „Aufhebung“ auf den Begriff bringt: „Erst in der eschatologischen Vollendung des Reiches Gottes wird die zeichenhafte Existenz der Kirche in die Wahrheit der durch sie angekündigten Zukunft aufgehoben werden“ (STh III, 11). Daraus ergibt sich – näher besehen – eine Unterscheidung dreier „Gelingensphasen/-typen“ der Kirche: (i) Dort, wo sie voll gelingt, nämlich im Reich Gottes und unter dessen Bedingungen, hört sie auf, Kirche in zeichenhafter Differenz zum Reich Gottes zu sein; (ii) im nochNicht des Hier und Jetzt gelingt Kirche genau dort maximal, wo sie maximal ihre Zeichenhaftigkeit zum Ausdruck bringt, die konstitutiv mit dem Bestehen der Differenz von Kirche und Reich Gottes verbunden ist; (iii) im noch-Nicht des Hier und Jetzt fehlt die Kirche genau dort, wo sie ihre Zeichenhaftigkeit nicht (hinreichend) zum Ausdruck bringt. Dabei ist das mehr-oder-weniger-zum-Ausdruck-Bringen-der-Zeichenhaftigkeit das Ge- bzw. Misslingen der Kirche.
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Werden beide Ebenen nicht unterschieden, droht eines (oder drohen beide) der folgenden Missverständnisse: (i*) Wird (i) Rechnung getragen, (ii) aber nicht, folgt: Die Kirche soll von Ewigkeit zu Ewigkeit in Distanz zum Reich Gottes bleiben. (Damit wäre so etwas wie eine prinzipielle Gottwidrigkeit der Kirche behauptet.) (ii*) Wird (ii) Rechnung getragen, (i) aber nicht, folgt: Die Kirche soll (und kann) unter präeschatologischen Bedingungen erwarten, identisch mit dem Reich Gottes zu werden. (Damit wäre der wohlbegründete zeichenhafte Charakter der Kirche samt beider Denkerfordernisse zu etwas wie einer deskriptiven Momentaufnahme degradiert und nicht als eine prinzipielle Bestimmung der Kirche unter Bedingungen der Sündhaftigkeit verstanden.) Nun kann zu (Frage1) übergangen werden, deren Beantwortung ihrerseits allerdings noch einmal Licht auf das Verhältnis der Kirche zum Reich Gottes wirft, das sodann ein erneutes Zurückkommen auf (Frage2) erforderlich machen wird. Ad (Frage1). Den Akt einer Selbstunterscheidung kann Jesus, logisch gesprochen, deshalb vollziehen, weil er eine individuelle Person ist, von der wir eben sinnvoll das Vollziehen von Akten prädizieren können. Da die Kirche (in ihrer geschichtlichen Entwicklung) jedoch keine Einzelperson, sondern – zumindest mitunter – ein irgendwie geartetes institutionelles Aggregat aus Einzelpersonen22 ist, bleibt zunächst kategorial unklar, ob von ihr eine solche Prädikation überhaupt sinnvoll möglich ist. Es scheinen sich hier zwei Optionen anzubieten: (i) Die erste, die man die „katholische“ nennen kann, verweist auf eine Einzelperson, die die Kirche als Ganze vertritt. Dadurch wird die Kirche nicht schlicht mit dieser Einzelperson identifiziert, vielmehr ist diese ihrerseits ein sichtbares Zeichen für die Einheit der Kirche. Pannenbergs grundsätzliche, wenngleich selbstverständlich nicht uneingeschränkte Anerkennung des Papsttums23 lässt sich vor diesem Hintergrund gut verstehen. Will man allerdings die reformatorischen Kirchen in der geschichtlichen Betrachtung nicht als nicht zur Kirche gehörig sehen, bleibt die Frage faktisch virulent, wie sich von der Kirche im Ganzen, welche faktisch nicht versöhnt ist und als versöhnte von einem personalen, sichtbaren Zeichen der Einheit geleitet wird, denken lässt, dass sie eines Aktes der Selbstunterscheidung vom Reich Gottes fähig war und ist. (ii) Die zweite Option hingegen, die man die „evangelische“ (um nicht zu sagen: diejenige der ELKB, der EKD usw.) nennen kann, könnte die quasi-Per22 Das gilt jedenfalls, solange wir die Kirche sozusagen „von unten“ her, als geschichtliches Gebilde, – und nicht schon als ideal-definitorisch bestimmt vom Reich Gottes her – betrachten. Diese Betrachtung ist die hier erforderliche, da ja der von der Kirche als Aktzentrum her geleistete Akt der Selbstunterscheidung untersucht wird – und zwar im Hinblick darauf, was sie eigentlich zu einem Aktzentrum macht. 23 Vgl. dazu v. a. STh III, 457 ff..
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sonalität der Kirche durch Ausbildung einer kollektiven Intentionalität zu erklären versuchen. Zu diesem schwierigen Begriff gibt es eine komplexe (philosophische) Debatte an der Schnittstelle von Handlungs-/Rationalitätstheorie und Sozialontologie24, welche unter anderem auszuloten versucht, ob, inwieweit und in welcher Form sich kollektive Intentionalität überhaupt denken lässt und was dadurch impliziert ist. Bejaht man das Konzept kollektiver Intentionalität grundsätzlich („ob“), scheint das „in welcher Form“ – jedenfalls im Hinblick auf die Kirche – am ehesten durch ein geordnetes und transparentes Verfahren kollektiver Intentionalitätsbildung25 zu explizieren zu sein. Solche Verfahren mag man – guten Willens – in den Kirchenverfassungen protestantischer Provenienz erkennen. Bleibt allerdings die Frage nach dem „inwieweit“: Und hier werden die Grenzen dieser Strategie/Option offensichtlich. Innerhalb eines durch Kirchenverfassungen festgelegten Verfahrens lässt sich nicht ohne Einschränkung diese Verfassung selbst, in welcher aber das Gesicht der Kirche wesentlich schon gezeichnet ist, einer Revision unterziehen: weder theoretisch, noch – und geschweige denn – praktisch. Hierzu bedürfte es einer Revolution, die aber niemals durch ein Konzept wie dasjenige verfahrensgeleiteter kollektiver Intentionalitätsbildung zu analysieren ist, sondern welcher immer die Dunkelheit des nicht auf den abstrakten Begriff zu bringenden „Neuen“ und, damit verbunden, der konstitutive Einfluss einer dem der Revolution Unterzogenen äußerlichen Macht eignet.26 Unabhängig davon stellt sich auch bei dieser Option die schon bei der ersten erwähnte Frage: Wie lässt sich in Anbetracht der Tatsache, dass in der Faktizität der Geschichte die Kirche als Ganze nicht in dieser Weise verfahrensdemokratisch organisiert war, sinnvoll behaupten, dass es dennoch immerzu die Kirche war und ist, die den Akt der Selbstunterscheidung (gelungen oder misslungen) vollzog bzw. vollzieht? Diese Problemfrage ist drängend für Pannenbergs Programm einer Offenbarung als Geschichte, deren Teil auch die Kirchen-Geschichte zu sein hat. Nach Maßgabe dieses Programms genügt es nicht, sich abstrakt über die ideale Ver24 Einen guten einführenden Überblick bietet hier die Sammlung von H.B. Schmid/D.P. Schweikard (Hg.), Kollektive Intentionalität – Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a.M. 2009. 25 Siehe dazu – auch und vor allem im Hinblick auf die damit verbundenen Probleme – exemplarisch D. P. Schweikard/H.B. Schmid, Art. „Collective Intentionality“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy. 26 Pannenberg selbst erteilt einem solchen Modell kollektiver Intentionalität, das er durch den Begriff des „Gruppengeistes“ ausdrückt, explizit eine Absage (vgl. STh III, 31). Er begründet dies dadurch, dass die Kirche ihre Identität letztlich von Christus her hat und sich darin von allen anderen in der bloßen Endlichkeit gegründeten Gemeinschaftsformen kategorisch unterscheidet. Mein grundsätzliches Argument sollte zeigen, dass und warum für kein vorläufiges institutionelles Gebilde ein von der Geschichtlichkeit abstrahierender Begriff des „Gruppengeistes“ Anwendung finden kann.
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fasstheit der Kirche zu verständigen; vielmehr bedarf es einer Antwort, weshalb Kirche auch dann und dort faktisch Kirche – mitsamt ihrer quasi-Personalität – sein konnte (und war), wo sie einem bestimmten idealen Verfassungsbegriff, den man ekklesiologisch begründen kann, faktisch nicht entsprach. Vor dem Hintergrund dieser Problemfrage27 und sofern diese beiden Optionen keine weitere neben sich haben – was zunächst ein schlicht historisch bedingtes Faktum zu sein scheint –, ist festzustellen, dass Pannenbergs Inanspruchnahme einer quasi-personalen Identität der Kirche soweit nicht zu rechtfertigen ist. Allerdings hat sich im Zuge des Scheiterns dieser Rechtfertigung gezeigt, in welche Richtung die Betrachtung nun weiterzuführen ist: Wir hatten gesehen, dass der Kirche, nach der zweiten Option hin untersucht, eine konstitutive Unfähigkeit zur vollständigen ( ja selbst zur weitgehenden) Selbstkorrektur zuzuschreiben ist. Sie ist ein Gebilde, das einer Selbstmächtigkeit schon aufgrund mangelnder Selbsttransparenz entbehrt. Dies passt nun einerseits gut zum sündhaften Charakter der Kirche, andererseits lässt sich dieses Faktum schlicht daraus erklären, dass sie eine Institution in der Geschichte ist. Und genau von diesem Kontext, der für das Sosein einer Institution konstitutiv ist, hatten die beiden Optionen noch abstrahiert. Beziehen wir diese Überlegungen zurück auf den Kern von (Frage1): Wie ist die quasi-Personalität der Kirche, ohne die von ihr überhaupt nicht sinnvoll ein Akt der Selbstunterscheidung prädizierbar wäre, zu denken – und zwar sowohl prinzipiell als auch im Hinblick auf die faktische institutionelle Gestalt der Kirche durch ihre Geschichte? Die negative Antwort lautete: Weder durch eine subtile Zuspitzung der Kirche auf eine Einzelperson noch durch das Modell der kollektiven Intentionalität. Die positive Antwort lautet: Die Kirche erhält dadurch ihre Identität, dass sie ein Moment der Geschichte ist. Institutionengeschichte im Sinne von Hegels Philosophie des objektiven Geistes denkt nämlich Institutionen nicht als geschlossene Entitäten, denen an (oder in oder aus) sich selbst schon eine Identität zukommt, und die sodann – als schon „fertige“ – eine Rolle in der Geschichte spielen, sondern als etwas, deren Identität (vor allem im normativen Sinne, d. h. deren Gut- oder Schlechtsein) im Laufe und Kontext der Geschichte erst konstituiert wird. Dies kann durch Analogie zu einem Spiel, das aus einzelnen Spielzügen besteht, erhellt werden: Die Güte eines bestimmten Spielzugs lässt sich nicht dadurch begründen oder erklären, dass man diesen Spielzug intern oder nach zeitlosen Prinzipien untersucht (z. B. „es ist immer gut, wenn ein Turm nach einem Bauer gezogen wird“), sondern, indem man ihn vor dem Hintergrund der jeweiligen Spielsituation würdigt. Eine gewisse Identität – z. B. 27 An ihr ändert sich offenkundig auch dann nichts, wenn man der Kirche in einer geschichtlichen Phase mehrere Gesichter zuschreibt; auch dann bleibt zu erklären, wie das jeweilige „Subkollektiv“ sich als quasi-Personalität denken lässt.
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als der entscheidende oder beste Spielzug – bekommt er nur im Spielverlauf, mit seiner Vor- und Nachgeschichte im Spielverlauf; und oft erst ex post ist er als solcher zu erkennen. Die Gesichtszüge der Kirche in ihrer Geschichte sind also nicht allein intern (aus irgendetwas, das sie aus sich selbst explizit wollte), sondern extern (aus der Rolle, die sie in einer konkreten Phase der Geschichte spielte) zu verstehen, eben da sie extern – und nicht (allein) intern – konstituiert werden. Dies impliziert nun, dass diese Identität nicht unter Abstraktion von der Geschichte, d. h. weder durch eine gänzlich ungeschichtliche Betrachtung noch durch eine (Selbst-)Betrachtung einer Institution im Hier und Jetzt, zweifelsfrei erkannt werden kann.28 Genau darin liegt ein Wesenszug einer Institution: dass sie sich selbst weder transparent noch ihrer selbst mächtig ist – wenn überhaupt unter synchronen Bedingungen, dann eher für Andere29 –, sondern ihr eigentliches Gesicht erst durch den langen Atem der Weltgeschichte hindurch zu zeigen beginnt – und selbst dort niemals vollständig-zweifelsfrei zu entbergen vermag. Dies macht eine Institution zu einem Moment des objektiven Geistes im Sinne Hegels.30 Pannenberg trägt dieser Einsicht dadurch Rechnung, dass er nicht nur nirgends behauptet, die Kirche könne von sich im Hier und Jetzt wissen, ob und wie sie ihre Selbstunterscheidung vom Reich Gottes einlöst oder verfehlt und somit ihr Zeichen-sein-Sollen erfüllt bzw. nicht erfüllt, sondern vielmehr selbst die „Lesbarkeit“ der Kirche für sie selbst an einem Beispiel aus ihrer Frühzeit illustriert: „[So] ist die Zeichenhaftigkeit des Daseins der Kirche in Zeiten des Leidens und der Verfolgung immer besonders deutlich hervorgetreten.“ (STh III, 45) Man kann sich vorstellen, dass die Kirche zur Zeit der Verfolgung durchaus keinen Begriff davon hatte, dass sie dem, was sie sein soll, ein Zeichen des Reiches Gottes, in besonderer Weise entsprach. (Vielleicht war eher das Gegenteil der Fall.) Erst im klärenden Licht der Geschichte wird die damals verfolgte und
28 Freilich lässt sich denken, dass es Einzelne (auch in der Kirche), sozusagen als Ausnahme von der Regel, geben kann, die aufgrund ihrer „Heiligkeit“ schon im Hier und Jetzt die Kirche in ihrer jetzigen Verfassung richtig zu durchschauen vermögen. 29 So lässt sich erklären, dass Pannenberg an keiner mir bekannten Stelle von einer gelingenden Selbstevaluation der Kirche unter synchronen Bedingungen, sehr wohl aber von als (un-) glaubwürdig zu geltenden Gesichtszügen der Kirche für die Menschen (unabhängig von ihrer Kirchenzugehörigkeit) unter synchronen Bedingungen spricht (vgl. z. B. STh III, 11 u. 45). 30 Auch wenn Hegel selbst anders zuordnet: Die Kirche, als Gemeinde, hat ihren Ort im absoluten Geist. Das überrascht insofern nicht, als Hegel eine von der Warte Pannenbergs inakzeptable präsentische Eschatologie vertritt, die als solche eo ipso eine Identität von Kirche und Reich Gottes derart annehmen muss, dass die Kirche – wie das Reich Gottes selbst – im absoluten Geist zu verorten ist. Diese Differenz zu Hegel stellt jedoch nicht die auch im Sinne Pannenbergs namhaft zu machende Logik der Institutionengeschichte in Frage, die Hegel als und in der Philosophie des objektiven Geistes verhandelt.
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darniederliegende Kirche in ihrer Hoheit, als profilierte, lesbar, „als Zeichen des Gottesreiches erkennbar“, wie Pannenberg sagt (STh III, 45). Somit konnte also gezeigt werden: Durch eine – Pannenbergs Geschichtstheologie entsprechende – Mobilisierung (hegelscher) Theoriebildung der Institutionengeschichte kann eine Antwort auf (Frage1) gefunden werden, welche es – zusammen mit Pannenbergs Antwort auf (Frage 2), die sich aus einer Analogie zu seiner originellen christologischen Grundfigur der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater ergibt – erlaubt, die beiden eingangs genannten Denkerfordernisse in einem Zeichenbegriff, einem personal-dynamischen, zusammenzudenken. Nun können wir zum letzten Teil der Untersuchung fortschreiten, in welchem letzte Folgerungen aus dem Gezeigten zu ziehen sind und ein abschließend vertiefender Blick darauf eröffnet werden soll.
3.
Die quasi-Personalität der Kirche durch ihre Geschichte, das deutend-lesende Selbstverhältnis der Kirche als Zeichen und die Zeichenhaftigkeit des Sakraments
Die These, dass die jeweiligen Gesichtszüge, die die Kirche im Verlauf ihrer Geschichte zeigt, zunehmend klarer ex post, eben aus einer ihrerseits geschichtlich späteren Warte, und vor dem Hintergrund des sodann allmählich besser zu überblickenden Laufs der Geschichte gelesen werden können, lässt sich nun in verblüffender Weise mit dem Gedanken ihrer Zeichenhaftigkeit verbinden. Denn in der Analyse des Zeichenbegriffs haben wir bislang noch weitgehend von einem weiteren wesentlichen Aspekt abstrahiert: Dass Zeichen jemandes bedürfen, für den sie als Zeichen erkennbar sind und welcher sie zu „lesen“ vermag. Zeichen haben, wie wir sagen können, einen konstitutiven Gebrauchsoder Deutungskontext, sind – mit Umberto Eco zu sprechen – (konstitutiv) Teil eines „Zeichenprozesses“31. Derjenige, der ein Zeichen angemessen zu lesen vermag, hat eine Deutungskompetenz in Bezug auf dieses Zeichen. Im Falle des sprachlichen Zeichens ist diese Deutungskompetenz nichts anderes als die Sprachkompetenz; im Falle des symptomatischen Zeichens, bezogen auf das medizinische Beispiel, ist es die ärztliche Urteilskraft und das damit verbundene diagnostische Vermögen. In beiden Fällen gibt es jeweils eine kompetente Deutungsgemeinschaft, in der der verständige Umgang mit den jeweiligen Zeichen beherrscht wird; im Falle des 31 U. Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, zitiert nach der 162015, 25 ff.
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sprachlichen Zeichens die Sprachgemeinschaft, im Falle des symptomatischen Zeichens die Gemeinschaft der Ärzte. Daraus ergibt sich folgende Frage: (Frage3) Welche Gemeinschaft ist es, für die die Kirche als Zeichen lesbar ist? Als Antwort drängt sich unmittelbar auf: Die Menschheit in der Welt, aber auch die Kirche selbst.32 Mit letztgenannter Antwort ist jedoch unmittelbar eine Schwierigkeit verbunden: Kann jemand (oder etwas) sich selbst als Zeichen lesen – vor allem dann, wenn es zugleich als jemand (oder etwas) gefasst wird, dem (i) zugleich die Selbstmächtigkeit und –transparenz abgesprochen und von dem (ii) Sündhaftigkeit ausgesagt wird? Ad (i). Diese Schwierigkeit lässt sich lösen, indem wir uns die Geschichtlichkeit der Identität(en), die die Kirche annehmen kann und annimmt, in Erinnerung rufen. Wir hatten gesagt, dass die Kirche in der Lage ist, eine (zureichend zurückliegende) Identität der Kirche als Zeichen des Reiches Gottes zu lesen. Dabei handelt es sich aber offenkundig um einen Selbstbezug der Kirche; einen Bezug auf sich im Modus eines zeitlichen wie – möglicherweise – normativqualitativen Andersseins. In diesem deutenden Selbstverhältnis der Kirche kann die Kirche zur läuternden Selbsterkenntnis und –verständigung gelangen, das über sie ergangene Gericht auch als solches verstehen. Möglich ist dies alles durch die geschichtliche Ausgebreitetheit der kirchlichen Identität, die das punktuellsynchron Unlesbare lesbar macht, indem der Lesenden (der Kirche) ein Anderes, zu Lesendes, gegenübertritt, in dem sie jedoch letztlich sich selbst zu erkennen vermag. Dass dem so ist, ist neben dem theologisch abstrakten Aufweis, wie wir ihn soeben unternommen haben, auch aus der Selbsterfahrung evident. Das sichHineinversetzen in eine bestimmte Phase der Kirchengeschichte, in der die Kirche diesen oder jenen Gesichtszug aufwies, kann uns entweder – im Falle, dass diese Phase eine der misslingenden Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes war (man denke z. B. an den Ablasshandel) – das hässliche Gesicht (unser 32 Dass es nicht nur die Kirche ist, ergibt sich zwingend aus Pannenbergs Konzeption einer Universalgeschichte, in deren Lesbarkeit auch derjenige eingeschlossen ist, der nicht zur Kirche gehört, und ist im Hinblick auf sie von großer Wichtigkeit. Denn wer in der Welt sich der Kirche zu- oder abwendet, hängt konstitutiv mit der sich aus dem gelingenden oder misslingenden Akt der Selbstunterscheidung ergebenden „(Un-)Glaubwürdigkeit“ und „Autorität“ der Kirche zusammen (vgl. dazu v. a. STh III, 10 f.). Durch das Gesagte impliziert ist natürlich, dass auch die Theologie die Kirchengeschichte im normativen Sinne lesen (können) muss. Nach Pannenberg gehört diese Lektüre folglich (auch) zur Erwählungslehre: „Im übrigen ist die Frage, ob und inwieweit die Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte Ort des eschatologischen Heils ist und faktisch als solcher erfahrbar wurde, Thema der Erwählungslehre. In der Erwählungslehre, die die Frage nach der Erwählung des einzelnen in die der Kirche hineinnimt, kommt die Zeichenhaftigkeit der Kirche für die Zukunft des Reiches Gottes geschichtlich konkret in den Bick, freilich nicht ohne die Verdunklungen dieser ihrer Berufung samt den daraus folgenden Gerichten Gottes in der Geschichte.“ (STh III, 11)
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hässliches Gesicht) der Sünde vor Augen führen oder aber – im Falle, dass diese Phase eine der gelingenden Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes war (man denke z. B. an das Halten des Abendmahls in den Katakomben zu Zeiten der Verfolgung) – die Herrlichkeit des Reiches Gottes vor Augen führen, also genau dasjenige, was die so verfasste Kirche als Zeichen ja bedeutet, wofür sie Zeichen ist, worauf sie verweist, was durch sie vernehmbar wird. Derart reflektierte Kirchengeschichte ist ein Kern christlicher Erinnerungskultur. Ad (ii). Die Sündhaftigkeit der Kirche stünde zur Möglichkeit einer so beschriebenen geschichtlich vermittelten Selbsterkenntnis nur dann im Widerspruch, wenn diese Selbsterkenntnis als kirchenautonom, d. h. ausschließlich von der Kirche als Kirche bewirkt und vollzogen gedacht würde. Das ist nach Maßgabe von Pannenbergs Geschichtsbegriff jedoch gerade nicht der Fall. Denn dort, wo in solcher Selbsterkenntnis etwas vom (Fehlen des) Reich(es) Gottes vernehmbar wird, ereignet sich Offenbarung; und Offenbarung ist nach Pannenberg immer Offenbarung als Geschichte, was im dargestellten geschichtlich ausgebreiteten Selbsterkenntnisprozess exemplarisch deutlich und konkret wurde. Pointiert gesagt: Gott mischt sich geschichtlich auch in die Kirche ein. Somit ist es der lange Atem der göttlichen Offenbarung, der den (Selbst-)Lesevollzug der Kirche in Atem hält. Und von ihm ist natürlich zu sagen, dass er die Kraft hat, der Kirche trotz ihrer Sündhaftigkeit die Augen zu öffnen und lichte Momente zu bescheren. Nun gilt es allerdings noch, eine wichtige weitere Differenz einzuzeichnen: Der gelingende Fall der Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes ist dadurch wesentlich bestimmt, dass zum und mit dem Aktaspekt der gelingenden Selbstunterscheidung der Aktaspekt des Aufscheinens des Reiches Gottes, d. h. der wirksamen Gegenwart desselben, realisiert wird. Brennpunkt dieser gelingenden Selbstunterscheidung aber sind die Sakramente, allen voran – was die Zeichenhaftigkeit betrifft – das Herrenmahl.33 „Brennpunkt“ insofern, als die Zeichenhaftigkeit dort eine gefestigte, jeder Zweideutigkeit überhobene Form annimmt: Das Brot wird zugleich mit dem Hören des Einsetzungsworts wahrgenommen, und doch heißt das, was da ist, nun nicht mehr Brot, sondern der Leib Christi. Dieser Sachverhalt wird beschrieben, wenn gesagt wird, das Brot sei „Zeichen“ für den Leib Christi. […] Jedes Zeichen zeigt auf das Bezeichnete und „ist“ darin etwas anderes, als ohne die Zeichenfunktion da sein würde. Dabei bleibt in der Regel, etwa beim Wegweiser, das Zeichen von der bezeichneten Sache verschieden, während das Brotwort Jesu sagt: „Dies ist mein Leib“. Zeichen und Sache fallen hier in eins so wie in den Fällen, in 33 Wenngleich mit Pannenberg hervorzuheben ist, dass das folgende für das Sakrament im Verhältnis zum Wort und Reich Gottes zu explizierende Verhältnis in analoger Weise auch für die Wortverkündigung in der Predigt gilt, wenngleich die sichtbare Zeichenhaftigkeit hier offenkundig nicht gleichartig ausgeprägt ist.
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denen das Zeichen Anzeichen ist für die Gegenwart der bezeichneten Sache […]. So ist mit der Morgenröte der Tagesanbruch, den sie anzeigt, schon da. So brach in der Botschaft und im Wirken Jesu die Gottesherrschaft, die er verkündete, schon an. So wurde auch in der irdischen Mahlpraxis Jesu die Gottesherrschaft, die das Mahl darstellt, durch Jesu Teilnahme schon Gegenwart. So sagt auch das Brotwort Christi die Gegenwart der bezeichneten Sache im Zeichen an: Im Brot, das im Brotwort Jesu nur durch das Wort „dies“ vertreten wird, ist Jesus Christus selbst (und mit ihm die Gottesherrschaft) gegenwärtig, […] so, wie das Bezeichnete im Anzeichen seiner Gegenwart da ist. (STh III, 332 f.)
Beim Sprechen der Einsetzungsworte wird das Sprechen des Pfarrers ganz durchsichtig für das Wort Jesu Christi selbst. Sofern dieser gottesdienstliche Rahmen gewährt ist, kann und wird im Sakrament das Reich Gottes nicht nur, wie im Fall einer (maximal) gelingenden Selbstunterscheidung der Kirche vom Reich Gottes, vernehmbar, indem die Kirche als Zeichen auf das, was sie bezeichnet, verweist und das Reich Gottes – trotz bestehen bleibender Nichtidentität – uno eodem actu aufscheint; vielmehr ereignet sich im Sakrament das Anbrechen des Reiches Gottes, indem das, was anbricht, schon mit der Wirklichkeit des Reiches Gottes, wenngleich noch nicht in vollgestaltiger Ausprägung, identisch ist. Das Sakrament ist somit in einem anderen Sinne Zeichen, als es die Kirche als durch die Geschichte gehende Institution ist und je sein kann: „Im Brot, das im Brotwort Jesu nur durch das Wort „dies“ vertreten wird, ist Jesus Christus selbst (und mit ihm die Gottesherrschaft) gegenwärtig, […] so, wie das Bezeichnete im Anzeichen seiner Gegenwart da ist.“ (STh III, 332 f.) Hier handelt es sich also um eine wirksame Gegenwart der Gottesherrschaft, die im Sinne einer anbruchsartigen Identität in personaler Weise präsent ist.34 Es ist von größter Wichtigkeit, die Zeichenhaftigkeit des Sakraments von der Zeichenhaftigkeit der Kirche zu unterscheiden, deren Brennpunkt erstere ist. Nur in diesem Brennpunkt ist alle Diffusität und Zweideutigkeit der Kirche getilgt, da er gleichzeitig mit der Ewigkeit ist – vermittelt durch die An-Zeichenhaftigkeit im Sinne des Anbruchs des Reiches Gottes. Deshalb ist das Sakrament auch nicht selbst Vollzieher einer Selbstunterscheidung; denn da es anbruchsartig und anzeichenhaft der kommende Christus in seinem Reich ist, also identisch mit dem Sakrament als singularentantum, gibt es keinen Sachgrund für eine Selbstunterscheidung mehr – und damit auch keine Verfehlungsmöglichkeit.35 Hervor34 M.a.W. handelt es sich also um eine ebenfalls durch das Geltendmachen personaler Verhältnisse erfolgte Positivierung dessen, was ich oben den „symptomatischen Zeichenbegriff“ genannt habe. 35 Klar ist, dass Pannenberg – wie auch im Falle der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater – diejenige der Kirche vom Reich Gottes als eine aktive denkt; d. h. es ist nicht möglich, dass die Kirche als Institution durch eine schweigend-asketische Selbstaufgabe den eben beschriebenen sakramentalen Brennpunkt freilegen und so ihrer normativen Bestimmung gerecht werden könnte.
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zuheben ist, dass es sich hierbei – unbeschadet des anbruchsartigen und anzeichenhaftigen Charakters – um eine wirkliche Identität (und nicht etwa nur um eine Ähnlichkeit o. ä.) zwischen dem Sakrament als Zeichen und dem Reich Gottes, wofür es (An-)Zeichen ist, handelt. Auf die Sakramente soll und kann hier im Einzelnen nicht weiter eingegangen werden. Aus dem Gesagten unmittelbar einleuchten dürften jedoch Pannenbergs Gründe dafür, die Kirche trotz ihrer Zeichenhaftigkeit und aufgrund des eigentümlichen Charakters ihrer Zeichenhaftigkeit nicht als sakramental an sich selbst zu verstehen.36 Zum Sakrament soll im Folgenden nur noch ein Gedanke verfolgt werden, da er abschließend etwas zur Fragestellung unserer Untersuchung beiträgt. Es ist klar, dass Pannenbergs Bestimmung der Kirche als Zeichen des Reiches Gottes eine normative ist. Die Kirche soll so sein, dass sie qua Selbstunterscheidung vom Reich Gottes ihre Zeichenfunktion erfüllt. Dies schließt es aber aus, besagte Zeichenhaftigkeit als Identitätskriterium der Kirche durch die Geschichte hindurch anzugeben. Denn als Kirche, als Kirche in ihrem Verfehlen, muss die Kirche ja auch dort bezeichnet werden können, wo sie eben qua Verfehlen faktisch nicht Zeichen des Reiches Gottes ist. Pannenberg fordert dies mit aller Entschiedenheit als Aufgabe der Ekklesiologie ein: „Die Lehre von der Kirche darf die[..] ihrem Wesensbegriff [= dasjenige, was oben die „normative Bestimmung“ der Kirche genannt wurde] widersprechenden Züge ihrer konkreten, geschichtlichen Wirklichkeit nicht übergehen.“ (STh III, 38) Aus theologischer wie historischer Sicht kann nun anstatt dessen kein „pragmatisches“ Identitätskriterium geltend gemacht werden – etwa durch Hinweis auf bestimmte institutionelle Züge, die sich durchgehalten hätten, oder den faktisch zu konstatierenden, sich durchhaltenden Sprachgebrauch, der das Wort „Kirche“ fortlaufend einer mehr oder weniger klar definierten Größe zugeschrieben hat. Das einzige Identitätskriterium kann daher sein, dass die Kirche derjenige Ort der rechten Sakramentsverwaltung ist, wie es im Artikel 7 der Confessio Augustana denn auch prominent hervorgehoben wird. Das Sakrament gehört nicht dorthin, wo Kirche – gleichsam schon „ohne“ Sakrament – ist, sondern Kirche ist nur und genau dort, wo das Sakrament ist.37 Mit den Worten Pannenbergs: 36 Lediglich durch ihr konstitutives Bezogensein auf Christus als das Sakrament (im Sinne eines singularetantum) und die Einzelsakramente kann der Kirche – im Sinne ihrer Charakterisierung als „mysterion“ im Epheser- und Kolosserbrief – eine vermittelte Sakramentalität zuerkannt werden. Die katholische Rede vom Ur- oder Wurzelsakrament verunklart dieses Dependenzverhältnis zumindest. Vgl. dazu STh III, 53 f. 37 Entsprechend sagt Pannenberg von der Kirche, dass sie „in einer für ihr Dasein konstitutiven Beziehung zum Reiche Gottes“ (STh III, 42; Hervorh. T.O.) steht.
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„Konstitutiv für das Sein der Kirche ist also nicht ihre Organisationsform, sondern die Zeichenhandlung des Mahles Jesu, das die Kirche in der durch die Gabe des Geistes begründeten Gewißheit feiert.“ (STh III, 323) Nun hat ein solches Identitätskriterium die Funktion, eine Identität namhaft zu machen, die trotz und inmitten aller Identitätskrisen und –brüche38 durch die Geschichte hindurch Bestand hat. Damit kommt einem solchen Identitätskriterium eo ipso die Funktion zu, die Kirche vom Verdacht zu befreien, eine historisch vergängliche Größe zu sein, die schon diesseits des Anbruchs des Reiches Gottes ihre Wirklichkeit – selbstverschuldet – verlieren könnte und welche als Zeichen letztlich, wie ein sprachliches Zeichen, ‚bloß‘ von endlichen Konventionen oder ihrem mehr oder weniger dauernden Gebrauch her zu definieren wäre. Solches ist nun ausgeschlossen durch die sakramentale Mitte der Kirche: Denn im Sakrament ist die Ewigkeit selbst wirksam und (an)zeichenhaft gegenwärtig. Inmitten der jeweils eigentümlich-geschichtlichen Gesichtszüge der Kirche scheint so die göttliche Ewigkeit auf; dadurch ist zugleich, wie Pannenberg explizit sagt, „die Zeitdifferenz aufgehoben, die die Gemeinde von der Zeit des irdischen Wirkens Jesu trennt“ (STh III, 352); sakramental gegenwärtig ist Christus auch in derjenigen Kirche, die sein Reich mehr verstellt als auf es zeigt – damit ist er gegenwärtig trotz ihrer und gegen sie, insofern sie sein Reich mehr verstellt als sichtbar macht, und für sie, insofern er das Heil ihrer – nein: seiner – Menschen will.39 So bleibt Gott immerdar in seiner Kirche: er sorgt dafür, quod 38 Unabhängig von den einzelnen Verfehlungen, die darin liegen, ist die Zersplitterung der Kirche als solche schon eine Verfehlung; denn ein wesentliches Moment des Reiches Gottes, die Einheit der Menschheit, ist dadurch schon nicht mehr zeichenhaft präsent. Vgl. dazu STh III, 55 f. 39 Die Schroffheit dieses „Trotzdem“ muss betont werden, um nicht dem Missverständnis aufzusitzen, als hinge die Wirksamkeit des Sakraments – die wirksame Gegenwart Christ im Sakrament – davon ab, inwieweit die Kirche ihrer normativen Bestimmung entspricht; solches würde bedeuten, dass die Sakramente nur in derjenigen (geschichtlichen) Phase heilswirksam sind, in welcher der Kirche ihre Selbstunterscheidung vom Reich Gottes im Wesentlichen gelingt. Dies aber würde die Heilswirksamkeit des Sakraments von der Leistung einer sündhaften Instanz abhängig machen. Deshalb ist zu sagen, dass die Zeichenhaftigkeit des Sakraments unabhängig von der realisierten oder eben nicht realisierten Zeichenhaftigkeit der Kirche ist. Dies bedeutet nicht, dass das Sakrament als solches unabhängig von der Kirche wäre; zwar gilt, dass die Kirche nur dort ist, wo das Sakrament ist, aber das impliziert nicht, dass dort, wo das Sakrament ist, nicht immer auch die Kirche wäre. Vielmehr bedarf es einer basalen kirchlichen, näherhin liturgisch-gottesdienstlichen Ordnung, in welcher die Heilsvermittlung in sakramentaler Form ein identifizierbares Ereignis sein kann. Dies alles lässt sich nur zusammendenken, indem man die Sakramentsverwaltung der Kirche, ihren Brennpunkt, als eine „Kapsel“ versteht, die als solche ganz vom Heilswirken Gottes her gesichert und eben untangiert davon ist, inwieweit die Kirche die Selbstunterscheidung vom Reich Gottes realisiert oder nicht. Es ist also die Sakramentenverwaltung der Kirche so zu denken, dass Gottes Geist die rite vocatae/vocati so weiter ruft und leitet, dass diese „Kapsel“ kein Ende nimmt, sondern das Sakrament in und mitsamt der Kirche bleibt. Das Reich Gottes
Nichtidentität, aber wirksame Gegenwart
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una sancta ecclesia perpetuo mansura est, da er immerdar im Sakrament ist und bleibt, dessen sich die Kirche verdankt und durch das sie, da das Sakrament als ihr Kern eben auch zu ihr gehört, immer in einem basalen Sinne gratis gelungen ist.40 Brächte sie dieses Dependenzverhältnis immerzu und in aller Klarheit zur Darstellung – als ihr adäquates Selbstverständnis –, würde sie eo ipso ihre zeichenhafte Funktion qua Selbstunterscheidung vom Reich Gottes erfüllen.
bricht sich so selbst Bahn, schafft und erhält sich ein gottesdienstlich-liturgisches Zentrum, in welchem es real-ereignishaft in anbruchsartiger Identität mit seinem Zeichen wirksam gegenwärtig sein kann. Dies schließt es freilich nicht aus, dass das Gegebensein dieser „Kapsel“ an einzelnen Stellen (für die Kirche oder die Welt) fraglich werden kann. Etwa dann, wenn ein schismatisches Ereignis die Frage aufwirft, ob die Sakramentenverwaltung in der neuen ‚Splitterfraktion‘ mitsamt ihres neuen Selbstverständnisses überhaupt rechtens erfolgt. So sehr die Kirche sich aufgrund ihrer normativen Bestimmung bemühen muss, ebendieser gerecht zu werden, so unabhängig ist und bleibt jedoch die Wirkung des Sakraments davon, in welchem Maße das gelingt. Dies ist allerdings für die durch die Geschichte lesende Menschheit entscheidend, welcher die Verkündigung der Kirche notwendig unglaubwürdig erscheinen muss, solange sie die Selbstunterscheidung nicht in hinreichendem Maße gelingend vollzieht. Diesen Aspekt der Unglaubwürdigkeit und dessen Bedeutung für die Wahrnehmung der Kirche in der geschichtlichen Wirklichkeit hebt Pannenberg explizit hervor (vgl. STh III, 10 f.). Pointiert gesagt: Gott hat der Kirche keine selbstständige Mitwirkung am sakramental vermittelten Heil überlassen, wohl aber am geschichtlichen Vollzug ihrer Selbstund Weltverständigung sowie ihres „von außen“ Gelesenwerdens. 40 Man könnte daher sagen, die Kirche kann zwar das, was sie sein soll, maximal verfehlen, aber nicht absolut. D. h. sie kann in ihrem Akt der Selbstunterscheidung vollkommen versagen, ohne dass dadurch die wirksame Gegenwart gänzlich getilgt wäre: deren fokale Realisation, im sakramentalen (An-)Zeichen, bleibt davon unberührt.
Klaus Vechtel SJ
Kirche und Herrenmahl Die Bedeutung des Herrenmahls in Pannenbergs Ekklesiologie
Einleitung Bei der Beschäftigung mit Pannenbergs Lehre vom Abendmahl ist für mich die Fragestellung leitend gewesen, was die katholische Theologie von Pannenbergs Abendmahlslehre lernen kann: Wie bestimmt Pannenberg den Sinngehalt der biblischen Überlieferungen und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die theologische Bestimmung des Herrenmahls? Welchen Verstehungszugang eröffnet Pannenberg für die Fragen nach der sakramentalen Gegenwart Christi im Herrenmahl und für die umstrittene Frage nach dem Opfercharakter des Herrenmahls? Meine Ausführungen konzentrieren sich demnach weniger auf die innerhalb der evangelischen Kirchen strittigen Fragen als vielmehr auf die ökumenischen Perspektiven, die Pannenbergs Lehre vom Abendmahl eröffnet: nicht zuletzt im Blick auf eine mögliche Abendmahlsgemeinschaft, die von katholischer Seite immer noch als problematisch angesehen wird. Für das 2. Vatikanische Konzil gilt das Prinzip der Bezeugung der Einheit der Kirche, welches eine Gottesdienstgemeinschaft (communicatio in sacris) verbietet. Auch wenn das Prinzip der Sorge um die Teilhabe an der Gnade bisweilen eine solche empfiehlt, kommt dem Prinzip der Bezeugung der Einheit doch das Hauptgewicht in dieser Frage zu. Einer Abendmahlsgemeinschaft im Weg stehen in katholischer Sichtweise vor allen Dingen Differenzen im Kirchenverständnis, bis dahin, dass das II. Vatikanische Konzil betont: „wegen des Fehlens des Weihesakramentes [„defectus ordinis“ K.V.] [ist] die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit (substantia) des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt“1. Ich möchte diese Äußerungen im Blick auf Pannenbergs Abendmahlslehre problematisieren: 1 Das Dekret über den Ökumenismus „Unitatis Redintegratio“, in: K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg i.Br. 1966, Nr. 22; vgl. auch: Nr. 8; Nr. 19–24.
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Die Abendmahlslehre wird von Pannenberg konsequent in einem ekklesiologischen Rahmen situiert. Dadurch können spezifische Verengungen im Verständnis des Herrenmahls aufgebrochen und korrigiert werden, die auch für die konfessionellen Auseinandersetzungen maßgeblich wurden: insbesondere die Fixierung auf die Frage der Wandlung der Elemente von Brot und Wein. In einem zweiten Punkt möchte ich behandeln, wie die geschichtstheologischeschatologischen Grundannahmen Pannenbergs einen überzeugenden Zugang zum Verständnis der Realpräsenz Christi eröffnen. Das Abendmahl ist Darstellung und Vorwegnahme der endgültigen Teilhabe am Heil der zukünftigen Gottesherrschaft, die durch die Gemeinschaft mit Christus vermittelt wird. Das Herrenmahl ist für Pannenberg bestimmt durch eine anamnetische und epikletische Doppelstruktur. Diese Struktur eröffnet wichtige ökumenische Hinweise zur Frage, inwieweit das Herrenmahl ein „Opfer“ ist. Schließlich lässt sich in einem letzten Punkt von Pannenbergs ekklesiologischer Perspektive des Abendmahlsverständnisses noch einmal nach Konsequenzen für das ökumenische Gespräch und für die Frage nach einer Abendmahlsgemeinschaft mit der evangelischen Kirche fragen: Wenn das Herrenmahl Sakrament kirchlicher Einheit ist, wird diese Einheit durch eine bleibende Trennung der Kirchen permanent verletzt. Fordert ein ekklesiologisches Verständnis des Herrenmahles nicht die Möglichkeit der Kommuniongemeinschaft?
Die ekklesiologische Sinnstruktur des Abendmahls
Pannenberg konstatiert bereits in früheren Veröffentlichungen, dass weder „für die ursprüngliche Gestalt der urchristlichen Mahlfeier noch für die Frage ihrer Herkunft von Jesus selbst“2 in der Forschung ein Konsens besteht. Wenn man nicht den dogmatischen Gedanken einer Einsetzung (und die Frage nach dem theologischen Sinngehalt der sakramentalen Feier des Herrenmahles) aufgeben möchte, ist es für Pannenberg notwendig, auf das „Ganze der Jesusüberlieferung“3 einzugehen, um zu einer gesicherten Urteilsbasis bezüglich der Eigenart 2 W. Pannenberg, Die Problematik der Abendmahlslehre aus evangelischer Sicht. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch über das Abendmahl, in: Ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 293–317, hier: 293. Die Theologie stößt somit sowohl hinsichtlich der Eigenart des Abschiedsmahles Jesu als auch hinsichtlich der Frage der Einsetzung durch Jesus selbst angesichts der exegetischen Befunde auf die Problematik der „historischen Urteilsbildung“. W. Pannenberg, STh III, Göttingen 1993, 315. 3 W. Pannenberg, Die Problematik der Abendmahlslehre, 293.
Kirche und Herrenmahl
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und der Frage nach der Einsetzung der Feier des Herrenmahls durch Jesus zu kommen. In der Jesustradition als Ganzer nehmen die Berichte über die Mahlfeiern einen besonderen Platz ein: Die von Jesus gewährte oder angenommene Mahlgemeinschaft wird zur „zeichenhaften Vorwegnahme und Darstellung der eschatologischen Gemeinschaft des Gottesreiches“4. Den Gastmählern, die Jesus in der Zeit seines öffentlichen Wirkens gefeiert hat, kann eine mahlstiftende Funktion zugesprochen werden, insofern die Mahlgemeinschaft mit dem Herrn die Teilnahme am Heil der Gottesherrschaft vermittelt.5 Das letzte Abendmahl Jesu vor seiner Passion kann als Fortsetzung seiner bisherigen Mahlpraxis angesehen werden. Pannenberg ist sich dabei bewusst, dass das letzte Mahl Jesu der Überlieferung nach nicht als offenes Geschehen, sondern im Kreis der Jünger gefeiert wurde.6 Wenn man eine Kontinuität zwischen den Gastmählern Jesu mit den Sündern und dem letzten Mahl Jesu annimmt, dann nicht um das Herrenmahl im Sinne der lutherischen Rechtfertigungslehre dogmatisch zu begründen, wie Joseph Ratzinger kritisch gegen eine solche Begründung des Herrenmahles einwendet.7 Die sachliche Kontinuität zwischen den Gastmählern Jesu und dem letzten Abendmahl liegt vielmehr darin begründet, dass vermittelt durch Jesu Gegenwart das Mahl zur zeichenhaften Vorwegnahme des Heils der Gottesherrschaft wird. Dieser eschatologische Bezug schließt ein kirchenkonstituierendes Moment nicht aus, sondern ausdrücklich mit ein. Die Kirche ist „eschatologische Gemeinde“8. Im Herrenmahl vollzieht sich eine „vorlaufende Darstellung des endzeitlichen Gottesvolkes“9. Einen Interpretationsschlüssel für diese Zusammenhänge bietet nicht zuletzt der eschatologische Ausblick Jesu in Mk 14,25: Jesus feiert das Abendmahl in der
4 W. Pannenberg, STh III, 317. 5 Die Mahlgemeinschaft mit Jesus beinhaltet die Aufhebung alles von Gott Trennenden und hat somit auch eine sündenvergebende Wirkung. Aus diesem Grund wurde „die Mahlgemeinschaft zum Realsymbol der Gemeinschaft mit Gott selbst und der Teilhabe an der Zukunft des Gottesreiches“. A. a. O., 316. 6 Vgl. a. a. O., 358. 7 Gegen eine Herleitung der Eucharistie aus der Praxis der Gastmähler Jesu spreche der „geschlossene Charakter der Eucharistie“; diese habe „von Anfang an feste Zulassungsbedingungen; sie wurde von Anfang an in der Hausgemeinschaft Jesu gefeiert und hat damit die Kirche aufgebaut“. J. Ratzinger, Gestalt und Gehalt der eucharistischen Feier, in: Ders., Das Fest des Glaubens. Versuche zur Theologie des Gottesdienstes, Einsiedeln 1981, 31–54, hier: 41. 8 W. Pannenberg, STh III, 323. 9 A. a. O., 266. Die Tatsache, dass das Abendmahl Jesu im Kreis der Jünger stattfindet, widerspricht nicht seiner universalen Bestimmung, die auf die vollendete Einheit der Menschen mit Gott und untereinander ausgerichtet ist. Dieser für ein sakramentales Denken wichtige Gesichtspunkt kommt m. E. bei Ratzinger nicht genügend zur Geltung.
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Hoffnung auf die Vollendung von Gottes Herrschaft.10 Doch im gebrochenen Brot wird er den Jüngern gegenwärtig bleiben. Die Zusage im Brotwort hat den Charakter einer „testamentarischen Verfügung“11, sie reicht über den Abschied Jesu hinaus. Warum sonst sollte Jesus seine Gegenwart im Brot zusagen? Für das Kelchwort der paulinischen und lukanischen Überlieferung, das Pannenberg als authentisch beurteilt, wird im Anschluss an Jer 31,31ff. der neue Bund von Gott durch Jesu Blut besiegelt und in der Darreichung und im Empfang des Kelches vollzogen. Im Lichte des Kelchwortes bringen die Abendmahlsworte eine Begründung der Jüngergemeinschaft zum Ausdruck, die über den Tod Jesu hinausgeht. Die Gegenwart der eschatologischen Vollendung im Mahl entspricht dabei dem Gedanken eines neuen Bundes, so dass das Mahl „die Bedeutung eines Bundesmahles in Analogie zu Ex 24,11 [erhält], so sehr sein Ablauf vom letzteren abweicht“12. Damit kommt dem letzten Mahl Jesu eine entscheidende Bedeutung für das Entstehen der Kirche zu.13 Die Kirche wird nicht primär auf der äußerlichen Ebene einer Organisation konstituiert, sondern auf der Ebene des darstellenden Handelns. Als Zeichen bewirkt die Feier des Herrenmahls das, was sie darstellt: die eschatologische Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander, ohne schlechthin mit dieser zusammenzufallen. „Das Sein der Kirche besteht primär in der Zeichenhandlung des Mahles selbst als Zeichen der Gegenwart der Gottesherrschaft und der darin begründeten Vollendung aller menschlichen Gemeinschaft“14. Die Feier des Herrenmahls hat als sakramentales Geschehen eine konstitutiv ekklesiale Funktion. Von daher lässt sich Pannenbergs Verständnis des Herrenmahls nicht darauf reduzieren, nur eine „Spielart […] des einen Rechtfertigungsgeschehens“15 darzustellen; so der Einwand, der von katholischer Seite gegen den lutherischen Sakramentenbegriff erhoben wird. Wenn Pannenberg die Kirche als „Zeichen und Werkzeug“16 der eschatologischen Bestimmung der 10 Pannenbergs Sichtweise wird durch jüngere exegetische Darstellung bestätigt. Vgl. Th. Söding, „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“. Das Abendmahl Jesu und die Eucharistie der Kirche nach dem Neuen Testament, in: Ders. (Hg.), Eucharistie. Positionen katholischer Theologie, Regensburg 2002, 11–58. 11 W. Pannenberg, STh III, 321. 12 A. a. O., 320. 13 Die Gründung der Kirche kann sich somit für Pannenberg nicht auf die Berufung der Zwölf stützen, insofern diese das alttestamentliche Gottesvolk repräsentieren. Das bei Matthäus überlieferte Felsenwort (Mt 16,18 f.) setzt hingegen die Kirche schon voraus, indem es Petrus darin eine hervorragende Funktion zuweist. 14 A. a. O., 323. 15 So K. Lehmann, Einheit der Kirche und Gemeinschaft im Herrenmahl. Zur neueren Diskussion um Eucharistie und Kirchengemeinschaft, in: Th. Söding (Hg.), Eucharistie. Positionen katholischer Theologie, Regensburg 2002, 141–175, hier: 150. 16 W. Pannenberg, STh III, 323.
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Menschheit bezeichnet, so entspricht dies dem sakramentalen Kirchenverständnis des 2. Vatikanums.17 Ein sakramentaler Kirchenbegriff versteht die Kirche nicht primär als juridische Organisation, sondern als durch den dreifaltigen Gott eröffneten Raum der Gemeinschaft mit ihm und untereinander.18 Pannenbergs eucharistisch geprägter Kirchenbegriff und das sakramentale Kirchenverständnis des 2. Vatikanums kommen darin überein, dass eine einseitige Fixierung der Kirche auf organisatorisch-sichtbare und hierarchische Strukturen zu korrigieren ist. Dies kann die katholische Theologie im Blick auf Pannenbergs Abendmahlslehre lernen, bevor sie wieder einseitig den Akzent des sakramentalen Kirchenverständnisses auf seine gesellschaftlich-hierarchische Konkretion legen wird.19 Zunächst ist jedoch festzuhalten: Mit einer ekklesiologischen Bestimmung des Herrenmahls kann Pannenberg die Probleme vermeiden, die seit dem Mittelalter in der Auseinandersetzung um das Verständnis des eucharistischen Sakraments maßgeblich wurden und zu (spezifisch katholischen) Verengungen führten. Dabei handelt es sich vor allem um eine einseitige Fixierung der Gegenwart Christi auf die eucharistischen Gaben und um den Opfercharakter der Eucharistie20.
2.
Geschichtstheologisch-ekklesiales Verständnis der Realpräsenz
Die mittelalterlichen Auseinandersetzungen um die Eucharistie sind geprägt davon, dass das patristische Symbol- und Bilddenken immer stärker an Plausibilität verlor und ein dinghaft-realistisches Verständnis der Gegenwart Christi im Sakrament – vor allen Dingen in den Streitigkeiten um Berengar von Tours – 17 „Die Kirche ist [ ja] in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“. Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“, in: K. Rahner/ H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg i.Br. 1966, Nr. 1. 18 Mit der Rückbindung der Kirche an die biblisch-patristischen Gedanken des Mysteriums bzw. Sakramentes verbindet das Konzil das Anliegen, ein einseitig juridisch orientiertes Kirchenverständnis zu korrigieren. Vgl. zum Ganzen: M. Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992, 63–163. 19 Vgl. W. Löser, Die Diskussion um die Eucharistiegemeinschaft in der katholischen Theologie, in: Th. Söding (Hg.), Eucharistie. Positionen katholischer Theologie, Regensburg 2002, 178– 203, hier: 189–193. 20 Vgl. F. X. Bischof u. a., Einführung in die Geschichte des Christentums, Freiburg i.Br. 2012, 532–543. Spätestens mit dem Konzil von Trient, welches Bischof unter der Überschrift „Katholische Selbstbehauptung und konfessionelle Abgrenzung“ (a. a. O., 532) behandelt, werden diese Engführungen Bestandteil der katholischen Lehre.
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prägend wurde.21 Die mittelalterliche Lehre von der Transsubstantiation wendete sich gegen extrem realistische Vorstellungen der eucharistischen Gegenwart und versuchte, wie Pannenberg betont, zu klären, wie „trotz der Wandlung des inneren Wesens von Brot und Wein deren äußere Merkmale auch nach der Wandlung noch für die Wahrnehmung bestehen können“22. Im Kontext der aristotelischen Ontologie steht die Transsubstantiationslehre vor dem gravierenden Problem, den Fortbestand der Akzidentien ohne ein Inhäsionssubjekt verstehbar zu machen. Exakt dies behauptet die Transsubstantiationslehre, wenn sie mit der Wesensverwandlung zugleich „den Fortbestand der Gestalten von Brot und Wein […] zu denken fordert“23. Angesichts dieser Schwierigkeiten wurde die Transsubstantiationslehre zu einer Theorievariante neben anderen, weshalb sich Luther nicht an sie gebunden fühlte und von einer Weiterexistenz der Brot- und Weinsubstanz nach der Konsekration ausging, was der von Duns Scotus vertretenen Lehre der Konsubstantiation ähnelt.24 Wird eine ökumenische Annäherung im Eucharistieverständnis jedoch durch die tridentinische Verteidigung der Transsubstantiationslehre und Verurteilung der reformatorischen Konsubstantiationslehre ausgeschlossen? Im Anschluss an Karl Rahner lässt sich festhalten, dass die Lehre des Konzils von Trient nicht die aristotelische Begrifflichkeit von Substanz und Akzidenz dogmatisiert. Die Rede von einem Substanzwandel in der Eucharistie ist in erster Linie eine sprachlogische Erklärung, sie meint nicht eine ontische oder physische Erläuterung der Worte Christi.25 Das Konzil will allein aussagen, dass im Her-
21 Vgl. dazu auch: A. Gerken, Theologie der Eucharistie, München 1973, 97–156; H. Hoping, Mein Leib für euch gegeben. Geschichte und Theologie der Eucharistie, Freiburg i.Br. 2011, 193–229. 22 W. Pannenberg, STh III, 328. 23 D. Ansorge, Jenseits von Begriff und Vorstellung. Das Wunder der Eucharistie im Mittelalter, in: F. Bruckmann (Hg.), Phänomenologie der Gabe. Neue Zugänge zum Mysterium der Eucharistie (QD 270), Freiburg i. Br. 2015, 67–103, hier: 91. Vgl. auch den Beitrag insgesamt. 24 Wenz macht darauf aufmerksam, dass sich der Begriff „consubsantiatio“ bei Luther nicht findet. Dass Luther eine die Inkarnation multiplizierende Impanation vertreten hat, lässt sich nicht sagen. Wohl aber vergleicht er das Verhältnis von Leib Christi und Brot mit dem Verhältnis der beiden Naturen in Christus. Vgl. G. Wenz, Für uns gegeben. Grundzüge lutherischer Abendmahlslehre im Zusammenhang des gegenwärtigen ökumenischen Dialogs, in: M.M. Garijo-Guembe u. a. (Hg.), Mahl des Herrn. Ökumenische Studien, Frankfurt a.M. 1988, 223–338, hier: 262–263. 25 Das Konzil selbst spricht zwar im Dekret über die Eucharistie ein eindeutiges Anathema aus, allerdings hält es gleichzeitig fest, dass der Begriff „Transsubstantiation“ für die bezeichnete „mirabilem […] conversionem“ „aptissime“ (DH 1652), also höchst angemessen, sei. Diese Formulierung schließt andere Deutungen, die mit dem Kanon zu harmonisieren sind, nicht per se aus. Der Ausdruck selbst stammt zudem aus einem anderen Kontext: Das IV. Laterankonzil (1215) hatte ihn in Abgrenzung zu den Lehren der Katharer verwendet. Vgl. F. X. Bischof, Einführung in die Geschichte des Christentums, 515–517; 536 f.
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renmahl nicht Brot, sondern der Leib Christi dargereicht wird.26 Pannenberg kann auf einen weitgehenden theologischen Konsens zurückgreifen, der im Unterschied zu einer dinglich aufgefassten Gegenwart von Leib und Blut Christi von einer Personengegenwart Christi in den eucharistischen Gaben spricht. Christus ist in Brot und Wein gegenwärtig, „wie das Bezeichnete im Zeichen als dem Anzeichen seiner Gegenwart da ist“27. Ein solches, realsymbolisches Verständnis von Gegenwart trifft sich für Pannenberg mit den in der katholischen Theologie entwickelten Vorstellungen einer Transsignifikation, einer Bedeutungsänderung, die die Elemente durch die Einsetzungsworte Jesu erhalten. Eine Bedeutungsänderung darf sich jedoch nicht auf einer rein subjektiven Ebene vollziehen, sondern muss die Identität und somit auch die Substanz einer Sache betreffen. Ein Transsignifikationsmodell kann für Pannenberg nicht als Alternative, sondern als Interpretationsmodell der Transsubstantiation verstanden werden. Dies kann im Rahmen eines relationalen und geschichtlich gedachten Wesensbegriffs geschehen. Diltheys Einsicht, dass sich die Bedeutung der Ereignisse und Dinge im Fortgang der Zeit mit der Veränderung des geschichtlichen Kontextes ändert, bezieht Pannenberg auf die Frage nach dem Wesen der natürlichen Ereignisse und Dinge. Denkt man mit Hegel den Wesensbegriff relational, dann ist das Wesen der Dinge nicht als zeitlose Identität zu verstehen, sondern bezogen auf deren geschichtliche Erscheinung bzw. deren geschichtliche Daseinsmomente. Das Wesen einer Sache ist solange noch nicht endgültig bestimmt, wie sich im Prozess der Geschichte sein Bedeutungshorizont verändert. Erst das Ganze der Geschichte – und das impliziert für Pannenberg: die eschatologische Vollendung der Geschichte – wird über das Wesen der Dinge und Ereignisse entscheiden. Soweit jede Sache oder jedes Ereignis im Lauf der Geschichte schon sein besonderes Wesen hat, handelt es sich um eine Antizipation der endgültigen Wesenszukunft schon in der Zeit ihres Daseins.28 Auf der Grundlage eines zeitlichrelational gedachten Wesensbegriffs erweist sich Transsubstantiation nicht als ein supranaturales Geschehen, sondern als ein „alltäglicher Vorgang“ der alles 26 Der aristotelische Substanzbegriff meint in seiner Grundbedeutung das, was ist (to ti estin). Die Schwierigkeiten, die die Transsubstantiationslehre betreffen beziehen sich auf seine Näherbestimmung der Substanz, Grundlage (hypokeimenon) aller Einzelbestimmungen (Akzidentien) zu sein. Wird der Substanzbegriff in seiner Grundbedeutung genommen, ist eine Deutung im Sinne Rahners zulässig. 27 W. Pannenberg, STh III, 332. 28 Vgl. W. Pannenberg, STh I, Göttingen 1988, 376–389. Die Zukunft hat einen ontologischen Vorrang für die Bedeutung und das Wesen der Dinge: Als antizipierte sichert sie die Identität zwischen dem Wesen einer Sache und seinen geschichtlichen Daseinsmomenten; als noch offene Zukunft ist sie zugleich Prinzip der Differenz zwischen Wesen und Dasein. Vgl. K. Vechtel, Trinität und Zukunft. Zum Verhältnis von Trinitätstheologie und Philosophie im Denken Wolfhart Pannenbergs (FTS Bd. 62), Frankfurt a.M. 2001, 38–54.
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Seiende betrifft (unter der Voraussetzung, „dass die endgültige Transsubstantiation erst das Ergebnis der eschatologischen Zukunft Gottes sein wird“29). Kann der Wandel von Brot und Wein im Herrenmahl als endgültig angesehen werden oder bleibt dieser auch vorläufig, offen für geschichtliche Revision und neue Transsignifikationen? Für Pannenberg ist eine solche Revision insofern ausgeschlossen, als Brot und Wein im Herrenmahl zum Verzehr dargereicht werden. Das Zeichen gewordene Brot verschwindet und es bleibt nur das Bezeichnete, der Leib Christi, der den Gläubigen zu Eigen geworden ist und sie in den Leib Christi verwandelt. Dies entspricht der von der Reformation betonten Hinordnung der Zusage der Gegenwart Jesu auf den Gebrauch der Elemente. Eine solche, ekklesiologisch finalisierte Auffassung der Wandlung widerspricht m. E. nicht einem katholischen Eucharistieverständnis, zumal Pannenberg betont: Für die lutherische Lehre erstreckt sich die von Christus verheißene Gegenwart nicht nur auf den gläubigen Empfang oder den Akt des Verzehrs, sondern auf die ganze Mahlfeier30. Noch die mittelalterliche Theologie kennt im Gefolge der augustinischen Eucharistielehre die folgende Differenzierung: Sie unterscheidet neben Brot und Wein (dem sacramentum tantum), Leib und Blut Christi, die in den Zeichen von Brot und Wein enthalten sind. Die Verwandlung in Leib und Blut Christi stellt nicht das eigentliche Ziel des Sakraments, sondern eine Zwischenwirkung bzw. -wirklichkeit (res et sacramentum) dar. Leib und Blut Christi sind selbst Zeichen für die res sacramenti, auf die das Sakrament hinzielt und die das Sakrament bewirken soll, nämlich „unitas corporis mystici“31. Der Sinn des Herrenmahles, so betont der italienische Jesuit Cesare Giraudo aufgrund seiner Analysen der biblisch-theologischen Struktur der Hochgebete der frühen Kirche, liegt nicht primär in einer Verwandlung der eucharistischen Gaben, sondern in einer Transformation und Verwandlung der Teilnehmenden, also in einer durch die personale Gegenwart Christi in den Gaben vermittelte Teilhabe an seinem Pascha-Mysterium und an seiner eschatologischen Herrlichkeit32. 29 W. Pannenberg, STh III, 334. 30 Aus diesem Grund trifft die Verurteilung der Auffassung, dass die Gegenwart Christi auf den Akt des Verzehrs eingeschränkt sei (vgl. DH 1654), durch das Konzil von Trient auch die lutherische Lehre nicht. 31 STh IIIq.73a.3c; vgl. zum Ganzen: E. Dassmann, Augustinus. Heiliger und Kirchenlehrer, Stuttgart u. a. 1993, 156–165; E. Kunz, Eucharistie – Ursprung von Kommunikation und Gemeinschaft, in: ThPh 54 (1982), 321–345. 32 Giraudo sieht die Wurzeln des eucharistischen Gottesdienstes in einem Strukturschema alttestamentlich-jüdischer Herkunft. Die theologisch-gedankliche Struktur der eucharistischen Gebete besteht aus zwei Teilen: einem geschichtlich-gedenkenden bzw. anamnetischen Teil und einem bittenden bzw. epikletischen Teil. In diese Zweierstruktur ist der Einsetzungsbericht als Schriftzitat in direkter Rede (Embolismus) eingefügt. Das Zitat des Einsetzungsberichtes trägt und begründet als zentraler Höhepunkt die gesamte Feier. Die eucha-
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Die katholische Theologie sollte von Pannenberg lernen, dass die lutherische Lehre des in der Einsetzung Jesu begründeten „Gebrauchs“ (usus) des Sakraments der ekklesiologischen Sinnstruktur des Abendmahls entspricht und auf eine Verwandlung der Gläubigen in den Leib Christi zielt. Diese Ausrichtung der eucharistischen Gaben auf den Empfang und auf die Einheit des Leibes Christi bedeutet nach einer Formulierung von Karl Rahner nicht nur, dass Jesus Christus mit Gottheit und Menschheit gegenwärtig ist, „indem er empfangen wird, sondern zuvor gegenwärtig ist, damit er leibhaftig empfangen werden könne“33. Diese endgültige, geschichtlich nicht mehr überholbare Gegenwart Christi, die den Gebrauch der Gaben ermöglicht, bringt Pannenberg sehr schön zum Ausdruck: Der Bedeutungswandel, der an Brot und Wein geschieht, „ist nicht mehr überholbar durch andere Bedeutungserfahrungen, die das Wesen dieses Brotes und dieses Weines modifizieren könnten“. Er hat „unüberholbaren, eschatologischen Sinn“34, weil im Herrenmahl das Heil der Gottesherrschaft (in und vermittelt durch den auferstandenen Christus) gegenwärtig ist. Pannenbergs Verständnis der Realpräsenz auf dem Hintergrund seines geschichtlich-dynamisierten Wesensbegriffs bietet einen wichtigen, originären Beitrag zum Verständnis des Herrenmahls, weil er nicht mit den Schwierigkeiten einer aristotelischen Ontologie belastet ist, andererseits jedoch auch nicht die Schwierigkeiten einer Transsignifikationslehre teilt, die eine ontologische Relevanz eines Bedeutungswandels nicht bestimmen kann.
ristische Versammlung bittet um Versöhnung mit Gott und um Anteil am Pascha Christi; indem sie dabei die Worte des Herrn selbst zitiert, verleiht sie ihrem Gebet höchste Autorität. Vgl. C. Giraudo, In unum corpus. Trattato mistagogico sull′eucharistia, Mailand 2001, 245– 266; vgl. auch: H. Vorgrimler, Sakramententheologie, Düsseldorf 31992, 169–218; H.-B. Meyer, Das Werden der literarischen Struktur des Hochgebetes, in: ZKTh 105 (1983), 184–202. 33 K. Rahner, Eucharistische Anbetung, in: GuL 54 (1981), 188–191, hier: 190 (Hervorhebungen von K.V.). Die vorgängige Gegenwart Christi, die erst seinen leibhaftigen Empfang ermöglicht, ist die Grundlage für die Praxis der Krankenkommunion sowie für die Verehrung und den angemessenen Umgang mit den nicht verzehrten konsekrierten Elementen nach dem Ende des Gottesdienstes; Pannenberg sieht bezüglich dieser Punkte keinen grundsätzlichen Dissens zur lutherischen Tradition. Vgl. W. Pannenberg, STh III, 335; vgl. hierzu auch: Gemeinsame römisch-katholische und evangelisch-lutherische Kommission, Das Herrenmahl, Paderborn 1978, 88–92. 34 W. Pannenberg, Die Problematik der Abendmahlslehre, 311.
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Klaus Vechtel SJ
Der anamnetische und epikletische Charakter des Herrenmahls
Der entscheidende Fortschritt über die konfessionellen Schranken hinweg, die durch die Kontroversen der Reformationszeit entstanden sind, liegt für Pannenberg in der Wiederentdeckung des anamnetischen Charakters der Feier des Herrenmahls. Eine Neugewichtung dieser Dimension des Mahls hilft nicht nur, ein auf die Gaben reduziertes Verständnis der Gegenwart Christi zu überwinden;35 es erlaubt auch einen Ausweg aus den Kontroversen der Reformationszeit um den Opfercharakter des Abendmahls. Die einseitige Konzentration auf die Realpräsenz Christi in den Gaben führte seit dem Mittelalter zu einer Entleerung der gottesdienstlichen Handlung, die mehr und mehr aus dem Sakramentenbegriff herausfällt. Die Einheit von Kreuzesgeschehen und dem darstellenden eucharistischen Zeichen konnte nicht mehr aufrecht erhalten werden36. Die spätmittelalterlich geäußerte Vorstellung des Messopfers als einer Art Ergänzungsopfer zum Kreuz ruft Luthers Kritik an der Werkgerechtigkeit des Messopfers hervor. Trient betont für Pannenberg die Einmaligkeit des Kreuzesopfers Jesu, allerdings kann der Anschein einer symbolisch-sakramentalen Wiederholung des Opfers Christi erst durch ein vertieftes Verständnis des anamnetischen Charakters der Feier des Herrenmahls ausgeschlossen werden: Der christliche Gottesdienst ist demnach sakramentale Darstellung und Vergegenwärtigung des Pascha-Mysteriums. Im vergegenwärtigend-anamnetischen Feiern vollzieht sich eine Aneignung, nicht eine Wiederholung des Kreuzesopfers. Damit geht jedoch die anamnetische Gestalt des Herrenmahls für Pannenberg auch über die reformatorische Vorstellung einer bloßen Zueignung (applicatio) der Wirkungen des Versöhnungsgeschehens hinaus. Insofern der Gedanke der Anamnese ein Gegenwärtigwerden des Versöhnungsgeschehens in der sakramentalen Handlung impliziert, gibt der gläubige Vollzug nicht nur „an der Frucht des Opfers Christi, sondern auch an dessen Vollzug Anteil“37. Dies entspricht sowohl den neueren katholischen Überlegungen zum Opfercharakter des Abendmahls als auch dem lutherischen Glaubensbegriff, der eine echte Teil35 Die Gegenwart Christi kann nicht als ein Herabsteigen des Erhöhten in die eucharistischen Gaben verstanden werden, sondern vollzieht sich im Medium des Gedenkens an die irdische Geschichte und Passion Jesu. Dabei handelt es sich bei der Anamnese nicht um einen Akt menschlichen Erinnerns, sondern um ein Wirken des Geistes Christi. 36 Die Trennung von sacramentum und sacrificium schafft den „Tatbestand, auf den sich die Kritik Luthers bezog“. W. Pannenberg, STh III, 341; vgl. zum Ganzen: Th. Schneider, Opfer Christi und der Kirche. Zum Verständnis der Aussagen von Trient, in: K. Lehmann/E. Schlink, Das Opfer Jesu Christi und seiner Kirche. Klärungen zum Opfercharakter des Herrenmahles, Freiburg i. Br. 1983, 176–195; A. Gerken, Theologie der Eucharistie, 126–156. 37 W. Pannenberg, STh III, 348; vgl. auch: Ders., Die Problematik der Abendmahlslehre, 304– 306.
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nahme an der Wirklichkeit Christi – als Wirklichkeit extra nos – beinhaltet.38 Die Feier des Abendmahls ist „als Eingehen der Kirche in die Hingabe Jesu Christi, d. h. als Darbringung unserer selbst durch, mit und in Christus als lebendige Opfergabe in den Zeichen von Brot und Wein“39 zu verstehen.40 Für das Verständnis der Abendmahlsanamnese ist entscheidend, dass es sich nicht um einen bloßen Akt menschlichen Erinnerns handelt, sondern um eine „Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi durch seinen Geist“41. Aus diesem Grund charakterisieren „Anamnese und Epiklese […] die liturgische Gestalt der Feier des Herrenmahls“42. Pannenberg wendet sich immer wieder gegen eine Vorstellung, die die Gegenwart Christi analog zur Inkarnation als ein unmittelbares Herabkommen des Erhöhten in die Gestalten von Brot und Wein denkt. Entsprechend kann auch die Anrufung des Geistes in der Feier des Herrenmahls nicht primär mit Inkarnationsvorstellungen in Verbindung gebracht werden, sondern ist sachgemäßer mit der Auferweckung Jesu durch den Geist zu verbinden. Durch Epiklese und Anamnese wird im eucharistischen Gottesdienst das Pascha-Mysterium, Tod und Auferstehung Jesu, vergegenwärtigt. Dabei wird das zukünftige Heil der Gottesherrschaft für die Gläubigen antizipiert, indem sie am Leib Christi Anteil erhalten und in den Leib Christi eingefügt werden. Das verwandelnde Wirken des Geistes bezieht sich nicht nur auf die Elemente, sondern hat eine ekklesiologische und eschatologische Funktion: Die Teilnehmenden werden durch den Leib Christi zur eschatologischen Gemeinde und stellen zeichenhaft die eschatologische Weltverwandlung durch das Wirken des Geistes dar. 38 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Gemeinde bzw. der Liturge in diesem anamnetischen Geschehen nicht als Subjekt der Darbringung neben Christus aufgefasst wird. Die katholische Lehre bringt dies insofern zum Ausdruck, als der Priester in persona Christi handelt. Vgl. Pannenberg, STh III, 348. 39 So Pannenberg im Anschluss an die Ergebnisse des ökumenischen Arbeitskreises zur Klärung des Opfercharakters des Herrenmahles. A. a. O., 349; vgl. auch: Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Das Opfer Jesu Christi und der Kirche. Abschließender Bericht, in: K. Lehmann/E. Schlink, Das Opfer Jesu Christi und seiner Kirche. Klärungen zum Opfercharakter des Herrenmahles, Freiburg i.Br. 1983, 215–238, hier 263. 40 Die konfessionelle Kontroverse um den Opfercharakter des Herrenmahls wird für Pannenberg noch einmal entschärft im Blick auf den biblisch-theologischen Befund: Die überlieferte Mahlhandlung ist nicht primär als Selbstdarbringung Jesu an den Vater zu verstehen: Als Opfer ist die Selbsthingabe Jesu nur im Sinne des Gehorsams gegenüber der vom Vater empfangenen Sendung zu verstehen (vgl. Röm 5,19; Hebr 5,8). Der Gehorsam Jesu betrifft seine Sendung zum Zeugnis für die Gegenwart der Gottesherrschaft. Sein Tod ist die Konsequenz seines Gehorsams. Das im Mahl dargereichte Brot ist „Zeichen seiner Hingabe an seine Sendung zur Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft bei den Menschen, der dargereichte Becher [ist] aber Zeichen für die Besiegelung dieser seiner Hingabe durch seinen Tod und für den darin begründeten Neuen Bund Gottes mit den Menschen. So deutet das Herrenmahl besonders durch das Kelchwort den Sinn des bevorstehenden Todes Jesu am Kreuz“. W. Pannenberg, STh III, 351; vgl. ders., Die Problematik der Abendmahlslehre 307–309. 41 W. Pannenberg, STh III, 339. 42 A. a. O., 337.
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Die Vollendung der Verwandlung der Welt als Ganzer steht noch aus. Sie hat in Jesu Tod und Auferstehung begonnen und ist in Gestalt des Herrenmahles „wirksame Gegenwart“43.
4.
Herrenmahl und Einheit der Kirche
In Pannenbergs Abendmahlslehre kommt dem Herrenmahl eine konstitutive Rolle für die Begründung und die Einheit der Kirche zu: Das eucharistische Sakrament konstituiert die eschatologische Gemeinschaft, indem es am Heil der zukünftigen Vollendung der Gottesherrschaft Anteil schenkt. Die katholische Theologie kann von Pannenberg lernen, die Realpräsenz Christi in den Gaben nicht isoliert, sondern in einem ekklesiologischen und eschatologischen Rahmen zu verstehen: Die eschatologische Verwandlung der Welt wird in der Wesensverwandlung der Gaben und der Verwandlung der Menschen in den Leib Christi vorweggenommen und ist innerhalb dieses Rahmens verstehbar zu machen. Dabei ist die Kirche im Handeln und in der Hingabe Christi nicht nur in einer rein passiven Rolle des Empfangens und Beschenktwerdens, wie von katholischer Seite dem evangelischen Sakramentenverständnis entgegengehalten wird.44 Innerhalb der anamnetisch-epikletischen Struktur des christlichen Gottesdienstes lässt sich die Kirche hineinziehen in die Hingabe Christi, ohne damit ein selbstständiges Subjekt neben dem in ihr gegenwärtigen Herrn zu sein: Weil die katholische Theologie betont, dass sich das darstellende Handeln des Priesters in persona Christi vollzieht, kann sie von Pannenberg lernen, dass es sich bei der kirchlichen Teilnahme an der Hingabe Christi um eine „Teilnahme an der Wirklichkeit Christi extra nos“45 handelt. Pannenberg zieht aus dem Verständnis des Herrenmahls als Sakrament kirchlicher Einheit für die Frage der Abendmahlsgemeinschaft wichtige Schlüsse: Wo die Gemeinschaft mit allen, die Christus gehören, bei der Feier des Herrenmahls nicht gewahrt wird, liegt ein Verstoß gegen die kirchliche Einheit und Communio vor. In der Feier des Herrenmahls der getrennten Kirchen sei Christus deshalb nicht nur zum Heil, sondern „immer auch zum Gericht über die Spaltungen der Christen gegenwärtig“46. Die Darstellung der kirchlichen Einheit 43 A. a. O., 357. 44 So K. Lehmann, Einheit der Kirche, 150 f., der davon spricht, dass die das Abendmahl feiernde Gemeinde auch Subjekt des Gottesdienstes ist. 45 W. Pannenberg, STh III, 348. Das Herrenmahl ist „nicht Mahl der Kirche, sondern das Mahl des Herrn in seiner Kirche. Die Einladung Jesu, der der Liturg zu dienen hat, indem er an Jesu statt (in persona Christi) die Einsetzungsworte spricht, richtet sich an alle seine Jünger.“ A. a. O., 362. 46 A. a. O.
