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German Pages 320 [321] Year 2021
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Ein Grundlagenwerk der interkulturellen Theologie Als Kompendium unterschiedlicher Christologien aus Afrika, Asien und Lateinamerika bietet dieses Standardwerk zugleich eine anschauliche, allgemeine Einführung in verschiedene kontextuelle Theologien der »Dritten Welt«. Die um ein Kapitel über christologische Entwürfe von Frauen erweiterte Neuauflage zeigt, wie sich die Kontexte, in denen diese Theologien betrieben werden, geändert haben und fragt, wie die dargestellten Entwürfe heute zu bewerten sind.
» Volker Küsters Buch ist zu einem Klassiker avanciert. In seiner Bündelung der Perspektiven des globalen Südens ist es ein ›must-read‹ für jeden, der sich ernsthaft darum bemüht, zu verstehen, wie eine interkulturelle Christologie Gestalt annehmen kann.
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Miguel de La Torre, Professor an der Iliff School of Theology
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27255-6
Seite 1
Interkulturelle Christologie
10.02.2021
KÜSTER
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VOLKER KÜSTER
Interkulturelle Christologie Die vielen Gesichter Jesu Christi
Volker Küster
Interkulturelle Christologie
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„Volker Küsters Buch ist zu einem Klassiker avanciert. In seiner Bündelung der Perspektiven des globalen Südens ist es ein ‚must-read‘ für jeden, der sich ernsthaft darum bemüht, zu verstehen, wie eine interkulturelle Christologie Gestalt annehmen kann. Wir begegnen hier einem Christus, dessen bloße Gegenwart eine eurozentrische Christologie herausfordert, die von denjenigen kons truiert wurde, die politische und ökonomische koloniale Eroberungen göttlich rechtfertigen wollen.“ Miguel de La Torre, Professor of Social Ethics and Latinx Studies, Iliff School of Theology
„Die Neuauflage dieses Klassikers interkultureller Theologie ist ein Glücksfall. Sie verschafft der ersten Generation von Theologen erneut Gehör, die dem globalen Christentum in der Vielfalt lokaler Kulturen eine kraftvolle Stimme gaben. Die befreiende Bedeutung, die allein schon darin liegt, den eigenen Glauben auch selbst artikulieren zu können, tritt eindrucksvoll hervor. Längst bevor die Dekolonialisierung der Theologie zum akademischen Programm wurde, haben diese um ihre politische, ökonomische und kulturelle Selbstbestimmung kämpfenden Christen sie praktiziert.“ Wilhelm Gräb, Prof. em. für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Extraordinary Prof. an der Stellenbosch University, Südafrika
„Der Glaube an Christus gilt oft als das, was Christen von anderen trennt. Volker Küster zeigt in seinem Buch über Christusbilder in anderen Kulturen: Dieser Glaube kann interkulturell verbinden. Er bietet Kirchen, Gemeinden und Theologen eines ‚Wohlstandsevangeliums‘ nicht nur einen einzigen Spiegel, sondern viele Spiegel mit verschiedenen Christusbildern, in denen sie erkennen, was ihnen fremd ist, was ihnen fehlt und was sie neu hinzulernen können.“ Gerd Theißen, emeritierter Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg
„Nach wie vor aktuell, zeigt dieses kreative Buch, wie Jesus zu unterschiedlichen Zeiten und in diversen kulturellen Kontexten inkarniert und immer wieder neu ins Gespräch gebracht wurde. Die Breite seiner Darstellung und die scharfsinnige kulturelle Analyse erweitern den Horizont unserer theologischen Imagination und Sensibilität.“ Kwok Pui-lan, Dean’s Professor of Systematic Theology, Candler School of Theology, Emory University, USA
„Der Autor nimmt uns mit auf eine wagemutige wissenschaftliche Reise, die mannigfaltige befreiende christologische Schauplätze rund um die Welt besucht. Das Buch führt uns über traditionelle christologische Grenzen hinaus und beleuchtet glanzvoll die Wege, auf denen Theolog*innen aus unterschiedlichen Teilen der Welt kritisch darüber reflektieren, wer Jesus Christus in ihren konkreten kulturellen und sozio-politischen Kontexten der Unterdrückung für sie ist. Ein großartiges Lehrbuch und ein ‚must-read‘ für alle, die Theologie als Glauben verstehen, der Befreiung sucht.“ Jude Lal Fernando, Assistant Professor, Irish School of Ecumenics, School of Religion, Trinity College
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Volker Küster
Interkulturelle Christologie. Die vielen Gesichter Jesu Christi Überarbeitete und erweiterte Jubiläumsausgabe
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des 1999 im Neukirchener Verlag erschienenen Werkes. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt (überarbeitete und erweiterte 2. Auflage) Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Einbandabbildungen: Oben: Ausschnitt aus einem Fresko, das 1963 im Kloster Keur Moussa von Dom Georges Saget gemalt wurde. © akg-images/Universal Images; Mitte oben: Schöpfung von Sonne und Mond, Batik von Nyoman Darsane. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers; Mitte unten: Die Madonna aus Korea, Fotolithografie von etwa 1950. © akg-images/Fototeca Gilardi; unten: Malerei auf Pergamentpapier aus dem Evangelium, Ethiopien, 1664-1665, © akgimages/Pictures From History. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Europe Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978–3-534–27255-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978–3-534–74624-8 eBook (epub): 978–3-534–74625-5
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Inhalt
Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Einleitung zur Jubiläumsausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 I. Kontextuelle Christologie in interkultureller Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Prolog: Jesus und die Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 § 1 Christologie und die Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Christus und die Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Evangelium und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 § 2 Christologie im Kontext – Christologie interkulturell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
II. Christologie in der Vielfalt der Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 A. „… zu verkündigen das Evangelium den Armen“ – Christologie im Kontext von Armut und Unterdrückung in Lateinamerika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 § 3 Historische Rekonstruktion: Der christologische Diskurs zu Zeiten der Conquista. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
1. Der spanische Christus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Die Indios als die Armen Jesu Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 § 4 Christopraxis in der Nachfolge Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
1. Auf dem Weg zu einer befreienden Christologie – Leonardo Boff und Jon Sobrino������������������������������������������������ 70 2. Der in den Armen gegenwärtige Christus . . . . . . . . . . . . . . . . 77
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B. „Ihr aber, wer sagt Ihr Afrikaner, dass ich sei?“ – Christologie im Kontext afrikanischer Stammeskulturen und -religionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 5 Modelle afrikanischer Christologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Jesus Christus, der Häuptling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Jesus Christus, der Initiationsmeister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Jesus Christus, der Ahn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Jesus Christus, der Heiler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5. D ie Modelle im Vergleich – Gemeinsamkeiten und Unterschiede���������������������������������������������������������������������� 88 § 6 Christologie im Kontext afrikanischer Ahnenverehrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Jesus Christus, der Bruderahn (Charles Nyamiti). . . . . . . . . 93 2. Jesus Christus, der Proto-Ahn (Bénézet Bujo) . . . . . . . . . . . 96 C. „Ich und der Vater sind eins“ – Christologie im Kontext des Pluralismus asiatischer Kulturen und Religionen . . . . . . .