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in der Feier des Herrenmahls darf nicht zum Ausschluss anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften führen, wenn nicht das Herrenmahl paulinisch gesprochen zum Gericht werden soll (1 Kor 11,29). Die Teilnahme am Herrenmahl ist damit keinesfalls beliebig geworden: Aus dem Charakter des Abschiedsmahls Jesu als Jüngermahl folgt für Pannenberg – anders etwa als für Jürgen Moltmann –, dass der Wille zur Gemeinschaft mit Christus und damit auch die Taufe Bedingung der Zulassung zum Abendmahl sind (vgl. auch: Did 9,5).47 Der Einheits- und Gemeinschaftscharakter der Teilnahme am Herrenmahl kommt für Pannenberg darin zum Ausdruck, dass die verschiedenen Ortskirchen sich nicht nur gegenseitig anerkennen, sondern auch dadurch, „dass der Amtsträger […] unter Mitwirkung der anderen Ortskirchen und durch ein übergeordnetes Amt der Kirchenleitung in sein Amt berufen wird“48. Die Wortverkündigung und die Sakramentenverwaltung sind laut Pannenberg gebunden an die Ordination. Weder kann die Ordination durch eine Beauftragung ersetzt, noch kann das kirchliche Amt auf das allgemeine Priestertum als Quelle einer durch Delegation verliehenen Amtsvollmacht zurückgeführt werden.49 Damit gehört das Amt – wie es dem katholischen Verständnis entspricht – zu den konstitutiven Elementen der Kirche in einer der Einheit durch Verkündigung und Sakramentenspendung dienenden Funktion.50 Für das katholische Verständnis setzt eine Abendmahlsgemeinschaft den vollständigen Glauben voraus, der auch institutionell sichtbar ist. Zu fragen ist allerdings, inwieweit eine solche Auffassung der eucharistischen Gemeinschaft in der heutigen Glaubenssituation sinnvoll ist oder nicht auch zu einer Verletzung der Einheit führt, vor der Pannenberg warnt. Meiner Wahrnehmung nach haben die Grenzen zwischen den Konfessionen und auch die unterschiedlichen Akzente im Lehrverständnis insgesamt an Bedeutung verloren. Entscheidender ist vielmehr die Frage geworden, inwieweit Christen und Christinnen sowohl innerhalb 47 Dieser Wille nach Gemeinschaft und gemeinsamem Zeugnis für Christus drückt sich auch in der von Papst Franziskus und dem Vorsitzenden des LWB, Munib Younan, unterzeichneten ökumenischen Erklärung zum Reformationsgedenken (31. Oktober 2016, Lund) aus. Der Text im Wortlaut in: http://de.radiovaticana.va/news/2016/10/31/die_%C3 %B6kumenische_erkl%C3 %A4rung_von_lund/ 1269072 (letzter Zugriff: 12. 12. 2016). 48 W. Pannenberg, STh III, 361. 49 Der Streit um die Gültigkeit der Ordinationen ließe sich für Pannenberg dadurch klären, dass die evangelischen Kirchen ihre Ordinationspraxis im Sinne der lutherischen Bekenntnisschriften als Ausdruck eines Notrechts verstehen. Vgl. a. a. O., 435–441. 50 Von katholischer Seite werden als die entscheidenden strittigen Punkte im ökumenischen Gespräch immer wieder das Kirchen- und das Amtsverständnis angeführt: Ist die Kirche mehr als ein Ereignis, das überall dort zu finden ist, wo rechte Evangelienverkündigung und Sakramentenspendung anzutreffen sind? Vgl. K. Lehmann, Einheit der Kirche, 166–171; W. Kasper, Die Früchte ernten. Grundlagen des christlichen Glaubens im ökumenischen Dialog, Paderborn 2011, 174–210; W. Löser, Die Diskussion um die Eucharistiegemeinschaft, 188– 193.
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der katholischen als auch innerhalb der evangelischen Kirchen und Gemeinschaften grundsätzlich an einem rational begründeten Verständnis des Glaubens festhalten, das in einem offen-dialogfähigen Verhältnis gegenüber der Moderne begründet ist. Das weltweite Erstarken von evangelikalen und pentekostalen Gruppierungen auf evangelischer Seite bzw. von traditionalistisch-integralistischen Bewegungen und Gemeinschaften auf katholischer Seite ist in diesem Zusammenhang bezeichnend für eine Distanzierung von rationalen Glaubensbegründungen im Kontext der Moderne. Pannenbergs Theologie und auch sein Verständnis von Kirche und Abendmahl stehen für einen Glauben, der an der Vernunftgemäßheit der christlichen Botschaft im Gespräch mit der Moderne festhält. Die katholische Theologie sollte von Pannenberg lernen, sich auf dieses Gespräch und auf die damit verbundenen Herausforderungen für eine rationale Begründung des Glaubens einzulassen. Sie kann von Pannenberg aber auch lernen, bestimmte Vorurteile gegenüber dem evangelisch-lutherischen Kirchen- und Sakramentenverständnis abzubauen. Die Auseinandersetzung mit dem Denken Pannenbergs dürfte sowohl für evangelische als auch für katholische Theologie eine wichtige Quelle auf dem Weg zur Einheit der Kirchen bilden.
Stefan Dienstbeck
Extra ecclesiam nulla salus? Ein ökumenischer Blick auf die Verhältnisbestimmung von Individualität und Sozialität in Wolfhart Pannenbergs Kirchenverständnis
Die Frage nach dem individuellen Heil sowie dem Heil der ganzen Schöpfung bewegt die Christen seit Anbeginn. Bereits im Auftreten Jesu von Nazareth und in der evangelischen Koppelung vom Eingehen in das Reich Gottes und Stellung zu Jesu sowie demjenigen, den er als seinen Vater anspricht, drückt sich das Bedürfnis der frühen Christen aus, in Jesus tatsächlich den in der Thora verheißenen Messias gefunden zu haben, in dem Gott die unversöhnte Welt ihrer Vollendung und Heiligung zuführt. Gemeinsamer Bezugspunkt der frühen Christenheit ist hierbei die Person Jesu, den sie nach seinem Tod im Christustitel als ihren Messias bekennt und in dem individuelles Heil sowie Gemeinschaft mit denen kulminieren, die in Jesus Christus ebenfalls ihr Heil erblicken. Letzteres wird paradigmatisch und zugleich als Inbegriff christlicher Gemeinschaft im Herrenmahl der versammelten Gottesdienstgemeinde deutlich. Wolfhart Pannenberg hat die Kirche der versammelten Glaubenden daher nicht umsonst als „messianische Gemeinde ihres Herrn“1 bezeichnet. Der Zusammenhang von Einzelnem und Glaubensgemeinschaft lässt sich – wie bereits in altkirchlicher Zeit angelegt – aus dem gemeinsamen Herkommen beider Größen von Jesus Christus erschließen. Insofern unterscheiden sich Christen und Juden dahingehend, dass Letztere ihren überindividuellen Bezugspunkt als Volk innerhalb einer Generationenfolge finden, Erstere hingegen eine ‚Wahlverwandtschaft‘ aus Glaube und Taufgemeinschaft bilden. (Vgl. STh III, 116) Dem Christsein wohnt daher allein aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen, die niemals genealogischer Wurzel entspringen können, die Frage nach dem Verhältnis von individuellem Glauben und dessen vergemeinschafteter Äußerung inne, die sich üblicherweise im Rahmen der Kirche oder doch zumindest gottesdienstlicher Gemeinde äußert. Dass andere außer seiner selbst ebenfalls Christus als ihren Herrn und Heiland bekennen, ist dem Christen-Ich zwar au1 W. Pannenberg, STh, III, Göttingen 1993, 116. Im Folgenden wird der dritte Band der Systematischen Theologie Pannenbergs als „STh III“ direkt im fortlaufenden Text in Klammern zitiert.
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Stefan Dienstbeck
genfällig; ob der Bezug zu den anderen Christen jedoch konstitutiv für das eigene Christsein ist und wie sich der Zusammenschluss mit ihnen ggf. gestaltet, ergibt sich daraus allerdings nicht unmittelbar: „Wird die Kirche durch den Zusammenschluß der gläubigen Individuen gebildet? Ist nicht vielmehr umgekehrt der Glaube des einzelnen als immer schon durch die Kirche vermittelt zu denken, so daß der Kirche die Priorität vor den einzelnen Christen zukäme? Was aber wäre die Kirche, wenn nicht Gemeinschaft von an Jesus Christus glaubenden einzelnen?“ (STh III, 115) Eine unmittelbare Antwort auf derartige Fragen vermag nach Pannenberg nur die eschatologische Vollendung der Schöpfung zu geben – und dennoch kann eines als ausgemacht gelten: „Die Kirche kann offenbar nicht in jeder Hinsicht als dem individuellen Glauben vorangehend gedacht werden. Andererseits wäre es aber auch verfehlt, die Gemeinschaft der Kirche als etwas sekundär zum Glauben des einzelnen Christen Hinzutretendes zu denken.“ (Ebd.) Individueller Glaube und kirchliche Gemeinschaft, schließen sich nach Pannenberg mithin nicht nur nicht aus, sondern stehen in einem Zusammenhang, der sich mit Gunther Wenz zu Recht als „differenzierte[r] Zusammenhang“2 beschreiben lässt. Glaubendes Individuum und sozialer Zusammenschluss der Glaubenden sollen in der Ekklesiologie Pannenbergs mithin nicht gegeneinander ausgespielt, sondern im Gegenteil in einen Bezug gesetzt werden, der zwar Unterscheidung ermöglicht, die zu unterscheidenden Relate jedoch nicht vereinzelt stehen lässt. Bezogen auf das Heil des Einzelnen stellt sich hieraus die Frage, ob die Erlösungsreligion des Christentums in ihrem Zusammenspiel von Individualität und Sozialität – wie es Pannenberg rekonstruiert – überhaupt Heil außerhalb der Kirche kennt bzw. ob Heil außerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden überhaupt anerkannt werden kann, ja darf. Pointiert gesprochen: Gibt es Heil außerhalb der Kirche? Diese Frage ist nahezu so alt wie das Christentum selbst, weil in ihr die Differenzierung nach Ortho- und Heterodoxie, wenn nicht gar nach Häresie, enthalten ist. In ihr schwingt daher die Grundangst mit, ob nicht erst durch klare kirchliche Strukturen das in Jesus Christus ein für allemal gnadenhaft erschlossene göttliche Heil bewahrt und vor Verfälschung geschützt werden kann. Pannenberg widmet sich mit seiner – wie noch zu zeigen sein wird – die ganze Kirchenlehre grundlegend bestimmenden Erörterung des Zusammenhangs von christlicher Individualität und Sozialität somit einer urchristlichen Fragestellung. Zugleich weist die Thematik über ihre rein kirchenhistorische Verankerung hinaus auf die Gegenwartsproblematik der Existenz verschiedener christlicher Kirchen. Wie angesichts des einen Grundes der ganzen Christenheit verschiedene Kirchentümer vorliegen können, ist für Pannenberg ein Grund2 G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 207.
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problem moderner Ekklesiologie, ohne dessen Bewältigung eine Lehre von der Kirche nicht adäquat entwickelt werden kann. Die ökumenische Frage nach der Einheit nicht nur aller Christen, sondern auch der Kirche(n) liegt mithin in der Kirchenlehre selbst begründet. Eine Kirchendefinition, die meint, hiervon abstrahieren und in konfessioneller Engführung Ekklesiologie betreiben zu können, verkennt nach Pannenberg den wahren Kern echter Kirchlichkeit. Um dem Pannenberg’schen Ansatz gerecht zu werden, der zugleich urchristliches Anliegen und aktuelle ökumenische Bestrebungen so verbindet, dass sie als ein und dasselbe Grundmuster der Kirche erscheinen, soll auf die einzelnen Aspekte entsprechend eingegangen werden. Zunächst (1.) werden die Ursprünge der Kirche als Heilsanstalt beleuchtet. Bereits bei Cyprian von Karthago entwickelt sich im 3. Jahrhundert aus der Frage nach der gültigen Taufe die Heilsexklusivität der Kirche. Inwiefern diese auch für Pannenberg fruchtbar zu machen ist, ohne sie rein konservativ misszuinterpretieren, stellt den ersten Untersuchungsschritt dar. Sodann erfährt die Gliederung einen Dreischritt, der die verschiedenen Instanzen abbildet, die bei zunehmender Abstraktion ins Verhältnis zu setzen sind: Die Basis (2.) bildet hierfür die Grundeinheit von einzelnem Glaubenden und der Gemeinschaft im kirchlichen Rahmen. Dabei sind alle Glaubenden immer konkret Teil einer Gemeinschaft, die bestimmte Strukturen aufweist. Kurz gesagt: Die Sozialität des Glaubensindividuums vollzieht sich nicht abstrakt, sondern spielt sich immer in einer bestimmten Form von Kirche ab. Insofern stellt sich (3.) die Frage nach dem Zusammenhang je konkreter Kirchen mit der einen Kirche, die ökumenisch im Nicaenoconstantinopolitanum bekannt wird.3 Umfasst die eine Kirche im dogmatischen Sinne die gesamte Christenheit, so ergibt sich auf dem höchsten Abstraktionsniveau die Relation (4.) zwischen der in einer Kirche geeinten Christenheit und der Menschheit als solcher.4 Ist die Bedeutung des Christlichen nicht nur für den internen Zusammenhang der Christen untereinander erschlossen, so stellt sich von hier aus (5.) die ökumenische Frage erneut. Konkret geht es Pannenberg um die Sichtbarwerdung christlicher Einheit in derjenigen Form, die seines Erachtens die – nicht nur traditionell – einzig wahre ist: die eine heilige, katholische und apostolische Kirche Jesu Christi.
3 Vgl. hierzu Pannenbergs Beitrag Konfessionen und Einheit der Christen von 1973, der erneut abgedruckt ist in: W. Pannenberg, Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 241–253. Im Folgenden wird der genannte Aufsatzband Pannenbergs als „EuE“ zitiert. 4 Pannenberg hat die Verbindung von Christenheit und Menschheit stets als letzte Instanz der Kirchenfrage beschäftigt. Dies lässt sich beispielshaft an Pannenbergs Aufsatz Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit (EuE, 318–333) aus dem Jahr 1973 ablesen.
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Die Kirche als Heilsgarant in altkirchlicher Zeit
Die Verbindung von individuellem Heil und kirchlicher Gemeinschaft prägt bereits die Diskussionslandschaft um Cyprian von Karthago, der geboren um die Jahrhundertwende im Jahr 258 als Bischof von Karthago das Martyrium erlitt.5 In seinem 73. Brief, den er an den mauretanischen Bischof Jubaianus richtet,6 kritisiert Cyprian die Taufpraxis, wie sie in Rom von Papst Stephanus I. gepflegt wird, nämlich, dass Häretiker beim Eintritt in die Kirche – sofern sie bereits in außerkirchlichen Kreisen getauft wurden – nicht erneut getauft werden müssen, sondern nur durch Handauflegung wieder in die Kirche aufgenommen werden können. Für Cyprian ist dieses Verfahren abzulehnen, weil es nur eine Taufe geben könne, so wie es nur einen Christus und daher auch nur eine Kirche gebe.7 So könne eben nur innerhalb der Kirche echte Frucht gedeihen, weil diese ausschließlich im Rahmen der Kirche verfügbar sei („Ecclesia […] arbores frugiferas intra muros suos intus inclusit“8). Eine gültige Taufe außerhalb der Strukturen der einen Kirche Jesu Christi erscheint Cyprian daher als ausgeschlossen. Damit handle es sich bei der Taufe von sich zur Kirche wendenden Häretikern nicht um eine Wiedertaufe, sondern um die erste und einzige Taufe. Nicht berührt ist damit die im 4. Jahrhundert auftretende Fragestellung des donatistischen Streits, weil Cyprian eindeutig von einer Taufe ausgeht, in welcher sich der Täufling auch zu den Glaubensinhalten bekennt, die innerhalb der Taufgemeinde gelten. Der Täufling stimmt also mit den – unter kirchenfernen Bestimmungen – häretischen Lehren seiner Gemeinschaft überein und hat daher nicht die eigentliche Taufe erhalten, weil diese auf echtem Glauben beruht.9 Die häretisch durchgeführte Taufhandlung hat daher für Cyprian nur dem äußeren 5 Vgl. zu Cyprians Vita insbesondere M. Bévenot, Art. Cyprian von Karthago, in: TRE 8 (1981), 246–254. Die Daten zu Cyprians Leben und Werk beziehen sich im Folgenden auf diesen Artikel. 6 Vgl. hierzu die Adressierung des Briefs. Dessen lateinischer Text findet sich in der kritischen Ausgabe: Sancti Cypriani Episcopi Epistularium. Epistulae 58–81, ed. G.F. Dierks, in: Corpus Christianorum. Series Latina. III C (= Sancti Cypriani Episcopi Opera. Pars III, 2), Turnhout 1996, 529–562. 7 Vgl. Cyp. ep. 73,10: „Quid adultera et aliena et diuinae unitatis inimica in acceptum referimus, qui non nisi unum Christum et unam eius ecclesiam nouimus?“ (Hervorhebung S.D.) 8 Ebd. 9 Dies wird deutlich in ep. 73,4, wo Cyprian ausführt, dass der Glaube derer, die außerhalb der Kirche stehen („qui foris credunt“), nicht dem katholischen Glauben entsprechen kann und daher die Taufe nicht durch den Unglauben des Täufers, sondern denjenigen des Täuflings ungültig ist. Umgekehrt ist die Taufe für Cyprian in Bezug auf diejenigen, die ungetauft, aber im katholischen Glauben stehend den Märtyrertod sterben, keine Heilsvoraussetzung, weil sie durch ihren rechten Glauben und die Bluttaufe, welche die Wassertaufe noch übertreffe („gloriosissimo et maximo sanguinis baptismo“, ep. 73,22) des Heils gewiss sein dürfen (vgl. ep. 73, 22).
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Anschein nach, nicht jedoch in dem, was sie anzeigen möchte, mit der christlichen Taufe zu tun, weshalb Cyprian für die Praxis der Taufe von Häretikern bei Eintritt in die Kirche plädiert.10 Bewirkt die Taufe im kirchlichen Rahmen, welcher für Cyprian den einzig zulässigen darstellt, auch das, was sie anzeigt, dann bedeutet dies, dass es außerhalb der Kirche ebenso wenig eine gültige Taufe geben kann wie überhaupt Heil: „salus extra ecclesiam non est“11 – nicht einmal für diejenigen, die durch den Märtyrertod ihr Christsein beweisen wollen, sofern sie sich außerhalb der Kirche bewegen. Die Heilsfrage wird damit aber bei Cyprian eindeutig unter sakramentstheologischen Vorzeichen abgehandelt. Entscheidend ist für ihn nicht die Heilsexklusivität der Kirche an sich, sondern die Scheidung von Orthodoxie und Häresie, bei der die eine Kirche Jesu Christi die wahre Lehre repräsentiert. Einheit der Kirche ergibt sich für Cyprian aus drei Momenten: Einmal und vorrangig ist es die gemeinsame Basis in Jesus Christus, welche seine Kirche eint; sodann bildet der sich auf Christus berufende Glaube der Kirchenmitglieder die Identität von Kirche und Glaubensgemeinschaft aus. Echten Glauben gibt es – wie auch eine echte Taufe – nur einmal, nämlich in Rückbezug auf Christus selbst. Überschritten werden die beiden ersten Konstituenten kirchlicher Einheit und Exklusivität durch das dritte Moment. Die kirchliche Lehre oder anders gesagt: die Dogmatik verbürgt die Kontinuität von Christus bis hin in und auch für die Gegenwart. Hierbei gilt derselbe Grundsatz wie schon für die ersten beiden Momente: Auch die Lehre hat sich an ihrem Fundament, also an Jesus Christus, auszurichten, um orthodox zu bleiben. Die im 73. Brief häufig betonte Orientierung an den Aposteln und die Bewahrung ihres Erbes deutet dabei bereits das Bewusstsein an, sich in apostolischer Sukzession zu befinden. Die in Jesus Christus gründende und durch ihn wie den Glauben an ihn geeinte Kirche gewinnt – so lässt sich Cyprians Intention weiterdenken – in der Lehre daher nur den Ausdruck ihres Grundes, ohne diesen zu verselbständigen, wie dies in häretischen Kreisen geschieht. Für Cyprian sind Heil und Kirchenmitgliedschaft aufs Engste miteinander verbunden. Zugleich bleibt die letzte Frage des Heils Gott selbst überlassen, wie er in Bezug auf Häretiker formulieren kann, die ohne Taufe der Kirche beigetreten und danach entschlafen sind. Die „misericordia“ Gottes vermag es von Ordnungen so weit abzusehen, dass sie auch solche, die als wahrhaft Glaubende der
10 Freilich hat sich kirchengeschichtlich angesichts des ebenfalls nordafrikanischen donatistischen Streits die Position Stephans durchgesetzt, keine Taufwiederholung durchzuführen, um nicht scheinbar doch den Glauben des Taufenden zum Gütekriterium für die Taufe zu erheben. 11 Cyp. ep. 73,21. Die den Beitrag betitelnde üblich Formel „extra ecclesiam nulla salus“ leitet sich von der Satzkonstruktion Cyprians her.
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Kirche Jesu Christi angehören, nicht von ihren Schätzen abtrennt.12 Der gemeinsame Glaube an den einen Herrn und damit verbunden die Teilhabe an der katholischen Kirche gelten Cyprian aber als conditio sine qua non der Anteilhabe am Heil. Von dessen sakramentaler Vermittlung kann unter Ausnahmebedingungen abgesehen werden, weil Gott nicht als an rituelle Heilsvermittlung gebunden gedacht wird. Insofern gibt es in Cyprians theologischem Ansatz durchaus Heil außerhalb der kirchlichen Ritus- und Ordnungsstruktur; jenseits der im Glauben geeinten Gemeinschaft um Jesus Christus kann Heil jedoch nicht auftreten. In dieser Hinsicht bleibt sein Grundsatz, es könne kein Heil außerhalb der Kirche geben, bestehen. Das Ineinander von Kirche und Heil ist nach Cyprian mithin eines, das sich durchaus differenzieren lässt, ohne voneinander getrennt werden zu können. Die Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs knüpft bei aller Aktualität und ökumenischer Ambition des 20. Jahrhunderts konsequent an die christlichen Grundlagen an, wie sie in der Frühzeit der Christenheit vertreten wurden. Die Heilsexklusivität der Kirche, die bei Cyprian ihren Anfang nimmt und in die Lehre des Konzils von Ferrara/Florenz im 15. Jahrhundert einfließt, bleibt dabei ein Theologoumenon, das sich Pannenberg auf seine eigene Weise angeeignet hat. Dies meint nicht, dass er wie Cyprian die Kirche so als Heilsanstalt skizziert, dass außer ihr regulär – die Ausnahmen finden sich ja bereits bei Cyprian und wurden auch in der Interpretation der römischen Kirche immer aufrecht erhalten – kein Heil möglich sei. Vielmehr setzt sein Kirchenverständnis als die Gemeinschaft der im Glauben an Jesus Christus und in dem gemeinsamen Bekenntnis zu ihm Verbundenen in ähnlicher Weise an wie dasjenige Cyprians. Was dies für das Heil des Einzelnen und dessen Vermittlung durch die eine Kirche besagt, sei im Folgenden einer näheren Betrachtung zugeführt.
2.
Glaubensindividuum und Kirchengemeinschaft
Was unter Kirche zu verstehen sei, lässt sich im Anschluss an Pannenberg anhand dreier Stränge verfolgen: Zunächst bestimmt sich die Kirche wesentlich als „Gemeinschaft der Glaubenden mit Jesus Christus und Gemeinschaft der Glaubenden untereinander“ (STh III, 121). Kirche ist im Anschluss an den siebten Artikel der Confessio Augustana die um Wort und Sakramente versammelte Gottesdienstgemeinde. Deren Kontinuität verbürgt paradigmatisch das ordinierte bzw. geweihte Amt. Lässt sich auf diese Weise strukturell das Wesen der Kirche fassen, wie es auch nach außen hin sichtbar in Erscheinung tritt, so schließt dies den zweiten Aspekt mit ein: Wort und Sakrament dienen 12 Vgl. Cyp. ep. 73,23.
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nicht nur als Sichtbarwerdung einer Gemeinschaft der Glaubenden um Christus, sondern sind die Vermittlungsmomente des Glaubens selbst. In Wort und Sakrament erfüllt die Kirche – und auch das ihr eigentümlich Amt – mithin ihren eigentlichen und einzigen Dienst, nämlich die Glaubensvermittlung. An dieser Stelle treten Einzelner und Kirchengemeinde zusammen und werden von Pannenberg – in noch näher zu betrachtender Weise – untrennbar aneinandergekoppelt. Die dritte Linie ekklesiologischer Grundlegung bildet das Bekenntnis, in dem sich die beiden ersten Momente spiegeln und so problematisiert werden, dass sie sich zur Notwendigkeit kirchlicher Einheit in ökumenischer Hinsicht verdichten. Persönliches Bekennen und inhaltliches Bekenntnis liegen im Glaubensbekenntnis ineinander und zwar so, dass beide wohl unterschieden, nicht aber voneinander getrennt werden können. Die drei Momente von (1) versammelter Gottesdienstgemeinde – ersichtlich am Amt des- oder derjenigen, der oder die dem Gottesdienst vorsteht –, (2) Glaubensvermittlung – zugänglich in Evangeliumspredigt und Sakramentenspendung – sowie (3) persönlichem wie gemeinsamem Glaubensbekenntnis bilden den Grundaufbau der Pannenberg’schen Lehre von der Ekklesiologie ab. Auf sie sei daher im Folgenden eingegangen: (1) Grundsätzlich versteht Pannenberg unter der wahrhaft katholischen Kirche nicht die – wie auch immer geartete – Institution einer weltumfassenden Konfessionskirche, sondern in Anlehnung an urchristliche Vorstellungen die versammelte Gottesdienstgemeinde: „Die Kirche ist also nicht in erster Linie eine universale Institution mit zentraler Leitung, sondern die Realität der einen Kirche ist in den um Wort und Sakrament versammelten örtlichen Gemeinden manifest, die untereinander wiederum eine Gemeinschaft bilden.“ (STh II, 121 f.) Der Grundduktus der Pannenberg’schen Wesensbestimmung von der Kirche steht damit in protestantischer Tradition, greift aber darüber hinaus die Ekklesiologie des 2. Vatikanischen Konzils auf. Pannenberg bezieht sich hierzu explizit auf Karl Rahners Favorisierung der Ortskirche als eigentlicher Verwirklichungsform der Kirche als solcher (vgl. STh III, 123).13 Universalkirche und Ortskirche stehen damit in einem untrennbaren Zusammenhang – die Perspektive geht aus Pannenbergs Sicht jedoch eindeutig von der Ortskirche, näher gesagt: von der eucharistisch versammelten Gemeinde aus. 13 Pannenberg schließt sich dabei grundsätzlich der Position Joseph Ratzingers an, zumindest in der Form, wie dieser sie Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts vertreten hat, nämlich dass die Eucharistie feiernde Gemeinde den Inbegriff von Kirche darstellt (vgl. STh III, 122–125). Solche postkonziliare communio-Ekklesiologie sieht er allenfalls durch die Verkehrungsform einer communio hierarchica gefährdet. Diese trete dann auf, wenn nicht die Ortsgemeinde den Ausgangspunkt bilde, sondern „die im christlichen Westen traditionell gewordene Betrachtungsweise von der Universalkirche und ihrer papalen Spitze her“ (STh III, 124) entwickelt werde.
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Stellt für Pannenberg also die Eucharistiefeier den zentralen und nach außen hin sichtbaren Zusammenhang der Kirchengemeinde her, ohne dass hierfür vorrangig die Universalkirche bemüht werden müsste, so ist die Einzelgemeinde davon unbenommen dennoch immer Repräsentantin der einen katholischen Kirche. Die zum Herrnmahl versammelte Ortsgemeinde realisiert zwar Kirche an sich und zwar in Vollgestalt, aber doch so, dass in ihr „immer die ganze, weltweite Gemeinschaft der Christen in Erscheinung“ (STh III, 121) tritt. Wo mithin um Jesus Christus versammelte Gemeinschaft ist, da ist die wahrhaft katholische Kirche verwirklicht, nicht umgekehrt. Diese Sicht hat zur Folge, dass Pannenberg, die in CA VII genannte „congregatio sanctorum“ nicht als loses Zusammenkommen einzelner Glaubensindividuen interpretiert, sondern als „diejenige Gemeinschaft, in der das Evangelium rein (pure) gelehrt und die Sakramente ihrer Stiftung gemäß (recte) dargereicht werden.“ (STh III, 119) Explizit ist damit ein Verständnis der Gottesdienstgemeinde abgewehrt, das sich als Sekundärphänomen zum Glauben des Einzelchristen und der Einzelchristin begreift, wie Pannenberg es etwa in Schleiermachers Glaubenslehre auszumachen meint (vgl. STh III, 118). Die Vergemeinschaftung der Christen stellt für Pannenberg weder ein hinzutretendes Moment des Christseins noch eine aufgebbare Facette im Glaubensleben des Einzelnen dar. Vielmehr gehören individueller Glaube und Glaubensgemeinschaft untrennbar zusammen, so dass vom Kirchenbegriff jede Form der Beliebigkeit fernzuhalten ist (vgl. STh III 118 f.). Das Kirchenverständnis Pannenbergs ist somit zwar gruppiert um die eucharistische Ortsgemeinde, trägt als solche jedoch den Bezug zum Glaubensindividum ebenso in sich wie denjenigen zur weltweiten Kirche Jesu Christi, die in jeder Mahlsgemeinschaft auftritt. Um Willkür von der Versammlung der Glaubenden fern zu halten, bedarf es eines Kontinuitätsmoments, das zwischen den Gemeinden Einheit herstellt, sowie eines Autoritätsgaranten innnerhalb der Ortsgemeinde. Beide Funktionen werden stellvertretenderweise für die ganze Gemeinde vom Amtsträger wahrgenommen. Dem geordneten Amt kommt in Pannenbergs Ekklesiologie somit mehr zu, als bloßes Regulativ für Wortverkündigung und Sakramentengabe zu sein. Im Amtsträger kommt nämlich die Einheit der verschiedenen Gemeinden zum Ausdruck. Dies wäre jedoch missverstanden, wollte man nach Pannenberg das kirchliche Amt – sei es das örtliche Pfarr- oder das übergemeindliche Bischofsamt – als Konstitutionsmoment der Kircheneinheit bezeichnen. Einheit ist für Pannenberg ein Phänomen, das sich durch die gemeinsame Basis aller Ortskirchen, nämlich durch ihren identischen Grund und ihr Gründen in Jesus Christus einstellt, nicht aber durch amtliche Vermittlung. Die Einheit der Kirche ist für Pannenberg eine „aller geschichtlich realisierten Kirchengemeinschaft vorgegebene und ihr schon zugrunde liegende, in der Gegenwart Christi im gottesdienstlichen Leben der Gemeinde begründete Einheit der Kirche“ (STh III, 127). Diese Einheit kommt hinwiederum in den
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kirchlichen Ämtern zum Ausdruck, ohne dabei „Fundament der Einheit selbst“ (ebd.) zu sein. Dies gilt in gleicher Weise für ein die Einheit der Christen repräsentierendes Leitungsamt, wie es in der römisch-katholischen Kirche in Form des Bischofs von Rom vorkommt (vgl. ebd.).14 Betont das kirchliche Amt den Gemeinschaftsaspekt des Christentums, indem es über die einzelne Versammlungsform von Christen hinausweist auf die der Gemeinschaft innewohnende Kohärenzlinie, so verdeutlichen demgegenüber die Sakramente, namentlich Taufe und Abendmahl, den Bezug des Einzelnen zur Gemeinschaft. In der Taufe wird der Christ in die Gemeinschaft aller Christen aufgenommen, um im Abendmahl diese Anteilhabe an der Gemeinschaft immer wieder aufs Neue zum Ausdruck zu bringen (vgl. STh III, 129 f., 268–369).15 Der Eucharistiefeier kommt dabei insofern eine Sonderstellung zu, als in ihr die, wie Pannenberg im Anschluss an das Ökumenismusdekret des zweiten Vatikanischen Konzils formulieren kann, „Einheit der Kirche sowohl bezeichnet als auch bewirkt wird“.16 Die Verbindung aller Christen mit Christus kommt mithin als Gemeinschaftsphänomen im Abendmahl zu einem eigenen Ausdruck. Insofern bewirkt das Abendmahl zugleich, was es auch bezeichnet.17 Dazu ist es jedoch nur befähigt, weil kirchliche Einheit nicht produzierbar, sondern nur verwirklichbar ist, da sie allen kirchlichen Aktionen immer schon vorangeht. In ökumenischer Hinsicht lässt sich Pannenbergs Ansatz daher so verstehen, dass zwar die sichtbare Einheit durchaus ein Postulat an die Kirchen darstellt, zugleich aber die Einheit aller Christen in Jesus Christus, also im Grund des Glaubens, prinzipiell vorgeordnet und vorgegeben ist.18 Alle ökumenischen Einheitsbewegung zielen daher auf „Wiedervereinigung der Christen“, was nicht in erster Linie das Zusammenfinden in einer Kirche vorreformatorischer Ausprägung, sondern vielmehr „Umkehr zu der im Christusglauben schon bestehenden und für unser Christsein konstitutiven Einheit“ meint.19 (2) Zwar gründet die im wahren Wortsinne katholische Kirche für Pannenberg auf dem selben Glauben ihrer Angehörigen und ist in diesem Glauben immer schon eine Kirche, doch bedeutet dies nicht zugleich, dass Glaube des Einzelnen 14 Zum – ebenfalls immer ökumenisch organisierten – Amtsverständnis Pannenbergs vgl. den Beitrag von Gunther Wenz in diesem Band sowie knapp zusammengefasst Pannenbergs Beitrag Ökumenisches Amtsverständnis. Zu den Intentionen des Memorandums ökumenischer Universitätsinstitute vom Frühjahr 1973 in: EuE, 268–285. 15 Vgl. W. Pannenberg, Das Abendmahl – Sakrament der Einheit, in: EuE, 286–292. 16 W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit und als ökumenisches Ziel, in: EuE, 200–210. 17 Darauf ist später noch unter 3. näher einzugehen, wenn es darum geht, die ökumenischen Linien von Pannenbergs Kirchenverständnis weiter auszuziehen. 18 Vgl. hierzu W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit und als ökumenisches Ziel, in: EuE, 200–210, hier: 200 f. 19 A. a. O., 201.
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Privatsache sei.20 Insofern der Glaube in Christus gründet, ist er zwar intimstes Phänomen eigener Letztbezüglichkeit; allerdings lassen sich nach Pannenberg vom Privatglauben niemals dessen Wurzeln abkoppeln, die er im Evangelium und dessen Verkündigung erblickt. Der Individualglaube bedarf daher für die Entstehung und Erhaltung seiner selbst unaufgebbar der Externität des Wortes. In erster Linie weckt daher die Kirche durch Verkündigung des Evangeliums und Reichung der Sakramente den Glauben des Einzelnen. In dieser Funktion kann die Kirche aber niemals „Selbstzweck“21 sein, sondern erschöpft ihr Dasein in reiner Vermittlungsübernahme (vgl. STh III, 142–155). Ohne die Kenntnis von Christi Leben und Sterben, seiner Lehre und der Geschichte seiner Jünger kann christlicher Glaube nicht bestehen, weil andernfalls keinerlei Wissen darüber bestehen könnte, was den Glauben erweckt: „Der Prozeß der Überlieferung der christlichen Lehre durch die Verkündigung des Evangeliums läßt sich aber nicht ablösen von der Institutionalisierung solcher Überlieferung in der Kirche und von der zu diesem Zweck erfolgten Ausbildung institutionell verfestigter Formen der Mitteilung wie Predigt, Katechese und anderer Formen der Lehre vorstellen.“ (STh III, 142) Auch der dezidierte Wunsch nach einem Christsein ohne Kirche kann somit die Dialektik nicht vermeiden, dass er nur entstehen und bestehen kann durch das Vorhandensein von Kirche.22 Im Sinne des Pannenberg’schen Kirchenbegriffs darf aus dieser scheinbaren Vorordnung der Kirche jedoch kein direktes Abhängigkeitsverhältnis des Glaubenden von der kirchlichen Institution abgeleitet werden. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen wird die Unmittelbarkeit im Glauben des Einzelnen als Gemeinschaft mit Christus durch die Kirche nicht verstellt; im Gegenteil initiiert die Kirche gewissermaßen nur den Individualbezug zu Jesus Christus, ohne sich jedoch als bleibendes Bindeglied zwischen Glaubende und Glaubensgrund drängen zu wollen. So lässt sich als Kriterium echter Kirche ausmachen, dass sie – sobald der Vermittlungsprozess des Glaubens abgeschlossen ist – sich selbst in Vergessenheit bringt. (Vgl. STh III, 143) Die Vermittlung der Kirche stellt daher nur das Mittel zum Zweck des Gläubig-Werdens dar, das in ein unmittelbares Christus-Verhältnis münden soll.23 Dass Glaube damit ein Phänomen vermit20 Im Gegenteil beansprucht Religion generell immer Bedeutung über den Einzelglaubenden hinaus: „Doch ihrem Wesen nach ist Religion gerade nicht Privatsache. Das geht daraus hervor, daß das religiöse Reden von Gott intersubjektive Gültigkeit beanspruchen muß, weil Gott nicht Gott, die alles bestimmende Wirklichkeit, wäre, wenn er nur der Gott des Bekennenden wäre.“ (Pannenberg, Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, 326) Religion beansprucht für sich immer „intersubjektive Verbindlichkeit“ (ebd.). 21 Vgl. W. Pannenberg, Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, 319. 22 Vgl. W. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, in: EuE, 187–199, hier: 190. 23 Vgl. STh III, 146 f.: „Eine Vermittlungsinstanz, die nicht sich selbst als verschwindendes Moment begreift in ihrem Dienst an der Sache der Übermittlung, so daß deren Empfänger schließlich ein unmittelbares Verhältnis zu dieser Sache und ihrer Wahrheit gewinnen, steht
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telter Unmittelbarkeit darstellt, bestätigt einerseits den Unverzichtbarkeitscharakter der Glaubensgemeinschaft für den Glauben des Einzelnen und rückt die Kirche doch andererseits in ein Licht, das sie von Zwangskategorien freihält.24 Wahrhafte Kirche weiß mithin, dass und worin sie sich von demjenigen unterscheidet, was sie vermittelt. Das Evangelium von Jesus Christus bildet nicht nur die Grundlage des Individualglaubens, sondern auch Basis und Konstitutionsgrund der Kirche selbst. Letztere steht daher dem Evangelium, das sie vermittelt, nicht unabhängig gegenüber, sondern versteht sich selbst immer schon von evangelischer Vermittlung her. Anders formuliert gründen Einzelner und Gemeinschaft der Christen auf dieselbe Weise im selben Grund, wodurch das Abhängigkeitsgefälle nicht zwischen beiden, sondern auf beide hin vom Grund ihrer selbst her angelegt ist. Pannenberg expliziert diesen Umstand anhand des paulinischen Seins in Christus: „Geistgemeinschaft ist die Kirche nur, insofern sie ‚in Christo‘ ist, also insofern von der Kirche ebenso wie von den einzelnen Glaubenden gilt, daß sie extra nos existiert.“ (STh III, 152; vgl. 154) Die Konstellation von einzelnem Glaubenden und Gemeinschaft der Glaubenden gestaltet sich bei Pannenberg insofern paritätisch, als beide Größen in derselben Orientierung auf ihren Grund hin stehen. Beide erfahren sich in ihrer Unmittelbarkeit als vermittelt. Zugleich erweist sich die Kirche in dem Sinne als das primäre Moment, dass sie allererst den Zugang des Einzelnen zum Glauben zu initiieren vermag. Umgekehrt geht der Glaube der Individuen jeder Form von Kirche dahingehend voraus, dass Kirche immer congregatio sanctorum, also Gemeinschaft von Glaubenden ist, weshalb sie nicht sein kann ohne diejenigen, die sie bilden. Pannenberg spitzt die Parität von Individualität und Sozialität im Kirchenbegriff noch weiter zu, indem nicht der Einzelne in der Gemeinschaft aufgeht oder andererseits nicht die Kirche sich in den Privatglauben hinein verflüssigt. Um beide Abwege zu vermeiden, argumentiert Pannenberg mit einer pneumatologischen Figur: Wahre Unmittelbarkeit könne sich erst einstellen, wenn beide – einzelner Glaubender und kirchliche Gemeinschaft – so zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, dass sie voneinander und dadurch wiederum füreinander frei werden. Erreicht wird dies durch die Geistgabe, die im Hineingenommen-Werden der Glaubenden in die „Sohnesbeziehung Jesu zum dem zu vermittelnden Inhalt im Wege, statt ihm zu dienen. Es entsteht dann die Gefahr, daß die Vermittlungsinstanz selber den Platz der zu vermittelnden Sache einnimmt.“ 24 Gunther Wenz betont, dass umgekehrt die Unmittelbarkeit des Einzelnen, wie sie durch die Vermittlung der Kirche hervorgebracht werde, nicht als „solipsistische[r] Individualismus“ verstanden werden dürfe, sondern den in seinem Gottesverhältnis unmittelbaren Glaubenden zugleich zu einem „Glied der Kirche als des Leibes Christi“ mache. (G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 221) Dadurch wird – so lässt sich fortgesetzt folgern – die Unmittelbarkeit des Glaubensbezugs zu Gott nicht ausgesetzt und zugleich bleibt die Vermittlungsleistung der Kirche insofern präsent, als sie sich in der Form der sich aus ihr einstellenden Kirchenmitgliedschaft ergibt.
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Vater“ ihnen den Geist „auf Dauer“ verleiht. (Vgl. STh III, 149) Geistgabe und Sein in Christus sind also für Pannenberg insofern äquivalent, als die Anteilhabe an der Sohnschaft, die dem Glaubenden von Christus aus zukommt und die evangelisch vermittelt wird, nichts anderes meint als die Verleihung des Geistes. Ist aber jemand in Christus, so lässt sich biblisch antizipierend formulieren, dann ist er auch frei. Daher lässt sich mit Pannenberg sagen: „Freiheit und Unmittelbarkeit zu Gott gehören also zusammen.“ (STh III, 148) Möchte man Pannenbergs soteriologische Linie in eine Abfolge bringen, die man freilich nicht als zeitliche Konsequenzkette verstehen darf, dann vermittelt das kirchlich verkündigte Evangelium dem Einzelnen den Glauben und damit das Sein in Christus. Letzteres hinwiederum begreift der Glaubende als dauerhafte Geistgabe, die ihn sich allein auf Christus gründen lässt, was ihn wiederum befreit von allen anderen Bezügen. (Vgl. STh III, 154 die zusammenfassende erste These) Diese sind unter anderem auch die Vermitteltheit des Evangeliums durch die Kirche, die getrost im Geist in Vergessenheit geraten darf. Dazu zählen aber auch die weiteren geistlichen und weltlichen Zwänge des Individuums. Der permanente Anstoß, den das Individuum notgedrungen an der Kirche nimmt – ist sie es doch, die er als conditio sine qua non des eigenen Glaubens erfährt –, darf durch die Befreiung vermittels des Geistes als aufgehoben im positiven Sinne angenommen werden. Im Geist gelangt der Glaubende mithin zur Gottunmittelbarkeit, deren kirchliche Vermittlung zwar unaufgebbares, aber doch aufgehobenes Element innerhalb der Geistgabe darstellt. Umgekehrt gilt dasselbe Verhältnis, wie es der Glaubende im Geist zu Gott gewinnt, auch für die Kirche. Diese ist durch den Geist begründete „Gemeinschaft der Glaubenden in der Einheit des Leibes Christi.“ (STh III, 150) Die Gemeinschaftsform der Kirche tritt daher nicht extern zum Christsein des Glaubenden hinzu, sondern ist Bestandteil der Geistgabe selbst.25 Individualität und Sozialität bilden vielmehr eine irreduzible Spannung, die unter Geistbedingungen allerdings ihrer Anstößigkeit und Zwanghaftigkeit benommen ist, denn: „Wo der Geist Christi regiert, da kann die Freiheit des Glaubens nicht gegen die Gemeinschaft der Glaubenden und gegen die Pflicht ihrer Bewahrung ausgespielt werden, ebensowenig wie umgekehrt unter der Herrschaft des Geistes Christi die Vermittlung des Evangeliums die Form klerikaler Herrschaft annehmen kann, die die Glaubenden nicht in die wahre Freiheit der Unmittelbarkeit zu Gott gelangen läßt, sondern in Abhängigkeit hält.“ (STh III, 150) Die Befreiung durch den Geist von der wechselseitigen scheinbaren Abhängigkeit 25 Vgl. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, 192: „Der christliche Glaube bedarf des Lebenszusammenhangs einer Gemeinschaft und kann nur im Zusammenhang einer Gemeinschaft sein Leben voll entfalten.“ Hierbei denkt Pannenberg in erster Linie an das Abendmahl, das die Gemeinschaftsform des Christlichen in paradigmatischer und zugleich zeichenhafter Weise zum Ausdruck zu bringen vermag, wie oben bereits angezeigt wurde.
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von Individualität und Sozialität betrifft mithin sowohl das Individual- wie das Gemeinschaftsmoment. Geistgemeinschaft ist die Kirche daher nur dann, wenn sie selbst sich nicht als das Aufhebungsmoment, sondern als ebenfalls aufgehobenes Moment – zusammen mit der Individualität – begreift. Erst indem die Kirche „ihre Existenz extra se in Christo“ (STh III, 150) hat, kann sie als Geistgemeinschaft angesprochen werden. Versuchte sie hingegen ihre Mitglieder zwanghaft zu binden, wäre dies, so lässt sich nach Pannenberg folgern, bestes Anzeichen für Ungeistigkeit und Ansatzpunkt für berechtigte Kirchenkritik. Diese These ist insbesondere in ökumenischer Hinsicht für das Verhältnis von Kirche und Kirchen im Folgekapitel 3. von maßgeblicher Bedeutung. (3) Kirchen-, also Gemeinschaftszugehörigkeit, stellt nun keine logische Konsequenz aus dem Glauben des Einzelnen dar, der im Gegenteil eher zur Separation führt. (Vgl. STh III, 129) Gemeinsames Bezugselement der Gläubigen ist nach Pannenberg der Inhalt des Glaubens, über dessen Übereinstimmung allerdings nicht Sozialisation, gesellige Veranlagung des Menschen oder Kirchenzugehörigkeit in überzeugender Weise zu entscheiden vermögen. Seiner Gemeinschaftszugehörigkeit „definitiv“ inne wird der Glaubende „erst im gemeinsamen Bekennen des Glaubens.“ (STh III, 129) Im Glaubensbekenntnis fließen daher die Elemente persönlichen Glaubens und gemeinschaftlichen SichSammelns im Glaubensinhalt zusammen. Entscheidende Bedeutung kommt hierbei dem Terminus des Glaubensinhalts insofern zu, als ihm durch den Inhaltsbegriff offensichtlich Substantielleres eignet, als dies einem persönlichen Angegangensein entspricht. Kurz gesagt: Der Glaubensinhalt verweist auf die Möglichkeit der Verallgemeinerung – und damit auch Vergemeinschaftung – im Gegensatz zum persönlichen Glaubensvollzug. Ohne es explizit zu machen, behandelt Pannenberg mit diesem Themenkomplex die klassische dogmatische Frage nach der Relation von fides qua und fides quae respektive nach individuellem Glauben und kirchlicher sowie theologischer Lehre. Beide liegen jeweils im Bekenntnis, das alle gemeinsam im Gottesdienst vorbringen und doch jeder je für sich spricht, untrennbar ineinander. Zentrum jeder christlichen Form von Bekenntnis ist nach Pannenberg das Christusbekenntnis, das „in seinem Ursprung Bekenntnis zu Jesus Christus, zu seiner Botschaft und zu seiner Person“26 ist. Diese Übereinstimmung mit Jesu Leben, Werk und Wirkung stellt den vorrangig personalen Bezug zwischen Glaubendem und Christus dar. Spätere Christusbekenntnisse, die sich nicht mehr auf den personal anwesenden Jesus beziehen konnten, sind daher stets daraufhin zu überprüfen, ob sie inhaltlich miteinander übereinstimmen, da das Kriterium, welches echtes und falsches Bekenntnis zu unterscheiden vermag, nicht mehr in personaler Gestalt zugegen ist. Im Laufe der Bekenntnistradition – 26 W. Pannenberg, Konfessionen und Einheit der Christen, 242.
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so rekonstruiert Pannenberg – treten daher zwangsläufig Bekenntnisakt und Bekenntnisinhalt auseinander. Erste lehrhafte Züge zeigen sich in den nachchristlichen Generationen darin, dass sich die Gültigkeit des Bekenntnisses von Jesu Person hin auf die Interpretation überträgt, die ihr die Gemeinde zuweist: „Ob Jesus selbst im Bekenntnis gemeint war, das wurde daran gemessen, ob der Bekennende sich zu Jesus in der Bedeutung, die die Gemeinde mit ihm verband, bekannte.“27 Hierbei ist jedoch schon die Grenze vom persönlichen Bekenntnis hin zum Bekenntnisinhalt bzw. dem überschritten, was man wohl angemessener Weise kirchengemeindliche Lehre nenne darf. Ab diesem Punkt wird die Ausbildung dogmatischer Lehre „für sich thematisch“, so dass sich die im Christusbekenntnis ursprünglich ineinanderliegenden Momente von Bekenntnisakt und Bekenntnisinhalt zu separieren beginnen. Im weiteren Verlauf der Kirchen- und Bekenntnisgeschichte kehrt sich nach Pannenberg „das Verhältnis zwischen individuellem Bekenntnisakt und Bekenntnis der Kirche dahin um, daß der Glaube der Kirche bestimmend wird für das vom einzelnen abzulegende Bekenntnis.“ (STh III, 136) Anders formuliert dominiert die fides quae die fides qua, so dass sich im Bekenntnis die Relevanz vom persönlichen Bekennen hin auf die Interpretation des Bekenntnisinhalts durch die Kirche verschiebt. Letzteres kommt laut Pannenberg allerdings einer Verkehrung gleich, weil das, „worauf es ankommt, […] der Akt der ‚Parteinahme‘ für Jesus“ (STh III, 134) ist. Auf das persönliche Bekenntnis zu Jesus Christus hat sich alle kirchliche Bekenntnislehre rückzubeziehen.28 Insofern ist die kirchliche Lehrentwicklung durch die unmittelbare physische Absenz Jesu Christi zwar notwendig; doch hat sie allenfalls „dienende Funktion“29 für das Bekenntnis selbst. Darin bestehen das Anrecht und zugleich die Grenze kirchlicher Lehre. Im Bekenntnis spiegeln sich die stete Bezogenheit und Verknüpfung von Individualität und Sozialität, wie sie für das glaubende Individuum bestimmend sind. Beide Elemente haben ihre Funktion innerhalb des Bekenntnisses selbst und doch kommt nach Pannenberg dem persönlichen Charakter des Bekenntnisses eindeutig die Vorrangstellung zu. Erst hierdurch wird das Bekenntnis „definitiv und seiner Intention nach umfassend.“ (STh III, 138) Pannenberg steht dadurch klar erkennbar in einer Linie mit der protestantischen Bekenntnistradition, die den Fokus auf dem persönlichen Element hervorgehoben hat.30 Der Clou der Pannenberg’schen Argumentation besteht allerdings darin, dieses evangelische Moment durch Einzeichnung in die urchristliche Entstehung und 27 A. a. O., 244. 28 Vgl. auch W. Pannenberg, a. a. O., 247: „Dieses personale Moment des Sichbekennens zu Jesus Christus muß der zentrale Bezugspunkt aller Bekenntnisaussagen der Kirche bleiben.“ 29 Ebd., 248. 30 Nach Pannenberg „kann und muß die personale Intention allen Christusbekenntnisses als hermeneutischer Schlüssel seiner Sachaussagen dienen.“ (A. a. O., 249)
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die frühchristliche Entwicklung der Bekenntnistradition als gemeinchristlich zu behaupten. So wertet er zwar die das Bekenntnis nach seiner inhaltlichen Seite hin interpretierende Lehre auf und erkennt sie als echte Facette des Bekenntnisses an, das in nachjesuanischer Zeit unverzichtbar wird und bliebt.31 Zugleich betont er aber die „Offenheit und Revidierbarkeit in der Form der Lehraussagen“ (STh III, 138), wodurch kriteriologisch die Präferenz klar dem unmittelbaren Bezug zugesprochen wird, wie er im persönlichen Christusbekenntnis zu Tage tritt. Diesem hat sich kirchliche Lehre auch insofern dienend unterzuordnen, als die sich im Rahmen der Kirche ausprägende Lehre immer veränderbar ist und verändert werden muss, weil sie eben nur interpretatives Abbild zeitgemäßer Erschließung des Bekenntnisinhaltes darstellte, das Bekenntnis selbst aber niemals ersetzen kann oder soll. Das Verständnis des christlichen Bekenntnisses bei Pannenberg hat gewollte Konsequenzen für ökumenische Belange. So fordert Pannenberg von den verschiedenen christlichen Kirchen „Duldsamkeit“ (STh III, 138) in Bezug auf abweichende Inhaltsbestimmungen des Glaubensbekenntnisses. Dies schulden die Kirchen der Gesamtheit der Christen, die sich im Bekenntnis nicht unterscheidet, sondern sich im Gegenteil genau hierin schon geeint sehen darf. Es geht gerade nicht um eine gemeinsame Lehre in Detailfragen, sondern um Übereinstimmung im Bekenntnis dergestalt, dass im Bekenntnis aller Christen der eine Grund hervortritt, der einziges Kriterium der Christenheit sein darf, nämlich Jesus Christus selbst. Daher kann Pannenberg folgern: „Die Einheit der Kirche ist nicht in erster Linie Einheit der Lehre. Sie beruht hingegen auf dem gemeinsamen Bekenntnis zu Jesus Christus.“32 Eucharistische und Amtsgemeinschaft sind deshalb als Folgen von der im Bekenntnis bereits bestehenden Einheit aller Christen her zu denken.
3.
Konfessionskirche und wahrhaft katholische Kirche
Im Anschluss an Pannenberg lässt sich formulieren, dass nicht – wie für Ernst Käsemann – das Neue Testament die Pluralität der Konfessionen bedingt, sondern das Glaubensbekenntnis. Freilich könnte man schon innerhalb des Neuen 31 Dies gilt insbesondere deshalb, da „sich der Inhalt kirchlicher Bekenntnisbildung nicht auf urchristliche Aussagen reduzieren [läßt], weil es in den Bekenntnisformulierungen der Kirche um die Bedingungen des Christusbekenntnisses in einer späteren Zeit, im Kontext ihrer Sprache und Problematik, geht.“ (A. a. O., 249) Unter Modernitätsbedingungen lässt sich von der kirchlichen Reflexion über den Bekenntnisinhalt also gar nicht absehen. Dies heißt aber nicht, dass die Lehrbildung den Vorrang vor dem persönlichen Bekenntnis zu Christus einnehmen könnte. 32 A. a. O., 252.
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Testaments verschiedene Bekenntnistypen auszumachen versuchen, wie dies zweifelsfrei beispielsweise bei den unterschiedlichen christologischen Ansätzen der Fall ist, welche die synoptische Tradition und die johanneische Schule vertreten. Sobald zur Unmittelbarkeit des persönlichen Bekenntnisses der Versuch hinzutritt, allgemeingültige Formeln für die nicht auf den Begriff konzentrierbare eigene Glaubenserfahrung zu finden, ereignet sich der Überschritt vom individuellen Glaubensbezug in die konfessionelle Kirchlichkeit. Dass solche Tendenzen bereits im frühen, wenn nicht gar im Urchristentum aufgetreten sind und auftreten mussten, hängt mit dem menschlichen Reflexionsvermögen zusammen, das sich der Generalisierung und Analyse nicht widersetzen kann. Glaube und Lehre sind somit zwar in unterschiedlichen Bereichen des Geistes angesiedelt, treten jedoch in Konsequenz auseinander auf. Das heißt aber auch, dass jede Form der Lehre – zumindest soweit und solange sie sich selbst als christlich begreift – auf dasselbe hinter den Lehrsätzen stehende Glaubensereignis bezieht und sich von ihm gebunden fühlt. Daraus folgen für Pannenberg zwei verschiedene Grundsätze: Zum einen ist der Bezug aller Formen von Kirche auf die Entstehungszusammenhänge – und natürlich in Sonderheit auf Christus – konstitutiv. Für alle kirchlichen Ausprägungsgestalten erkennt Pannenberg daher den „Anlaß, sich der Kirche des Frühchristentums zuzuwenden.“33 Diese Notwendigkeit betont Pannenberg nicht aus einem idealisierten Bild einer einträchtigen Frühchristenheit heraus; was ihm vielmehr die Favorisierung der frühen Kirche nahelegt, ist die auch für die Gegenwart erforderliche Kontinuität mit den Anfängen des Christentums. Wenn die Verbindung und unaufgebbare Verbundenheit aller Christen durch ihren einen Bezugspunkt in der Person Jesu Christi gegeben ist, so lässt sich ein Wandel des Christlichen über die Jahrtausende hinweg ausschließen. Damit sind zeitbedingte ekklesiologische Reformen und Modifikationen von Pannenberg keineswegs in Abrede gestellt. Um was es ihm vielmehr geht ist die Identität der Kirche, denn: „Ohne solche geschichtliche Identität der Kirche ist ein gegenwärtiges Selbstverständnis einer christlichen Kirche als einer aus dem Missionsauftrag der Apostel hervorgegangenen Glaubensgemeinschaft kaum möglich.“34 Aus diesem Grundsatz, dass Kirche nur in Kontinuität mit ihren Anfängen bleiben kann, was sie sein soll, ergibt sich – zum zweiten –, dass gewissermaßen ein Wettlauf darum einsetzt, die eigentliche Inkarnation der frühen Kirche für die Gegenwart zu sein. So versteht sich vermeintlich jede Einzelkirche als „authentische Fortsetzung der christlichen Anfänge in der Gegenwart“35 und bewertet 33 W. Pannenberg, Was bedeutet es für die getrennten Kirchen, sich auf eine gemeinsame Vergangenheit zu beziehen?, in: EuE, 211–218, hier: 211. 34 Ebd. 35 A. a. O., 212.
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damit andere Formen von Kirchlichkeit als vom Kriterium der Urkirche abweichend. Insofern zeichnet jede Gestaltwerdung von Kirche nicht nur der Bezug auf die Anfänge der Christenheit, sondern auch der Anspruch aus, die einzig legitime oder zumindest die zutreffendste Verwirklichungsweise von Kirche für die aktuellen Zeitumstände zu sein. Anstelle des Stichwortes der Katholizität, das Pannenberg normalerweise für diesen Umstand verwendet (vgl. STh III, 442– 452), oder dem Pluralbegriff von Kirchen könnte man auch von Konfessionskirchen sprechen,36 da sich alle zu einem einheitlichen Grund bekennen, darüber hinaus aber in der Interpretation des Bekenntnisinhaltes in unterschiedlichem Grad differieren. So hat das Nicaenoconstantinopolitanum als das christliche Bekenntnis schlechthin zu gelten, dem auch keine weiteren Bekenntnisse nachfolgten. (Vgl. STh III, 140) Wie es allerdings auszulegen ist und welche Bedeutung es in seinen Einzelteilen für gegenwärtige theologische Fragen innehat, darüber herrscht Streit.37 Dass man sich hinsichtlich des Bekenntnisinhaltes unterscheidet, gilt Pannenberg nicht nur als möglich, sondern tritt unwillkürlich auf, sobald Glaube in die Form der Lehre überwechselt. Abspaltungs- und Trennungstendenzen sind daher kein Spätphänomen, sondern bereits in den ersten Jahrhunderten des Christentums zahlreich zu beobachten.38 Trotz ihrer Normalität sind Separation und das Bestehen verschiedener Kirchen „Ausdruck eines Abfalls, eines Abweges“39, weil die Christenheit durch ihren gemeinsamen Grund, wie er im individuellen Christus- und damit Gottesbezug zum Ausdruck kommt, immer schon geeint ist. Kirchliche Einheit kann durch menschliches Bemühen überhaupt nicht hergestellt werden, weil erstens die Kirche kein menschliches Produkt, sondern Konsequenz des Glaubens der Einzelnen ist, die in der Kirche durch den Geist gesammelt werden. Zweitens muss Einheit im tiefen Sinne gar 36 Pannenberg selbst kann ebenfalls von Konfessionskirchen sprechen, wenn er die Einzelkirchen meint. Vgl. etwa W. Pannenberg, Einheit der Kirche, 205. 37 Prominent lässt sich dies am Beispiel der Filioque-Frage zwischen der lateinischen West- und der Ostkirche ablesen. Versteht – generalisiert gesprochen – der Westen die Einfügung des Filioque als interpretativen Zusatz, der im Bekenntnistext selbst auch ohne explizite Nennung mitschwingen würde und somit nichts Neues hinzufügt, sondern nur deutlich macht, was im Bekenntnistext auch ohne Zufügung enthalten ist, so stellt die Einfügung für die Orthodoxie eine klare Verfälschung des eigentlichen Bekenntnistextes sowie damit auch des eigentlichen Bekenntnisinhaltes dar. 38 Vgl. Pannenberg, Was bedeutet es, 211. 39 Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit, 201. Die Abwegigkeit, eigene Kirchentümer hervorzubringen, konstatiert Pannenberg auch bezüglich des Entstehens der protestantischen Konfessionskirchen im Zuge der Reformation. Die Kirchenspaltung, die sich zwischen Altgläubigen und den evangelischen Christen sowie zwischen Letzteren untereinander ergeben hat, und die daraus resultierenden Problematiken müssen Pannenberg zufolge als „ungewollte Folgen“ sowie als „Scheitern der Reformation“ interpretiert werden. (Vgl. W. Pannenberg, Reformation und Einheit der Kirche, in: EuE, 254–267, hier: 255)
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nicht erzielt werden, weil alle Christen bereits in Einheit leben, einfach „durch die Tatsache des Christseins, also durch die Verbundenheit eines jeden mit Christus. Und diese“, so fährt Pannenberg fort, „in Christus begründete und bestehende Einheit der Christen ist nichts anderes als jene Gemeinschaft, zu der wir Christen uns immer wieder im Gottesdienst mit den Worten des Apostolikums und des Nicaenums bekennen als zu der einen heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche.“40 Dadurch sind die in ihrem Grund immer schon geeinten, äußerlich jedoch getrennten Christengemeinschaften in Form der Konfessionskirchen jedoch nicht von der drängenden Aufgabe suspendiert, ihre im Kern ihnen vorgegebene und damit auch aufgegebene Einheit zum Ausdruck zu bringen. Dies sei bereits den Reformatoren bewusst gewesen, die deshalb niemals die Einheit der Kirche an sich aufgeben wollten.41 Insofern kann von einem Gelingen bzw. einer „Vollendung der Reformation“42 erst dann die Rede sein, wenn die in ihrem Zuge aufgetretene Spaltung wieder überwunden ist. Ökumenische Arbeit zielt im Anschluss an Pannenberg daher nicht auf Kircheneinheit in dem Sinne, wie sie durch den gemeinsamen Glaubensgrund als Voraussetzung für alle Kirchen bereits gegeben ist. Einigungsbewegungen wollen vielmehr dieser prinzipiellen Einheit konkrete Gestalt verleihen, bleiben aber von der im Geist immer schon bewirkten Einheit unterschieden und zu unterscheiden.43 Dass es sich bei den Einheitsversuchen nicht um reine Kosmetik handelt, die nur für das äußere harmonische Auftreten der Kirche von Belang ist,44 liegt bei Pannenberg in der eschatologischen Ausrichtung der einen Kirche Jesu Christi begründet.45 Diese macht die konkrete Ökumene zu einem unverzichtbaren Bestandteil ekklesiologischer Arbeit, wobei Letztere natürlich immer auf der prinzipiell vorgegebenen Einheit fußt und aufbaut. Die eschatologische Begründung wie Ausrichtung der Kirche ergibt sich aus der Verkündigung Jesu Christi, näherhin aus dem verheißenen Reich Gottes. Diese „Beziehung auf die anbrechende Gottesherrschaft“ (STh III, 41) ist es, welche zur Sammlung der Gemeinde Christi anleitet und auf das Kommen der Herrschaft Gottes warten lässt. Bei Pannenberg fließen an dieser Stelle in die eschatologische Orientierung
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W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit, 200 f. Vgl. W. Pannenberg, Reformation und Einheit der Kirche, 255 f. A. a. O., 259. Vgl. STh III, 127: „Kirchengemeinschaft ist also eine Erscheinungsform, und zwar eine notwendige Erscheinungsform und Konsequenz der Einheit der Kirche, aber nicht unmittelbar identisch mit dieser selbst.“ 44 Vgl. W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit, 205, wo Pannenberg die Einheit als „nicht eine zwar wünschenswerte, aber zur Not auch entbehrliche Zutat zum Sein der Kirche“ bezeichnet. 45 Vgl. hierzu auch Pannenbergs Beitrag Die Bedeutung der Eschatologie für das Verständnis der Apostolizität und der Katholizität der Kirche, in: EuE, 219–240.
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der Urgemeinde notwendig christologische, soteriologische und pneumatologische Momente ein, auf die im Detail einzugehen zu weit führen würde.46 Festzuhalten ist allerdings bezüglich der ekklesiologischen Weichenstellungen, dass sich die Kirche durch ihre christologische Begründung „von vorneherein auf den Horizont der Zukunft des Gottesreiches bezieht, als dessen vorläufige Darstellung die Kirche existiert.“ (STh III, 33) Analog der Pannenberg’schen Christologie, in der in Jesus Christus proleptisch das Eschaton anbricht, ist auch die Kirche Antizipation des Reiches Gottes, jedoch so, dass „das Reich Gottes mit der Kirche nicht einfach identisch“ ist, ja dass die Kirche „nicht einmal als die unvollständige Anfangsgestalt des Reiches Gottes aufzufassen“ ist. (STh III, 42) Konstitutiv für das Kirchenverständnis Pannenbergs ist daher der permanente Bezug, jedoch zugleich die Unterscheidungsmöglichkeit von Kirche und Reich Gottes. Besonders deutlich wird dies am Zeichenbegriff.47 Die Kirche wird dabei insofern zum Zeichen des Reiches Gottes, als sie sich gerade nicht mit ihm gleichsetzt, sondern sich von ihm selbst unterscheidet und dadurch aktuell auf die Zukunft des kommenden Reiches Gottes verweist und zwar gerade dadurch, dass sich die Kirche von dem zukünftigen Reich unterscheidet und unterschieden weiß.48 Der Zeichencharakter der Kirche liegt mithin in ihrer Selbstunterscheidungsfähigkeit begründet. In diesem Sinne ist sie dann aber echtes Zeichen dadurch, „daß die Heilszukunft Gottes darin selber schon gegenwärtig und den Menschen durch die Kirche, durch die Verkündigung und ihr gottesdienstliches Leben, zugänglich wird.“ (STh III, 50) Kirche besteht, wie schon in Abschnitt 2. festgehalten wurde, für Pannenberg primär in der versammelten Gottesdienstgemeinde. Indem diese zugleich antizipatorisch das Reich Gottes zeichenhaft realisiert, verdichtet sich in der Einzelgemeinde das Wesen der Kirche, das seine höchst Zuspitzung „in der Feier des Herrenmahls“ (STh III, 51) findet. Durch das Zusammenfließen von Individualglaube, Kircheneinheit, Bekenntnisgemeinschaft, christologischer Prägung, eschatologischer Ausrichtung sowie zeichenhafter Vergegenwärtigung im Sakrament lädt sich der Begriff der Ortskirche bei Pannenberg so stark auf, dass er sich nur explizieren lässt, indem über die versammelte Gottesdienstgemeinde hinausgeblickt wird. Zunächst ereignet sich Gottesdienst in einem bestimmten Rahmen, also in ekklesialer Form. Einzelgemeinde und Konfessionskirche stehen mithin in einem sich wechselseitig bedingenden Zusammenhang. Die Glaubensindividuen sammeln sich in der Bekenntniskirche um die gemeinsame Verantwortung im Verständnis des Glaubensbekenntnisses. Dass hierzu auch 46 Vgl. hierzu in aller Kürze G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 197–206. 47 Vgl. zum Zeichenbegriff in ekklesiologischer Dimension den Beitrag von Thomas Oehl in diesem Band. 48 Vgl. auch G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, 200 f.
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Kritik und Abweichung gehören, schließt das prinzipielle Übereinstimmen nicht aus. Individuum und Kirchengemeinschaft im Sinne der Konfessionskirche entsprechen sich also hinsichtlich des Verständnisses des Bekenntnisinhalts. Zugleich ereignet sich die Konfessionskirche niemals anders als in der konkreten Form der Ortskirche – zumindest dann, wenn man wie Pannenberg die Organisationsstrukturen der Institution Kirche nicht als maßgebliches Moment der Kirchlichkeit von Kirche versteht. Einzelner Glaubender und Konfessionskirchengemeinschaft repräsentieren also vermittels der Ortsgemeinde das Grundverhältnis von Individualität und Sozialität, wie es als „innere Struktur“ (STh III, 115) der Kirche eignet. Zugrunde liegt bereits auf dieser Ebene die prinzipielle Einheit aller Christen, wie sie im Glauben an Jesus Christus und in der Gottunmittelbarkeit gegeben ist. Diese Einheit scheint zugleich wieder in der Kirche auf, die im Glaubensbekenntnis als die eine heilige, katholische und apostolische Kirche bekannt wird. In der Bezugnahme auf die eine Kirche im Rahmen der Gottesdienstgemeinde ereignet sich die Prolongation des persönlichen Kirchenverhältnisses auf die Beziehung zur im Bekenntnis als eine bekannten Kirche. Anders formuliert: Der individuelle Kirchenbezug richtet sich vermittels der Orts- und der Konfessionskirche auf die eine Kirche des Bekenntnisses. Zwischen Glaubensindividuum, Konfessionskirche – immer konkretisiert in der Ortskirche – und Universalkirche lassen sich mithin über Pannenbergs explizite Nennung hinaus drei ineinandergreifende Beziehungsfelder ausmachen: Der erste Beziehungskreis verläuft zwischen dem einzelnen Glaubenden und der Konfessionskirche bzw. der Gemeindeform, der er angehört. Vermittels dieser Beziehungsebene hat das Individuum aber nicht nur Anteil an der Partikularkirche einer bestimmten Denomination; vielmehr richtet sich seine Teilhabe an Kirche immer schon auf Kirche an sich. Dies lässt sich bei Pannenberg auch daran ablesen, dass er es für charakteristisch hält, dass Christen zunächst Christen und nicht in erster Linie beispielsweise Protestanten oder Katholiken sind.49 Für den Einzelnen hat der konfessionskirchliche Bezug daher immer schon – der zweite Typus – universalkirchliche Dimension, d. h. der Einzelne bezieht sich immer zugleich auch auf die eine Kirche Jesu Christi. Durch diesen Bezug des Individuums zur Kirche in doppelter Hinsicht ergibt sich auch das dritte Verhältnis, nämlich dasjenige zwischen Konfessionskirche und Universalkirche. Dieses organisiert sich analog dem Verhältnis des Glaubenden zur Konfessionskirche: Auch hier begreift sich die Konfessionskirche als letztlich auf die universalkirchliche Weite zielend und steht dennoch in permanenter Spannung zu ihr, aufgrund dessen, dass sie nicht in Identität mit der Universalkirche 49 Dies sei, so Pannenberg, insbesondere, aber nicht nur ein Phänomen der Moderne. Vgl. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, 191.
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steht. Anders formuliert: Die Relation zwischen Individuum und Konfessionskirche reproduziert sich im Verhältnis von Konfessionskirche und Universalkirche – wenn auch auf einem höheren Abstraktionsniveau, da bei der konfessionell verfassten Kirche, geschweige denn bei der Una Sancta, von Individualität und Gemeinschaft nicht in derartiger Konkretion gesprochen werden könnte, wie dies noch auf erster Ebene der Fall war. Zudem spiegelt jetzt die auf der Ebene von Individuum und Konfessionskirche die Gemeinschaft versinnbildlichende Facette den Individualitätspol wieder. In der Konfessionskirche verdichten sich mithin die im Glaubensinhalt geeinten Glaubensindividuen zu einer Individualität sui generis, ohne dabei jemals tatsächliches Individuum werden zu können. Nicht nur für die Relation von Glaubensindividuum und Kirche, sondern auch für das Verhältnis von Konfessions- und Universalkirche lässt sich im Anschluss an Pannenberg somit berechtigt von einer Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität sprechen. Nicht nur der Einzelne oder die Gottesdienstgemeinde, sondern auch jede Konfessionskirche hat somit durch den in Christus gelegten Grund sowie durch die Unmittelbarkeit im Gottesbezug50 immer schon transkonfessionellen Anteil an der einen Kirche Jesu Christi, ja kommt konstitutiv von dieser her und ist deren konkrete Ausdrucksgestalt. Sowohl Einzelner als auch die Konfessionskirchen weichen trotz dieser Versammlung in Grund und Einheit von der einen Kirche ab, eben weil sie nicht in unmittelbarer Identität mit ihr stehen.51 Da Kirchen im Plural aufgrund der einen Orientierung aller Christen auf die eine Kirche jedoch prinzipiell nicht vorgesehen sind, weil die Konfessionskirche „wegen des Partikularismus dieser konfessionellen Besonderheiten keine Allgemeingültigkeit als institutionelle Ausprägungen des Christentums beanspruchen können“52, werden sie nach Pannenberg unglaubwürdig – zumal und insbesondere durch die Berufung auf die eine Kirche Jesu Christi, dem sie durch ihr Sein als Konfessionskirche widersprechen. Für die Ökumene bedeutet dies, dass erst „die Überwindung des Konfessionsgegensatzes, durch die gegenseitige Anerkennung der Kirchen als Teilkirchen der einen Kirche Christi“53 die Un50 Wobei der Gottesbezug der Kirche egal welcher Ausprägung nicht abstrahiert werden kann von dem Gottesbezug, den alle Kirchenglieder je für sich haben. Erst durch die Mitglieder wird die Kirche zur Kirche und umgekehrt werden erst durch die Vermittlungsleistung der Kirche die Grundlagen des Glaubens für den Einzelnen gelegt. 51 Dies sieht Pannenberg auch bei der Konfessionskirche des römischen Katholizismus gegeben, der im zweiten Vatikanischen Konzil durch die Ersetzung von „est“ durch „subsistit“ sichtbar eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen der Institution Kirche und der im Bekenntnis bekannten einen Kirche einziehe (vgl. W. Pannnenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit, 204). Ob diese Einschätzung zutreffend ist, darf wohl auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche als umstritten gelten. 52 W. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, 191. 53 W. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, 199.
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glaubwürdigkeit der kirchlichen Institutionen zu beheben vermag. Ökumenisches Bemühen ist daher kein Additum, was zum Sein der Konfessionskirche hinzutritt; Konfessionalität an sich drängt im Gegensatz hierzu nach Pannenberg immer auf die Überwindung bekenntnismäßiger Differenzen hin, weil die Ausrichtung auf die eine Kirche Christi und das Herkommen von Christus als dem einen Grund Pluralität im Kirchenbegriff an sich ausschließt. Gemäß der Unterscheidung von Bekenntnisakt und Bekenntnisinhalt zielt Kircheneinheit jedoch primär nicht auf übereinstimmende Lehre, sondern auf das gemeinsame Bekennen hin, wie es durchaus im Nicaenum bzw. Nicaenoconstantinopolitanum gemeinchristlich gegeben ist.54 Kirchengemeinschaft und Kircheneinheit sind daher für Pannenberg in erster Linie Bekenntniseinheit.55 Dadurch ist prinzipielle Einheit bereits gegeben, sonst müssten sich die Konfessionskirchen wechselseitig das Christsein absprechen; die Einheit in der Auslegung des Bekenntnisinhalts kann jedoch niemals zum ersten Kriterium von Kircheneinheit werden. Stellt somit die kirchliche Lehre nicht das eigentliche Element dar, in dem es Einheit herbeizuführen gilt, so verschiebt sich die ökumenische Bemühung weg von der Dogmatik hin auf die Aufgabe der Kirchen, die sie in ihrer Beauftragung sowie ihrer eschatologischen Funktion wiederfindet. Um nämlich zum Zeichen des Reiches Gottes zu werden, wie es sich schon in der jesuanischen Sammlung der zwölf Aposteln als symbolisches Gottesvolk ausdrückt, kann und darf die Kirche nicht in sich so aufgespalten sein, dass die einzelnen Konfessionskirchen die Funktion von Kirche an sich je für sich gesondert übernehmen. Für Pannenberg besteht der Zeichencharakter der Kirche gerade darin, nicht nur theoretisch das Reich Gottes vorzustellen, sondern es proleptisch und in aller Fragmentarität, aber doch als solches darzustellen. Daraus folgt, dass die Kirchen um des Kerns des Christlichen willen dazu angehalten sind, ihrer Glaubenseinheit Ausdruck zu verleihen. Für die ökumenische Theologie heißt dies, dass alle Formen einer ‚Rückkehrökumene‘ ebenso auszuschließen sind wie Modelle, die das Aufgehen der Kirchen in eine bestehende Konfessionskirche denken.56 Denkbar sind für 54 Vgl. W. Pannenberg, Konfessionen und Einheit der Christen, 254 sowie ders., Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, 331: „Einheit im Glauben erscheint als möglich ohne Lehrkonsens im traditionellen Sinne.“ 55 Pannenberg plädiert dafür, die interpretativen Verständnisarten des Glaubensbekenntnis, die zur Trennung nicht nur von Kirchen, sondern zur Bildung von Religionsparteien geführt haben, „im Licht ihrer Intention“ in den Blick zu nehmen: „In dem Maße, wie sich dabei der intendierte Inhalt der verschiedenen Bekenntnisformulierungen als ein einziger, nämlich als mit der einen Wirklichkeit Jesu Christi verbunden erweist, werden die gegenseitigen Exkommunikationen der Vergangenheit überwindbar.“ (W. Pannenberg, Konfessionen und Einheit der Christen, 250) 56 Vgl. W. Pannenberg, Reformation und Einheit der Kirche, 258: „Eine solche, alle Christen in sich vereinende Kirche der Zukunft kann nicht einfach identisch sein mit irgendeiner der
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Pannenberg nur Ökumenevorstellungen, welche die Partikularität vermittels der Bekenntniseinheit überwinden und dennoch einzelne Teilkirchen kennen, die sich in der Lehre voneinander, aber nicht im Bekenntniskern unterscheiden. Ökumenisches Ziel muss mithin ein reziproker Anerkennungsprozess der Christen untereinander sein: „Die Gestaltwerdung, das Sichtbarwerden dieser geglaubten Kirche in der gegenwärtigen Christenheit ist aber nur in der Pluralität der vorhandenen Gemeinschaften möglich und zwar durch gegenseitige Anerkennung dieser unterschiedlichen Gemeinschaften, die dann auch neue Ausdrucksformen ihrer Verbundenheit entwickeln werden.“57 Die ökumenische Hoffnung Pannenbergs ruht daher nicht auf institutioneller Einheit, sondern in erster Linie auf einem gegenseitigen Annahmekonzept, das – so Pannenbergs These – schließlich aus sich selbst neue Strukturen von Kirche freisetzen wird, welche die Einheit der Kirche zu sichtbarer Darstellung bringen können. Dazu zählt dann in Pannenbergs Amtstheologie möglicherweise auch ein universales Leitungsamt, das zumindest bezüglich der Einheitsaufgabe dem Papstamt des römischen Katholizismus nahekommt.58 Die eine Kirche wäre demnach nicht auf eine einzige Institution beschränkt, sondern ließe sich durch verschiedene Teilkirchen sogar adäquater zum Ausdruck bringen. Hierfür kann Pannenberg die „These von einer mehrfachen Subsistenz der einen Kirche Christi in den heutigen getrennten Kirchen“59 einbringen, die das Subsistenzmodell der Kirchenkonstitution des zweiten Vatikanischen Konzils aufgreift, aber nicht nur auf den römischen Katholizismus anwendet, sondern prinzipiell für alle christlichen Kirchen aufschließt. Die Einheitsvorstellung von Kirche und Kirchen, wie sie Pannenberg entwickelt, kommt daher dem Verfahren am nächsten, wie es in der Leuenberger Konkordie im Protestantismus des 20. Jahrhundert umgesetzt wurde.60 Pannenberg versteht Unionsbemühungen und die Anerkennung von Partikularkirchen untereinander aber nicht nur als bloßes Festschreiben eines Status quo, der nur unter einer gemeinsamen Sammelbezeichnung Einheit suggeriert. Den Konsequenzen, die sich aus den Unionsbemühungen ergeben, misst er große Bedeutung bei, die im Idealfall eine ‚neue‘ Kirche Christi entstehen lassen. Dass es dazu kommen kann oder zumindest die Richtung entsprechend eingeschlagen wird, setzt sowohl die Beweglichkeit wie auch die Profilierung der einzelnen
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heutigen Konfessionskirchen, die durch die Anathemata früherer Jahrhunderte voneinander getrennt sind.“ W. Pannenberg, Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, 321. Vgl. W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit, 207–209. W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit, 205. Die These schließt ein, dass mit Subsistenz „keine exklusive Vollidentität“ (ebd.) der einen Kirche Christi mit einer Teilkirche gemeint ist. Vgl. W. Pannenberg, Was bedeutet es, 217.
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Konfessionskirchen voraus. Auf der einen Seite müssen Theologumena, die nicht zu den Kernbeständen einer Konfession gehören, als zweitrangig im Sinne der christlichen Einheit eingestuft werden. Andererseits gilt es dasjenige, was eine Konfession als entscheidendes Moment innerhalb des christlichen Bekenntnisses erkannt hat, für alle Christen einzubringen. Hierbei geht es Pannenberg nicht um Kompromissfindung, sondern in erster Linie um Fokussierung auf die konfessionskirchlich relevanten Punkte sowie zugleich um den steten Blick auf die christliche Einheit in Glauben, Bekenntnis und Kirche. Im Bereich des Protestantismus benennt Pannenberg die Rechtfertigungslehre, die als Zentrum reformatorischer Lehre gelten muss.61 Bestehe hierüber ‚katholische‘ Einheit, so sei beispielsweise die Trennung zwischen Reformationskirchen und römischkatholischer Kirche von Seiten der Lehre her im Kern überwunden.62 Ob freilich eine reine Orientierung an den Traditionsbeständen und ihre Hinterfragung auf aktuelle Trennnotwendigkeit dem aktuellen Stand der Konfessionskirchen gerecht wird, muss als Anfrage an das Pannenberg’sche Konzept gerichtet werden. So stellt sich die Frage, ob sich protestantisches Selbstverständnis tatsächlich auf die in der Reformationszeit drängende Frage der Rechtfertigung des Sünders reduzieren lässt. Mit der Ausbildung der Konfessionskirchen ist zugleich eine spezifische kulturelle Entwicklung gegeben, die sich nicht einfachhin in bestimmten Lehrformeln fassen lässt. Zwar zählt Pannenberg solche Seitenarme der Konfessionsentwicklung angesichts der viel bedeutenderen Aufgabe, die Einheit der Christen herbeizuführen, nicht zu den entscheidenden Faktoren; ob damit allerdings dem konfessionellen Selbstverständnis auch nur ansatzweise gerecht begegnet werden kann, bleibt höchst fraglich. Die Tendenz Pannenbergs zur Verkürzung der Konfessionen auf zentrale, systematisierte Lehren und die Hochstellung des Christusbezugs demgegenüber trägt zweifelsfrei gewaltiges ökumenisches Potential in sich. Inwiefern und inwieweit sich die Konfessionskirchen in seinem Konzept jedoch überhaupt zu identifizieren vermögen, dürfte das größte Problem seines ökumenisch-ekklesiologischen Ansatzes sein.
4.
Christenheit und Menschheit
Der ekklesiologische Ansatz Pannenbergs endet in seiner ökumenischen Ausrichtung nicht nur nicht am Rand der Kirchenmauern, sondern führt sogar über die Gesamtheit aller Christen hinaus. Dabei geht es Pannenberg nicht einfach um einen Geltungs- und Gültigkeitsanspruch der Christen in und für diese Welt; er leitet vielmehr die kirchliche Verantwortung auch im Hinblick auf die ganze 61 Vgl. W. Pannenberg, Reformation und Einheit der Kirche, 259. 62 Vgl. ebd.
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Menschheit – und damit indirekt für die Schöpfung – von der eschatologischen Ausrichtung der Kirche her. Soll nämlich die Kirche bereits Vorwegereignis des Reiches Gottes, wenn auch in fragmentarischer und fehlerhafter Ausprägung, sein, dann betrifft sie nicht nur die Christen selbst, sondern die ganze Menschheit, weil aus christlicher Perspektive das eschatologische Handeln Gottes der gesamten Schöpfung gilt. Insofern verbürgt der individuelle Glaubensbezug der Christen nicht nur die „Solidarität aller Christen untereinander“, sondern es lässt sich weiter gefasst sagen: „Die christliche Gemeinde bringt in ihrem Zusammenleben schon jetzt die Herrschaft Gottes zur Darstellung, die die Zukunft der Welt, die Zukunft der ganzen Menschheit ist.“63 Erst von hieraus erhellt, warum Pannenberg die Einheit der Kirche aus ekklesiologischen Gründen so stark gewichtet. Bringt nämlich die Christenheit als Ganze das Reich Gottes, also die Vollendung der Welt in eschatologischer Dimension,64 bereits vorab zeichenhaft zur Darstellung und ist hinzuzufügen, dass das zeichenhaft Dargestellte nicht nur für alle Christen, sondern für die göttliche Schöpfung insgesamt gilt, dann wiegen Dissens und Spaltung in dieser Gemeinschaft umso verderblicher; verstellt doch gerade die Spaltung der Christen, die an sich die Menschheit kat’ exochen, nämlich in vollendeter Form, proleptisch versinnbildlichen sollen, den eigentlichen göttlichen Auftrag an Christ und Kirche. In zweifacher Hinsicht sei auf die Bedeutung Bezug genommen, welche die Christenheit für die Menschheit und umgekehrt die Menschheit für die Christenheit hat: Zunächst (1) muss darauf geschaut werden, welche Konsequenzen es für die Christenheit wie für die Menschheit hat, in dem benannten Verhältnis zu stehen, das durch die eschatologische Ausrichtung der Kirche bei Pannenberg eingeprägt ist. Darüber hinaus (2) gilt es, die Verhältnisbestimmung von Menschheit und der einen Kirche Jesu Christi näher zu betrachten. Dies ist insofern relevant, weil sich hierin Pannenbergs ekklesiologische Basiseinheit von Individualität und Sozialität niederschlägt, von der – wie bereits der vorhergehende Abschnitt zu zeigen versucht hat – der ökumenische Ansatz Pannenbergs imprägniert ist. (1) Pannenberg listet die unmittelbaren Folgen, die aus der Weltverantwortung der Christen für die Kirche hervorgehen, gegen Ende seines 1977 erstmals 63 W. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, 193. 64 So kann Pannenberg, Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, 319 sogar formulieren, dass sich in der Kirche „schon jetzt die künftige Gemeinschaft des Gottesreiches, das die ganze Menschheit umfassen soll, und zwar eine erneuerte Menschheit, die durch das Gericht Gottes hindurchgegangen ist“ (Hervorhebung S.D.), manifestiere. Die Kirche ist damit für Pannenberg explizit Vorläuferin und Verwirklichungsgestalt des himmlischen Jerusalems. Dass angesichts dieser Dimension, welche die Kirche in ihrer Funktion einnimmt, die Glaubensdifferenzen zwischen den Konfessionen für ihn schlechterdings unhaltbar sind, ergibt sich daraus von selbst.
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veröffentlichten Beitrags Christsein ohne Kirche auf.65 Solle die Kirche Zeichen und Werkzeug auch für die Einheit der Menschen sein,66 so dürfe sich diese Einheit nicht menschlicher, sondern göttlich begründeter Herrschaft verdanken. In der Kirche dürfe daher paradigmatisch für die Menschheit insgesamt nur die Herrschaft Gottes zugelassen sein, nicht jedoch diejenige von Menschen. Dies schließe zwar nicht aus, dass es Führungs- und Leitungsämter gebe; damit sei aber nichts über die tatsächliche Potenz solcher Ämter ausgesagt, die ihren Rückhalt vielmehr „in den Gemeinden und in der Gesamtchristenheit“67 finden müssen. Sodann könne demzufolge keine irdische Gemeinschaft für die Einheit der Menschheit fungieren außer die Kirche. Letztere zeichne sich eben dadurch aus, „auf die Herrschaft Gottes und Christi begründete Gemeinschaft“68 zu sein, in welcher das Werk Christi nicht zur rein menschlichen Machtkategorie verkomme. Der darauf folgende Punkt ist für das Sein der Kirche von entscheidender Bedeutung: Kirche könne „nur eine symbolische Bedeutung für die Bestimmung der Menschen zur vollkommenen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit im Reiche Gottes haben.“69 Dies folge daraus, dass die Kirche reines Organ der göttlichen Vorsehung, nicht aber selbsttätige Einrichtung sei, so dass alle Wirkung, die von ihr ausgehe, auf der „Symbolkraft ihrer Existenz als Zeichen dieser [sc. der Menschheit] Einheit“70 beruhe. Für das Selbstverständnis von Kirche ist dies insofern folgenreich, als die Selbstunterscheidungskompetenz, die ihr als Kirche Jesu Christi eignen muss, nicht nur theoretisches Instrument zur Bemessung von ‚Kirchlichkeit der Kirche‘ darstellt; vielmehr äußert sich dieses Kriterium zugleich in der Auftragserfüllung der Kirche: Nicht Eigenaktion, sondern symbolische Zeichenkraft zu sein ist ihr intimster Auftrag. Um diesen zu erfüllen, muss die Kirche aber selbst dem, was sie zeichenhaft zu bezeugen gedenkt, gerecht werden und daher geeint sein. Exemplarisch und deshalb bestmöglich sichtbar werde diese tatsächliche Einheit aller Christen im einheitsstiftenden Herrenmahl, das ob dem „neu als die Mitte des gottesdienstlichen Lebens entdeckt“71 werden solle. Das Fazit, das sich aus den Voraussetzung ergibt, die mit dem Auftrag der Kirche gegeben sind, fällt bei Pannenberg entsprechend klar aus: „Die Über65 Vgl. hierzu und im Folgenden W. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, 196–199. Im Literaturund Veröffentlichungsverzeichnis ist der Beitrag fälschlich als Christentum ohne Kirche tituliert. 66 In seiner Terminologie bezieht sich Pannenberg auf das 2. Vaticanum sowie die Weltkirchenkonferenz in Uppsala 1968. Vgl. a. a. O., 194. 67 A. a. O., 197. 68 Ebd. 69 Ebd. In diesem Zusammenhang gilt es auch den Erwählungscharakter im Blick zu behalten, den in diesem Band Walter Dietz für Pannenbergs Theologie beleuchtet. 70 W. Pannenberg, Christsein ohne Kirche, 197. 71 A. a. O., 198.
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windung der Glaubensspaltung der Christenheit ist die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß das Christentum zum Zeichen für die Einheit der Menschen werden kann.“72 Warum dies so ist, ergibt sich aus der Grundstruktur der Pannenberg’schen Ekklesiologie: Sozialität und Individualität sind gleichursprüngliche Momente und gleichermaßen konstitutiv für gelingendes Christsein. Dies hat der Beitrag bereits in verschiedenen Dimensionen zu zeigen versucht; der folgende Abschnitt versucht diese Linie weiter und in systematischer Nachfolge von, jedoch leicht über Pannenberg selbst hinaus zu zeichnen. (2) Wie schon das Glaubensindividuum für Pannenberg nicht auftreten kann, ohne dass es auf demjenigen Evangelium fußen würde, das wiederum durch die Kirche vermittelt wird, so besteht auch zwischen Christenheit und Menschheit ein ähnliches Reziprokverhältnis: Dabei rückt die Christenheit an den Individualpol, die Menschheit an denjenigen der Sozialität. Christsein ist allererst möglich durch das Menschsein – und umgekehrt versinnbildlicht das Christsein das Menschsein in seiner Vollkommenheit, nämlich gemäß eschatologischer Vollendung. Insofern lässt sich für die Relation von Christenheit und Menschheit dieselbe Konstellation ausmachen, wie sie schon für Glaubensindividuum und Kirche bzw. für Konfessionskirche und Universalkirche identifiziert wurde. Der einzige Unterschied ist das wachsende Abstraktionsniveau, weil der Pol des Individuums von einer immer theoretischeren Größe – Individuum, Kirche, Christenheit – versinnbildlicht wird. Zugleich scheint bei Pannenberg gerade im Individuum immer das als Zeichen durch, was die umfassendere Größe, also den Sozialitätsaspekt, – Kirche, Una Sancta, Menschheit – repräsentiert. Im ‚Kleinen‘ tritt mithin zeichenhaft jeweils das Ganze zutage, was sich über die Ebenen hinweg auf die ganze Schöpfung hin auswächst. Und dennoch liegt der Clou in der Pannenberg’schen Systematisierung gerade darin, dass immer das kleinste Glied konstruktiver und entscheidender Bestandteil für das Ganze darstellt. Unaufgebbar ist daher immer das kleinere – den Individualitätspol abbildende – Glied in der Kette. Dies zeigt sich bei Pannenberg schon anhand dessen, dass er Kirche vom Individuum, dass er das Bekenntnis vom Bekenntnisakt her denkt. Durch diese Grundentscheidung pflanzt sich die eingeschlagene Linie bis hin zur Verhältnisbestimmung von Christenheit und Menschheit fort. Ebenfalls erhalten bleibt das Moment der Selbstunterscheidungsfähigkeit, welches stets der Pol zu beachten hat, welcher zeichenhaft für das Ganze in seiner Vollkommenheit steht, also das Glaubensindividuum für die Kirche, die Konfessionskirche für die Universalkirche, die Kirche Jesu Christi für die Menschheit. Die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist stets so zu berücksichtigen, dass die tatsächliche Vollendungsgestalt, die im Zeichen bezeichnet wird, niemals vom Zeichen selbst oder auch durch Ausweitung des Zeichenbereichs – z. B. 72 A. a. O., 198 f.
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des Christentums auf die Menschheit – zu bewirken wäre. Letzte Einheit und Vollendung steht immer außerhalb der Verfügbarkeit menschlicher Zeichenmacht – und gehe sie von der Kirche selbst aus. Verdeutlichen lässt sich dies am gesellschaftlich-kirchlichen Zusammenhang, wie Pannenberg ihn expliziert: Gesellschaften funktionieren – analog der kirchlichen Gemeinschaft – nur durch das Zusammenspiel von Individualität und Sozialität. Die Bedeutung, die der Religion in diesem Zusammenhang vermittels kirchlicher Zeichenfunktion zukommt, ist die Inanspruchnahme genau der Selbstunterscheidungsfähigkeit, die der Kirche selbst eignet. Die „Gegensätze zwischen Individuum und Gesellschaft“ sind nämlich nach Pannenberg „auf der Ebene der ökonomischen und politischen Ordnung der Gesellschaft nicht aufhebbar“, was zur „Unentbehrlichkeit der religiösen Thematik“ führt.73 Letztgenanntes Phänomen rührt daher, dass gesellschaftlicher Verbund, der immer auch Leitungsfunktionen bzw. Herrschaft nach sich zieht – analog dem kirchlichen Amt –, nur unter der Voraussetzung funktioniert, dass die Herrschenden ihre Legitimation nicht durch eine „ihrer Willkür unterworfene[n] ‚Wahrheit‘ ausüben“, sondern sich an einer Wahrheit ausweisen, „die ihnen wie allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft vorgegeben[]“ ist.74 Herrschaft ist daher stets voraussetzungslastig, sofern sie legitim und in Übereinstimmung mit den Beherrschten stattfinden soll. Diese Voraussetzung dürfen aber nicht der Gesellschaft selbst entspringen, wie etwa aus juristischen oder wissenschaftlichen Bemühungen, sondern müssen tatsächlich gesellschaftsübergreifende sein und sich auf etwas berufen, das die „Sinntotalität der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit umfaßt. Das ist vielmehr die Funktion der Religion, und aus diesem Grunde muß Herrschaft, um sich zu legitimieren und sich der Loyalität der Beherrschten zu versichern, religiöse Glaubenswahrheiten voraussetzen, an die sie sich bindet, um sich durch sie zu legitimieren.“75 Ein solches gesellschaftliches Herrschaftsmodell ist insofern von religiösen Voraussetzungen abhängig, als die Glaubensgemeinschaft durch das Prinzip der Selbstunterscheidung gleichfalls dadurch ihre Legitimation bezieht, dass sie sich nicht in eins setzt mit dem, was sie bezeichnet. Käme es hier zu einer Koinzidenz von Bezeichnetem und Zeichen – wie es bei willkürlicher Herrschaft bzw. einer Kirche, die sich selbst einzig und unterschiedslos für das Reich Gottes hielte, der Fall wäre –, dann wäre Glaubwürdigkeit verspielt und echter Zeichenanspruch ad absurdum geführt. Zu letzterer Gefahr tendiert bei Pannenberg das Christentum durch seine Konfessionsspaltungen, welche die einzelnen Kirchen dazu neigen lassen, sich als einzig wahre Inkarnation von Kirche zu verstehen. Aufgehoben 73 W. Pannenberg, Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, 328. 74 Ebd. 75 A. a. O., 329.
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werden kann die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem aber gerade nicht vom Zeichen her oder von dem, für den das Zeichen aufgestellt ist. Die Auflösung der Spannung obliegt vielmehr dem im Zeichen Bezeichneten selbst bzw. demjenigen, der für das Bezeichnete bürgt. Dies ist innerkirchlich das Reich Gottes bzw. Gott selbst, im gesellschaftlich-politischen Kontext dasjenige, was von der Kirche in Zeichenform vorgelebt wird. Insofern ist die Einheit der Christen, die allererst Zeichencharakter in kirchlicher Hinsicht übernehmen kann, Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschheit bei Pannenberg.
5.
Proexistenz von Individualität und Sozialität
Wolfhart Pannenbergs Ekklesiologie hat als zentralen Bezugspunkt die eschatologische Vollendung der Schöpfung im Reich Gottes. Dieses Ziel, auf das die Gesamtheit der Schöpfung zuläuft, spiegelt sich proleptisch vollständig in Jesus Christus und seinem mit ihm in persona angebrochenen Evangelium des Reiches Gottes. Zwischen Prolepse und ausstehender Realisierung des Reiches Gottes spannt sich der Bezugsrahmen der Kirche Jesu Christi auf, wobei alle Linien, die sich ekklesiologisch eröffnen lassen, ihren Ausgang bei Christus nehmen und wiederum zusammenlaufen im eschatologisch verheißenen Reich. Diese elliptische Bewegung bestimmt den ekklesiologischen Prozess als Ganzen. Da er für den Menschen abläuft, vollzieht er sich in anthropologischer Konsequenz im Wechsel von Individualität und Sozialität. So gelingt es Pannenberg, die verschiedenen Ebenen seiner Kirchenlehre – Glaubensindividuum, Konfessionskirche, Universalkirche, Vollendung der Menschheit – so zu koppeln, dass die Ebenen nicht separiert voneinander vorstellig werden können, sondern so miteinander verbunden sind, dass sie sich wechselseitig durchdringen und reziprok aufeinander angewiesen bleiben. Bedingt ist dies durch eine Doppelbewegung: Einerseits ziehen sich die Linien von Christus zum Reich Gottes quer durch die Ebenen und binden sie immer wieder zusammen. Andererseits verstehen sich die Einzelebenen immer als ein Reziprokgefüge von Individualitäts- und Sozialitätspol. Dadurch entsteht eine permanente Spannung, die sich auf Individuumsebene etwa in Kirchenkritik äußern kann und die aufzuheben dem Eschatologiepol vorbehalten bleibt. Beide Momente – Individualität wie Sozialität – stehen daher unter demselben Vorzeichen, welches einerseits eschatologisch aussteht, auf welchem sie aber andererseits beide bereits gegenwärtig durch die Prolepse in Christus gründen. Die Konstruktion des Systemgebäudes in der Kirchenlehre ermöglicht es Pannenberg, den zusammenhängenden Gegensatz von Individualität und Sozialität zur Grundlage aller Potenzierungen im ekklesiologischen Vollzug zu erheben. Ohne sich selbst zur Einheit vervollständigen zu können, fungieren
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beide Seiten füreinander: Ohne den Sozialitätspol gäbe es den Individualitätspol nicht, weil das Individuum stets sein Selbstverständnis aus der ihm durch die Gemeinschaft vermittelte Identität bezieht. Individuum, Konfessionskirche, Christenheit wären nicht das, was sie sind, wären ihnen nicht kirchliche Gemeinschaft, Universalkirche und Menschheit inhaltlich vorgeordnet. Umgekehrt kann Gemeinschaft nicht sein ohne Individuen, die sie bilden. Die Sozialitätsmomente bleiben mithin angewiesen auf das Vorhandensein dessen, wozu sie inhaltliche Voraussetzung sind. Individualität und Sozialität stehen damit in einem Reziprokverhältnis, das eine wechselseitige Proexistenz beinhaltet. Das Dasein für den jeweils anderen Pol ermöglicht allererst die Gemeinschaft, die zu konstituieren dem göttlichen Geist vorbehalten ist. Insofern sind Individualität wie Sozialität gleichermaßen machtlos angesichts dessen, dass sie ihre eigene Fusion nicht zu bewirken vermögen, wie zugleich konstitutiv füreinander, da sie sich gegenseitig ins Werk setzen. Die Kirche nimmt bei Pannenberg in diesem System insofern eine entscheidende Funktion war, als sie in der Mitte steht. Dadurch wechselt sie die Polseite – je nachdem, ob sie gegenüber dem Glaubensindividuum die Sozialität oder gegenüber der Menschheit die Individualität repräsentiert. Das verleiht ihr ihren Zeichencharakter, den sie vermittels Selbstunterscheidung so von sich weist, dass sie zwar Zeichen sein will, aber eben nur Zeichen und nicht das Bezeichnete selbst. Virulent wird diese Konstellation insbesondere im Herzen des Kirchenbegriffs selbst: Durch die Doppelfunktion der Kirche weist Letztere nämlich verschiedene Gesichter auf. So unterscheidet sich die Konfessionskirche von der Universalkirche, wie sie als die eine Kirche im Glaubensbekenntnis bekannt wird. Kirchen und Kirche reproduzieren daher in sich selbst den Zusammenhang von Individuen und Gemeinschaft. Genau hieraus speist sich das ökumenische Anliegen Pannenbergs. Es versucht die Grundstruktur von Individuum und Gemeinschaft so auf die Kirche zu übertragen, dass die Proexistenz von Kirchen zur Kirche sowohl dem Anliegen der Konfessionskirchen wie auch der Notwendigkeit kirchlicher Einheit Rechnung trägt. Erst im Sein der Kirchen von der Kirche her und zugleich im Zusammenspiel der Kirchen als die eine Kirche Jesu Christi lässt sich Christsein in Individualität und Sozialität leben. Andernfalls – so die These Pannenbergs – wird das, was in der Mitte als ‚die Kirche‘ steht, gegenüber den einzelnen Glaubenden unglaubwürdig und verfehlt gegenüber der Schöpfung den Auftrag, der ihr durch das jesuanische Evangelium vom Reich Gottes aufgegeben ist.
Walter Dietz
Kirche und Erwählung in der Theologie W. Pannenbergs1
1.
Vorbemerkungen – Schlaglichter des Erwählungskonzeptes bei Pannenberg
Die von Dekan Chr. Levin geleitete Trauerfeier für W. Pannenberg in St. Markus (München) am 12. September 2014 rekurrierte für die Ansprache auf ein Wort aus den johanneischen Abschiedsreden2: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt …“.3 Christus wird hier erfahren und gepriesen als derjenige, der uns erwählt und beruft. Der Erwählungsgedanke ist in diesem Kontext ( johanneisch) auf den Jüngerkreis (der Gemeinde) bezogen, in dem sich die Liebe in besonderer Weise aktualisiert und verwirklicht, nicht als Allerweltsliebe oder gar als Liebe besonders zum Fremden. Dass die Liebe der Erwählten deren Verantwortung für sich und ihresgleichen schärft und vertieft, war für Pannenberg eine herausragende Erkenntnis. Allerdings war ihm die Pointierung des Erwählungsgedankens in beschränkter Zuspitzung auf eine bestimmte Gruppe von Menschen von Grund auf fremd, ebenso jegliche subjektive Koketterie mit dem Gedanken des eigenen Erwählt- oder Berufenseins. Das „Wir“ kommt bei ihm vor dem „Ich“4, d. h. auch das individuelle Erwähltsein spielt sich in einem Rahmen ab, der den subjektivindividuellen Horizont zwar benötigt, aber zugleich immer schon transzendiert. Erwählungsgeschichte ist Manifestation des göttlichen Wirkens in der Ge-
1 Mündlich vorgetragen wurde auf dem Kolloqium am 22. Oktober 2016 aus Zeitgründen im Wesentlichen nur Teil 4 (Thesen) und 5 B (Kritik). 2 Joh 15,16 (… egó exelexámen hymás; Vulg.: ego elegi vos). 3 Vollständiger Wortlaut des Predigtverses: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe.“ (Joh 15,16) – Das Thema der gesamten Perikope ist allerdings nicht die Erwählung, sondern das unbedingte Bleiben in der Liebe Jesu Christi (vgl. Joh 15,9–17). 4 Dies gilt bemerkenswerterweise auch für die Vorordnung der Gottesherrschaft vor der Person Christi als des Messias; vgl. Thesen zur Theologie der Kirche, München 1970, 12 (§ 9).
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schichte, die sich nicht blind an und in der Natur, sondern konkret durch Personen, Völker und Institutionen vollzieht. So manifestiert sich die Geschichte Gottes mit der Menschheit vor allem als Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk Israel. Diese Erwählung ist einmalig in dem Sinn, dass Gott sie nicht revidiert, aber nicht in dem Sinn, dass sie etwas Letztes darstellt. Dieses Letzte der Erwählung stellt sich nach Pannenberg beinahe schon als paradoxe Aufhebung des Erwählungsgedankens dar: Gottes Erwählungshandeln zielt letztlich auf die Menschheit als Ganze. Insofern haben übergreifende Sozialformen wie Volk oder Nation für Pannenberg stets den Sinn eines Vorletzten. Sich z. B. als Nation in besonderer Weise geschichtstheologisch berufen zu fühlen (vgl. Deutschland, England, Amerika), ist somit in seinen Augen ein Irrweg, der jene Vorläufigkeit verkennt und in die Überheblichkeit der nationalistischen Selbstbehauptung führen kann.5 Theologisch abwegig wäre es, das eigene Erwählungsbewusstsein polemisch gegen den ‚Rest der Welt‘ auszuspielen und sich über ‚die anderen‘ zu erheben. Ein polemischer, restriktiver und auto-protektionistischer Geist kann so aus einem falschen kollektiven Erwählungsbewusstsein resultieren und damit verkennen, worauf Gottes Erwählungshandeln letztlich zielt: die Menschheit in ihrer Einheit, nicht in einer spezifischen rassischen, völkischen oder nationalen Besonderheit. Übersteigerter Nationalismus wird somit als Irrweg bewertet, der die menschliche Bestimmung als „gemeinschaftliche, nur in Mitmenschlichkeit zu realisierende“ verfehlt.6 Die Stärke der Erwählungstheologie in der Auslegung Pannenbergs liegt darin, dass sie jeglichen engstirnigen Nationalismus und jede Verklärung oder Überhöhung des ‚Völkischen‘ zweifelsfrei vermeidet. Politisches Handeln ist daher am übergreifenden Gemeinwohl orientiert, nicht an elitären Sonderinteressen. Die Erwählung Israels wird als unwiderruflich verstanden (vgl. Röm 9–11), aber zugleich entgrenzt hin auf ein Erwählungshandeln mit universalem Horizont. Somit zeigt sich die universale Tendenz der Theologie Pannenbergs auch im Kernstück der Erwählungslehre: In seinem Erwählungshandeln erweist sich Gott nicht als fixiert und borniert, sondern letztlich auf die Menschheit im Ganzen ausgerichtet. In diesem universalen Akzent zeigt sich freilich auch seine öku-
5 Vgl. den Aufsatz Nation und Menschheit, 1965, in: Ethik und Ekklesiologie, Göttingen 1977, 129–145, insbes. 140. 6 Thesen zur Theologie der Kirche, München 1970, 12 (§ 7). In diesen Thesen geht es im Kern um Ekklesiologie und Eschatologie, nicht um Ekklesiologie und Erwählungstheologie. Der Erwählungsgedanke spielt hier für das Kirchenverständnis (ganz anders als in STh III) keine maßgebliche Rolle. Bemerkenswert ist, dass in jenen Thesen (1970) der Begriff der Erwählung – anders als z. B. die Stichworte Demokratie, Gottesherrschaft oder Liebe – im Sachregister S. 58 völlig fehlt.
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menische Aufgeschlossenheit im Blick auf eine positive Rezeption der Ekklesiologie des 2. Vatikanums (Lumen gentium: Kirche als sacramentum mundi) 7. Diese universale Tendenz liegt allerdings noch nicht im Erwählungsbegriff als solchem. Ganz im Gegenteil charakterisiert dieser ja das Moment der Ausgrenzung (electio) und der Besonderheit des Erwählten, oder anders formuliert: Im Erwählen des Erwählten ist zugleich die Nichterwählung des Nichterwählten mitgesetzt. Erwählungsbewusstsein ist so gesehen Differenzbewusstsein. Bei Luther (1525) findet sich die Tendenz, die Unergründlichkeit des göttlichen Erwählungshandelns festzuhalten (d. h. es am deus absconditus festzumachen), während Pannenberg die umgekehrte Tendenz verfolgt, die Erwählung ausschließlich am Handeln des sich offenbarenden Gottes festzumachen (d. h. am deus revelatus), wobei er somit der Linie von F. Schleiermacher und A. Ritschl folgt. Ihr theologisches Recht hat diese Option in dem grundlegenden Gedanken, dass Gottes Erwählungshandeln auf Jesus Christus zielt und in ihm kulminiert, d. h. in der Gestalt, in der Gott „sein väterliches Herz ausgeschüttet“ hat (Luther 1529)8. Erwählung ist somit kein willkürliches und blindes Verfahren, sondern zielgerichtet hin orientiert auf die Selbstoffenbarung Gottes in Christus. Markant ist dabei der für Pannenberg grundlegende Aspekt, dass die Gottheit Gottes wesentlich mit seiner Allmacht verbunden ist und diese sich geschichtlich manifestiert. Die Erfassung des Erwählungshandelns Gottes ist somit der Schlüssel dafür, ihn – in Abkehr von einer engführenden Theologie des Wortes Gottes – als einen geschichtlich wirkenden und geschichtsmächtigen Gott zu begreifen. Geschichtlichkeit des Wirkens Gottes und Erwählungsbegriff hängen für Pannenberg somit ganz eng zusammen. Diese Perspektive ergibt sich für ihn schon aus der atl. Konzeption des Erwählungsbegriffs. Für das NT kommen nicht nur neue Nuancen hinzu, sondern stellt sich die Frage nach der Einheit des göttlichen Erwählungshandelns in der Relation von Neuem Bund zu Altem Bund, das nicht einfach als beliebiges Neben- oder Nacheinander diverser Bundesschlüsse interpretiert werden kann. Ferner tritt mit Jesus von Nazareth eine Gestalt in Erscheinung, die sich nicht einfach als Fortsetzung der atl. inaugurierten Bundesschlüsse verstehen lässt (z. B. Jesus als zweiter Mose, das Evangelium als nova lex), sofern in ihr der Anspruch einer eschatologisch (end)gültigen Erwählung auf den Plan tritt, deren grundlegender Charakter den Sinn des Erwählungshandelns Gottes (an Israel) ex post insgesamt 7 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, LG 1 (1964). Christus wird als Licht der Völker gepriesen und die Kirche als sacramentum salutis totius mundi verstanden, wobei jeweils der universale (entschränkte) Horizont programmatisch ist. In Analogie dazu entwickelt Pannenberg eine Ekklesiologie und Erwählungslehre mit entgrenzendem, universalen Horizont. 8 Martin Luther, Der Große Katechismus, II. (Beschluß der drei Glaubensartikel).
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durchsichtig zu machen in der Lage ist. In diesem Sinn ist die Kirche nicht einfach als Fortsetzung Israels bzw. seines „heiligen Restes“ zu verstehen, sondern als eschatologisch erwähltes Volk Gottes.
2.
Die beiden Grundfragen der Erwählungstheologie nach Pannenberg
Bei der theologischen Erörterung der Frage nach dem Selbstverständnis der Kirche spielen zwei Fragen9 eine herausragende Rolle: 1. Wie verhält sich die Kirche zum Reich Gottes, das den Kern der Botschaft Jesu ausmacht? (Identität oder Differenz) 2. Stellt die Kirche das Volk Gottes dar, und wenn ja, in welcher Form? Wie verhält sich das neue Volk Gottes zum alten? (Abkehr vom Usurpationsmodell und Substitutionsgedanken aufgrund der Bundestreue Gottes, vgl. Röm 9–11)
3.
Die Frage nach der Bestimmung des Menschen (destiny of man) als anthropologische und als erwählungstheologische Problematik; Erwählung zum „Volk Gottes“
Bezeichnend für Pannenbergs Behandlung der Erwählungslehre ist, dass er sie nicht nur in einen heilsgeschichtlichen (Geschichte Israels), sondern auch in einen anthropologischen Bezugsrahmen setzt, so dass die Frage nach der Bestimmung des Menschen (essence of humanity; destiny of man) nicht eine rein anthropologische, sondern auch eine erwählungstheologische Behandlung erfordert. In seinem Büchlein von 1978 (dt. Titel: Die Bestimmung des Menschen) verbindet Pannenberg die Frage nach dem Wesen des Menschen mit dessen Geschichte und Geschichtlichkeit. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass das Wesen des Menschen nicht in seiner biologisch-genetischen Vorfindlichkeit beschlossen liegt, d. h. nicht immanent mit empirischer Wissenschaft ausgelotet werden kann. Die Bestimmung des menschlichen Wesens kann nicht unter Absehung von der Frage nach seiner geschichtlichen Bestimmung erfolgen. Was der Mensch ist, zeigt sich nach Pannenberg im Horizont der Geschichte. 9 Für die erste Frage gilt, dass sie von Anfang an im ekklesiologischen Konzept Pannenbergs verankert ist. Die zweite Frage liegt erst im späteren Konzept (insbes. der Systematischen Theologie) ausgereift vor. Für die früheren Beiträge (Thesen zur Theologie der Kirche, 1970; Theologie und Reich Gottes, 1982) fällt auf, dass der Erwählungsbegriff nur von untergeordneter Bedeutung ist und keine tragende Funktion besitzt.
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Durch den Erwählungsgedanken legt bereits die Bibel (im AT) den Fokus auf die Geschichte. Dass Israel das erwählte Volk Gottes ist, zeigt sich in und an seiner Geschichte. Im AT wird Gott als in der Geschichte handelnd begriffen (41)10; ein nicht handlungsfähiger Gott wäre ein ohnmächtiger, überflüssiger Gott: „Ein Gott, der nicht handelt, ist überhaupt kein Gott“, sondern „ein Nichts“ (41). Der Erwählungsgedanke gilt hier nicht dem Individuum, sondern „dem jüdischen Volk“ als Träger einer dauerhaften Verheißung (cf. Gen 12). Erst später erfolgte eine Individualisierung des Erwählungsgedankens, wodurch er zugleich „entzeitlicht“ wurde (42) und somit seine geschichtliche Dimension verlor. Indem Thomas von Aquin die Erwählung als ewigen, rein außergeschichtlichen11 Akt Gottes sieht, wird sie primär zu einer Frage der Gotteslehre (ohne geschichtlichen Bezug; 42 f.). Im AT ist die Erfahrung der Erwählung gebunden an den Exodus (die Befreiung aus Ägypten); so verstand sich Israel als erwähltes „Eigentumsvolk“ Gottes (44)12. Das Ziel der Erwählung wird begriffen als Gemeinschaft mit Jahwe (44 f.): In der Gemeinschaft mit Gott erfüllt sich die Bestimmung des Menschen (bzw. atl.: des Volkes Israel). Bei Dtjes13 wird der Erwählungsgedanke entgrenzt, so dass auf die Wirkung Israels unter den Völkern reflektiert wird. Ziel ist es, „den Völkern das Recht zu bringen“ (46). Nach Am 3,2 impliziert Erwählung auch eine solche zum Gericht – Erwählung und (befristete) Verwerfung schließen einander nicht aus.14 Jes 14,1 geht von der Möglichkeit einer zweiten Erwählung aus (49), was voraussetzt, dass Israel seine Erwählung verspielt und die Gunst Gottes verloren hatte.
10 Seitenzahlen im Text (ohne weitere Angaben) beziehen sich auf Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen, Göttingen 1978, hier 41. Vgl. auch BSTh I, 1999, 261 mit Verweis auf G. v. Rad und Kl. Koch zu Jes 5,12; 28,21. 11 Pannenbergs eigene Intention geht schon früh (1958) dahin, die ewige Erwählung nicht als vor- oder übergeschichtlichen Akt Gottes zu begreifen; vielmehr manifestiere sich die Ewigkeit der Wahl Gottes gerade in ihrer Geschichtlichkeit. Belegstellen, die eine Erwählung schon vor Grundlegung der Welt bezeugen, bestreitet Pannenberg zwar nicht, betont aber, dass der Gedanke einer „ewigen E. in Christo … im NT selten so laut wird“. Die Formulierung in Eph 1,4f (Gott hat uns in Christus erwählt, „ehe der Welt Grund gelegt war“, und uns zur Kindschaft durch Christus „vorherbestimmt“; vgl. STh III, 485,487, 492, 499; s.a. Röm 8,29f) stellt in seinem Urteil (von 1958) ein Randzeugnis dar, einen „kühnen Satz“, weil er die Erwählung der Kirche durch Christus als ewig-außerzeitliches Ereignis beschreibt. Dieser Konstruktion kann und will Pannenberg in seinem Erwählungskonzept nicht folgen, weil sie die Ewigkeit vorab zur determinierenden Schablone des göttlichen Geschichtshandelns machen würde (RGG³ II, 620). Dem entsprechend warnt Pannenberg in STh III, 481 vor einer „abstrakten Erwählungsvorstellung“, die auf Gottes ewigem Ratschluss gegenüber dem Einzelnen aufbaut. 12 Vgl. Dtn 7,6ff; zu Dtn 7,8f vgl. Grundfragen I, 1967, 25 (in: Heilsgeschehen und Geschichte, 1959). 13 Jes 42,1f vgl. 2,3. 14 Vgl. STh III, 1993, 535 f.
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Im Buch Henoch (äth.Hen.) erfolgte eine Konzentration des Erwählungsgedankens auf Individuen (was Pannenberg nicht als Fortschritt ansieht, sondern als Rückfall hinter das Grundparadigma der Erwählung in und zur Gemeinschaft; 49). Damit verbindet sich dann auch der Gedanke eines Weiterlebens nach dem Tod, um Erwählung und Gericht am Einzelnen zu vollenden (51). Diese Vollendung erweist sich als nötig, nachdem der Tun-Ergehens-Zusammenhang im diesseitigen Leben offensichtlich nicht aufgeht. In Analogie zum Gedanken eines erwählten „heiligen Restes“ Israels geht auch das NT davon aus, dass nicht alle erwählt sind (Pannenberg beruft sich hier u. a. auf Mt 22,14). Für Paulus stellt Pannenberg eine (aus seiner Sicht ungute) Individualisierung des Erwählungsgedankens fest, zugleich aber auch die Vision, dass am Ende auch ganz Israel gerettet werde (55, mit Verweis auf Röm 11,25f). Im Barnabasbrief und seiner Substitutionsthese (die Kirche ist das Volk Gottes – Israel ist und war nie wirklich Gottes Volk) sieht Pannenberg einen Rückfall hinter Paulus (56). Das Bewusstsein „ausschließlicher Erwähltheit“ (56) habe der Kirche, so Pannenberg, nicht gut getan, weder im Blick auf ihr Verhältnis zum Judentum, noch intern im Blick auf ihren Umgang mit ,Ketzern‘ im Geiste „dogmatischer Intoleranz“ (56). Im Mittelalter verstand sich die Kirche stärker sakramental als Amtskirche und nicht als Volk Gottes. Dass die röm.-kath. Kirche im 2. Vaticanum die Wesensbeschreibung von Kirche als Volk Gottes (neben ihrem sakramentalen Verständnis) wiederentdeckt hat, sieht Pannenberg nicht als Manko, sondern als Vorzug, da der Begriff „Volk Gottes“ konfessionell offen und übergreifend ist und den juridisch-hierarchischen Aspekt wohltuend zurücktreten lässt. Später, insbes. in STh III (1993), wird dieser Gesichtspunkt dann noch vertieft: Die in Pannenbergs Augen nicht ganz unproblematische15 Bezeichnung der Kirche als Volk Gottes bedarf einer Verhältnisbestimmung zum Volk Israel und seiner (nicht revidierten) Erwählung zum Volk Gottes, die Pannenberg hier 1977/ 78 nur ansatzweise16 vorgenommen hatte. In STh III wird dies ergänzt durch eine erneute, kritische Reflexion auf die christliche Beanspruchung der Idee einer Erwählung zum (einzigen? neuen?) Volk Gottes unter Voraussetzung einer „Substitutionsthese“. Diese kritisiert Pannenberg – ähnlich wie auf kath. Seite z. B. Franz Mußner17 – ebenso wie 15 Nicht unproblematisch ist diese Selbstbezeichnung, wenn sie nämlich exklusiv und damit potentiell antijudaistisch gebraucht wird. 16 Vgl. die deutlichen Aussagen (1978), 103 ff., insbes. 104. 17 Zur Bezugnahme auf Mußners Ablehnung der Substitutionsthese vgl. STh III, 1993, 510 ff.; nach Mußner gilt es in einer christlichen Theologie nach Auschwitz das Substitutions- durch das Partizipationsmodell zu ersetzen; ferner verweist Pannenberg auf das EKD-Dokument Christen und Juden II (1991). Auch Pannenberg tritt mit Paulus (Röm 11,29) für die „Unverbrüchlichkeit der Erwählung des jüdischen Volkes“ ein (STh III, 510).
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umgekehrt die These, dass die Kirche in den Alten Bund integriert und nur so der Erwählung und des Heils teilhaftig werden könne.18 Hier würde mit dem Gedanken eines „neuen Bundes” (vgl. Jer 31,31ff) nicht wirklich ernst gemacht.19 Mit den Autoren des jüdisch-christlichen Dialogs ist sich Pannenberg jedoch grundsätzlich darin einig, dass im Horizont einer Erörterung des Erwählungsgedankens auch das jüdisch-christliche Verhältnis einer Neubestimmung bedarf, die weder bruchlos an die Alte Kirche (Apostolische Väter) noch an das mittelalterliche Kirchenverständnis anschließen kann. Schon in diesem früheren Werk über Die Bestimmung des Menschen20 zeigen sich einige Grundlinien in Pannenbergs Verständnis von Erwählung, die im Folgenden thesenhaft zusammengefasst werden sollen.
4.
Grundlinien des Erwählungsverständnisses von Pannenberg (in 10 Thesen)
(1) Erwählung (electio) ist stets Aussonderung, impliziert somit auch Nichterwählung als Verwerfung (vgl. z. B. Röm 9,13 im Blick auf Jakob und Esau21). (2) Erwählung sollte im Endeffekt nicht exklusiv verstanden werden; Nichterwählung muss – nach Pannenberg wie nach Schleiermacher – nicht als dauerhafte und endgültige Verwerfung gedacht werden (mit Verweis auf Röm 11,23– 18 Vgl. den – nicht nur von Pannenberg – weithin kritisch rezipierten Synodalbeschluss der Rheinischen Kirche „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ (EKiR, 1980). 19 In diesem Kontext ist auch eine Notiz S. Kierkegaards (vgl. DSKE 5, 2015, 73) bemerkenswert, wonach sich das (weithin welt-assimilierte) Christentum heute (1848) faktisch zu einem Derivat des Judentums zurückentwickelt habe – eben die eschatologische Dimension des Christentums, das Neue des Neuen Bundes nicht wirklich ernst genommen, sondern einfach nur als Variante des Alten genommen wird. Auch für Pannenberg ist dieses Neue nicht aus dem Alten ableitbar, sondern muss – immanent unableitbar – auf die Zukunft Gottes bezogen werden. 20 Dt. 1978; engl. 1977: Human Nature, Election, and History – somit deutlich vor der Systematische Theologie (1988–93) entstanden. 21 Die Erwählung wird in Röm 9,11ff am ewigen Ratschluss Gottes festgemacht, also an der Gnade des Berufenden und nicht an Verdienst oder Würdigkeit des Berufenen; d. h. nach Paulus ist weder die Erwählung Jakobs noch die Nicht-Erwählung Esaus an deren Werken festzumachen. In Röm 9,11–18 wird das Erbarmen Gottes als grundlos dargestellt (mit Verweis auf Ex 33,19). Unergründlich, wenngleich nicht sinnlos, bleibt auch die Verstockung Pharaos (Ex 9). Der logische ‚Preis‘ der Erwählung Jakobs ist die Verwerfung Esaus. Entsprechend hat die Erwählung Israels ihren ‚Preis‘ in der Nicht-Erwählung der anderen Völker. Pannenberg verwirft den Gedanken der Verwerfung nicht (in Richtung auf eine apokatastasis panton), begreift sie aber als veränderlich und überholbar im Blick auf eine mögliche „Reue Gottes“ (vgl. Jörg Jeremias, Die Reue Gottes. Aspekte atl. Gottesvorstellung, Neukirchen 1975).
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26). Wichtig ist die Entgrenzung des Erwählungsbegriffs, der im NT tendenziell universal verstanden wird, d. h. nicht mehr in Bindung an ein bestimmtes Volk oder eine bestimmte Nation. (3) Der Erwählungsgedanke verweist auf die Geschichtsmächtigkeit Gottes und die Geschichtlichkeit seines Wirkens (nicht erst im Jenseits am Individuum): Gott handelt in der Geschichte. Bereits im RGG-Artikel von 1958 stellt Pannenberg die „Geschichtshaftigkeit des göttlichen E.handelns“ heraus.22 „Die wichtigste Funktion des Erwählungsbegriffs für eine Theologie der Geschichte besteht darin, dass er eine Begründung dafür liefert, wie man überhaupt von einem Handeln Gottes in der Geschichte sprechen kann.“23 (4) Gott handelt auch in der Erwählung Jesu Christi geschichtlich. Nach Pannenberg ist es die Eigenart der Erwählungslehre K. Barths24 (vgl. KD II/2), die Erwählung Christi zugleich als dessen Verwerfung konzipiert zu haben; so wurde der Erwählungsbegriff bei Barth durch „eine dialektische Einbeziehung der Verwerfung in den Begriff der Erwählung selbst“ modifiziert, d. h. der Verworfene ist nicht der Übergangene, Nichterwählte (Schleiermacher), sondern gerade der Erwählte selbst – er ist Gerichteter und Gerechtfertigter in eins. Pannenberg kritisiert diese genial wirkende dialektische Zuspitzung jedoch, indem er betont, dass Christus nicht von Gott, sondern von den Menschen verworfen wurde.25 (5) Gottes Erwählung ist kein vor- oder außerzeitlicher, ewiger Akt, sondern findet konkret innerhalb der Geschichte statt. Dies gilt natürlich auch von der Erwählung Jesu Christi. Auch sie und die ihr folgende Erwählung der Kirche als 22 RGG³ (1958) II, 615. Dies bedeutet: Erwählung haftet nicht der Subjektivität des Einzelnen oder einem Jenseits der Geschichte an, sondern der Geschichte selbst. 23 Die Bestimmung des Menschen, 1978, 95 24 Bei K. Barth hat der Erwählungsgedanke eine starke konzentrierende Kraft für die Darstellung von Christologie und Ekklesiologie, dort eng verbunden mit dem Begriff des Bundes. Erwählung und Bund sind so durch einander zu verstehen. Die Erwählung ist dabei kein einmaliger, determinierender Akt, sondern Ausdruck der Souveränität, Freiheit und Treue Gottes. Durch die Erwählung und in ihr realisiert das Geschöpf seine Bestimmung vor Gott. Pannenberg kritisiert die christozentrische Formatierung der Erwählungslehre von K. Barth, durch die Christus zum „Prinzip“ der Erwählung werde, statt der „Geschichtshaftigkeit des göttlichen E.handelns voll [d. h. universalgeschichtlich] gerecht [zu] werden“ (RGG³ II, 615; vgl. auch STh III, 489 ff.). 25 Der Gedanke der Treue Gottes findet somit noch einmal eine andere Pointierung als bei K. Barth. Pannenberg versteht diese Treue als übergreifend sich manifestierende Wahrhaftigkeit Gottes im Kontext der Universalgeschichte. Gottes Treue ist „der Erweis seiner Identität mit sich selbst in der Geschichte Israels […]“ (RGG³ II, 615; vgl. STh III, 529 f.). An Barths Erwählungslehre kritisiert Pannenberg nicht die christologische Pointierung, d. h. die Vorordnung Christi, die „christologische Fundierung aller E.“, sondern dass Barth sie zu einem „allgemeinen Prinzip“ macht, statt ihrer als „eines konkreten geschichtlichen Zieles“ ansichtig zu werden (RGG³ II, 616).
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Volk Gottes „ist ein geschichtliches Ereignis“ (RGG³ II, 615). Die ewige Erwählung (vgl. Prädestinationslehre) wird von Pannenberg zwar nicht bestritten; sie ist jedoch nur als „Hintergrund“ der geschichtlichen Erwählung zu verstehen26 (RGG³ II, 615), d. h. ihr kommt keine determinierende Wirkung zu. (6) Die Erwählung in der Geschichte verwirklicht sich in einem Bund und impliziert dabei auch die Möglichkeit des Versagens, d. h. des Gerichts. (7) Das Erwählungshandeln bezieht sich primär, aber nicht ausschließlich, auf nur ein einziges Volk, nämlich das Volk Israel. Es bezieht sich weiterhin auf die Welt der Völker27 und letztlich die Einheit der Menschheit. Entscheidend ist für Pannenberg (ähnlich wie für Schleiermacher) der Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft.28 „Gott erwählt, indem er den Erwählten zur Gemeinschaft mit sich bestimmt.“ (RGG³ II,615).29 (8) Pannenberg betont, dass die theologische Deutung der Geschichte wesentlich aus dem AT stammt.30 Sowohl der Begriff des Volkes Gottes als auch der Erwählung durch Gott ist aber auch für das NT bestimmend. Deshalb wäre es nach Pannenberg falsch, mit K. Löwith anzunehmen, dass die theologische Deutung der eigenen Geschichte nur ein Spezifikum des Judentums sei und nicht auch für das Christentum gelte.31 (9) Gottes Erwählungshandeln ist ein geschichtliches und Geschichte konstituierendes Handeln, im AT wie auch im NT (Letzteres gegen K. Löwith, O. Cullmann und R. Bultmann). Pannenberg verweist grundsätzlich auf den Zusammenhang von Gott und Geschichte, insbes. auf „die in ihrer Wurzel religiös begründete Identität eines Volkes“32. Das Erwählungsbewusstsein hat für eine Gesellschaft eine fundamentale, integrative Funktion.33 Religion, die im Erwählungsgedanken kulminiert, ist die „Grundlage für die Einheit des Gesellschaftssystems“34. (10) Der Referenzpunkt für das Erwählungshandeln Gottes ist somit nicht nur das Individuum oder der „heilige Rest“ (Israels). Dies bekräftigt auch Pannen26 Ebd. RGG³ II, 615. 27 Hier verweist Pannenberg 93 f. auf Am 9,7. 28 Vgl. G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 239: „Wie Pannenbergs Lehre von der Kirche, so ist auch seine Erwählungslehre von der Einsicht in die wesentliche Zusammengehörigkeit von Individualität und Sozialität bestimmt.“ 29 In seinem Büchlein von 1978 verbindet Pannenberg dies mit einer Kritik des „abstrakten Individualismus“ (vgl. 1978, 114). Vgl. auch den Hinweis in STh III, 488: Keiner ist „für sich allein“ Gegenstand der „ewigen Erwählung Gottes“, sondern diese ist stets vermittelt durch die geschichtliche Wirklichkeit der Kirche. 30 Für die Grundlegung dieses Gedankens ist G. v. Rads Theologie des AT maßgeblich. 31 Vgl. Grundfragen II, 1980, 115 (Der Gott der Geschichte, 1977). 32 1978, 96. 33 1978, 101 oben. 34 1978, 111.
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bergs Hinweis, dass sich „das erwählende Handeln Gottes nicht nur auf vereinzelte Individuen richtet, sondern auf ein Volk, und durch dieses Volk auf die ganze Menschheit“35. Darin liegt das Entgrenzungspotential des Erwählungsbegriffs. Pannenberg betont weniger den Aussonderungscharakter als vielmehr diese entgrenzende Funktion des Erwählungshandelns Gottes, dessen Grundoption darin liegt, den Menschen zur Gemeinschaft mit ihm zu gewinnen und zu verpflichten.36
5.
Bewertung und Kritik
Im Folgenden sollen abschließend schlaglichtartig die Vorzüge (A) bzw. Problemstellen (B) des erwählungstheologischen Ansatzes von Pannenberg benannt werden.
(A)
Stärken und Besonderheiten seiner Interpretation
a) Der biblische Bezug seines Denkens (bes. in STh III) ist deutlich. Hier wird nicht theologisch-axiomatisch von einem (z. B. föderaltheologischen oder geschichtsdialektischen) „System“ her argumentiert, sondern vor allem vom biblischen Bezug und einer Theologie des Alten Testaments her (vgl. G. v. Rad; Kl. Koch; W. Zimmerli u. a.). b) Positiv hervorzuheben ist auch, dass Pannenberg den Gedanken der Einheit des Volkes Gottes strikt wahrt. D. h. es gibt für ihn weder zwei Völker Gottes in parallel laufenden Heilswegen zu Gott, noch zwei Völker, von denen eines das andere ablöst (Usurpationsmodell; Substitutionsthese). Hier werden auch neuere Einsichten zum jüdisch-christlichen Dialog positiv rezipiert. c) Insofern der Substitutionsgedanke strikt abgelehnt wird, vermeidet Pannenberg auch jeglichen Antijudaismus (ungeachtet gewisser Kritik z. B. am Rheinischen Synodalbeschluss 1980 im Blick auf die Gestalt und Einheit des Bundes Gottes). d) Trostreich ist insbesondere die Tatsache, dass Pannenberg den Verwerfungsaspekt nicht gleichberechtigt neben den Erwählungsaspekt oder gar ersteren absolut setzt. 35 BSTh I, 1999, 264. 36 Pannenbergs Denken ist jede sektiererische Beschränktheit und jeder religiöse Individualismus von Grund auf fremd. Die Erwählung des Menschen zur Realisierung von Freiheit, Recht und Liebe kann nur im Horizont der Gemeinschaft, nicht des isolierten Einzelnen angemessen verwirklicht werden.
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Weder wird die Wirklichkeit möglicher Verwerfung geleugnet (keine apokatastasis panton)37, noch wird die Verwerfung als etwas Letztes, von göttlicher Seite Unüberholbares angesehen.
(B)
Kritische Aspekte und Anfragen
a) Wird der Gemeinschaftsgedanke im Vergleich zur Bedeutung individueller Gestalten (Abraham, Jakob, David u. a.) nicht überbetont? Werden von Gott nicht primär gerade Einzelne erwählt und berufen (vgl. Abraham)?38 D. h. Erwählung und Berufung erfolgen nicht samt der Gemeinschaft, sondern zunächst in Aussonderung von ihr. b) Wird durch die Entgrenzung und Ausweitung des Erwählungsbegriffs (auf die Einheit der Menschheit) nicht dessen – von Pannenberg selbst herausgestelltes – Grundmerkmal nivelliert (nämlich die Aussonderung – electio – und die Unterscheidung vom Nichterwählten – sei dieser nun aktiv verworfen oder einfach „nur“ übergangen)? c) Pannenberg verwirft den Gedanken, die Christenheit als das neue Gottesvolk zu verstehen. Dabei wird die Einheit des Gottesvolkes gedanklich bewahrt (d. h. es gibt nicht zwei Völker Gottes, auch nicht zwei Heilswege zu Gott); die Verheißung des Neuen Bundes (vgl. Jer 31,31–34) wird so auf das „alte“ Volk bezogen. Inwiefern ist aber nicht auch (v. a. vom Epheserbrief her39) eine weniger kritische Sicht auf die Kirche als das neue Volk Gottes möglich, die nicht per se eine Entmündigung oder Enterbung des jüdischen Volkes darstellt?
37 Innerhalb der Israel-Reflexionen von Paulus in Röm 9–11, wo 11,32 meist als Argument für eine apokatastasis panton verstanden wird, verweist Pannenberg auf 11,22 (wer nicht bei Gottes Güte bleibt, wird „abgehauen“ werden; ferner Joh 3,36 u. Hebr 6,6; vgl. RGG³ II, 619). Zur Ablehnung einer Allversöhnung vgl. auch STh III, 501. 38 Vgl. Gen 12,1. Abrahams Erwählung und Berufung z. B. erfolgt nicht samt der Gemeinschaft, sondern in Aussonderung von ihr. Die nachfolgende Diskussion meines Vortrags hat gezeigt, dass diese These ergänzt werden sollte durch den Hinweis, dass auch diese Berufung wieder auf neue Gemeinschaft (ausgehend von dem Stammvater) zielt, d. h. Gen 12,1 nicht ohne Gen 12,2f interpretiert werden sollte. Pannenberg geht von einer Vorordnung des Gemeinschaftsaspekts aus, die jene Gegenkritik stützt: „Gott erwählt einzelne, um sich durch sie ein Volk zu schaffen, und er erwählt ein Volk als die Gemeinschaft von einzelnen.“ (RGG³ II, 616) Die Einzelnen sind also der Gemeinschaft nicht vor-, sondern untergeordnet, sind nur Mittel und Momente zur Verwirklichung eines sie übergreifenden gemeinschaftlichen Zwecks. 39 Vgl. Eph 2,11–22, insbes. 14f.
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Walter Dietz
Quellen (chronologisch geordnet)
W. Pannenberg, [Art.] Erwählung (III. Dogmatisch), in: RGG³ Bd. 2 (1958), cl. 614–621 W. Pannenberg, Der Gott der Geschichte (1977), in: Grundfragen Systematische Theologie Bd. II, Göttingen 1980, 112–128 (insbes. 112–118; zu K. Löwith) W. Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen, Göttingen 1978, insbes. 41–60 und 113 (= Kap. 3 u. 5) [orig.: Human Nature, Election, and History, Philadelphia, USA 1977] W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. III, Göttingen 1993, v. a. Kap.14: Erwählung und Geschichte (insbes. 473–538) W. Pannenberg, Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben (1997), in: Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. I, Göttingen 1999 (= BSTh 1), 255–265
Felix Körner SJ
Glaubensgemeinschaft und politische Ordnung Pannenbergs Ekklesiologie im Gespräch mit islamischen Staatstheorien
„Die Gemeinschaft der Kirche ist die vorlaufende Darstellung des eschatologischen Gottesreiches einer neuen Menschheit in Gemeinschaft mit Gott.“1 Wolfhart Pannenbergs Ekklesiologie ist offenkundig eng mit seiner Anthropologie und Eschatologie verknüpft. Seine Lehre von der Kirche hat jedoch auch Folgen für eine politische Theologie.2 Pannenberg arbeitet auch hier mit der Dynamik der Selbstunterscheidung, und das in dreifacher Hinsicht. Zum einen muss die Kirche anerkennen, dass ihr augenblicklicher Zustand noch hinter dem kommenden Gottesreich zurückbleibt. Das Reich-Gottes-Zeugnis der Kirche wirft nun allerdings auch ein Licht auf die gesellschaftliche Ordnung. So wird sichtbar, dass die politische Herrschaft das Reich Gottes ebenfalls darstellt, ebenfalls unvollkommen, ja noch unvollkommener als die Kirche. Während Pannenberg im Falle der Kirche von „vorlaufender“ Darstellung des kommenden Gottesreiches sprach, also von einer ausdrücklichen, eschatologisch ausgerichteten und verkündigenden Antizipation, die um ihren Unterschied vom Bezeugten weiß, nennt er die Reich-GottesDarstellung, die ein politisches Gemeinwesen leisten kann, noch abgeschwächter statt „vorlaufend“: „vorläufig“.3 Die Kirche bezeugt nämlich allen menschlichen 1 W. Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, 26 ( jetzt in: W. Pannenberg, Kleine Schriften. Teil 1, Göttingen 2017). Die oben zitierte Formulierung wurde im Titel der Feierlichkeiten zur Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ und des sie dokumentierenden Bandes 1 der Pannenbergstudien aufgegriffen: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung, Göttingen 2015. Eine ähnliche Formulierung wie oben im Text findet sich dann in W. Pannenberg, STh III, Göttingen 1993, ²2015, 518. Dort S. 649 klärt sich auch, dass „vorlaufend“ nichts anderes als „antizipatorisch“ bedeutet. 2 Von „politischer Theologie“ ist hier, analog zu „politischer Philosophie“, „politischer Theorie“, im Sinne von „Theologie des Politischen“ die Rede. 3 Die Kirche als das christliche Gottesvolk aus allen Nationen bezeugt gegenwärtig Gottes „künftige Herrschaft über seine ganze Schöpfung und über die gesamte Menschheit. Dieses Zeugnis enthält eine doppelte Symbolik: diejenige, die im Leben der Kirche selbst zur Darstellung kommt, und diejenige, in deren Licht die vorhandene gesellschaftliche Ordnung durch
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Gestaltungsversuchen des Gemeinschaftslebens, dass das Reich Gottes noch aussteht, dass die vollkommene Gerechtigkeit und Freiheit noch nicht verwirklicht ist und alle bisherige Menschenmacht überholbar und ersetzbar ist. Die politische Ordnung ist damit als vorübergehend markiert und relativiert, aber doch auch als Vorschein der Gottesherrschaft honoriert. Die Selbstunterscheidung der Kirche vom Gottesreich ruft demnach die politischen Autoritäten zu einer entsprechenden Selbstunterscheidung von der endgültigen und idealen Herrschaft. Nun findet sich aber in Pannenbergs Ekklesiologie noch eine dritte Dynamik der anerkennenden Zurücknahme des eigenen Durchsetzungswillens, nämlich die gegenseitige Selbstunterscheidung von Staat und Kirche.4 Das gesellschaftsbezogene christliche Zeugnis – die Ekklesiologie als politische Theologie5 – fordert damit sowohl die religiöse wie die politische Macht dazu heraus, der jeweils anderen ihre Freiheit zuzugestehen. Nun ist die Frage angebracht, wie dagegen der Islam das Verhältnis von Glaubensgemeinschaft und politischer Ordnung sieht. Angebracht ist die Frage, weil sie derzeit viele Weltregionen bewegt, weil sie häufig zu grob gestellt und beantwortet wird, aber auch weil die christliche Theologie angesichts koranischer und muslimischer Begriffsentwicklungen oft zu mehr Klarheit über sich selbst gelangt. Vorzugehen ist hier chronologisch. Zuerst soll der Koran zu Wort kommen; erst anschließend sind islamische staatstheoretische Entwürfe zu untersuchen.
die Verkündigung der Kirche gerückt wird, indem sie durch die kritische Auflösung der Selbstgerechtigkeit bestehender Gesellschaftsstrukturen hindurch in ein vorläufiges Zeichen der kommenden Gottesherrschaft verwandelt wird.“ Die Bestimmung des Menschen, 108. 4 „Wenn der christliche Glaube etwas zu tun hat mit der Bestimmung des Menschen als solchen, dann ist die symbolische Funktion der Kirche wesentlich für die Verwirklichung menschlicher Personalität. So ist die persönliche Freiheit des einzelnen historisch nicht ohne Vermittlung durch Christentum und Kirche zustande gekommen. Die entscheidende Voraussetzung der dahin führenden Entwicklung lag in der Unterscheidung zwischen Kirche und Staat, die für die Geschichte der christlichen Religion spezifisch ist und die provisorische Natur der politischen Ordnung impliziert, damit dann auch die Freiheit des Individuums gegenüber den politischen Autoritäten und, zur gleichen Zeit, sein Bürgerrecht in der universalen menschlichen Gemeinschaft des Gottesreiches, das durch die Kirche symbolisch repräsentiert wird.“ Die Bestimmung des Menschen, 32. 5 Walter Kasper betont im Anschluss an einschlägige Wortforschungen von Erik Peterson, Walter Schrage und Klaus Berger, dass ἐκκλησία nicht nur die Übersetzung von „Bundesversammlung“ ist (hebräisch qa¯ha¯l), dass es sich also beim Kirchenbegriff nicht nur um einen Zusammenschluss privat- oder vereinsrechtlichen Charakters handelt: Die Ekkle¯sia ist vielmehr schon dem Namen nach etwas Politisches, denn ihr Begriff gehört „dem öffentlichen Rechtsbereich an“: W. Kasper, Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg i.Br. 2011, 142.
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1.
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Konstitution eines neuen Gottesvolkes
Um 610 n. Chr. beginnt ein Mann, der entweder namentlich oder titulatorisch Muhammad heißt – „der Gepriesene“ –, auf der arabischen Halbinsel impulsive ˙ Reimprosa mit dem Anspruch vorzutragen, sie ergehe in göttlichem Auftrag. Diese Datierung und Lokalisierung entspricht der traditionellen innerislamischen Muhammadbiographie und Offenbarungsverortung. Das hat westliche Historiker ˙ jahrzehntelang misstrauisch gemacht. Man brachte einen „Revisionismus“ in Stellung. Alle Behauptungen über eine koranische Verkündigung im 7. Jahrhundert seien legendär, hieß es vor allem in der angelsächsischen und saarländischen Islamforschung.6 Was wir heute als Koran in Händen haben, sei in anderem religiösen Zusammenhang und in späteren Jahrhunderten ergangen. – Jüngst ist dieser Revisionismus allerdings mittels physikalischer Datierung von Koranfragmenten widerlegt worden;7 und schon zuvor hätten außerislamische zeitgenössische Berichte die Skepsis als überzogen erweisen können. Die klassische Erzählung der islamischen Urgeschichte kann in ihren Hauptzügen als historisch zutreffend gelten: Koranverkündigung bis ca. 632 n. Chr. bei gleichzeitiger erster Verschriftlichung. Aufgeschrieben wurde allerdings nicht das Buch Koran, sondern jeweils eine Sure. Die Sammlung, Kodifizierung und Kanonisierung nahm dann noch mindestens ein Jahrhundert in Anspruch. Das Ergebnis war jedoch auch dann kein Buch mit linearem gedanklichen Aufbau, sondern ein Lektionar: ein Textarchiv, dessen Bestandteile einzeln verwendbar und der Länge nach angeordnet sind.
Es lässt sich also mit einiger Gewissheit sagen: Im 7. Jahrhundert trug Muhammad das, was später Koran wurde, vor, und zwar auf Arabisch und auf der ˙ arabischen Halbinsel, wohl in einem urbanen Handels- und Kultzentrum namens Mekka. Das Verkündete wird von Anfang an Teil einer sich herausbildenden Liturgie: Während, ja aufgrund der Verkündigung entsteht eine Gottesdienstgemeinde. Deren Anspruch ist jedoch nicht bloß, dass hier eine weitere Konfessionsgruppe innerhalb des religiös pluralen Miteinanders von Juden, Christen und verschiedenen arabisch-paganen Riten entstünde. Was die Verkündigung vielmehr hervorbringen soll, ist das neue, endzeitliche Gottesvolk – eine neue Einheit oberhalb der Zersplitterungen der arabischen Stammesgesellschaft. Endzeitlich ist dieses Volk, weil es angesichts des bevorstehenden Gottesgerichts entsteht, wie es die Erstverkündigung des Koran den Hörern vorstellt.
6 So zuerst John Wansbrough und seine Schülerinnen und Schüler; kritisch gegenüber den „revisionistischen“ Ansätzen: G. Schoeler, Charakter und Authentie der muslimischen Überlieferung über das Leben Mohammeds, Berlin 1996, 24. 7 Vgl. dazu M.J. Marx und T.J. Jocham, Zu den Datierungen von Koranhandschriften durch die 14 C–Methode, in: Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien 2 (2015), 9–44.
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Hier lassen sich bereits Hauptzüge der islamischen politischen Theorie herausarbeiten.
1.1
Vom Stamm zur Stadt: Sure 90
Der Koran entwirft in Kritik an seinen zeitgenössischen Zuständen eine neue Gesellschaft. Diese neue Gesellschaft konstituiert sich als Kultgemeinschaft. Sie enthält aber den Anspruch, kein zusätzliches Konstrukt neben den bestehenden ethnischen und konfessionellen Gruppierungen zu sein. Sie will vielmehr alle anderen umfangen. Das tut sie einerseits in Kritik an der paganen Religiosität. Diese sei „Beigesellung“ (sˇirk), stelle nämlich neben den einzig Anbetungswürdigen, den Schöpfer und Richter der Welt, andere Anbetungskandidaten (a¯liha, „Götter“, Singular ila¯h). Diese Kritik ist als eliminatorisch zu verstehen: Die beigesellenden Kultbräuche sind abzuschaffen. Die koranische Verkündigung übt andererseits auch Kritik an den auf der arabischen Halbinsel bereits heimisch gewordenen monotheistischen Schriftreligionen (ahl al-kita¯b). Diese Kritik will aber nicht abschaffen, sondern korrigieren. Die Korrektur erfolgt über die Behauptung, dass Judentum und Christentum ursprünglich auf Rezitationen aus dem bei Gott gelagerten Buch (kita¯b) beruhten, die dem nun durch Muhammad Ergehenden inhaltlich entsprachen. ˙ Jene Offenbarungen seien allerdings später von den betreffenden Religionsanhängern entstellt worden. Das heute von Juden- oder Christentum als Schrift Gelesene muss folglich richtiggestellt werden; und das tut der Koran. Die Muhammadverkündigung arbeitet also mit einem den nachlesbaren Schrifttext ˙ selbst betreffenden Schema von deformatio und reformatio, einer restitutiven Kita¯b-Korrektur. Was die durch Muhammad ergehenden Stücke aber darin leisten, ist mehr. Es ˙ ist eine Neukonstitution der Gesellschaft. Die Ordnung des Zusammenlebens bekommt einen Neuanfang durch erneute Kundgabe des ursprünglichen Offenbarungsgehaltes. Dass es um eine Reform des Zusammenlebens, nicht um die Gründung einer Parallelgesellschaft geht, zeigt am eindrücklichsten Sure 90. Die Verkündigung des Koran wird im Jahre 610 begonnen haben. Sure 90 ist zwar keine der allerersten Verkündigungen, gehört aber doch noch deutlich in die frühmekkanische Periode. Die Sure erweist sich als Entwurf einer neuen civitas, und zwar als Stadtkultur in Absetzung vom beduinischen Privathelden-Leben.8
8 Übersetzung und Deutung folgen häufig, aber nicht immer A. Neuwirth, Der Koran. Bd. 1: Frühmekkanische Suren, Berlin 2014, 236–252. Auch die Koranübersetzung Rudi Parets wurde stets zu Rate gezogen.
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al-balad – Die Stadt Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! 1 Nein, ich schwöre bei dieser Stadt, 2 du bist gelassen in dieser Stadt, 3 und bei einem Erzeuger und dem, was er gezeugt hat! 4 Wir schaffen den Menschen in Mühsal. 5 Meint er, niemand habe Macht über ihn? 6 Er sagt: ‚Ich habe haufenweise Besitz vertan!‘ 7 Glaubt er denn, dass niemand ihn gesehen hat? 8 Haben wir ihm nicht zwei Augen eingesetzt, 9 eine Zunge und zwei Lippen, 10 und ihn die beiden Wege geleitet? 11 Da hat er nicht den Steilpfad eingeschlagen. 12 Was lässt dich wissen, was der Steilpfad ist? 13 Die Losbindung eines Nackens, 14 oder an einem Hungertag die Speisung 15 einer Waisen aus der Verwandtschaft 16 oder eines Armen, der im Staube liegt. 17 Und dass man zu denen gehört, die glauben und einander zu Geduld und Barmherzigkeit anhalten – 18 das sind die Leute der rechten Seite. 19 Diejenigen aber, die nicht an unsere Zeichen glauben, das sind die Leute der linken Seite. 20 Feuer umschließt sie. Der Text ist beim ersten Lesen schwer verständlich, lässt sich jedoch aufschließen. al-balad Traditionell werden die Suren nicht nummeriert. Vielmehr bekommt jede Sure einen Namen. Er ist meist ein auffälliges Wort aus dem Text. Hier benennt die Überschrift jedoch mehr. Balad ist ein aus dem Lateinischen entlehntes Wort, aus palatium. Das ist zuerst eines jener großen Privathäuser, wie sie sich auf dem römischen Palatinhügel finden: ein Palast. Das daraus übernommene arabische Wort bedeutet aber nicht mehr einzelnes Gebäude, sondern im heutigen Arabisch „Land“ und im koranischen Sprachgebrauch „Stadt“. Damit sagt die Überschrift mehr als in vielen anderen Fällen. Sie liefert, wie sich zeigen wird, den Verständnisschlüssel. Es wird hier nämlich um die civitas gehen. Die stets nach dem Surennamen stehende Formel Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers!
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lehnt sich an jüdische und christliche Gepflogenheiten an, Schriftliches und Tätigkeiten unter den Schutz des Gottesnamens zu stellen und unter die Absicht, im Sinne Gottes zu handeln. So ungewöhnlich und doch nicht unverständlich im Deutschen die Rede vom „Erbarmer“ klingt, so fremd und doch nicht unvertraut war sie den arabischen Ersthörern: ar-Rahma¯n. Gott wird nämlich mit einem ˙ schon auf der arabischen Halbinsel eingebürgerten, aber sich ans nachbiblische Hebräisch anschließenden Namen als Barmherziger bezeichnet: ha-Raha˘ma¯n; ˙ und um zu unterstreichen, dass es sich hierbei nicht um einen inhaltsleeren Namen noch gar um die Beschwörung eines in Wirklichkeit gerade Unbarmherzigen handelt, wird das arabische Adjektiv „der barmherzig ist“ gleich mitgeliefert: ar-rah¯ım.9 ˙ Jetzt erst folgt die Sure selbst. Man kann sich vorstellen, dass Muhammad in ˙ Sichtweite des mekkanischen Heiligtums rezitiert: 1 Nein, ich schwöre bei dieser Stadt Das Nein ist dann eine Ablehnung der um das Heiligtum geschehenden polytheistischen Kultpraxis. Wie deren Wahrsager bekräftigt die Sure ihren Inhalt einleitend mit einem Beglaubigungsschwur. Er ist etwa so zu verstehen: Was hier zu Gehör gebracht wird, ist so wahr wie die zum Zeugnis angerufene Erscheinung. Es kann sich um Naturphänomene oder Geschichtlich-Kulturelles handeln. Mit „dieser Stadt“ ist Mekka angesprochen. Die Wahl des Schwurobjektes ist aber nicht beliebig. Wie bei der später hinzugekommenen Überschrift ist mit dem Schwur „Bei der Stadt!“ vielmehr der Grundtenor angeschlagen, der sich durch die gesamte Sure ziehen wird: das Leben in der Stadt. Es ist nicht mehr als Ausnahme oder Abstieg aus dem einzig wahren mannhaften arabisch-nomadischen Wüstendasein zu sehen. Raum des gottgefälligen Lebens ist vielmehr die civitas. Die Sure redet nun einen Mann in der Einzahl an. Sie sagt ihm, wie er die städtischen Verhältnisse im Unterschied zum beschwerlichen Beduinenleben mit seinen Bedrohungen durch Blutrache und Naturgefahr erleben soll: 2 du bist gelassen in dieser Stadt. Das Adjektiv ist mehrdeutig. Hill kommt von „losbinden“ und kann schlicht ˙ „niedergelassen, wohnhaft“ heißen. Es wird allerdings oft im Sinne von „du bist 9 Vgl. dazu vom Verfasser „Wir glauben und bekennen denselben Gott, wenn auch auf verschiedene Weise. Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie und im Denken Wolfhart Pannenbergs“, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, 327–353, 329.
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berechtigt“ verstanden, ja „frei von Verpflichtungen“. Mit seinem Wechsel vom Wüsten- zum Stadtleben ist der Angesprochene zwar entlastet. Aber ein solches Erstverständnis führt in die Falle. Denn in der neuen Umgebung gibt es neue Verpflichtungen: soziale. An die Eingebundenheit in ein gesellschaftliches Geflecht erinnert denn auch ein zweiter Schwur. Der Angesprochene wird jetzt als Vater gekennzeichnet. Seine Kinder werden ihm vor Augen geführt. 3 und bei einem Erzeuger und dem, was er gezeugt hat! Frei von Verpflichtungen ist er also nicht. Nach der individuellen Anrede erfolgt nun ein Person-Wechsel. Ab jetzt steht der Angesprochene unter dem Anspruch der zivilisierten Verantwortung und wird daher sachlich, eingeordnet, in der dritten Person, gleich sogar als „der Mensch“ bezeichnet. Er steht in der Generationenfolge, hat Nachwuchs und daher Verantwortung; aber nochmals stellt das Erstverständnis eine Falle dar, nochmals klärt erst ein Folgevers das soeben Gesagte. Nicht der Vater ist wirklich der Erzeuger seiner Kinder. Ursprung von allem, auch von jedem Leben, ist kein Mensch, sondern der sich hier selbst im Plural bezeichnende Schöpfer, der in der Sure zu Wort kommt: 4 Wir schaffen den Menschen in Mühsal. Erneut spricht der Text mehrdeutig. Denn „in Mühsal“ kann einerseits bedeuten, dass Gott nichts sinnlos, alles vielmehr wohlgeplant und wohlgeordnet hervorbringt. So wird es in mittelmekkanischer Zeit heißen: „Und wir haben Himmel und Erde, und was dazwischen ist, nicht zum Zeitvertreib (la¯ʿibı¯na) geschaffen“ (44:38). Doch es ist nicht wirklich Gott, der beim Schaffen seine Mühe hatte. Mit der Erwähnung der Beschwerlichkeit deutet sich vielmehr an, dass das erst bequem erscheinende Stadtleben seine eigenen Herausforderungen mit sich bringt; und im Grunde gilt das für alle Lebensräume: 5 Meint er, niemand habe Macht über ihn? Auch wer sich als Beduine für unabhängig und selbstbestimmt hielt, untersteht in Wirklichkeit der Gottesmacht. Die rhetorische Frage kontextualisiert das Leben des zuvor Ichbezogenen neu. Der Angesprochene wird aber nun nicht in Knechtschaft geworfen; vielmehr wird ihm das Leben neu entworfen. Dazu greift die Sure die kulturelle Tradition der Ersthörer auf.