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§ 7 Christologie im Kontext des Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . 100
1. Theologische Existenz im neuen Indien. . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. C hristus-zentrierter Humanismus und Synkretismus (M. M. Thomas)������������������������������������������������������������������������ 104 3. Theozentrische Christologie (Stanley J. Samartha). . . . . . . . 109 § 8 Christologie im Kontext des Buddhismus. . . . . . . . . . . . . . . 114
1. K onversionen auf der Grenze von Buddhismus und Christentum���������������������������������������������������������������������� 114 2. C hristologie als The-Anthropologie (Katsumi Takizawa)������������������������������������������������������������������ 119 3. Das Ich bei Jesus (Seiichi Yagi). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.Interreligiöse Christologie als intellektuelle Grenzerfahrung�������������������������������������������������������������������������� 137
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Inhalt 7
§ 9 Christologie im gesamtasiatischen Kontext. . . . . . . . . . . . . 140
1. Die Geschichten des Evangeliums in Asien erzählen. . . . . . 140 2. Das Kreuz hat keinen Handgriff (Kosuke Koyama) . . . . . . . 147 3. Theologie der Inkarnation in Asien (Choan-Seng Song). . . 151 4. Modelle asiatischer Christologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 D. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern …“ – Christologie im Kontext von Armut und Unterdrückung in Afrika und Asien . . . . . . . . . . . . . 159 § 10 Der Schwarze Messias – Christologie im Kontext des Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
1. Jesus ist schwarz (James H. Cone). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Schwarz und Weiß versöhnt in Jesus Christus (Allan A. Boesak)���������������������������������������������������������������������� 168 § 11 Jesus Christus im Minjung begegnen – Christologie im Kontext einer Entwicklungsdiktatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
1. Ahn Byung-Mu und die Minjung-Bewegung Südkoreas. . . 176 2. Jesus und Minjung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 § 12 Jesus mit uns – Christologie im Kontext befreiungs theologischer Neuaufbrüche in den 1980er Jahren . . . . . . . . . 187
1. Von der Dalit-Bewegung zur Dalit-Theologie. . . . . . . . . . . . 187 2. Jesus war ein Dalit – Arvind P. Nirmal/Indien . . . . . . . . . . . 193 3. Die Burakumin tragen die Dornenkrone Jesu – Teruo Kuribayashi/Japan��������������������������������������������������������� 198 E. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel“ – Christologie von Frauen aus Afrika, Asien und Lateinamerika sowie ihrer Diaspora. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
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§ 13 Jesus und die Frauen | Die weiblichen Gesichter Christi – Christologie im Kontext von Sexismus, Rassismus und Klassismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
1. Generative Themen aus der Perspektive des Kontextes . . . . 205 2. C hristologie in den Kontexten afrikanischer Frauen – Mercy Amba Oduyoye und Musa Dube�������������������������������� 207 3. C hristologie in den Kontexten asiatischer Frauen – Chung Hyun-Kyung und Kwok Pui-Lan ������������������������������ 217 4. C hristologie in den Kontexten lateinamerikanischer Frauen – Elsa Tamez und Yvone Gebara ������������������������������ 227 5. C hristologie in den Kontexten von Frauen in der Diaspora – Womanist, Mujerista, Asian American Christologie������������������������������������������������������������������������������� 233 6. Generative Themen aus der Perspektive des Textes . . . . . . . 244 III. Von den Gestaltwerdungen Jesu Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . 247 § 14 Modelle kontextueller Christologie – Gemeinsamkeiten, Unterschiede und ökumenische Lernchancen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Epilog: Paulus und die Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Verzeichnis der Abbildungen und Übersichten. . . . . . . . . . 265 Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Autor*innenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
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Vorbemerkungen Dank Die Studierenden meiner Heidelberger Assistentenzeit (1990–1997) haben sich in den Entstehungsprozess dieses Buches mit hineinnehmen lassen. Unsere lebhaften Diskussionen reichten oft über den Rahmen der Lehrveranstaltungen hinaus bis in den Abend hinein. Inzwischen ist es in der englischen Übersetzung ein internationales Lehrbuch geworden. Es ist eine bleibende Freude, irgendwo auf der Welt plötzlich mir bis dahin unbekannte Menschen zu treffen, die es in ihrem Unterricht als textbook benutzen oder als Studierende gelesen haben. Mein besonderer Dank gilt Susanne Fischer von der wbg, dass das Buch in durchgesehener und erweiterter Form in theologisch lesearmer Zeit nun auch dem deutschsprachigen Publikum wieder zugänglich ist. Danken möchte ich auch den hier namentlich ungenannt bleibenden Studierenden, Promovierenden, Kolleginnen und Kollegen, sowie meinen Eltern Heide und Karl Küster und meiner Frau Dorothea Erbele-Küster, die meinen theologischen Denkweg begleiten und nicht zuletzt auch im Blick auf dieses Buch manch anregende Rückfragen gestellt haben. Formalia Inklusive Sprache kennt noch stets kein festgefügtes Regelsystem, ich experimentiere daher mit verschiedenen Möglichkeiten. Auf ein Literaturverzeichnis habe ich bewusst verzichtet. Seitenlange Titelauflistungen sind wenig benutzerfreundlich und im digitalen Zeitalter auch obsolet.1 Die verwendete Literatur lässt sich leicht über das Autor*innenregister erschließen. Den Schriftzitaten liegt die Bibel in gerechter Sprache und da, wo es um vielzitierte Floskeln geht, die revidierte Lutherbibel von 2017 zugrunde. Die Übersetzungen von Zitaten aus der englischsprachigen Literatur sind von mir, die Abkürzungen folgen der Theologischen Realenzyklopädie. Heidelberg, im Sommer 1999 und Winter 2020 Volker Küster
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Einleitung zur ersten Auflage Von der systematisch-theologischen Diskussion hierzulande relativ unbeachtet, ist in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas seit Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre eine Vielzahl christologischer Entwürfe von einzelnen Theologen oder theologischen Bewegungen vorgelegt worden. Es handelt sich dabei nur in den seltensten Fällen um ganze Bücher zur Christologie, meistens sind es nur kurze Essays oder einzelne Kapitel in größeren Zusammenhängen. Sie gehören einem theologischen Genre an, das wahlweise der Herkunft nach als Dritte-Welt- oder, der ihnen zugrunde liegenden Methode nach, als kontextuelle Theologie bezeichnet wird. Der Versuch, sich diesen Theologien über die traditionellen dogmatischen Topoi zu nähern, wird ihrem Anspruch nicht gerecht und ist insgesamt auch wenig erfolgversprechend. Das gilt allerdings nicht für die Christologie. Sie eignet sich wie wohl kein anderes Thema sowohl als hermeneutischer Schlüssel zu ihrem Verständnis als auch als Vergleichspunkt zwischen den verschiedenen Entwürfen. Zudem entscheidet sich an der Christologie letztendlich auch für die Betroffenen selbst, ob der Glaube an Jesus Christus in ihrem Kontext heimisch wird oder nicht.1 Die Auswahl der hier vorgestellten Christologien versteht sich als repräsentativ, Anspruch auf Vollständigkeit erhebt sie nicht. Es ging mir auch weniger um die Darstellung des jeweiligen Œuvres aus dem Blickwinkel der Christologie als vielmehr um die Frage nach wiederkehrenden Themenverknüpfungen und der Vergleichbarkeit der untersuchten Entwürfe. Meine Gewährsleute sind ausschließlich Männer, grob im Alter zwischen 60 und 80 Jahren, einige sind bereits verstorben. Sie gehören der ersten Generation kontextueller Theologen an. Dass bei dieser Einteilung noch viel Verwirrung herrscht, ist mir bewusst. Mein Auswahlkriterium war, dass die Betreffenden über einen längeren Zeitraum theologisch aktiv waren und ihre Werke in westlichen Sprachen, vorzugsweise Englisch und Deutsch, zugänglich sind. So ist zugleich eine Galerie der großen alten Männer der kontextuellen Theologien entstanden. Ihre theologischen Karrieren begannen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Gefolge säkularer Emanzipations-
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bewegungen in einer Phase der Dekolonialisierung und Neuordnung der Welt. Um in diesen Umbrüchen diskursfähig zu bleiben, mussten sie ihren Standort als christliche Intellektuelle neu bestimmen und eine pluriforme, kontextuell-christliche Identität ausbilden. Sie bewegten sich dabei oft im Umfeld kultureller Renaissancen und beteiligten sich an einem Streit um die Interpretation der eigenen Geschichte mit anderen gesellschaftlichen Eliten. Katholischerseits war das Zweite Vatikanische Konzil (Vaticanum II) ein weiterer Impuls für solche theologischen Neuaufbrüche. Der nicht unerhebliche Altersunterschied zwischen meinen Protagonisten liegt in dem epochalen Einschnitt des Zweiten Weltkriegs begründet, der manchen Theologen erst spät zum Zuge kommen ließ. Einige haben sich dem theologischen Aufbruch aber auch erst in fortgeschrittenem Alter angeschlossen. Ein Generationswechsel steht also bevor, ist aber in seinen Konsequenzen noch nicht abzusehen. Dritte-Welt-Theologie war anfangs reine Männersache. Darin steht sie der ansonsten gerne attackierten westlichen Theologie in nichts nach. Einen Einschnitt markiert hier der von der ghanaischen Theologin Mercy Amba Oduyoye anlässlich der ersten Vollversammlung der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologinnen und Theologen (Ecumenical Association of Third World Theologians – EATWOT)2 in Neu Delhi, Indien 1981 proklamierte „Aufbruch im Aufbruch“.3 Im Schlussdokument des Dialogtreffens von EATWOT mit westlichen Theologinnen und Theologen in Genf 1983 heißt es dazu: Weder die Männer der Dritten noch die Frauen der Ersten Welt können darüber bestimmen, was Dritte-Welt-Frauen auf ihre Tagesordnung setzen. Die DritteWelt-Frauen sind der Ansicht, dass das Problem Sexismus nicht isoliert angegangen werden sollte, sondern im Kontext des gesamten Kampfes um Befreiung in ihren Ländern.4