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6 Er sagt: ‚Ich habe haufenweise Besitz vertan!‘ Hier spielt der Text nämlich auf die arabische Poesie an. Der Held wird dort regelmäßig mit ganz ähnlichen Ausdrücken für seine Verschwendungssucht getadelt. Heldentum und Männlichkeit erweisen sich darin aber in Wirklichkeit nicht, stellt die Sure klar. Es folgt eine weitere rhetorische Frage, die nochmals eine Neukontextualisierung des Lebens ermöglicht: 7 Glaubt er denn, dass niemand ihn gesehen hat? Wiederum führt ein erstes Verständnis des Verses in die Falle. Der Angesprochene muss seine Verdienste nicht aufzählen. Er wurde ja gesehen. Gemeint ist jedoch nicht ein Publikum, das den angeberischen Prasser bewundert und so zu immer größerer Unvernunft anstachelt. Gesehen hat ihn vielmehr der Schöpfer, der auch der Richter ist. Gott sieht alles. Aber er sieht nicht nur, er macht auch sehen. Nicht eitel sehen lassen soll er sich, sondern selbst hinschauen: 8 Haben wir ihm nicht zwei Augen eingesetzt? Hier beginnt eine Serie von Dualen. Sie weisen auf bestehende Symmetrien hin. Wohlgeordnete Entsprechungsverhältnisse hat die Sure bereits zahlreich hervorgehoben: Die Stadt hat ihren sicheren Bewohner. Der Erzeuger hat das, was er erzeugt hat; aber der Vater ist selbst erzeugt und der Schöpfermacht unterstellt. Der gesehen werden will, kann selbst sehen. Solche paarweisen Zuordnungen findet der Mensch auch an sich selbst. Die göttliche Schöpfung ist in schöner, klar erkennbarer Ordnung angelegt. Und diese Ordnung verpflichtet auch: zum Wahrnehmen, zur Verantwortlichkeit, zum Ausgleich. Gott blickt dem Menschen ins Gesicht. Vor einem zweiten Dual kommt ein Singular; eingesetzt hat Gott dem Menschen 9 eine Zunge und zwei Lippen. Zwar ist zum deutlich Reden wie beim Sehen wiederum ein Paar notwendig: die Lippen; die Zunge aber ist eine einzige. Das kann eine Warnung vor der Doppelzüngigkeit sein. In jedem Fall wird der Mensch aus der einsamen Abenteuernatur in seine wahre Natur geholt: vom eitlen Gesehenwerden zum verantwortlichen Sehen, vom einsamen Helden der schweigenden Tapferkeit zum Mensch der Sprachlichkeit: Verständigung ist in der civitas erforderlich und Verstehen. Augen hat der zum Hörer Gewordene, um seine Lebensentscheidung vor sich zu sehen und richtig zu treffen. Denn wie die Geschöpfe weist auch die Stadt eine Paar-Ordnung auf:
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10 und ihn die beiden Wege geleitet? Die weitergeführte rhetorische Frage erinnert den Hörer daran, dass Gott eine „Rechtleitung“ (huda¯) verfügt hat. Sie führt den Menschen auf den „geraden Weg“ (Sure 1:6). Knapp daneben aber gibt es den Abweg; und gegen den soll man sich, auch wenn er bequemer erscheint, entscheiden. Dass im Grunde jede Lebenssituation Wegscheide ist, das zeigt auch der erste Psalm oder Jesu Ruf, durch die „enge Pforte“ einzutreten (Lukas 23,24). Nicht der leichte Weg ist zugleich der gute. 11 Da hat er nicht den Steilpfad eingeschlagen. 12 Was lässt dich wissen, was der Steilpfad ist? Die neue Herausforderung der Zivilisation ist weder, das Bequemere zu finden, noch, sein Kamel geschickt einen ungangbaren Weg hinaufzutreiben, ist nicht das in der Einsamkeit zu bestehende Abenteuer, die Mutprobe in der Natur. Die neue Herausforderung ist etwas Soziales: 13 14 15 16
Die Losbindung eines Nackens, oder an einem Hungertag die Speisung einer Waisen aus der Verwandtschaft oder eines Armen, der im Staube liegt.
Der Text greift den Gottesruf zum wahren Fasten aus Deuterojesaja auf (Jesaja 58,6–7). Die Neukontextualisierung des Lebens in der Verantwortlichkeit vor Gott führt in die Menschengemeinschaft. Was Juden und Christen als verpflichtende Prophetie hören, gilt auch für den Hörer der durch Muhammad ˙ ergehenden Botschaft: Wahres Menschenleben stellt sich nicht der Reitherausforderung des Höhenweges, sondern dem Gottesdienst, wahrer Gottesdienst aber ist keine menschenabgewandte „Darhöhung“ (Buber/Rosenzweig), sondern etwas Gesellschaftliches. Zum gottgefälligen Kult gehört die Sorge um die Armen. 17 Und dass man zu denen gehört, die glauben und einander zu Geduld und Barmherzigkeit anhalten – Dieser Vers ist schon wegen seiner Überlänge als spätere Einfügung erkennbar, als „medinensischer Einschub“. Solange der Koran noch im Entstehen ist, kann in den bereits zum Rezitationsgut der Gemeinde gehörenden Text noch neues Material eingebaut werden, aus gewandeltem Sozialkontext heraus. Hier ist nun nicht nur die individuell engagierte Armensorge verlangt, sondern auch die
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Zugehörigkeit zur Gemeinde. Hier gibt es die anderen Gläubigen, und die soll man ertragen und ermutigen. 18 das sind die Leute der rechten Seite. Bis hierher war dem beduinischen Helden die – wie sein eigener Körper – symmetrisch ausgeglichene Stadt mit ihren Hilfsbedürftigen als neues Verantwortungsforum vor Augen gestellt worden. Jetzt aber tritt der eigentliche Ort der Verantwortung in den Blick. Die Sure hat den Hörer ins Jüngste Gericht versetzt. Dort bestehen werden „die zur Rechten“. Sie sind die, die Armensorge pflegen. 19 Diejenigen aber, die nicht an unsere Zeichen glauben, das sind die Leute der linken Seite. Der Beduine kommt aus einer Welt verwitterter Inschriften und verflogener Sandspuren, einer Welt ohne Deutung und erkennbaren Sinn. Nun rufen ihm die koranischen Suren zu, dass in Wirklichkeit alles Geschaffene und alles Geschehende göttliche Weisung ist. Alles ist gerichtet, hat ein Ziel. Die Menschenwelt ist weder unverständliche Ereignisfolge noch bedeutungslose Zusammenstellung von Dingen. Vielmehr ist alles „Zeichen“. Die Zeichen sind lesbar. Sie erfordern aber eine Aufnahmebereitschaft: den Glauben. Zu den Zeichen Gottes gehört auch jeder einzelne Koranvers. Ja, „Vers“ heißt selbst a¯ya: Zeichen. Göttliche Kundgabe, Lesbarkeit des Lebens, Macht und Willen Gottes ist überall. Darauf einzugehen ist das tätige Glauben. Sich davor zu verschließen und davon abzuwenden ist der Weg der Ungläubigen. Ihnen gilt die eschatologische Schlussdrohung: 20 Feuer umschließt sie.
1.2
Glaube und Gesellschaft: Einheitsbekenntnis
Muslime bezeichnen die koranische Grundtendenz regelmäßig als tawh¯ıd, ˙ wörtlich „Eins-sein-Lassen“. Zuerst bezieht sich dies auf das Bekenntnis, dass es nichts Anbetungswürdiges neben Gott gibt, keine Götter. Tawh¯ıd heißt dann ˙ nichts anderes als „Ein-Gott-Glaube, Monotheismus“. Von daher aber wird der tawh¯ıd zum islamischen Grundanliegen in allen Lebensbereichen. Im Licht der ˙ Offenbarung wird die Welt verständlich und sinnvoll. Tawh¯ıd bedeutet dann ˙ „Eindeutigkeit“. Der Offenbarungsgehalt wird außerdem frei von den Spannungen und Paradoxen, die einem Beobachter des christlichen Zeugnisses auffallen können. Damit steht der tawh¯ıd jetzt auch für „Einfachheit“. Das Wollen ˙
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und Handeln des Menschen findet seine neue Ausrichtung auf dem geraden Weg. So meint tawh¯ıd weiterhin „Einfalt“ im Sinne der Reinheit des Herzens (vgl. ˙ Kolosser 3,22: ἁπλότης). Außerdem wird die Gesellschaft durch diesen Impuls aus der Zersplitterung in eine neue Gemeinschaft gerufen. Damit kann tawh¯ıd ˙ auch als soziologischer Begriff „Einheit“ bedeuten; und diese neue Gesellschaftsordnung betont nicht die Vielfalt der Charismen, sondern will Unterschiede überwinden. So kann tawh¯ıd auch „Einheitlichkeit“ besagen. Der kora˙ nische Grundimpuls lässt sich also auf den vielseitigen Begriff des tawh¯ıd brin˙ gen.
1.3
Exodus und Volk: Gemeindebildung in Medina
Wie reagiert die mekkanische Mehrheitsbevölkerung des 7. Jahrhunderts auf einen derartigen Ruf zum tawh¯ıd? An einer restitutiv-korrektiven Neukonsti˙ tution der Gesellschaft als Einheit ist sie nicht interessiert; im Gegenteil. Die Stadt profitiert von ihrem Multifunktions-Heiligtum. Den Einigungsimpuls empfinden die Mekkaner außerdem als überflüssig, da die Bevölkerung vor Ort ohnehin ethnisch einheitlich ist und sich religiös soweit einig ist, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt. Seine Landsleute wollen den Unruhestifter Muhammad daher ˙ loswerden. Der heimische Blutrache-Schutz bewahrt zwar sein Leben; Anhänger aber findet er kaum. Seine Verkündigung bildet ein Grüppchen, das schon; jedoch keine neue Menschengemeinschaft. Das Projekt einer Neugründung des einen Gottesvolkes aus der Rezitation des erneuten Offenbarungswortes droht damit zu scheitern. Was tun? Während sich noch keine gangbare Lösung abzeichnet, bilden sich in den nach und nach ergehenden Suren bereits Motive heraus, die heilsgeschichtlich vorbereiten und absegnen, was sich erst später als Rettungsmöglichkeit eröffnen wird. Welche Motive sind das? Wie sich bereits beim Studium der frühmekkanischen Sure 90 gezeigt hat, ist die koranische Umwelt mit biblischem und parabiblischem Motivmaterial wohlvertraut. Es wird aber nicht einfach zitiert, sondern es wird sozusagen rezitiert, nämlich neu interpretiert. Es sind vor allem zwei alttestamentliche Figuren, die der Koran als Typus Muhammads einführt, nämlich Abraham und ˙ Moses. Im Laufe der koranischen Verkündigungen erhalten beide eine ganze Reihe von Urbildfunktionen. Sie sollen die Ansprüche Muhammads als heils˙ geschichtlich konsequent erweisen. Abraham kommt dabei eine fünffache Rolle zu: Vernichtung von Idolen, Gottvertrauen im Gehorsam, Heiligung einer Kultstätte, Gründung einer Wallfahrt und Bezeugung des Urmonotheismus. Moses steht mit seiner dreifachen Leistung vor Augen, mit seiner Übermittlung von Offenbarung, seiner Stiftung
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einer Rechtsordnung und – bereits zuvor: der Befreiung durch Exodus.10 Das Exodusmotiv wird sich als Vorgriff auf die erst später sichtbar werdende Rettungsmöglichkeit erweisen. Es war schon kurz nach der untersuchten Sure „Die Stadt“ erstmalig angeklungen, und zwar nicht in einer Moses-, sondern in einer Abrahamsgeschichte: Als er seinen Vater zum Eingottglauben ruft, wird er von ihm bedroht und weggeschickt mit dem Imperativ: „Und meide mich geraume Zeit“ (wa-hgˇurnı¯ maliyyan, 19:46). Damit aber ist das muslimische Exodusmotiv bereits angeklungen (h-gˇ-r). Nun also zur sich bietenden Lösung: In Mekka bleiben bedeutet Wirkungslosigkeit, denn kaum einer folgt ihm hier; Flucht aus Mekka aber bedeutet Schutzlosigkeit, denn außerhalb seiner Vaterstadt könnte den Verkünder auch das Stammesrecht nicht mehr sichern. Nun bietet sich eine unverhoffte dritte Möglichkeit. Die Bewohner der nordwestlich von Mekka gelegenen Stadt Yatrib ¯ (Medina) bitten Muhammad, ihr Schiedsrichter zu werden. Dorthin hatte er ˙ verwandtschaftliche Beziehungen; und die Medinenser konnten genau das gebrauchen, was die Mekkaner loswerden wollten: eine charismatische Führergestalt mit einer über die Stammeslegitimation hinausgehenden Autorität. Denn während im Mekka des 7. Jahrhunderts ein einziger Stamm wohnt, ist die medinensische Gesellschaft plural – ethnisch wie religiös. Es leben dort fünf Stämme in fortgesetzter Spannung beieinander: drei jüdische – die Qurayza, Qaynuqa¯ʿ ˙ und an-Nad¯ır – sowie die beiden nichtjüdisch-arabischen Stämme der Aws und ˙ Hazragˇ. ˘ Was diese Konstellation ermöglicht, ist eine Auswanderung, einen muslimischen Exodus: die higˇra. Sie findet im Jahre 622 statt. Muhammad zieht mit einer ˙ kleinen Gruppe von Anhängern aus dem väterlichen Mekka aus und siedelt sich in Medina an. Dort ist nun fast alles anders. Muhammad verkündet zwar weiter Offenba˙ rungsstücke, aber aus ihnen spricht ein gewandeltes Geschichtsbild. Neben den Blick auf den bevorstehenden apokalyptischen Hereinbruch treten nun die Einzelheiten der Gemeinschaftsgestaltung. Die Gemeinde sieht sich nicht mehr kurz vor dem Ende der Zivilistation, sondern kurz nach ihrem Anfang. Die islamische Zeitrechnung beginnt 622. Was jetzt an Verkündigung ergeht – und dann in den Koran eingeht –, ist keine eliminierende Kritik mehr. Die Polytheisten Medinas haben sich ihrem neuen Oberhaupt nämlich auch in Glaubensfragen unterworfen. Es findet sich gelegentlich noch restitutierende Kritik an den jüdischen Gesprächspartnern, die nun aber zugleich Untertanen sind. Es ist nicht mehr konstituierende Kritik, denn die Zeitläufte haben bereits Gemeinde gegründet, besser: Gründend wurde der als Gotteswort vorgetragene Text, der zuerst auf je aktuelle Umstände des 10 A. Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike, Berlin 2010, 633–671.
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Gemeindelebens eingeht und dann, einmal ergangen, bei passender Gelegenheit rezitiert werden kann. Aber diese Gemeinschaft will immer noch nicht Kultgemeinde neben anderen sein; die Gemeinde will vielmehr in Erfüllung des bereits mekkanisch angelegten Planes das eine Gemeinwesen sein. Wachstum, auch durch die Integration weiterer Stämme, ist im Blick. Die higˇra ist der befreiende Exodus, der ein Volk entstehen lässt. Die beiden alttestamentlichen Typus-Figuren Abraham und Mose sind genau das, was Muhammad werden soll: ˙ Volksgründer. Was nun als Koran an herrschaftstheoretisch Verwertbarem ergeht, ist legitimierend und legislativ: Dem Propheten wurde ja von Gott Autorität verliehen. Zwei koranische Muhammad-Titel drücken das aus. Er ist „Gesandter“ (rasu¯l). ˙ Jedes Volk hat einen – und zwar nur einen – solchen weisunggebenden Sendboten Gottes. Muhammad wird von der Verkündigung aber auch legitimiert als „Pro˙ phet“ (nabı¯): ein Titel, der in Auseinandersetzung mit medinensischen Juden ins koranische Muhammadverständnis gelangt. Die Titel beanspruchen vor allem: ˙ Was er verkündet, kommt von Gott. In dieser Vollmacht trifft er Entscheidungen und gibt er Antworten, die das Zusammenleben bestimmen sollen. Dabei greift er auf eine Formel zurück, die ähnlich schon bei Jeremia vorkommt (15,2; 23,33) und die auch bereits in Mekka aufgetaucht war: yasʿalu¯nakaʿan – qul! („Sie fragen dich zu … Sag: …!“, 7:187, ohne qul schon 79:42). Die Gesellschaft, die damit entsteht, ist eine umma – so die bereits koranische Bezeichnung. Das Wort ist wiederum aus dem Judentum bekannt; hebräisch ist es eines der Wörter für „Volk“. Was der Koran an Entwicklung des Gemeinwesens bezeugt und bewirkt, steht allerdings im Kontrast zu Israels Theologie des Politischen. Israel kennt hierbei ja eine doppelte Dynamik. Zum einen bietet die Hebräische Bibel eine Volkstheologie. Der erwählte ʿam ist berufen, Gott in der Unterscheidung zu bezeugen: das Volk im Unterschied zu den Völkern (ummôt). Auch das Ritualgesetz wird diesem identitätsstiftenden Unterscheidungszeugnis dienen. Zum anderen hat Israel auch eine Königstheologie und damit eine Begründung für so etwas wie einen Staat. Dessen Institutionen werden allerdings von der Erinnerung an die göttliche Erwählung des Volkes immer in Frage gestellt. Die umma-Verkündigung Muhammads lässt keine Unterscheidungsdynamik ˙ – das Volk und die Völker, das Volk und das Königshaus – anklingen. Der Koran legitimiert keinen Staat. Er spricht in eine Stammesgesellschaft und führt sie in die civitas, in die Stadt mit ihren neuen Verantwortungsverhältnissen. Dass daraus aber ein Staat werden sollte, sagt keine einzige Sure. Stabile Institutionen sind nicht vorgesehen. Es gibt nur einen bei Bedarf anzurufenden, dafür göttlich autorisierten und dann ad hoc inspirierten Schiedsrichter, den Propheten. Der aber stößt ein neues Projekt für das Gemeinwesen an. Aus der segmentären Kultur ohne Hierarchien soll kein System der Über- und Unterordnung werden.
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Der Stammesgedanke wird nicht abgeschafft, sondern ausgeweitet; und genau das geschieht unter dem Begriff umma. Der einen Gemeinschaft sollen alle gleichermaßen angehören. Dass sie es bis heute noch nicht tun, ist im Blick und wird verarbeitet.
1.4
Politische und konfessionelle Zugehörigkeit: die Verfügung von Medina
Ein erster Verarbeitungsschritt findet sich in der sog. „Gemeindeordnung von Medina“. Der Text ist mit großer Wahrscheinlichkeit echt. Die Verfügung entsteht kurz nach dem Exodus von 622 und beginnt mit den Worten: Dies ist ein Schreiben (kita¯b) des Propheten (nabı¯) Muhammad, des Gesandten (rasu¯l) ˙ Gottes. (Es regelt die Beziehungen) zwischen den Gläubigen und Muslimen von Quraysˇ (Mekka) und Yatrib (Medina) und denen, die ihnen gefolgt sind, sich ihnen ange¯ schlossen haben und sich mit ihnen angestrengt haben (gˇa¯hadu¯). Sie sind eine Gemeinschaft (umma) unter Ausschluss der (anderen) Menschen.
Hier bilden die mekkanischen Auswanderer und die bisherigen Bewohner Medinas eine einzige umma. Konkret heißt das erst einmal, sie stehen in einem Kampfbündnis miteinander. Das ist doppelt bemerkenswert. Denn zum einen bilden damit auch die beiden bisher miteinander verfeindeten arabischen Stämme eine Aufwandsgemeinschaft. Zum andern sind aber sogar die Juden Teil der einen umma. Das wird die Verfügung im Anschluss ausdrücklich sagen: wa-inna Yahu¯da banı¯ʿAwfi ummatun maʿa l-Muʾminı¯na; li-l-Yahu¯di dı¯nuhum wa-li-lMuslimı¯na dı¯nuhum — Die Juden der ʿAwf sind eine Gemeinschaft mit den Gläubigen; den Juden ihre Religion, und den Muslimen ihre Religion (§ 25, anschließend analog für andere jüdische Klans).
Aber ist die umma denn nicht die Glaubensgemeinschaft? Wie können zu ihr auch Juden gehören? Diese Verfügung stammt aus einer frühen Stufe der Gemeindebildung in Medina. Bald wird die gegenseitige Ablehnung überhand nehmen. In diesen ersten Monaten aber konnte Muhammad sich offenbar vor˙ stellen, dass zur umma auch Menschen gehören, die ihn nur als Schiedsrichter des Gemeinwesens anerkannten, nicht aber als Verkünder der wahren Religion. Den Juden wurde allerdings bald deutlich, dass sein Anspruch, die früheren Schriftreligionen auf ihren Ursprung zurückzuführen – die restitutive Kritik –, sie einer neuen Religion zuführen würde, die jüdischem Verständnis widerspricht; und Muhammad urteilte, dass eine solche Ablehnung innerhalb seines ˙ gerade erst entstehenden Gemeinwesens eine lebensgefährliche Spaltung schafft. Vor Ort jedenfalls überlebte keiner der drei jüdischen Stämme: 624 wurden die Banu¯ Qaynuqa¯ʿ vertrieben, 625 die an-Nad¯ır, und 627 wurden die Männer der ˙ Qurayza enthauptet, ihre übrigen Stammesmitglieder in die Sklaverei verkauft. ˙
Glaubensgemeinschaft und politische Ordnung
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Später betrachtet das islamische Recht die Juden nicht mehr als Glieder der umma. Die umma ist Konfessionsgemeinschaft geworden. Damit hat sich der Begriff der umma im Laufe der Geschichte weiterentwickelt. Wer nicht zu ihr gehört, ist nun nicht mehr statisch der Gegner – die eine umma gegen den Rest der Menschen –, sondern es gibt die Muslime und die anderen, und diese anderen sind mögliche zukünftige Muslime, also Vielleicht-bald-Mitglieder der umma; und, wie sich zeigt, werden etwa die paganen Stämme der arabischen Halbinsel bald auch ihre tatsächlichen Mitglieder sein. Hier findet sich der zweite Verarbeitungsschritt der Erkenntnis, dass sich bis heute nicht alle der sozialen und kultischen Gemeinde, die durch Muhammads ˙ Verkündigung entsteht, angeschlossen haben. Alle Nichtmitglieder der umma werden lediglich als Noch-nicht-Mitglieder gesehen. Bis heute kann man beobachten, dass Muslime den Islam nicht als eine Option neben andern, sondern als die eigentliche Lebensform der Menschheit betrachten und darauf hoffen, dass dies auf die Dauer auch alle erkennen. Ein solches Verständnis legt auch die Doppeldeutigkeit des Wortes muslim nah. Es heißt „gottergeben“. So war laut Koran schon Abraham muslim (3:67). Zugleich besagt das Wort natürlich heute ‚Mitglied der sich auf den Koran berufenden Religionsgemeinschaft‘. Die zugrundeliegende, aber nicht immer ausgesprochene Frage ist nun, ob jeder Gottergebene auch Mitglied des Islam sein muss. Hiermit haben sich erste Züge einer islamischen Gemeinschaftstheorie angedeutet: Islam ist tawh¯ıd-Gemeinschaft, zu deren Einheit von Glaubensform ˙ und Gemeinwesen alle Menschen und Völker kommen sollen. Ausdrücklich bringen das islamgemäße Verhältnis von Religionsgemeinschaft und Gesellschaft allerdings erst die nächsten Generationen der Muslime zur Sprache. Anlass ist der Tod Muhammads. ˙
2.
Machtfrage und Heilsfrage: politische Theorie im klassischen Islam
Im Gespräch mit Christen sagen Muslime gelegentlich, es gebe islamischerseits kein Pendant zur Ekklesiologie, es gebe keine „Ummatologie“. Eine Lehre über die Sozialgestalt des Islam läuft denn auch tatsächlich nicht unter dem Begriff umma. Es gibt jedoch sehr wohl eine islamische Gemeinschaftslehre, und zwar verbunden mit islamischer politischer Theorie. Es gibt sie bereits ab dem siebten christlichen Jahrhundert, also in der Frühzeit des Islam. Sie entsteht in blutigem innermuslimischem Streit, ja sie entsteht deswegen. Die islamische Reflexion des Politischen läuft unter dem Begriff der ima¯ma, also des Imamats. Wie es dazu kam, klärt sich im Blick auf die Geschichte Muhammads. ˙
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Wer wird Muhammads Nachfolger? Anweisungen über den Nachfolge˙ mechanismus hat er nicht erlassen, geschweige denn Vollmachtsstrukturen eingerichtet. Einer Stammeskultur wäre das fremd, ja bedrohlich. Sie empfindet sich nicht als Gesellschaft im Unterschied zu Machtinstitutionen, einem „Staat“ gegenüber. Solche Macht will man überhaupt nur sehen, wenn sich innere Konflikte nicht ohne sie lösen lassen. Daher gibt es für den Koran nur die eine Macht, die göttliche, die im Bedarfsfall einen Menschen autorisiert und inspiriert; entsprechend hört man in Medina häufig den Aufruf, „Gott und seinem Gesandten“ zu gehorchen (8:1 etc.). Deswegen fühlte sich Muhammad nicht ˙ berechtigt, einen Nachfolger zu benennen. Hier liegt ein Grundunterschied zu Jesus, der seine ἐξουσία offenkundig auch als Bevollmächtigung verstand, diese weiterzugeben (Markus 6,7). Mit Muhammads Tod erweist sich die ungeklärte ˙ Nachfolgefrage als lebensbedrohlicher Spaltpilz. Man hatte sich per Akklamation für denjenigen Prophetengefährten entschieden, den man für den Fähigsten hielt: Abu¯ Bakr. Aber damit hatte man natürlich unbewusst viel mehr entschieden: dass es eine Art Wahl geben soll, dass es also verschiedene mögliche Nachfolger gibt und dass Kriterium für die Muhammadnachfolge nicht Blutsverwandtschaft oder Designation zu Lebzeiten ˙ ist, sondern persönliche Eignung für das Leitungsamt. Ja, auch dass Muham˙ madnachfolge nun bedeutete, dessen Rolle als Leiter des Gemeinwesens zu erfüllen – und nicht etwa als Verkünder von Gottesbotschaften –, hatte man damit unausgesprochen entschieden. So kommt die Gemeinde zwei Jahre später, nach Abu¯ Bakrs Tod, auch zu dessen Nachfolger ʿUmar und, nach dessen Ermordung, wiederum zwei Jahre darauf, zu ʿUtma¯n. Es mehren sich aber nun Stimmen, die ¯ fragen, ob nicht andere Kriterien anzulegen oder andere Personen die von Gott für die Aufgabe Erwählten sind. Der Streit um die legitime Herrschaft wird sich im Islam nicht mehr legen. Mit dem Tode ʿUtma¯ns brach in der Gemeinde gar ein erster Bürgerkrieg aus (656– ¯ 661). Man bezeichnete den Konflikt mit einem theologisch aufgeladenen Wort als „erste fitna“. Das deutete an, wie sehr man mit den islamischen Grundideen gebrochen hatte, als man sich plötzlich vor der selbstwidersprüchlichen Spaltung in mehrere sich auf Muhammad berufende ummas sah. Denn fitna bedeutet ˙ „göttliche Prüfung“ (πειρασμός) und sogar „Glaubensabfall“! Die politische Theorie des Islam setzt zu diesem Zeitpunkt ein. Und sie behandelt nicht nur die formale Machtfrage. Denn in ihr steht das göttliche Heil auf dem Spiel. Die Zugehörigkeit zur umma verbürgt nämlich Teilhabe am Paradies. Wenn die Religionsgelehrten aber nicht mehr sicher angeben können, welche der sich islamisch nennenden Gruppen nun die rechtgeleitete umma ist, werden die Muslime nervös. Daher bieten die Gelehrten nun alle argumentativen Geschosse auf, um jeweils ihren Mann als den rechtmäßigen Amtsträger zu verteidigen.
Glaubensgemeinschaft und politische Ordnung
2.1
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Kalif, Imam, König: Herrschertitel als kritisches Programm
Wie bezeichnete man diesen neuen Amtsträger in der umma? Man tituliert den, der Muhammad nachfolgen sollte, tatsächlich als „Nachfolger“: halı¯fa – Kalif. ˙ ˘ Das Wort ist interessant, weil es auch „Stellvertreter“ heißen kann; und das wird die erste Bedeutung gewesen sein: ein Vize, nicht aber einer, der wirklich an die Stelle des Propheten treten könnte. Die Wortbedeutung „Stellvertreter“ wird sich unter dem dritten Kalifen allerdings noch als Problem erweisen. Der zweite Nachfolger aber führt erst noch eine andere Rollenbezeichnung ein: ʿUmar nennt sich amı¯r al-muʾminı¯n, „Oberbefehlshaber der Gläubigen“. Daher das uns vertraute Wort „Emir“. ʿUmar bezeichnet sich aber auch als den Faru¯q, „das Kriterium“; er führt damit erstmalig einen messianischen Titel. Auf einen innerweltlichen Anspruch beschränkte er sich also nicht. ʿUmars Nachfolger ʿUtman greift auf den Kalifentitel zurück, nutzt dessen ¯ Semantik aber neu. Der „Nachfolger“ bedeutet ja auch „Stellvertreter“. Der Kalif ist jetzt nicht mehr „Nachfolger des Gesandten Gottes“, sondern behauptet, „Stellvertreter Gottes“ zu sein; statt halı¯fat rasu¯l Alla¯h also halı¯fat Alla¯h. ˘ ˘ Das Oberhaupt bekommt einen weiteren programmatischen Titel. Er ist ima¯m. Das heißt erst einmal „Vorbild“ und „Anführer“. Jeder, der ein Ritualgebet leitet – auch spontan für eine sich gerade zusammenfindende Gruppe –, heißt so. Dass der „Anführer“ der gesamten Gemeinde als ima¯m bezeichnet werden kann, ist nun fünffach bedeutsam. Einmal verwendet m. E. keine Sure das Wort für einen Menschen. Im Koran ist ima¯m vielmehr das Wort für ein maßgebliches Buch, etwa „die Hauptschrift“. Ein einziger Vers ist offen für eine Deutung auf einen Menschen, aber auch hier legt der Zusammenhang eher die Bedeutung „Schriftstück“ nahe. In dem betreffenden Koranvers sagt Gott von sich im Plural mit einer koranisch geläufigen Warnform, einem unvollständigen Zeitsatz: Am Tag, da wir alle Menschen mit ihrem ( jeweiligen) Anführer (zum Gericht) rufen werden! Diejenigen, denen ihre Schrift (kita¯b, mit dem Verzeichnis ihrer Taten) in ihre Rechte gegeben wird, werden sie (ohne weiteres) verlesen (17:71ab).
Aber auch hier legt sich doch eher nahe, ima¯m für einen Gegenstand zu halten und zu übersetzen: „Am Tag, da wir alle Menschen mit ihrem Hauptbuch (zum Gericht) rufen werden! Diejenigen, denen ihre Schrift (kita¯b, mit dem Verzeichnis ihrer Taten) in ihre Rechte gegeben wird, werden sie (ohne weiteres) verlesen“ (17:71ab). Wenn der Anführer der islamischen Gemeinde mit einem koranischen Wort für „Buch“ bezeichnet wird, ist klar, wie sehr er Orientierung, „Rechtleitung“ zu bieten hat. Zweitens zeigt die Nähe zur Bedeutung „Vorbeter“, dass das politische Oberhaupt sich eben doch erst einmal als Leiter des Gottesdienstes sehen soll.
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Drittens aber klingt der Titel damit so unspektakulär, dass man dazu überging, das Amt des Anführers aller Muslime in Absetzung vom beliebigen Liturgen als „Großimamat“ zu bezeichnen: al-ima¯ma al-kubra¯/al-ʿuzma.11 ˙ Es legt sich viertens schon deshalb nahe, den, der der umma vorsteht, ima¯m zu nennen, weil die beiden Wörter derselben Wortwurzel entstammen. Die Wurzel ʾm–m ist semitisch breit belegt; das Verb könnte „vorausgehen“ bedeuten. Diese Grundbedeutung erklärt dann gut die folgenden arabischen Wörter: die Präposition ama¯ma „vor“, sowie die Substantive umm „Mutter“, daher umma „Stamm, Volk, Nation“ und schließlich den „vor“ dem „Stamm“ gehenden ima¯m mit seinem Amt, der ima¯ma. Der Imam scheint also ganz organisch „vor“ dieses neue Gottesvolk zu gehören. Schließlich besagt der Titel, dass die Muslime in ihrem Anführer nicht nur einen Herrscher, sondern – was ima¯m ja auch bedeutet – ein Vorbild sehen wollten; dass sie also ethische Ansprüche stellten und damit bald ethische Kriterien für die Gültigkeit der Herrschaft anwenden werden. Ein weiterer Herrschertitel tritt erst später hinzu. Auch ihn muss man aus seinem Entstehungszusammenhang heraus verstehen. Nach ʿUtma¯ns Ermor¯ dung wählt man den Cousin und Schwiegersohn Muhammads: ʿAlı¯. Sein Kalifat ˙ erfüllt erstmalig andere Legitimitätskriterien: ʿAlı¯ soll von Muhammad selbst ˙ bestimmt worden sein, und er ist jedenfalls Prophetenverwandter. Seine Anhänger vertreten die Ansicht, dass kein anderer als er von Anfang an die umma hätte leiten sollen. Für sie ist ʿAlı¯ nicht der vierte Kalif, sondern der erste. Seine Anhänger sind die „Ali-Partei“, die ˇs¯ıʿat ʿAlı¯: die Schiiten. Gleich nach dem Tod des Propheten hatten sich also zwei Weisen der Herrschaftslegitimierung gegenübergestanden: Wahl des Geeignetsten oder Muhammad-Verwandtschaft. ˙ Mit ʿAlı¯s Kalifat aber tritt eine dritte Antwort auf die Frage hinzu, wie man den rechtmäßigen Leiter der umma findet: Ein mächtiger mekkanischer Klan beansprucht, den Kalifen zu stellen. Damit ist das dynastische Prinzip begründet. Die Banu¯ Umayya lancieren einen aus ihrem Hause, einen „Umayyaden“, Muʿa¯wiya. Er wird die Hauptstadt der umma erst ins irakische Kufa, dann nach Damaskus verlegen. Einige zeitgenössische Gelehrte kritisieren die Oberhäupter nun für ihren höfischen Lebensstil, ihr persönliches Missverhalten, aber auch für die autokratische Machtübernahme. Als besonders schmerzlich empfindet man, dass die Kalifen sich Insignien der Königswürde zuzulegen beginnen: Szepter, Krone, Thron. In mittelumayyadischer Zeit hört man deutliche Regierungskritik: Mulk sei das, also – horribile dictu – „Königtum“. Damit sei der entscheidende Abfall von Gott geschehen: Jetzt betrachte der Herrscher nicht mehr Gott als den König 11 Laut Patricia Crone vielleicht zuerst bei Abu¯ Yaʿla, st. 1066: P. Crone, Medieval Islamic Political Thought, Edinburgh 2004, 17.
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175
und die eigene Herrschaft als lediglich verliehene (so noch Sure 3:26), sondern als „Besitz“. Mulk bedeutet denn auch nicht nur „Königtum“; es heißt darüber hinaus „Besitz“. Tatsächlich aber sei Menschenmacht über Menschen nur legitim, wenn sie für Gottes Zwecke eingesetzt wird. Einen König (malik) betrachten die Kritiker als Entthronung Gottes. Imamat und der Kalif, die ima¯ma und der halı¯fa, seien das Herrschaftsinstrument Gottes, seien also Weisen der Theokratie. ˘ Die Königsherrschaft von Menschen dagegen sei Aristokratie und daher gegen die Grundprinzipien des Islam. Königtum ist für die Gelehrten Rückfall ins Heidentum.
2.2
Griechen und Perser: Deckungsdenken
Neben den kritischen Stimmen melden sich aber auch Gelehrte zu Wort, die den status quo absegnen und mit ihren Argumenten abstützen. Das geschieht in jeder Generation und nach jeder Verschiebung der Machtmechanismen neu. Die ‘ulam’ – die Religionsgelehrten – entwickeln jeweils neue Begründungen, die die fraglich gewordene Legitimität des derzeitigen Imams nachträglich sanieren.12 Diese Gelehrten und die so legitimierte umma mit ihrem ima¯m wird man später die „Sunniten“ nennen. Hoftheologie wird hier betrieben oder, um das Verfahren genauer zu charakterisieren: Deckungsdenken. Denn ein Teil der sunnitischen ‘ulama¯’ scheint allzeit bereit, den augenblicklichen islamischen Herrschaftszustand mit Koranzitaten, Hadı¯ten und neuen Begründungsgängen als genau so ˙ ¯ gottgewollt zu erweisen und damit zu decken. Deckungsdenken ist diese Hofgelehrsamkeit allerdings auch, weil deren Vertreter damit aus der Schusslinie sind, sicher vor den Zornesblitzen des Machthabers. Das muslimische Reich entsteht zwischen den beiden alten Kulturträgern Persien und Byzanz. Werden die griechische Philosophie und die iranische Tradition nun die politische Theorie des Islam beeinflussen? Das griechische Denken eignet sich für einen denkerischen Nachvollzug der muslimischen Gründungserfahrung ausgezeichnet. Die Anthropologie des Aristoteles ohne den Bruch der Erbsünde entspricht dem koranischen Menschenbild, demzufolge der Mensch nur erneut zum ihm ohnehin bekannten Guten ermahnt werden muss. Ein Gemeinwesen gibt es nicht erst, um dem Bösen in uns zu wehren, sondern weil der Mensch φύσει πολιτικὸν ζῷον ist (Politeia 1253a3, umgekehrt dann 1278b19). Die Muslime werden den aristotelischen Begriff entweder unter Betonung des „Stadt“-Aspektes als madanı¯ wiedergeben, oder mit dem aus dem semitischen Wort für „Mensch“ gebildeten insı¯, „gesellig“. 12 Als eine solche Geschichte je nachziehender Sanierungen lässt sich das ganze Buch E.I.J. Rosenthal, Political Thought in Medieval Islam, Cambridge 1958 lesen.
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Ebenfalls Platons Staatslehre findet muslimischen Widerhall. Sie eignet sich denn auch in mindestens drei Zügen zur philosophischen Untermauerung dessen, was in der islamischen Frühzeit polistechnisch geschah. Der am Anfang der Zivilisation stehende Gesetzgeber ist hier Muhammad, die Gründungsgeschichte ˙ durch Kolonialisierung erfüllt sich in der higˇra, und Heilsteilhabe mittels Zugehörigkeit zur πόλις: das ist ja der umma-Gedanke als Erlösungsgemeinschaft. Die klassisch-islamische Rezeption der griechischen Staatsphilosophie hat ihren Meister in al-Fa¯ra¯bı¯ (gest. 950).13 Aus Iran gelangt dagegen eine andere politische Theologie in die Selbstreflexion der umma. Das geschieht über persisch geprägte christliche Beamte, die nun für die Muslime arbeiten. Was hier eindringt, ist eine hohe Königsideologie. Jetzt muss man den König nicht mehr als einen Menschen sehen, dem göttliche Macht vorübergehend verliehen wurde oder der sich göttliche Macht gar anmaßt, sondern der sie rechtens auf Erden vertritt.14 Das ist politische Theologie als absegnendes Hofdenken in Reinform. Die sunnitischen Deckungsdenker bewirken allerdings nicht nur eine breite Billigung der jeweils augenblicklichen muslimischen Herrschaftsform als islamisch legitim. Nolens volens stoßen sie auch eine gegenläufige Entwicklung an.
2.3
Machthaber und Gelehrte: Verweltlichung der Herrschaft
Ursprünglich sollte das Imamat, wie gesagt, die Heilsgarantie sein: Wo der Imam, da der Islam – wo das gläubige Vorbild, da ist Rechtleitung zu finden; und Rechtleitung (huda¯) ist das, was der Muslim sich vom Islam erhofft. Sie ist der soteriologische Zentralbegriff.15 Aber nach 200 Jahren ‚Deckungsdenken‘ stellt sich heraus, dass sich die Quelle der Rechtleitung verschoben hatte. Das Deckungsdenken vermochte es auch immer weniger zu verbergen, dass die Herrscher verroht waren. So sehr sich die sunnitischen Religionsgelehrten dem Herrscher unterwarfen und ihn ideologisch stützten, etablierten sie sich doch als eigenständige Rechtleitung, ja als die eigentliche Rechtleitung. Durch ihre Stellungnahmen – in Lehreinrichtungen und Schriften – veränderten sie die Glaubenskultur. Wer wissen will, was denn nun die göttliche Rechtleitung ist, schaut immer weniger auf den Herrscher und fragt immer mehr, was die Hadı¯t-Ge˙ ¯ lehrten zu sagen haben. 13 Seine Maba¯diʾ a¯ra¯ʾ ahl al-madı¯na al-fa¯dila sind übersetzt von C. Ferrari, Die Prinzipien der ˙ Stadt, Stuttgart 2009. Ansichten der Bewohner der vortrefflichen 14 P. Crone, a. a. O., 164. 15 H. Zirker, Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen, Düsseldorf 1993, 100.
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Genau besehen geschah diese absichernde Rückfrage in drei Methodenphasen.16 Zuerst lautete die Frage an die Hadı¯t-Gelehrten: Was lehren die Texte? Als ˙ ¯ man merkte, dass sie nicht eindeutig sind, fragte man: Was sagen die Ausleger? Als man schließlich feststellte, dass die sich nicht einig sind, wollte man wissen: Was ist die übereinstimmende Sicht der Gelehrten? Wie dem auch sei: Für die politische Theorie ist mit dieser mentalitätsgeschichtlichen Verlagerung der Rechtleitungsquelle ein entscheidender Prozess eingeleitet. Wenn die professionelle Religionsgelehrsamkeit, und nicht mehr der Herrscher, den Gottesweg weist, dann wird Herrschaft etwas Weltliches. Diese Verschiebung des islamischen Herrschaftsverständnisses hatte nun aber nicht nur mentalitätsgeschichtliche Gründe, für die die Kalifen mit ihrem anstößigen Lebenswandel mitverantwortlich waren; eine ganze Reihe von Ereignissen beschleunigten, ja bewirkten von außen die Bedeutungsverschiebung des Kalifats. Es rutschte stufenweise in die Machtlosigkeit. Konkurrenz hatte der in Bagdad residierende ʿAbbasidenkalif schon 756 bekommen. Seither gab es in Córdoba ein selbständiges Emirat. Es berief sich auf umayyadische Abstammung. Ab 910 nennen sich dann die schiitischen Fatimiden in Nordafrika „Kalifen“ und stellen damit die Einzigkeit, ja Gültigkeit der Bagdader Herrschaft in Frage. Andalusien zieht 929 nach: Jetzt gibt es drei Kalifate gleichzeitig! Dazu kam, dass der Kalif in Bagdad 945 von der wiederum schiitischen Dynastie der Buyiden faktisch fast vollständig entmachtet wird. An weiteren Orten sprießen Gegenkalifate aus dem Boden. Der Imamatsgedanke ist damit sinnlos geworden; denn wo die wahre islamische Glaubensgemeinschaft ist, das kann man nun nicht mehr im Blick auf den einen Imam, den Kalifen angeben. Auch hier zieht theologisches Deckungsdenken noch einmal nach: al-G˙aza¯lı¯ (gest. 1111) löst das Problem, indem er den politischen Herrschern nicht wirklich Macht zugesteht, sondern bloß ˇsawka, Muskelkraft. Es mag nun verschiedene Königtümer geben, aber die umma sei dennoch einzig und einig.17 Hat sich das sunnitische Denken also konstellationsbedingt doch noch von seiner theokratischen Frühgeschichte lösen können? Die Frage suggeriert, dass der Islam in Medina eine Theokratie war.18 Tatsächlich war das Gemeinwesen dort unter Muhammad durch Anweisungen gesteuert, die beanspruchten, von ˙ Gott zu kommen. Es entstand eine geregelte Gottesdienstform, es gab prophetische Schiedsurteile und Feldzüge, deren Erfolg man Gott zuschrieb (3:123). Der medinensischen umma fehlte aber die institutionalisierte Herrschaft, der Staat, ein Apparat. Wenn man unter Theokratie jene Staatsform versteht, in der oder 16 P. Crone, a. a. O., 134–140. 17 P. Crone, a. a. O., 248. 18 So etwa P. Stockmeier, „Theokratie“, in: Staatslexikon, Bd. 5, Freiburg i.Br. 71989, Sp. 447–450, Sp. 448.
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durch die Gott unmittelbar regiert, dann ist von Medina zu sagen: Theo- ja, -kratie nein. Gegen Ende der koranischen Verkündigung deutet sich an, dass es in Medina noch andere Zuständige gibt. Sie heißen ulu¯ l-amr: „die mit dem Befehl“ oder „die Leute der Angelegenheit“. Gerade weil ihre Aufgaben nicht beschrieben und ihr Autoritätszugang nicht erwähnt wird, handelt es sich hier aber nicht um fest installierte Funktionsträger, geschweige denn um neu eingerichtete Hierarchien. Der Koran erwähnt hier nur wie selbstverständlich weiterbestehende, aus der Stammesgesellschaft vertraute und fallweise eintretende Anweisungs- und Lösungsmechanismen: Ihr Gläubigen! Gehorcht Gott und dem Gesandten und den Zuständigen (ulu¯ l-amr) unter euch! Und wenn ihr über eine Sache streitet, dann bringt sie vor Gott und den Gesandten, wenn ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt! So ist es am besten und nimmt am ehesten einen guten Ausgang (4:59).
2.4
Umma und civitas: verantwortliches Miteinander
Der politisch-theologische Befund lässt sich jetzt zusammenfassen. Koran und Muhammadgeschichte begründen keine institutionalisierte Herrschaft. Mit ˙ seinem Anspruch, der Gesandte Gottes für die Araber zu sein, gelingt es Muhammad zwar in gewissem Maße, das agonale Neben- oder Gegeneinander der ˙ Menschen und Stämme auf der Halbinsel in ein verantwortliches Miteinander zu überführen. Mehr civitas als dies ist aber gar nicht im Blick: keine Verfassung, keine Behörden, keine hierarchischen Verfahren; nur eine Integrationsdynamik, die umma. Die Unterscheidung von Staat, Gesellschaft und Religion greift hier also noch nicht. Erst moderne Rückgriffe projizieren eine Staatslehre in die islamische Frühzeit: eine ideale Synthese, ja die Identität von dı¯n und dawla – „Religion und Staat“. Dabei ist schon das Wort für „Staat“ (dawla) eine Neuverwendung der Vokabel, die ursprünglich nur „Wechsel“, später dann auch „Dynastie“ bedeutete.19 Die Behauptung, der korantreue Muslim müsse einen islamischen Staat befürworten, ist somit ein islamistischer Anachronismus. Politikrelevantes sagt der Koran nur, insofern er die Autorität Muhammads legi˙ timiert. Was nach dessen Tod zu geschehen hat, bleibt koranisch ungeklärt. Der Koran entwirft weder eine Theokratie noch eine Demokratie. Zu Staatsformen äußert er sich überhaupt nicht.
19 F. Rosenthal, „Dawla“, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. 2, Leiden ²1991, 177–178.
Glaubensgemeinschaft und politische Ordnung
3.
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Ergebnis
In seiner Systematischen Theologie lässt Wolfhart Pannenberg die Ekklesiologie auf die Frage hinauslaufen, wie „Kirche und politische Ordnung“ zueinander und vor dem „Horizont der Gottesherrschaft“ stehen.20 Die Lehre von der Kirche beinhaltet nämlich eine Theologie des Politischen. Sie legitimiert und relativiert menschliche Herrschaft. Das geschieht durch die dreifache Zuordnung in Selbstunterscheidung: Kirche – Gottesreich, Staat – Gottesreich und Staat – Kirche. Mit ihrer Dynamik der Legitimierung und Relativierung von Menschenmacht gehört zum Selbstverständnis der christlichen Glaubensgemeinschaft also von Anfang an nicht nur eine politische Dimension, sondern auch eine eigene Sichtweise der staatlichen Ordnung: Institutionalisierte Menschenherrschaft soll es geben, und sie soll die Gemeinschaft des Gottesreiches vorscheinen lassen; das aber wird ihr immer nur vorläufig und überholbar gelingen. Auch wenn die Christen und die Kirche diesem Selbstverständnis allzu selten entsprochen haben, gehört es zum christlichen Grundzeugnis, das immer wieder freizulegen und einzuklagen ist. Diese christliche Theologie der politischen Unterscheidungen erlaubt nun einen geschärften Blick auf die islamische Theologie des Politischen. Der Islam hat ebenfalls eine politisch relevante Ursprungsdimension. Die Grunddynamik ist hier das „Eins-sein-Lassen“, die Integrationsbewegung der transtribal-monotheistischen umma. Das islamische Grundzeugnis bringt zwar mit dem Impuls zur Einigung aller eine für das Zusammenleben der Menschheit relevante Grunddynamik mit. Staatstheorien treten jedoch erst später hinzu und können sich nicht unmittelbar auf den koranischen Erstimpuls berufen. Sie entstehen vielmehr erst aus der schmerzlichen Erfahrung, dass man sich islamischerseits sofort nach Muhammads Tod über die Frage streitet, ja bekriegt, wie das Ge˙ meinwesen nun geleitet werden soll. Die Gelehrten können eine angeblich islamische Herrschaft als in Wirklichkeit unislamisch kritisieren oder aber nachträglich sanktionieren oder als endlich einzurichten propagieren. Erst hier ist die Rede von Theokratie angebracht. Das ist ein überraschendes Ergebnis: In seiner Frühzeit bietet das Christentum bereits Material für eine Staatstheorie, der als doch eigentlich politikinteressierter geltende Islam dagegen hat in seiner Gründungsphase dagegen keinen Staat im Blick. Wie erklärt sich dieser Unterschied? Das Selbstverständnis der Kirche entsteht in Weiterführung der Volks- und Königstheologie Israels, aufgrund der Erfahrung und Verkündigung des Reiches Gottes und der Gemeinschaft als Leib Christi, es entsteht angesichts bereits bestehender und übergriffiger Staatsstrukturen, sowohl jüdischer- wie römi20 A. a. O., Bd. 3, 62.
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scherseits. Strukturierte Herrschaft ist daher für Jesus und die Apostel eine Realität, die im Lichte von Ostern neu zu beleuchten ist. Der Islam dagegen entsteht in einer Kultur ohne institutionalisierte Herrschaft. Der Koran spricht zu einer vorstaatlichen Welt. Daher tragen die Muslime keine eindeutige, einheitliche staatsbezogene Botschaft durch die Geschichte. Sie waren und sind vielmehr in jeder neuen soziokulturellen Konstellation herausgefordert, das staatstheoretisch noch ganz offene koranische Zeugnis neu auszubuchstabieren in seiner Bedeutung für die Gestaltung der politischen Ordnung.
Malte Dominik Krüger
Pannenberg als Gedächtnistheoretiker Ein Interpretationsvorschlag (auch) zu seiner Ekklesiologie
Ein Sonntag in Frankreich. Ein kalter Wintermorgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Durchfroren kommt ein junger Mann nach Hause. Er trinkt einen Tee. Er taucht ein Stück Gebäck ein, eine „Madeleine“, und führt es dann auf einem Löffel zum Mund.1 Und dann geschieht es plötzlich: „In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog“2. Unwillkürlich und unbeabsichtigt muss der Mann an seine Kindheit denken – das Dorf, die Tanten und die Kirche. Es steigen Eindrücke, Bilder und Stimmungen der Erinnerung in ihm auf und lassen ihn augenblicklich nicht los. Der Mann kann nicht anders: Er muss sich erinnern. – So hat der Schriftsteller Marcel Proust in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1927) ein Erinnerungserlebnis beschrieben, das inzwischen selbst zur oft zitierten Erinnerung an diesen Roman geworden ist. Die Gedächtniswissenschaft nennt diese Erinnerung, die urplötzliche Reise zurück in die eigene Vergangenheit „Proust-Phänomen“: Scheinbar nichtssagende, alltägliche Eindrücke – wie das Aroma eines in Tee aufgeweichten Gebäckstücks – können Menschen in den Bann ihrer Erinnerung ziehen.3 Doch es gibt auch ein bewusstes Gedenken und Erinnern, um gezielt in die eigene Vergangenheit zu reisen. Für den christlichen Glauben ist diese mentale Reise lebenswichtig: Ohne die Erinnerung an die Taten seines Gottes gibt es 1 Vgl. auch: C. Schüle, Im Bann der Erinnerung, in: A. Sentker (Hg.) Das Rätsel Bewusstsein. Wie unser Ich entsteht, Berlin/Heidelberg 2015, 126–137, hier: 128 f. Im Folgenden wurde der Duktus des mündlichen Vortrags beibehalten, wie er am 21. Oktober 2016 gehalten wurde. Im Text genannte Erscheinungsjahre beziehen sich auf die Erstauflagen von Publikationen, während die Angaben in den Anmerkungen sich in der Regel nach der jüngsten Auflage der entsprechenden Publikationen richten. 2 M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1, Frankfurt a.M. 1953, 63. Vgl. zum Verhältnis von Imagination und Realität in Prousts Roman auch: H.R. Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, Frankfurt a.M. 1986, 62–73, 100–124. 3 Vgl. C. Schüle, a. a. O. (vgl. Anm. 1), 129.
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Malte Dominik Krüger
keinen christlichen Glauben. Und dieses Erinnern ist kein vermeintlich bloßes Tatsachenwissen. Es zieht vielmehr in das hinein, was erinnert wird: Wenn die christlichen Glaubenserinnerungen zur Sprache kommen, dann können sie die Gegenwart von Menschen so erhellen, dass die Zukunft wie ein weites, helles und offenes Land erscheint.4 – Doch wie soll man sich das Erinnern vorstellen? Und wie wird der christliche Glaube zu einer zukunftserschließenden Erinnerung? Dem soll im Folgenden unter dem Titel „Pannenberg als Gedächtnistheoretiker. Ein Interpretationsvorschlag (auch) zu seiner Ekklesiologie“ nachgegangen werden, und zwar in der Doppelsinnigkeit, dass das, was man in gegenwärtigen Gedächtnistheorien als Erinnerung bezeichnet, in Pannenbergs Ekklesiologie aufgenommen und darin zugleich auch an sich selbst realisiert wird. Mein Beitrag hat daher zwei systematische Teile, nämlich erstens „Erinnerung in gegenwärtigen Gedächtnistheorien“ und zweitens „Erinnerung in Pannenbergs Ekklesiologie“. Dieser Zugang von der gedächtnistheoretischen Außen- zu Pannenbergs Binnenperspektive scheint mir dem an Georg Wilhelm Friedrich Hegel geschulten Zugriff Pannenbergs zu entsprechen, anfänglich unumgängliche Abstraktionen in ihrer Selbstprüfung aufzuheben.5 Mein dritter Teil bündelt als „Schlussreflexion“ die Einsichten dieses Beitrags.
1.
Erinnerung in gegenwärtigen Gedächtnistheorien
Die Gedächtnisforschung ist ein weites Feld – und schließt neurowissenschaftliche, sozialpsychologische und kulturwissenschaftliche Einsichten ein. Doch Profile und Charakteristika sind meines Erachtens durchaus erkennbar. Im Folgenden soll anhand dreier Thesen die gegenwärtige Diskussion – zumindest ansatzweise – aufgenommen werden, um sie dann später auf Pannenbergs Theologie beziehen zu können. 4 Für den ( jüdischen und) christlichen Gottesdienst ist das Erinnern „Das tut zu meinem Gedächtnis!“ zentral, und zwar in der Weise der zukunftserschließenden Hoffnung, wenn es in der Liturgie des Herrenmahles paradigmatisch heißt: „Deinen Tod, o Herr, verkündigen wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit“ (vgl. zur Thematik: P. Petzel/N. Rech (Hg.), Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003; M. Ebner u. a. (Hg.), Die Macht der Erinnerung, Göttingen 2007; Yosef Hayim Yerushalmi, „Zachor“. Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988). 5 Die Begriffe „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ werden im Folgenden nicht trennscharf unterschieden. Die Tradition konnte teilweise programmatisch zwischen dem Begriff der Erinnerung, der in der Wirkungsgeschichte von Platons Konzept der Anamnesis stand bzw. steht, und dem vermögenspsychologischen Begriffes des Gedächtnisses unterscheiden (vgl. dazu und zu den sich daraus ergebenden Perspektiven und Problemen: B. Waldenfels, Art. Erinnerung, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, 636–643).
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Erste These (zur anthropologischen Bedeutung des Gedächtnisses): Einerseits erscheint die Erinnerung für die Wahrnehmung des Menschen in seiner Identität unumgänglich, andererseits erscheint genau diese Erinnerung jedoch auch fragwürdig. Als ein Meilenstein der Gedächtnisforschung gilt das Werk „Searching for Memory. The Brain, the Mind, and the Past“ (1996) des renommierten Gedächtnispsychologen und Neurowissenschaftlers Daniel Schacter von der Harvard University. Noch treffender erscheint der Titel der deutschen Übersetzung „Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit“ (1999).6 In der Tat ist das die entscheidende Einsicht des vielschichtigen und detailreichen Werks: Unsere Erinnerungen machen uns zu dem, was wir sind. Wir sind gewissermaßen unser Gedächtnis.7 Und in der Tat zeigt sich schon auf der Ebene unserer Alltagserfahrung: Unser Körper verändert sich. Unsere Lebensgeschichte verändert sich. Unsere soziale Umwelt verändert sich. Was sich als Fluchtpunkt unseres Lebens erweist, ist unsere autobiographische Erinnerung. Sie ist das, was unser Leben so verbindet, dass sich darin ein (menschliches) Ich finden kann. Es ist vielleicht die wichtigste Einsicht der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung: Ohne Gedächtnis gibt es kein menschliches Selbst. Ohne unser Gedächtnis würde unser Bewusstsein in so viele Einzelteile zerfallen, wie es Zeitpunkte erlebt. Es ist das sog. autobiographische Gedächtnis, in dem unsere Einzeleindrücke zu einem ganzen Leben werden. Und: Das autobiographische Gedächtnis macht Menschen zu Menschen. Dies unterscheidet Menschen von allen anderen Lebewesen. Zwar haben alle Lebewesen ein Gedächtnis, aber anders als das besonders menschliche Gedächtnis erreicht das nicht-menschliche Gedächtnis nicht die Stufe des Autobiographischen. So kann sich das nicht-menschliche Gedächtnis weder so erinnern, dass es sich dessen bewusst ist, noch genau aufgrund dieses Vermögens das Reiz-Reaktions-Schema durchbrechen.8 Dies unterstreicht auch António R. Damásio, der prägend an der University of Iowa wirkte, einer der weltweit führenden Neurologen, in seiner inzwischen zum Klassiker gewordenen Studie „The
6 Vgl. Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit, Reinbek bei Hamburg 1999. 7 Vgl. a. a. O., 37–161. 8 Vgl. H. Welzer, Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven, in: C. Gudehus/ A. Eichenberg/H. Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, 1–10, hier: 2 f.; C. Schüle, a. a. O. (vgl. Anm. 1), 132. Vgl. zur Thematik: H. Welzer/H.J. Markowitsch (Hg.), Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005; H. Welzer/H.J. Markowitsch (Hg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart 2006; R. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte, Stuttgart 2007.
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Feeling of What Happens“ (1999).9 In deutscher Sprache liegt seine Studie unter dem Titel „Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins“ (2000) vor. Damásios These lautet: Autobiographische Erinnerungen sind für die Identität von Menschen wesentlich. Damásio argumentiert dafür folgendermaßen: Unser Bewusstsein kann neuronal erforscht werden. Es entwickelt sich aus minimalen Aufmerksamkeitszuständen objektbezogenen Wachseins, kann Vorstellungen erzeugen und ist emotiv verankert. Dieser Kern des Bewusstseins ist nicht spezifisch menschlich. Vielmehr entfaltet sich auf dieser Grundlage in einem komplexen Vorgang gradueller Aufstufungen unser autobiographisches Gedächtnis und Selbst. Das ist unser menschliches Ich–mit der Besonderheit, Erinnerungen zu haben und entsprechend Erwartungen für die Zukunft auszuprägen. Dieses Ich ist im Kern nichts anderes als ein Prozess, in dem persönliche Erinnerungen aktiv koordiniert werden und abrufbar sind. Und: Dieses Ich ist nicht mehr an das Hier und Jetzt gebunden, sondern es kann Zeitreisen machen; in seiner Freiheit von (dem) Hier und Jetzt wird es zur Basis von Sprache, Kreativität und Kultur.10 Erinnerungen als Identität, als Gewissheit, als Anker für unser Ich? Die Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ titelte in ihrer ersten Ausgabe des Jahres 2016 „Das trügerische Gedächtnis. Warum unser Gehirn Erinnerungen fälscht“. Auf dem Titelbild war die Mondlandung dargestellt – aber nicht mit US-amerikanischer, sondern mit deutscher Flagge. Der Anlass für diesen Titel war ein Bericht über die deutsch-kanadische Psychologin Julia Shaw, der es in einem Versuch gelungen war, Teilnehmenden die Erinnerung an etwas einzureden, das nie stattgefunden hat. Genauer gesagt: Shaw war es gelungen, Versuchsteilnehmenden eine Missetat einzureden, die diese nie begangen hatten. Die Kernbotschaft lautete: Grundsätzlich fälscht unser Gedächtnis Erinnerungen ohne böse Absicht und vorbewusster Weise so, dass sie für uns lebensdienlich sind; aber auch das Gegenteil ist möglich, wie der geschilderte Versuch deutlich macht.11 Kurz danach griff die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Thematik unter der Überschrift „Die perfekte Erinnerung“ auf – angeregt durch ein EU-Forschungsprojekt, bei dem Informatiker daran arbeiten, unsere Erinnerungen digital zu speichern („Life9 Vgl. zur Bedeutung von Damásio: P. Becker, In der Bewusstseinsfalle? Geist und Gehirn in der Diskussion von Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften, Göttingen 2009, 158. 10 Vgl. A.R. Damásio, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 1999, 264–282, 370–373. Vgl. zur Einordnung und Diskussion mit weiterführenden Literaturangaben: P. Becker, a. a. O. (vgl. Anm. 9), 158–164, 230–233. Der Springpunkt besteht darin, Damásios Konzept emergenztheoretisch deuten zu können (vgl. zur Sache: P. Clayton, Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus, Göttingen 2008, 11–47, 118–166). 11 Vgl. M. Dworschak, Das eingebildete Leben, in: Der Spiegel 01/2016 v. 02. 01. 2016, 14–21. Vgl. Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht, München 2016, 9–128. 241–281.
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logging“).12 Diese Berichte machen deutlich: Die Frage nach der Glaubwürdigkeit unseres Gedächtnisses ist so aktuell, dass sie bis in die Printmedien vordringt. Und das scheint kein Wunder zu sein. Denn wenn sich Menschen selbst im Blick auf ihr eigenes Leben eklatant und einfach manipulieren lassen, sind die Grundlagen unserer Rechtssprechung – wessen Schilderung kann man noch trauen? – und unserer Geschichte – wenn selbst Zeitzeugen sich fundamental irren können, worauf soll man sich denn verlassen können? – infrage gestellt. Schon im Jahr 2000 hatte Wolf Singer, ein bekannter Neurowissenschaftler und damals Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, in einem seitdem viel zitierten Eröffnungsvortrag „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft“ vor dem Deutschen Historikertag geurteilt, dass unsere Erinnerungen – wie unsere Wahrnehmungen – „datengestützte Erfindungen“13 sind. Und als plausibel gelten diejenigen datengestützten Erfindungen, so Singer, die bei denen, die sich in der „scientific community“ wechselseitig Fachkompetenz zuschreiben, für die zutreffendsten gehalten werden. Dagegen ist die ideale bzw. wahre Version zwar häufig ein unterstelltes Ideal, das man aber nicht eigens überprüfen kann. Denn für uns ist dieses Ideal nicht zugänglich.14 Und auch der renommierte Frankfurter Mediävist Johannes Fried, zuletzt mit seiner Biographie über Karl den Großen im Fokus einer größeren Öffentlichkeit, urteilt als Historiker ähnlich.15 In seiner Programmschrift „Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik“ (2004) spricht sich Fried für eine neurokulturelle Wende der Geschichtswissenschaft aus. So geht Fried davon aus, dass uns unser Gedächtnis betrügt und ein angemessenes Verständnis der auf dem menschlichen Gedächtnis basierenden Quellen (der Geschichte) nur möglich ist, wenn man die in der Erinnerung wirksamen neurokulturellen Muster wahrnimmt. Die schließt nach Fried die Möglichkeit ein, dass im Licht der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung die Geschichte in gewisser Hinsicht neu zu schreiben ist.16 Allerdings hatte der US-amerikanische Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White schon in seiner wirkmächtigen 12 Vgl. E. Wolfangel, Die perfekte Erinnerung, in: Die Zeit 04/2016 v. 21. 01. 2016, 29 f. Diskutiert werden in dem Beitrag die Vor- und Nachteile eines perfekten Alltagsgedächtnisses, das aufgrund kleiner, automatischer, tragbarer Kameras am Körper möglich erscheint. Vgl. zu dem Szenario, das man auch als Bedrohung wahrnehmen kann, den im Feuilleton viel diskutierten Roman: Dave Eggers, Der Circle. Roman, Hamburg 2014. 13 W. Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, in: ders., Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2002, 77–86, hier: 86. 14 Vgl. a. a. O., 85 f. 15 Vgl. J. Fried, Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München 2013. 16 Vgl. ders., Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004 (durchgesehene und erweiterte Aufl. 2012), 13–56, 80–152, 292–332, 358–393.
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„Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-century Europe“ (1973) deutlich gemacht: Die von der historistischen Schule in der Darstellung erstrebte Objektivität, wie es vermeintlich in Wirklichkeit wahrhaft gewesen ist, lässt sich nicht halten. Denn es gibt keine deutungsfreien Tatsachen.17 Wir sehen: Einerseits sind Erinnerungen für Menschen identitätsstiftend und damit gleichsam ein Anker für das menschliche Ich; andererseits sind dieselben Erinnerungen unsicher, immer auch konstruiert und flexibel. Unweigerlich stellt sich die Frage: Gibt es auch Grenzen für Erinnerungen? Oder lässt sich alles manipulieren? Leben wir in einer Matrix-Welt oder hat unser Ich doch einen Wirklichkeitsbezug? Damit sind wir bei der nächsten These. Zweite These (zur Referenz des Gedächtnisses): Die Erinnerung scheint vermögenspsychologisch durch die innere Bildlichkeit (Einbildungskraft) und soziokulturell durch performative Kommunikationsmuster begrenzt zu sein. Im Diskurs treten zwei Bedingungen und Grenzen in den Blick. Das ist erstens das natürliche Vermögen von Menschen, also die uns von Natur aus eigene Fähigkeit, die unsere Erinnerungen begrenzt. Und das sind zweitens soziokulturelle Muster, in und mit denen wir unsere Erinnerungen weitergeben. Erstens ist das natürliche Vermögen des Menschen zu nennen. Hier sind wiederum zwei Aspekte wichtig. Der erste Aspekt ist: Unsere Erinnerungen insgesamt sind keine Täuschung. Erinnern wir uns daran: Selbst Wolf Singer schätzt Erinnerungen nicht als reine, sondern als „datengestützte Erfindungen“ ein; sie haben also einen – wie auch immer gearteten – Wirklichkeitsbezug. Doch sie sind auch selbst wirklich. Dafür spricht ein starkes Argument aus der alteuropäischen Philosophie18: Zwar kann jede einzelne Erinnerung falsch sein, aber dass ich beziehungsweise wir uns erinnern, daran kann kein Zweifel bestehen. Erinnerungen gibt es tatsächlich. Der zweite Aspekt ist: Erinnerungen sind wesentlich bildlich. Wenn Menschen sich erinnern, dann kann dies sprachlich und vernünftig sein, dem zugrundliegend ist es jedoch bildlich, plastisch, szenisch. Damit sind in der Regel auch Gefühle, Gerüche und Geräusche verbunden. Denken wir an Marcel Proust: Als der junge Mann die Madeleine isst, da steigen die Bilder der Vergangenheit mit all ihren Farben, Gerüchen und Stimmungen in 17 Vgl. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 22015, bes. 9–62, 553–564. Vgl. zur Einordnung und Diskussion sowie zum Forschungsstand: J. Baberowski, Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005; L. Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003; J. Rohbeck, Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 22008; H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. 18 Vgl. zur Sache: C. Horn, Welche Bedeutung hat das Augustinische Cogito?, in: ders. (Hg.), Augustinus. De civitate dei, Berlin 1997, 109–130.
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ihm auf. Schon die Lehrbücher der antiken Rhetorik wissen: Möchte man sich an etwas erinnern, muss man es sich beim Auswendiglernen der Rede bildlich merken. Es gibt eine ausgeklügelte Kunst der Erinnerung, ars memoriae, die bestimmte Vorstellungsbilder vorschlägt.19 In unserer Spätmoderne schält sich seit den 1970er Jahren in der Kognitionswissenschaft heraus: Erinnern erfolgt gleichsam analog, nämlich szenisch und plastisch. Menschen haben eine innere Bildlichkeit, sie ist ein spezieller Verarbeitungsmodus, und er hängt mit dem Erinnern zusammen.20 Insofern überrascht es nicht, wenn in dem einschlägigen Handbuch „Gedächtnis und Erinnerung“ (2010) – trotz der unübersehbaren Vielfalt der Erinnerungsmedien von der mündlichen Sprache über die Schrift, Rituale und Erinnerungsorte bis hin zum Internet – die interdisziplinäre Diskussion folgendermaßen zusammengefasst werden kann: „Die Vergangenheit erscheint in der Erinnerung als Bild“21. Auch Stephan Otto von der Universität München, inzwischen verstorbener Philosoph und (ehemaliger) Leiter des Instituts für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus, kommt in seiner Studie „Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewusstseins“ (2007) im kritischen Gespräch mit den Erinnerungstheorien insbesondere von Platon, Augustinus und Immanuel Kant, Sören Kierkegaard, Edmund Husserl und Henri Bergson zur Einsicht: Unsere Erinnerungen sind im Kern bildlich. Und: Ohne die bildliche Erinnerungen sind wir uns letztlich in unserer Subjektivität und Personalität nicht verständlich.22 Für uns ist an diesem Punkt wichtig: Mit dem (inneren) Bildvermögen, das dem Erinnern zugrunde liegt, wird eine Einsicht betont, die Antonio Damásios Konzeption des Bewusstseins zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hatte. Nun können wir sagen: Es ist die Fähigkeit, mit – besonders: inneren – Bildern umzugehen, die zwischen tierischen Reiz-Reaktions-Schema und einem bewusstem, sich erinnernden Ich vermittelt. Es sei nur angemerkt, dass Pannenberg dies in seiner Studie „Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie“ (1962) unter der Überschrift „Daseinsbewältigung mit Phantasie“ in gewisser Weise berücksichtigt hat; und in der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ (1983) wird die in einem
19 Vgl. N. Pethes, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung, Hamburg 22013, 15, 25–28. Vgl. zur Sache auch: S. Otto, Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewusstseins, Hamburg 2007, 13–77, 141–193. 20 Vgl. K. Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2006, 244–261. 21 A. Bartoniczek, Art. Bild, in: C. Gudehus/A. Eichenberg/H. Welzer (Hg.), a. a. O., (vgl. Anm. 8), 202–216, hier: 202. 22 Vgl. S. Otto, a. a. O. (vgl. Anm. 19), 195–370, bes. 325–370. Vgl. zur Sache auch: U. Kregel, Bild und Gedächtnis. Das Bild als Merkzeichen und Projektionsfläche des Vergangenen, Berlin 2009.
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spieltheoretischen Kulturverständnis fundierte Einbildungskraft als Weise beschrieben, in der sich Freiheit konkretisiert.23 Zweitens sind soziokulturelle Muster als Grenze des menschlichen Erinnerns zu nennen. Auch hier sind zwei Aspekte wichtig. So sind Erinnerungen sozial und kulturell strukturiert. Sozial heißt: Erinnerungen wollen geteilt und erzählt werden. Kein Wunder: Was sich als bildliche Erinnerung nicht eindeutig und endgültig fassen lässt, bewegt immer wieder dazu, darüber zu sprechen. Firmen wie „Facebook“ leben davon. Genau dies hat der Sozialpsychologe Harald Welzer – bekannt für seine Erforschung von deutschen Kriegserinnerungen in der Kinder- und Enkelkindergeneration24 – herausgefunden: Weil das Gehirn und mit ihm das Gedächtnis sich erst in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt ausbilden, stellt die Gehirn- und Gedächtnisentwicklung einen bio-sozialen Verlauf dar. In seiner Studie „Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung“ (2002) legt Welzer dar: Unser Gedächtnis wird zwar individuell gehandhabt, aber es lässt sich nicht von der Vernetzung mit anderen trennen.25 Man kann daher von einer sozialen Wende der Gedächtnisforschung sprechen. Bezeichnenderweise trägt ein von Welzer herausgegebener Sammelband den Titel „Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung“ (2001)26. Diese Einsicht von der Bestimmung unseres Gedächtnisses durch die historischen Formationen des Kulturellen, des Gemeinschaftlichen und des Institutionalisierten stimmt mit einer basalen Erkenntnis der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien überein. Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche, der als (ein) Gründungsvater der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien gilt, hat in seinen Beiträgen „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874) und „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“ (1887) die These vertreten: Kultur ist im Grunde ihre Erinnerung. Kultur als Erinnerung ist dabei für Nietzsche immer auch eine Machttechnik, um in der Gegenwart etwas durchzusetzen, es moralisch zu adeln, und weist eine religiöse Tiefendimension auf.27 Wie Nietzsche betont in der Gegenwart der Kulturwissenschaftler Jan Assmann, 23 Vgl. W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 71985, 13–22; ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 305–384, bes. 369. 24 Vgl. etwa: H. Welzer (mit S. Moller/K. Tschuggnall), Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M., 2002. 25 Vgl. H. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002, 7–124, bes. 70–110. 26 Vgl. ders., Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001. 27 Vgl. F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: G. Colli/M. Montinari (Hg.), Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe 3.1, Berlin 1972 (zuerst: 1874), 239–330; F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: G. Colli/M. Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Berlin/New York 2 1988, 245–412. Vgl. dazu: N. Pethes, a. a. O. (vgl. Anm. 19), 32–38; W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, 164–182.
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seit seiner Studie „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“ (1992) einer der bekanntesten Köpfe des Diskurses: Unsere Kultur ist in ihrer Tiefenstruktur religiös bestimmt, und zwar vom Christentum. Sowohl Nietzsche als auch Assmann können das kritisch sehen: Das Christentum führt nach Nietzsche zu einer „Umwertung aller Werte“, wenn ein gekreuzigter Mensch der wahre Gott sein soll, und es führt nach Assmann mit der Vorstellung, es würde nur einen Gott und eine Wahrheit geben, zu einer „counter-religion“, einer Gegenbewegung zur Welt.28 Zudem sind kulturelle Erinnerungen wesentlich bildlich geprägt; dies zeigen medientheoretische Klassiker wie Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1939), Marhall McLuhans Arbeit „The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man“ (1962) und Hans Beltings Studie „Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst“ (1990).29 In dieser rein rational nicht einholbaren Bildlichkeit liegt offenbar der Grund dafür, warum sich geteilte Erinnerungen zu auch sog. Weltbildern, Lebensanschauungen und Gottesbildern verdichten können, die Gemeinschaften ausmachen und deren Referenz rational nicht eingeholt werden kann.30 Das führt zu einer Frage, wann Erinnerungen plausibel sind. Damit sind wir bei der nächsten These. Dritte These (zu Kriterien für plausible Erinnerungen): Erinnerungen scheinen dann plausibel zu sein, wenn sie drei Kriterien gerecht werden, nämlich dem Referenz-, dem Kommunikations- und dem Normativitätskriterium. Meines Erachtens sind es drei relative Kriterien, die sich aus dem Bisherigen ergeben. Erstens gibt es den relativen Einspruch der Quellen – als datengestütztes Kriterium. Zwar können Quellen, selbst etwa Augenzeugenberichte, auch Selbsttäuschungen oder Manipulationen sein. Doch sind sich viele Quellen über etwas einig, ist das ein starkes Indiz, dass entsprechende Erinnerungen im Blick
28 Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 21999, 29–160, 196–258; ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 32007, 62–123; ders., Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München 2003, 19–81. 145–165; ders., Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 32015, 389–402; ders., Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016, 11–111. Vgl. zur systematisch-theologischen Diskussion dazu exemplarisch: K. Müller, Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006, 15–46, 165–249. 29 Vgl. W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von D. Schöttker, Frankfurt a.M., 2007; M. McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn u. a. 1995; H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004. Vgl. dazu ausführlich: M.D. Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 195–243. 30 Vgl. dazu ausführlich: M.D. Krüger, a. a. O. (vgl. Anm. 29), 151–194, 299–309, 455–488.
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auf einen Sachverhalt plausibel sind. Ich werde das im Folgenden das Referenzkriterium der Erinnerung nennen. Zweitens gibt es die relative Kommunizierbarkeit. Sie bezieht sich auf das aus der Bildlichkeit der Erinnerungen immer wieder gespeiste Reden darüber und lautet: Was nicht – immer wieder – weiter erzählt werden kann, bleibt nicht in Erinnerung. Was nicht geteilt werden kann, erlischt früher oder später als Erinnerung. Ich werde das im Folgenden das Kommunikationskriterium der Erinnerung nennen. Drittens hängt damit die relative Wechselseitigkeit zusammen, die ich auch als ethisches Kriterium bezeichnen würde. Was man erzählen können muss, darf nicht ins Leere gehen. Es muss zumindest ein Reden und Zuhören, in der Regel wohl auch ein Nachfragen und Widersprechen geben. Die Kommunikationspartner müssen sich wechselseitig als solche anerkennen. Dieses indirekte, ethische Kriterium spricht mithin dagegen, dass es unter endlichen Bedingungen irgendwann einmal nur eine absolute, richtige Erinnerung gibt, mit deren Proklamation alle weitere Kommunikation überflüssig wäre. Ich werde das im Folgenden das Normativitätskriterium der Erinnerung nennen. Letzteres heißt nicht, dass diese vollkommene Erinnerung nicht geben kann. Nur wäre sie allenfalls ein indirekter, nie zu erreichender Maßstab. Und: Muss man sie nicht sogar annehmen? Die Gretchenfrage lautet: Setzen relative Kriterien für plausible Erinnerungen nicht eine – vielleicht für uns unerreichbare, gleichwohl von uns zu unterstellende – vollkommene Erinnerung voraus? Denn ohne letztere wären diese Kriterien und die Frage nach deren Wirklichkeitsbezug überflüssig. Das spricht für eine vollkommene Erinnerung, ein absolutes Gedächtnis. Könnte das nicht dasjenige sein, was man Gott zu nennen pflegt? Immerhin haben Hans Jonas, der jüdische Religionsphilosoph, und Robert Spaemann, der Philosoph des wertkonservativen Katholizismus, an dieser systematischen Stelle – unter dem vielleicht etwas missverständlichen „Label“ des Gottesbeweises – den Gottesgedanken einführen können. Es wird sogleich darauf zurückzukommen sein. Festzuhalten bleibt vorerst: Die genannten Kriterien laden zu einer religionstheoretischen Deutung ein.
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Erinnerung in Pannenbergs Ekklesiologie
Meines Erachtens werden die drei genannten Kriterien in Pannenbergs Theologie aufgenommen und in deren Ekklesiologie an sich realisiert, und zwar im Sinn einer religiösen Vertiefung. Daher sollen im Folgenden drei Thesen formuliert werden, die dann im Sinn der Binnenlogik von Pannenbergs Theologie erläutert werden. Um sie plastisch zu profilieren, wird jeweils zu Anfang einer Erläuterung der These ein alternatives Theorieangebot skizziert.
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Erste These (zum Verhältnis von Geschichtstheologie und Ekklesiologie mit dem Schwerpunkt auf der Vergangenheit): Im Sinn des Referenzkriteriums der Erinnerung kann man Pannenbergs Konzeption als eine theologische Gedächtnistheorie verstehen. Wie schon erwähnt haben Jonas und Spaemann den Gottesgedanken gedächtnistheoretisch einführen können. Bei Jonas geschieht dies mit zeittheoretischen, bei Spaemann mit sprachtheoretischen Akzenten. Doch im Kern stimmen sie überein. Bei Jonas finden sich die Überlegungen in seinem Beitrag „Vergangenheit und Wahrheit“ (1990/91) und bei Spaemann in seinem Beitrag „Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott“ (2007). Der grundlegende Gedanke, zu dem es zumindest bei Jonas auch Gegenläufiges gibt, ist so einfach wie elegant: Was gegenwärtig wirklich wahr ist, von dem muss man dies auch in Zukunft sagen können. Insofern ist überzeitlich und mithin ewig wahr, was wirklich ist. Dann aber muss es auch ein absolutes Gedächtnis geben, das von unseren endlichen Erinnerungen nochmals verschieden ist.31 Daran kann man meines Erachtens insbesondere zweierlei kritisch sehen: Erstens darf Gott nicht schlechthin von den menschlichen Erinnerungen getrennt werden, wenn er deren Horizont sein soll. Gott existiert nicht als externe Gestalt in einer gleichsam digitalen „cloud“, sondern er erscheint im kulturellen Gedächtnis. Zweitens hängt Gott daher wiederum auch vom menschlichen Gedenken – christlich: vom Glauben – ab, der sich auf etwas bezieht, was passiert sein soll. Genau diese Punkte werden von Pannenberg – besonders unter Aufnahme von Einsichten Hegels und Wilhelm Diltheys – programmatisch berücksichtigt. Schon in der mit anderen zusammen verantworteten Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ (1961) und in dem Beitrag „Kerygma und Geschichte“ (1961), aber auch im Offenbarungskapitel der „Systematischen Theologie I“ (1988) wird der geschichtstheologische Ansatz deutlich. Demnach offenbart sich Gott selbst indirekt in der Geschichte, deren Ende in der Auferweckung Jesu Christi vorweggenommen ist. Folglich ist der Selbsterweis Gottes in der Geschichte der Grund des Glaubens. Damit sind wesentlich drei Aspekte verbunden, die Pannenbergs Ansatz innerhalb des spätmodernen Protestantismus – insbesondere im Gegenüber zu den Worttheologien von Karl Barth und Rudolf 31 Vgl. H. Jonas, Vergangenheit und Wahrheit, in: Scheidewege 20, 1990/91, 1–13 (wieder abgedruckt in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M./Leipzig 1992, 173–189); R. Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott, in: ders., Der letzte Gottesbeweis, München 2007, 9–32. In seinem Vorwort notiert Spaemann ausdrücklich, dass er „sehr ähnlich“ (a. a. O., 7 f.) wie Jonas argumentieren würde. Das Gegenläufige bei Jonas besteht darin, dass er einerseits einen als absolutes Gedächtnis der menschlichen Subjektivität gegenüberstehenden Gott annimmt und andererseits zugleich diesen Gott als leidend und eins mit der endlichen Subjektivität denken kann (vgl. zur Diskussion mit weiterführenden Literaturangaben: W. E. Müller, Hans Jonas. Philosoph der Verantwortung, Darmstadt 2008, 177–185).
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Bultmann – signifikant profilieren und gedächtnistheoretisch hochinteressant sind.32 Erstens ist Geschichte für Pannenberg die Historie, die der unvoreingenommenen Forschung zugänglich ist. Es ist diese Referenz der historischen Erinnerung, welche die Theologie davor schützt, unhistorisch und unhaltbar zu werden. Und es ist zugleich auch diese Referenz, welche die Theologie bibeltreu bleiben lässt. Denn es ist der Bezug auf die – durch keine gleichsam überzeitliche Hintergrundgeschichte relativierte – „normale“ Geschichte, die der realistischen Absicht der biblischen Überlieferung entspricht, so Pannenberg. Und indem sich die Theologie dieser Aufgabe stellt, so Pannenberg, kann sie nicht den entschärfenden Ausweg existenztheologischer bzw. sprachtheologischer Performativität nehmen, wenn es um den in Frage stehenden Realitätsgehalt der historisch zugänglichen Bibel geht. Geschichtslosigkeit und Glaubenssubjektivismus hängen für Pannenberg miteinander zusammen, wie umgekehrt normale Geschichtserfahrung und einleuchtender Gottesglaube aufeinander verweisen. Zweitens versteht Pannenberg die Geschichte im Kern als Überlieferungsgeschichte. Geschichte findet dort statt, wo das Geschehene in seiner Einmaligkeit realisiert und so zu einer neuen Basis von weiterer Geschichtserfahrung wird. Weder das vermeintlich bloß objektive Geschehen (der äußeren Geschichte) noch der vermeintlich rein rationale Zugang (der menschlichen Deutung) machen die Geschichte zur Geschichte. Vielmehr wird Geschichte zur Geschichte, wenn Geschehenes in seiner besonderen Eigenart verstanden wird.33 Insofern ist für die 32 Vgl. dazu und zu den Ausführungen in den drei folgenden Aspekten: W. Pannenberg u. a. Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961, 7–20, 91–114; W. Pannenberg, Kerygma und Geschichte, in: R. Rendtorff/K. Koch (Hg.), Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen, Neukirchen-Vluyn 1961, 129–140 (wieder abgedruckt: W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie [I]. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 79–90); W. Pannenberg, STh I–III, Göttingen 1988/1991/1993, hier: STh I, 207–281. Vgl. grundsätzlich auch zur folgenden Darstellung von Pannenbergs Theologie: G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003; J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II. Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 670–676, 824–841. Angemerkt sei nur, dass die unter dem zweiten Aspekt genannte Einsicht mit einer Modifikation in Pannenbergs Konzept einhergeht, wonach Geschichte zunächst in Spannung zwischen Verheißung und Erfüllung verortet und dann als Überlieferungsgeschichte verstanden wird (vgl. auch: G. Wenz, a. a. O., 16, Anm. 9). Meines Erachtens könnte man dies als kritische Selbstüberbietung Pannenbergs werten. 33 Vgl. zur sachlichen Übereinstimmung von Pannenbergs Geschichtsverständnis mit dem von Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Spätphilosophie: M.D. Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008, 164, bes. Anm. 2. Einzig in der Nomenklatur scheint eine Differenz zu bestehen, wenn Pannenberg sein Geschichtsverständnis als überlieferungsgeschichtlich bestimmen kann (vgl. W. Pannenberg, STh I, 253 f. mit Anm. 106), während Schelling – in Unterscheidung zum rationalistischen und historistischen Geschichtsverständnis – seine Deutung von Geschichte als eminent geschichtlich qualifiziert (vgl. a. a. O.; F.W.J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung I,
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Geschichte ihre Deutung erforderlich, die sich wiederum von dieser Geschichte nicht trennen lässt, sondern ihr wesentlich eingeschrieben ist. Auf diese Weise vermeidet Pannenberg die Trennung von Tatsache und Deutung. Denn Tatsachen sind von sich aus auf ihre Deutungen angelegt und werden darin realisiert. Dies gilt auch von den geschichtlichen Tatsachen, mit denen es der christliche Glaube zu tun hat, so dass die – aus Pannenbergs Sicht ohnehin unbiblische – Vorstellung einer direkt inspirierten Selbstoffenbarung Gottes in seinem Wort ebenso überflüssig ist, wie die liberaltheologische Auffassung von Religion als notwendiger Symbolisierung menschlicher Innerlichkeit unzureichend erscheint. Vernünftig ist für Pannenberg vielmehr die Annahme einer selbstkritischen Vernunft, die sich – ihrer eigenen Kontingenz bewusst – in der Geschichte so begreift, dass sie auf deren Vollzug angewiesen ist. Drittens führt das Verständnis von Geschichte als Überlieferungsgeschichte Pannenberg zur Annahme einer in der Auferweckung Jesu Christi antizipierten Ganzheit der Geschichte. Anders gesagt: Für Pannenberg ist die Auferweckung Jesu Christi historisch zugänglich und gibt sich als Vorwegnahme des Endes der Geschichte zu erkennen, vom dem aus dieselbe verständlich wird. Was ist gemeint? Wenn Geschichte wesentlich Überlieferungsgeschichte ist, in der sich dem Menschen die Welt erschließt, dann ist deren Deutung soweit unabgeschlossen, als die Geschichte dieser Welt fortgeht. Folglich wird der Mensch erst mit deren Ende das Ganze der Welt so begreifen, dass er in seinem Verstehen gewiss ist. Genau darauf ist der Mensch aber aufgrund seiner kulturellen Natur angelegt, insofern seine sich vom Tier unterscheidende Weltoffenheit auf eine sinntotale Transzendenz verweist. Und es ist nun das Entscheidende der christlichen Sicht der Geschichte, so Pannenberg, dass sie wiederum genau dieses Geschichtsverständnis aufnimmt. Denn in der biblischen Überlieferung wird die Wirklichkeit als einmalige Geschichte begriffen, deren Horizont universal ist und deren Ganzheit in der – die Apokalyptik erfüllenden – Historizität der Auferweckung Jesu Christi enthüllt ist. Letzteres ist eine Annahme, für die Pannenbergs Konzeption ebenso bekannt ist, wie sie auch häufig kritisiert wird. Neben der eher doxographischen Frage, ob Pannenberg seine Position im Laufe der Diskussion nicht zumindest auch modifiziert hat, ist der Springpunkt: Inwiefern ist die Auferweckung Jesu Christi vernünftigerweise historisch erweisbar und führt sodann zur Annahme des christlichen Glauben? Mit den unterschiedlichen Antworten auf diese Frage sind offenbar unterschiedliche Einschätzungen verbunden, inwieweit unter der Bedingung von Geschichte deren definitive GanzHamburg 1992, 3–7; vgl. zum systematischen Zusammenhang: M.D. Krüger, Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 141–161).
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heit vernünftigerweise vorweggenommen werden kann. Entsprechend geht es in der einschlägigen Diskussion um die kategoriale Schlüssigkeit von Pannenbergs Denkfigur der Antizipation.34 Wenn man nicht in eine weitere Runde der Diskussion um die Antizipation eintreten will, die inzwischen – vorsichtig gesagt – nicht mehr so im Mittelpunkt maßgeblicher Auseinandersetzungen der deutschsprachigen Systematik steht, dann bietet sich hermeneutisch eine gedächtnistheoretische Lesart an, welche den herkömmlichen Dissens produktiv wendet. Sie kann vor dem Hintergrund gegenwärtiger Gedächtnistheorien und des mit ihnen plausibilisierten Referenzkriteriums lauten: Pannenberg nimmt mit der Einsicht von der Geschichte als Überlieferungsgeschichte die gedächtnistheoretische Einsicht auf, dass Geschichte auf Erinnerung gründet, die an das zurückgebunden ist, was quellenmäßig bezeugt und untersuchbar auch tatsächlich geschehen sein soll. Dass Pannenberg zu dem Letzteren die Auferstehung Jesu Christi rechnet und dies wiederum anhaltend kritisiert wird, macht deutlich, dass Pannenberg das Referenzkriterium für plausible Erinnerungen nicht nur aufnimmt, sondern auch christologisch vertieft. Insofern handelt es sich bei Pannenbergs Geschichtstheologie um eine theologische Gedächtnistheorie, deren theologischer Charakter auch eine kontrafaktische Dimension aufweist. Dies leitet der Sache nach unmittelbar zu meiner zweiten These über. Zweite These (zum Verhältnis von Ekklesiologie und Sakramentenlehre mit dem Schwerpunkt auf der Gegenwart): Im Sinn des Kommunikationskriteriums der Erinnerung kann man Pannenbergs Ekklesiologie als an sich realisierte Gedächtnistheorie verstehen. Wenn man Hegel und Pannenberg an diesem Punkt ins Verhältnis setzt, wird Pannenbergs Konzeption in ihrem Eigenprofil plastisch. Auch die Philosophie Hegels ist auf ein Wissen von der Welt im Ganzen ausgerichtet. Und auch Hegel weiß, dass die Weltgeschichte noch andauert. Trotzdem ist er der Überzeugung, dass sie in seiner Philosophie aufgehoben ist, und zwar so, dass es aktuell einen theoretisch und praktisch einlösbaren Systemabschluss gibt. Hegel zufolge leuchtet dies auch vollkommen vernünftig im Sinn begriffener Geschichte ein. Hierbei kann für Hegel der Begriff der Erinnerung große Bedeutung bekommen. So ist Erinnerung der reflektierte Vollzug des Wissens auf seinen – dadurch unterschiedenen und wiederum genau darin begriffenen – Gehalt. Erinnerung ist so programmatisch „Er-Innerung“35. Als basale Vermittlungsstruktur kann Er34 Vgl. dazu mit den einschlägigen Literaturangaben: A. Kendel, Geschichte, Antizipation und Auferstehung. Theologische und texttheoretische Untersuchung zu W. Pannenbergs Verständnis von Wirklichkeit, Frankfurt a.M. u. a. 2001. 35 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, 530.
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innerung dann letztlich für die Bewegung einander aufhebender Erscheinungsweisen des Geistes stehen, die zum absoluten Wissen des Geistes führt. Folgerichtig endet Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807) mit der berühmten Schlusspassage, dass (die) Erinnerung als begriffene Geschichte das in seiner Aneignung lebendige Medium des absoluten Geistes darstellt.36 Ganz ähnlich und doch anders positioniert sich Pannenberg. Im Gegensatz zu Hegel beharrt er auf der vorwegnehmenden Eigenart des Wissens vom Ganzen. In „Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte“ (1996) kritisiert Pannenberg an diesem Punkt auch Hegel.37 Für Pannenberg ist es die Theologie, die hier zum Zuge kommt. Wie Pannenberg in seiner „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich“ (1997) unterstreicht, trägt die Theologie der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes Rechnung, ohne dabei die Zuversicht aufzugeben, dass mit Jesus Christus die letztgültige Gottesoffenbarung zugänglich ist.38 Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Ekklesiologie in der „Systematischen Theologie III“ (1993) verständlich.39 Die Ekklesiologie ist die in ihrem geschichtlichen Erscheinen unumgängliche Gestalt des Geistes, die in ihrer relativen Selbstdurchstreichung sowohl der verstehende Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit als auch das Wissen um die nur relative Einlösung genau dieses Ausgriffs darstellt. In der Sprache Hegels gesagt nimmt Pannenberg den absoluten Geist in den objektiven Geist zurück. Und die Lehre von der Kirche ist genau das Bewusstsein davon. Es lässt sich nicht vom kirchlichen Vollzug schlechthin trennen, sondern bildet mit ihm eine differenzierte Einheit. Insofern ist meines Erachtens Pannenbergs Geschichtstheologie eine theologische Gedächtnistheorie, die am Ort der Ekklesiologie sich der Sache nach auch an sich selbst realisiert. Dies lässt sich anhand zweier Punkte erläutern. Erstens fällt eine strukturelle Pointe auf, die für das Verständnis von Pannenbergs Theologie wichtig ist. Demnach ist die Ekklesiologie kein bloß illus36 Vgl. a. a. O., 530 f. Vgl. zur Sache auch: H. Schmitz, Hegels Begriff der Erinnerung, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9, 1964, 37–44; M.D. Krüger, Göttliche Freiheit, a. a. O. (vgl. Anm. 33), 146, Anm. 91. 37 Vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 307–315; bes. 315. Vgl. zu Pannenbergs Plädoyer für die antizipatorische Eigenart des Wissens vom Ganzen und seine entsprechende Kritik an Hegel: ders., Die Bedeutung der Kategorien „Teil“ und „Ganzes“ für die Wissenschaftstheorie der Theologie, in: ders., BSTh I, Göttingen 1999, 85–100; ders., Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage, in: BSTh I, 103–113; ders., Ein theologischer Rückblick auf die Metaphysik, in: BSTh I, 27–31. Vgl. auch Pannenbergs Selbstauskunft, dass für ihn selbst Dilthey wichtiger als Hegel ist (vgl. G. Wenz, a. a. O. (vgl. Anm. 32), 294, Anm. 11. 38 Vgl. W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 352. 39 Vgl. dazu und zu dem Folgenden grundsätzlich: W. Pannenberg, STh III (vgl. Anm. 32), 13– 472.
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trativer Anhang der grundsätzlich von der Ekklesiologie trennbaren Wahrheit der christlichen Lehre. Vielmehr ist die Kirche die Gestalt, in der die Zukunft des Gottes Jesu Christi gegenwärtig erscheint. Und genau darauf reflektiert die Ekklesiologie. Damit grenzt sich Pannenberg nach seiner Selbstauskunft von denjenigen Formen protestantischer Ekklesiologie ab, welche die Wirklichkeit der Kirche spiritualisierend oder bzw. und individualistisch verfehlen. Dagegen ist für Pannenberg die Kirche das Zeichen der zukunftserschließenden Heilsgegenwart des Reiches Gottes, das Individualität und Sozialität miteinander untrennbar verbindet. So muss sich die Zeichenhaftigkeit der Kirche einerseits im individuellen Leben erweisen, wie andererseits die Heilsvermittlung für das Individuum durch die der Kirche erfolgt.40 Insofern ist die Kommunikation des christlichen Gottes in einem starken Sinn an die Erinnerung der Kirche gebunden. Dies geschieht in der gottesdienstlichen Ortsgemeinde, in der die Wirklichkeit der Kirche – im Bewusstsein der universalkirchlichen Verbundenheit – manifest ist. Diese Wirklichkeit lebt davon, dass die Kirche sich selbst vom Gottesreich unterscheidet und insofern mit ihm eins ist.41 Daher erscheint es auch wissenschaftstheoretisch im Blick auf die theologische Enzyklopädie konsequent, wenn Pannenberg in „Wissenschaftstheorie und Theologie“ (1973) betont, dass die Kirchengeschichte – im Verein mit dem Alten und Neuen Testament und damit auf die Systematische und Praktische Theologie ausgreifend – den überlieferungsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang der christlichen Theologie darzustellen vermag: Nur in der institutionellen Erscheinung der Kirche existiert das Christentum ausdrücklich.42 Zweitens geschieht die Kommunikation der christlichen Wahrheit in den Sakramenten der Kirche; und in dem Zusammenhang fällt auch programmatisch der Begriff des Gedächtnisses. Folglich wird die strukturelle Pointe (des soeben genannten, ersten Punktes), wonach sich Pannenbergs Geschichtstheologie im Sinn kommunizierter Erinnerung der Form nach in der Ekklesiologie darstellt, auch in deren Inhalt manifest. Die Sakramente geben zeichenhaft an der Gottessohnschaft Jesu Christi teil; und von diesem Zeichencharakter der indirekten und gegenwärtig antizipierten Teilhabe ist auch das für den öffentlichen Gottesdienst notwendige Leitungsamt der Kirche zu verstehen. Das individuelle 40 Vgl. so etwa: a. a. O., 9, 37. Vgl. zur Sache auch in diesem Band den Beitrag von S. Dienstbeck. 41 Vgl. insgesamt zu diesem ersten Punkt: a. a. O., 9–40, 115–155. Vgl. zur Sache in diesem Band auch die Beiträge von F. Nüssel, C. Axt-Piscalar und W. Dietz. Zumindest als ein Indiz für den Fokussierung Pannenbergs auf die Ekklesiologie könnte man sein institutionelles Engagement für die Kirche in ihrer ökumenischen Weite werten (vgl. dazu in diesem Band die Beiträge von D. Sattler und P. Neuner). 42 Vgl. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, 349–442, bes. 383, 393–406; vgl. ders., STh III, 539–559, bes. 547 f. Vgl. zur Sache auch in diesem Band den Beitrag von V. Leppin.
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Leben des Christen wird mit der Taufe begründet und findet seinen sozialen Mittelpunkt dann in der Feier des Herrenmahles. Dazu gehört auch die Verkündigung des Evangeliums in der Predigt. Kirche besteht vorrangig in der Feier des Herrenmahles, weil in ihm der auferstandene Herr durch den Geist gegenwärtig wird. Im Anschluss und im Gespräch mit Einsichten des benediktinischen Liturgiewissenschaftlers Odo Casel kann Pannenberg das Herrenmahl ausdrücklich als ein Gedenken und Gedächtnis verstehen, das über eine bloß vergangenheitsorientierte Erinnerung hinausgeht. Denn in der Feier des Herrenmahles vergegenwärtigt sich in unserem Gedenken an Jesus Christus letztlich dieser selbst, und zwar so, dass er in der differenzierten Einheit seiner nach Ostern verherrlichten und das kommende Gottesreich erschließenden Person das wahre Subjekt dieses Gedächtnisses in der Kraft des Heiligen Geistes ist. Insofern ist Pannenbergs Ekklesiologie gleichermaßen eucharistisch wie eschatologisch.43 Aufgrund dieser beiden Punkte kann man meines Erachtens sagen: Pannenberg nimmt sachlich das Kommunikationskriterium für plausible Erinnerungen auf. Demnach müssen Erinnerungen weitererzählt werden, wenn sie Bestand haben sollen, und dies ist wiederum in der logisch nicht einholbaren Bildlichkeit der Erinnerung verankert. So ist unter Bedingungen der Gegenwart für Pannenberg die christliche Erinnerung in der Kirche präsent, deren Leben wesentlich sakramental ist. Dabei stellt sich die komplexe Identität von Identität und Nichtidentität nicht im Modus des logischen Begriffs (Hegels) und seiner Aktualität, sondern im Modus des bildhaften Zeichens (des Sakramentalen) und seines Zukunftsbezugs dar. Und wie schon bei dem Referenzkriterium der Erinnerung liegt bei Pannenbergs faktischem Umgang mit dem Kommunikationskriterium auch eine theologische Vertiefung vor, wenn die Kirche als Erinnerungsgemeinschaft der wahren Geschichte erscheint und dies offenkundig nicht von allen Menschen geteilt wird. Dass beim Umgang mit dem Kommunikationskriterium – wie bei dem Umgang mit dem Referenzkriterium – eine solche theologische Vertiefung vorgenommen wird, der ebenso ein kontrafaktischer Charakter eignet, ist nur folgerichtig. Denn wenn Pannenbergs Geschichtstheologie eine theologische Gedächtnistheorie ist, die in der Ekklesiologie auch an sich (nämlich formal aufgrund der Bedeutung der Ekklesiologie und material aufgrund der gedächtnistheoretischen Deutung des Herrenmahles) realisiert wird, dann muss sich auch diese theologische Vertiefung weiter ausprägen. Das weckt entsprechende Erwartungen für den Umgang mit dem Normativitätskriterium für plausible Erinnerungen. Darum soll es nun gehen. 43 Vgl. insgesamt zu diesem zweiten Punkt: a. a. O., 265–369, 441–472. Vgl. zu Pannenberg eucharistisch akzentuiertem Kirchenbegriff auch den Beitrag von K. Vechtel und zu Pannenbergs Lehre vom kirchlichen Amt die Beiträge von P. Walter und G. Wenz in diesem Band.
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Dritte These (zum Verhältnis von Ekklesiologie und Ethik mit dem Schwerpunkt auf der Zukunft): Im Sinn des Normativitätskriteriums der Erinnerung kann man Pannenbergs Ekklesiologie als Ermutigung zur Gesellschaftsgestaltung verstehen. Wenn man sich eine bestimmte Lesart von Martin Luthers sog. Zwei-ReicheLehre vor Augen führt, wie man sie in der Regel zentral in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523) findet, dann werden die Akzente von Pannenbergs Konzeption deutlicher. Zumindest nach einer relativ prominenten Lesart führt Luthers rechtfertigungstheologisch in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium fundierte Zwei-Reiche-Lehre dahin, den christlichen Glauben und die öffentliche Ordnung relativ zu entkoppeln – mit der Folge, dass die öffentliche Ordnung nur noch über einen gleichsam formalen Motivationsimpuls ohne materialethisch bedeutsame Konsequenzen vom christlichen Glauben erschlossen wird. War dabei offenbar für Luther die religiös legitimierte Normativität der öffentlichen Ordnungen im Sinn der faktisch gegebenen Hierarchie der Fall, so konnte dies in der Folgezeit im Sinn einer grundsätzlichen Trennung von privater Innerlichkeit und gesellschaftlicher Äußerlichkeit modifiziert werden, so heißt es. Der Vorwurf der Doppelmoral legt(e) sich so nahe. Entsprechend konnte es mitunter typisch evangelisch erscheinen, für eine Selbstzurücknahme des unmittelbar Religiösen zugunsten einer relativ davon getrennten Sicht des Politischen zu stehen – oder in ausdrücklicher Korrektur genau dieser Deutung für die Gesellschaft als vorrangigem Ort der Verwirklichung von Gottes Reich zu optieren.44 Beide Deutungsrichtungen finden sich in Pannenbergs Ekklesiologie so nicht. Weder ist der christliche Glaube in seinem Weltbezug ekklesiologisch angemessen als Rückzug auf private Innerlichkeit noch als Ausgriff auf gesellschaftliche Umwälzungen erfasst. Vielmehr kann Pannenberg in dem Beitrag „Luthers Lehre von den zwei Reichen und ihre Stellung in der Geschichte der christlichen Reichsidee“ (1971) sich kritisch mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre auseinandersetzen und einen emanzipatorischen Akzent einklagen.45 Zwar würdigt Pan44 Vgl. zur Zwei-Reiche-Lehre mit weiterführenden Literaturangaben zu der im Einzelnen intrikaten Diskussion: H.-H. Schrey (Hg.), Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969; H.-J. Gänssler, Evangelium und weltliches Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlass von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimente, Wiesbaden 1983; D. Korsch, Martin Luther zur Einführung, Hamburg 1997, 128–142; V. Mantey, Zwei Schwerter, zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005; V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016, 139–185, bes. 156–158. 45 Vgl. W. Pannenberg, Luthers Lehre von den zwei Reichen und ihre Stellung in der Geschichte der christlichen Reichsidee, in: A. Hertz u. a., Gottesreich und Menschenreich. Ihr Spannungsverhältnis in Geschichte und Gegenwart, Regensburg 1971, 73–96 (wieder abgedruckt in: W. Pannenberg, Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze 1. Göttingen 1972, 97– 114).
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nenberg die von Luther gemachte Unterscheidung zwischen politischer Vorläufigkeit und geistlichem Wesen. Doch Pannenberg kritisiert, dass bei Luther der christliche Glaube bloß zur Teilnahme am politischen Leben innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und nicht zu dessen relativer Verwandlung motiviert. Auf diese Weise, so Pannenberg, hat Luther wider Willen eine fortschreitende Distanzierung des Politischen gegenüber dem Christlichen befördert. In „Systematische Theologie III“ nimmt Pannenberg diese Luther-Kritik auf und stellt sie in den Horizont einer umfassenden Ekklesiologie.46 Als sakramental fokussiertes Gedächtnis ist Pannenbergs Ekklesiologie auf die erneuerte Menschheit des Gottesreiches ausgerichtet ist, wie sie Gottes eschatologisch orientiertem Erwählungshandeln entspricht. Dies schließt die Unterscheidung zwischen Weltlichem und Geistlichem, zwischen Vorläufigem und Endgültigem ein. Pannenberg dynamisiert so eschatologisch die in der Kirche zeichenhaft gegenwärtige Heilszukunft Jesu Christi, dass sie für die Gestaltung der öffentlichen Ordnung als solcher wesentlich wird – und nicht nur das individuelle Verhalten des Christen betrifft. Indem nach Pannenberg die Kirche die Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden ist, wird die Verschränkung von historisch verankertem Glauben, eschatologischer Dimension und der wechselseitigen Anerkennung zur Geltung gebracht. Die Liebe ist dabei Teilhabe an der Liebe Gottes zu seiner Welt – fundiert in der Wechselseitigkeit der trinitarischen Beziehungen. Als Kraft zur wechselseitigen Anerkennung liegt diese Liebe letztlich allen Gestaltungen des Rechtes zugrunde, die lebensförderlich und menschlich sind. Die Liebe vollendet auf diese Weise am Ende der Sache nach das Recht, das sich im Gesetz zur allgemeinen Norm verdichtet, der es um die Bewahrung der Rechtsgemeinschaft zu tun ist. Das schließt praktisch die Motivation zu einer auf wechselseitige Anerkennung abzielenden Gesellschaftsgestaltung ein. Dies geschieht im Wissen darum, dass die letzte Vollendung von Recht und Gerechtigkeit die irdischen Möglichkeiten übersteigt. Vor diesem Hintergrund wird Pannenbergs Kritik an Luthers Zwei-Reiche-Lehre verständlich. So wirft Pannenberg Luther eine strukturelle Typisierung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium vor. Damit verfehlt Luther den heilsgeschichtlichen Charakter dieses Verhältnisses und die eschatologische Dynamik der jesuanischen und paulinischen Reich-Gottes-Botschaft.47 Was bedeutet dies für die vorgeschlagene Deutung von Pannenberg als Gedächtnistheoretiker? Offenbar nimmt Pannenbergs Ekklesiologie sachlich das gedächtnistheoretische Normativitätskriterium der Erinnerung auf. Demnach darf dasjenige, was erinnert wird, nicht ins Leere gehen, sondern verweist auf eine wechselseitige Anerkennung der Kommunikationspartner und eine entspre46 Vgl. ausdrücklich zu dem genannten Aufsatz von 1971: W. Pannenberg, STh III, 71, Anm. 182. 47 Vgl. dazu die weitausgreifenden Ausführungen: a. a. O., 40–113, 155–265, 473–567.
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chende Praxis des Umgangs miteinander. Genau dem trägt Pannenbergs Rechnung, wenn seine Ekklesiologie als Ermutigung zur Gesellschaftsgestaltung verstanden wird, die auf eine wechselseitige Anerkennung nach Maßgabe irdischer Humanität abzielt. Das unterscheidet Pannenberg von einer lutherischen Sicht. Während lutherisch das Christliche im Sinn einer bloß christlichen Motivation ethisch allgemein entgrenzt werden kann, wird bei Pannenberg das allgemeine Normativitätskriterium besonders christlich motiviert. Das heißt auch: Bei Pannenberg wird das gedächtnistheoretische Normativitätskriterium theologisch vertieft, weil es nicht nur um die wechselseitige Anerkennung von Kommunikationspartnern geht, sondern diese Anerkennung auf die in der innertrinitarischen Wechselseitigkeit verankerte Vollendung der Welt bezogen wird. Das Normativitätskriterium wird also über die unmittelbare Kommunikationssituation hinaus grundsätzlich beachtet.
3.
Schlussreflexion
Vor dem Hintergrund gegenwärtig neurowissenschaftlich, sozialpsychologisch und kulturwissenschaftlich diskutierter Gedächtnistheorien legen sich meines Erachtens drei Kriterien dafür nahe, unter welchen Bedingungen die für die menschliche Identität und die geschichtliche Überlieferung wesentlichen Erinnerungen plausibel sind. Meines Erachtens kann man diese drei Kriterien als das Referenz-, das Kommunikations- und das Normativitätskriterium bezeichnen. Das Referenzkriterium berücksichtigt als datengestütztes Kriterium den relativen Einspruch der Quellen: Wenn sich viele Quellen über etwas einig sind, ist das ein starkes Indiz dafür, dass entsprechende Erinnerungen im Blick auf einen Sachverhalt plausibel sind. Das Kommunikationskriterium speist sich aus dem bildlichen bzw. szenischen Charakter der Erinnerungen, die sich logisch nie definitiv einholen lassen und zum Reden darüber motivieren: Was nicht – immer wieder – weiter erzählt wird, bleibt nicht in Erinnerung. Und das Normativitätskriterium ist im Sinn relativer Wechselseitigkeit in der Grundsituation der Kommunikation verankert: Was man als Erinnerungen kommuniziert, muss auch ankommen und gehört werden; in der Regel wird dies auch mit Nachfragen und Widersprüchen verbunden sein. Möchte man vor dem Hintergrund dieser Einsichten die Ekklesiologie Pannenbergs verstehen, kann man sie meines Erachtens als eine sachliche Aufnahme und theologische Vertiefung bzw. Überbietung dieser drei Kriterien verstehen. Das betrifft erstens die geschichtstheologische Verankerung, zweitens die sakramentale Zeichenhaftigkeit und drittens die ethische Dimension von Pannenbergs Ekklesiologie. Dabei kann man – mit dem relativen Recht der Einseitigkeit – der geschichtstheologischen Verankerung den Aspekt der Vergangen-
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heit, der sakramentale Zeichenhaftigkeit den Aspekt der Gegenwart und der ethischen Dimension den Aspekt der Zukunft zuordnen. Das bedeutet erstens, dass Pannenberg mit der geschichtstheologischen Verankerung der Ekklesiologie das gedächtnistheoretische Referenzkriterium aufnimmt, insofern die Theologie an das zurückgebunden ist, was quellenmäßig bezeugt und überlieferungsgeschichtlich zugänglich ist. Indem Pannenberg dazu ein realistisches Verständnis der Historizität der Auferstehung Jesu Christi zählt, was in der Fachdiskussion kritisch diskutiert wurde und wird, kann man meines Erachtens hermeneutisch von einer kontrafaktischen Vertiefung bzw. Überbietung des Referenzkriteriums sprechen. In Pannenbergs Konzeption scheint mir dies zumindest der Möglichkeit nach auch strukturell angelegt zu sein, wenn Geschichte im Kern als immer auch gedeutete Überlieferungsgeschichte und die Auferstehung als eschatologische Antizipation erscheint. Dieser kontrafaktische Charakter wird zweitens durch die Aufnahme des gedächtnistheoretischen Kommunikationskriteriums verstärkt, wenn unter den Bedingungen der Gegenwart die Kirche als Erinnerungsgemeinschaft der wahren Geschichte erscheint und dies offenbar universal nicht geteilt wird. Wichtig ist auch die (selbst-) performative Pointe, dass Pannenbergs Geschichtstheologie als theologische Gedächtnistheorie im Modus der Gegenwart ekklesiologisch wahrgenommen wird. Insofern ist Pannenbergs Theologie als theologische Gedächtnistheorie in ihrem Gegenwartsanspruch wesentlich Ekklesiologie. Und drittens wird das gedächtnistheoretische Normativitätskriterium aufgenommen – und betrifft als solches insbesondere das zukünftige Handeln der Kirche. Dies steigert nochmals die – im Gefälle von der Aufnahme des Referenz- zum Kommunikationskriterium sich einstellende – Tendenz zur Kontrafaktizität, wenn aus der wechselseitigen Kommunikation das eschatologisch motivierte Gemeinschaftshandeln in umfassender Mitmenschlichkeit wird. Pannenbergs Ekklesiologie nimmt also die drei Kriterien für plausible Erinnerung christlich vertieft auf, indem das Referenzkriterium zur Verankerung in dem historischen Geschick Jesu Christi, das Kommunikationskriterium zur Wirkmacht der sich zeichenhaft, mithin sakramental, mitteilenden Kirche und das Normativitätskriterium zur auf wechselseitige Anerkennung abzielenden Liebe wird. Die Pointe dieser gedächtnistheoretischen Relektüre Pannenbergs besteht in der Distanzierung einer rechtshegelianischen Lesart Pannenbergs – mit einer gleichsam „objektivistischen“ Geschichtsauffassung und einem kontrafaktisch bzw. negationstheoretisch unterbestimmten Geistbegriff. Für das Referenzkriterium bedeutet dies eine Forcierung von Kontingenz: Die Geschichte ist in ihrem Verlauf nicht vorhersagbar. Für das Kommunikationskriterium bedeutet dies eine Forcierung von Kontrafaktizität: Die christliche Umdeutung der Geschichte in der kommunikativen Performanz ist heilsam. Und für das Normativitätskriterium bedeutet dies eine Forcierung von Reziprozität: Die
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Kirche ist nur insofern sakramental, als sie auf eine sich kontrafaktisch realisierende Anerkennung drängt.48 Erinnern wir uns an die Anfangsszene: Marcel Proust hatte in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ seinen Protagonisten mit dem Geschmack der Madeleine eine Reise in Vergangenheit antreten lassen. Auch der christliche Glaube kennt, wie wir mit Pannenberg sahen, mit dem Herrenmahl ein Essen zum Gedächtnis. Ebenso stimmt der Zeitpunkt, nämlich der Feiertag, mit Proust überein. Doch bei den christlichen Glaubenserinnerungen handelt es sich um eine Vergangenheit, deren Überzeugungskraft in einer zukunftseröffnenden Kreativität liegt. Christliche Glaubenserinnerungen sind nicht die Suche nach der verlorenen, sondern der erfüllten Zeit. Insofern Pannenbergs Theologie geistreich zu einer solchen Suche führt, dürfte die Beschäftigung mit ihr alles sein, nur eben keine verlorene Zeit.
48 Eine naheliegende Rückfrage kann lauten, ob mit dem vorgebrachten Interpretationsvorschlag nicht Pannenbergs Theologie um ihre realistische Grundausrichtung gebracht wird, die sie signifikant von den protestantisch prominenten Worttheologien Karl Barths und Rudolf Bultmanns und ihrem performativen Umgang mit historischer Wirklichkeit unterscheidet. Die Antwort lautet: Erstens unterläuft die Verankerung der drei Kriterien für plausible Erinnerungen in der neurowissenschaftlichen, sozialpsychologischen und kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie von vornherein jede Form performativer Worttheologie, die Anschlussplausibilitäten abständig gegenüber steht und nicht auf ihnen aufbaut. Insofern ist der vorgebrachte Interpretationsvorschlag dezidiert Pannenberg verpflichtet. Und zweitens beruht die herausgestrichene Eigenart von Pannenbergs Geschichtstheologie auf derselben, die kontrafaktische Potentiale und Eigenarten aufweist, wenn Geschichte als deutungsgesättigte Überlieferung, Kirche als wahre bzw. sakramentale Erinnerungsgemeinschaft in der Differenz zur Welt und die Ethik als eschatologisch motivierte Fokussierung auf Mitmenschlichkeit erscheint. Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass es auch gegenläufige Äußerungen bei Pannenberg gibt, die sich nicht nahtlos zu seiner Interpretation als Gedächtnistheoretiker fügen müssen. Gerade dies entbindet jedoch nicht von der Aufgabe, sich – technisch gesprochen – über die „Hardware“ seines Systems zu verständigen, wozu dieser Interpretationsvorschlag ein Beitrag sein möchte. Dass zur historischen Faktizität immer schon ihre kontrafaktisch geprägte Einbildung gehört, lässt sich – unmittelbar über Pannenberg hinaus – untermauern, wenn man sich vor Augen führt, dass die auf dem Bildvermögen basierende Freiheit des Menschen immer auch schon kontrafaktisch ist (vgl. dazu: M.D. Krüger, Das andere Bild Christi, a. a. O. (vgl. Anm. 29), 151–541). Anders gesagt: Theologische Bildhermeneutik und gedächtnistheoretisches Geschichtsverständnis gehören zusammen (vgl. dazu jetzt – gleichsam in angewandtem und materialem Vollzug – auch: F. Hartenstein/M. Moxter, Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematischtheologische Annäherungen, Leipzig 2016; vgl. zu einem bildtheoretischen Zugang zur Geschichtstheorie auch den kurzen Überblick: S. Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 32016, 198–202).
Volker Leppin
Pannenbergs Theologie der Kirchengeschichte Voraussetzungen, Entfaltung, Probleme aus Sicht eines Kirchenhistorikers
Unter den theologischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts ist keiner für die Kirchengeschichte so anschlussfähig wie der von Wolfhart Pannenberg. Hatte Karl Barth noch die Kirchengeschichte zur theologischen „Hilfswissenschaft“1 herabgestuft, so heißt es bei Pannenberg geradezu umgekehrt: „Die Kirchengeschichte ist nicht nur eine theologische Spezialdisziplin. Sie (…) umgreift das Ganze der Theologie (…). Die Kirchengeschichte greift durch ihr eigenes Thema als Kirchengeschichte über die Schranken zur biblischen Theologie einerseits, zur Dogmatik und praktischen Theologie andererseits hinweg.“2
Ja, eine nach Pannenberg recht verstandene Kirchengeschichte ist „bereits systematische Darstellung des Christentums“3. Der Hintergrund für diese hohe Wertschätzung des Fachs liegt wohl darin, dass Pannenberg sich mit dem Konzept „Offenbarung als Geschichte“ klar gegen die dominierenden theologischen Strömungen seiner Zeit4, dadurch profilierte, 1 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik. I/1, Zürich 1932 (= 1986), 3; zur differenzierenden Einordnung in Barths Theologie, die freilich gleichwohl nicht zu einem für kirchenhistorisches Arbeiten befriedigenden Ergebnis führt, vgl. Chr. Uhlig, Funktion und Situation der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin, Frankfurt a.M. u. a. 1985 (EHS. Reihe XXIII, 269), 24–29. 2 WuTh 394; vgl. bereits W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: GSTh 1, 22–78, 22: „Geschichte ist der umfassendste Horizont christlicher Theologie. Alle theologischen Fragen und Antworten haben ihren Sinn nur innerhalb des Rahmens der Geschichte, die Gott mit der Menschheit und durch sie mit seiner ganzen Schöpfung hat“. 3 WuTh 406. 4 Den Bezugsrahmen spannt K. Koch, Der Gott der Geschichte. Theologie der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg als Paradigma einer philosophischen Theologie in ökumenischer Perspektive, Mainz 1988, 60 f., angemessen auf: Pannenberg wandte sich „gegen die existenztheologische These vor allem Friedrich Gogartens und Rudolf Bultmanns, welche die konkrete Geschichte in die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz hinein auflöst, und andererseits gegen die innerhalb der heilsgeschichtlichen Tradition entwickelte These von der Übergeschichtlichkeit des eigentlichen Glaubensgehaltes, wie sie sowohl in der gegen die Historie abgeschotteten heilsgeschichtlichen Theologie Martin Kählers als auch in modifizierter Weise in Karl Barths Interpretation der Inkarnation als ‚Urgeschichte‘ zum Ausdruck kam.“ Die
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dass er den Geschichtsbegriff so nobilitiert hat, dass er erklären konnte, man könne auch ohne „den Glauben schon mitbringen“ zu müssen, „in der Geschichte Israels und Jesu Christi die Offenbarung Gottes finden“, und zwar „durch die unbefangene Wahrnehmung dieser Ereignisse“, durch die „der echte Glaube erst geweckt“ werde5. Zwar waren diese Formulierungen offenkundig auf die biblische Geschichte bezogen. Indem aber zugleich gelten sollte, dass die Offenbarung im Vollsinne erst „am Ende der offenbarenden Geschichte“ stattfinde6, sich dieses Ende aber in Christus „vorweg ereignet“ habe7, eröffnete Pannenberg einen Spannungsbogen für eine Zeitspanne, in welcher „kein weitergehender Selbsterweis Gottes mehr stattfinden“ kann und doch auch „nach Christus (…) wesentlich Neues (…) geschieht“8. Beides setzte Pannenberg 1961 noch nicht in ein klares Verhältnis zueinander, sondern behielt diese Verhältnisbestimmung ausdrücklich einer später abzufassenden „Theologie der Kirchengeschichte, wie sie im Rahmen einer Theologie der Geschichte notwendig ist“9, vor. Eine solche umfassende Theologie der Kirchengeschichte zu schreiben, war Wolfhart Pannenberg selbst nicht mehr vergönnt, aber er kam immer wieder auf Kirchengeschichte zu sprechen, besonders hervorgehoben in seiner Wissenschaftstheorie einerseits, der Systematischen Theologie andererseits. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf letztere als die zusammenführende Darstellung des Ganzen, greifen aber wo notwendig auch auf anderes zurück.
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besondere Spitze gegen Bultmann hebt wohl zu Recht Chr. Axt-Piscalar, Offenbarung als Geschichte. Die Neubegründung der Geschichtstheologie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs, in: J. Frey/St. Krauter/H. Lichtenberger (Hg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, Tübingen 2009 (WUNT 248), 725–743, 728 f., hervor; vgl. auch den langen Exkurs zu Bultmann und Gogarten in Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte 39 f. Den weiteren Horizont macht J. Dierken, Heilsgeschichte – Religionsgeschichte – Offenbarungsgeschichte. Herausforderungen christlichen Geschichtsdenkens, in: M. Meyer-Blanck, Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie (14.– 18. September 2014 in Berlin), Leipzig 2016 (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 44), 157–172, 166 deutlich, wenn er von einer „Korrektur der antihistoristischen Revolution“ spricht. W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: OaG, 91–114, 100 f. A. a. O., 95; vgl. hierzu Koch, Gott der Geschichte 74. A. a. O., 103. A. a. O., 106. A. a. O., 106.
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1.
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Pannenbergs Kritik an der Kirchengeschichtsschreibung der Moderne
Mit der angesprochenen Hochschätzung der Kirchengeschichte als Disziplin verbinden sich allerdings auch starke normative Wertungen und Ansprüche: Die Anschauung, die Kirchengeschichte umfasse eigentlich das Ganze der Theologie, steht in seiner Wissenschaftstheorie im Rahmen der Vorstellung von einer „Theologie der Religionen“10, in welcher der Kirchengeschichte die Aufgabe einer „Religionsgeschichte des Christentums“ zukäme11. Von dieser Einordnung in den Rahmen einer umfassenden Theologie der Religionen aber ist die gegenwärtige Kirchengeschichtsschreibung weit entfernt, und so ist Pannenbergs Urteil über deren Stand vernichtend: „Auf keinem andern Gebiet hat sich die christliche Theologie so vorbehaltlos auf ein rein säkulares, von allen Beziehungen zur Wirklichkeit Gottes abgelöstes Wirklichkeitsverständnis eingelassen wie bei der Behandlung der Kirchengeschichte“12,
so urteilt er in seiner Systematischen Theologie und verweist ausdrücklich auf die Ausführungen in der Wissenschaftstheorie13, die in ihrer Kritik nichts an Schärfe zu wünschen übrig lassen. Dabei bewegt er sich auf der Höhe des Selbstverständnisses des Faches, wenn er als markante Gemeinsamkeit der Kirchengeschichte mit der allgemeinen Geschichte die historische Methodik benennt14. Wer aber in dieser Weise „am Leitfaden einer profanhistorischen Methode“ arbeite, habe die Frage nach dem Handeln Gottes in der Geschichte schon entschieden15 und werde insofern „unvermeidlich zu einem Argument des Atheismus“16. Die Kirchengeschichte unter den Bedingungen aufgeklärter Wissenschaft als Zuarbeiterin des Atheismus – das ist nun allerdings eine heftige Kritik, deren Grundlage in der Wissenschaftstheorie die problematische Gleichsetzung darstellt, profanhistorische Methode beruhe auf einer „Ausblendung der religiösen Thematik (…), indem sie religiöse Vorgänge von vornherein nur als Ausdruck menschlicher Vorstellungen betrachtet und auf ihre Bedingtheit durch andere 10 11 12 13 14
S. WuTh 368–370. WuTh 395. STh III, 539. A. a. O., 539 Anm. 153. WuTh 398. Den Unterschied sieht Pannenberg im Wesentlichen im Gegenstand gegeben, was sicher nur einem Teil der Kirchenhistoriker gerecht wird und mehr aus Pannenbergs eigenen Überlegungen zum Wissenschaftsverständnis resultiert. 15 WuTh 398. Insofern geht es an Pannenbergs Generalangriff vorbei, wenn E. Mühlenberg, Gott in der Geschichte: Erwägungen zur Geschichtstheologie W. Pannenbergs, in: KuD 24 (1978) 244–261, 247, erklärt: „Inwieweit sich die Wissenschaftlichkeit der Kirchengeschichte in der Unterwerfung unter profangeschichtliche Methoden äußert, ist nach Pannenberg nicht entscheidend“. 16 WuTh 399.
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Aspekte der menschlichen Lebenswirklichkeit untersucht.“17 Die implizite Vorannahme dieser Kritik, die sich gegen die Entwicklung des Fachs Kirchengeschichte seit Lorenz von Mosheim richtet18, besagt mithin, dass sich, wer die religiöse Thematik angemessen betrachten wolle, nicht allein deren in menschlichen Äußerungen nachvollziehbaren Ausdrucksformen zuzuwenden habe, sondern sich auch ihre Wirklichkeitsannahme, eben die Existenz Gottes, zueigen machen müsse. Diese Voraussetzung scheint mit dem Konzept, wie es Pannenberg 1961 in „Offenbarung als Geschichte“ entworfen hatte, nur schwer zu vermitteln, hatte er hier doch für das die Überschrift bestimmende Konzept gerade damit geworben, dass „das Offenbarwerden des biblischen Gottes in seinem Handeln (…) kein geheimes, mysterienhaftes Geschehen“ sei und die Offenbarung nicht „in Gegensatz zum natürlichen Erkennen“ zu stellen sei19. Setzt man voraus, dass zwischen beiden Aussagen – der frühen über die biblische Offenbarung und der späteren über die Kirchengeschichte – eine konsistente Beziehung besteht, so kommt man zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass für die Kirchengeschichte gerade, weil ihr Gegenstand nicht mehr selbst die Dignität der Offenbarung besitzt, höhere Anforderungen hinsichtlich der vorauszusetzenden Wirklichkeitsannahmen zu stellen sind als für die Erfassung der biblischen Offenbarung20: Während der Selbsterweis Gottes in der Geschichte dem natürlichen Erkennen auch ohne Voraussetzung des Glaubens zugänglich ist, ja, diesen überhaupt erst weckt21, setzt eine sachangemessene Befassung mit der Kirchengeschichte immer schon ein Wirklichkeitsverständnis voraus, das Gott als den Handelnden zugrunde legt. Pannenberg unterscheidet so exegetische und kirchenhistorische Arbeit überscharf und begibt sich auch an die Grenzen konsistenter Argumentation: Während den Unterschied zwischen Bibel und Kirchengeschichte als Handlungsgeschehen der Umstand begründet, dass jene Zeugnis von Gottes Handeln als Offenbarung ist, diese aber ausdrücklich „kein weitergehender Selbsterweis Gottes mehr“ ist22, liegt ihre Gemeinsamkeit darin, dass in ihnen 17 A. a. O. 398 f. Auf allgemeiner Ebene deutet Koch, Gott der Geschichte 66, die sich hier widerspiegelnden Konflikte als „Streit zwischen einer theozentrischen und einer anthropozentrischen Geschichtsauffassung“. 18 Diesen in der Wissenschaftstheorie noch nicht benannten Bezug stellt STh III, 541, her. 19 OaG, 98. 20 Charakteristisch für diese Differenz in Pannenbergs Denken ist, dass die grundlegende Studie von O. Riaudel, Le monde comme histoire de Dieu, Paris 2007, auf das Problem der Kirchengeschichte praktisch nicht zu sprechen kommt. Wenn G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 253, davon spricht, die Rede von Gottes Handeln erfolge „unter Berücksichtigung, aber keineswegs in Beschränkung auf die biblische Geschichte und ihre Zeugnisse“, wird die deutliche Differenz zwischen deren Betrachtung und der der Kirchengeschichte nicht recht erkennbar. 21 OaG, 100 f. 22 A. a. O., 106.
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Gott handelt – und eben die Missachtung dieser Bedingung, Gottes Handeln in der Geschichte, macht Pannenberg der Kirchengeschichte als akademischer Disziplin zum Vorwurf. Hier schlägt sich das Grundproblem seiner Denkfigur des Schon und Noch nicht nieder: Indem in Christus das Ganze der Geschichte schon „verwirklicht“ beziehungsweise „vorweg ereignet“ ist23, wird für die Disziplin Kirchengeschichte die von Pannenberg in der Wissenschaftstheorie programmatisch postulierte Hypothesenhaftigkeit theologischer Aussagen24 zu einer dogmatischen Bindung: Die Hypothese der Bestimmung auch aller historischen Wirklichkeit durch Gott25 soll ihrerseits eine eigene, von der allgemeinen Geschichtswissenschaft unterschiedene Methodik generieren. Tut sie dies aber, enthebt sie sich letztlich der für Hypothesen erforderlichen kontrollierten Überprüfbarkeit26. Diese setzt, soll eine Petitio principii vermieden werden, eine Unabhängigkeit der kontrollierenden Methode von der zu kontrollierenden Hypothese voraus. Eben dies wäre aber in Pannenbergs Modell nicht gewährleistet. Pannenberg ist sich dieses Problems durchaus bewusst: Nach seiner eigenen Wahrnehmung stellt er die Kirchengeschichte in seiner Systematischen Theologie zwischen zwei Extreme: das offenkundig von ihm abgewiesene, „[d]en Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens an Gott“ zu „übergehen“ einerseits27, das andere, von ihm jedenfalls als Problem zugestandene andererseits: dass die Kirchengeschichte eben diesen Anspruch nicht „einfach dogmatisch voraussetzen“ dürfe28. Dass sein eigener Entwurf jedenfalls in der Gefahr ist, hier eine Schlagseite zu entwickeln, ist Pannenberg offenbar insbesondere durch die Auseinandersetzung mit seinem in die Kirchengeschichte gewechselten Schüler Ekkehart Mühlenberg bewusst geworden. Dieser hatte das in der „Wissenschaftstheorie“ entwickelte Kirchengeschichtsverständnis in einem großen Aufsatz in Kerygma und Dogma kritisiert und dabei nicht nur allgemein moniert, dass „dem Kirchenhistoriker (…) vorgegeben“ werde, „was er finden muß“29, sondern auch konkret zugespitzt, dass die Rede von einem Gottesvolk der empirischen Arbeit eine Größe vorgebe, die in der empirischen Wirklichkeit gegeben sei, aber nicht mit empirischen, sondern mit dogmatischen Mitteln bestimmt werde. „Dagegen
23 A. a. O. 103; ausführlich zur Bedeutung für die Kirche: Chr., 387–393. 24 S. WuTh 336; auf die Bedeutung dieses Gedankengangs für Pannenbergs Verständnis der Kirchengeschichte weist auch Mühlenberg, Gott in der Geschichte 248, hin. 25 WuTh 304 f.; STh I, 175. 26 Zu dieser Forderung s. WuTh 334 f. 27 STh III, 547. 28 STh III, 547; vgl. dies bereits in WuTh 401. 29 Mühlenberg, Gott in der Geschichte 253.
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ist der Historiker von Berufs wegen der Meinung, sich aus den Phänomenen selbst belehren zu lassen.“30 Pannenberg geht auf diese Kritik allerdings nur kurz und sehr pauschal ein31 – und setzt sich dafür in einem ausführlichen Exkurs mit Mühlenbergs Gesamtentwurf der Kirchengeschichte dar, wie ihn dieser 1980 in den „Epochen der Kirchengeschichte“ vorgelegt hat. Dieser hatte Kirchengeschichte – gewiss nicht konsensfähig innerhalb des eigenen Fachs – als „Teilaufgabe der systematischen Theologie“ definiert32 und sie ausdrücklich als konfligierend mit der Profangeschichte beschrieben, insofern die Kirchengeschichte „menschliches Erleben in Handeln und Erleiden durch den Bezug auf den christlichen Gott in seiner Einheit sichtbar“ mache33. Geschichte wird bei ihm sogar zur „Erscheinung Gottes“34 – freilich methodisch in einer Weise, in der Gegenstand der Kirchengeschichtsschreibung „Gottes Handeln in der Geschichte“ ist, weil „historisch wahrnehmbar (…) nur menschliches Handeln und Erleiden“ sei35. Das Wirken Gottes als Einheit der Geschichte wiederum wird für Mühlenberg darin fassbar, dass Menschen ihr „Leben und Handeln von der Wirklichkeit her“ verstehen, die ihnen „Gutes zusichert“36. Das Hineinwirken Gottes in die Welt ist also indirekt durch die Finalität menschlichen Handelns zu greifen. Eben dies aber ist nach Pannenberg eine Unterbestimmung. Mühlenbergs aus kirchenhistorischer Sicht sehr weitreichender Versuch, eine direkte Rede von Gott zu ermöglichen, werde, so Pannenberg, dem Gedanken von Gott als dem Herrn der Geschichte nicht gerecht, vor allem weil sie überdecke, dass Gott nicht allein als Macht des Guten innerweltlich präsent ist, sondern auch durch das Gericht begegnet37. Dieser lange Exkurs also macht deutlich, dass Pannenberg einem Versuch, die göttliche Wirkung mittelbar vermittelt über den Glauben der Menschen in der Kirchengeschichte aufzuzeigen, eine grundsätzliche Absage erteilt. Seine eigene Antwort auf das Problem des Gottesbezugs im faktischen Vollzug der Kirchengeschichte soll nun wie oben erwähnt darin bestehen, „den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens an Gott weder [zu] übergehen, noch einfach dogmatisch voraus[zu]setzen“38. Während Ersteres in seiner Forderung 30 A. a. O., 256. 31 STh III, 542 Anm. 170. 32 Ekkehard Mühlenberg, Epochen der Kirchengeschichte, Heidelberg 1980, 17. In der Privatbibliothek Wolfhart Pannenbergs befinden sich die erste wie die zweite Auflage (1991) von Mühlenbergs Lehrbuch, beide insbesondere an den hier interessierenden Seiten 16–18 intensiv mit mehrfarbigen Anstreichungen versehen. 33 Mühlenberg, Epochen 17. 34 A. a. O., 17. 35 A. a. O., 17. 36 A. a. O., 18. 37 STh III, 546 f. 38 A. a. O., 547.
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klar ist, stellt sich das eigentliche Problem im Letzteren: Pannenberg versucht der „Geschichtlichkeit der Kirche selbst“ gerecht zu werden39, indem er die Strittigkeit Gottes benennt40, dabei aber selbst in begriffliche Unklarheit gerät, insofern er diesen Gedanken über die Strittigkeit der „Wahrheit des christlichen Redens von Gott“ einführt41. Diese ist unangefochten in jedem theologiegeschichtlichen, in weiterem Sinne auch in jedem allgemein kirchenhistorischen Ansatz nachzuvollziehen – fraglich ist, ob die Strittigkeit der Rede von Gott identisch mit der Strittigkeit Gottes selbst ist. Der Hintergrund hierfür findet sich wiederum in der Wissenschaftstheorie, wo es eine ähnliche Begriffsunschärfe gibt, und zwar auch im disziplinären Kontext42: Während seiner Darlegungen über den „theologische[n] Charakter der kirchengeschichtlichen Disziplin“ gleitet Pannenberg über in die Rede von „Geschichtstheologie“43. Was seit der Aufklärung zweierlei ist: der methodisch gesicherte Nachvollzug historischer Vorgänge in der Kirchengeschichte einerseits und die theologische Deutung in der Geschichtstheologie andererseits, wird so in eins gemengt. Für den praktischen Vollzug allerdings stellt Pannenberg sich durchaus eine gewisse Ebenenunterscheidung vor: Die Kirchengeschichte solle „ohne Einbuße ihrer methodischen Strenge“44 zwei Akte vollziehen: Erstens solle sie die „Erfahrung von Wirklichkeit zu dem ihr [nach dem grammatischen Kontext: der Geschichte des Christentums; V.L.] überlieferten christlichen Wirklichkeitsverständnis“ untersuchen „und im Anschluß daran“ zweitens fragen, „inwiefern sich in dieser geschichtlichen Erfahrungssituation der Gott der christlichen Überlieferung den Beteiligten als die alles bestimmende Wirklichkeit bekundet hat“45. Mit dieser Zweistufigkeit aber überspielt Pannenberg, dass die erste Stufe sehr wohl im Sinne des Verständnisses von „Offenbarung als Geschichte“ voraussetzungslos jedem Menschen zugänglich ist – Kurt Koch spricht hier von der „Öffentlichkeit“ der Selbstoffenbarung Gottes46 –, die zweite aber – entgegen der auch in der Wissenschaftstheorie explizit formulierten Überzeugung, man dürfe der Kirchengeschichte keine dogmatischen Setzungen vorgeben 39 40 41 42 43 44 45 46
A. a. O., 547. S. bereits WuTh 401. STh III, 547. Es dürfte sich lohnen, die hier verwendeten Begriffe einer ähnlichen scharfsinnigen begrifflichen Analyse zu unterziehen, wie es Thomas Oehl in diesem Band mit dem Begriff des „Zeichens“ tut. WuTh 401. A. a. O. 401. A. a. O. 401 f. Koch, Gott der Geschichte 74 f.; zu der nach Pannenberg gegebenen möglichen Allgemeinheit der Gotteserkenntnis s. auch N. G. Awad, Revelation, History and Idealism: Re-examining the Conceptual Roots of Wolfhart Pannenberg’s Theology, in: Theological Review 26 (2005) 91– 110, 94.
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– diese Allgemeinheit nicht teilt47: Allein schon durch die Konjunktion „inwiefern“, die genauere Umstände beschreibt, wird deutlich, dass die Frage des „ob“ gar nicht gestellt wird. Dies wäre selbst dann nicht methodisch konsistent, wenn die subjektive Ebene erhalten bliebe, es also um eine klare Rede von einer Wirklichkeit innerhalb des methodisch erfassbaren Glaubens ginge. Pannenberg aber geht darüber hinaus, indem er Gott selbst in dem „inwiefern“-Satz zum handelnden Subjekt macht und dann in der Tat hieraus folgert, dass von „Selbstbekundungen Gottes“ und darin vom „Handeln Gottes“ geredet werden könne48. Dieser permanente Übergang zwischen nach gängiger Auffassung methodisch zugänglichem menschlichem Empfinden und Handeln49 und der Rede von Gottes Handeln macht deutlich, dass Pannenberg möglicherweise deswegen der Meinung ist, für kirchenhistorisches Arbeiten keine dogmatischen Voraussetzungen zu machen, weil die tatsächlich gemachte Voraussetzung von einer tieferliegenden ontologischen Art ist.
2.
Das vorausgesetzte Wirklichkeitsverständnis
Tatsächlich strebte Pannenberg schon in seiner Wissenschaftstheorie nicht allein eine Neudefinition des Verständnisses von Kirchengeschichte an, sondern eine „Korrektur des historischen Wirklichkeitsverständnisses überhaupt, wie es dem heutigen Stande des historischen Methodenbewußtseins zugrunde liegt“50. Diese Änderung wiederum äußert sich nach dem Pannenberg der Systematischen Theologie dergestalt, dass Gott durch seine Geschöpfe hindurch handelt51. Durch diese Wendung möchte Pannenberg eine Konkurrenz zwischen göttlichem 47 Diesen schon 1961 deutlich erkennbaren, systematisch durch den Gedanken der Antizipation des Endes in Christus bedingten, Bruch innerhalb von Pannenbergs Reflexionen auf historische Erkenntnis übersieht Axt-Piscalar, Offenbarung als Geschichte 734. 48 WuTh 402. 49 Von Pannenberg ausdrücklich unter die Formen, in denen sich Gottes Wirklichkeit bezeugt, gerechnet (a. a. O. 402). 50 A. a. O. 403. 51 STh III, 542. Diese an Thomas von Aquin anklingende Lösung des Determinismusproblems macht in der Tat deutlich, dass Pannenberg keinen Determinismus vertreten hat (s. C.A. Buller, The Unity of Nature and history in Pannenberg’s Theology, London 1996, 56); insofern ist auch die Übersetzung von Pannenbergs Begriff der „allesbestimmenden Wirklichkeit“ als „all-determining reality“ (D.R. Pol, The all-Determining God and the Peril of Determinism, in: C.E. Braaten/Ph. Clayton, The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques, with an Autobiographical Essay and Response, Minneapolis 1988, 152– 168, 153 u. ö.) missverständlich. Mit dem Ineinander von göttlichem und menschlichem Handeln griff Pannenberg sein Verständnis von von Rads Traditionsgeschichte auf (Pannenberg, Kerygma und Geschichte, in: GSTh 1, 79–90; vgl. Oh, Reflections 170; Koch, Gott der Geschichte 78 f.; zur Bedeutung dieses Gedankens von Gott als „Subjekt der Geschichte“ ebd. 91.
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Handeln und innerweltlichem Handeln ausschließen, wie sie sich ergäbe, wenn Gottes Handeln als Durchbrechung des Naturgeschehens gedacht würde52. Mit dieser Problembeschreibung kehrt Pannenberg explizit in die Konstellation zurück, aus der Mosheims pragmatische Methode entstand, die sich gegen solche Durchbrechungsvorstellungen in Gestalt der Heilsgeschichte wandte53 – das bedeutet: Pannenberg möchte gewissermaßen die in seinen Augen fehlgelaufene Entscheidung der Kirchengeschichtsschreibung der Aufklärung in ihrem partikulären Recht bewahren und doch zugleich korrigieren, indem er wie Mosheim dem dualen Handlungsdenken der Heilsgeschichte ein homogenes Modell entgegensetzt. Während er aber Mosheim und der der ihm folgenden, von der Aufklärung geprägten allgemeinen wie kirchengeschichtlichen Historiographie unterstellt, den von ihm als „religiöse Thematik“ gefassten Gottesgedanken aus ihren Reflexionen verbannt zu haben, begibt er sich in eine andere Einseitigkeit: Wenn Gott durch die Geschöpfe handelt, wenn also jeder Akt letztlich von zwei Akteuren kausiert ist, so ist die von Pannenberg vorausgesetzte Ontologie von einem klaren Prä Gottes gegenüber menschlichem Handeln geprägt, während der historischen Methodik unmittelbar zugänglich nur der nachgeordnete menschliche Akteur ist. Versteht man dieses als ein Handeln, durch das Gott sich äußert, so bleibt es, so die Überlegung Pannenbergs, zwar dem empirischen Zugriff zugänglich, da es in sich als menschliches unbeschadet ist – und doch unterliegt dieses unbeschadete menschliche Handeln letztlich einem anthropologischen Doketismus, insofern es vom göttlichen gelenkt ist und keine eigenständige Entwicklungsmöglichkeit mehr besitzt: „Darum sind alle Ereignisse der Geschichte überholt durch das Christusgeschehen, in dem das Eschaton schon angebrochen ist“54, so fasst Krzysztof Góz´dz´ treffend die paradoxale zeitliche Struktur, die Pannenberg hier voraussetzt. Einzig durch den Gedanken der Strittigkeit kann Pannenberg hier ein Gegengewicht schaffen, da eben diese Strittigkeit voraussetzt, dass es im geschichtlichen Handeln Momente gibt, die jedenfalls nicht ganz und gar und unausweichlich dem göttlichen Handeln unterliegen, sondern denen Gott sich in gewisser Weise auch aussetzen muss. Diese gewissermaßen widerständigen Vorgänge allerdings sind aus theologischer Sicht Momente der Abweichung – gleichwohl weisen sie darauf hin, dass auch eine historische Methodik, die – wie immer sie im Einzelnen aussähe – menschliches Handeln als letztlich von Gott verursacht betrachtete, eine Eigenlogik mensch52 STh III, 542. 53 A. a. O., 541 f. 54 Kr. Góz´dz´, Jesus Christus als Sinn der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg, Regensburg 1988 (Eichstätter Studien 25), 207. Ph. Clayton, Anticipation and Theological Method, in: Braaten/ Clayton, Theology 122–150, 137, hebt gleichfalls hervor, dass bei Pannenberg ein gewisser Widerspruch zwischen einer Betonung des tatsächlich schon erfolgten Geschehens auf der einen Seite, der „openess of history“ zu beobachten ist.
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lichen Handelns in Rechnung stellen müsste. Eben diese Spannung kann Pannenberg nicht auflöse: Sie liegt ihrerseits wiederum im hypothetischen Charakter theologischer Rede begründet – die das schon genannte Problem mit sich bringt, dass eben diese Hypothese das der Methode historischer Arbeit zugrundeliegende Wirklichkeitsverständnis korrigieren soll und somit die Hypothese das Instrument ihrer Überprüfung, die historische Methodik mit bestimmt und mithin auch präjudiziert. Innerhalb dieses methodisch problematischen Rahmens sind es vor allem zwei Kategorien, anhand deren Pannenberg die Strittigkeit Gottes überprüft sehen will: Erwählung und Gericht.
3.
Deutungskategorien: Erwählung und Gericht
Indem Pannenberg auch für die Kirchengeschichte Erwählung55 und Gericht zu zentralen Kategorien erklärt56, gibt er nun der Kontinuität zur biblischen Grundlage ein höheres Gewicht: Während das Offenbarungshandeln in Christus abgeschlossen ist und so der Kirchengeschichte wenig Raum für Eigenständigkeit bleibt, soll durch Erwählung und Gericht doch Gottes Handeln positiv wie negativ erkennbar werden. Die Aporien der „klassischen Erwählungslehre“57 sieht Pannenberg darin begründet, dass die christliche Theologie eher den Tendenzen des Neuen Testaments gefolgt ist, die auf das Volk bezogene Erwählungsvorstellung des Alten Testaments zu individualisieren58, statt die im Neuen Testament durchaus auch enthaltenen Aspekte einer Ausrichtung der Erwählung auf die Gemeinde weiterzuführen59. Diese Übertragung setzt allerdings voraus, das Verständnis der Kirche als Volk Gottes wiederzubeleben60. Dies sah Pannenberg gleichermaßen 55 Sein Konzept des Zusammenhangs von Erwählung und Geschichte hat Pannenberg am ausführlichsten entfaltet in W. Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, 85–113; vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag von Walter Dietz in diesem Band. 56 Für Erwählung: STh III, 539–563; für Gericht: a. a. O., 547 u. ö.; vgl. Koch, Gott der Geschichte 234 f. Mühlenberg, Gott in der Geschichte 255 f., benennt daneben als dritte Größe den „Bund“, bezieht die Größe aber zu Recht wieder auf die beiden anderen, was deren Priorität bestätigt 57 STh III, 485 u. ö. 58 Vgl. zu dieser Kritik Pannenbergs Koch, Gott der Geschichte 222; Wenz, Pannenbergs Theologie 239. 522. Chr. Schwöbel, Rational Theology in Trinitarian Perspective: Wolfhart Pannenberg’s Systematic Theology, in: The Journal of Theological Studies 47 (1996) 498–527, 522, ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „One of the undeniable strengths of Pannenberg’s doctrine of election is that the particularity of election is directed towards the eschatological universality“. 59 STh III, 495. 60 S. bereits WuTh 405.
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durch einzelne Aussagen Luthers61, die allerdings gegenüber der Vorstellung von der congregatio fidelium keine „systematische Funktion/ für das Verständnis der Christenheit als Einheit“ gewonnen hätten62, wie durch die Aufnahme des Begriffs in Lumen gentium 263 legitimiert. Hierzu bedarf es allerdings einer doppelten Grenzziehung: Ausdrücklich lehnt Pannenberg ab, dass mit der Rede von der Kirche als Gottesvolk eine Substitutionstheorie verbunden werde, nach der die Kirche als das neue das Judentum als das alte Gottesvolk ablöse64. Vielmehr bietet für Pannenberg ein antzipatorisches Verständnis des Gottesvolkbegriffs die Möglichkeit, die Kirche als Vorabbild des eschatologischen Gottesvolkes zu verstehen, zu dem nach Röm 9–11 auch das Judentum gehören wird65. Zum anderen aber grenzt er in einem langen Exkurs den christlichen Erwählungsglauben von Säkularisierungen durch Nationalismen ab66 – diese Abgrenzung ist nötig und gelingt nicht vollständig, weil der Geschichtserweise Gottes gewissermaßen inkulturiert ist, also auch mit kulturellen Formationen wie Nationen auf irgendeine Weise verbunden ist. Daher gesteht Pannenberg auch nationalen Erwählungsvorstellungen „oft auch Wahrheitsmomente“ zu67. In einer für ihn seltenen Denkfigur wird hier das theologisch Mögliche hintangestellt und vor der mit solchen Überlegungen verbundenen Hybris gewarnt68. Unter Berücksichtigung dieser beiden Probleme also kann Pannenberg dann den Erwählungsgedanken positiv entfalten. Der Verheißungs- und Erwählungsglaube ist nach ihm geradezu konstitutiv für die Entstehung des Geschichtsdenkens in Israel69 – systematisch ist sie der Ansatzpunkt, um Geschichte als „Prozeß“
61 WA 50, 625, 21–26: „Aber Ecclesia sol heissen das heilig Christlich Volck, nicht allein zur Apostel zeit, die nu lengest tod sind, sondern bis an der welt ende, das also jmerdar auff erden im leben sey ein Christlich heilig Volck, in welchem Christus lebet, wirckt und regirt per redemptionem, durch gnade und vergebung der sunden, Und der Heilige geist per vivificationem & sanctificationem“; vgl. STh III, 505. 62 A. a. O., 505. 63 A. a. O., 506. Kap. 2 der Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ ist überschrieben: „De populo Dei“ (DH 4122). 64 A. a. O., 509; vgl. Wenz, Pannenbergs Theologie 242. 65 A. a. O., 516 f.; vgl. Koch, Gott der Geschichte 224 f. 66 A. a. O., 559–563. Ausführlicher äußert Pannenberg sich zu der Frage in Wolfhart Pannenberg, Nation und Menschheit, in: EuE, 129–145, wobei es ihm vor allem um die „Deutung der nationalen Zusammengehörigkeit als Stufe zur größeren Gemeinschaft der Menschheit“ geht, die dann wiederum die „Pflege der nationalen Besonderheiten“ zugunsten dieses größeren Rahmes erlaubt (143). 67 STh III, 563. 68 A. a. O., 563. 69 A. a. O., 525. Letztlich sieht Pannenberg hier den Ursprung universalgeschichtlichen Denkens überhaupt (s. Buller, Unity 99). Es ist offenkundig, dass Pannenberg hier dem Geschichtsmodell Gerhard von Rads folgt; vgl. S. Sung Oh, Critical Reflections on Wolfhart Pannenberg’s Hermeneutics and Theology of History, Berlin 2007 (Studien zur Traditionstheorie 11), 169.
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zu verstehen, der „unter der Herrschaft des erwählenden Gottes steht“70. So verstanden wird Geschichte dann insofern ein Medium der Offenbarung Gottes, als die Erwählten im Glauben an die Verheißung deren Bewährung in Erwartung der vollständigen eschatologischen Selbstoffenbarung Gottes erfahren71. Zwar vermeidet Pannenberg mit der Lösung von individualistischer Fixierung einerseits die Aporien eines syllogismus practicus, andererseits wird für ihn die Geschichte und insbesondere das Volk Gottes so zu einem umfassenden Bewährungsfeld des trinitarischen Gottes, der sich selbst in die Strittigkeit und damit in die Möglichkeit der Negation begeben hat. Die Bewährung dieses Gottes ereignet sich im Weg des vorläufigen Gottesvolkes auf seine endgültige Gestalt hin, was Pannenberg an zweierlei festmacht: Zum einen ist für ihn die Missionsgeschichte ein elementarer Bestandteil einer so verstandenen Kirchengeschichte, da sich in ihr eben die Treue der Verheißung Gottes in besonders eindrücklicher Weise zeigt72. Dieser quantitativen Ausweitung aber muss eine innere Homogenität entsprechen: Das Maß der „volleren und authentischen Manifestation der Katholizität der Kirche“, ist Teil dieses Bewährungsprozesses73, und dies ist universalhistorisch insofern eingebunden, als Pannenberg den Unfrieden der Geschichte durch religiösen bzw. konfessionellen Streit bedingt sieht74 und so als Vorbedingung für das verheißene umfassende Friedensreich die ökumenische Einigung setzt75. So gilt der Bewährungsgedanke grundsätzlich auch für die Kirchengeschichte, aber während vorchristlich die Gottesoffenbarung eine unvollständige war und so die Geschichte auch zur Anreicherung dieses Offenbarungswissens von Gott führen konnte76, ist mit Christus die volle Zukunft Gottes antizipiert77 und mithin ein Mehr an Offenbarung nicht mehr möglich. Es kann nur noch Bestätigung folgen oder Scheitern. Eben für dieses Scheitern wählt Pannenberg den Begriff des Gerichts, den er ausdrücklich gegen die Kritik in Schutz nimmt, „Ausdruck vorkritischer Geschichtsauffassung“ zu sein78. Hierfür berief Pannenberg sich auf den Historiker 70 STh III, 528. 71 A. a. O., 530. 72 A. a. O., 549–551. In der Wissenschaftstheorie hatte Pannenberg die Missionsthematik primär der Praktischen Theologie zugeordnet; s. WuTh 440 f. 73 STh III, 509. 74 A. a. O., 509. 75 A. a. O., 509; vgl. Koch, Gott der Geschichte 239–241. 76 A. a. O., 528 f. 77 A. a. O., 559. Dieses Phänomen beschreibt Góz´dz´, Jesus Christus 200–202, mit verschiedenen Begriffen und Metaphern: „Mitte“, „Aufgipfelung“, „Zentrum“, „Ziel“, „Punkt ‚Omega‘“ – allein schon in dieser Vielfalt der Benennungen zeigt sich die Schwierigkeit, das von Pannenberg Gemeinte zu erfassen, da der darin vorgesetzte Zeitbezug letztlich paradoxal ist: Die Zukunft verweist auf eine Vergangenheit, die die Zukunft antizipiert hat und doch einen Geschichtsprozess eröffnen soll, der in seiner Strittigkeit noch offen ist. 78 STh III, 536.
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und Geschichtsphilosophen Herbert Butterfield, der insbesondere die Niederlagen Deutschlands in den Weltkriegen als Ausdruck des Gerichtes Gottes gedeutet hatte79, wobei Pannenberg besonderen Wert darauf legt, dass Butterfield hierbei „empirisch“ gearbeitet habe80. Er selbst macht das Gericht an verschiedenen Etappen der Kirchengeschichte fest: Der Zerfall des Römischen Reiches ist hiernach Gericht Gottes über die „dogmatischen Spaltungen der Kirche“, und in diesem Sinne sei auch die Säkularisierung der Moderne als Gericht über die konfessionellen Spaltungen und ihre Folgen zu verstehen81. Gerade der letztere Gedanke belegt die Ernsthaftigkeit von Pannenbergs Bemühen, auch die Strittigkeit Gottes zu erweisen. Es sind insofern bemerkenswerte Deutungen der Geschichte, freilich auch mit einer gewissen Einseitigkeit: Die Religionsfrage wird zum Angelpunkt der historischen Prozesse genommen, die vielfältigen sozialen, kulturellen, politischen oder auch klimatischen Bedingungen, die die historischen Prozesse zumindest auch beeinflusst und bewirkt haben, werden nahezu vollständig ausgeblendet82, d. h. Beschreibungsmodus des historischen Geschehens und Deutung eben dieses Geschehens stehen in einem hochgradig interdependenten Verhältnis: die Deutung der Geschichte als Gericht Gottes ist genau dann möglich, wenn man unter Ausblendung anderer Faktoren einseitig die religiöse Frage als Movens der Geschichte sieht. Damit aber wird Pannenbergs Geschichtsdeutung gerade in ihrem Ineinander mit einer kenntnisreichen Beschreibung letztlich zu einer Petitio principii.
4.
Fazit
Kein Systematischer Theologe des 20. Jahrhunderts hat sich so intensiv der Frage der Geschichte gestellt wie Wolfhart Pannenberg. Daher sollte die kirchenhistorische Zunft seinen Ansatz nicht vorschnell beiseite schieben. Allerdings ist mit der gewaltigen Hochschätzung der Kirchengeschichte auch die Gefahr ihrer völligen Marginalisierung verbunden: Zwischen dem Ende und der Vorwegnahme des Endes situiert, bleibt ihr letztlich kein Raum für Eigenständigkeit – so 79 H. Butterfield, Christentum und Geschichte, Stuttgart 1952, 59–70. 80 STh III, 537. Dieser Anspruch empirischen Arbeitens lässt sich für den Historiker bei Lektüre der Studie von Butterfield allerdings nicht nachvollziehen. Es handelt sich um ein durchweg deutendes und urteilendes Buch, fernab von den üblichen historischen Mühen der Quellenarbeit. Da sich kein Exemplar des Buches in Pannenbergs Privatbibliothek findet, ist es auch nicht möglich, Pannenbergs Rezeption bei der Lektüre genauer zu verfolgen. 81 STh III, 557 f. 82 Zu Recht weist Koch, Gott der Geschichte 231, darauf hin, dass Pannenberg sich hierbei durchaus auf die von Emile Durkheim herrührende Tradition der Religionssoziologie beziehen konnte, die der Religion eine konstitutive Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung zusprach.