Heute sind die Theologinnen aus der Dritten Welt längst mit eigenen Beiträgen hervorgetreten. Auch wenn die Altersspanne hier von 40 bis 60 Jahren reicht, rechne ich die Frauen insgesamt der zweiten Generation kontextueller Theologinnen und Theologen zu. Gemeinsam ist den Dritte-Welt-Theologinnen die Beschreibung der Situation der Frauen als „Unterdrückte der
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Unterdrückten“. Aufgrund ihres Geschlechts werden Frauen nicht nur in den sozio-ökonomisch und politischen Strukturen, sondern auch durch kulturell-religiöse Faktoren unterdrückt. Die Dritte-Welt-Theologinnen nehmen daher oft eine eher inkulturationskritische Haltung ein. Um dem breiten Spektrum dieser Theologien von Frauen aus der Dritten Welt gerecht zu werden, ist ein eigener Band notwendig, der sowohl die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit den Theologien ihrer männlichen Kollegen der ersten Generation als auch mit den westlichen feministischen Theologien herausarbeitet.5 Von meinem ursprünglichen Plan, diesem Buch ein Kapitel über die Christologie von Frauen aus der Dritten Welt anzufügen, habe ich mich daher rasch verabschiedet. Systematisch-theologisch betrachtet wird die Diskussion über die kontextuellen Theologien oft unter der Rubrik „Evangelium und Kultur“ verhandelt. Evangelium bezeichnet dabei traditionell sowohl die Verkündigung Jesu als auch die Verkündigung der Gemeinde über Jesus Christus.6 Wesentlich komplizierter verhält es sich mit der Definition des Begriffs Kultur.7 Ich schließe mich eng an Clifford Geertz an,8 der Kultur als ein von Menschen geschaffenes komplexes Sinngewebe und Symbolsystem versteht, das wir interpretieren müssen wie einen Text. Der Kulturbegriff, den ich vertrete […] ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.9
Ein weiteres Problem bereitet die Verhältnisbestimmung von Kultur und Religion. Geertz deutet Religion als „kulturelles System“:10 eine Religion ist (1.) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2.) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3.) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4.) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5.) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.11
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Damit gelten nach Geertz für den Religionsbegriff dieselben Prämissen wie für den umfassenderen Kulturbegriff. Anders als Geertz deute ich das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“, das Religion demnach ist, jedoch als Ausdruck einer „Resonanzerfahrung“.12 Religiosität ist eine menschliche Grundkonstante. Die Biographie, der menschliche Grundtext schlechthin, ist immer schon auf Transzendenz hin offen. Gleiches gilt für die Sinnwelten literarischer Texte und ganzer Kulturen, die ich als Kontexte betrachte. Religion tritt an dieser Schnittstelle zum Transzendenten auf. Sie ist menschliche Kontingenzbewältigung und Resonanz des Transzendenten zugleich. Im Unterschied zu Geertz nehme ich als akademischer Theologe bewusst eine „religiöse Perspektive“13 ein. Wenn ich von Religion spreche, meine ich immer die empirischen Religionen. „Die Religion“ als Abstraktum gibt es nicht. Kultur und Religion sind dialektisch aufeinander bezogen und durchdringen sich wechselseitig. Jede Kultur ist von den in ihr vorkommenden Religionen geprägt. Umgekehrt nimmt jede Religion, die in eine andere Kultur eintritt, etwas von ihrer alten Kultur mit, während sich zugleich eine Wechselwirkung mit der neuen Kultur entfaltet. In unserem Fall heißt das für die Beziehung zwischen Evangelium und Kultur, dass das Evangelium nur in kulturell vermittelter Gestalt zugänglich ist. Mission im Sinne einer kulturellen Grenzüberschreitung des Evangeliums ist dann immer auch Kulturkontakt. In der von Urs Bitterli14 vorgeschlagenen Typologie des Kulturkontakts – Berührung, Zusammenstoß, Beziehung – wären die im Folgenden vorgestellten christologischen Versuche als Kulturbeziehung einzustufen. Westliche theologische Tradition und afrikanische, asiatische sowie lateinamerikanische Kulturen und Religionen treten in eine tiefe Wechselbeziehung. Die dabei ablaufenden theologischen Prozesse sind noch weitgehend offen. Habe ich bei meiner Studie über die südkoreanische Minjung-Theologie mit empirischer Feldforschung und Interviews gearbeitet,15 gehe ich diesmal bewusst den klassischen Weg rein über die Texte. Der jeweilige Kontext kommt dabei so zum Tragen, wie er sich in den Texten selbst abbildet. Auch die hier verhandelten Kontexte sind also immer schon Konstruktionen von Wirklichkeit.
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14 Einleitung zur ersten Auflage
Der vorliegende Band gliedert sich in drei Hauptteile, deren umfangreichster mittlerer noch einmal in vier Kapitel unterteilt ist. Die fortlaufend durchnumerierten Paragraphen bilden in sich geschlossene Sinneinheiten. Im ersten Hauptteil stecke ich mein Gegenstandsfeld methodisch und systematisch-theologisch ab. Meine Ausgangshypothese ist dabei, dass in den kontextuellen Theologien die biblischen Geschichten und die christlichen Traditionen (Text) einerseits und die Erfahrungen der Menschen vor Ort (Kontext) andererseits in einem hermeneutischen Zirkel dialektisch aufeinander bezogen sind und miteinander „versprochen“ werden (Ernst Lange).16 In diesem Prozess evozieren die biblischen Geschichten diejenigen „generativen Themen“ des Textes (Paulo Freire), die im Kontakt mit den in der konkreten Situation virulenten generativen Themen relevant werden. Die den Text und den jeweiligen Kontext bestimmenden generativen Themen werden also analog der sie tragenden Geschichten miteinander verflochten. Im zweiten Hauptteil expliziere ich das am Beispiel der kontextuellen Christologien aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Das Raster seiner äußeren Einteilung richtet sich nach geographischen und typologischen Gesichtspunkten (Kapitel A-D). Ich unterscheide für die kontextuellen Theologien entsprechend der sie vordringlich bestimmenden Themen einen sozio-ökonomisch und politischen und einen kulturell-religiösen Typus. Die dem ersten Typus zuzurechnenden Befreiungstheologien tragen stärker den Charakter theologischer Bewegungen, aus denen erst im Nachhinein einzelne Theologen hervortreten. Die kulturell-religiös orientierten Inkulturations- bzw. Dialog-Theologien sind hingegen in der Regel die Denkgebäude einzelner. Während ich unter dem Begriff Inkulturationstheologie das gesamte Spektrum der Auseinandersetzung mit der kulturell-religiösen Dimension des Kontextes zusammenfasse, bezeichne ich als Dialogtheologien eine besondere Spielart dieses Typus. Auch wenn es den Dialogtheologen dezidiert um das Gespräch mit einer anderen religiösen Tradition geht, tragen sie damit indirekt doch auch zu einer Inkulturation des Evangeliums in dem jeweiligen Kontext bei. Für meine Darstellung habe ich fast durchgängig den Zugang über theologische Parallelbiographien gewählt, der jeweils zwei Theologen aus dem betreffenden Kontext nebeneinanderstellt und die Gemeinsamkeiten
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und Unterschiede ihrer christologischen Positionen hervortreten lässt. Dahinter steht die Überzeugung, dass neben den kulturell-religiösen, sozioökonomisch und politischen sowie ökologischen Faktoren auch die Biographie der betreffenden Theologinnen und Theologen die Kontextualität ihrer Theologie bestimmt. Die einzelnen Paragraphen können als in sich geschlossene Studien auch getrennt gelesen werden. Zusammengenommen lassen sie jedoch ein inneres Raster erkennbar werden, das von den in den unterschiedlichen Kontexten jeweils evozierten christologischen Themen strukturiert wird. Im dritten Hauptteil werden die beiden Raster dann zu einer Systematik kontextueller Christologien überblendet. Gewissermaßen gerahmt wird meine Untersuchung in Prolog und Epilog durch zwei biblisch-theologische Narrationen, die Leben und Werk von Jesus und Paulus vor dem Hintergrund ihres kulturellen Umfeldes rekonstruieren. Während die Befreiungstheologen das Leben Jesu zum konstitutiven Bestandteil der Christologie erhoben haben, blieb die Theologie des Paulus bisher fast völlig außen vor. Zu Unrecht, wie ich meine, ist doch die Relevanz seiner Rechtfertigungslehre – vor dem Hintergrund kultureller Konflikte, in deren Kontext sie schon bei Paulus steht – für die Diskussion um christliche Identität im Pluralismus der Kulturen und Religionen noch gar nicht ausgelotet.