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dass das von Karl Barth aufgeworfene Problem, wonach die Kirchengeschichte über keine eigenständig zu stellende theologische Frage verfüge83, sich neu stellt. Konkret müssen einige nicht unerhebliche Probleme benannt werden, die es am Ende unmöglich machen, sein Verständnis der Kirchengeschichte in ein Selbstverständnis dieses Fachs zu überführen. Das gewichtigste ungelöste Problem ist wohl das, was oben als anthropologischer Doketismus beschrieben wurde: Die in vielen Fällen außerordentlich überzeugende Denkfigur einer Antizipation des Eschaton in Jesus Christus und damit einer antizipierten vollen Selbstoffenbarung Gottes bringt die Rede vom fortdauernden Handeln Gottes in ein anderes Verhältnis zur Selbstoffenbarung Gottes als in der Geschichte Israels84: Alles was geschieht, kann nicht mehr als offener Prozess betrachtet werden, sondern ist in gewisser Weise determiniert85, beziehungsweise bei Pannenberg in ein binäres Gerüst – Erwählung oder Gericht – eingespannt: Die Vielfalt historischer Prozesse gerät so gänzlich aus dem Blick, eine reale Entwicklung ist nicht mehr denkbar. Dies hängt auch damit zusammen, dass Pannenbergs Verständnis der Theologie als einer auf Hypothesen aufbauenden Wissenschaft jedenfalls im Falle der Kirchengeschichte dazu führt, dass eine Methodik generiert wird, die ihre Antworten präjudiziert. Pannenbergs Vorschlag, die in Jesus Christus vollzogene Gottesoffenbarung der Untersuchung des historischen Geschehens als Hypothese zugrunde zu legen, schließt die Möglichkeit einer nichttheologischen Deutung der Geschichte geradezu aus und verabschiedet damit die Untersuchung der Kirchengeschichte aus dem interdisziplinären Diskurs. Das ist umso frappierender, als seine Theologie für die biblischen Wissenschaften gerade auf der Evidenz des jedem Menschen zugänglichen historischen Geschehens aufbaute, um dessetwillen zur Erkenntnis der Offenbarung Gottes der Glaube nicht Voraussetzung sei. Für die Kirchengeschichte aber ist er, mindestens im Modus der Hypothese, Voraussetzung. Ihrem Gegenstand wird damit ein geringeres Maß an intersubjektiv ver83 Barth, Die kirchliche Dogmatik I/1, 3. 84 Diese Beobachtung gilt umso mehr, je stärker man Antizipation und Prolepse als tatsächlich ontologische Gegebenheiten zu verstehen hat – und Clayton, Anticipation 136, zeigt, in welchem Ausmaß dies bei Pannenberg der Fall ist. Wenn diese ontologische Dimension zudem sich dadurch äußert, dass letztlich die Zukunft gegenüber Vergangenheit und Gegenwart ontologische Priorität besitzt, wie es bei Pannenberg den Anschein hat (G. Igwebuike Onah, Self-Transcendence and Human History in Wolfhart Pannenberg, Rom 1994, 195), ist eine wirkliche Offenheit der Kirchengeschichte kaum mehr darstellbar. Auf die Problematik, dass sich für die Kirchengeschichte mit dem Antizipationsmodell letztlich die Gefahr eines zirkulären Denkens verbindet, weist H. R. Seeliger, Kirchengeschichte – Geschichtstheologie – Geschichtswissenschaft. Analysen zur Klärung des wissenschaftstheoretischen Status der neueren katholischen Kirchengeschichtsschreibung, Düsseldorf 1981, 127 f., hin. 85 Mit einem gewissen Recht wirft Dierken, Heilsgeschichte 166, daher Pannenberg vor: „Die Kehrseite dieses Gedankens ist, dass es vor dem eschatologischen Ende der Zeit auch keine valide Geltungsbestreitung der Offenbarungsgeschichte geben kann.“
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bindlicher Erkennbarkeit zugetraut als dem Gegenstand der biblischen Wissenschaften. Die Anregungen Pannenbergs bedürfen daher mindestens in zwei Richtungen der Korrektur: Erstens müssen empirische Untersuchung der Kirchengeschichte einschließlich ihrer historiographischen Interpretation und ihre Deutung deutlicher voneinander unterschieden werden. Pannenbergs Vorschläge zur Methodik der Kirchengeschichte schreiben in diese ein Wirklichkeitsverständnis ein, das die Ergebnisse präjudiziert und damit wissenschaftlich gesprochen eine Petitio principii bildet, die methodisch nicht akzeptabel ist. Zweitens aber ist sein Gedanke, dass Kirchenhistoriker sich nicht vorbehaltlos an die allgemeine Geschichtswissenschaft adaptieren lassen sollten, nachvollziehbar. So wie Pannenberg allerdings zu Recht davor warnt, eine Methode zu verwenden, die Atheismus impliziert, darf umgekehrt der christliche Glaube nicht im Sinne einer andere Weltbilder ausschließenden methodischen Voraussetzung eingebracht werden, wohl aber in der Weise des Offenhaltens der Geschichte für Gottes Handeln86. So wie Pannenbergs Ansatz darin zu kritisieren ist, dass er weltanschauliche Präjudizien für eine im interdisziplinären Diskurs stehende Wissenschaft konstruiert, muss andererseits jede historische Methodik so beschaffen sein, dass sie nicht, wie von Pannenberg befürchtet, das Präjudiz des Atheismus impliziert, sondern ihrerseits weltanschaulich neutral bzw. für unterschiedliche Weltanschauungen offen ist. Anders gesagt: Dem Kirchenhistoriker muss daran liegen, methodisch so vorzugehen, dass er die Beschreibung der Kirchengeschichte offen hält für die Deutung als das Handeln Gottes87. Sind diese beiden Kriterien erfüllt: klare methodische Unterscheidung zwischen Beschreibung und Analyse einerseits, theologischer Deutung andererseits und Klärung des weltanschaulich möglichst neutralen methodischen Ansatzes der Kirchengeschichtsschreibung, so dürfte das von Wolfhart Pannenberg en-
86 Genau in diesem Sinne will Mühlenberg, Gott in der Geschichte 247, Pannenberg verstanden wissen, und dies „sollte man“ in der Tat „nicht beanstanden“. 87 In anderen Zusammenhängen habe ich entfaltet, dass ein methodischer Ansatz, den ich hierfür für geeignet halte, sich in der semiotischen Theorie findet: V. Leppin, Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch. Zur Bedeutung der Semiotik für das Selbstverständnis einer theologischen Disziplin, in: W. Kinzig/V. Leppin/G. Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, Leipzig 2004 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 15), 223–234; ders., Auf der Grenze – auf einem weiten Raum. Kirchengeschichte interdisziplinär und ökumenisch, in: B. Jaspert (Hg.), Kirchengeschichte als Wissenschaft, Münster 2013, 105–114; ders., Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Fächer. Historische Offenlegung der vielfältigen Möglichkeiten christlicher Religion, in: M. Buntfuß/M. Fritz (Hg.), Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive, Berlin 2014 (TBT 163), 69–93.
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ergisch angestoßene Gespräch über den theologischen Charakter der Kirchengeschichte fruchtbar fortgesetzt werden können.
Gunther Wenz
Dienst an der Einheit Zur Lehre vom kirchlichen Amt und ihrem ekklesiologischen Kontext in Pannenbergs Systematischer Theologie
1.
Eschatologische Zeichenhaftigkeit und Binnenstruktur der Kirche als communio sanctorum
Die Lehre von der Kirche, deren Begriff weder in der antiken Christenheit, noch im lateinischen Mittelalter, sondern erst seit der Reformation in einem gesonderten dogmatischen Traktat behandelt worden ist1, gehört nach traditionellem Bekenntnis des Glaubens in den Kontext der Pneumatologie, deren Skopus die Eschatologie bildet. Durch den Geist vollendet sich die göttliche Heilsökonomie (vgl. 13 ff.), die auf die Vollendung der Schöpfung im Reiche Gottes zielt. Im Gottesreich werden Schöpfer, Versöhner und Vollender in ihrer trinitarischen Einheit definitiv offenbar sowie Sünde und Übel dergestalt überwunden sein, dass das Theodizeeproblem behoben und die Liebe Gottes ein und alles sein wird (vgl. 677 ff.). Nachdem Pannenberg die heilsökonomische Stellung der dritten Person der Trinität im Zusammenhang mit den beiden anderen und die Besonderheit des soteriologischen Geistwirkens in der Schöpfung detailliert erörtert hat, kommt er im ekklesiologischen Grundlegungskapitel seiner Systematischen Theologie (vgl. 12. Kapitel: Geistausgießung, Reich Gottes und Kirche) zunächst auf die pneumatische Genese der Kirche zu sprechen (vgl. 25 ff.), um nach Bemerkungen zur lukanischen Pfingstgeschichte und zu einschlägigen paulinischen und johanneischen Aussagen die Ausgangs- und Zentralthese seiner Ekklesiologie 1 Vgl. im Einzelnen W. Pannenberg, STh III, Göttingen 1993, 33 ff. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text und in den Anmerkungen beziehen sich, falls nicht anders angegeben, auf dieses Werk, auf dessen Kapitel 12 und 13 die vorliegende Studie vor allem bezogen ist. Als Begleitlektüre empfehlen sich die „BSTh III: Kirche und Ökumene“, Göttingen 2000, insbesondere die Aufsätze über die „Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden“ (vgl. 11 ff.), über „Die Ordination zum kirchlichen Amt“ (vgl. 96 ff.) sowie über „Das kirchliche Amt und die Einheit der Kirche“ (vgl. 138 ff.).
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aufzustellen, der zufolge der theologische Begriff der Kirche aus ihrem Verhältnis zum Reich Gottes heraus zu entwickeln sei. Entscheidende Aufgabe der Ekklesiologie müsse es sein, die Kirche „als Antizipation der künftigen Gemeinschaft einer im Reiche Gottes zu erneuernden Menschheit“ (32) zu verstehen. Ihre Bestimmung sei „von vornherein auf den Horizont der Zukunft des Gottesreiches“ (33) zu beziehen, „als dessen vorläufige Darstellung die Kirche existiert“ (ebd.).2 Bildet das Reich Gottes den Horizont und die eschatologische Zielperspektive der Ekklesiologie und des Verständnisses der Kirche „als Gemeinschaft der Glaubenden, die auf die Teilnahme eines jeden an dem einen Jesus Christus begründet ist“ (32), dann erweist sich nach Urteil Pannenbergs die namentlich in der protestantischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts üblich gewordene Vorordnung der Darstellung der individuellen Heilsaneignung vor diejenige der Kirche als problematisch, da dadurch der universalgeschichtliche, auf Menschheit und Welt und nicht nur auf den Einzelnen ausgerichtete Charakter der göttlichen Heilsökonomie leicht aus dem Blick gerate. Doch wenngleich er der „Vorordnung des Kirchenbegriffs vor die Darstellung der individuellen Heilsaneignung den Vorzug“ (37) gibt, plädiert Pannenberg doch keineswegs für eine Prädominanz kirchlicher Allgemeinheit vor den Heilsbelangen einzelner. Nach seiner Auffassung ist die Kirche weder ein Verein atomistischer Individuen, noch eine Größe, in welcher der Einzelne zum bloßen Funktionsmoment eines übergeordneten Gemeinschaftsganzen herabgesetzt wird. Als zur proleptischer An2 Durch den Zusammenhang von Kirche und Reich Gottes ist der Horizont der speziellen Ekklesiologie Pannenbergs abgesteckt, die er in seinen 1970 in erster, 1974 in zweiter Auflage erschienenen „Thesen zur Theologie der Kirche“ unter der Überschrift „Kirche als messianische Gemeinde“ abhandelte. Die „Thesen“ hat Pannenberg ursprünglich als Zusammenfassung für Hörer einer Vorlesung abgefasst, die er im WS 1968/69 zur Ekklesiologie hielt. Die Grundannahme lautet: „In der Kirche geht es um die vorwegnehmende Präsenz der menschlichen Bestimmung in der Gesellschaft. Daran ist die jeweilige geschichtliche Gestalt der Kirche zu messen.“ (W. Pannenberg, Thesen zur Theologie der Kirche, München 21974, 9 [These 2]) Weiter ausgeführt hat Pannenberg die eschatologische Grundlegung seiner Eschatologie in drei ursprünglich in englischer Sprache verfassten und an verschiedenen Universitäten in den USA vorgetragenen Studien zu „Theology and the Kingdom of God“. Sie wurden zusammen mit einem Text zum Begriff der „Erscheinung als Ankunft des Zukünftigen“ 1969 auf Englisch, 1971 auf Deutsch publiziert. Zu beachten ist vor allem der Aufsatz über „Reich Gottes und die Kirche“, der als Explikation des Grundlegungsteils der „Thesen zur Theologie der Kirche“ gelesen werden kann. „Jede christliche Kirche, die der Botschaft Jesu treu bleiben will, muß sich als Gemeinschaft in Beziehung auf das von Jesus verkündete Reich Gottes verstehen. Beim Reiche Gottes aber geht es nach der Botschaft Jesu um die Zukunft der Welt, um die gesamte Menschheit.“ (W. Pannenberg, Reich Gottes und Kirche, in: ders., Theologie und Reich Gottes, Gütersloh 1971, 31–61, hier: 32) Die amtstheologischen Folgen des Grundsatzes, wonach die Ekklesiologie „nicht mit der Kirche, sondern mit dem Reich Gottes beginnt“ (a. a. O., 36), hat Pannenberg, a. a. O., 52 ff. skizziert, verbunden mit einer recht massiven Kritik an der traditionellen Autoritätsstruktur christlicher Kirchenverfassung.
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tizipation des Gottesreiches bestimmte Gemeinschaft der Glaubenden sei sie vielmehr durch paritätische Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität gekennzeichnet. Diese Charakteristik ist für Pannenbergs Ekklesiologie bis hin zur Strukturierung der Ämterlehre grundlegend. Als vorläufiges Zeichen der eschatologischen Herrschaft Gottes über Menschheit und Welt ist die Kirche konstitutiv kommunial verfasst und zu Recht als Volk Gottes zu bezeichnen. Aber der Volksund Gemeinschaftscharakter der Kirche, wie er aus ihrer eschatologischen Bestimmung folgt (38: „Das Gottesvolk ist im Verhältnis zur Gottesherrschaft eine Variable.“), steht in keinem Gegensatz zur Gottunmittelbarkeit des Einzelnen, setzt diese vielmehr voraus, auch wenn es sich bei ihr um keine vermittlungslose, sondern um eine – durch den Mittler und mittels dessen durch den in den kirchlichen media salutis wirksamen Geist – vermittelte Unmittelbarkeit handelt. In der Kirche können die Verschiedenen eins sein, nicht weil von ihrer individuellen Verschiedenheit abstrahiert, sondern weil diese statt als trennend als bereichernd wahrgenommen wird, so dass die Verschiedenen als Verschiedene einig werden, wie es der Bestimmung des Menschengeschlechts, ja letztlich aller Kreatur gemäß ist. Bevor Pannenberg im 13. Kapitel (Die Gemeinde des Messias und der einzelne) seiner Systematischen Theologie ausführlich von der Gemeinschaft des Einzelnen mit Jesus Christus und der Gemeinschaft der Glaubenden (vgl. 115 ff.) sowie von den fundamentalen Heilswirkungen des Geistes im einzelnen Christen, nämlich von Glaube, Hoffnung und Liebe samt Gotteskindschaft handelt (vgl. 155 ff.), thematisiert er in einem eigenen Abschnitt des zwölften Kapitels das genaue Verhältnis von Kirche und Reich Gottes einschließlich der dazugehörigen gesellschaftlichen Bezüge (vgl. 40 ff.), um dann auf das für die reformatorische Theologietradition besonders wichtige Thema von Gesetz und Evangelium einzugehen (vgl. 71 ff.). Was das Verhältnis von Kirche und Reich Gottes anbelangt, so hat es nicht „die Form einfacher Identität“ (vgl. 42), auch nicht diejenige „einer Teilidentität“ (ebd.). Dem Reich Gottes verbunden ist die Kirche nicht anders als durch konsequente Selbstunterscheidung von ihm. Nicht durch Selbstverabsolutierung, sondern dadurch gewinnt die Kirche die Bedeutung, die ihr von ihrer Wesensbestimmung her zukommt, dass sie sich auf das Reich Gottes hin relativiert, um eben dadurch die für ihren Begriff konstitutive Vorläufigkeit zu realisieren sowie Instrument und proleptisches Wirkzeichen des Eschaton und der eschatologischen Vollendung der Schöpfung zu sein. Wie im Sakrament signum und res nicht unmittelbar, sondern in einer durch Unterscheidung des Zeichens von der Sache vermittelten Weise eins sind, so verhält es sich auch mit der kirchlichen Zeichenhaftigkeit: „Die Kirche muß sich selbst unterscheiden von der künftigen Gemeinschaft der Menschen im Reiche Gottes, um als Zeichen des Gottesreiches erkennbar zu sein, durch das
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seine Heilszukunft den Menschen in ihrer jeweiligen Zeit schon gegenwärtig wird.“ (45) Wird die gebotene Selbstunterscheidung unterlassen, dann verkehrt sich das Wesen der Kirche ins widrige Gegenteil absolutistischer Zwangsherrschaft mit entsprechend geistlosen oder geistwidrigen Konsequenzen. Nur in der geistlichen Armut und Demut ihres Vollzugs ist die Kirche „der Ort, an dem durch die Kraft des heiligen Geistes die eschatologische Zukunft der Gottesherrschaft schon gegenwärtig zum Heil der Menschen wirksam ist. Nur unter Verzicht auf exklusive Ansprüche für ihre jeweilige eigene, partikulare Gestalt kann sie deutlich Zeichen der Universalität des Reiches Gottes und Instrument zur Versöhnung der Menschen untereinander und mit Gott über alle die Menschen voneinander und von dem Gott Israels trennenden Gegensätze hinweg sein.“ (Ebd.) Bei aller unvergleichlichen Unterschiedenheit zwischen der Kirche und ihrem Herrn, dessen Leib sie in Bezeugung seiner leibhaften Verherrlichung zu sein bestimmt ist, lässt sich das geistvermittelte Verhältnis Jesu Christi zu Gott in bestimmter Weise mit demjenigen vergleichen, welches zwischen Kirche und Reich Gottes waltet. Beide Verhältnisse sind, wenngleich in ihrem Stellenwert durchaus grundverschieden, durch Selbstunterscheidung gekennzeichnet. Wie Jesus der Christus und der Sohn des göttlichen Vaters in der Kraft des Heiligen Geistes gerade dadurch ist, dass er sich nicht unmittelbar mit Gott gleichsetzt und – im Unterschied zum alten Adam – nicht sein will wie dieser, so wird die Kirche zum Wirkzeichen des Reiches Gottes und zum Medium seiner antizipativen Realisierung nicht durch Selbstidentifizierung mit dem Eschaton, sondern dadurch, dass sie sich zu ihrer Vorläufigkeit bekennt. Ihre eigentümliche Mission besteht darin, sich sukzessive in die Zukunft des Reiches Gottes aufzuheben, von dessen Entgegenkommen sie lebt und in dem sie ihr vollendetes Ende finden wird. Unter dieser Prämisse ist Pannenberg bereit und in der Lage, sich die Lehre des II. Vatikanischen Konzils von der Kirche als dem sakramentalen Wirkzeichen der Gottesherrschaft und dem Heilsmysterium in Christus anzueignen (vgl. 51 ff.).
2.
Das gottesdienstliche Leben der kirchlichen Glaubensgemeinschaft
Die Kirche ist nach Maßgabe der Dogmatischen Konstitution „Lumen Gentium“ des II. Vaticanums Zeichen und Instrument des Reiches Gottes. Pannenberg teilt diese ekklesiologische Bestimmung unter der Voraussetzung, dass die Kirche sich in der Nachfolge Jesu Christi mit dem kommenden Reich Gottes, das in der Auferweckung des Gekreuzigten proleptisch antizipiert werde, nicht gleichsetze,
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sondern konsequent von ihm unterscheide, damit gerade in, mit und durch solche Selbstunterscheidung das Eschaton in ihr zum Vorschein komme. „Nicht von sich aus ist die Kirche Heilsmysterium der Gottesherrschaft, weder in ihrer gesellschaftlichen Verfassung, noch in ihrer jeweiligen geschichtlichen Gestalt, sondern nur ‚in Christo‘, also im Ereignis der Teilhabe an Jesus Christus, wie es im gottesdienstlichen Leben der Kirche stattfindet.“ (55) Im Gottesdienst bringt sich der Grund zur Gewissheit, welcher die Kirche konstituiert, erhält und zugleich die Basis bildet für ihr gesellschaftliches Wirken.3 Unter der Überschrift „Die zeichenhafte Gestalt der Heilsgegenwart Christi im Leben der Kirche“ hat Pannenberg im dritten Hauptabschnitt des 13. Kapitels seiner Systematischen Theologie den ekklesiologischen Grundvollzog unter Konzentration auf die beiden sacramenta maiora Taufe (vgl. 268 ff.) und Abendmahl (vgl. 314 ff.) entfaltet. Beigegeben wurde ein ausführlicher Exkurs (vgl. 369ff.) zum Sakramentsbegriff, zum Zeichencharakter der Sakramente, zum Umkreis des Sakramentalen sowie zum Sonderfall der Ehe „als Erinnerung an ein weiter gefaßtes Sakramentsverständnis“ (391; bei P. kursiv). Eine Schlüsselfrage der Lehre „De sacramentis in genere“, die aus terminologiegeschichtlichen Gründen und aus Gründen der Abstraktionsvermeidung erst in Anschluss an die Behandlung konkreter kirchenkonstitutiver Zeichenvollzüge erörtert wird, richtet sich auf das Verhältnis des einen Heilsmysteriums zur Mehrzahl der Sakramente. Sie wird unter anderem mit dem Hinweis beantwortet, dass im Ursakrament Jesu Christi die kirchliche Sakramentalität dergestalt begründet und erschlossen sei, dass durch sie die Individualität und Sozialität der communio sanctorum gleichermaßen bezeichnet und bewirkt werde. Die Taufe als Konstitutionsakt christlicher Identität des Einzelnen ist zwar durch die Kirche vermittelt und als Akt der Inkorporation in Christus zugleich derjenige der Aufnahme in die Kirche als den Leib Christi; doch gelangen durch ihn und unbeschadet seines vermittelten Charakters „die einzelnen Christen in das Verhältnis der Unmittelbarkeit zu Jesus Christus“ (265) als dem Ursakrament, in welchem mit der Zeichenhaftigkeit der Kirche alle kirchlichen 3 Welche soziokulturellen Aufgaben die Kirche in Bezug auf die politische Ordnung und ihre Gestaltung im Horizont der Gottesherrschaft wahrzunehmen hat, ist von Pannenberg vor allem unter Konzentration auf die Rechtsthematik expliziert worden (vgl. 62 ff.). Ihrem Kontext wurde dann auch die für die reformatorische Theologietradition besonders virulente Gesetz-Evangelium-Problematik zugeordnet, worauf im gegebenen Zusammenhang nicht eigens einzugehen ist. Verwiesen sei lediglich auf die für die Systematik des Zeichenbegriffs grundlegenden Ausführungen, die in dem Abschnitt über die Kirche als Heilsmysterium in Christus angezeigt werden (vgl. 51 ff.), um dann in der Perspektive von Gesetz und Evangelium anhand des Taufsakraments konkretisiert zu werden. „Durch die Taufe, die den Täufling mit Jesus Christus verbindet, vollzieht sich an seinem Leben zeichenhaft, aber wirksam dieselbe eschatologische Wende, die durch Jesus Christus für die Geschichte der Menschheit eingetreten ist.“ (101)
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Zeichenvollzüge gründen, in denen diese ihre Wirklichkeit hat. Auf diesem Hintergrund kann Pannenberg sagen, dass die „Eingliederung in die Gemeinschaft der Kirche durch die Taufe … nur eine Nebenfolge der Einpflanzung des einzelnen in Jesus Christus“ (266) sei. Einsicht in den Grund der wesentlichen Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der Taufe ergibt sich ebenfalls aus ihrer auf die unteilbare Individualität des Einzelnen gerichteten Bestimmung. Dass durch die Taufe von Christus für den Einzelnen erschlossene Verhältnis ist schlechterdings singulär, wie durch die ihr zugeordneten sakramentalen Aspekte von Konfirmation, Buße und Krankensalbung bestätigt wird. Im Glauben, der sich auf Christus und die von ihm gestiftete Taufgabe verlässt, wird dies wahrgenommen. In ihm kommt der Christ ganz zu sich und zur Gewissheit seiner in Gott selbst gegründeten, unwiederholbaren, unverwechselbaren, einmaligen und singulären Individualität. Der Getaufte muss sich nicht selbst einen Namen machen, weil er gewiss sein darf, dass sein Name im Himmel geschrieben ist und geschrieben bleibt, auch wenn Selbst und Welt vergehen. Die Taufe ist signum gottgegebenen Daseins, freilich „nicht nur“, wie Pannenberg eigens vermerkt, „Darstellung des Sichgegebenseins des Individuums überhaupt, im Sinne der Illustration eines allgemeinen Sachverhalts, sondern sie ist in der Form des sakramentalen Zeichens tatsächliche Neukonstitution der Person“ (305). Das Bad der Wiedergeburt wirkt, was es bezeichnet, nämlich das personale Sein in Christus, dem nicht ein an sich gegebenes und unmittelbar mit sich identisches Subjekt zugrunde liegt, da das Personsein und die personale Subjektivität dieses Subjekts durch die mortificatio seiner tatsächlichen Verfassung und die vom Geist des auferstandenen Gekreuzigten gewirkte vivificatio vermittelt sind. Die Ichidentität des Christen, der im Glauben auf die sakramentale Taufgabe vertraut, sich auf den in Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes offenbaren Gott als seinen Vater verlässt und so zu Gewissheit seiner Gotteskindschaft gelangt, ist strukturell durch die Exzentrizität des Taufglaubens und „durch die Partizipation an der Beziehung des Sohnes zum Vater durch den Geist“ (306) bestimmt. Aus dieser Struktur ergibt sich umstandslos der kommuniale Charakter des Glaubens-Ich. In der Gewissheit, in Gott gegründet und daher, wenn man so will, außer sich bei sich selbst zu sein, ist das Glaubens-Ich wesentlich auf andere Glaubende verwiesen. Ohne die Anerkennung und Wertschätzung ihres Andersseins ist gläubiges Selbstverhältnis nicht denkbar. Gerade weil das Verhältnis des Glaubens-Ich zu seinem Grund singulär ist, ist es per se auf eine menschheitsgeschichtlich orientierte Glaubensgemeinschaft hingeordnet, wie denn auch das Taufsakrament mit dem Sakrament der Kommunion nicht nur äußerlich, sondern im Innersten verbunden ist. Beide sacramenta maiora verweisen auf einander und legen sich wechselseitig aus.
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Das Herrenmahl ist das Wirkzeichen der Gemeinschaft der Glaubenden, deren Glaube in der Taufe und in demjenigen gründet, der die Sakramente gestiftet hat, damit durch sie als ins Wort gefasste Zeichen Teilhabe am ewigen Leben des dreieinigen Gottes vermittelt werde. Liegt der Akzent bei der Taufe auf der Konstitution und wirksamen Bezeichnung des Verhältnisses des Einzelnen zu dem in Jesus Christus offenbaren Gott, so im Falle des Herrenmahls auf der signifikativen Begründung gottgegründeter Glaubensgemeinschaft der Getauften. Doch wie die Taufe als Gabe individuellen Anteils an Christus und an der in ihm offenbaren Wirklichkeit zugleich die Inkorporation in die Kirche ist, so ist das Sakrament eucharistischer Kommunion zugleich durch persönliche Hingabe an Jesu Christi gekennzeichnet: „Nimm hin und iß; nimm hin und trink…“ Herrenmahl und Kirchengemeinschaft gehören „sachlich eng zusammen“ (357): „Das letzte Mahl Jesu ist daher nach der Überlieferung nicht in einer offenen Mahlgemeinschaft gehalten worden, sondern war ein Mahl für den Jüngerkreis Jesu.“ (358) Damit der sachliche Zusammenhang der beiden sacramenta maiora festgehalten werde, sollte deshalb Pannenberg zufolge die Teilhabe an der Kommunion im Sinne des Empfangs der eucharistischen Elemente Getauften vorbehalten werden (vgl. im Einzelnen 362 ff.) und zwar nicht, um exklusive Vorrechte geltend zu machen und kommunionswillige Mitmenschen auszuschließen, sondern im Gegenteil um die Singularität ihrer individuellen Bestimmung hervorzuheben, wie die Taufe sie wirksam bezeichnet; ihr Empfang lässt sich daher von der sakramentalen Zeichenhaftigkeit des Herrenmahls nicht sondern. Ihren genuinen Sitz im Leben haben Taufe und Abendmahl im Gottesdienst der Gemeinde, zu dem Wortverkündigung unveräußerlich hinzugehört (vgl. im Einzelnen 365 ff.), wie denn auch das Wort zum Element hinzutreten muss, damit ein Sakrament entsteht. Abwegig ist es daher, verbum und sacramentum gegeneinander auszuspielen oder eine Kirche des Worts auf der einen und eine Kirche des Sakraments auf der anderen Seite zu propagieren. Ist die örtliche Gottesdienstgemeinde im Sinne der Pannenbergschen Lehre von der zeichenhaften Gestalt der Heilsgegenwart Christi im Leben der Kirche in gewisser Weise deren Prototyp und Primärgestalt, so heißt dies nach seinem Urteil nicht, dass der Ortskirche ihr universalkirchlicher Bezug äußerlich sei. Das Gegenteil ist der Fall, was unmittelbar evident wird, wenn sich die Ortskirche vom gottesdienstlichen Geschehen her begreift. Wie Taufe und Abendmahl einen zwar differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang bilden, so sind Ortskirche und Universalkirche nicht zu scheiden, was sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht gilt; wie die am eucharistischen Leib Jesu Christi Teilhabenden bei aller Unterschiedenheit untereinander in untrennbarer Gemeinschaft stehen, so sind auch die verschiedenen Ortskirchen als Glieder des einen Leibes Christi zur Einheit mit allen anderen
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bestimmt. Der universalkirchliche Bezug gehört zu ihrem Wesen, ohne den sie nicht wären, was sie sind. Umgekehrt ist die Universalkirche keine abgehobene Größe, sondern als Kirche Gemeinschaft von Kirchen.
3.
Individualität und Sozialität in der Gemeinschaft des Glaubens
Ecclesia est communio ecclesiarum. Die Gültigkeit dieses Grundsatzes wird durch das Verständnis der Kirche als communio sanctorum nach Pannenberg direkt bestätigt. Die in den Text des Apostolikum nachträglich eingefügte Wendung kann sowohl im Sinne einer Gemeinschaft heiligmäßiger Menschen (sancti/sanctae) als auch im neutrischen Sinne gläubiger Teilhabe an den sancta von Wort und Sakrament und mittels derer an Jesus Christus und an dem in ihm offenbaren dreieinigen Gott verstanden werden. Beide Verständnisweisen gehören zusammen und geben nur vereint einen angemessenen ekklesiologischen Sinn, sofern die Heiligkeit der Heiligen und ihre Gemeinschaft auf dem Vertrauen auf das in den media salutis Vermittelte und damit auf dem Mittler selbst beruht. Dieser hinwiederum will durch die Heilsmittel Teilhabe an sich selbst durch jenen Glauben vermitteln, welcher der Grund aller Heiligung ist, weshalb nach biblischem Sprachgebrauch die fideles als sancti/sanctae und umgekehrt bezeichnet werden. Zu Beginn des ersten Abschnitts des 13. Kapitels seiner Systematischen Theologie, das von der messianischen Gemeinde und dem Einzelnen handelt, hat Pannenberg die Bedeutungskomponenten der Formel sanctorum communio detailliert beschrieben und dabei auch ihre Variante congregatio sanctorum gewürdigt, wie sie sich beispielsweise im VII. Kapitel der Confessio Augustana als der Magna Charta reformatorischer Ekklesiologie findet. Sie und mit ihr die reformatorische Auffassung von kirchlicher Gemeinschaft stehe in einer bis auf die patristische Kirche zurückreichenden und im Neuen Testament (vgl. 1. Kor 10,16f; Eph 4,15f) verwurzelten Tradition, der zufolge die Kirche primär realisiert ist in der Feier des Gottesdienstes durch die dazu am Ort versammelte Gemeinde. Pannenberg eignet sich diese Sicht an, ohne deshalb für einen Kongregationalismus von der Art zu plädieren, der sich auf den ortskirchlichen Horizont beschränkt. „Die Kirche“, so heißt es, „ist … nicht in erster Linie eine universale Institution mit zentraler Leitung, sondern die Realität der einen Kirche ist in den um Wort und Sakrament versammelten örtlichen Gemeinden manifest, die untereinander wiederum eine Gemeinschaft bilden.“ (121 f.) Als ekklesiologisch irrig wird dabei die Auffassung abgewiesen, die Gemeinschaft der Ortsgemeinden bestehe im Modus eines Zusammenschlusses, der sich erst föderativ ergebe. Zu gelten habe vielmehr, dass die lokalen Gemeinden als Ortskirchen „immer schon Erscheinungsformen der einen Kirche Christi“ (125) seien. „Diese wird
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nicht erst sekundär aus den Ortskirchen gebildet. Vielmehr beruht umgekehrt die Gemeinschaft der Ortskirchen auf der ihnen vorgegebenen und in der Feier des Abendmahl in besonderer Weise gegenwärtigen Einheit in dem einen Herrn.“ (Ebd.) Die universale Gemeinschaft der Ortskirchen und ihre Einheit gründen im unus Christus, der im gottesdienstlichen Leben der Kirche in zeichenhafter Gestalt heilsgegenwärtig ist. Besondere Form nimmt die Heilsgegenwart des Herrn in seiner Realpräsenz im sacramentum unitatis an. Die gottesdienstliche Feier und nachgerade die Feier des Herrenmahls bringen die Einheit der Kirche Pannenberg zufolge nicht nur zum Ausdruck, sondern stellen zugleich den Konstitutionsgrund ihres Bestandes und ihres Bestandserhalts dar, wobei hinzuzufügen ist, dass die Einheit der Kirche „als Konsequenz der Gegenwart Christi in Wort und Sakrament zunächst eine verborgene, nur durch Glauben wahrnehmbare Realität“ (ebd.) ist. Das Unterfangen, diese Verborgenheit durch die Gleichsetzung einer sichtbaren, empirisch manifesten Kirchengemeinschaft mit der einen Kirche oder dadurch aufzuheben, dass eine Gruppe von Amtsträgern bzw. ein einzelner Amtsträger unter Berufung auf die amtliche Funktion der Christusrepräsentanz unmittelbar zum kirchlichen Einheitsgaranten erklärt wird, lehnt Pannenberg ab. Zwar seien, wovon noch zu reden sein wird, die Ordinierten tatsächlich zur Christusrepräsentation bestellt, aber diese Repräsentationsfunktion sei – ganz abgesehen davon, dass sie nicht exklusiv den ordinierten Amtsträgern vorbehalten werden dürfe – von der die Kircheneinheit gewährleistenden Gegenwart des einen Herrn Jesus Christus im Gottesdienst und in Sonderheit von seiner eucharistischen Realpräsenz sorgsam zu unterscheiden. Im Sinne einer gottesdienstlich orientierten, eucharistisch begründeten Ekklesiologie bedürfe daher „die bisher in der römisch-katholischen Lehre und Theologie übliche Sprechweise, die den Papst als principium et fundamentum der Einheit der Kirche bezeichnet (LG 18 und 23, vgl. DS 3051 f.), ebenso wie die entsprechende Bezeichnung der Bischöfe als principium et fundamentum der Einheit in ihren Teilkirchen einer Revision“ (127 Anm. 44). Kirchliche Ämter gleich welcher Gestalt dürfen nach Pannenberg nicht mit dem Anspruch versehen werden, dass sie Prinzip und Fundament kirchlicher Einheit seien; zu gelten hat, „daß sie der Bewahrung der im gottesdienstlichen Leben der Ortsgemeinden immer schon mitgegenwärtigen Einheit dienen – oder doch (trotz aller gegenteiligen geschichtlichen Erfahrung) dienen sollten – und sie zur Darstellung bringen. Die Basis aller Formen, in denen die geglaubte Einheit der Kirche als Kirchengemeinschaft zum Ausdruck kommt, muß immer die in der Gegenwart des einen Herrn in der Kirche im Gottesdienst der Gemeinden an je ihrem Ort gegebene Wirklichkeit der Einheit des Leibes Christi sein.“ (127) Weniger als diese für die Pannenbergsche Amtstheologie basale These fällt das Problem ins Gewicht, wie in der Perspektive einer eucharistischen
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Ekklesiologie das Verhältnis von presbyteralen und episkopalen Amtsformen zu bestimmen sei. Zwar tendiert Pannenberg von seinem ekklesiologischen Ansatz bei der gottesdienstlichen Feier her dazu, die Ortsgemeinde zur Primärgestalt kirchlicher Wirkgestalt und den Presbyter, Priester rsp. Pfarrer, der den Gottesdienst leitet, zum Prototyp des Amtsträgers zu erklären (vgl. 128). Aber da jede Ortskirche mit einem universalkirchlichen Bezug unveräußerlich verbunden sei, könne die Ausdifferenzierung von ortskirchlichen und überregionalen kirchlichen Leitungsämtern als sachgemäß beurteilt werden. Auch die Ausbildung eines Dienstamtes universalkirchlicher Einheit hält Pannenberg für möglich und unter bestimmten Bedingungen sogar für wünschenswert. Grundsätzlich vorauszusetzen sei dabei allerdings, dass ein entsprechendes Amt nicht beanspruche, Fundament und Prinzip kirchlicher Einheit zu sein, und im Übrigen die grundsätzliche Einheit des Amtes in all seinen Explikationsformen nicht infrage stelle. Die Ämter von Bischöfen jedweder Art und von Presbytern oder Pfarrern sind nach Pannenberg im Grundsatz eins. Die Auskunft, dass erst im regionalen Leitungsamt des Episkopen die Vollgestalt des kirchlichen Amts manifest sei, hält er ebenso wie die Identifikation der Ortskirche mit dem Bistum für „nicht sehr befriedigend“ (128). Dass Pannenberg das Thema der Einheit der Kirche nicht formalautoritativ, sondern in einer an Inhalten und inhaltlicher Argumentationspflichtigkeit orientierten Weise angeht, belegt die Tatsache, dass er die Gemeinschaft der Glaubenden durch das gemeinsame Bekenntnis vermittelt sein lässt (vgl. 129 ff.): „Nur durch die Gemeinsamkeit des Glaubensinhalts wird der einzelne seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden inne, über eine bloße äußerliche Kirchenmitgliedschaft hinaus.“ (129) Pannenberg stellt das gemeinsame Bekenntnis des Glaubens in enge Verbindung mit der gottesdienstlichen Feier und insbesondere mit Taufe und Abendmahl, um analog zu dem erörterten Verhältnis der beiden Sakramente Individualität und Sozialität des Bekennens gleichermaßen zu unterstreichen. Das Bekenntnis geht in singulärer Weise den Einzelnen in seiner individuellen Einzigkeit an, da es den innersten Grund von Selbst und Welt zum Ausdruck bringt; es verbindet ihn aber zugleich als Homologie in elementarster Weise mit der Gemeinschaft derer, die übereinstimmend ihren Glauben bekennen. Die Verbindung individuellen und gemeinschaftlichen Bekennens reicht über die lokale Gottesdienstgemeinschaft hinaus und umfasst die Ökumene der ganzen Christenheit auf Erden und zwar auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension. Zwar ist die Form des Bekennens im Laufe der Kirchengeschichte „nicht immer die gleiche gewesen“ (130); die Annahme und Bekräftigung einer inhaltlichen Kontinuität des Glaubens hingegen gehört konstitutiv zu jedem Akt des Bekennens, ohne dass dieser notwendigerweise im Sinne etwa einer förmli-
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chen Lehrzusammenfassung gestaltet sein müsste. Zwar lässt sich Lehre vom Bekenntnis um seiner innerlichen Bestimmtheit willen nicht trennen. Doch hat sich das Lehrhafte christlichen Bekenntnisses an dessen personaler Gestalt zu bemessen: Ist es doch nur indirekt auf eine Doktrin, direkt hingegen auf die Person des auferstandenen Gekreuzigten und den in ihm offenbaren Gott bezogen „und zwar im Streit um die Wahrheit alles dessen, wofür der Name Jesu steht“ (134). Die aktuelle Strittigkeit des christlichen Bekenntnisses und die definitive Verbindlichkeit, die ihm für den einzelnen Bekenner und die Bekenntnisgemeinschaft zukommt, schließen sich nach Pannenberg ebenso wenig aus, wie die Absolutheit des Anspruches der Wahrheit und der hypothetische Status, der allen inhaltlich bestimmten Wahrheitsaussagen förmlich zukommt. Es bedürfte einer Rekonstruktion des Gesamtsystems, um den genauen Sinn dieser Annahme zu erheben. Im gegebenen Zusammenhang genügt die Feststellung, dass Pannenberg jede formalautoritative Lösung des Wahrheitsproblems und damit auch jeden amtlichen Exklusivanspruch auf Wahrheitsgewährleistungskompetenz in Bezug auf den christlichen Glauben und sein Bekenntnis ablehnt. Im christlichen Glaubensbekenntnis wird die Wahrheit Jesu Christi und des in ihm offenbaren Gottes als ex sese gültig und absolut bindend bekannt. Doch entbindet dies den einzelnen Bekenner und die Bekenntnisgemeinschaft nicht von der durch keinen Autoritätsanspruch zu behebenden Pflicht der Argumentation und der argumentativen Kommunikation (vgl. 156 ff.).4
4.
Der gemeinsame Auftrag der Glaubenden und das Amt der Einheit
Seine Lehre vom Glauben in den Bestimmungsmomenten von fides historica, assensus und fiducia etc. hat Pannenberg neben der Lehre von der christlichen Liebe, der Hoffnung und der Gottesherrschaft unter der Überschrift „Die fundamentalen Heilswirkungen des Geistes im einzelnen Christen“ thematisiert, um im Anschluss daran zu zeigen, „wie die Gemeinschaft der Kirche im Verhältnis zu ihren Gliedern im gottesdienstlichen Leben der Gemeinde zur Darstellung 4 Zusammenfassend hierzu und zu den Gehalten der Systematischen Theologie Pannenbergs insgesamt: vgl. G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein Einführender Bericht, Göttingen 2003, 19 ff. Zum Problem der Gewährleistung der Identität und Kontinuität der christlichen Wahrheit durch die Zeiten, deren Verbürgung er weder dem kirchlichen Amt noch den Gemeinden zuerkennt, vgl. W. Pannenberg, Bleiben in der Wahrheit als Thema reformatischer Theologie, in: ders./Th. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis. II. Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption, Freiburg i.Br./Göttingen 1995 (Dialog der Kirchen 9), 122– 134.
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kommt“ (155). Vorausgegangen waren die erwähnten Erörterungen zur Vermittlung der Gemeinschaft der Glaubenden durch das gemeinsame Bekenntnis (vgl. 129 ff.) sowie zur Frage, „wie sich die Vermittlung der individuellen Beziehung zu Jesus durch die Kirche zur Unmittelbarkeit des einzelnen zu Jesus Christus im Akt des Glaubens und Bekennens verhält“ (142). Pannenberg beantwortete sie mit dem Hinweis, dass die Generierung eines Verhältnisses individueller Unmittelbarkeit zum Grund des Glaubens geradezu das Ziel jeder kirchlichen Glaubensvermittlung sein müsse. Zwar sei besagte Unmittelbarkeit keine vermittlungslose, sondern eine vermittelte und daher selbst auf Vermittlung angelegt; aber sie höre deshalb nicht auf, unmittelbar zu sein, so unveräußerlich Sozialität zur Individualität des Glaubens hinzugehöre. Es bestätigt sich der Grundsatz ekklesiologischer Geltungsgleichheit von Individualität und Sozialität, vermittelter Unmittelbarkeit und Unmittelbarkeitsvermittlung etc., in dessen Kontext Pannenberg dann auch die „reformatorische These vom allgemeinen Priestertum der Glaubenden“ (145) einführt. Mit ihr habe die Beschreibung der „Unmittelbarkeit des Glaubenden zu Christus und zu Gott“ (ebd.) ihre „klassische Gestalt“ (ebd.) gefunden. Mag die Begründung der Theorie vom Priestertum aller getauften Gläubigen durch einzelne dicta probantia wie 1. Petr 2, 9 oder Stellen aus der Apokalypse des Johannes problematisch sein, aufs Ganze gesehen werde sie durch den biblischen Befund bestätigt5, wie man auch katholischerseits nicht leugne: „Durch das Zweite Vatikanische Konzil ist dem Gedanken eines allgemeinen Priestertums der Glaubenden eine späte Anerkennung als Bestandteil auch der katholischen Lehre zuteil geworden.“ (147) Aus gutem Grund: In der Geistgemeinschaft der Kirche stehen Individualität und Sozialität in einem gegenseitigen Begründungsverhältnis; die Freiheit der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott und die Bindung an die kirchliche Gemeinschaft und ihre Tradition der Glaubensvermittlung lassen sich nicht trennen. Gilt die Lehre vom allgemeinen beziehungsweise gemeinsamen Priestertum als ausgemacht, kommt in amtstheologischer Hinsicht alles darauf an, die spezifische Differenz möglichst begriffsscharf zu bestimmen, durch welche sich das Amt aller getauften Glaubenden von demjenigen unterscheidet, das durch Ordination oder eine ordinationsanaloge besondere Beauftragung vermittelt wird. 5 In seiner Monographie „Allgemeines Priestertum. Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament“ hat V. Gäckle gezeigt, „dass sich nur einzelne Aspekte des Begriffs (sc. allgemeines Priestertum) von den Texten aus 1Petr 2,4–10 und Apk 1,6; 5,10 und 20,6 ableiten lassen, das theologie- und kirchengeschichtlich relevant gewordene Theologumenon jedoch insgesamt wenig mit diesen Texten und ntl. Priestermetaphern zu tun hat und sachlich von anderen ntl. Zusammenhängen her begründet werden muss“ (V. Gäckle, Allgemeines Priestertum. Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament, Tübingen 2014, 593).
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Pannenberg nimmt sich dieser Frage in einem ersten Teil (vgl. 406 ff.) des Abschnitts über das kirchliche Leitungsamt als Zeichen und Werkzeug der Einheit der Kirche im 13. Kapitel seiner Systematischen Theologie (vgl. 404 ff.) an. Besagter Teil ist mit der Überschrift „Der gemeinsame Auftrag der Glaubenden und das Amt der Einheit“ versehen. Es folgen zwei weitere Teile zu „Ordination und apostolische Amtsfolge“ (vgl. 428 ff.) sowie über „Die Einheit der Kirche und die Stufung ihres Leitungsamtes“ (vgl. 441 ff.). Sie handeln von kanonischem Vollzug, von Wirkung und möglicher Sakramentalität der Ordination sowie von den Gliederungsformen des ordinationsgebundenen Amtes einschließlich der Frage nach einem Dienst an der Einheit der Gesamtchristenheit. Zwischengeschaltet ist ein Abschnitt über die Wesensattribute der Kirche im Verhältnis zu den notae ecclesiae, ferner zum Häresiebegriff, anhand dessen Pannenberg erneut die „Einigung über den Inhalt des Evangeliums“ (447) zur entscheidenden Voraussetzung von Kirchengemeinschaft und kirchlicher Einheit erklärt. Was Irrlehre und orthodoxer Glaube sei, lasse sich nicht autoritativ dekretieren, sondern nur durch sachorientierte, um Konsensbildung bemühte Kommunikation klären. Nicht jede Abweichung von der herrschenden Lehre müsse als häretisch beurteilt werden. Zu bedenken sei, dass es ohne momentane Heterodoxie „keine Fortschritte im Glaubensverständnis“ (451) und damit keine lebendige Orthodoxie gebe (vgl. 451 Anm. 959). Dieser Grundsatz sei nachgerade vom kirchlichen Leitungsamt zu beachten, wenn es als Zeichen und Werkzeug der Einheit der Kirche wirksam werden wolle. Um einen angemessenen Begriff vom kirchlichen Dienstamt der Einheit zu entwickeln, ist nach Pannenberg von der Berufung aller getauften Glaubenden und der gemeinsamen Teilhabe der ganzen Gemeinde am Priestertum Christi auszugehen. Ohne diesen basalen Bezug können die Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes und seine spezifische Berufung nicht verstanden werden. Die entscheidende Frage bleibt somit diejenige nach der spezifischen Differenz, durch die sich das Amt der Ordinierten von demjenigen der Nichtordinierten unterscheidet. Pannenberg nähert sich einer Lösung der amtstheologischen Grundaufgabe dadurch, dass er unangemessene Bestimmungen des Verhältnisses der rite vocati bzw. vocatae6 und der nichtordinierten Teilhaber am Priestertum Christi ausscheidet. Abgelehnt wird zum einen die Annahme, das 6 Zur Pannenbergs Haltung zur Frauenordination vgl. 425 f.; er hält ihre Einführung zwar nicht für zwingend geboten, aber doch für sachlich insofern berechtigt, als keine dogmatischen Gründe gegen sie sprächen: „Der Berufung von Frauen in kirchliche Leitungsämter sollte kein grundsätzliches Hindernis entgegenstehen. Daß eine Frau im Gottesdienst anstelle Jesu Christi (in persona Christi) handelt, braucht nicht als anstößig zu erscheinen, wenn man bedenkt, daß sie nicht nur den irdischen Mann Jesus von Nazareth, sondern den erhöhten Christus repräsentiert, in dessen ‚Leib‘ der Gegensatz der Geschlechter wie auch die Gegensätze der sozialen Stellung, der Volkszugehörigkeit oder der Rasse aufgehoben sind.“ (426)
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ordinationsgebundene Amt der Kirche sei lediglich eine Funktion des jeweiligen Gemeindewillens, dessen Delegation es sich verdanke. Abzulehnen sei zum anderen aber auch eine Verhältnisbestimmung, welche die Gnadenstandparität aller getauften Gläubigen leugne und ihre Teilhabe am Priestertum Christi mindere; die Relevanz der Ordination und die eigentümliche Bedeutung des Berufs, den diese begründe, bestehe weder in einer graduellen Steigerung der Taufgnade noch in der Vermittlung eines Status exklusiver Christusrepräsentanz oder einer Monopolstellung authentischer Wahrnehmung der christlichen Wahrheit im Sinne amtlicher Identitäts- und Kontinuitätsgarantie. Das Verhältnis von ordinationsgebundenem Amt und jenem Priestertum, an dem alle getauften Gläubigen teilhaben, ist dergestalt zu bestimmen, dass beide wechselseitig sich bedingen und erfordern. Nicht so, als ob die Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes die Allgemeinheit des gemeinsamen Priestertums einschränken bzw. die Allgemeinheit des Priestertums die Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes überflüssig machen würde: der wahre Sachverhalt stellt sich vielmehr so dar, dass das besondere Amt der Kirche, welches durch Ordination vermittelt wird, seinem Wesen und seiner Eigenart nach ganz im Dienste der Realisierung des Priestertums aller getauften Gläubigen steht, so wie denn auch umgekehrt die Verwirklichung des gemeinsamen Priestertums des besonderen Dienstes des ordinationsgebundenen Amtes notwendig bedarf. Damit im Prozess der auf je besondere Weise statthabenden Verwirklichung der gemeinsamen Priesterschaft aller getauften Glaubenden die Einheit und Allgemeinheit dieser Priesterschaft7 nicht verlorengehe, ist von Gott ein besonderes, durch Ordination – also nach Maßgabe entsprechend geregelter Ordnung – 7 Die Allgemeinheit des allgemeinen Priestertums ist nicht gleichzusetzen mit einer Summe getaufter Glaubenden oder gar mit einer Summe von Gliedern einzelner Gemeinden oder Kirchentümer, sondern mit dem ekklesiologischen Wesensattribut der Katholizität zu assoziieren, dem konstitutiv dasjenige der Einheit beigeordnet ist, welches ebenfalls jede bloß numerische Fassung transzendiert. Wichtige Beiträge Pannenbergs zum Thema enthält u. a. der Band „Ethik und Ekklesiologie“ – etwa in Gestalt eines am 16. Januar 1974 am Mainzer Institut für europäische Geschichte gehaltenen Vortrag zu den Intentionen des sog. Ämtermemorandums ökumenischer Universitätsinstitute vom Frühjahr 1973 (vgl. Arbeitsgemeinschaft ökumenischer Universitätsinstitute: Reform und Anerkennung kirchlicher Ämter, München/Mainz 1973). Das Ämtermemorandum wollte „keine inhaltlich vollständige Lehre vom Amt vortragen“ (W. Pannenberg, Ökumenisches Amtsverständnis. Zu den Intentionen des Memorandums ökumenischer Universitätsinstitute vom Frühjahr 1973, in: ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 268–285, hier: 271), sondern sich „ganz auf die Frage nach der Besonderheit des ordinierten Amtes überhaupt“ (ebd.) beschränken. Als der Schlüssel zum Verständnis der spezifischen Besonderheit des Amtes wird unter Verweis auf These 12 des Memorandums die öffentliche Wahrnehmung der „Sache“ bezeichnet, die allen getauften Gläubigen gemeinsam ist und ihre Einheit bestimmt (vgl. 273 sowie 277 ff., wo die ekklesiologische Bedeutung des Öffentlichkeitsbegriffs näher gekennzeichnet wird. Über „Die Bedeutung der Eschatologie für das Verständnis der Apostolizität und der Katholizität der Kirche“ vgl. den gleichnamigen Beitrag, a. a. O. 219–240.).
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vermitteltes Amt eingesetzt, dessen die Einheit seines Begriffs begründende Spezifizität im besonderen Dienst an der Einheit und Katholizität der Kirche besteht. Mit den Stichwörtern „publice docere“ (vgl. CA XIV), geordnete Institutionalität der Evangeliumsverkündigung, Leitung des öffentlichen Gottesdienstes und namentlich der eucharistischen Feier sind notwendige Implikate dieser Wesensbestimmung umschrieben. Um die entwickelte amtstheologische Skizze an Pannenbergs Text der „Systematischen Theologie“8 auswahlsweise zu belegen: Die spezifische Differenz zwischen dem kirchlichen Leitungsamt, welches durch Ordination begründet wird, und dem Auftrag, an dem alle getauften Gläubigen in Teilhabe am Priestertum Christi gemeinsam partizipieren, besteht im Wesentlichen im geordneten Dienst an der „Einheit der Gemeinde im Glauben des Evangeliums bei aller Verschiedenheit ihrer Glieder und der ihnen vom Geist verliehenen Gaben“ (423). Dieser amtliche Dienst ist von Gott selbst geordnet und nicht lediglich eine Funktion des jeweiligen Gemeindewillens. Obwohl das kirchliche Dienstamt „nicht unmittelbar auf eine Anordnung der Apostel in Verbindung mit einer Einsetzung von Nachfolgern“ (414) zurückgeführt und auch der Sache nach nicht direkt mit dem Apostelamt verglichen werden kann, hat es doch auf seine Weise Anteil an der apostolischen Aufgabe, durch Lehre und Leitung der Einheit der Gemeinde im Evangelium zu 8 Die in seinen „Thesen zur Theologie der Kirche“ skizzierte spezielle Ekklesiologie Pannenbergs umfasst fünf Teile: Zunächst wird die Gemeinschaft mit Christus als Grund der Kirche, dann das Wirken des Geistes in den einzelnen Christen und die institutionelle Vermittlung der Gemeinschaft mit Christus dargestellt. Auf die Lehre von den Gnadenmitteln folgt die Ämterlehre, die unter dem Titel „Die personale Vermittlung der Gemeinschaft mit Christus und die Einheit der Kirche“ abgehandelt wird. Ein Kapitel über den Beitrag der Kirche zur Bildung des Menschen beschließt die Thesenreihe, die eigentlich „durch eine theologische Würdigung und Kritik der Geschichte der Kirche unter dem Gesichtspunkt des göttlichen Erwählungshandels“ (Vorwort) hätte ergänzt werden sollen. Begründet werden Existenz und Eigenart kirchlicher Ämter „durch die Sendung der Kirche als eschatologische Gemeinde in der Welt und an die Welt“ (W. Pannenberg, Thesen zur Theologie der Kirche, 42 [These 107]), wobei ihre Anzahl und Besonderheit nach Pannenberg variabel blieben, da das „Vorhandensein bestimmter Ämter … kein Kriterium für die Treue der Kirche zu ihrer Sendung“ (a. a. O., 43 [These 110]) sei. Dies gelte insbesondere für das erst im zweiten Jahrhundert im Sinne des monarchischen Episkopats zum Zwecke der Identitätswahrung der christlichen Überlieferung ausgebildete Bischofsamt. Die Gestalt der kirchlichen Ämter sei „nach den jeweiligen Erfordernissen von den Aufgaben der christlichen Sendung her einzurichten und nötigenfalls zu ändern“ (ebd.). Grundlegend sei stets der Dienst an der Einheit (vgl. a. a. O., 44 [These 113]), „nicht im Sinne einer bürokratisch hergestellten Uniformität, sondern durch gegenseitige Anerkennung verschiedener Ausprägungen christlichen Lebens und Denkens aus dem Geist der Liebe“ (a. a. O., 45 [These 119]). Den Anspruch auf Verbürgung der Einheit der Kirche bzw. der Identität ihres Wahrheitszeugnisses durch das episkopale Amt lehnt Pannenberg entschieden ab, nicht aber dessen einheitsrepräsentative Funktion, die er auch in Bezug auf einen möglichen universalkirchlichen Einheitsdienst des Petrus- bzw. Papstamtes anerkennt (vgl. 45 ff.; Thesen 120 ff.). Vom „kirchenleitende(n) Amt als Darstellung der Einheit der Christen“ handeln eigens die Thesen 126–128, a. a. O., 47 ff.
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dienen, wobei den nachapostolischen Amtsträgern das apostolische Evangelium als Norm ihres Dienstes vorgegeben ist. Lehre und Leitungsfunktion bilden dabei eine differenzierte Einheit, sofern mit dem Auftrag zu amtlicher Lehre des Evangeliums ein Leitungsauftrag verbunden ist, der hinwiederum seinerseits primär in Form der doctrina evangelii wahrgenommen wird. Der Unterschied zwischen dem Amt der Lehre sowie der Leitung und dem Dienstauftrag, an dem alle getauften Christen teilhaben, besteht nicht in einem spezifischen Gnadenstatus der Träger des Lehr- und Leitungsamtes. Durch die Ordination in dieses Amt wird die Gnadenstandsparität aller Getauften nicht aufgehoben. Auch begründet die Ordination keinen Exklusivanspruch auf Christusrepräsentanz. Es ist vielmehr der durch Lehre und Leitung publice geübte Evangeliumsdienst an der Einheit aller, die gemeinsam am Priestertum Christi teilhaben, welcher die Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes der Kirche im Unterschied zum allgemeinen Priestertum begründet. „Die auf die Einheit der Gesamtkirche bezogene, sie am Ort einer gottesdienstlichen Gemeinde repräsentierende ‚Öffentlichkeit‘ des kirchlichen Predigt- und Leitungsamtes bedeutet, daß der Amtsträger nicht im eigenen Namen, sondern in der Autorität des der ganzen Christenheit gegebenen Auftrags zur Lehre des Evangeliums handelt und also im Auftrag Jesu Christi selbst: In diesem spezifischen Sinne handeln die öffentlichen Amtsträger der Kirche in persona Christi und zugleich im Namen der ganzen Christenheit und des ihr durch Sendung der Apostel gegebenen Auftrags.“ (424 f.) Alle Einzelstränge der amtstheologischen Argumentation Pannenbergs bewegen sich auf dieser Grundlinie. So wird, um einige Beispiele zu geben, zustimmend registriert, dass im Zweiten Vatikanischen Konzil mit dem Geltendmachen des Unterschieds zwischen gemeinsamem Priestertum und ordinationsgebundenem Amt „nicht mehr die Behauptung eines von den übrigen Christen verschiedenen geistlichen Gnadenstandes verbunden (wird), durch den der Priester Christus näher stünde als die übrigen Christen“ (408). Entsprechend sei der mehrdeutige Hierarchiebegriff, der auch als Herrschaftsordnung aufgefasst werden könne, vom Dienstgedanken her einer „korrigierenden Näherbestimmung“ (408 Anm. 829) zuzuführen. Was aber die in Lumen Gentium 10 begegnende Wendung betreffe, der zufolge sich das kirchliche Dienstamt nicht nur dem Wesen, sondern auch Grade nach (essentia et non gradu tantum) unterscheide, so sei an ihr „nur das Wort tantum“ (423), nicht die auch von reformatorischer Amtstheologie zu teilende Behauptung einer Wesensdifferenz problematisch: „(D)enn um einen Unterschied des Grades zum allgemeinen Priestertum der Glaubenden kann es sich beim kirchlichen Dienstamt überhaupt nicht handeln, weil der Amtsträger als solcher nicht in höherem Grade als andere Christen an der Gnade Christi teilhat.“ (Ebd. unter Verweis auf 409 Anm. 830)
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Dass zwischen Priestertum aller und ordinationsgebundenem Amt ein Wesensunterschied waltet, hat nach Pannenberg auch unter den Bedingungen reformatorischer Theologie zu gelten.9 Expliziert wird dies unter anderem am Beispiel Luthers, der das besondere Amt keineswegs zu einer bloßen Funktion des Priestertums aller, aus dem es abzuleiten sei, sondern zu einer iure divino gesetzten Größe erklärt habe (vgl. 410 ff.). Entsprechendes sei in Bezug auf die Wittenberger Bekenntnistradition zu behaupten (vgl. 416 ff.). Dass das kirchliche Amt gemäß gemäß CA V und CA XIV „wie alle Kirchenordnung nur nach menschlichem Recht“ (417) bestehe, treffe nicht zu. Die Ordnung des Ordos und des ordinationsgebundenen Amtes sei nicht lediglich pragmatischer Natur, sondern von Gott gefügt.10 Der kirchenamtliche Dienst an der Einheit gehört Pannenberg zufolge wesensmäßig zum Kirchesein der Kirche, ohne Prinzip und Fundament der unitas ecclesiae zu sein. Grund kirchlicher Einheit ist allein Jesus Christus und der Geist
9 „Daß der Unterschied des ordinierten Amts vom gemeinsamen Priestertum aller Getauften ein Unterschied der Art und nicht des Grades der Teilhabe an Christi Priestertum ist, sollte“, wie es im ersten Abschnitt (Begriff und Einsetzung) des Amtsteils (Zu den konfessionellen Gegensätzen in der Lehre vom geistlichen Amt) von „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ in direktem Anklang an Formulierungen Pannenbergs und mit entsprechenden Begründungen heißt, „auch von den reformatorischen Kirchen bejaht werden können“ (K. Lehmann/W. Pannenberg [Hg.], Lehrverurteilung – kirchentrennend? I. Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg i.Br./Göttingen 1986 [Dialog der Kirche 4], 157 f.). Grundsätzlich habe Folgendes gelten: „Das geistliche Amt der Kirche wird sowohl in der römisch-katholischen Kirche als auch in den lutherischen und reformierten Kirchen vom gemeinsamen Priestertum der Getauften unterschieden. Alle Christen haben durch die Taufe an Christi Priestertum teil und bilden zusammen das eine priesterliche Gottesvolk (GAK 13). Aber nicht allen ist der Dienst der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und der Sakramentsverwaltung in der Kirche übertragen, der eine besondere Verantwortung für die Einheit und darum für die Leitung der Gemeinde einschließt (GAK 17). Dafür ist nach lutherischer und reformierter ebenso wie nach römischkatholischer Auffassung eine ‚ordentliche Berufung‘ (CA 14: BSLK 69, cf. Apol 14: BSLK 296 f.) bzw. eine ‚Ordination‘ (LG 20) erforderlich, unbeschadet unterschiedlicher Interpretationen dieses Sachverhalts.“ (A. a. O., 157) Zur Replik des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, deren wissenschaftlicher Leiter evangelischerseits Pannenberg jahrelang war, auf kirchliche Stellungnahmen zum Amtsteil von „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ vgl. W. Pannenberg/Th. Schneider (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? IV. Antworten auf kirchliche Stellungsnahmen, Freiburg i.Br./Göttingen 1994 (Dialog der Kirche 8), 87–99. Vgl. ferner Pannenbergs „Bemerkungen zu den Ausführungen über das kirchliche Amt im Gutachten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen über die Studie ‚Lehrverurteilungen – kirchentrennend?‘ in: ders., BSTh III, 119–123. 10 Zu den innerlutherischen Differenzen in der Frage des kirchlichen Amtes und zu seiner eigenen Stellungnahme hierzu vgl. W. Pannenberg, Das kirchliche Amt in der Sicht der lutherischen Lehre, in: ders. (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? III. Materialien zur Lehre von den Sakramenten und dem kirchlichen Amt, Freiburg i.Br./Göttingen 1990, 286–305, bes. 289 ff.
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des in ihm offenbaren Gottes. In und durch die göttliche Dreieinigkeit sind die Verschiedenen dazu bestimmt, als Verschiedene eins zu sein. Dieser Einigkeit haben die Träger ordinationsgebundenen Amtes in besonderer Weise zu dienen und zwar vor allem dadurch, dass sie als zur öffentlichen Evangeliumsverkündingung in Wort und Sakrament ordnungsgemäß Berufene für die Allgemeinheit des Priestertums aller Sorge tragen und in Abwehr jeder unstatthaften Separation der Einheit der Vielen dienen. Ohne die Vielen und ihre Pluralität ist der Dienst an der Einheit nicht denkbar. Ihn in einem reduktionistisch-monistischen Sinne verstehen zu wollen, wäre daher abwegig und das umso mehr, als der ordinierte Amtsträger in seiner individuellen Einzelheit nur einer von vielen und keineswegs einer allein ist. Als Diener kirchlicher Einheit fungiert er nicht anders denn in der ordentlichen Wahrnehmung des Amtes, zu dem er durch seine Ordination ordnungsgemäß berufen ist, mithin als Amtsperson, deren Personalität von individueller Subjektivität zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Es bedarf des in der Ordination zugesagten Amtscharismas, um diese Unterscheidung zu vollziehen. Eine Schlüsselstellung für das Verständnis der Amtstheologie kommt in Pannenbergs Argumentation dem Öffentlichkeitsbegriff zu, der ja auch in CA XIV begegnet, wenn gesagt wird, dass in der Kirche niemand „publice“ lehren und die Sakramente verwalten solle, er sei denn ordnungsgemäß berufen. Vom Publizitätsgedanken her, mit dem das spezifische ministerium docendi evangelium et porrigendi sacramenta (vgl. CA V) begründet wird, erschließt sich im Grunde alles, was über das Leitungsamt als Zeichen und Werkzeug der Einheit der Kirche zu sagen ist. Dies setzt allerdings voraus, dass man Publizität respektive Öffentlichkeit dezidiert theologisch denkt. Der kirchliche Öffentlichkeitsdienst, zu dem durch die Ordination beauftragt wird, hat Dienst an der Allgemeinheit aller Gläubigen, an der Katholizität der Kirche und damit an jener Einheit zu sein, wie sie in der Offenbarung Jesu Christi kraft des göttlichen Geistes publik geworden ist: Dienst an der Einheit in, mit und unter dem einen Gott, der auf die gesamte Christenheit an allen Orten und zu allen Zeiten, ja zuletzt auf die ganze Menschheit und alle Welt ausgerichtet ist. Die Träger des kirchlichen Amtes sind durch die Ordination dazu bestellt, den der ganzen Kirche übertragenen Auftrag im Namen Jesu Christi öffentlich wahrzunehmen. Um der Einigkeit der vielen Christen willen ist innerhalb der Kirche ein Amt gesetzt, welches die in Christus begründete Einheit der Kirche in besonderer, nämlich öffentlicher Weise zeichenhaft zu repräsentieren hat. Die amtsspezifische Form der Christusrepräsentanz ist ebenso von daher zu begreifen wie alle sonstigen Prärogativen des ordinationsgebundenen Amtes (vgl. im Einzelnen 423 ff.). Während die Allgemeinheit des Priestertums, das allen getauften Glaubenden gemeinsam ist, sich je besonders, also in bestimmten
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individuellen und sozialen Rollen realisiert, ist das besondere Amt der Kirche in seiner Besonderheit darauf ausgerichtet, für die Gemeinschaft aller und damit für die Katholizität und Einheit der Kirche in Wahrnehmung des durch ordnungsmäße Berufung übertragenen Leitungsamtes einzutreten, was insbesondere in Form öffentlicher Evangeliumsverkündung und Sakramentsverwaltung geschieht. Als Dienstamt der Katholizität und Einheit der Kirche steht das ordinationsgebundene Amt zugleich im besonderen Dienst der Heiligkeit und der Apostolizität der Kirche. Zum Grund der Heiligkeit der communio sanctorum wurde bereits das Nötige gesagt; was aber die Apostolizität der Kirche im Allgemeinen und das kirchliche Amt in der Nachfolge der Apostel im Besonderen betrifft, so sei abschließend nur noch einmal vermerkt, dass nach Pannenberg der Gehalt des apostolischen Zeugnisses, als dessen publizierte Urkunde die Heilige Schrift Neuen und Alten Testaments zu gelten hat, das Kriterium der Autorität der Apostel und von denjenigen ist, die in ihrer Nachfolge stehen. Dabei ist hinzuzufügen, dass „Autorität und Gestalt des kirchlichen Leitungsamtes als Bischofsamt nicht unmittelbar auf eine Anordnung der Apostel in Verbindung mit einer Einsetzung von Nachfolgern begründet werden können“ (413 f.). Die Entwicklung des altkirchlichen Bischofsamts sei historisch offensichtlich weitaus komplexer verlaufen, als man es sich in dogmatischer Perspektive gelegentlich vorstelle. Doch wie immer es sich historisch verhalten haben mag: Systematisch entscheidend ist Pannenberg zufolge, dass sich jede Gestalt kirchlichen Amtes in der Nachfolge der Apostel am Gehalt der apostolischen Botschaft zu orientieren hat, die nicht etwa durch die unmittelbare Autorität der Apostel, sondern durch die Vollmacht dessen beglaubigt wird, der die Apostel zu öffentlichen Zeugen seines Lebens, seines Sterbens und seines Auferstehens berufen hat. Der neutestamentliche Apostelbegriff ist komplex und nicht einlinig zu erfassen. Dies schließt nicht aus, dass grundlegende Momente seiner Bestimmung eindeutig zu Tage treten. Dazu gehört neben dem Moment spezifischer Sendung die von allen Osterzeugen geteilte Gewissheit, dass der auferstandene Gekreuzigte sich in, mit und durch das Zeugnis seiner Zeugen selbst lebendig und überzeugend zu bezeugen vermag und zwar bis in Ewigkeit. Zwischen Zeugen und Bezeugtem muss daher um der Wahrheit des Zeugnisses willen unterschieden werden und zwar so, dass jede Gleichsetzung ausgeschlossen ist. Ein Alleinvertretungsanspruch auf Christusrepräsentanz ist mit der Apostolizität der apostolischen Amtes ebenso wenig kompatibel wie der Anspruch auf alleinige Authentizitätsgewährleistung christlicher Wahrheit.
Peter Walter
Gliederungsformen des ordinationsgebundenen Amtes bei Wolfhart Pannenberg Bemerkungen eines römisch-katholischen Theologen in ökumenischer Absicht
Unlängst hörte ich einen Vortrag aus evangelischem Mund über das evangelische Amtsverständnis, in dem das katholische keine Rolle spielte, höchstens manchmal als nicht direkt genannte, aber doch mitintendierte negative Folie. Bei vorsichtigen Nachfragen stellte sich heraus, dass hier schlichte Unkenntnis herrschte. Wie vollkommen anders ist dies bei Wolfhart Pannenberg. Auch er entwirft im 3. Band seiner Systematischen Theologie1 ein evangelisches Amtsverständnis, aber er tut es durchgehend mit Bezug auf das katholische und gelegentlich auch das orthodoxe. Was Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik der Catechismus Romanus ist für Pannenberg das 2. Vaticanum vor dem Hintergrund des Tridentinums. Pannenberg zitiert in unserem Fall die Kirchenkonstitution Lumen gentium, wo er Übereinstimmungen oder Konvergenzen feststellt, mit Zustimmung, dort, wo er Kritikpunkte sieht, mit Entschiedenheit und Takt. Ebenso würdigt er die Neubestimmung des Weiheverständnisses durch Papst Pius XII. im Jahre 1947 als das, was sie ist, ein ökumenisch bahnbrechendes Ereignis (430), auch wenn dies wahrscheinlich gar nicht so intendiert war. Wenn ich recht sehe, ist die am häufigsten zitierte Aussage des 2. Vaticanums, diejenige in der Offenbarungskonstitution Dei Verbum, dass das kirchliche Lehramt nicht über dem Wort Gottes stehe, sondern diesem diene (415, 459 u. ö.). Im Folgenden geht es nicht um Pannenbergs Amtsverständnis insgesamt, das Gunther Wenz ebenso umfassend wie gründlich vorgestellt hat, sondern um einen Aspekt, nämlich darum, welche Gliederung Pannenberg beim ordinationsgebundenen Amt sieht. Ich betrachte seine Ausführungen vor meinem römisch-katholischen Hintergrund Nach der Lehre des 2. Vaticanums, wie sie im dritten Kapitel von Lumen gentium entfaltet wird, ist das Weiheamt in die Stufen Episkopat, Presbyterat und Diakonat gegliedert. Dabei macht schon die Überschrift „De constitutione Hierarchica Ecclesiae et in specie de Episcopatu“ klar, welche Akzente das Konzil 1 Vgl. W. Pannenberg, STh, III, Göttingen 1993. Danach wird im Folgenden zitiert mit Angabe der Seitenzahl(en) im fortlaufenden Text.
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setzt. Den Bischöfen und ihrem Zusammenwirken mit dem Bischof von Rom sind zehn Abschnitte, den Presbytern und Diakonen nur jeweils einer gewidmet. Der verstorbene Kirchenhistoriker und langjährige Rektor des Priesterkollegs am Camposanto Teutonico in Rom Erwin Gatz pflegte von den Priestern als den Verlierern des 2. Vaticanums zu sprechen.2 Für den Konzilshistoriker Massimo Faggioli handelt es sich freilich nur um einen Pyrrhussieg der Bischöfe, die eigentlichen Gewinner, vor allem unter dem Pontifikat Johannes Pauls II., sind für ihn die „movimenti“.3
1.
Diakonat als Randphänomen
Für Pannenberg stehen Priester bzw. Pfarrer und Bischöfe im Vordergrund, die Diakone kommen nur in historischen Rückblicken vor (413 [NT], 420 f. [Calvin], 453 f. [Alte Kirche und 2. Vaticanum]), an einer einzigen Stelle wird er etwas expliziter im Hinblick auf den heutigen Diakonat, dem er nur in einer Vertreterfunktion für den Gemeindeleiter eine Zukunft gibt (455 f.). Auf die Wiedereinführung des Ständigen Diakonats in der römisch-katholischen Kirche durch das 2. Vaticanum (LG 29) geht er nicht ein, was bei einem ökumenisch so sensiblen Autor verwundert. Beim Blick in das Sachregister der Theologischen Realenzyklopädie (s.v. Diakon, Diakonat) zeigt sich, dass die Vernachlässigung des Diakonenamtes (keineswegs der Diakonie!) kein Spezifikum der Pannenbergschen Amtstheologie ist, sondern einer evangelischen Tendenz zu entsprechen scheint. Da er die Diakone als Vertreter der Gemeindeleiter sieht, hätte Pannenberg dem Motuproprio Omnium in mentem wohl kein Verständnis entgegengebracht, mit dem Papst Benedikt XVI. 2009 die Diakone von den in persona Christi capitis agierenden Bischöfen und Priestern abgesetzt hat.4 Die Formulierung in persona Christi capitis5 findet sich bei Pannenberg nicht, wohl 2 Vgl. E. Gatz, Entwicklungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: ders., Der Diözesanklerus (Geschichte des kirchlichen Lebens 4), Freiburg i.Br. u. a. 1995, 218–249, hier 221. 3 Vgl. M. Faggioli, Il Vescovo e il Concilio. Modello episcopale e aggiornamento al Vaticano II (Testi e ricerche di scienze religiose n.s. 36), Bologna 2005. 4 Benedictus XVI, Litterae Apostolicae motu proprio datae Omnium in mentem (16. Oktober 2009), in: http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/la/apost_letters/documents/hf_ben-xvi_ apl_20091026_codex-iuris-canonici.html. Deutsche Übersetzung in: http://w2.vatican.va/con tent/benedict-xvi/de/apost_letters/documents/hf_ben-xvi_apl_20091026_codex-iuris-canoni ci.html (letzter Zugriff 20. 10. 2016). 5 Diese Formulierung scheint jüngeren, wenn nicht gar jüngsten Datums zu sein. Die online verfügbare Library of Latin Texts (letzter Zugriff 20. 10. 2016) bietet für den amtstheologischen Gebrauch nur eine ähnlich lautende Aussage aus dem Dekret des 2. Vaticanums über den Dienst und das Leben der Presbyter Presbyterorum ordinis, 6: „Munus Christi capitis et pastoris pro sua parte auctoritatis exercentes presbyteri nomine episcopi familiam dei ut fraternitatem in unum animatam colligunt et per Christum in spiritu ad deum patrem adducunt.“
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aber ökumenisch höchst aufschlussreiche Ausführungen zum Handeln des ordinierten Amtsträgers in persona Christi sowohl, was das Leitungs- als auch, was das Heiligungs- wie das Verkündigungsamt angeht. Gerade weil der Amtsträger hier „nicht nur den irdischen Mann Jesus von Nazareth, sondern den erhöhten Christus repräsentiert, in dessen ‚Leib‘ der Gegensatz der Geschlechter wie auch die Gegensätze der sozialen Stellung, der Volkszugehörigkeit oder der Rasse aufgehoben sind“ (426 mit Bezug auf Gal 3,28), ist ein Ausschluss der Frau vom ordinierten Amt für Pannenberg nicht zu begründen. Auch wenn sie bei Pannenberg wenig zur gegenwärtigen Bedeutung des Diakonenamtes findet, seien der von Papst Franziskus eingesetzten Kommission zur Frage eines Frauendiakonats gerade diese ebenso knappen wie luziden Ausführungen Pannenbergs zum Ausschluss der Frauen vom ordinierten Amt (425 f.) empfohlen.
2.
Gliederungsprinzip: Amt als Leitungsamt auf unterschiedlichen Ebenen
Amt ist für Pannenberg im Anschluss an CA 14 „das durch ‚ordentliche Berufung‘ übertragene Amt der öffentlichen Lehre und Sakramentsverwaltung in der Kirche“ (417) und als solches, auch wenn das in der lutherischen Tradition weniger thematisiert wird als in der reformierten (420), Leitungsamt oder, wie Pannenberg mit Bezug auf Calvin bevorzugt sagt, Hirtenamt (420–427). Solches Leitungs- oder Hirtenamt wird auf verschiedenen Ebenen ausgeübt, auf lokaler, regionaler und universaler Ebene, und steht auf diesen unterschiedlichen Ebenen für die Einheit der Kirche (452–469). Auf lokaler Ebene repräsentiert „der Pfarrer aufgrund seiner Ordination die von Jesus Christus ausgehende Sendung seiner ganzen Kirche und so deren Einheit […], um diese Ortsgemeinde durch die Verkündigung und Lehre des Evangeliums in der Gemeinschaft der einen, heiligen, apostolischen und katholischen Kirche zu bewahren“ (452). Auf übergemeindlicher Ebene wird diese Aufgabe sowohl durch Synoden als auch „durch eigens dazu bestellte Amtsträger“ (453) wahrgenommen. Während in der Alten Kirche die überregionale Leitungsaufgabe auch von den Gemeindeleitern wahrgenommen wurde, die sich zu Synoden versammelten, hat sich seit dem vierten Jahrhundert die örtliche und die regionale Leitungsaufgabe in die Ämter der Presbyter und der Bischöfe auseinanderdifferenziert. Dabei sind, wie Pannenberg hervorhebt, „nur Ebene und Umfang der Zuständigkeit (Jurisdiktion) verschieden. Es handelt sich um Sonst finden sich nur zwei Passagen aus dem Psalmenkommentar des Petrus Lombardus, in denen es jedoch um prosopoietische Exegese geht (Petrus Lombardus, In Ps 17,54: Patrologia Latina 191, 204; In Ps 131,5: ebd., 1176).