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Einleitung zur Jubiläumsausgabe Nach zwanzig Jahren stellt sich dem Autor natürlich zunächst einmal die Frage, ob es überhaupt Sinn hat, sein Buch in dieser Form wieder zu veröffentlichen oder ob es einer Revision bedarf. Seit seinem Erscheinen in Deutschland (1999) und dem englischsprachigen Raum (2001)1 haben sich jedoch nicht so sehr die vorgestellten Theologen und ihre Rezeption,2 als vielmehr die Kontexte selbst verändert. Das Œuvre der hier porträtierten „großen alten Männer“ lag zur Zeit der Erstveröffentlichung bereits vor. Sie hatten ihren Beitrag geleistet, und auch wenn einzelne danach noch etwas publiziert haben,3 hat das keine Auswirkungen mehr auf das Gesamtbild. Wohl aber bleibt als zweite Frage, ob ihre Theologie noch in die heutige Zeit bzw. den jeweiligen Kontext passt. Ist das Credo des Kontextualisierungsprojektes doch gerade, dass eine kontextuelle Theologie sich verändern muss, wenn sich der Kontext verändert.4 Exemplarisch habe ich das an der Südkoreanischen Minjung Theologie aufgezeigt, die ich mit meinen Forschungen seit einem Studienaufenthalt in Seoul 1987/88 permanent begleitet habe.5 Ein Blick zurück Gleichzeitig erweist sich das Buch selbst im Rückblick als Produkt seiner Zeit. Hatte ich mich in meiner Dissertation „Theologie im Kontext. Zugleich ein Versuch über die Minjung-Theologie“ (1995) noch ganz dem Lokalen zugewandt, schwang das Pendel mit „Die vielen Gesichter Jesu Christi. Christologie interkulturell“ (1999) um in Richtung des Globalen. Eine Bewegung, die sich parallel auch in den Schriften meines katholischen Kollegen Robert Schreiter beobachten lässt. Sein Constructing Local Theologies (1985) war zum Zeitpunkt, als ich mit meiner Doktorarbeit begann, eine der wenigen theoretischen Durchdringungen der Materie, die mir zur Verfügung standen. Statt mich wie ursprünglich geplant ganz auf die Minjung-Theologie und ihre Exponenten im koreanischen Kontext zu konzentrieren, entschloss ich mich daraufhin, selbst einen Beitrag zur „Theorie kontextueller Theologie“ zu leisten. Schon damals kam ich zu der Überzeugung, dass wir den kontextuellen Theologien notwendig eine interkulturelle Theologie zur Seite stellen müssen, die „zwischen“ den verschiedenen kontextuellen Ent-
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würfen vermittelt. Insofern war der Schritt zu ihrer Entfaltung am Beispiel der Christologie auch wieder nur konsequent. Inzwischen habe ich diese Überlegungen mit meiner „Einführung in die Interkulturelle Theologie“ (2011) theoretisch und materialiter weiter ausgebaut. Entgegen meiner ursprünglichen Überzeugung, dass das „Abfragen“ anderer dogmatischer Topoi wenig Aussicht auf Erfolg hätte, habe ich dabei im dritten Teil „Generative Themen: Eine kleine interkulturelle Glaubenslehre“ nun doch den Versuch unternommen zu collagieren, wie sich die Textur des Gewebes der generativen Themen des christlichen Glaubens unter dem Einfluss der kontextuellen Theologien verändert hat. 1997 wurde mit The New Catholicity. Theology between the Global and the Local Schreiters Reaktion auf den neu erwachten Universalismus veröffentlicht.6 Im Rückblick erscheint uns der Fall der Berliner Mauer (1989) als die symbolische Verdichtung einer Epochenwende, die Schreiter durch das Ende der bipolaren Weltordnung, die dadurch ermöglichte Ausbreitung des neo-liberalen Konsumkapitalismus bei gleichzeitiger Verdichtung der Welt durch die neuen Kommunikationstechnologien näher typiert. Um auch dies anhand eigener Erfahrungen zu beleuchten: Als ich 1987/88 – noch zu Zeiten der Militärdiktatur – ein Jahr in Seoul lebte, um die Minjung-Theologie in ihrem eigenen Kontext zu studieren, war ich wenig vorbereitet auf die ständigen Fragen nach der deutschen Wiedervereinigung. Die koreanischen Christinnen und Christen hingegen beteten zu meinem großen Befremden in fast jedem Gottesdienst für die Wiedervereinigung ihres geteilten Landes. Meine Antwort, dass ich die Wiedervereinigung Deutschlands in meiner Generation für ausgeschlossen hielte, stieß nicht nur auf Unverständnis, sondern wurde ein Jahr später auch von der Geschichte Lügen gestraft. Die Ausbeutung junger koreanischer Arbeiterinnen etwa in der Textilindustrie, von der auch deutsche Kleidungsdiscounter profitierten, war einer der Auslöser des theologischen Widerstandsdiskurses. Inzwischen produziert Südkorea, längst zu einer führenden Industrienation geworden, selbst in Billiglohnländern Südostasiens und profitiert von einer wachsenden Anzahl von Arbeitsmigrant*innen mit zeitlich begrenzter Aufenthaltsgenehmigung für die sogenannten „3D-Jobs“ (dirty, dangerous and demanding).
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Die Kommunikation mit meiner Familie und nach meiner Rückkehr auch mit meinen Freunden in Korea gestaltete sich damals noch äußerst mühsam – Briefe dauerten mindestens zwei Wochen –, bei schneller Beantwortung musste ich also jeweils einen Monat auf eine Reaktion warten. Telefonieren war teuer, und selbst ein Faxgerät war nicht ohne Weiteres zugänglich. Heute kann höchstens noch ein Stromausfall oder ein zu hoch eingestellter Spamfilter die schnelle E-Mail Kommunikation behindern und telefonieren wir mit skype, Social Media oder Vorwahlnummern billiger in die Dritte Welt als im eigenen Dorf zum Ortstarif im Festnetz. Die dritte Frage war dann, ob die interkulturellen theologischen Entwicklungen im Blick auf die Christologie seither in Form neuer Paragraphen ergänzt werden sollten. Letztendlich habe ich mich dafür entschieden, den großen alten Männern die Christologie von Frauen aus der Dritten Welt und ihrer Diaspora als Spiegel vorzuhalten (§ 13). Ansonsten habe ich den Textkorpus des Buches, bis auf kleinere redaktionelle Anpassungen und Literaturergänzungen in den Anmerkungen, so gelassen wie er ist. Es kommt heute sicherlich schon stärker theologiegeschichtlich daher und dokumentiert, dass Afrika, Asien und Lateinamerika nicht nur ihre eigene Kirchengeschichte „in den Kontinenten“ haben,7 Johann Baptist Metz spricht von einer „kulturell polyzentrischen Weltkirche“,8 sondern auch eigene theologische Dynamiken entwickeln, mit denen sie zum globalen theologischen Diskurs beitragen. Ja sie haben selbst „globale theologische Strömungen“ wie die Befreiungstheologien hervorgebracht.9 Das Buch behält seine Gültigkeit als Momentaufnahme und Kompendium der ersten Generation kontextueller Theologen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Der von mir in der Einleitung zur ersten Ausgabe avisierte Generationenwechsel lässt sich am markantesten im Blick auf die Frauen der zweiten Generation aufzeigen. Die dritte und inzwischen bereits vierte Generation kontextueller Theolog*innen sind wesentlich schwieriger voneinander abzugrenzen und zu kategorisieren.10 Zum einen gibt es den Typus der kosmopolitischen Intellektuellen wie Kwok Pui-Lan oder R. S. Sugirtharaja, die in der Tradition von C. S. Song und Kosuke Koyama in den akademischen Institutionen der nordatlantischen Hemisphäre eine postkoloniale Theologie betreiben. Zum anderen gibt es eine Vielzahl international wenig bekannter glokaler Theolog*innen, die immer noch Teile ihrer Ausbildung