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unterschiedliche Ausprägungen des einen Leitungsamtes“ (453). Dies gilt für ihn nicht nur für die lutherische Reformation, wobei er auf CA 28 und Apol 14 verweist, sondern auch für die römisch-katholische Kirche. Die hierarchische Überordnung der Bischöfe über die Presbyter, von der das Tridentinum spricht (DH 1768, 1776), steht dem nach Pannenbergs präziser Beobachtung nicht entgegen; denn es handelt sich, wie noch zu zeigen sein wird, um eine jurisdiktionelle. Das 2. Vaticanum spricht ausdrücklich „von dem einen Dienstamt (ministerium ecclesiasticum) […], das in verschiedenen Stufen (diversis ordinibus) ausgeübt werde, die ‚von alters her‘ durch die Bezeichnungen Bischöfe, Presbyter, Diakone gekennzeichnet werden (LG III, 28)“ (ebd.).
3.
Die historische Begründung und deren ökumenische Bedeutung
Die so skizzierte Ausdifferenzierung des kirchlichen Leitungsamtes dokumentiert Pannenberg anschließend in einem zweieinhalb Seiten in Petit-Satz umfassenden historischen Exkurs vom Neuen Testament bis zur Lima-Erklärung, der wie alle theologie- und dogmengeschichtlichen Überblicke der Systematischen Theologie in meisterlicher Kürze die notwendigen Belege zum Verständnis der systematisch-theologischen Ausführungen bietet (453–456). Obwohl hier alles Notwendige zur Einheit und Unterschiedenheit von Presbyterat und Episkopat gesagt ist, möchte ich einiges noch vertiefen. Meine Auseinandersetzung mit dieser Thematik im Rahmen der Ämterstudie des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen – an der Wolfhart Pannenberg noch beteiligt war – hat mich die Amtsthematik noch einmal neu verstehen gelehrt, und ich habe den Eindruck, dass dieses Verständnis weder in der evangelischen noch in meiner eigenen Kirche Allgemeingut ist. In der römischkatholischen Kirche haben die Bischöfe kein Interesse daran, ihr Amt an das Priesteramt zurückzubinden, und in der evangelischen besteht wenig Neigung, das übergemeindliche Leitungsamt oder gar ein Bischofsamt zu profilieren. Um der Ökumene willen wäre beides unabdingbar. Die Aussagen des Hieronymus von der Identität von Presbytern und Episkopen, auf die sich die Reformatoren beriefen (438, 454 f.), sind keineswegs patristische Fündlein, die man als persönliche Meinung eines Einzelnen vernachlässigen könnte.6 Sie haben bis in die Neuzeit, ja bis in die unmittelbare
6 Zum Folgenden vgl. P. Walter, Das Verhältnis von Episkopat und Presbyterat von der Alten Kirche bis zum Reformationsjahrhundert, in: Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge 2, hg. von D. Sattler und G. Wenz (Dialog der Kirchen 13), Freiburg i.Br./Göttingen 2006, 39–96;
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Gegenwart die kanonistische und theologische Bestimmung des Verhältnisses von Priester- und Bischofsamt geprägt. Sie haben dies getan zusammen mit der sakramententheologischen Auffassung, das sacramentum ordinis ausschließlich von seinem Bezug zur Eucharistie her zu interpretieren. Danach sind alle niederen und höheren Weihen bis zur Priesterweihe Teil des Ordo, weil alle diese Weihestufen bei der Eucharistiefeier eine Aufgabe haben. Die Bischofsweihe gehört nicht dazu, weil der Bischof keine andere Eucharistie feiern kann als der einfache Priester. Dazu kam der Grundsatz, dass jeder das weitergeben kann, was er selbst besitzt, also auch der Priester sein Amt. Wenn man die sich im Hochmittelalter ausprägende Unterscheidung zwischen Weihe- und Jurisdiktionsvollmacht voraussetzt, dann verfügt der Bischof über eine höhere Jurisdiktionsvollmacht, aber über keine Weihevollmacht, die über diejenige des Presbyters hinausginge. Von daher war es konsequent, wenn im Spätmittelalter Priester Priester ordinierten. Bekannt sind einzelne Fälle von Äbten, die Mönche ihrer Klöster zu Priestern weihten. Sie taten dies aufgrund einer päpstlichen Bevollmächtigung, die ihnen erlaubte, was den Bischöfen kraft Amtes gestattet war. Diese Äbte waren, obwohl sie bischöfliche Insignien wie Mitra und Stab gebrauchten, keine Bischöfe, sondern einfache Priester. Die vielen Bischöfe im Alten Reich, die in Spätmittelalter und Neuzeit keine Priester waren, konnten auch mit päpstlicher Vollmacht nicht weihen und haben um eine solche auch weder nachgesucht noch diese erhalten, weil ihnen die grundsätzliche Voraussetzung, die Priesterweihe, fehlte. Theologisch und kanonistisch wurde die Bischofsweihe als eine jurisdiktionelle Freisetzung der jedem Priester eigenen Fähigkeit betrachtet, sein Amt weiterzugeben. Dass dies im Lauf der Zeit und auf Dauer theologisch nicht befriedigen konnte, erklärt die Absicht des 2. Vaticanums Weihe- und Jurisdiktionsvollmacht stärker zusammenzubinden und sie in der Weihe grundzulegen. Darauf werde ich noch eingehen. Der Blick auf die mittelalterliche Amtstheologie ist ökumenisch deshalb von einzigartiger Bedeutung, weil er die Entwicklung der frühen Reformation in dieser Frage verstehen hilft. Als nämlich auf evangelischer Seite Pastoren Pastoren ordinierten, haben sie, wenn auch ohne päpstliche Erlaubnis, getan, was sakramententheologisch möglich war. Das Tridentinum hat den hierarchischen Unterschied zwischen Diakon, Priester und Bischof zwar mit einer göttlichen Anordnung (divina ordinatione) begründet (DH 1776), aber eben nicht mit der Weihevollmacht der letzteren und damit auch keineswegs die Einheit des Amtes gesprengt. Römische Katholiken, die die Aussage des 2. Vaticanums von der Bischofsweihe als plenitudo sacramenti ordinis (LG 21) internalisiert haben, stehen in der Gefahr diese zu verabsolutieren, so als habe das Konzil damit im jetzt auch in P. Walter, Syngrammata. Gesammelte Schriften zur Systematischen Theologie, T. Dietrich u. a. (Hg.), Freiburg i.Br. u. a. 2015, 337–386.
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Gegensatz zur vorangehenden Tradition, die das Priesteramt als Gipfel des Weiheamtes sah, nun das Bischofsamt dazu erklärt und die anderen beiden Weihegrade diesem gegenüber herabgestuft. Man kann die Aussagen des Konzils oberflächlich so interpretieren. Wenn man jedoch die rechtstheologische Untersuchung von Hubert Müller zum Verhältnis von Episkopat und Presbyterat nicht nur nach der Lehre des 2. Vatikanischen Konzils, sondern insgesamt7 heranzieht, auf die auch Pannenberg sich stützt, kommt man zu einem wesentlich differenzierteren Urteil. Nach Müller nimmt das 2. Vaticanum lediglich einen Perspektivwechsel vor. Hat die kanonistische und theologische Tradition zuvor das Priesteramt als Paradigma des Amtes betrachtet und dem Bischofsamt lediglich einen Zuwachs an jurisdiktioneller Vollmacht zugesprochen, so sieht das 2. Vaticanum das Bischofsamt als das mit den nötigen Vollmachten, sei es der Weihe, sei es der Jurisdiktion ausgestattete Amt, an dem Presbyterat und Diakonat in unterschiedlicher Weise Anteil haben. Vereinfacht gesagt, geht der Blick nicht mehr von unten nach oben, sondern umgekehrt. Auf diese Weise hat das Konzil versucht, Weihe- und Jurisdiktionsvollmacht sakramententheologisch zu begründen. Der Stachel im Fleisch und der Grund für die schrittweise Auflösung dieser Verbindung liegt im Papstamt, das jurisdiktionell das höchste Amt in der römisch-katholischen Kirche ist, ohne jedoch sakramental anders als durch die Bischofsweihe des zum Papst Gewählten grundgelegt zu sein. Wenn man diese Entwicklung ernst nimmt, gebietet sich eine neue Wertung des evangelischen Amtsverständnisses, in der geschichtlichen Entwicklung und heute. Als die Reformatoren Pastoren ordinierten, ohne selbst Bischöfe zu sein, haben sie etwas getan, was nach damaliger Auffassung grundsätzlich möglich war und praktiziert wurde. Der Unterschied zu den die Priesterweihe erteilenden Äbten besteht darin, dass die Reformatoren zu ihrem Handeln nicht durch eine jurisdiktionelle Erlaubnis des Papstes ermächtigt waren und um eine solche natürlich auch nicht nachgesucht haben. Sakramententheologisch verfügten die Äbte aber über keine anderen Voraussetzungen als ein in der katholischen Kirche ordinierter Priester, der evangelisch wurde und als evangelischer Pfarrer einen anderen ordinierte. Auf die Problematik der vielen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bischöfe, die keinerlei Weihe- und andere gottesdienstliche Handlungen vollziehen konnten und dafür Weihbischöfe brauchten, die in dieser Hinsicht mit den evangelischen landesherrlichen Summepiskopen durchaus vergleichbar sind, geht Pannenberg nicht ein. Dadurch würde seiner Argumentation theologisch nichts hinzugefügt, diese würde vielmehr unübersichtlicher. Gleichwohl sollte man diese Parallele nicht ausblenden, etwa, wenn man den landesherrlichen Summepiskopat von katholischer Seite als problematisch hin7 Vgl. H. Müller, Zum Verhältnis zwischen Episkopat und Presbyterat im Zweiten Vatikanischen Konzil. Eine rechtstheologische Untersuchung (Wiener Beiträge zur Theologie 35), Wien 1971.
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stellt. Es gibt also nicht nur darin Parallelen, dass sowohl in der spätmittelalterlichen Kirche als auch in den entstehenden reformatorischen Kirchen Priester andere zu Priestern ordinierten, sondern auch darin, dass Leute, die über keine Bischofsweihe verfügten, Teilfunktionen der bischöflichen Leitung wahrnahmen, die diese nicht voraussetzen. Diese Parallelen wurden im 16. Jahrhundert als solche nicht gewürdigt, sie waren für die katholische Seite vielmehr Ansporn, etwas zu ändern. Der wohl bekannteste Kontroverstheologe, der spätere Kardinal Roberto Bellarmino, hat sich für die Sakramentalität der Bischofsweihe stark gemacht, weil die römischkatholische Kirche damit ein schlagendes Argument habe zur Verteidigung ihrer Überzeugung von einem Vorrang des Bischofs gegenüber dem Priester nach göttlichem Recht sowohl im Hinblick auf die Weihe- wie die Jurisdiktionsgewalt, die sie ohne dieses Argument gegenüber der häretischen Bestreitung kaum verteidigen könne.8
4.
Ordination als Sakrament
Wolfhart Pannenberg hat keine Probleme, die Ordination als Sakrament zu verstehen. Das negative Urteil Luthers bezieht sich für ihn lediglich auf die damals übliche Form der Ordination, nämlich durch Überreichung der für die jeweilige Aufgabe notwendigen Geräte, für den Priester also Kelch und Patene, wie sie das Konzil von Florenz 1439 in seinem Armenierdekret vorschrieb (DH 1326). Darin wurde nach scholastischer Terminologie die materia des Weihesakraments gesehen, die zusammen mit den zugehörigen Deuteworten, der forma, den eigentlichen Ordinationsakt bildet, während die in der Ordinationsliturgie gleichwohl beibehaltene, aber im Armenierdekret nicht einmal erwähnte (!) Handauflegung lediglich als Vorbereitungsakt verstanden wurde. Für Pannenberg ist „das harte Urteil Luthers über diese Weise der Ordination, ein solches Sakrament kenne das Neue Testament nicht, völlig berechtigt. Über eine durch Handauflegung und Gebet vollzogene Ordinationshandlung hätte Luther das angesichts der Aussagen der Pastoralbriefe (bes. 1.Tim 4,14) allerdings nicht sagen können“ (429). Pius XII. hat 1947 mit der Festlegung der Handauflegung als eigentliches Zeichen der Priesterweihe (DH 3859),9 wie Pannenberg feststellt, „auch für die ökumenische Erörterung der Ordination eine neue Lage geschaf8 „[…] quia si Episcopatus sit Sacramentum a presbyteratu distinctum, facile erit defendere Episcopum iure diuino maiorem esse presbytero, tam ordine quam iurisdictione; quod hoc tempore omnes haeretici negant: alioqui aegre id defendi poterit.“ Robertus Bellarminus, Disputationum […] de controversiis Christianae fidei adversus huius temporis haereticos tomus secundus, Ingolstadt 1588, 1213. 9 Vgl. dazu P. Walter, Syngrammata, a. a. O., 324–326.
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fen“ (430). Um das Verständnis der Ordination als Sakrament auch evangelischerseits akzeptabel zu machen, muss freilich die Einschränkung des Sakramentsbegriffs auf die Vermittlung der Rechtfertigung aufgebrochen werden. Pannenberg unternimmt dies, indem er die unterschiedliche Bezogenheit auf das Christusmysterium von Taufe und Abendmahl einer- und Ehe- und Ordinationssakrament andererseits herausarbeitet. Nur die ersteren, traditionellerweise als sacramenta maiora bezeichnet, verbinden die Empfänger mit Christus selbst, Ehe und Ordination befähigen zu bestimmten Aufgaben (432 f.).
5.
Papstamt
Von der inneren Logik her, die Pannenbergs Darstellung leitet, nämlich die wesentliche Aufgabe des ordinationsgebundenen Amtes in dessen Dienst an der Einheit der Kirche zu sehen, ist es nur konsequent, wenn Pannenberg nach der lokalen und regionalen auch die universale Ebene in den Blick nimmt und nach einem „Dienst an der Einheit der Gesamtchristenheit“ (457) fragt. Dies entspricht dem mittelalterlichen kanonistischen Verständnis des Ordo, das diesen nicht von seinem Bezug zur Eucharistie, sondern in seinem jurisdiktionellen, kirchenleitenden Charakter her sieht. Aus dieser Perspektive gehören die Bischöfe, Erzbischöfe und der Papst durchaus zum Ordo. Die 13 Seiten, auf denen Pannenberg, was Aufgaben und Möglichkeiten eines Petrusamtes angeht, insgesamt zu einem positiven Ergebnis kommt, sind erneut ein Beispiel für die ihn auszeichnende Fähigkeit, eine komplexe Thematik ebenso klar strukturiert wie differenziert zu behandeln (457–469). Das zeigt sich etwa, wenn er die antigallikanische Aussage der dogmatischen Konstitution Pastor aeternus des 1. Vaticanums interpretiert, päpstliche Definitionen seien aus sich (ex sese), nicht aber wegen des hinzukommenden kirchlichen Konsenses unabänderlich (DH 3074). Auf der einen Seite konzediert er, dass die Wahrheit eines Satzes nicht durch Konsensbildung zustande komme, sondern aus sich heraus erkennbar sein müsse. Aber sie könne dies nur, wenn der Wahrheitsanspruch überprüft werden kann: „Ein Satz kann daher nur dann als Behauptung ernst genommen werden, wenn er seiner Form nach die Frage zuläßt, ob er wahr ist oder nicht“ (462). Diese Überprüfung geschieht in der Form der Rezeption lehramtlicher Entscheidungen, auf welches in den letzten Jahren vieldiskutiertes Problem Pannenberg ein Hauptaugenmerk seiner Überlegungen richtet (462–466). „Bleibt die Rezeption auf Dauer aus, so wird damit unweigerlich der Anspruch des Lehramtes, mit einer bestimmten Äußerung das Glaubensbewußtsein der Gesamtkirche ausgesprochen zu haben, zweifelhaft“ (466). Deutliche Worte findet Pannenberg für den „Anspruch des römischen Papstes auf einen universalen Jurisdiktionsprimat in der Christenheit“, der für ihn „mit schmerzlichen Erinnerungen an eine lange
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Geschichte der Verwechslung von Leitungsdienst und Herrschaftszwang durch Inhaber des römischen Stuhls verbunden“ (466) ist. In der von Joseph Ratzinger empfohlenen „Entflechtung der Funktionen des römischen Bischofs als Primas der Gesamtkirche und als Patriarch des Abendlandes“ (ebd.) sieht er einen Weg, nach dem der Papst seine Jurisdiktionsgewalt über die lateinische Kirche behalten, seinen Dienst als Primas aber in anderer Weise ausüben könne, nämlich weniger durch Wahrnehmung „der Amtsgewalt (potestas) als der Überzeugungskraft (auctoritas)“ (467). Spannend wäre, zu erfahren, ob und wie Pannenberg die Streichung des Titels „Patriarch des Abendlandes“ aus der päpstlichen Titulatur durch denselben Joseph Ratzinger kurz nach dessen Amtsantritt als Benedikt XVI. interpretiert hat. Nach der Logik der Pannenbergschen Ausführungen zum Thema besteht mit dem Wegfall dieser Funktion die Gefahr, dass der Papst Jurisdiktion nicht nur über die lateinische Kirche, sondern über die Gesamtkirche beansprucht. Dann würde das „zentralstaatliche Bild“, das die römisch-katholische Kirche bis zum 2. Vaticanum abgab und, wie Pannenberg feststellt, „in letzter Zeit wieder zunehmend bietet“ (466 Anm. 1008), auf die Gesamtkirche ausgedehnt. Er hingegen hält das vom frühen Ratzinger entworfene Modell „eines künftigen autokephalen Status der reformatorischen Kirchen im Rahmen einer Erneuerung universalkirchlicher Einheit“ (ebd.) für wegweisend. Uneingeschränkt zustimmungsfähig ist der letzte Satz Pannenbergs zu dieser Frage: „Das Gewicht seiner Autorität in der Gesamtchristenheit wird wachsen, je mehr der Papst als Anwalt der Versöhnung zwischen den heute noch getrennten Kirchen redet und handelt und je mehr er dabei die besonderen Nöte der unterdrückten und verfolgten Teile der Christenheit dem Bewußtsein der Gesamtchristenheit nahebringt“ (ebd.).
6.
Bewertung aus römisch-katholischer Perspektive
Die Ausführungen Pannenbergs zu den Gliederungsformen des ordinationsgebundenen Amtes sind aus meiner Sicht höchst zutreffend. Wenn Pannenberg das ordinationsgebundene Amt als Gemeindeleitung und als solche als Dienst an der Einheit versteht, trifft er sich mit den klassischen Positionen, wie sie von römisch-katholischen Theologen unmittelbar nach dem 2. Vaticanum und in dessen Fortführung entwickelt wurden. Walter Kasper und Karl Lehmann haben dies in Veröffentlichungen aus den Jahren 1969 und 1970 vorgeschlagen.10 Wenn 10 Vgl. W. Kasper, Neue Akzente im dogmatischen Verständnis des priesterlichen Dienstes, in: Concilium 5 (1969), 164–170; K. Lehmann, Zur Theologie der Gemeindeleitung, in: Pastoraltheologische Informationen 1970, hg. von der Leitung der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen, Mainz 1970, 2–31. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung
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man Gemeindeleitung nicht einfach als Koordinierung von Charismen in einer Gruppe Gleichgesinnter versteht, was sie sicher auch ist, sondern umfassender und zutiefst als Repräsentation des einen Hirten Jesus Christus in und gegenüber seiner Kirche, zu der diese Repräsentanten nach katholischer Lehre durch sakramentale Ordination berufen und gesendet sein müssen, dann dürfte es kaum Einwände gegen diesen Ansatz zum theologischen Verständnis des Amtspriestertums geben. Die Deutsche Bischofskonferenz ist in ihrem Schreiben über den priesterlichen Dienst von 1992 denn auch dieser Linie gefolgt.11 Gegenwärtig kann man allerdings nicht übersehen, dass dieser Ansatz angesichts des rasant fortschreitenden Priestermangels auf Probleme stößt. Diese sind freilich nicht amtstheologischer, dogmatischer Art im engeren Sinne. Wenn man der glasklaren Argumentation von Wolfhart Pannenberg folgt, dann sind Personen, die die genannten Funktionen wahrnehmen, zu ordinieren. Die römisch-katholische Kirche dagegen ersinnt immer neue Hilfskonstruktionen wie Gemeindeleitung nach c. 517 § 2,12 vergrößert die Seelsorgebezirke oder verlagert immer mehr Funktionen des ordinationsgebundenen Amtes an Nichtordinierte. All dies geschieht, weil die Verantwortlichen nicht an die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen, was Lebensstand und Geschlecht der zu Ordinierenden angeht, zu rühren wagen. Aber dies alles steht auf einem andern Blatt. An der grundsätzlichen Kompatibilität der Pannenbergschen Amtstheologie mit der römischkatholischen ändert sich dadurch nichts. Da, wo Pannenberg Kritik anmeldet, etwa was die Wahrnehmung des Jurisdiktionsprimats angeht, werden ihm auch die meisten gegenwärtigen römisch-katholischen Theologinnen und Theologen folgen.
von Karl Lehmann, Das dogmatische Problem des theologischen Ansatzes zum Verständnis des Amtspriestertums, in: F. Henrich (Hg.), Existenzprobleme des Priesters (Münchener Akademieschriften 50), München 1969, 121–175. 11 Vgl. Schreiben der deutschen Bischöfe über den priesterlichen Dienst, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Die deutschen Bischöfe 49), Bonn 1992, 18–22. 12 „Wenn der Diözesanbischof wegen Priestermangels glaubt, einen Diakon oder eine andere Person, die nicht die Priesterweihe empfangen hat, oder eine Gemeinschaft von Personen an der Wahrnehmung der Seelsorgsaufgaben einer Pfarrei beteiligen zu müssen, hat er einen Priester zu bestimmen, der, mit den Vollmachten und Befugnissen eines Pfarrers ausgestattet, die Seelsorge leitet [moderetur].“ Codex Iuris Canonici c. 217 § 2: Codex des kanonischen Rechtes. Deutsch-lateinische Ausgabe, Kevelaer ²1984, 237.
Peter Neuner
Zur Geschichte der Münchner Institute für Fundamentaltheologie und Ökumene1
In den Würdigungen Wolfhart Pannenbergs wird nicht allein dessen ökumenisches Wirken hervorgehoben, er wird häufig auch als Gründer des Ökumenischen Instituts an der Universität München bezeichnet. Diese Aussage bedarf insofern einer gewissen Differenzierung, als ein Ökumenisches Institut bereits vor der Gründung der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität München bestand. Dessen Anfänge sind untrennbar mit dem Namen Heinrich Fries verbunden2. 1958 war Fries von Tübingen an die Katholisch-Theologische Fakultät in München berufen worden. Seine Antrittsvorlesung vom 19. November dieses Jahres stand unter dem Motto „Der Beitrag der Theologie zur Una Sancta“. Theologie, so führte er aus, hat dafür zu sorgen, „dass die Frage der Una Sancta als Aufgabe nicht zur Ruhe kommt, einschläft oder verschüttet wird. Die Theologie hat für die notwendige Wachheit des Geistes und die heilsame, schöpferische Unruhe des Herzens zu sorgen. Die Theologie soll der erklärte Gegner der Gleichgültigkeit, der falschen Sicherheit und der daraus geborenen Überheblichkeit sein“3. Das waren im November 1958 noch ganz ungewohnte Töne, das Pontifikat Papst Pius XII. lag noch keine zwei Monate zurück, seine Enzyklika Humani generis von 1950 mit der Verurteilung der Nouvelle Théologie und sein Verbot, dass katholische Theologen auch nur als Beobachter zu den Vollversammlungen des Ökumenischen Rats der Kirchen in Amsterdam 1948 und in Evanston 1954 hätten reisen dürfen, belasteten das Klima zwischen den christlichen Kirchen noch schwer. Die Öffnung der katholischen Kirche zur Ökumene erfolgte im II. Vatikanischen Konzil und sie hatte ganz unmittelbare Konsequenzen für die theologische Arbeit. Am 29. April 1963 teilte Heinrich Fries dem damaligen Rektor der Universität München mit, dass er ”einen Ruf an den ordentlichen Lehrstuhl für 1 Persönliche Erinnerungen des Verfassers an die ersten 50 Jahre der Institute. 2 Siehe hierzu auch meinen Beitrag: Fünfzig Jahre Institut für Ökumenische Theologie an der Universität München, in: Münchener Theologische Zeitschrift 65 (2014) 262–269. 3 Heinrich Fries, Der Beitrag der Theologie zur Una Sancta, München 1959, 26.
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Ökumenische Theologie und an das Ökumenische Institut der Katholisch Theologischen Fakultät der Universität Münster erhalten habe“. Und er fügte hinzu: „Da dieser Lehrstuhl innerhalb der Kath.-Theologischen Fakultäten Deutschlands erstmalig und einmalig ist und in seiner Zielsetzung und Aufgabenbestimmung ebenso bedeutsam wie interessant ist, wird mir eine Entscheidung nicht leicht fallen“4. In seiner Abschiedsvorlesung am 26. Juli 79 erinnerte sich Fries an die Reaktion des Ministeriums: „Als ich dies dem damaligen Kultusministerium mitteilte – es herrschte die durch das Konzil hervorgerufene Hochstimmung -, sagte der zuständige Referent: Ein Institut für Ökumene können Sie auch in München bekommen, Sie brauchen deshalb nicht nach Münster zu gehen, – denn – so wörtlich: ‚Ökumene muß überall sein‘“5. Die Theologische Fakultät machte sich dieses Angebot zu Eigen. Der damalige Dekan Michael Schmaus teilte dem Rektor mit, „daß die Theologische Fakultät großes Gewicht auf das Verbleiben des Herrn Kollegen Fries in der Theologischen Fakultät der Universität München legt. Die Fakultät bittet daher den Wunsch des Herrn Kollegen Fries auf Errichtung eines Instituts für Oekumenische Theologie und Ernennung zum Vorstand des Instituts zu erfüllen. In der letzten Fakultätssitzung im vergangenen SS wurde der ganze Fragenkomplex eingehend besprochen und einhellig der Wunsch des Herrn Koll. Fries gebilligt. Ganz abgesehen davon, daß durch die Errichtung des Instituts für Oekumenische Theologie es Herrn Kollegen Fries erleichtert wird in München zu bleiben, liegt die Errichtung eines solchen Instituts auch im Entwicklungszuge der heutigen Theologie. In dem Bereich der evangelischen Theologie bestehen schon mehrere analoge Institute“6. Fries blieb in München und er hat es nicht bereut. Daraufhin schrieb das Kultusministerium am 15. Dezember 63 an das Rektorat der LMU, die Errichtung des Instituts sei „für das Haushaltsjahr 1965 geplant, es sei denn, dass Professor Dr. Fries die Errichtung zu einem früheren Zeitpunkt beantragt“7. Tatsächlich wurde die Gründung vorgezogen, so dass das Ministerium verfügte: „In der theologischen Fakultät der Universität München wird mit Wirkung vom 1. 3. 1964 ein Institut für Ökumenische Theologie errichtet. Zum Vorstand wird, ohne Anspruch auf eine besondere Vergütung, Prof. Dr. Heinrich Fries bestellt“8. Zunächst war diese neue Einrichtung in den Räumen des Seminars für Funda4 Archiv LMU, E-II 4579. Mein besonderer Dank gilt den Damen und Herrn des Universitätsarchivs. 5 H. Fries, Mein theologischer Weg, in: ders, Dienst am Glauben, München 1981, 152–168, hier 155. 6 Schreiben vom 6. 9. 1963 im Archiv LMU E-II-4579. 7 Archiv der LMU, a. a. O. 8 Archiv der LMU, a. a. O.
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mentaltheologie untergebracht, ab dem WS 1965/66 wurde eine angemietete Wohnung im Rückgebäude des Hauses Amalienstrasse 46 zur Verfügung gestellt. Der Zugang durch Garageneinfahrt und über den Hinterhof war zunächst abschreckend, die Räume selbst aber für die Arbeit in Sitzungen und für die Bibliothek bestens geeignet. Johannes Brosseder wurde Wissenschaftlicher Assistent, ihm vor allem oblag der Aufbau der Bibliothek. An Mitteln zum Erwerb der Bücher fehlte es damals nicht. Im WS 1964/65 begann der Lehrbetrieb mit einem Seminar zum Thema „Was ist ökumenische Theologie?“ Ich erinnere mich persönlich noch lebhaft an die Seminarsitzungen, an denen Otto Hermann Pesch, Johann Finsterhölzl, Paul Eisenkopf, Alfred Glässer, Johannes Brosseder, Karl-Ernst Apfelbacher teilnahmen. Karl Lehmann, Leonardo Boff, Jürgen Werbick, Harald Wagner stießen in späteren Semestern dazu. Im ersten Semester war ich der jüngste und der einzige Teilnehmer noch ohne theologischen Abschluss. Unter einem Mangel litt das Ökumenische Institut jedoch: Wir hatten keinen evangelischen Partner, konnten Ökumene nur aus katholischer Sicht betreiben. Die Evangelisch-Theologische Fakultät an der LMU war noch nicht gegründet, die nächstgelegene evangelische Fakultät war Erlangen und mit ihr nahm man Kontakt auf. Aus einem Besuch wurde eine Arbeitsgemeinschaft, die unter der Leitung von Heinrich Fries und Wilfried Joest stand, dem evangelischen Systematiker in Erlangen und seinem damaligen Assistenten Joachim Track. Jedes Semester fand eine zweitägige gemeinsame Konferenz statt, im Sommer in Erlangen, im Winter in München. Impulsreferate haben wir aus eigenen Reihen bestritten, aber auch Gäste wurden eingeladen: Karl Rahner, Wolfhart Pannenberg, Eberhard Jüngel, Dorothee Sölle, Hans Küng, Johann Baptist Metz, Otto Herman Pesch referierten bei diesen Treffen, um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Einen entscheidenden Einschnitt für die ökumenische Arbeit bedeutete die Gründung der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität München. Für das SS 1968 führt das Vorlesungsverzeichnis die Errichtung eines Seminars für Systematische Theologie an, bereits für das folgende WS ist innerhalb dieses Seminars zusätzlich das Ökumenische Institut mit Professor Wolfhart Pannenberg als Direktor ausgewiesen. In beiden theologischen Fakultäten bestand damit ein ökumenisches Institut. Mit Pannenberg kam ein für das ökumenische Gespräch geradezu idealer Partner an die Universität München. Fries und Pannenberg kannten sich aus der gemeinsamen Arbeit im Jäger-Stählin-Kreis und sie hatten Vertrauen zu einander. Mit Pannenberg kamen Schüler aus der evangelischen Theologie: Reinhard Leuze, Helmut Edelmann, Gunther Wenz, Friedrich Wilhelm Graf, Horst Renz. Bei der ersten gemeinsamen Seminarveranstaltung im WS 1969/70 wollte man zunächst einmal klare Fronten schaffen, den Raum abgrenzen, innerhalb dessen eine Verständigung eventuell als möglich
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erschien, aber auch die Grenzen aufzeigen, wo man sich nicht einigen kann. Um diesen Rahmen klar zu umreißen wählten Fries und Pannenberg als Thema „Das Amt in der Kirche“. Es war eine aufregende Erfahrung, dass in den traditionell kontroversen Punkten in der Lehre vom kirchlichen Amt, wie Sakramentalität, Sukzession, Dreigliederung, Charakter indelebilis, gemeinsames Priestertum aller Getauften jeweils die zu diesen Punkten kritische Seite immer wieder feststellen konnte, dass sie, vielleicht unter anderer Terminologie, durchaus Ähnliches lehrt und in ihrer Praxis festhält. Kontroverse um Kontroverse zerrann uns gleichsam unter den Fingern oder schien zumindest ihren kirchentrennenden Charakter zu verlieren. Ein gemeinsam formulierter Text wurde in der Zeitschrift Una Sancta publiziert und dieser Aufsatz hat Aufmerksamkeit geweckt.9 Nicht zuletzt dieser Aufsatz wurde zum Anlass für eine Veröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft Ökumenischer Universitätsinstitute in Deutschland10. In dieser haben die ökumenischen Institute der evangelischen Fakultäten in Heidelberg (Schlink-Slenczka), Bochum (Wolf) und München (Pannenberg), sowie jene der katholischen Fakultäten in Münster (Lengsfeld), Tübingen (Küng) und München (Fries) gemeinsame Thesen zur Amtsfrage formuliert. Die als „Ämtermemorandum“ bekannt gewordene Publikation entstand in mehrjähriger, oft mühsamer Arbeit, zu der sich die sehr unterschiedlichen Charaktere zusammenraufen mussten. An seinen zweifellos pointierten Thesen haben sich heftige Kontroversen entzündet, sogar Häresievorwürfe wurden erhoben, vor allem im katholischen Raum11. Es wurde der Vorwurf laut, man habe die spezifisch katholischen Aspekte von Amt und Priestertum in Frage gestellt und damit mit der Tradition der Kirche gebrochen. Auch aus der Evangelischen Kirche gab es Widerspruch: Das Amt werde hier in einer Weise betont, die unvereinbar sei mit der Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften. Gegen die Tendenzen zu einer Ordinationsverweigerung, die sich in diesem Kontext zeigten, stellte Pannenberg klar, dass Amt und Ordination sehr wohl in den reformatorischen Bekenntnisschriften begründet sind und keineswegs ein nur katholisches Spezifikum darstellen. Rückblickend kann man heute feststellen, dass die Ökumeniker in ihren Formulierungen inzwischen zumeist vorsichtiger und zurückhaltender argumentieren, eher werbend als konstatierend oder anklagend, mehr überzeugend als fordernd. Das hat man jedenfalls aus diesen Auseinandersetzungen gelernt: Wenn es nicht gelingt, wenigstens die diskussionsbereiten Bischöfe und ihr Vertrauen zu gewinnen, sitzen die Theologen mit ihren theoretischen Argu9 Veröffentlicht in: Una Sancta 25 (1970), 107–115. 10 Arbeitsgemeinschaft ökumenischer Universitätsinstitute, Reform und Anerkennung kirchlicher Ämter, München/Mainz 1973. 11 Aus der Sicht von Heinrich Fries ist die Diskussion um das Ämtermemorandum dargestellt in: H. Fries, Mut zur Ökumene, Ostfildern 2011, 12 f. sowie 131–174.
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menten am kürzeren Hebel und haben kaum Chancen, die kirchliche Öffentlichkeit zu überzeugen. Es ist nicht nur eine theologische sondern auch eine empirische Aussage: Ohne das Amt oder gegen seine Vertreter wird eine Einigung der Christenheit nicht möglich sein. In der Sache aber haben sich die im Ämtermemorandum vorgetragenen Thesen bewährt. Und auch die Darstellung der Krisenphänomene, die im Memorandum einen verhältnismäßig breiten Raum einnahm, entstammte nicht einer ”Verelendungsstrategie”, wie damals vorgeworfen wurde, sondern erweist sich heute, also mehr als vierzig Jahre später, als ein durchaus realistischer Blick auf die damals bereits absehbaren Entwicklungen und damit auf die Zukunft des Amtes im Leben und Aufbau der Gemeinden. Noch eine weitere Veröffentlichung konnte diese Arbeitsgemeinschaft vorlegen, sie behandelte das „Papsttum als ökumenische Frage“12. Hier wurden nicht mehr gemeinsame Thesen formuliert, sondern die Vorträge und die Diskussionsbeiträge eines Symposiums vom Oktober 1977 in Heidelberg dokumentiert. Größere Reaktionen sind auf diesen Vorstoß hin nicht erfolgt. Die Zusammenarbeit erlahmte. In den beiden ökumenischen Instituten der Universität München ging die Arbeit dagegen ungebrochen weiter. In den regelmäßig stattfindenden gemeinsamen Seminarveranstaltungen entstanden mehrere Texte, die veröffentlicht wurden: Zum Eucharistieverständnis und zur Frage einer Gemeinschaft im Herrenmahl13, zu den Zielvorstellungen der Ökumene, zu Einheit und Vielfalt der Kirche.14 Nachdem diese gemeinsame Arbeit weithin selbstverständlich geworden war, beantragten 1974 beide theologischen Fakultäten, im Zuge einer Strukturreform der Universität, in der die Lehrstühle der Fakultäten in Institute zusammengefasst wurden, ein gemeinsames Ökumenisches Institut zu errichten. Heinrich Fries stellte den Antrag, „die Fakultät möge einer Zusammenlegung der ‚Ökumenischen Institute‘ beider theologischer Fakultäten zustimmen und sich für die Errichtung eines ‚Ökumenischen Instituts‘ als zentraler wissenschaftlicher Einrichtung“ einsetzen15. Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Ein entsprechender Beschluss wurde auf Antrag von Wolfhart Pannenberg auch in der evangelisch-theologischen Fakultät gefasst. Konkrete Pläne für die Zusammenarbeit in diesem Institut sowie für die Anbindung an die beiden theologischen Fakultäten waren bereits ausgearbeitet16. Doch die kirchenamtliche Zustimmung, die für die Errichtung eines theologischen Instituts nötig gewesen wäre, 12 Arbeitsgemeinschaft ökumenischer Universitätsinstitute, Papsttum als ökumenische Frage, München/Mainz 1979. 13 Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft, in: Una Sancta 26 (1971), 68–88. 14 Einheit und Vielfalt des Glaubens, in: Una Sancta 28 (1973), 123–144. 15 Protokoll der Sitzung im Archiv der LMU K-III-4. 16 Archiv der LMU, a. a. O.
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wurde katholischerseits verweigert. Offensichtlich herrschte die Sorge, eine derartige Gründung könne den Einstieg in eine überkonfessionelle Theologie bedeuten. Vor allem aber: Der ökumenische Elan, der das Konzil und die unmittelbar darauf folgenden Jahre bestimmt hatte, war offensichtlich erlahmt. Die letztlich paradoxe Situation, dass an der Universität München nebeneinander ein katholisches und ein evangelisches Institut für Ökumene bestanden, blieb damit unverändert. Im Zuge der Strukturreform der Universität wurde die Ökumene in der katholischen Fakultät in das Institut für Fundamentaltheologie integriert und seit dem SS 1975 als ”Institut für Fundamentaltheologie und ökumenische Theologie” geführt17. Allerdings hatte das Institut einen eigenen Haushalt und die Mitarbeiterstellen, die bei der Gründung zugesagt worden waren, blieben ihm zugeordnet. An der evangelisch theologischen Fakultät wurde parallel dazu seit dem WS 1978/79 neben dem „Institut für Systematische Theologie“ ein „Institut für Fundamentaltheologie und Ökumene“ ausgewiesen. Durch diese Entwicklung bestand die Gefahr, dass Ökumene ihre institutionelle Eigenständigkeit verlieren könnte und allein als Teilaspekt der Fundamentaltheologie mitgeführt wurde. Die Lehrstühle innerhalb dieser Institute der Evangelisch-Theologischen Fakultät blieben jedoch für „Systematische Theologie“ ausgewiesen, um den Eindruck einer Ausgliederung der Fundamentaltheologie und der Ökumene aus der Systematik zu vermeiden18. Im Rahmen einer neuerlichen Strukturreform der Universität rund zehn Jahre später, bei der die bisherigen Institute in größere Einheiten, zumeist Departments, übergeführt wurden und der Begriff „Institut“ nicht mehr zugelassen war, konnten die gesetzlichen Vorgaben weithin durch terminologische Neuschöpfungen erfüllt werden. Mit der Umbenennung von „Institut“ zu „Forschungsinstitut“ wurde den Vorschriften Genüge getan. Der kontinuierlichen Zusammenarbeit taten alle diese Umbenennungen und Strukturreformen keinen Abbruch. Sie wurde auch nach dem Ausscheiden der Gründungsväter Fries und Pannenberg weitergeführt. 1979 wurde Heinrich Döring Nachfolger von Heinrich Fries. Er brachte vor allem die Thematik der Weltreligionen und der religiösen Erfahrung und damit die sog. „größere Ökumene“ mit ein. Einen gewichtigen Einschnitt bedeutete 1984 die Einrichtung des Lehrstuhls für Orthodoxe Theologie, aus dem in der Folge die „Ausbildungseinrichtung für orthodoxe Theologie“ erwuchs. Prof. Theodor Nikolaou war der erste Inhaber des Lehrstuhls, der im Zuge des Ausbaus der Orthodoxie 2001 als „Lehrstuhl für geschichtliche Theologie und Ökumenik“ umschrieben wurde. Seither bietet sich 17 Ab 2001 ist im Institut für Dogmatik ausgewiesen der Lehrstuhl für Dogmatik und ökumenische Theologie. 18 Persönliche Mitteilung von Prof. Wenz.
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in München die einzigartige Chance, im universitären Bereich Ökumene zu betreiben, getragen von den drei großen christlichen Traditionen: der Orthodoxie, dem Katholizismus und der Reformation. Nach dem Ausscheiden von Professor Pannenberg übernahm 1995 Professor Wenz in bruchloser Kontinuität die ökumenische Arbeit. Bei der Emeritierung von Heinrich Döring beschloss die Katholisch-Theologische Fakultät die Leitung des Ökumenischen Instituts an den Lehrstuhl für Dogmatik zu transferieren, so dass ich seit 2000 bis zu meinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst 2006 dieses Institut leiten durfte. Seither ist in der „Abteilung für Systematische Theologie“ ein „Lehrstuhl für Dogmatik und ökumenische Theologie“ und daneben – in Personaleinheit geleitet – das „Forschungsinstitut für ökumenische Theologie“ ausgewiesen. In der evangelisch-theologischen Fakultät besteht neben der „Abteilung für Systemtische Theologie“ die „Abteilung für Fundamentaltheologie und Ökumene“. Im Rahmen der Sparmaßnahmen, die in immer kürzer werdenden Intervallen über die Universität und auch über die Theologie hereinbrachen, bestand die Gefahr, dass das Ökumenische Forschungsinstitut lediglich noch als Anhang an einen Lehrstuhl verstanden und seine Eigenständigkeit faktisch verlieren würde. Um der Tendenz einer schrittweisen Abwertung der Ökumene in der universitären Theologie zu wehren wurde 2001 auf Antrag der Fakultäten und durch Beschluss des Senats das „Zentrum für ökumenische Forschung“ gegründet. Es ist als Zentraleinrichtung unmittelbar zum Rektor der Universität, steht aber in enger Beziehung zu den theologischen Einrichtungen, die es tragen. Damit wurde weitgehend das realisiert, was 25 Jahre früher mit dem Plan eines gemeinsamen Ökumenischen Instituts nicht geglückt war. Der Begriff „Zentrum“ ist durch das kirchliche Hochschulrecht nicht geschützt und stand damit zur Verwendung frei. Und die Kirchen bekundeten jetzt ihre uneingeschränkte Zustimmung: Kardinal Wetter, Landesbischof Friedrich und Metropolit Augoustinos nahmen an der Eröffnungsveranstaltung am 29. Oktober 2001 teil, trugen Grußworte vor und wünschten eine erfolgreiche gemeinsame Arbeit. Wolfhart Pannenberg hat sich bei dieser Veranstaltung hocherfreut darüber gezeigt, dass die 1974 gescheiterten Bemühungen nun unter anderem Namen doch noch realisiert werden konnten. Die Satzung des Zentrums nennt als Ziele „die Zusammenarbeit in Projekten, die der theologischen Verständigung und der Überwindung von kirchentrennenden Lehrdifferenzen dienen; die Durchführung von gemeinsamen Projekten mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die einen Beitrag zur Annäherung der Kirchen zu leisten vermögen; die Erforschung der theologischen und nicht-theologischen Gründe, die zur gegenseitigen Verwerfung der christlichen Kirchen geführt haben und deren Bedeutung für die Gegenwart; die Unterstützung kirchlicher Gremien, um deren ökumenische Ausrichtung zu fördern; die Zusammenarbeit mit ökumenischen Einrichtungen, wie z. B. den Arbeitsge-
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meinschaften christlicher Kirchen und dem Ökumenischen Rat der Kirchen; die Darstellung ökumenischer Belange in der Öffentlichkeit, z. B. in evangelischen und katholischen Akademien; die Förderung der Zusammenarbeit der theologischen Fakultäten und der Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie an der Universität München, sowie der ökumenischen Ausrichtung der Lehrangebote“19. Diese institutionelle Absicherung fand eine gewichtige Unterstützung durch die Initiative von Herrn Dr. Adly Wahba, einem Christen der koptischen Kirche, der die „Stiftung zu Ehren des Heiligen Athanasius“ ins Leben gerufen hat. Deren Zweck ist, wie es in der Satzung heißt, „die Förderung der Ökumenischen Theologie im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils und der durch den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) repräsentierten Ökumenischen Bewegung“. Aus den Mitteln dieser Stiftung konnten seither mehrere öffentliche Symposien veranstaltet und die vorgetragenen Referate publiziert werden20. Gemeinsame Blockseminare fanden an Orten statt, die für die beteiligten Traditionen von herausragender Bedeutung sind und an denen unmittelbare Erfahrungen des jeweiligen kirchlichen Lebens gesammelt werden konnten. Die Stiftung machte es möglich, den Studierenden eine finanzielle Unterstützung zur Teilnahme an diesen Veranstaltungen zu gewähren. Herr Nikolaou und ich wurden fast zeitgleich in den Ruhestand versetzt, wir können dankbar feststellen, dass die Arbeit durch die Professoren Bertram Stubenrauch und Athanasios Vletsis, zusammen mit Gunther Wenz, weitergeführt wurde und in guten Händen liegt. Mit dem Ausscheiden von Gunther Wenz wurde dessen Lehrstuhl neu umschrieben, er ist nun in der „Abteilung für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumenik“ ausgewiesen. Lehrstuhlinhaber ist Prof. Jörg Lauster. Der Lehrstuhl von Professor Vletsis ist seit 2008 umschrieben „für Systematische Theologie: Dogmatik, Ethik und Ökumenische Theologie“. Durch die jeweils verschiedenen Herausforderungen im Ursprung der ökumenischen Einrichtungen wurde die Ökumene an der Universität München zweifellos kompliziert. Die derzeitige Situation ist nur aus den unterschiedlichen Gegebenheiten bei der Entstehung und den historischen Entwicklungen zu verstehen. Es gibt als Zentraleinrichtung das Zentrum für ökumenische For19 So die Zusammenfassung im Einladungstext zur Gründungsfeier am 29. Oktober 2001. 20 In der Reihe „Beiträge aus dem Zentrum für ökumenische Forschung München“ erschienen die Bände Ekklesiologie und Kirchenverfassung. Die institutionelle Gestalt des episkopalen Dienstes, Münster u. a. 2003; Das Schisma zwischen Ost- und Westkirche, 950 bzw. 800 Jahre nach 1054 und 1204, Münster u. a. 2004; Ökumene zwischen ‚postmoderner Beliebigkeit‘ und ‚Rekonfessionalisierung‘, Münster u. a. 2006. Weitere in dieser Reihe veröffentlichte Bände sind nicht direkt aus gemeinsamen Veranstaltungen des Zentrums, wohl aber aus dessen unmittelbarem Umfeld hervorgegangen.
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schung, es wird primär von den einschlägigen Lehrstühlen der theologischen Fakultäten bzw. der Einheit für orthodoxe Theologie getragen. An der Katholisch-Theologischen Fakultät besteht davon unabhängig ein eigenständiges „Forschungsinstitut für ökumenische Theologie“, deren Leitung beim „Lehrstuhl für Dogmatik und ökumenische Theologie“ liegt. Diesem Institut wurde bei der Gründung 1964 die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters zugewiesen, die später in eine Juniorprofessur umgewandelt wurde21. Diese wurde bei ihrem Freiwerden im August 2016 im Rahmen von Sparmaßnahmen der Universität eingezogen. Die Fakultät bemüht sich, durch die Bereitstellung von Hilfskraftmitteln einen gewissen Ausgleich zu schaffen und die Arbeitsfähigkeit des Forschungsinstituts auch weiterhin zu gewährleisten. Dennoch kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die institutionelle Unterstützung der ökumenischen Arbeit deutlich rückläufig ist. An der Evangelisch-Theologischen Fakultät fungiert der Lehrstuhl „für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumenik“ als Träger des Zentrums und in der Einrichtung für orthodoxe Theologie nimmt der „Lehrstuhl für Systematische Theologie: Dogmatik, Ethik und Ökumenische Theologie“ diese Funktion wahr. Auch diese Strukturen zeigen, dass Ökumene ein kompliziertes Geschäft ist. Aber trotz mancher Unübersichtlichkeit wurde in den fünfzig Jahren ökumenischer Einrichtungen an der LMU vieles erreicht. Es wurden wichtige Beiträge zur theologischen Überwindung von bislang als kirchentrennend erachteten Lehrdifferenzen erzielt. Dazu hat die Theologie Wolfhart Pannenbergs einen entscheidenden Beitrag geleistet. Darüber hinaus ist durch Pannenbergs persönliches Engagement bei den Lehrenden und den Studierenden der Theologie Vertrauen über Fakultätsund Konfessionsgrenzen hinweg gewachsen. Dieses Vertrauen ist die Voraussetzung für eine Gemeinschaft der christlichen Kirchen und dafür, dass die theologischen Annäherungen auch rezipiert werden und ihre Frucht bringen können.
21 Inhaberin dieser Juniorprofessur war Frau Dr. Kleinschwärzer-Meister.
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Gründende Urzeit und kommendes Gottesreich Schellings Philosophie der Mythologie und ihre geschichtstheologische Rezeption durch Pannenberg
1.
Ursprüngliche Einsichten
Zwei Semester seines Studiums hat Wolfhart Pannenberg in Basel zugebracht, hauptsächlich um Lehrveranstaltungen Karl Barths zu besuchen. Barth war damals allerdings nicht die einzige Baseler Attraktion. Kaum weniger anziehend fand Pannenberg das Lehrangebot des Philosophen Karl Jaspers. Im WS 1949/50 besuchte er bei ihm ein Kolleg über Gegenwartsphilosophie und ein Seminar über Kants Kritik der reinen Vernunft, im SS 1951 ein weiteres Seminar, diesmal zum Thema „Philosophie des Mythus“. Auf einem Zettel bescheinigte der Philosoph am 5. November des Jahres die Teilnahme und versah das Attest mit der Bemerkung: „Sein Referat über ‚Mythus und Wort‘ war vortrefflich. Er vermochte es in der Diskussion gut zu verteidigen.“ Drei Jahre später konnte Pannenberg einen Text mit demselben Obertitel in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ publizieren: „Mythus und Wort. Theologische Überlegungen zu K. Jaspers’ Mythusbegriff.“1 Im selben Jahr, 1954, war in der Göttinger Reihe der Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte Pannenbergs Heidelberger Dissertation über „Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrentwicklung“2 erschienen. Die Beschäftigung mit der Thematik reicht bis in die Göttinger Studiensemester zurück, als Pannenberg durch den Besuch eines Lutherseminars bei Hans Joachim Iwand zu intensiver Auseinandersetzung mit der nominalistischen Vorgeschichte der Theologie des Reformators im Allgemeinen und seiner Willens- und Erwählungslehre im Besonderen motiviert 1 W. Pannenberg, Mythus und Wort. Theologische Überlegungen zu Karl Jaspers’ Mythusbegriff, in: ZThK 51 (1954), 167–185. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 2 Ders., Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrentwicklung, Göttingen 1954.
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wurde. Bereits hierdurch und dann vor allem durch die Begegnung mit dem dogmatischen Werk Karl Barths wurde das Interesse für die scholastische Analogielehre geweckt, der die Heidelberger Habilitationsschrift von 1955 gewidmet sein sollte. Der Text blieb lange Zeit unveröffentlicht und wurde mit Ergänzungen erst nach über einem halben Jahrhundert als letzte größere Monographie Pannenbergs publiziert.3 Schon die erste Publikation aus dem Jahr 1953 war dem gleichen Problemkreis gewidmet, nämlich der Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth.4 Haben die Prädestinationslehre einerseits und die Lehre von der Analogie andererseits als zwei Schwerpunkte im Rahmen der theologischen Arbeit in Pannenbergs frühen Jahren zu gelten, so wäre die Reihe nicht vollständig, wenn den beiden Themenbereichen, die unter Ausrichtung vornehmlich auf die Philosophie und die Theologie von Duns Scotus bearbeitet wurden, nicht die Mythusthematik als dritte im Bunde hinzugerechnet würde. Die Beschäftigung mit ihr war ohne Zweifel wesentlich durch die von Rudolf Bultmann im Jahr 1941 entfachte Entmythologisierungsdebatte motiviert. Eine studentische Arbeitsgemeinschaft, der Pannenberg angehörte, hatte sich im Heidelberger SS 1950 intensiv mit der Schrift „Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung“ auseinandergesetzt, wie in einem Bericht an die Studienstiftung des Deutschen Volkes vom 1. August 1950 vermeldet wurde, deren Stipendiat Pannenberg seit April des Vorjahres war. Er legte damals gerade das Schwergewicht seiner Studien auf die exegetischen Fächer, von denen er offen bekannte, sie lange vernachlässigt zu haben. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm bewegte die theologischen Gemüter über Jahre hinweg. Sie bildet gewiss ein Motiv von Pannenbergs Besuch des Seminars von Karl Jaspers im Basler Semester des Jahres 1951, zumal da der Philosoph selbst in den Streit um „Wahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung“5 involviert war. Zu Beginn seiner theologischen Überlegungen zu Jaspers’ Mythusbegriff „Mythus und Wort“ weist Pannenberg auf den aktuellen Anlass seiner Erörterungen hin, wenn er gleich im ersten Satz schreibt: „Seit der Entdeckung mythischer Züge in den biblischen Schriften ist die Frage gestellt, wie es sich mit dem Vorhandensein mythischer Bestandteile oder mit der Wirksamkeit mythischer Vorstellungsweisen in der Bibel vereinbare, daß der Christ heute aus ihr das eine Wort Gottes hört.“ (167) Doch zeigt bereits der
3 Ders., Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis, Göttingen 2007. 4 Ders., Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth. Eine Auseinandersetzung mit Urs von Balthasar, in: ThLZ 78 (1953), 17–24. 5 Vgl. W. Pannenberg, Mythus und Wort, 169 Anm. 1.
Gründende Urzeit und kommendes Gottesreich
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nächste Satz, dass das Interesse Pannenbergs weit über den aktuellen Anlass hinausreicht und viel grundsätzlicher gefasst ist. Festgestellt wird, dass keineswegs Einverständnis darüber herrsche, was das Wort „mythisch“ eigentlich bedeutet. „In der gegenwärtigen theologischen Diskussion des bezeichneten Problems, wie sie vor allem durch das mit dem Namen Rudolf Bultmanns verbundene Entmythologisierungsprogramm bestimmt ist, unterscheide ich“, so Pannenberg, „drei hauptsächliche Verwendungsweisen des Begriffs ‚mythisch‘: Das der historisch-kritischen Begriffsprägung geschichtlich vorhergehende Verständnis des Mythus als Göttergeschichte im Sinne dichterischer Einkleidung ewiger Wahrheiten über Mensch und Kosmos findet sich heute in ziemlich reiner Ausprägung etwa bei Karl Barth. Dagegen versteht der in der historisch-kritischen Forschung ausgebildete, bei Bultmann vorliegende Begriff des Mythischen dieses erstens nicht als mehr oder weniger zufälliges Produkt der religiösen Phantasie, sondern als das Bewußtsein selbst bestimmende Vorstellungsweise, aus der die mythischen Gestaltungen überhaupt erst hervorgehen können. Zweitens wird die Herrschaft dieser Vorstellungsweise als auf eine bestimmte historische Epoche beschränkt gedacht, welche der gegenwärtigen Epoche aufgeklärt wissenschaftlichen Bewußtseins entgegengesetzt ist; mythisch bestimmte Zeitalter und Aufklärungszeitalter lösen in der Geschichte einander ab.“ (167 f.) Nach einem dritten Verständnis des Mythischen „gibt es überhaupt keine menschliche Gotteserfahrung, deren Ausdrucksform nicht als mythisch zu bezeichnen wäre. ‚Das Mythische‘ ist hier ein Name für die Struktur jedes denkbaren Ausdrucks, welchen die Erfahrung des ungegenständlichen Gottes für den nie ohne Bindung an objektivierendes Bewußtsein existierenden Menschen finden kann.“ (168) Pannenberg nennt das an dritter Stelle genannte Mythosverständnis das transzendentalphilosophische und rechnet ihm neben Jaspers und anderen auch den späten Schelling zu, dessen „Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ im Zentrum der vorliegenden Studie stehen wird: In ihr sind nämlich nicht nur alle zu Schellings Zeit verfügbaren ethnologisch-religionsgeschichtlichen Daten gesammelt und zusammengestellt6; sie entwickelt den Mythosbegriff zugleich in einer Präzision, die ihn zu einer „klassische(n) Referenzgröße“7 in der neueren Geschichte der Mythosforschung werden ließ bis hin zu Paul Tillich8 und – Wolfhart Pannenberg.9 6 Vgl. D. Korsch, Notwendigkeit als Weg zur Freiheit. Einige Bemerkungen zur Konzeption der Mythologie bei Schelling, in: Chr. Danz/W. Schüßler (Hg.), Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs, Berlin u. a. 2015, 27–48, hier: 44. Zu den „markanten Etappen des Mythosbegriffs bei Schelling“ vgl. 31 ff. 7 A. a. O., 38. 8 Vgl. dazu die Beiträge in dem erwähnten von Danz und Schüßler herausgegebenen Sammelband, bes. St. Dienstbeck, Vom Mythos zum Dogma. Paul Tillichs Aufnahme und Interpre-
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Die Philosophie der Mythologie ist für Pannenberg vor allem im Kontext der Philosophie der Offenbarung und der Geschichte wichtig geworden, in der sich Schelling zum einen mit Hegel verbunden, zum andern aber grundsätzlich unterschieden weiß. Ihrem Selbstverständnis nach begnügt sich die Schellingsche Geschichtsphilosophie nicht „mit der bloßen Anwendung eines anderswoher genommenen Schemas auf die Geschichte“10, sondern sucht dieselbe in der tation des Mythosbegriffs im Anschluss an den späten Schelling, a. a. O., 49 ff. Einen Vergleich zwischen Tillichs Mythosverständnis und demjenigen Karl Jaspers bietet W. Schüßler, a. a. O., 175 ff.; er zeigt, dass für beide Schellings Einfluss prägend war. 9 Seine kritische Auseinandersetzung mit Jaspers, der Mythen als Chiffren der Transzendenz deutete, hat Pannenberg in vier Thesen vorgetragen, deren erste lautet: „Wort Gottes ist nie fixierte Objektivation geschichtlicher Transzendenzerfahrung, sondern ereignet sich in geschichtlicher Begegnung im Zerbrechen der Objektivität des Begegnenden.“ (172; bei P. kursiv) Die zweite These beantwortet sodann die Frage „nach dem Verhältnis des Wortgeschehens zu den objektiven Ausdrucksformen, durch die es sich mitteilt“ (174): Bei der als „Wort Gottes“ bezeichneten „Transzendenzgegenwart“ habe das „Transzendieren der Subjekt-Objekt-Spaltung im Durchbrechen der Objektivität … seinen Ursprung im Ansichsein des hier in Frage stehenden Objektiven, insofern das Ansichsein des Erkenntnisgegenstandes dessen Objektivität in Richtung auf das ihm gegenüber stehende Subjekt überschreitet.“ (ebd.; bei P. kursiv) Manifest sei dies in der Erscheinungsgestalt des Menschen Jesus, bei dem „sowohl die Eigenmächtigkeit aus ihm selbst heraus zerbrochen (ist), wie auch eben deshalb die Objektivität, in der er begegnet“ (178). Vermöge des nicht akzidentell-okkasionell, sondern dem Wesen nach „transzendierenden Charakters“ (179f.) seines ans Kreuz führenden Menschenlebens ist Jesus, so Pannenberg, „das Wort Gottes schlechthin“ (180): „Die in aller Religion vorausgesetzte Identität der Transzendenz mit der Daseinswirklichkeit, in der sie begegnet, – diese im mythischen Bereich so fragwürdige Identität ist hier Ereignis. Aber die in der Religion mit solcher Identifizierung verbundene Vergötzung – und also die Vernichtung des Selbstseins – ist hier nicht mehr unausweichliche Folge, sondern eigentlich ausgeschlossen und nur im Sichverschließen gegen das transzendierende Geschehen des Lebens Jesu denkbar; denn in Jesus ist der unsichtbare Gott als solcher offenbar.“ (Ebd.) Die dritte These bestätigt dies in Bezug auf das neutestamentliche Zeugnis und auf Aussagen über Jesus als den Christus und Gottessohn, die nur unter der Voraussetzung der Wahrung ihres Begegnungscharakters als nicht-mythologisch zu qualifizieren sind. So kann abschließend und zusammenfassend gesagt werden: „Das Wort Gottes in Jesus Christus begegnet allen Menschen mit verbindlichem, unbedingten Gehorsam forderndem Anspruch, unterscheidet sich aber dadurch von für mythische Objektivationen erhobenen Ausschließlichkeitsansprüchen, dass es dem Menschen nicht wie ein vergötztes Objekt seine Freiheit raubt, sondern im je geschichtlich bestimmten Transzendieren seiner eigenen Objektivität dem Menschen sein konkret einmaliges Selbstsein schenkt.“ (183; bei P. gesperrt) Für das Verständnis der theologischen Entwicklung Pannenbergs sind die vier Thesen zu „Mythus und Wort“ von hohem Interesse, wenngleich der für das spätere System charakteristische Mythusbegriff noch nicht hinreichend ausgearbeitet und präzisiert ist. „Zur theologischen Auseinandersetzung mit Karl Jaspers“ vgl. fernerhin den gleichnamigen Artikel Pannenbergs in : ThLZ 83 (1958), 321–330. Bei dem Text handelt es sich um eine Rezension des Buches von W. Lohff, Glaube und Freiheit. Das theologische Problem der Religionskritik von Karl Jaspers, Gütersloh 1957. A. a. O., 328 Anm. 4. bezeichnet es Pannenberg als den Skopus seiner Darlegungen zu „Mythus und Wort“, „die Ungegenständlichkeit Gottes gerade in seiner Offenbarung konsequent fest(zu)halten“. 10 F.W.J. Schellings sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung. Erster Band: Einleitung in die Phi-
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Einheit von historischer und systematischer Wissenschaft ideal-real zu erfassen. Zwar konzipiert auch Schelling seine Philosophie der Geschichte insofern spekulativ, als er den geschichtlichen Verlauf als insgesamt sinnvoll und vernünftig zu begreifen sucht; aber dies soll nicht auf rein rationale Weise und unter Absehung kontingent erscheinender Faktoren, sondern nach Weise einer empirischen Metaphysik bzw. eines metaphysischen Empirismus geschehen, der Faktisches nicht begrifflich zu deduzieren, sondern aus seiner Faktizität heraus und in ihr zu verstehen sucht. Dieses methodische Programm steht auch für Schellings Philosophie der Mythologie als erster Gestalt der Geschichtsphilosophie in Geltung. Zwar lasse sich der geschichtliche Gehalt der prähistorischen Mythologie nicht so erheben wie derjenige der nachmythologischen Geschichte. Dies bedeute aber nicht, dass er weniger real sei als diese. Die mythologische Wirklichkeit der Prähistorie sei zwar eine andere als die Realität der geschichtlichen Zeiten. Von bloß ideellbegrifflicher Natur sei sie dennoch nicht. Schelling geht vielmehr davon aus, „daß die Mythologie nicht aus der bloßen, wenn auch etwa als nothwendig vorgestellten Verwirklichung eines Begriffs entstehen konnte, da sie vielmehr auf einem wirklichen, realen Verhältniß des menschlichen Wesens zu Gott beruhen muß, aus welchem allein ein vom menschlichen Denken unabhängiger Proceß enstehen kann“ (245 f.). Der mythologische Prozess, der den Beginn der menschlichen Geschichte initiiert, ist ein wirklicher Vorgang. Ihm eignet Objektivität, die nicht aufgeht in der Bewusstseinsgeschichte des Menschen bzw. in der Prähistorie seiner Herkunft. Beruht doch der Vorgang der Mythologie auf einem Realverhältnis des Menschen zur Gottheit und auf einem wirklichen Prozess, der als theogonisch zu beschreiben ist. Aus einem bloß idealen Verhältnis des Bewusstseins zu seinem Gegenstand heraus ist die Mythologie keinesfalls erklärbar. Als Kunde gründender Urzeit hat die Mythologie wirklichkeitskonstituierende und -erschließende Kraft. Welche Wirklichkeit konstituiert und erschließt sie? Antwort: diejenige normative Ordnung, wie sie in Recht, Moral und Sittlichkeit Gestalt annimmt. Wie ist es um diese Ordnung unter gegebenen Bedingungen bestellt? Antwort: nicht gut, sondern schlecht, weil Menschheitsgeschichte und Weltgeschehen von postlapsarischer Ungerechtigkeit gekennzeichnet sind und weil der Zusammenhang von Rechttun und Wohlergehen als nicht nur nicht verifiziert, sondern als falsifiziert zu gelten hat. Pannenberg erklärt nachgerade diesen Sachverhalt zum religiösen Motivationsgrund der Eschatologisierung der alttestamentlichen Überlieferungen. Die eschatologilosophie der Mythologie, Stuttgart/Augsburg 1856, 1–252, hier: 232. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf bzw. auf das Vorwort des Herausgebers K.F.A. Schelling (V–VII). Sperrungen werden durch Kursivierung wiedergegeben.
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schen Vorstellungen von allgemeiner Totenauferweckung und allgemeinem Endgericht seien konzipiert „als Gegenbilder zur gegenwärtigen Erfahrung der Ungerechtigkeit im Gang des Weltgeschehens, angesichts der mangelnden Entsprechung zwischen Tun und Ergehen der Menschen, im Guten wie im Bösen“11.
2.
Mythos und Hermeneutik
Die zweite Abteilung der von Karl Friedrich August Schelling herausgegebenen Werke seines Vaters Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling enthält Texte aus dem handschriftlichen Nachlass und wird in ihrem ersten Band eröffnet mit einer „Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“. Sie ist „nach der Absicht des Urhebers in Form von (sc. zehn) Vorlesungen“ (V) dargeboten und enthält „eine philosophische Kritik der sowohl wirklich hervorgetretenen, als überhaupt möglichen Erklärweisen der Mythologie“ (ebd.). Entstanden ist die Abhandlung nach Mitteilung des Herausgebers nicht erst in den letzten Jahren von Schellings Leben. Sie sei „sogar in einer, zwar in der Anordnung wie in der Ausführung verschiedenen, aber in Beziehung auf den Hauptgedanken mit der gegenwärtigen völlig übereinstimmenden Darstellung bereits vor beinahe dreißig Jahren gedruckt, jedoch nicht ausgegeben worden, was übrigens nicht verhinderte, daß einzelne Exemplare den Weg ins Publikum gefunden haben. Die letzte Überarbeitung von Seiten des sel. Verfassers“, so K.F.A. Schelling weiter, „hat dieser erste, historische Theil der Einleitung theils in den letzten Jahren seines Aufenthaltes in München, theils noch in Berlin selbst, wo er ebenfalls (1842 und 1845) über Philosophie der Mythologie las, erfahren.“ (Ebd.) Beim Begriff der Mythologie handelt es sich um ein Lehnwort aus dem Griechischen. Man kann unter ihm sowohl die wissenschaftliche Lehre von den Mythen als auch den Inbegriff der in ihnen zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen verstehen. Schelling bevorzugt die zweite Verwendungsweise und will unter Mythologie nicht bereits die Wissenschaft der Mythen verstehen. Wiederholt spricht er von der Wissenschaft der Mythologie, wobei ihm die Philosophie der Mythologie als die wahre gilt. Ihr Gegenstand ist die Mythologie als das Ganze der den Griechen bzw. anderen Völkern „eigenthümlichen Sagen und Erzählungen, die im Allgemeinen über die geschichtliche Zeit hinausgehen“ (6), um entweder eine Vor- und Urgeschichte des Menschengeschlechts, die alles bloß Prähistorische transzendiert, oder die Welt der Götter zu thematisieren und die Form einer „Göttergeschichte, oder wie die Griechen … sagen, Theogonie“ (7) 11 W. Pannenberg, Christentum und Mythos. Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung, Gütersloh 1972, 60.
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anzunehmen. Sind damit Titel und Gegenstand der Untersuchung bestimmt, so soll ihr Gang im Einzelnen darin bestehen, tatsächliche bzw. mögliche Interpretationsmodi der Mythologie zu prüfen mit dem Ziel, die religiöse Verstehensart als die allein angemessene zu erweisen. Dabei folgt Schelling der methodischen Devise: „Das Verdienst einer Forschung besteht nicht immer bloß darin, schwierige Fragen aufzulösen, das größere ist vielleicht, neue Probleme zu erschaffen und für eine künftige Untersuchung zu bezeichnen, oder schon bestehenden Fragen … eine neue Seite abzugewinnen.“ (107) Neue Probleme zu schaffen, ist nicht das Ziel nachfolgender Untersuchung, wohl aber alten und längst bestehenden eine neue Seite abzugewinnen. Seit alters werden die Themen von Mythos und Mythologie kontrovers abgehandelt. Schon die Bedeutung des Mythosbegriffs ist notorisch strittig. Die Geschichte des Worts „sowohl innerhalb der griechischen Sprache als auch in seinem Dasein als Fremdwort in anderen europäischen Sprachen bildet ein lehrreiches Beispiel dafür, wie ein und derselbe Begriff bald die höchste Einschätzung genießen, bald der stärksten Abwertung verfallen kann. Namentlich als religiöser Begriff hat er Wandlungen von einem Extrem ins andere durchlaufen, und zuweilen stehen in ein und derselben Zeit … schärfste Gegensätze in seiner Beurteilung einander gegenüber.“12 An dieser vom Verfasser des Mythosartikels im „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament“, Gustav Stählin, konstatierten Sachlage hat sich aktuell wenig geändert. So sahen sich die Herausgeber der theologischen Realenzyklopädie veranlasst, den einschlägigen philosophischen, religionsgeschichtlichen, alttestamentlichen, neutestamentlichen, systematisch-theologischen und praktisch-theologischen Artikeln zum Mythosbegriff eine Vorbemerkung voranzustellen, der zufolge die in einzelnen Teilartikeln enthaltenen Definitionen des Mythosbegriffs sich zwar gelegentlich überschneiden, „aber nicht miteinander zur Deckung zu bringen“13 sind. „Dasselbe gilt für die verschiedenen methodischen Zugänge. Dem Bemühen der Herausgeber um Kohärenz der Artikel sind in diesem Fall durch die Forschungslage, die zu dokumentieren ist, enge Grenzen gezogen.“14
12 G. Stählin, Art. mythos, in: ThWNT IV, 769–803, hier: 771. Der Artikel bietet einen Überblick über die Bedeutungsentwicklung des Mythosbegriffs, seine Verwendung in Griechentum und Hellenismus sowie die kritische Beurteilung, die er und die mit ihm verbundene Thematik im Alten und im Neuen Testament erfahren haben: „Ganz eindeutig ist die Stellung des NT gegenüber dem, was es mythos nennt. Das Wort kommt hier durchweg in Sätzen mit negativen Aussagen vor (1 Tm 1,4; 4,7; Tt 1,14; 2 Pt 1,16; dem Sinne nach auch in 2 Tm 4,4); das ist bezeichnend: Der mythos wird rundweg abgelehnt; denn er ist das Mittel und Merkmal einer fremden Verkündigung, insbesondere der Irrlehre, die in den Pastoralbriefen bekämpft wird.“ (788) Zur Beurteilung der Mythen in der Alten Kirche vgl. 799 ff. 13 Art. Mythos, in: TRE 23, 597–665, hier: 597. 14 Ebd.
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Durch den Artikel des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ zu Mythos und Mythologie wird die skizzierte Situationsbeschreibung in Bezug auf Geschichte und Gegenwart bestätigt.15 Um ihn in den Grenzen zu halten, die dem Kohärenzbemühen durch die Forschungslage gezogen sind, empfiehlt es sich, den Gegenstand vorliegender Studie nicht auf die Mythosdebatte im Allgemeinen auszudehnen, sondern ihn auf das Schellingsche Mythologieverständnis und Pannenbergs Auseinandersetzung mit ihm einzuengen, wobei auch diesbezüglich noch eine Begrenzung in doppelter Hinsicht vorzunehmen ist: Was Schelling betrifft, so kommt unter seinen thematisch einschlägigen Schriften nur seine „Historisch-Kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ in Betracht, weil sich Pannenbergs Interesse vorzugsweise auf sie konzentrierte. Dies wird gleich zu Beginn seiner Schrift über „Christentum und Mythos“ erkenntlich. Ausschließlich auf diesen Text wird sich die Rekonstruktion von Pannenbergs Mythosverständnis und seiner kritischen Rezeption der Schelling’schen Philosophie der Mythologie beschränken. Vom 9. bis 13. September 1968 tagte die mittlerweile legendäre Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ im Schloß von Rheda (Westfalen), um Probleme der Mythenrezeption zu verhandeln. Im Jahr 1971 wurden die Arbeitsergebnisse unter dem Titel „Terror und Spiel“ publiziert.16 Der Band enthält 18 Aufsätze und neun Diskussionsdokumentationen. Am Anfang steht ein grundlegender Beitrag Hans Blumenbergs zum „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“. Der Bandherausgeber Manfred Fuhrmann referierte in seinem Beitrag über „Mythos als Wiederholung in der griechischen Tragödie und im Drama des 20. Jahrhunderts“, Jacob Taubes über den dogmatischen Mythos der Gnosis, Hans Robert Jauß über die, wie es im Untertitel seiner Abhandlung heißt, christliche Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter. Ferner finden sich im Dokumentationsband Texte von Jean Bollack, Reinhart Herzog, Rainer Warning, Ferdinand Fellmann, Reinhardt Habel, Ulrich Gaier, Harald Weinrich, Gerard Hergt, Wolfgang Iser, Jurij Striedter, Miroslav Kacˇer und Karlheinz Stierle. „Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling“ äußerte sich Odo Marquard.
15 Vgl. A. Horstmann, Art. Mythos, Mythologie, in: HWP 6, 281–318. Zu Schelling, in dessen Denken das Thema „von Anfang eine bevorzugte Stellung“ (292) einnimmt, und zu den Mythologiekonzeptionen seiner Zeit, mit denen er sich kritisch auseinandersetzt, vgl. 288 ff. Mit F. Creuzer teilt Schelling die Auffassung, dass die Mythen „letztlich religiösen Ursprungs“ (290 f.), „Theomythien“ (291) sind. In den mythologischen Göttergeschichten und Theogonien bringen sich „die tatsächlichen Entwicklungsstufen des menschlichen Bewußtseins“ (292) zum Ausdruck, um zugleich durch sie konstituiert zu werden. Mythos und Mythologie müssen sonach sowohl subjektiv als auch objektiv verstanden werden. 16 M. Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971.
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Wolfhart Pannenberg ist mit einer Studie „Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung“ vertreten, welche die Reihe der Aufsätze im Sammelband beschließt. Als Vorlage der Diskussionen hat der Text nicht gedient; er wurde in der vorliegenden Form erst nach dem Kolloquium verfasst. Im Jahr 1972 ist er im Gütersloher Verlagshaus unter dem Obertitel „Christentum und Mythos“ separat erscheinen. Im Vorwort weist Pannenberg eigens auf die Entstehungsbedingungen der Studie hin. So erklärt er die verhältnismäßig eingehenden Behandlungen der exegetischen Details mit der Bemerkung, dass er als einziger Theologe im Arbeitskreis „Poetik und Hermeneutik“ „die Gesichtspunkte der Theologie im ganzen … wahrzunehmen hatte“17. Wesentliche Funktion der exegetischen Hinweise sei es gewesen, den entwickelten Mythosbegriff zu illustrieren und zugleich auf seine bibeltheologische Tragweite hin zu überprüfen. Auf Pannenbergs dargelegten Begriff des Mythischen und sein Verhältnis zum Schellingschen Mythos bzw. Mythologiebegriff wird sich entsprechend auch die vorliegende Untersuchung konzentrieren, wobei das Hauptaugenmerk zunächst und über weite Strecken hin Schelling gelten soll. Odo Marquard hat die Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling mit der These umschrieben, sie ergreife „die Wirklichkeit der Mythologie so, dass sie sie faktisch entwirklicht“18. Diese These ist nach des Autors eigenen Worten „reizvoll, weil sie den üblichen und weithin anerkannten Thesen über Schelling widerspricht. Darum ist es auch wenig wahrscheinlich, daß sie wahr ist: sie trifft also vermutlich nicht zu auf jenen Schelling, den es wirklich gegeben hat, sondern einzig auf jenen, bei dem es – nach der unmaßgeblichen Meinung des Verfassers – interessant wäre, wenn es ihn gegeben hätte.“19 Wie immer man diese launige Bemerkung zu beurteilen hat; zutreffend ist in jedem Fall Marquards Anmerkung: „Wer eine kurze Zusammenfassung von Grundgedanken dieser (sc. der Schellingschen) Mythologiephilosophie sucht, kann sich an Cassirer halten“20; genauer gesagt: an die Einleitung des zweiten Teils seiner „Philosophie der symbolischen Formeln“, der das mythische Denken thematisiert. In ihr erörtert Cassirer Grundprobleme einer „Philosophie der Mythologie“ und kommt dabei sogleich auf Schelling zu sprechen, dessen historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie er komprimiert darstellt in der Absicht, sie „vom 17 W. Pannenberg, Christentum und Mythos, 5. 18 Vgl. O. Marquard, Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling, in: H. Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel, 257–263, hier: 263. 19 Ebd. 20 A. a. O. 258. Verwiesen wird ferner auf die 18. Vorlesung von Schellings Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie, wo der Philosoph nach eigenen Worten einen „kurzen Vortrag der Philosophie der Mythologie (gibt), soweit derselbe nöthig ist zur Begründung der Philosophie der Offenbarung“ (F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung. Erster Band, Darmstadt 1983, 382–410).
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Boden der Philosophie des Absoluten auf den Boden der kritischen Philosophie zu versetzen“21. Welche Absicht Pannenbergs theologische Rezeption der Schellingschen Mythologiekonzeption bestimmt, wird zu fragen sein; zunächst aber ist diese selbst in Grundzügen zur Darstellung zu bringen.
3.
Falsche und richtige Mythendeutung
Seit jeher sind Mythen verschieden gedeutet worden. Die erste Erklärweise der Mythologie führt diese auf dichterische Erfindungen zurück und vertritt die Auffassung, dass im Mythos „ursprünglich überall keine Wahrheit gemeint worden“ (68) sei. Schelling lehnt diese Annahme ab und weist nach, dass sie sich zu Unrecht auf Herodots Wort berufe, wonach Homer und Hesiod es gewesen seien, „die den Hellenen die Theogonie gemacht haben“ (15 unter Verweis auf Herodot II, 53). Zwar treffe es zu, dass die beiden Dichter „die zuvor unausgesprochene Göttergeschichte zuerst ausgesprochen“ (18) hätten: Die Produzenten der griechischen Mythologie seien sie darum nicht; vielmehr mache sich die Göttergeschichte „in den Dichtern selbst, in ihnen wird sie, in ihnen gelangt sie zur Entfaltung, in ihnen ist sie zuerst da und ausgesprochen“ (20). Mit den Mythologien anderer Völker verhalte es sich entsprechend; auch bei diesen handele es sich nicht um dichterische Fiktionen, sondern um Bestände, die ihre Realität von selbst und aus sich heraus entwickelten. Die nach Schellings Zählung erste Interpretationsweise der Mythologie erklärt diese zu einer dichterischen Erfindung ohne Wahrheitsanspruch. Die mythologische Dichtung ist danach „entweder bloß poetisch gemeint, und die Wahrheit, die sich in ihr findet, ist eine bloß zufällige“ (214); oder sie bestehe „aus sinnlosen Vorstellungen, welche die Unwissenheit erzeugt, Dichtkunst später ausgebildet und zu einem poetischen Ganzen verknüpft“ (ebd.) habe. Als exemplarischer Repräsentant dieser Auffassung wird Johann Heinrich Voß angeführt, deutscher Dichter und Übersetzer klassischer Werke der griechisch und lateinischen Antike, darunter die Epen Homers; zu nennen sind in diesem Zusammenhang Voßens „Mythologische Briefe“, 1794 zweibändig erschienen, und die sog. Antisymbolik, in den Jahren 1824–1826 ebenfalls in zwei Bänden publiziert. Der poetischen Erklärweise der Mythologie stellt Schelling die allegorische als zweite gegenüber, die er auch die philosophische nennen kann, ohne sie mit der Philosophie der Mythologie verwechselt wissen zu wollen, wie er sie vertritt. Diese Interpretationsart leugnet zwar nicht, dass Wahrheit in der Mythologie sei, sucht 21 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 91994, 6–14, hier: 14.
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sie aber nicht in dieser selbst, sondern außerhalb ihrer oder in einem ungesagten Hintergrund auf. Der allegorischen Interpretation zufolge wisse der Mythos nicht, was er sage, bzw. besage etwas anderes, als was in Wahrheit gemeint sei. Seine wahre Bedeutung liege jenseits des buchstäblichen Sinns und könne nur durch allegorisch-philosophische Entschlüsselung des sensus litteralis erhoben werden. Die allegorisch-philosophische Mythendeutung vollzieht sich nach Schelling auf zweifache Weise, sofern das Mythologische entweder als verhüllende Einkleidung oder als entstellender Missverstand einer Wahrheit verstanden werde. Da in beiden Fällen mit abermals zwei Unterabteilungen zu rechnen sei, ergäben sich insgesamt vier mögliche bzw. tatsächliche Interpretationsformen des allegorisch-philosophischen Mythendeutungstyps. Die nach den griechischen Philosophen und Mythographen Eu(h)emeros benannte euemeristische Erklärungsweise sucht im Mythos eine historische Wahrheit zu entdecken. Eine zweite Form allegorischer Erklärung deutet ihn als eine verhüllende Einkleidung physikalisch-naturwissenschaftlicher Sachverhalte, wie das unter den älteren Zeitgenossen vor allem bei Christian Gottlob Heyne der Fall sei, dessen Werk „De origine et causis Fabularum Homericarum“ Schelling eigens erwähnt. Als Hauptrepräsentanten beider Formen derjenigen allegorisch-philosophischen Erklärungsweise, welche die Mythen als missverständliche und entstellende Einkleidungen eines wahren Sachverhalts verstehen, werden von Schelling der klassische Philologe Johann Gottfried Jakob Hermann einerseits und der berühmte Orientalist, Mythenforscher und Goethefreund Georg Friedrich Creuzer andererseits angeführt. Ersterer habe die Mythologie auf rein wissenschaftliche, wesentlich irreligiöse Wahrheiten hin, letzterer (vgl. bes. 69 ff.) im Sinne einer religiösen Wahrheit gedeutet, wie seine „Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen“ von 1811 belege. Nach der poetischen Erklärweise der Mythologie beruht diese auf dichterischer Erfindung, nach der allegorischen scheinen die Mythen etwas anderes zu bedeuten, als sie realiter besagen. Beiden Interpretationsmodi setzt Schelling seine These entgegen, dass die Wahrheit der Mythologie in dieser selbst und als solcher zu suchen und zu finden sei: „(D)ie Mythologie war so, wie sie ist, als Wahrheit gemeint“ (68); weil aber die Mythologie ursprünglich und ihrem Wesen nach als Götterlehre, Göttergeschichte bzw., wie Schelling im Anschluss an die Griechen am liebsten sagt, als Theogonie gemeint sei, habe sie eine genuin religiöse Bedeutung, und zwar nicht nur indirekt, sondern in einem direkten und unmittelbaren Sinn. Jede auf Wahrheit bedachte Deutung habe den Anspruch der Mythen hermeneutisch ernst zu nehmen, von wirklich religiöser Relevanz zu sein; ansonsten werde der mythologische Sinngehalt zwangsläufig verkannt. Um dies zu unterstreichen fasst Schelling „alle bisher vorgekommenen Erklärungen“ (74), also die poetische und die allegorische samt ihren Varianten, „unter dem
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allgemeinen Titel der irreligösen“ (ebd.) zusammen, um ihnen dezidiert die von ihm vertretene religiöse Interpretationsart entgegenzusetzen. Selbst wenn man gezwungen sein sollte zu sagen, die mythische Religion sei falsch bzw. nicht oder noch nicht die wahre, ändere dies nichts am religiösen Charakter der Mythologie: „Denn die falsche Religion ist darum nicht Irreligion, wie der Irrthum (wenigstens was so zu heißen verdient) nicht vollkommener Mangel an Wahrheit, sondern nur die verkehrte Wahrheit selbst ist.“ (74) Ist die „wirklich religiöse Bedeutung der Mythologie als die ursprüngliche“ (75) vorauszusetzen, dann ergibt sich folgerichtig, dass diese theologisch, also in Bezug auf die in ihr in Anschlag gebrachten Götter ernst zu nehmen sei. Offenbarung, sagt Schelling, „ist ein reales Verhältniß Gottes zum menschlichen Bewusstsein“ (81). Dass eine entsprechende Realität in bestimmter Weise auch für mythische Götter und ihr Verhältnis zum menschlichen Bewusstsein vorauszusetzen sei, wird entschieden behauptet, ohne dass mit dieser Behauptung bereits ein theologischer Entscheid mit definitiver Bedeutung verbunden wäre. Klargestellt wird lediglich, dass man den die Mythologie bestimmenden Polytheismus als ein religiöses Realitätsphänomen zu würdigen hat, das „aus einem bloß idealen Verhältniß, in dem das Bewußtseyn zu irgendeinem Gegenstande steht, nicht erklärbar ist“ (77).
4.
Zum theologischen Gehalt der Mythologie
Ist die polytheistisch geprägte Mythologie von genuiner und realer religiöser Bedeutung, dann trifft dies auch für den mythologischen Pantheismus zu. Theologisch muss daher gefragt werden, ob bzw. wie ihm „ursprünglich Gott zu Grunde liegen konnte“ (75). Ist der Polytheismus ein religiös-theologisches Ursprungsphänomen von irreduzibler Fundamentalität oder ein abgeleiteter, möglicherweise defizitärer Modus eines grundlegenderen Urmonotheismus, wobei auch in diesem Fall immer noch zu fragen wäre, ob es sich bei dem dem Polytheismus zugrunde gelegten Monotheismus um einen schon wirklich entwickelten oder um einen noch un- oder unterentwickelten handelt? Um die Schellingsche Antwort vorwegzunehmen: Der Polytheismus ist keine unmittelbare Gegebenheit, sondern voraussetzungshaltig und Folgegestalt einer ihm ursprünglich zugrunde liegenden Kunde von Gott, die allerdings nicht die Gestalt einer förmlichen Lehre, sondern eine notitia innata im Sinne einer gleichsam instinktiven Gottesahnung hat, die in der Natur des Menschen angelegt sei (vgl. 77). Die unbestimmte Ahnung, die das Geahnte als göttlich fühlt, ohne bereits ein explizites Wissen von Gott zu haben, ist Schellings Urteil zufolge keineswegs bloß subjektiv, sondern mit der Realitätsempfindung einer Macht verbunden, deren
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Objektivität nicht zu leugnen sei. Als monotheistisch im entwickelten Sinne kann die besagte Macht und ihre religiöse Empfindung nach Schelling gleichwohl noch nicht bestimmt werden. Er lehnt es deshalb ab, den mythologischen Polytheismus als Verfallsphänomen eines Monotheismus zu bestimmen, der das religiöse Bewusstsein ursprünglich bestimmt habe. Erst rückblickend könne der prämythologische Anfang der Religion als monotheistisch erscheinen, ohne es an sich selbst bereits zu sein. Denn ein wirklicher Monotheismus habe sich erst im Durchgang durch den Polytheismus der Mythologie ergeben können. Zum besseren Verständnis dessen, was er meint, können einige terminologische Differenzierungen verhelfen, die Schelling vornimmt. Sie sind von begrifflicher ebenso wie von sachlicher Bedeutung. Was den Polytheismus der Mythologie betrifft, so unterscheidet der Philosoph zwischen einem simultanen und einem sukzessiven, wobei der letzte der eigentliche, der erste der uneigentliche Polytheismus genannt wird. Im simultanen Polytheismus werden die vielen Götter einem und demselben Gott als ihrem obersten und höchsten unter- und zugeordnet, im sukzessiven verhalten sich die Götter ausschließend zueinander und stehen – wenn nicht statisch gegeneinander, was nicht von Dauer sein kann – in einem Abfolgeverhältnis. Ein polytheistischer Gott folgt auf den anderen, dessen bisherige Gegenwart von ihm zur Vergangenheit herabgesetzt wird. Erst mit dem sukzessiven Polytheismus ist dessen Begriff realisiert, wohingegen der simultane „zwar Göttervielheit aber keine Vielgötterei“ (121) kennt, weil vollkommene Gottheit im Grunde nur einem Gott zukommt, während die anderen mehr oder minder als Semigötter zu gelten haben. Vielgötterei und damit Polytheismus stricte dictu „entsteht erst, wenn mehrere höchste und so weit sich gleiche Götter aufeinander folgen, die nicht wieder in eine höhere Einheit sich auflösen können“ (ebd.). Nach erneuter Betonung, dass der sukzessive Polytheismus und die Mythologie, die ihn bezeugt, keine bloß subjektiven Vorstellungen seien, sondern auf objektiven Geschehnissen und göttlichen Tatsachen beruhten, deren reine Tatsächlichkeit sich in keinen Begriff auflösen lasse (vgl. 124 f.), wendet sich Schelling der Frage zu, wie unter den Bedingungen manifester Vielgötterei die theologische Stellung dessen zu beurteilen sei, was religiös dem Polytheismus der Mythologie voranging. Seine Antwort besagt, dass der Status des ursprünglich Einen und der ihm unmittelbar verbundenen Einheit von Menschheit und Welt im Zuge des sukzessiven Polytheismus bzw. polytheistischer Sukzession von einem Prinzipiellen zu einem bloß Anfänglichen werde. Der ursprüngliche Gott erscheint nicht länger als einziger, sondern als ein erster, auf welchen andere folgen und der damit zu einem Gott unter anderen Göttern wird. Alle Themenbestände der Protologie haben je auf ihre Weise am Schicksal des ersten Gottes teil. Der urständisch begriffenen Menschheit und Welt ist er in seiner absoluten Einzigkeit und als derjenige präsent, neben dem es keine an-
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deren Götter gibt, noch geben kann. Unter polytheistischen Bedingungen ist diese Annahme in die Krise geraten und nicht nur die Möglichkeit, sondern die Tatsächlichkeit anderer Götter neben bzw. nach dem einen behauptet. Mag ihm auch der Ehrentitel des ersten Gottes erhalten bleiben, derjenige des einzigen, der mit Begriff und Wirklichkeit des Monotheismus untrennbar verbunden ist, scheint verloren, so dass in protologischer Hinsicht allenfalls noch von einem relativen, nicht mehr von einem absoluten Monotheismus gesprochen werden kann. Der Gott des Ursprungs, der am Anfang war, und Menschheit und Welt in ursprünglicher Einheit umfasste, ist Gott, ja, wenn man so will, die Gottheit selbst. Doch wird die Gottheit des ursprünglichen Gottes, welchen das Bewusstsein unmittelbar setzt bzw. voraussetzt, durch den mythologischen Polytheismus in seiner sukzessiven Gestalt von Grund auf erschüttert, was nach Schelling durch einen zweiten Gott bewirkt wird, dessen Gottheit nicht geringer ist und nicht weniger prinzipiell als diejenige des ursprünglichen Gottes, aber grundsätzlich anders, ja, das Prinzip der Andersheit und der Vielheit selbst. Durch diesen anderen Gott wird der ursprüngliche Gott zum ersten und zu bloß einem Gott unter anderen Göttern, hinter deren Vielheit der zweite steht. Die unmittelbare Einheit von Menschheit und Welt ist mit dem Erscheinen des zweiten Gottes zur protologischen Gewesenheit geworden, mit göttlicher Zweiheit mögliche religiöse Zwietracht generiert, die dann im Laufe des polytheistischen Prozesses faktisch wird. Durch den Polytheismus wird der Urmonotheismus als abstrakt erwiesen und relativiert, welche Relativierung auch unter den Bedingungen von „Eingötterei“ (133) nicht behoben ist, weil diese durch den Gegensatz zu Dy- bzw. Polytheismus bedingt und daher nicht unbedingt und absolut ist. Realisiert werden kann der absolute Monotheismus Schelling zufolge nicht durch den Gegensatz zum Polytheismus im Modus der Eingötterei, sondern nur durch faktische Aufhebung des Polytheismus, wie sie sich im Christusgeschehen ereignet habe, in dem Gott in der Kraft seines Geistes als trinitarischer in vollendeter Gottheit offenbar geworden sei.22
22 Im Einzelnen entfaltet hat Schelling seine Potenzenlehre, die in der historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie nur ansatzweise und eher am Rande begegnet, in der trinitarischen Gotteslehre seiner Philosophie der Offenbarung und zwar so, dass immanente und ökonomische Trinität als differenzierte Einheit begriffen werden. Dies ist im gegebenen Zusammenhang nicht auszuführen: Konstatiert sei lediglich, dass nach Schelling „Offenbarung stets nur als ein durch frühere Vorgänge Vermitteltes, nie als etwas Unmittelbares, Erstes, Ursprüngliches“ (141) zu betrachten ist.
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Mythologie und Ethnologie
Schellings „Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ verfährt nicht einlinig deduktiv, sondern versucht deduktive und induktive Verfahrensweisen zu verbinden, sowie historische und systematische Methodik im Sinne eines metaphysischen Empirismus zu vereinen. Was zu entfalten ist, liegt nicht in der Form eines axiomatischen Prinzips vor, sondern bedarf der diskursiven Entwicklung. Schellings Vortrag ist seinen eigenen Worten gemäß sonach „ein stetig in allen seinen Theilen gleichmäßig wachsender und fortschreitender, die Erkenntniß, die er bezweckt, nicht für vollendet zu erachten, ehe der letzte Zug hinzugefügt ist“ (128). Ohne immer neue Ansätze, die das bisher Geleistete weiterführen, kann es keinen Erkenntnisfortschritt geben. Zwar bedarf es kontinuierlicher Gedankenentwicklungen; aber deren jeweilige Resultate lassen sich nicht auf Vorhergehendes reduzieren, sondern sind von irreduzibler Eigenbedeutung und offen für Ratifikation bzw. Falsifikation in interdisziplinärer Perspektive. Einen Beleg für Schellings Methodik kann man in der Verbindung sehen, die er zwischen Philosophie der Mythologie und philosophischer Ethnologie feststellt. Theogonie und Ethnogonie stehen nach Schelling in einem Entsprechungsverhältnis. Demgemäß sucht er das Verhältnis des theologischen Polytheismus zu dem ihm vorhergehenden religiösen Zustand ethnographisch dadurch zu plausibilisieren, dass er den unentwickelten, auf bloßer Ahnung basierenden Monotheismus in die vorgeschichtliche „Zeit vor Entstehung der Völker“ (92) verweist, den Polytheismus hingegen mit der beginnenden Trennung der Völker seinen Anfang nehmen lässt. Vor der der Entstehung der Völker und ihrer Trennung sei die Menschheit ebenso ein Volk wie von einem einigen Gefühl der Gottheit beseelt gewesen, jedoch auf unbewusste und präreflexive Weise. Ein allgemeinverständliches Idiom sei gesprochen worden, welches aber noch nicht eigentlich zur Sprache ausgebildet war, sondern eine eher dem kindlichen Lallen, wenn nicht gar animalischen Klangerzeugnissen vergleichbare Mundart darstellte. Erst mit dem Entstehen einzelner Völker hätten sich Sprachen im eigentlichen Sinne ausgebildet und in einer Weise ausdifferenziert, die zwar das kommunikative Potential in den einzelnen Sprachräumen erheblich steigerte, aber auf Kosten menschheitlicher Allgemeinverständlichkeit. Schelling erläutert, was er meint, an der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel als einer Ätiologie der Völkerdifferenzierung und der Sprachenverwirrung. Durch den Bau des babylonischen Turms, so Schelling, versuchte sich eine bis dahin „namenlose Menschheit“ (116) einen Namen zu machen und über sich selbst zu erheben, aber dergestalt, dass das Gelingen mit Misslingen unmittelbar koinzidierte. Erhebung und Fall sind auf selbstwidersprüchliche Weise eins.
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Babel/Babylon steht für Schelling als sinnenhaftes Datum für den Übergang von einer rudimentären Einheit der Menschheit und ihrer Art zu reden hin zur Teilung in einzelne Völkerschaften mit je verschiedenen Sprachen, der in eins fällt mit dem Beginnen des mythologischen Prozesses und der Genese des Polytheismus. Dieser sei nicht nur „das Scheidemittel, das in die homogene Menschheit geworfen wurde“ (104), sondern zugleich das Medium der Völkerund Sprachentrennung, die sich in Einklang mit der Ausbildung einer polytheistischen Mythologie als Inbegriff dessen vollzog, was religiös als heidnisch zu qualifizieren sei. „Der Begriff des Heidenthums, d. h. eigentlich des Völkerthums – denn mehr drückt das hebräische und griechische Wort, das im deutschen durch Heiden übersetzt wird, nicht aus – ist so unzertrennlich mit dem Namen Babel verknüpft, dass bis in das letzte Buch des Neuen Testaments Babylon als das Symbol alles Heidnischen und als heidnisch Anzusehenden gilt. Eine solche unauslöschliche symbolische Bedeutung, wie sie dem Namen Babel anhängt, entsteht nur, indem sie von einem unvordenklichen Eindruck sich herschreibt.“ (105 f.) Wie in Bezug auf Völker- und Heidentum eignet Babel/Babylon nach Schelling auch in Bezug auf das Problem sprachlicher Verständigung eine charakteristische Signifikanz. Der Name der Stadt, den Schelling wie denjenigen der Barbaren auf das Wort „Balbel“ (106: „ein Wort, in dem offenbar etwas Onomatopoetisches liegt“) zurückführt, das im Deutschen am ehesten mit plappern, babbeln, um nicht zu sagen: babeln (vgl. 107 Anm. 1) wiederzugeben ist, steht einerseits für die durch die Völkertrennung bewirkte Sprachenverwirrung innerhalb der Menschheit, andererseits aber auch dafür, dass das allgemeinverständliche Idiom einer einigen Menschheit unter den Bedingungen ausgebildeter Volkssprachen als ein kindliches Lallen erscheinen muss. Analog verhält es sich in Bezug auf den mythologischen Polytheismus, der sich nach Schelling in eins mit Völkergenese und der Genese von Volkssprachen ausgebildet hat. Auf der einen Seite hat man in ihm ein Indiz der Trennung und der verwirrenden Aberration von einem Ursprünglichen zu sehen, in welchem Menschheit und menschliche Sprache ungeteilt waren; auf der anderen Seite gibt er sich nach Maßgabe des Gangs der Dinge, der aus dem Dunkeln der Vorgeschichte heraus ins Licht der Geschichte strebt, im Vergleich zum naturhaft-rudimentären Urzustand des Menschengeschlechts als ein Fortschritt zu erkennen. Der Geist Pfingstens (109 Anm. 1: „das umgekehrte Babel“), der kommunikative Völkerverständigung erzeugt, tut dies nach Schelling nicht in Form glossolalischer Regression. Analog zur alttestamentlichen Denkart sind auch bei Schelling selbst Völkerentstehung, Sprachverwirrung und der Polytheismus der Mythologie „verwandte Begriffe und zusammenhängende Erscheinungen“ (109). Wie kein Volk ohne eigene Sprache zu denken sei, so trete auch keines ohne gemeinsame
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Mythologie auf; und wie die Volkssprachen nicht von Einzelnen erfunden seien, so gelte dies auch für die jeweiligen Mythologien, in denen sich der Gemeingeist eines Volkes konstituiert und ausspricht, freilich nicht als ein willkürlich festgelegter, sondern als ein objektiv gegründeter jenseits allen Beliebens. Sowenig sich die Sprache eines Volkes dem Belieben verdankt, sowenig lässt sich nach Schelling das Entstehen der Mythen innerhalb der Völker auf willkürliche Einfälle zurückführen. Beide sind organische Erzeugnisse von naturtranszendierender Art und daher wahrhaft geschichtliche Phänomene. Ja, Schelling ist eigenem Bekunden zufolge versucht zu sagen, die Sprache sei selbst „nur die verblichene Mythologie, in ihr sey nur in abstracten und formellen Unterschieden bewahrt, was die Mythologie noch in lebendigen und concreten bewahre“ (52).
6.
Das Volk Israel und sein Eingottglaube
Kein Volk, keine Sprache entsteht ohne Ausbildung einer dazugehörigen Mythologie, in der das ganze Volk zum Einverständnis gelangt und eins ist. „Allein die Mythologie ist nicht bloß Sache Eines Volkes, sondern vieler Völker, und zwischen den mythologischen Vorstellungen derselben ist nicht bloß eine allgemeine, sondern eine bis in Einzelne gehende Uebereinstimmung.“ (61) Der mythologische Polytheismus gibt sich von daher als Merkmal nicht nur des Vielvölkertums, sondern auch des Gemeinsamen zu erkennen, das die vielen Völker vermöge ihres Verhältnisses zueinander im Innersten prägt. Sie sind einheitlich durch den Unterschied zu demjenigen bestimmt, was sie nicht unmittelbar selbst sind. Dies ist nach Schelling sowohl der Rechtsgrund dafür, die von einem mythologischen Polytheismus bzw. einer polytheistischen Mythologie bestimmten Völkerschaften allesamt mit dem einen Begriff des Heidnischen zu kennzeichnen, als auch die Ursache dafür, dass schließlich ein Volk sich als das erwählte von den übrigen separierte, um der Vielgötterei der heidnischen Völker den Eingottglaubens des einen Volkes Jahwes zu kontrastieren. Völker sind nicht lediglich Stammesgebilde, die durch gemeinsame Abstammung oder durch rassische Merkmale verbunden sind, welche sie teilen. Ihre Einheit beruht wesentlich auf anderen Faktoren, unter denen Sprache und Mythologie die wichtigsten sind. Völker sind sonach Schelling zufolge nicht natürliche, sondern in einem noch näher zu klärenden Sinn geschichtliche Gebilde. Dies gilt auch für das Volk Israel, mit dem Unterscheid freilich, dass es sich seinem religiösen Selbstverständnis nach nicht vom Polytheismus der heidnischen Theologie, sondern durch den Gegensatz zu diesem bestimmt weiß. Nach Schelling ist in „der ältesten Urkunde des Menschengeschlechts, den mosaischen Schriften“ (101), die Entstehung der Völker und ihrer Sprachen und Mythen auf
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eine jeweilige Krise im Inneren von Mensch und Menschheit zurückgeführt, auf eine „Alteration des Bewusstseins“ (103), das dieses in seinem Prinzip erschütterte, im Grunde mit Gott eins zu sein und sich kraft und vermöge dieser Einheit mit allem unmittelbar eins zu wissen, was ist, mit Mitmensch und Menschheit zumal, die als homogen empfunden wurde. Wie andere Völker auch assoziierte das Volks Israel das ursprüngliche Einheitsempfinden einer homogenen Menschheit in Gott mit einem Urstand, der als Integritätsstatus vorgestellt und mit der ursprünglichen Rechtheit des Urmenschen Adam samt seiner Eva verbunden wurde. Adam und Eva stehen nach Schellings Genesisdeutung nicht für eine bestimmte Epoche der Menschheitsgeschichte, sondern für einen Ausgangspunkt, einen terminus a quo, „von dem aus gezählt wird, aber in welchem selbst keine wirkliche Zeit, d. h. keine Folge verschiedener Zeiten, ist“ (104). Als dauerhaft hat die protologische Zeit Adams und Evas gleichwohl zu gelten, da sie nicht vergeht, was durch die unmittelbare Einigkeit der Menschheit und ihrer Welt in Gott gewährleistet ist. Diese im einen Gott prinzipiell und unmittelbar gewährleistete Einigkeit ist durch den Polytheismus und seine Mythologie faktisch zersetzt worden mit der Folge, dass die Zeit von nun an und im Nu vergeht und die urständische Vorzeit selbst unwiederbringlich einer grundsätzlichen Vergangenheit anheimfällt. Die in Völkerschaften und eine Vielzahl von Volkssprachen getrennte Menschheit ist heidnisch geworden durch eine Alteration des ursprünglichen, unmittelbar Gott setzenden Bewusstseins mit Ausnahme des einen Volkes, welches an der ursprünglichen Gottheit festhält, dabei aber selbst unter der Bedingung des erfolgten Abfalls von der Ursprungseinheit steht und daher für seinen Schritt den Preis der Separierung zu zahlen hat. Israels Trennung vom Rest der Völkerschaften kennzeichnet auch und vor allem seine Religion und Theologie, sofern die jüdische Monotheismus nur im Gegensatz zum Polytheismus der Heiden und ihrer Mythen, nicht aber universal zur Geltung gebracht wird. An den zwei Benennungen für den jüdischen Gott sucht Schelling zu beweisen, dass dem hebräischen Volk dieses theologische Problem selbst nicht verborgen geblieben ist. Gottes Gottheit wird in der hebräischen Bibel nach Schelling allgemein mit Elohim, der Gott Israels im Besonderen mit Jahwe bzw. Jehovah bezeichnet. Bei näherer Betrachtung, so heißt es, ließe sich zeigen, „daß im Alten Testament und ganz besonders in den mosaischen Schriften der Gott, der der unmittelbare Inhalt des Bewusstseyns ist, Elohim, der Gott, der als der wahre unterschieden wird, Jehovah genannt wird“ (145). In diesem terminologischen Sachverhalt reflektiert sich Schelling zufolge das religiöse Glaubensbewusstseins Israels, wonach der jüdische Gott sich zur ursprünglichen Gottheit identisch und different zugleich verhält. Jahwe ist Gott, aber in einer von der Gottheit Elohims zugleich verschiedenen Weise. Dieser Unterschied ist Schelling zufolge durch den Poly-
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theismus bzw. durch die Auseinandersetzung mit diesem vermittelt. Die polytheistische Krise, die er mit dem Fall Adams assoziiert, gilt Schelling als unvermeidlich und so notwendig wie der mythologische Prozess, der auf sie folgte. Schuldhaft könne sie allenfalls im übertragenen Sinne, nämlich nach Weise eines peccatum originale genannt werden, welches als Menschheitsgeschick zu begreifen sei, das einerseits fatale Züge aufweise, andererseits als Indiz der Möglichkeit der Freiheit des Menschen und ihrer Verkehrung fungiere. Der Übergang vom protologischen Urstand zu Polytheismus, Völkertrennung und Sprachenunterscheidung ist Schellings Urteil zufolge ambivalent und weder eindeutig böse noch eindeutig gut zu nennen, sondern in seiner Uneindeutigkeit eindeutig zu identifizieren, damit aus Zweideutigkeit nicht Zwietracht zwangsläufig hervorgehe. Worauf es ankomme, sei, den Übergang als Übergang zu begreifen, wozu nachgerade die Religionsgeschichte Israels als des Nichtvolks unter den Heidenvölkern denkwürdigen Anlass gebe. Israel habe sich jener Allgott Elohim, „außer dem für seine Zeit kein anderer war“ (162), namentlich als Jahwe/Jehova erschlossen und damit als derjenige offenbart, der im Übergang begriffen und nur als im Übergang begriffen zu begreifen sei. Dem religiösen Bewusstsein, das seinen Namen kennt, ist Gott „nie der seyende, sondern beständig nur der werdende, wodurch sich allein schon der Name Jehovah erklären würde, in dem eben der Begriff der Werdens vorzüglich ausgedrückt ist“ (165). Der Gott Israels ist nicht länger nur der Gott naturhafter Substanz, dessen Gottheit ursprünglich ist, sondern der im Werden begriffene geschichtliche Gott, der die Menschheit aus dem natürlichen Versenktsein und zugleich aus der Zerrissenheit des Polytheismus hinaus- und hinführt auf die Selbsterschließung des trinitarischen Gottes, wie sie durch Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes Ereignis geworden ist.
7.
System der Zeiten: Philosophische Mythologie und Geschichtsphilosophie
Schellings Philosophie der Mythologie steht in enger Verbindung mit seiner Geschichtsphilosophie und insbesondere mit seiner Philosophie der Religionsgeschichte. Dies ist wesentlich deshalb der Fall, weil der mythologische Prozess, den er als Theogonie verstanden wissen will, nach seinem Urteil keine dichterische Erfindung oder Allegorie, sondern wahre Geschichte als eine „Folge reeller Ereignisse“ (229) darstellt. Mythologie ist mit Notwendigkeit entstanden, in ihr lassen sich deshalb „nicht Inhalt und Form, Stoff und Einkleidung“ (195) trennen; sie ist „nicht allegorisch, sie ist tautegorisch“ (195 f.), wie Schelling mit einem von Samuel Coleridge entlehnten Ausdruck (vgl. 196
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Anm. 1) sagt: „Die Götter sind ihr (sc. der Mythologie) wirklich existirende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind.“ (196) Der mythologische Prozess eines sukzessiven Polytheismus „ist eine Bewegung, der das Bewußtseyn in der That unterworfen ist, die sich wahrhaft ereignet“ (197). Um dies zu erfassen, bedarf es nach Schelling eines philosophischen Begriffs der Geschichte, der sich auf sie „als ein Ganzes“ (230) richtet. In der Regel werde die Geschichte als eine Abfolge von Geschehnissen begriffen, deren Reihe sich weder nach hinten noch nach vorne, weder unter Herkunfts-, noch nach Zukunftsgesichtspunkten begrenzen lasse und deshalb in beider Hinsicht als infinit zu gelten habe. Die geschichtliche Geschehensreihe komme dieser Auffassung zufolge aus einer grundlosen Unendlichkeit, um unaufhörlich ins Unendliche fortzugehen. Geschichte habe demnach als permanentes und grenzenloses Progredieren zu gelten, als ein Fortschreiten „ohne Aufhören und ohne Absatz, bei dem etwas wahrhaft Neues und Anderes anfinge“ (ebd.). Schelling hält diesen Geschichtsbegriff, der, wie er sagt, „zu den Glaubensartikeln der gegenwärtigen Weisheit gehört“ (ebd.), für abwegig, da der Gedanke eines infiniten Fortschritts ohne Anfang und Ende sinnlos, ja sinnzersetzend sei. „Da es jedoch von selbst sich versteht, daß was seinen Anfang nicht gefunden, auch sein Ende nicht finden kann, so wollen wir uns bloß auf die Vergangenheit beschränken und fragen, ob uns von dieser Seite die Geschichte ein Ganzes und Abgeschlossenes ist, und nicht vielmehr, nach allen bis jetzt stillschweigend oder ausdrücklich erklärten Ansichten, die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft eine gleichmäßig ins Unendliche fortgehende, durch nichts in sich selbst unterschiedene und begrenzte Zeit sey.“ (Ebd.) Wahre Geschichtsphilosophie kann es nach Schelling nicht geben, wenn es „am Besten fehlt, nämlich am Anfang“ (232). Denn eine Geschichte, die ihres Anfangs entbehrt, verläuft zwangsläufig ziellos. Ihr gesamtes Beginnen hat mithin keinen Sinn. Der Philosophie der Mythologie kommt daher für die Philosophie der Geschichte eine grundlegende Bedeutung zu. Denn ihr Thema sind Herkunft und anfängliches Beginnen der Geschichte. Um sie zu erfassen, ist es Schellings Urteil zufolge nötig, ein „System der Zeiten“ (235) zu entwickeln, und zwischen einer geschichtlichen und einer vorgeschichtlichen Zeit zu unterscheiden, wobei in Bezug auf die vorgeschichtliche noch einmal zwischen einer relativ- und einer absolut-vorgeschichtlichen Zeit zu differenzieren sei. Solle die Zeit und mit ihr die Geschichte nicht im Grenzenlosen zerfließen, müsse mit „wirklich und innerlich voneinander verschiedene(n) Zeiten“ (232) gerechnet werden, „in die sich für uns die Geschichte absetzt und gliedert“ (ebd.). Die Geschichte der geschichtlichen Zeit ist von der vorgeschichtlichen von Mythos und Mythologie als der Geschichte gründender Urzeit abgesetzt, die mythologische Vorgeschichte, welche die aus ihr hervorgehende Geschichte zeitigt und
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insofern in einer Beziehung zu ihr steht ihrerseits von der nicht nur relativ-, sondern absolut-vorgeschichtlichen Zeit als der „Zeit der vollkommenen geschichtlichen Unbeweglichkeit“ (234). Die absolut-vorgeschichtliche Zeit ist zeitlos bzw. eine Zeit ohne Zeitverlauf und ohne Zeitenfolge, die ewige Wiederkehr des Gleichen. In ihr ist kein Fortgang und mithin keine Geschichte, die diesen Namen verdient. Alles ist, wie es ist, um als das, was es ist, beständig zu bleiben. In geschichtlicher Perspektive muss die absolut-vorgeschichtliche Zeit als bloßer Moment schierer Indifferenz des rein Anfänglichen erscheinen, als ein stehendes Jetzt ohne Vorher und Nachher. Für Schelling folgt daraus nicht, dass das nunc stans am Urbeginn der Zeit nicht von Dauer war. Aber die Dauer steht noch ganz im Banne des Raumes und ist daher vielleicht eher als Ausdehnung zu beschreiben denn als Zeitspanne. Eine echte Sukzession von Zeiten jedenfalls fehle, womit allerdings nicht gemeint sei, dass in absolut-vorgeschichtlicher Zeit „überall nichts vorfalle, wie ein gutmüthiger Mann sich das gedeutet hat. Denn freilich auch in jener schlechthin vorgeschichtlichen Zeit ging die Sonne auf und unter, die Menschen legten sich schlafen und standen wieder auf, freieten und ließen sich freien, wurden geboren und starben. Aber darin ist kein Fortgang und also keine Geschichte, wie das Individuum, in dessen Leben gestern wie heute, heute wie gestern ist, dessen Daseyn ein immer sich wiederholender Cirkel gleichförmiger Abwechslung ist, keine Geschichte hat.“ (Ebd.)23 Die zeitlose Zeit der absoluten Vorgeschichte ist vorbei, sobald die relativvorgeschichtliche Zeit sich zeitigt, aus der die Geschichte hervorgehen wird. Manifest ist das Geschehen der vorgeschichtlichen Zeit als der Grenze der Geschichte nach Schelling im mythologischen Prozess. Dieser führt zur echten Geschichte hin, die aus ihm hervorgeht, um dann ihren eigenen Verlauf zu nehmen. Schelling kann die auf die Geschichte bezogene relative Vorzeit auch Prähistorie nennen, um sie von der eigentlichen Vorgeschichte abzuheben. Wie 23 „Eine wahre Aufeinanderfolge wird nicht durch Begebenheiten gebildet, die ohne Spur verschwinden und das Ganze in dem Zustand zurücklassen, in dem es zuvor war. Aus diesem Grunde also, weil in der absolut vorgeschichtlichen Zeit das Ganze am Ende ist wie es im Anfang war, weil also in dieser Zeit selbst keine Folge von Zeiten mehr ist, weil sie, auch in diesem Sinn nur Eine, nämlich, wie wir uns ausdrückten, die schlechthin identische, also im Grund zeitlose Zeit ist (vielleicht ist diese Gleichgültigkeit der vergehenden Zeit von der Erinnerung durch die unglaublich lange Lebensdauer der ältesten Geschlechter festgehalten); aus diesem Grunde, sage ich, bedarf sie selbst nicht wieder der Begrenzung durch eine andere, ihre Dauer ist gleichgültig, kürzer oder länger ist dasselbe; mit ihr ist daher nicht bloß eine Zeit, sondern die Zeit überhaupt begrenzt, sie selbst das Letzte, zu dem man in der Zeit zurückgehen kann. Ueber sie hinaus ist kein Schritt mehr als in das Uebergeschichtliche, sie ist eine Zeit, aber die schon nicht mehr in sich selbst, die nur im Verhältniß zu dem Folgenden eine Zeit ist; in sich selbst ist sie keine, weil in ihr kein wahres Vor und Nach, weil sie eine Art Ewigkeit ist, wie auch der hebräische Ausdruck (olam), der für sie in der Genesis gebraucht ist, andeutet.“ (234 f.)
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immer man es terminologisch halten will: Da der mythologische Prozess die historische als die eigentlich geschichtliche Zeit initiiert, ist die Philosophie der Mythologie, wie Schelling sagt, „selbst der erste, also nothwendigste und unumgänglichste Theil einer Philosophie der Geschichte“ (237). Ihre wesentliche Aufgabe bestehe darin, die Prähistorie der vorgeschichtlichen Zeit zu erkunden und das Dunkel aufzuklären, aus dem heraus die Geschichte ihren Anfang nahm. „Es hilft nichts zu sagen, die Mythen enthalten keine Geschichte; als einst wirklich gewesene und entstandene sind sie selbst der Inhalt der ältesten Geschichte, und muß es doch, wenn man auch die Philosophie der Geschichte auf die geschichtliche Zeit beschränken will, als unmöglich erscheinen, ihr einen Anfang zu finden oder irgend einen sichern Schritt in ihr zu thun, wenn uns das, was diese (die geschichtliche Zeit) als Vergangenheit von sich selbst setzt, völlig verschlossen bleibt. Eine Philosophie der Geschichte, die der Geschichte keinen Anfang weiß, kann nur etwas völlig Bodenloses seyn und verdient den Namen der Philosophie nicht.“ (Ebd.)
8.
Entmythologisierung: Zur Kritik eines Schlagworts
Mythologie beschreibt nach Schelling einen theogonischen Prozess, ein wirkliches, polytheistisch vermitteltes Werden Gottes im menschlichen Bewusstsein, wie es sich im Verlauf der Religionsgeschichte vollzieht. Mythen habe man demnach auf spezifisch religiöse, wahrhaft geschichtliche und realideale Weise zu verstehen, wohingegen eine lediglich poetische und allegorische Erklärweise abzulehnen sei. Die allegorische Interpretation stelle zwar die Wahrheit von Mythen nicht generell in Abrede, suche diese aber nicht in ihnen, sondern außerhalb ihrer, nämlich in einem – vom buchstäblichen abgehobenen – hintergründigen Sinn. Die mythologische Form werde problematisiert, um eines wahren Sinngehalts ansichtig zu werden. Sei doch, so die Annahme, der Mythos eine verhüllende Einkleidung der Wahrheit, wenn er sie nicht gar auf missverständliche Weise zur Darstellung bringe oder entstelle. Das allegorische Mythologieverständnis fordert hermeneutische Entschlüsselung, um die in den Mythen verhüllten, verkleideten oder entstellten Wahrheiten zutage zu fördern: Damit Mythen nicht unverstanden bleiben bzw. missverstanden werden, bedarf es ihrer Entmythologisierung, wie die allegorische Deutung sie leistet. Prominent vertreten wurde diese zu Schellings Zeiten durch den Göttinger Altphilologen Christian Gottlob Heyne. Seine Mythendeutung war nicht nur im 19. Jahrhundert sehr einflussreich, ihre Wirkungsgeschichte reicht weit ins 20. Jahrhundert hinein. Rudolf Bultmann und die von ihm initiierte Entmythologisierungsdebatte belegen dies auf paradigmatische Weise: Sie „folgen … dem von Schelling als ‚allegorisch‘ klassifizierten Mythosbegriff
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Heynes“24. So urteilt Wolfhart Pannenberg in dem eingangs erwähnten Text „Christentum und Mythos“, den er für den Band „Terror und Spiel. Grundprobleme der Mythenrezeption“ der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ verfasst hat und der kurz nach der Erstveröffentlichung erneut selbstständig publiziert worden ist.25 Dass die Auseinandersetzung mit Bultmann und der durch seine Schrift „Neues Testament und Mythologie“ angestoßene Debatte einen wesentlichen Bezugspunkt seiner Darstellung bildet, hat Pannenberg im Vorwort des Separatums sogleich angesprochen: „So durchschlagend das Schlagwort der Entmythologisierung der Christentums im allgemeinen Bewußtsein gewirkt hat, so problematisch ist die dabei zugrunde liegende Auffassung des Mythischen, und als entsprechend fragwürdig stellen sich die Forderungen der Entmythologisierung dar. Die vorliegende Studie möchte dazu beitragen, diesen Sachverhalt bewußt zu machen, zugleich einen besser begründeten Begriff des Mythischen entwickeln und die Konsequenzen seiner Anwendung auf die biblischen Schriften andeuten.“26 Bultmanns Schrift „Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung“ ist im Jahr 1941 erstmals erschienen. Erneut abgedruckt wurde sie 1948 in dem Sammelband „Kerygma und Mythos I“. Ein Nachdruck der Erstausgabe wurde 1985 von Eberhard Jüngel herausgegeben.27 Bultmanns Schrift, der ein Vortrag vor der 24 W. Pannenberg, Christentum und Mythos, 17. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 25 Erneut abgedruckt wurde die Schrift im zweiten Band von Pannenbergs Gesammelten Aufsätzen „Grundfragen systematischer Theologie“, Göttingen 1980, 13–65. Sie skizziert, wie Pannenberg im Vorwort von GsTh II, 7–12; hier: 8 vermerkt, „eine Alternative zu dem in Bultmanns Entmythologisierungsprogramm zugrunde liegenden Verständnis des Mythischen und zu der dort versuchten Ausgrenzung und sachkritischen Würdigung mythischer Bestandteil der biblischen Überlieferungen. Die einst leidenschaftlich geführt Diskussion um diese Fragen ist im letzten Jahrzehnt eingeschlafen. Man wird darin aber eher die Folge einer gewissen Erschöpfung und einer Zuwendung zu anderen aktuellen Themen erblicken müssen, als das Ergebnis einer allseits zufriedenstellenden Lösung. Im Gang der theologischen Diskussion findet eben nur selten eine kontinuierliche Entfaltung der großen Probleme der Theologie ihren Ausdruck. Das durch den Begriff des Mythischen bezeichnete Thema aber ist zu ernst, als daß es mit der Wendung des theologischen Interesses zu anderen Themen als erledigt gelten dürfte. In der Frage nach dem Mythischen in den biblischen Überlieferungen sammelt sich wie in einem Brennpunkt all das, was für das moderne Bewußtsein gerade auch dort, wo es seine eigene christliche Vermittlung nicht verleugnet, einen sachkritischen Umgang mit den biblischen Texten über alle marginalen Zeitbedingtheiten hinaus auch hinsichtlich ihrer religiösen Thematik selber unumgänglich macht.“ 26 Ders., Christentum und Mythos, 5. 27 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, München 1985. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Nach Jüngel war Bultmanns Methode der Schriftauslegung durch das „alsbald heftig umstrittene Kunstwort Entmythologisierung zwar nicht unbedingt
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„Gesellschaft für evangelische Theologie“ zugrunde lag, beginnt mit der Feststellung, dass das Weltbild des Neuen Testamentes ein mythisches und die aktuelle Repristinierung des mythischen Weltbilds eine Unmöglichkeit sei (vgl. 12 f.). Angesichts dieser Problemlage sei es unumgänglich, die Verkündigung des Neuen Testaments zu entmythologisieren, wenn sie ihre gegenwärtige Gültigkeit behalten solle. Nach knappen Bemerkungen zu früheren Versuchen beschließt Bultmann den ersten Teil seiner Ausführungen („Die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung als Aufgabe“) mit der Forderung einer existentialen Interpretation der mythologischen Begrifflichkeiten (vgl. 28 f.). Wie diese zu geschehen habe, wird im zweiten Vortragsteil („Der Vollzug der Entmythologisierung in Grundzügen“) skizziert und zwar unter dem Gesichtspunkt des christlichen Seinsverständnisses und des göttlichen Heilsgeschehens in Jesus Christus, wie es im Entscheidungsruf des Evangeliums aktuelles Ereignis werde. Verbleibt im Zuge existentialer Interpretation der neutestamentlichen Verkündigung „ein mythologischer Rest“? (63) Bultmanns Antwort auf die selbstgestellte Frage lautet: „Wer es schon Mythologie nennt, wenn von Gottes Tun, von seinem entscheidenden eschatologischen Tun, die Rede ist, für den gewiß. Aber jedenfalls ist dann solche Mythologie nicht mehr Mythologie im alten Sinne, die mit dem Untergang des mythischen Weltbildes versunken wäre.“ (Ebd.)28 Bleibt zu fragen, was Bultmann unter Mythologie im alten Sinne und unter dem sie bestimmenden Mythosbegriff näherhin versteht. Die Antwort auf diese Frage fällt denkbar knapp aus: Der Mythos „redet vom Unweltlichen weltlich, von den Göttern menschlich“ (22). Erläuternd wird anmerkungsweise angefügt: „Mythologisch ist die Vorstellungsweise, in der das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint, in der z. B. Gottes Jenseitigkeit als räumliche Ferne bedacht wird; eine Vorstellungsweise, der zu-
glücklich, dafür aber provozierend benannt“ (a. a. O., 7). „Entmythologisierung war indessen nur die negative Formulierung für das, was mit der Forderung einer existentialen Interpretation der neutestamentlichen Texte positiv intendiert war: eine den gegenwärtigen Menschen auf sich selbst ansprechende Auslegung der neutestamentlichen Botschaft von Gottes Heilstat in Jesus Christus.“ (Ebd.; vgl. dazu im Einzelnen: G. Wenz, Offenbarung. Problemhorizonte modernen evangelischer Theologie, Göttingen 2005, 226–234.) 28 Vgl. dazu die in einer gemeinsamen Publikation (München 1954) dokumentierte Debatte zwischen Bultmann und Karl Jaspers über „Die Frage der Entmythologisierung“. Jaspers beurteilte dabei Bultmanns Programm als „wunderlichste Mischung von falscher Aufklärung und gewaltsamer Orthodoxie“ (54). Bultmann konterte mit einem Angriff auf das Jaspersche Verständnis des Mythos als Chiffre der Transzendenz, jenes „Zauberwort, mit dem das hermeneutische Problem niedergeschlagen wird“ (63). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bemerkung Pannenbergs in einer Diskussionsrunde von „Poetik und Hermeneutik“ zum Problem der Mythenrezeption: „Der Begriff des schöpferischen göttlichen Wortes ist zweifellos von ungebrochen mythischer Herkunft.“ (M. Fuhrmann [Hg.], a. a. O., 581)
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folge Kultus als Handeln verstanden wird, in dem durch materielle Mittel nichtmaterielle Kräfte vermittelt werden.“ (23 Anm. 20) Bultmann beansprucht Mythos und Mythologie in dem Sinne zu verstehen, „wie die religionsgeschichtliche Forschung ihn versteht“ (22 f. Anm. 20). Gemäß Pannenberg wirkt dieser Anspruch angesichts der in der neuen Religionswissenschaft geführten Diskussionen des Mythosbegriffs zunächst „einigermaßen erstaunlich“29. Er werde erst verständlich, wenn man die religionsgeschichtliche Forschung, von der Bultmann spreche, mit der sog. Religionsgeschichtlichen Schule gleichsetze, aus der er selbst hervorgegangen sei. Zwar habe „Bultmanns Lehrer W. Bousset ebenso wie H. Gunkel den Begriff des Mythos inhaltlich enger“ (13) verstanden als Bultmann. Doch sei von ihm wie von anderen Repräsentanten der sog. Religionsgeschichtlichen Schule das Mythische vorwiegend als „unwillkürliche, für eine nun überwundene Stufe der menschlichen Geistesgeschichte charakteristische Vorstellungsweise“ (7) aufgefasst worden, die das Eigentliche uneigentlich verhüllt und gegebenenfalls verstellt, in jedem Fall aber so begreife, wie es dem gegenwärtigen Bewusstsein nicht mehr begreiflich zu machen sei. Bultmanns Begriff von Mythos und Mythologie ist nach Pannenberg nicht derjenige der modernen Religionswissenschaft, sondern der sog. Religionsgeschichtlichen Schule, deren eigentliche Auffassung der Mythischen als einer uneigentlichen und tendenziell primitiven Vorstellungsform mit Schelling dem allegorischen Typ zuzuordnen und in Grundzügen auch auf Chr.G. Heyne zurückzuführen sei, der die mythische Tradition als eine der Kindheitsgeschichte des Menschengeschlechts zuzurechnende Vorstellungs- und Ausdrucksweise gekennzeichnet habe. Pannenberg beruft sich für diese Annahme insbesondere auf die Untersuchung von Chr. Hartlich und W. Sachs über den „Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft“30, wo im Detail gezeigt 29 W. Pannenberg, Christentum und Mythos, 13. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 30 Chr. Hartlich/W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952. Bei der Untersuchung handelt es sich um die Bearbeitung einer Preisaufgabe der „Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien in Deutschland“ vom Jahr 1950. Gefragt wurde, „wie der Begriff des Mythos, der heute im Streit um die Entmythologisierung des Neuen Testaments gebraucht wird, in die moderne Bibelwissenschaft eingeführt worden ist“ (Vorbemerkung). Berücksichtigt werden sollte dabei insbesondere der Einfluss der Hegelschen Religions- und Geschichtsphilosophie in Gestalt vor allem von D.F. Strauß. Die Studie beansprucht zu zeigen, dass Straußens kritischer Gebrauch des Mythosbegriffs unabhängig von spezifischen Voraussetzungen der Philosophie Hegels sei; im Übrigen begegne der Begriff bereits zwei Generationen vorher im Kontext biblischer Exegese. Als Vorbereitung für die Einführung des Mythosbegriffs in die Bibelwissenschaft wird die poetische Auslegung des Alten Testaments bei R. Lowth, Bischof der Church of England und zugleich Freund David Humes, gewertet (vgl. 6 ff.). Sodann kommen Chr. G. Heynes „Entdeckung der Eigenständigkeit und Universalität des Mythischen als einer notwendigen
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werde, wie Heynes Auffassung von Mythos und Mythologie auf die biblischen Studien der Religionswissenschaftlichen Schule eingewirkt habe und in Bezug auf die Exegese des Alten, dann auch des Neuen Testaments virulent geworden sei. Bultmann schließlich habe den strukturellen Grundgedanken von Heynes Mythologieverständnis, wonach der Mythos einen an sich wahren Sachverhalt wenn nicht unwahr, so doch in nicht wahrheitsgemäßer Weise darstelle, auf die bereits zitierte Formel gebracht, der zufolge mythische Rede vom Göttlichen menschlich und vom Unweltlichen weltlich rede. Der Heyne’sche Mythosbegriff sei von Bultmann in diesem Sinne „als Gegenbegriff zu seinem eigenen Verständnis der Wirklichkeit Gottes“ (16) aufgegriffen worden. Er „erlaubte ihm, jeden andern als den ganz andern Gott der dialektischen Theologie, jede Verbindung des Göttlichen mit Welt und Mensch als Ausdruck der überlebten Geistesart einer vorwissenschaftlichen Denkform abzuweisen“ (ebd.). Bultmann als Initiator der Entmythologisierungsdebatte ist nach Pannenberg im Zuge der Tradition der Religionswissenschaftlichen Schule vom Mythosbegriff Heynes bestimmt, den Schelling als allegorisch klassifiziert und abgelehnt hatte. Pannenberg teilt Schellings Kritik. Zugleich sucht er konstruktiven Anschluss an dessen religiöses Mythologieverständnis und die von Creuzer inspirierte Annahme, wonach der Mythos im Unterschied zu anderen archaischen Erzählungsformen von gründender Urzeit bzw. von einer Vorgeschichte handle, welche die Ordnung der geschichtlichen Welt im Ganzen fundiere. Dieses MyEntwicklungsstufe des menschlichen Geistes“ (11) und die Übertragung der Heyneschen Mythosauffassung auf das Alte Testament durch J.G. Eichhorn und J.Ph. Gabler in Betracht (vgl. 20 ff.). Im Zusammenhang der sog. mythischen Schule wird schließlich das Übergreifen der mythischen Erklärungsart auf neutestamentliche Texte thematisiert (vgl. 61 ff.). Die beiden Schlusskapitel sind W.M.L. de Wettes Auffassung vom Mythos als der Ausdruckskategorie religiösen Lebens (vgl. 91 ff.) und D.F. Straußens radikal-mythischer Ansicht des Lebens Jesu und ihren hermeneutischen Grundlagen (vgl. 121 ff.) gewidmet. Beigegeben ist u. a. ein Exkurs zur Verwandtschaft der Mythosauffassung des Göttinger Altertumsforschers Heyne und Humes Ansicht vom Ursprung der Religion (vgl. 169 ff.). Als wichtigstes Ergebnis der Studie wird geltend gemacht, dass der Ursprung des Mythosbegriffs in der neueren Bibelwissenschaft in der Übertragung der von Heyne ausgebildeten Mythostheorie auf das Alte Testament und von dort auf das Neue liege. Ohne die Richtigkeit dieses Befunds in Zweifel zu ziehen, muss wirkungsgeschichtlich in Rechnung gestellt und im Bewusstsein gehalten werden, dass die Bedeutung des Mythosbegriffs sowohl nach Heyne als auch bei ihm selbst fließend bleibt. Zwar lehnt Heyne die Auffassung der Mythologie als ein System bloßer Fiktionen und willkürlicher Erdichtungen ab, indem er Mythen zu erzählerischen Dokumenten von urtümlichen Volksanschauungen aus vorliterarischer Zeit erklärt. Doch bleibt offen, ob diese mit einem bleibenden Geltungsanspruch zu versehen oder lediglich als beschränkte Ausdrucksweisen einer menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsperiode zu betrachten sind, die längst überholt ist. Auch in der Folge erscheinen Begriff, Sinn und Geltungsanspruch des Mythischen als nicht eindeutig festgelegt. Auch die Grenze zwischen mythischen Erzählungen und beispielsweise Sagen, Märchen oder Fabeln ist nicht klar gezogen und fixiert. Umgangssprachlich wird bis heute das Mythische häufig mit Sagen-, Märchen- und Fabelhaftem assoziiert.
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thosverständnis habe sich „in der religionswissenschaftlichen Mythosforschung des 20. Jahrhunderts weithin durchgesetzt“ (8). Demzufolge unterscheide sich der Mythos „von Sage und Märchen vor allem dadurch, dass er in der Urzeit, d. h. im ‚Anfang‘ der jetzigen Lebensordnung Geschehenes zum Gegenstand hat, das diese jetzige Lebensordnung konstituiert und darin seine fortwirkende Kraft erweist. Die spezifische Zeitlichkeit des Mythos hängt aufs engste mit seiner Funktion als gründender, fundierender Geschichte zusammen: die Zeit, in der die gegenwärtigen Ordnungen der natürlichen und gesellschaftlichen Welt entstanden, ist eben – vom gegenwärtigen Lebenden her geurteilt – die ‚Urzeit‘, jedenfalls dann, wenn die gegenwärtige Ordnung der Dinge zugleich als unverbrüchlich gültig verstanden wird.“ (9) Nach Pannenbergs Urteil ist Bultmanns Entmythologisierungsprogramm nicht nur durch ein unglücklich gewähltes Kunst-, sondern durch ein Schlagwort gekennzeichnet, welches in die Irre führt, weil es einen Mythosbegriff in Anschlag bringt, der forschungsgeschichtliche als überholt und unangemessen zu gelten hat. Zwar solle mit dieser Feststellung nicht das Gewicht der von dem Programm angeregten Auseinandersetzungen um „die Gültigkeit oder Ungültigkeit gewisser vorneuzeitlicher und vorwissenschaftlicher Denk- und Vorstellungsformen“ (17) bestritten werden, doch sei der Programmtitel irreführend, weil es in dem Streit gar nicht darum gehe, was die neuere Religionswissenschaft aus guten, empirisch abgesicherten Gründen Mythos und Mythologie nenne; der Titel, unter dem die Auseinandersetzung geführt werde, sei abwegig nicht zuletzt deshalb, weil er das umfassende Problem einer zeitgemäßen Hermeneutik biblischer Texte in unsachgemäßer Weise perspektivisch verenge. Halte man sich an den Mythosbegriff, wie er in der neueren Religionswissenschaft vor allem durch B. Malinowski erschlossen und dann durch H. Preuss, K. Kerenyi, M. Eliade weiterentwickelt worden sei, dann habe man im Mythos nicht „lediglich einen symbolischen Ausdruck für etwas von ihm selbst Verschiedenes zu suchen oder ihn als eine Form primitiver Erklärung der Erfahrenswirklichkeit aufzufassen“ (ebd.). Ihrem spezifischen, empirisch verifizierbaren Begriff nach seien Mythos und Mythologie als Urzeitnarrative aufzufassen, wobei die mythischen Urzeitlichkeit untrennbar mit einer „die gegenwärtige Weltordnung begründenden Funktion“ (10) verbunden sei. Aus dieser Verbindung erkläre sich auch die enge „Zusammengehörigkeit von Mythos und Kult“ (11), die sich sowohl vom Wesen der Kulthandlung als einer rituellen Repräsentation von religiös Grundlegendem als auch von der fundierenden Funktion des vom Mythos bezeugten Urtümlichen für gegenwärtig in Geltung Stehendes her erschließe (vgl. 11 f.).
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Gunther Wenz
Mythos und biblische Geschichte
Neben der Erkenntnis einer elementaren Zusammengehörigkeit mit dem Kultus hat in der neueren Religionswissenschaft nach Pannenberg insbesondere die genaue Unterscheidung der ihm eigenen Erzählungsform von anderen archaischen Narrativen wie Sage oder rudimentärer Ätiologie „zur Gewinnung eines präzise bestimmten empirischen Mythosbegriffs beigetragen, im Gegensatz vor allem zur ästhetisierenden Deutung des Mythos als freie Dichtung“ (11). Auch in dieser Hinsicht habe Schelling bereits beachtliche Vorarbeit geleistet, indem von ihm im Verein mit der allegorischen auch die poetische Erklärungsweise abgelehnt worden sei. Mythen seien weder „Ausdruck für etwas anderes, z. B. für Naturvorgänge“ (18), noch auch Produkte dichterischer Phantasie. Sei Schelling in seiner Frühzeit selbst der poetischen Mythendeutung gefolgt, so habe er sie „in seiner späten Philosophie der Mythologie“ (24) entschieden kritisiert und ihr entgegengehalten, dass sie „den Mythos nicht als Wahrheit gelten“ (ebd.) lasse. Pannenberg teilt die Auffassung Schellings und bringt sie aus gegebenem Anlass insbesondere gegen das Mythosverständnis in Stellung, welches Hans Blumenberg in seinem Einführungsbeitrag zum Forschungskolloquium von „Poetik und Hermeneutik“ zum Problem der Mythenrezeption entwickelt hatte. Blumenberg erklärte darin unter Bezug auf eine Formulierung Creuzers, aber, wie Pannenberg vermerkt, „gegen dessen Intention“ (22), „die Verwandlung des Ernstes der Vorzeit in ein freies Spiel der Phantasie zum Wesen des Mythos“ (ebd.). Zumindest im Horizont seiner Rezeptionsgeschichte betrachtet stehe, so Blumenberg, der Mythos nicht länger für die Unantastbarkeit einer dogmatischen Formel, sondern werde zum Modulierungsgegenstand der spielerischen Phantasie von Dichtern und freien Denkern: Der mythische Terror als Kategorie „der Passivität dämonischer Gebanntheit“31 kehre sich ins Antithetische, um „als imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignung der Welt und theomorpher Steigerung des Menschen“32 zu dienen. Pannenberg leugnet nicht die literarische Potentialität mythischer Stoffe und die Möglichkeiten ihrer in dichterischer Freiheit zu vollziehenden Aktualisierung. Doch kritisiert er, dass in Blumenbergs Perspektive „überhaupt nur noch ‚Späthorizonte‘ des Mythos unter dem Namen des Mythischen in den Blick“ (ebd.) kommen, die Ursprungsbedeutung von Mythos und Mythologie dagegen ausgeblendet oder im Vagen bleibe.
31 H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotentialität des Mythos, in: M. Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel, 11–66, hier: 13. 32 Ebd. Der Titel des Sammelbands ist offenkundig analog zu der von Blumenberg aufgerichteten mythologischen Antithese formuliert.
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In den Diskussionsrunden des Kolloquiums von „Poetik und Hermeneutik“ zu den Problemen der Mythenrezeption hatte Pannenberg wiederholt vor einer Entspezifizierung des Mythosbegriffs gewarnt. Lasse sich „keine Auskunft über das Substrat der ‚Mythenstücke‘“33 und die Ursprungsbedeutung von Mythos und Mythologie geben, dann müsse das Tagungsthema „allmählich zerfließen“34 Dieses Bedenken wird in Pannenbergs Textbeitrag namentlich in Bezug auf Blumenbergs Mythosverständnis vorgebracht, das von der genuinen Bedeutung des Mythos und seiner ursprünglich vorliterarischen Natur kaum etwas erkennen lasse. Den genuinen Mythos mit Terror zu assoziieren sei insofern abwegig, als es ihm wesentlich „um die das schreckenerregende Chaos überwindende Ordnung“ (22 Anm. 36) zu tun sei, „die in urzeitlichem Geschehen begründet gedacht wird“ (ebd.). Nicht weniger bedenklich sei es, das „Orientierung begründende Geschehen“ (ebd.), von dem der Mythos handle, dem Spiel dichterischer Phantasie und Freiheit zu überantworten, weil damit der mythologische Wahrheitsanspruch unstatthaft unterlaufen werde. Gegen die poetische Deutung des Mythos, wie Blumenberg sie favorisiert, will Pannenberg mit Schelling dezidiert am religiösen Sinn und am Realitätsanspruch des Mythos „als Ausdruck des Bewußtseins von der fortwirkenden Aktualität gründender Urzeit“ (21) festhalten. Mythen lassen sich nach Pannenbergs Urteil weder allegorisch verstehen, noch zum reinen Produkt dichterischer Phantasie erklären. In letzterer Hinsicht wird eigens auf Schellings Argument Bezug genommen, wonach die dichterische Erfindung in Sachen Mythologie von einem Stoff abhängig sei, der ihr schon vorliege, den sie variiere und der auch nicht als Schöpfung einer Volkspoesie verständlich werde, „weil vielmehr umgekehrt das einzelne Volk selbst nicht ohne seine charakteristische Mythologie vorstellbar ist“ (25). „Auch die Verschiebung in die Anonymität des Volksgeistes vermag also die These vom poetischen Ursprung der Mythologie nicht zu retten. Über Schellings Argumentation hinausgehend läßt sich vermuten, daß vielmehr umgekehrt die fortdauernde Bedeutung mythischer Stoffe für die Poesie auch damit zusammenhängen mag, dass sie eine geistige Dimension repräsentieren, die der subjektiven Erfindung des Dichters vorausliegt und dennoch Anreiz zu schöpferischer Deutung wird und ihr zugleich Raum gibt.“ (Ebd.)35 33 H. Fuhrmann (Hg.), a. a. O., 561. Zur Diskussion des Blumenbergtextes vgl. 527–547,, bes. 543 f. 34 A. a. O., 561. 35 Bemerkungen zur spezifischen Problematik des „Neuen Mythos“ schließen sich an. Sie bekräftigen die Kritik am poetischen Ursprung der Mythen: „Schellings Einwand, daß die poetische Deutung des Mythos diesen seiner Wahrheit beraube, indem sie ihn als bloße Erfindung des Dichters ausgibt, erfährt eine im Gesichtskreis Schellings noch nicht vorgesehene Bestätigung dadurch, daß der Dichter vergeblich die Wahrheit des Mythos zu restituieren sich bemüht.“ (26)
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Die Bestreitung einer poetologischen Grundlegung und Genese von Mythos und Mythologie muss nicht bedeuten, die literarische Wirksamkeit mythischer Stoffe und Kategorien in Abrede zu stellen. Pannenberg betont diese Wirksamkeit nachdrücklich, um sie in Bezug auf das Buch der Bücher, die Bibel, und die Hl. Schriften Alten und Neuen Testaments zu belegen. Dies geschieht sehr detailliert. Begründet wird die Ausführlichkeit der Darstellung, die zwei Drittel der Studie umfasst, mit der Tatsache, dass Pannenberg als einziger Repräsentant der Theologie in „Poetik und Hermeneutik“ deren Gesichtspunkte insgesamt wahrzunehmen hatte. Er musste daher, wie vermerkt, – „auch exegetische Details verhältnismäßig eingehend behandeln“ (5). Davon kann im gegebenen Zusammenhang abgesehen werden und das umso mehr, als Pannenberg den diesbezüglichen Teil seines Textes ohnehin „mehr als Illustration des hier entwickelten Mythosbegriffs durch Hinweis auf seine mögliche Tragweite für die Exegese verstanden wissen“ (ebd.) wollte. Am Anfang von Pannenbergs Überlegungen zum Verhältnis von Mythos und biblischer Literatur stehen weit ausgreifende Erörterungen zur alttestamentlichen Tradition. Sie führen zu dem vorweg konstatierten Ergebnis, „daß Israel zwar durchaus mythische Stoffe in seine Überlieferungen aufgenommen, ihre mythische Struktur dabei aber in einer Weise verwandelt hat, daß im Hinblick auf solche Adaption der Eindruck einer ‚Entmythologisierung‘ sich aufdrängt“ (28). In Betracht kommen in Bezug auf die Überlieferungsbestände der hebräischen Bibel neben Rezeptionen insbesondere aus dem Bereich der babylonischen Mythologie (vgl. 46 ff.) vor allem das israelspezifische Zeit- und Raumverständnis (vgl. 31 ff.), die institutionellen Bereiche von Königtum und Kultus (vgl. 38 ff.), „in denen mythische Denkformen sich besonders hartnäckig erhielten“ (38), sowie mythische Motive innerhalb der Prophetie und in eschatologischen Kontexten (vgl. 54 ff.). Dass babylonische und Mythologeme aus dem sonstigen religionskulturellen Umfeld Israels zu dessen Bildungsgut gehörten und „in seine Sagenüberlieferungen, sowie in seine hymnische und poetische Sprache eingegangen“ (46) sind, hält Pannenberg für unstrittig erwiesen. Exemplifiziert wird dies am babylonischen Schöpfungsmythos und an seinen Chaos-Drachen-Kampf- und Urmenschmotiven. Reminiszenzen an sie finden sich, wie Pannenberg konstatiert, in einer ganzen Reihe von alttestamentlichen Texten, einschließlich des Gedankens einer gründenden Urzeit. Doch werde dieser Gedanke dadurch historisiert, dass die Urzeitlichkeit der Schöpfung als Anfang und zeitliches Beginnen bestimmt und ihrer Permanenz beraubt werde, da die Möglichkeit ihrer kultischen bzw. anderweitigen Wiederholung nicht vorgesehen sei. Die Schöpfung ist „zu einem definitiv vergangenen und gerade so für die weitere Geschichte der Welt grundlegenden Geschehen geworden. Damit hat sie den wesentlichen Zug des Mythos verloren, als anfängliches Geschehen zugleich jederzeit in kultischer
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Begehung präsent werden zu können“ (46 f.). Was aber das Chaos-Drachenkampf-Motiv oder vergleichbare Mythologeme betreffe, so werde mit ihren polytheistischen Aspekten auch derjenige ausgeschieden, wonach der Wirksamkeit der Schöpfergottes andere Mächte vorausgeschickt oder an die Seite gestellt seien, deren er erst Herr werden müsse, um schöpferisch zu sein. Zum Mythos vom Urmenschen wird schließlich vermerkt, dass zwar auch der biblische Adam mitsamt seiner Eva als Repräsentant gründender Urzeit und als Vater des Menschengeschlechts vorgestellt werde, um dann allerdings im begonnenen Verlauf der Urgeschichte „nur noch der historisch erste Mensch“ (48) und „nicht mehr paradigmatisch für alles spätere Menschsein“ (ebd.) zu sein, „das vielmehr über den Anfang bei Adam hinausführt durch die Gestalten Noahs, Abrahams, der übrigen Väter und Moses“ (ebd.). Die Tendenz zur Historisierung mythischer Bestände lässt sich nach Pannenberg in Bezug auf die Traditionen der hebräischen Bibel und die Überlieferungen Israels in vielfacher Hinsicht aufzeigen, u. a. an der Institution des Jerusalemer Königtums. Ihre Wurzeln liegen „nicht im Mythos, sondern im Gedanken göttlicher Erwählung“ (39), auch wenn mythische Interpretamente auf sie Anwendung gefunden hätten. „Ein ganz anderes Bild“, so Pannenberg, „ergibt sich im Bereich des Kultus. Hier sind mythische Denkformen offensichtlich nicht nur als Interpretamente für geschichtlich begründete Institutionen und Traditionen verwendet worden, sondern haben konstitutive Bedeutung gehabt.“ (41) Unterstrichen wird diese Feststellung durch den Hinweis, dass es sich im Falle der mythischen Motive im Kultbereiche Israels in der Regel und in erster Linie nicht „um eine Rezeption fremder mythischer Stoffe, sondern um ein der Form nach mythisch geprägtes Verhalten zu den Inhalten der eigenen, israelitischen Überlieferung“ (45) handle. Es verdient bemerkt zu werden, dass Pannenberg den Unterschied, der zwischen den israelitischen Institutionen des Königtums und Kults bezüglich ihrer mythischen bzw. nicht-mythischen Struktur waltet, mit derjenigen „zwischen der Wirksamkeit mythischer Zeiterfahrung und mythischer Raumvorstellung in Israel“ (38) analogisiert. Explizit spricht er von einer „ähnliche(n) Differenz“ (ebd.). Habe man in lokalen Präferenzen wie etwa der Auszeichnung Jerusalems und des Zionbergs als des Wohnsitzes Gottes recht eigentlich „kein urzeitliches Datum, sondern den Ausdruck einer geschichtlichen Erwählungstat Jahwes erkannt“ (36), worin sich das spezifische Geschichtsbewusstsein Israels äußere, so habe sich das israelitische Zeitverständnis „vom formalen Schema einer alles bestimmenden Urzeit erst im Laufe seiner Geschichte und nie vollständig befreit“ (38). Eine mythische Orientierung werde „schon darin erkennbar, daß der hebräische Sprachgebrauch die Zukunft durchweg als das im Rücken Liegende bezeichnet, während die Menschen das Vergangene ‚vor‘ sich haben, der Vorzeit zugewandt sind“ (31). Diese müsse zwar nicht, könne aber den Charakter
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gründender Uhrzeit haben. Nichtsdestoweniger gehe die Tendenz in der Religionsgeschichte Israels dahin, sich von mythischen Prägungen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht zu emanzipieren. Auf den ersten Blick mag Pannenbergs Urteil überraschen, wonach „das mythische Raumerlebnis keine so fundamentale Macht über das Bewußtsein Israels gehabt zu haben (scheint) wie das mythische Verhältnis zur Zeit“ (38). Doch zeigt sich bei genauerem Zusehen, dass dieser Sachverhalt eine Folge jenes Vorrangs darstellt, den Israel nach Pannenbergs und nicht nur nach Pannenbergs Einschätzung der Zeit und der Geschichte gegenüber dem Raum und gegenüber lokalen Gegebenheiten zuerkennt. Steht der Raum unter dem Vorzeichen der Zeit, die ihm seinen Platz in der Geschichte zuweist, dann stellt sich in Bezug auf diese das Problem ihres Beginnens direkter als in räumlicher Hinsicht. Womit soll der zeitliche Anfang gemacht werden, wenn nicht mit der Urzeit, von deren gründenden Funktion der Mythos erzählt und die offenbar im Hinblick auf die Zeit selbst und die zeitliche Geschichte von fundamentaler Bedeutung ist? Ist es nicht die mythische Urzeit, aus der alles Zeitliche hervorgeht und aus der heraus entsteht und erhalten wird, was Kosmos heißt? Muss diese die Zeit nicht überhaupt erst protologisch zeitigen, damit Geschichte beginnen und ihren geschichtlichen Verlauf nehmen kann? Fragen dieser Art mögen Hinweise darauf zu entnehmen sein, warum sich Israel in Bezug auf Zeit und Geschichte der mythischen Form in Teilen ihrer Überlieferung nicht entledigte, während die Emanzipation von ihr in räumlich-lokaler Hinsicht, wie es scheint, sehr viel leichter und schneller vonstatten ging.
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Protologie und Eschatologie
Das temporale Verständnis Israels und die biblische Geschichte des Alten Testaments sind nicht im Banne mythischer Urzeit geblieben, sondern haben sich aus ihm gelöst. Obzwar anfänglich durch mythische Urzeit generiert, schreitet das geschichtliche Beginnen über bloß Anfängliches hinaus, nicht um unaufhörlich das Gleiche wiederkehren zu lassen und die Urzeit zu wiederholen, sondern damit sich Neues und Einmaliges ereigne. In dieser Perspektive erscheint dann die Urgeschichte rückblickend selbst als anfänglicher Moment, der hingeordnet ist auf ein eschatologisches Ziel geschichtlicher Vollendung. In der biblischen Geschichte Alten Testaments bahnt sich nach Pannenberg ein dem Mythischen gegenläufiges Verständnis den Weg, das auf eschatologische Zukunft hin ausgerichtet ist, statt an urzeitlicher Herkunft und ihrer wiederkehrenden Repräsentation und Repristination orientiert zu sein. Geschichte erschöpft sich nicht in der beständigen Wiederkehr des Gleichen, sondern erschließt Kontingentes von individueller Singularität und Einmaligkeit. Zwar
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bleibt die zu erwartende eschatologische Zukunft auf das Vormalige bis hin zum Urzeitigen rückbezogen und kann daher gelegentlich mit mythischen Vorstellungen in Verbindung gebracht werden. Doch transzendiert sie mit allem Bisherigen auch das Uranfängliche, das sie nicht lediglich rekapuliert, sondern aufhebt, will heißen: bestimmt negiert, bewahrt und vollendet. Die Endzeit entspricht nicht unmittelbar der Urzeit, da die Geschichte nicht zyklisch, sondern in zielgerichteter Unumkehrbarkeit verläuft. Eschatologie lässt sich nicht auf Protologie reduzieren, da das kommende Reich Gottes alle Herkömmlichkeiten transzendiert. An dieser Einsicht, die sich in der Religionsgeschichte Israels anbahnt, konnten die jesuanische Botschaft und die Verkündigung der Urchristenheit anschließen. Die Art und Weise, wie dabei das neutestamentliche auf das alttestamentliche Zeugnis Bezug nimmt, verdeutlicht Pannenberg unter dem von seinem Münchner Fakultätskollegen Leonhard Goppelt36 nahegelegten Stichwort der Typologie. „Die typologische Inanspruchnahme geschichtlicher Heilserfahrungen und im Zusammenhang mit ihnen auch mythischer Motive zielt immer auf eine Zukunft, die das als Typos herangezogene Geschehen übersteigt, keine bloße Wiederholung des Vorbildes sein wird.“ (59) An den typologischen Beziehungen, die das Neue Testament zwischen der Geschichte des Alten Bundes und der Erscheinungsgestalt Jesu Christ herstellt, wird dies beispielhaft zur Darstellung gebracht. Die Offenbarung Gottes im auferstandenen Gekreuzigten ist nicht auf vorhergehende göttliche Manifestationen zu reduzieren und mehr und anderes als ihre Summe. Denn an Ostern ist die Endzeit angebrochen, in der alle Zeit und mit ihr die Urzeit transzendiert wird. Dies schließt nicht aus, dass das Archetypische von Mythos und Mythologie sich in Christus und Christologie erhalten haben. So wird, um ein Beispiel zu geben, einerseits Jesus Christus auf den Urmenschen zurückbezogen und zum zweiten Adam erklärt und andererseits das Urchristentum der apostolischen Anfangszeit zur Norm für alle christlichen Folgeepochen erklärt. „Alle diese Züge zeigen eine frappante Ähnlichkeit mit der gründenden Urzeit des Mythos.“ (66) Doch ändert dies nach Pannenberg nichts an der Tatsache, dass ihr Ursprung im Unterschied zum genuinen Mythos in einem unmythischen Geschehen, einem historischen Ereignis liegt. „Der christliche ‚neue Mythos‘ entstand als Auslegung des Sinngehaltes eines geschichtlichen Geschehens, und er hat die Bindung an diesen Ursprung, die zugleich sein Thema blieb, nicht verloren, hat sich nie zum reinen Mythos verselbständigt.“ (66 f.) Die Adam-Christus-Typologie als die christliche Rezeptionsform der Urmenschmythologie gibt dies nach Pannenberg ebenso zu erkennen wie der nach Maßgabe Bultmanns und der Religionsgeschichtlichen Schule auf einem gnostischen 36 L. Goppelt, Typos. Die typologischen Deutungen des Alten Testaments im Neuen (1939), Darmstadt 1990.
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Erlösungsmythos beruhende Gedanke der Inkarnation und Menschwerdung des Gottessohnes. Denn beide mythologisch anmutenden Vorstellungen sind im christlichen Kontext als Interpretamente eines geschichtlichen Geschehens und einer historischen Person zu verstehen und nur recht verstanden, wenn sie von der Bindung an diese, deren faktische Bedeutung sie zum Ausdruck bringen, nicht abgehoben werden. Indem der Mythos an Historie gebunden, zu deren Interpretament erklärt und in jenen eschatologischen Horizont gestellt wird, der für die Erscheinung Jesu Christi kennzeichnend ist, wird seine Urzeitfixierung behoben und seine Bedeutung zwar nicht beseitigt, wohl aber relativiert.
Verzeichnis der Autoren
PD Dr. Stefan Dienstbeck, Universität Augsburg, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Evangelische Theologie, Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg Prof. Dr. Walter Dietz, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, EvangelischTheologische Fakultät, Systematische Theologie und Sozialethik, 55099 Mainz Prof. Dr. Dr. Felix Körner SJ, Theologische Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana, Piazza della Pilotta 4, 00187 Rom Prof. Dr. Malte Dominik Krüger, Philipps-Universität Marburg, Theologische Fakultät, Systematische Theologie, Lahntor 3, 85032 Marburg Prof. Dr. Volker Leppin, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, EvangelischTheologische Fakultät, Institut für Spätmittelalter und Reformation, Liebermeisterstr. 12, 72076 Tübingen Prof. Dr. Peter Neuner, Ludwig-Maximilians-Universität München, KatholischTheologische Fakultät, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Friederike Nüssel, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Theologische Fakultät, Ökumenisches Institut, Plankengasse 1–3, 69117 Heidelberg Thomas Oehl, B.A., M.A., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, GeschwisterScholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München
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Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. Klaus Vechtel SJ, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstr. 224, 60599 Frankfurt Prof. Dr. Peter Walter, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Theologische Fakultät, Arbeitsbereich Dogmatik, Platz der Universität 3, 79098 Freiburg Prof. Dr. Dr. h. c. Gunther Wenz, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München (Pannenberg-Forschungsstelle)