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im Westen genossen haben, z. T. aber auch schon im Süd-Süd-Austausch. Selbst wenn Sie auf Englisch schreiben, sind ihre Arbeiten zumeist in lokalen oder regionalen Zeitschriften und Verlagen publiziert. Der neo-konservative Mythos vom Ende der Befreiungstheologien und mit ihnen der kontextuellen Theologien insgesamt11 hat jedenfalls in Europa zu ihrer Eliminierung aus den theologischen Curricula geführt. Seit Mitte der 1990er-Jahre wurde kaum noch etwas ins Deutsche, Niederländische oder Französische übersetzt. In den USA scheint die Lage auf den ersten Blick diverser, bei genauerem Hinsehen allerdings entpuppen sich die Diskurse als hochgradig segregiert, Kwok Pui-Lan und Jörg Rieger verweisen darauf, dass dies vom System des neo-liberalen Kapitalismus bewusst ausgenutzt wird, um die Opposition zu spalten und fordern eine „tiefe Solidarität“, die Diversität aushält.12 Entgegen dem Trend globaler Vernetzungen und Kommunikationsströme in Echtzeit, droht auch das Projekt interkulturelle Theologie zu scheitern in Provinzialismus und konfessioneller Retribalisierung, zum Schaden der globalen Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft des christlichen Glaubens. So bleibt mir in dieser Einleitung zu klären, wie sich das Diskursfeld methodisch und inhaltlich seitdem verändert hat. Ich will das unter den Stichworten andere Perspektiven, Orte, Geschlechter und Formen tun und dies auch in Beziehung setzen zu meiner eigenen Forscherbiographie, denn meine Beschäftigung mit der kontextuellen und interkulturellen Theologie ist in den letzten zwanzig Jahren ja weiter gegangen. Andere Perspektiven Die Kontexte haben sich verändert, haben wir gesagt. Am deutlichsten wird das im Bereich der Befreiungstheologien. Sowohl die Militärdiktaturen in den Ländern Lateinamerikas und in Südkorea als auch das Apartheidregime in Südafrika sind durch junge Demokratien abgelöst worden. Gleichzeitig wird die Schere zwischen Arm und Reich noch stets größer. Während die indische Dalit- oder die japanische Burakumin-Theologie weiterhin bestehende Missstände anklagen und daher nach alten Mechanismen funktionieren, wenden sich in Südafrika Schwarze Theologen flankiert von weißen den neuen generativen Themen Versöhnung, Wiederaufbau und Entschädigung zu. Die Befreiungstheologie in Lateinamerika hat
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sich glokal durchaus weiter ausdifferenziert, wird aber international kaum noch rezipiert. In Südkorea lässt der theologische Neuaufbruch hingegen auf sich warten.13 Den Protagonisten der Schwarzen Theologie ist es gelungen sie zu transformieren und im Post-Apartheid Südafrika weiterhin ihre Relevanz zu entfalten. Unterstützt wurde dies sicherlich dadurch, dass einige von ihnen wie Frank Chikane politische Verantwortung übernahmen oder Desmond Tutu von Staatspräsident Nelson Mandela zum Vorsitzenden der Wahrheitskommission (Truth and Reconciliation Commission – TRC) berufen wurde. Diese sollte einen Dritten Weg zwischen Tribunal und Generalamnestie finden. Amnestie erhält, wer sich zu seinen Taten bekennt. Scharfe Kritik an der TRC kam aus den eigenen Reihen. Allan Boesak, mit Tutu einer der Väter der südafrikanischen Variante der Schwarzen Theologie, spricht von „einer nahezu kalkulierten Form emotionaler Erpressung“. Wenn du deinem Folterer nicht vergeben wolltest, wurde dir suggeriert, dass etwas mit dir nicht stimmt. […] Es muss aber einen Ort für berechtigten Zorn geben. […] Bisher wurde nur die Vergebung durch die Opfer wirklich realisiert. All die anderen Elemente, ohne die Versöhnung nicht wirklich echt sein kann – Wiederherstellung, Entschädigung, Wiedereinsetzung, Gerechtigkeit –, verglühen auf dem Aschenhaufen der Geschichten, die erzählt und angehört wurden, ohne dass auf sie reagiert wurde, und die letztendlich der Vergessenheit anheimfielen.14
Tutu selbst war als TRC-Vorsitzender immer wieder aufs Neue von dem Vergebungswillen der Opfer beeindruckt. Die Menschen mit der größten Vergebungsbereitschaft, denen ich je begegnet bin, sind diejenigen, die selbst gelitten haben – es ist als ob sie durch das Leiden zur Empathie gereift sind. Ich spreche über verletzte Heiler.15
Gleichzeitig war er empört darüber, wie wenig Reue die Verantwortlichen für ihre Taten zeigten.16 Auch teilt er durchaus in vielem Boesaks kritische Sicht der Ergebnisse des TRC-Prozesses.17 Dennoch argumentiert er anders als Boesak:
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Wenn das Opfer nur vergeben könnte, nachdem der Täter ein Bekenntnis ablegt hat, dann würde das Opfer den Launen des Täters ausgeliefert, in seiner Opferrolle gefangen, unabhängig von seiner eigenen Einstellung oder Absicht.18
Eine Sichtweise, die durch die Aussagen Betroffener immer wieder bestätigt wird. Es hat also Sinn, von einer Selbstversöhnung bzw. Selbstannahme zu sprechen, wie sie sich etwa schon in dem Slogan „Black is beautiful“ geäußert hat. Unter Rückgriff auf die Arbeiten von Sigmund Freud hatte der Psychoanalytiker Frantz Fanon, einer der Väter der postkolonialen Kritik, davon gesprochen, dass die Opfer die Perspektive der Unterdrücker internalisiert haben.19 Diese Fremdbestimmung in der Selbstwahrnehmung gilt es zunächst einmal, in der Selbstannahme, der Versöhnung mit sich selbst, zu überwinden.20 Wie aber lässt sich die von mir eingeführte Kategorie der Selbstversöhnung christologisch denken? Die Leidensgegenwart Gottes in Jesus Christus, die Erzählung, dass Gott in Armut und Unterdrückung Gestalt angenommen hat, erkennt Menschen eine Würde vor Gott und ihren Mitmenschen auch kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen zu. Nicht das „Sterben für“, sondern das „Sterben mit“ wird so zur Heilsbotschaft. Der Skopus der Befreiungstheologien hat sich insgesamt in Richtung Gerechtigkeit und Intersektionalität der verschiedenen Formen von Unterdrückung wie der klassischen Trias race, Klasse, Geschlecht verschoben.21 Globalisierung wird oft fälschlich vor allem als sozio-ökonomisch und politisches Phänomen wahrgenommen, Trotz postkolonialer Kritik und Empire-Theorien fällt es den Befreiungstheolog*innen schon schwer genug, der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) zu trotzen. Die Rechnung des globalen Konsumkapitalismus durch „Coca-Kolonisierung“ und „McDonaldisierung“ eine Hyperkultur zu schaffen, in der die Produkte noch einfacher vermarktet werden können, ist nicht aufgegangen. Kulturen und Religionen haben sich als Widerstandsdiskurse entpuppt, die oft allerdings auch in fundamentalistische Extreme umkippen. Insofern müssen auch die auf Austausch und Dialog ausgerichteten Inkulturations- und Dialogtheologien ausdifferenziert werden, um den christlichen Glauben im noch wesentlich komplexer gewordenen kulturell-religiösen Pluralismus zu verorten.22
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Der 11. September 2001 hat die Dialogtheologien kurzzeitig ins Zentrum des Interesses gerückt. Auch wenn sie überfordert wären, würde ihnen die Lösung oder gar Prävention der interreligiösen Konflikte aufgebürdet, so kann Dialog heute doch nur noch im Kontext von Fundamentalismus und Terror gedacht werden.23 Im katholischen Bereich gab es eine Reihe von Versuchen, unter Rückbesinnung auf die Liturgiereform des Vaticanum II, mithilfe der Inkulturation als „pastoraler Strategie“ jedenfalls den Graben zwischen kontextuellen Theologien und Kirche zu überbrücken.24 In Lateinamerika wurde die Inkulturationstheologie dabei mit der Befreiungstheologie fusioniert, in Asien und Afrika wurden die Bande mit der Dialogtheologie enger geknüpft. Eine befriedigende Antwort auf die veränderten kulturell-religiösen Rahmenbedingungen steht jedoch noch aus. Die skizzierten Transformationsprozesse haben für die kontextuellen Theologien zumindest drei strukturelle Konsequenzen:25 Von der Mono-Kultur zur Hybridität Der Kulturbegriff ist heute wesentlich ausdifferenzierter als in den Anfängen der kontextuellen Theologien. Kulturen sind komplexe Gebilde, die in permanenter Wechselwirkung miteinander stehen und verschiedene Subkulturen umfassen. Dennoch gibt es noch stets distinkte kulturelle Identitäten, allein wir sind uns zunehmend ihrer Hybridität bewusst. Statt der Vorherrschaft der westlichen Moderne nachzuhängen, müssen wir die gegenwärtige Pluralität der Modernen anerkennen. Die koreanische, japanische oder chinesische Moderne verarbeiten ebenso lokale Einflüsse, wie die brasilianische oder ghanaische, um nur einige Beispiele zu nennen. Von der lokalen Verortung zur Deterritorialisierung Mit den globalen Migrationsströmen ist die Diaspora zur Lebensform für viele geworden. Ursprünglich eng verbunden mit dem in alle Welt verstreuten jüdischen Volk, bezeichnet der Begriff heute Migrantengemeinschaften allgemein. Von der Gemeinschaftzentriertheit zur multiplen Zugehörigkeit Die Befreiungstheologien waren ursprünglich oft theologische Bewegungen, die die Interessen einer Gemeinschaft vertreten. Inkulturations- und
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Dialogtheologien sind demgegenüber zwar die Gedankengebäude einzelner, bleiben aber dennoch bezogen auf eine christliche Gemeinschaft und ihr jeweiliges kulturell-religiöses Umfeld. Durch Migration und die Hybridisierung unserer Lebenswelten gehören Menschen heute oft verschiedenen Gemeinschaften an und kommt es in zunehmendem Maße auch zu interkulturellen und interreligiösen Eheschließungen.26 Zu welcher Gemeinschaft fühlt sich das junge Paar zugehörig, welcher werden sich ihre Kinder später anschließen? In Südkorea, vor dreißig Jahren noch eines der ethnisch homogensten Länder der Welt, lag in den 2000er-Jahren der Anteil der internationalen Eheschließungen bei zeitweise ca. 10 %.27 In den traditionellen Siedler- und Zuwanderungsgesellschaften wie den USA ist dies längst Alltag. Auch die Länder Westeuropas sind seit den 1950er-Jahren aufgrund ihres kolonialen Erbes und der Arbeitsmigration zu multikulturellen Gesellschaften geworden. Nach der feministischen und kulturellen (cultural studies), hat mit der postkolonialen Kritik eine weitere universalistisch orientierte Theorie Eingang in den Kontextualisierungsdiskurs gefunden. So wie die kontextuelle Theologie einst postkoloniale Theologie avant la lettre war, hat die interkulturelle Theologie die Intersektionalitätsdiskurse antizipiert, die erst langsam in die Theologie einsickern. Kontextuelle und interkulturelle Theologie werden insofern stets mehr miteinander verwoben. Der Trend weist deutlich von der Kontextualisierung zur Glokalisierung.28 Andere Orte Mit James Cone ist in der Erstauflage bereits ein Vertreter der nordamerikanischen Diaspora-Theologien prominent vertreten. Diese Grenzüberschreitung zwischen den Dritte-Welt-Theologien und der nordatlantischen theologischen Welt erschien wegen der inhaltlichen Überlappungen der schwarzen Theologie in den USA und Südafrika unumgänglich. Es galt, eventuelle Abhängigkeitsverhältnisse zu klären. Cone selbst hat bereits auf der Panafrikanischen EATWOT-Konferenz in Accra, Ghana 1977 seine Diasporasituation und „Doppelidentität“ als schwarzer US-Amerikaner und Nachkomme afrikanischer Sklaven thematisiert.29 Umgekehrt hat Alan Boesak, eine der zentralen Figuren der südafrikanischen Schwarzen Theologie sich in seiner Kampener Dissertation intensiv mit Cones theologischem
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Denken auseinandergesetzt. Der Cone-Schüler Dwight Hopkins ist dann den anderen Weg gegangen, „Back to Africa“.30 Hopkins wählt Kultur und Politik als die beiden Foci seiner Untersuchung, die den bisherigen Begegnungen nachspürt und Interviews mit zentralen Vertretern der beiden Bewegungen in den USA und Südafrika auswertet. Er kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass sich die schwarze Theologie Südafrikas bei näherem Hinsehen als verwandte, aber durchaus eigenständige Bewegung erweist.31 Neben James Cone waren auch Virgilio Elizondo und George Tinker als kontextuelle Theologen aus den USA früh in die Arbeit von EATWOT involviert, auch wenn ihr Diaspora-Status lange umstritten war. Für die Hispanic- bzw. Latinx-Theologen, wie sie sich heute gerne selbst bezeichnen, sowohl mexikanischer als puertoricanischer Abstammung, konnte Elizondo jedoch früh verdeutlichen, dass sie doppelt kolonisiert worden seien, erst durch die Spanier im 16. Jh. und dann im 19. Jh. ein zweites Mal durch die USA. Sie sind nicht immigriert, sondern die USA haben ihre Grenzen verlegt und sie vereinnahmt. Bereits in Galilaen Journey hat Elizondo auch einen eigenständigen Beitrag zur Christologie geliefert.32 Jesus ist ein Grenzlandbewohner, womöglich Sohn eines Soldaten der römischen Besatzungsmacht, wie er später spekuliert.33 Damit wird Jesus wie in anderen kontextuellen Christologien auch zum Repräsentanten der eigenen Identität, in diesem Fall der Mestizaje. Als exemplarisch für den theologischen Bezugsrahmen der Diaspora-Theologien kann das Buch des koreanisch-amerikanischen Theologen Jung-Young Lee gelten, der ähnlich wie Elizondo Jesus als marginalisierten Mann beschreibt.34 Die Determinanten von Jesu Marginalität, Klasse, ökonomischer, politischer, sozialer und ethnischer Orientierung haben ihn zur marginalen Person par excellence gemacht, deshalb sollten die Geschichten über die Inkarnation aus der Perspektive der Marginalität interpretiert werden (79; vgl. 97).
Dass selbst Tink Tinker als Repräsentant der indigenen Völker und ethnischen Minderheiten von EATWOT als US-Amerikaner ausgegrenzt wurde, obwohl ihre Vorfahren nur knapp dem Genozid durch die weißen Eroberer entkommen sind und sie die Anerkennung als eigene Nationen fordern, zeigt einen blinden Fleck in der Wahrnehmung der ersten Gene-
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ration kontextueller Theologen auf. Weder die indigenen Völker und ethnischen Minderheiten noch die Frauen waren zunächst im Blick. Die nativ-amerikanische Theologie schwankt denn auch zwischen christlichem Glauben und der Rückkehr zur traditionalen Religion. Es gibt Ansätze, Jesus Christus als Trixter, der subversiv ist und Grenzen überschreitet, oder Maismutter (Corn Mother), die Leben spendet bis hin zur Selbstaufopferung, zu inkorporieren.35 Insgesamt ist allerdings eher die Gotteslehre als die Christologie zum Bindeglied zwischen den beiden religiösen Bezugssystemen geeignet. Das Argument ist dann wie in der Afrikanischen und asiatischen Theologie, dass Gott von Anbeginn in der Schöpfung und damit immer auch schon in dem jeweiligen Kontext präsent ist, neu hinzugekommen von „außen“, zumeist im Zuge des kolonialen Projektes des Westens, ist dann die Botschaft von Jesus Christus. Die Rede vom kosmischen Christus wiederum transzendiert diese Sichtweise, da sie auch Jesus Christus als immer schon gegenwärtig denkt. Die Diaspora-Theologien sind auf ihre Herkunftsländer in Afrika, Asien und Lateinamerika in unterschiedlichem Maß bezogen, entwickeln gleichzeitig aber ein eigenes Diskursfeld, das ein Desiderat der Forschung ist. Eine Lücke, die ich bald mit einer Einführung in die kontextuellen Theologien der USA zu schließen hoffe. Die Schnittmenge mit den Christologien des globalen Südens ist bei der Schwarzen Theologie am größten, insofern sind die Diaspora-Theologien durch die Aufnahme von James Cone adäquat repräsentiert. Andere Geschlechter Die brennendste Frage bei der Abgrenzung meiner Referenzgruppe war, ob ich ein Kapitel über die Christologie von Frauen aufnehmen sollte. Ich hatte letztendlich mit dem Verweis darauf, dass die erste Generation kontextueller Theologie tatsächlich noch „Männersache“ war und die Frauen sich ihren Platz erst mühsam erkämpfen mussten, verzichtet. Ich war überzeugt, dass schon zur Zeit der Abfassung die Theologie von Frauen aus dem globalen Süden in ihrer Kreativität und Produktivität die Männer bereits abgehängt hatte und es einer eigenen Monographie bedurft hätte, um diesem Reichtum gerecht zu werden. In der Diaspora haben sich unterdessen die Womanist- und Mujerista- bzw. Latinx-Theologien etabliert.
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Die Frauen aus den Ländern des globalen Südens und ihrer Diaspora haben inzwischen ihren eigenen Weg zwischen der westlichen feministischen Theologie weißer Frauen und den kontextuellen Theologien ihrer Landsmänner gefunden.36 Sie beschäftigt dabei nicht so sehr die soteriologische Frage westlicher Feministinnen, ob ein männlicher Erlöser Frauen erlösen kann, sondern für sie ist Jesus ein Mann, der solidarisch mit den Frauen als den ‚Unterdrückten der Unterdrückten‘ ist. Dies wird jetzt im neu hinzugekommenen § 13 weiter ausgeführt. Dabei lege ich den Akzent auf die Frage von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Die Christologie der großen alten Männer erscheint dadurch im Spiegel einer jungen selbstbewussten Theologinnengeneration. Die von mir seinerzeit angemahnte wissenschaftliche Aufarbeitung und Rezeption im westlich akademischen Diskurs ist, von Ausnahmen abgesehen, wie bei ihren männlichen Kollegen ein Desiderat geblieben.37 Nach dem feministischen Aufbruch im Westen und dem „Aufbruch im Aufbruch“ der Theologinnen im globalen Süden verläuft die Diskussion inzwischen durch LGTBIQ-Theologien noch wesentlich ausdifferenzierter. Ähnlich wie bei den Diasporatheologien gilt auch für letztere, dass die Christologie ein generatives Thema unter anderen ist. Die vielen Gesichter Jesu Christi sind allerdings oft auch noch im Halbschatten der Identitätsdiskurse verborgen. Andere Formen Die christliche Kunst Afrikas, Asiens und Lateinamerikas konzentriert sich wesentlich auf das Christusbild, Maria, die Mutter Jesu und Darstellungen des Lebens Jesu.38 In dem ikonographischen crossover zwischen verschiedenen religiösen Symbolsystemen, in denen die Künstler, selten Künstlerinnen, beheimatet sind, ergeben sich eigenständige Christologien, die oft Tiefendimensionen interkulturell-religiöser Wechselwirkungen erschließen, derer das Wort nicht mächtig ist. Ich habe das im Buch exemplarisch durch fünf kontextuelle Christusdarstellungen vergegenwärtigt und inzwischen in vielen Aufsätzen und einer Monographie zur christlichen Kunst in Indonesien, meinem neben Südkorea zweiten Feldforschungsschwerpunkt in Asien, weiter verfolgt.39 Ein groß angelegtes Kompendium zur christlichen Kunst in interkultureller Perspek-
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tive soll folgen. Der neueste Trend der Glokalisierung dieser Kunst hat dazu geführt, dass die Bilder in säkularen Galerien ausgestellt und Teil der globalen Kunstwelt werden. Dadurch wird das klassische Kontextualisierungsparadigma gesprengt. Auch wenn das Ziel nicht mehr eine kirchliche Kunst ist, tragen die Kunstwerke doch zu einer Erneuerung der religiösen Ikonographie bei. Ein Blick voraus Ist die Ausgangsvoraussetzung meines Buches, dass die Frage Jesu „Wer sagt Ihr, dass ich sei?“ von jeder Generation in jedem Kontext neu beantwortet werden muss, heute noch zutreffend? Oder sind die Möglichkeiten irgendwann durchgespielt? Eine meiner zentralen Thesen war, dass die generativen Themen kontextabhängig unterschiedlich gewichtet und einer relecture unterzogen werden. In Situationen von Armut und Unterdrückung entfaltet die Kreuzestheologie neue Relevanz. Gleichzeitig verschiebt sich der Akzent aber vom „Sterben für“ zum „Sterben mit“. In der Harmatologie werden Konzepte der „strukturellen Sünde“ und der sinnedagainstness eingeführt, ohne dass die „Sündhaftigkeit“ des Einzelnen infrage gestellt wird. In einer präsentischen Soteriologie wird die Leidensgegenwart Gottes in Jesus Christus zur Annahme der Armen und Unterdrückten auch kontrafaktisch zu ihren Lebensumständen. Dieses Identifikationsangebot schafft dem Schrei nach Gerechtigkeit Resonanzraum. Im postkolonialen Zwielicht erscheint Jesus als Ahne, avatar, bodhisatva oder guru. Kulturell-religiös fremde Lehrer- und Mittlergestalten werden transparent für die christliche Heilsbotschaft. Der Akzent liegt dann eher auf dem Christus victor und einer theologia gloriae. Die Rückkehr der weißen Jesusdarstellungen des 19. Jh. in den Pfingstkirchen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas – heute oft als billige Massenreproduktionen aus China – lässt ihn demgegenüber als kolonialen „Wiedergänger“ erscheinen. Ist dies ein Durchgangsstadium, nachdem ähnlich wie auch in der evangelikalen Lausanner Bewegung die Kontextualisierungsdebatte neu geführt werden muss?40 Oder verblasst die „gefährliche Erinnerung“ dauerhaft zugunsten des Wohlstandsevangeliums? Dann wird das Jesusbild unweigerlich zum Markenzeichen einer Religion, die sich dem globalen Konsumkapitalismus verschrieben hat. Im
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Westen ist dieses hybride Stereotyp, ein orientalisierendes Erscheinungsbild des Juden Jesus mit dem Gesicht eines weißen Mannes, trotz anhaltender Säkularisierung noch stets gegenwärtig. Doch scheint die Christologie längst zugunsten eines liquiden Theismus verblasst. Übrig bleibt der Mensch Jesus, der immer noch Gegenstand diverser Filme und Bücher unterschiedlicher Qualität ist, die aber größtenteils außerhalb kirchlicher Kontexte oder gar theologischer Seminare entstehen. Die Frage „Wer sagt ihr, dass ich sei“ droht anscheinend ohne den kontextuellen Druck und die biographische Betroffenheit, mit der sich die hier vorgestellte erste Generation kontextueller Theologen an ihr Werk christologischer Dekonstruktionen und Rekonstruktionen gemacht hat, zu verhallen. Die kontextuellen Theologien würden dann in ein Zeitalter der Epigonen eintreten, das die westlich akademische Theologie schon des Längeren lähmt. Insofern hat das Buch auch nach 20 Jahren noch nichts von seiner theologischen Relevanz verloren. Zwar haben sich die Kontexte ebenso wie die theologischen Existenzen verändert, aber die Frage sozialer Gerechtigkeit gerade in ihrer Intersektionalität von race, Klasse und Geschlecht sowie die Herausforderungen des kulturell-religiösen Pluralismus haben sich seither eher zugespitzt und zerrütten inzwischen auch die nordatlantischen Gesellschaften. Weder konfessionelle Selbstimmunisierungsstrategien und theologischer Regress des traditionellen kirchlichen und theologischen Establishments noch der Tanz um das goldene Kalb der Anhängerinnen und Anhänger des Wohlstandsevangeliums des „nächsten Christentums“ (Philip Jenkins) sind darauf geeignete Antworten. Kwok Pui-Lan und Jörg Rieger haben mit ihrem Manifest Occupy Religion41 den Finger in eine offene Wunde gelegt. Es gilt, das befreiende Potenzial der Religionen zurückzugewinnen und sie aus den Klauen des neoliberalen Konsumkapitalismus zu befreien. Die gefährliche Erinnerung an das Leiden Jesu und seine Identifikation mit den Opfern der Geschichte ebenso wie die Gegenwart des Auferstandenen Christus in den Kulturen, auch in der Begegnung mit der Weisheit anderer Religionen sind das Diskursfeld christologischer Rede im 21. Jahrhundert. Die hier porträtierte erste Generation kontextueller Theologen hat uns hierfür nicht nur den Weg bereitet, sondern ist uns als Avantgarde in vielem immer noch voraus.
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Prolog: Jesus und die Kultur Die Person Jesu steht am Anfang jeder Christologie – das ist das Credo der Befreiungstheologen. Ich versuche im Folgenden eine narrative Rekonstruktion des Lebens Jesu unter Aufnahme der Erkenntnisse der sozialgeschichtlichen Exegese. Diese Forschungsrichtung nimmt in besonderem Maße den Kontext der biblischen Texte in den Blick und steht damit im Bereich der westlichen akademischen Theologie den kontextuellen Theologien noch am nächsten. Als Sohn einer jüdischen Mutter war Jesus Jude von Geburt.1 Über seine Kindheit und Jugend ist außer Legendarischem wenig auf uns gekommen. Seine spätere öffentliche Lehrtätigkeit zeigt jedoch, dass er im jüdischen Glauben erzogen wurde. Die Evangelien legen ihren Schwerpunkt auf die Zeit seines öffentlichen Auftretens, ein bis zwei, maximal drei Jahre2 am Ende eines kurzen Lebens. Über ihren Quellenwert ist viel gestritten worden. Es sind Glaubenszeugnisse, keine Augenzeugenberichte, und dennoch ist hinter ihnen immer noch der Mensch Jesus zu erkennen. Bethlehem als Geburtsort (Mt 2,1–18; Lk 2,1–21 vgl. Joh 7,40–43) ist strittig, eng verknüpft ist der Name Jesu aber mit Nazareth in Galiläa (Mk 1,9; Lk 1,26; Mt 2,23; Mk 6,1–6 par; Joh 1,45 f.). Hier ist er aufgewachsen als Sohn eines Handwerkers (Mt 13,55), eines Bauschreiners oder Tischlers (tekton), in einer kinderreichen Familie (Mk 3,31–35 par; 6,3 par). Jesus erlernte, wie damals gang und gäbe, den Beruf seines Vaters (Mk 6,3). Ob und wie lange er ihn ausgeübt hat, wissen wir nicht, doch mussten Kinder in der Regel früh zum Unterhalt der Familie beitragen. Während seines öffentlichen Wirkens ernährte er sich jedenfalls nicht mehr von seiner Hände Arbeit, anders als später Paulus. Jesus wird Aramäisch gesprochen haben; dass er Griechisch konnte, ist nicht auszuschließen.3 Palästina lag zwar an der Peripherie des römischen Imperiums, doch zeigten die Kolonialherren durchaus Präsenz, und die lokale Oberschicht hatte sich der Kultur des Hellenismus schon aus Opportunitätsgründen geöffnet.4 Nur sechs Kilometer von Nazareth entfernt lag das von den Römern im Zuge einer Strafaktion im Zusammenhang mit den Unruhen nach dem Tode Herodes I. (4 v.Chr.) zerstörte Sepphoris.5 Herodes Antipas (r. 4 v.Chr. – 39 n.Chr.), Jesu Landesherr, trieb den
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Wiederaufbau voran, um es zur Hauptstadt seiner Tetrarchie zu machen. Vielleicht haben Joseph und sein Sohn Jesus zeitweilig auf dieser Großbaustelle gearbeitet. Später, während Jesus am Nordufer des Sees Genezareth herumzog und predigte, lag das ca. 18 n.Chr. von Herodes Antipas gegründete und 26 n.Chr. zur neuen Hauptstadt Galiläas erhobene Tiberias stets in Sichtweite. Jesus wird sich auch auf der Via Maris fortbewegt haben, der wichtigsten Handelsstraße Palästinas, die Ägypten mit dem Euphratgebiet verband. Eine Querverbindung zweigte nach Sepphoris ab. Seine Wanderungen führten Jesus in die Nähe hellenistischer Städte; Tyrus und Sidon (Mk 7,31; Mt 15,21), Cäsarea Philippi (Mk 8,27; Mt 16,13) und die Dekapolis (Mk 5,20; 7,31) werden genannt. Doch der Abstand in Reichtum und Bildung zwischen der kleinen hellenisierten Oberschicht und dem Gros der galiläischen Landbevölkerung war immens.6 Als kleiner Leute Kind hatte Jesus nur beschränkte Bildungschancen. Aber er ist charismatisch begabt, kennt die Schriften und versteht, sie auszulegen. Zudem schöpft er aus der Weisheit des Volkes. Seine Gleichnisse spiegeln die Lebenswelt einfacher Menschen, Bauern, Fischer und Handwerker. Ihm sind aber auch Großgrundbesitz, Geldgeschäfte und Spekulationen nicht unbekannt (Mk 12,1–12 par; Mt 18,21–35; 20,1–16; 25,14–30 par; Lk 12,16–21; Lk 16,1–9). Der Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu ist eng mit der Person Johannes des Täufers verbunden (Mk 1,1–8; Mt 3,1–12; Lk 3,1–20; Mk 6,14– 29 par; Joh 1,19–34.35 f.; 3,22–36).7 Welchen Einfluss dieser auf sein Denken hatte, bleibt jedoch im Dunkeln. Die Jesusüberlieferung bringt ihm eine hohe Wertschätzung entgegen. Dass Jesus und einige seiner Jünger ursprünglich Täuferanhänger waren, wird immer wieder vermutet. Doch ist trotz der Fragmentarität der Überlieferung noch deutlich, dass er etwas über die endzeitliche Bußpredigt des Täufers Hinausgehendes anzusagen hatte. Jesus verkündigte die Königsherrschaft Gottes. Den Armen und Unterdrückten,8 den Zöllnern, Sündern und Dirnen, den Kranken und Schwachen, den Frauen9 und Kindern10 kommt im Reich Gottes ein besonderer Platz zu. Seine Wunder, die Krankenheilungen und Speisungen, sind Zeichen dafür, dass die Gottesherrschaft in seiner Gegenwart schon vorweggenommen ist.11 Diese Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem
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„noch nicht“, wie spätere Dogmatik gerne sagt, ist unauflöslich. Die Reichen und Mächtigen ruft Jesus zur Umkehr (Mk 10,17–31 par; Lk 6,24 f.; 12,13–21). Zwar ist er nicht der Kopf einer politischen Widerstandsbewegung,12 aber sein Auftreten muss doch als eminent politisch empfunden worden sein. Über die Herrschenden, „die ihre Amtsgewalt missbrauchen“, (Mk 10,42), hat er sich wohl keine Illusionen gemacht.13 Herodes Antipas nannte er einen Fuchs (Lk 13,32) und ein schwankendes Schilfrohr (Mt 11,7),14 seine Jünger hat er eindrücklich vor ihm gewarnt (Mk 8,15). Anders als die Zeloten war die Jesusbewegung jedoch irenisch ausgerichtet. Dem Kaiser die Steuern zu zahlen etwa, brauchte sich niemand zu widersetzen (Mk 12,13–17 par). Die Schar seiner Anhänger verstand Jesus als Gegengesellschaft, in der einer dem anderen dienen sollte (Mk 10,42–45). Unter seinen Jüngern waren Fischer (Mk 1,16–20 par) und ein Zollknecht (Mk 2,13–17 par). Reich ist keiner von ihnen gewesen, es mag zum Überleben gereicht haben. Viel war es jedenfalls nicht, was sie zurückließen, als sie seinem Ruf folgten. Wohl schon früh gehörten zu seiner Gemeinschaft Frauen, auch wenn der Kreis der Zwölf nur Männer umfasste. Andere, die dazustießen, waren vorher schon sozial entwurzelt. Der Markusevangelist spricht vom ochlos, der Volksmenge um Jesus, die zusammenströmte, wo er lehrte, ihm z. T. wohl aber auch nachfolgte.15 In Galiläa und den angrenzenden Gebieten umherziehend, heilte Jesus Kranke und lehrte in den Synagogen, in Häusern oder einfach im Freien. Auch da, wo er galiläisches Territorium verließ, bewegte er sich vorwiegend in jüdischem Umfeld. Direkt in die hellenistischen Städte zu gehen, vermied er (Mk 1,45). Grundlage seiner Lehre ist die Tora. Auch wenn er Normen entschärfte, wo sie die kleinen Leute zu sehr bedrückten, außer Kraft gesetzt hat er sie nirgends (Mt 5,17). Niemand soll aufgrund seiner misslichen sozialen Lage, die ihn etwa dazu zwingt, einen als unrein erachteten Beruf auszuüben, durch die Reinheitsgebote noch zusätzlich religiös diskriminiert werden (Mk 7,1–23). Barmherzigkeit an den Armen, den Kranken und Hungernden zu üben, kollidiert nicht mit dem Sabbatgebot (Mk 2,23–3,6). Seine Jünger fasten nicht, denn mit seiner Gegenwart ist für sie eine Freudenzeit angebrochen (Mk 2,18 f.). Andere Gebote, wie das Eherecht, verschärft er (Mk 10,1–12), vielleicht auch im Blick auf die
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libertinistischen Sitten der Oberschicht, derentwegen nach dem Bericht der Evangelien der Konflikt zwischen Johannes dem Täufer und Herodes eskaliert ist (Mk 6,17–19). Gesetz und Propheten kann Jesus im doppelten Liebesgebot (Mk 12,28–34 par)16 zusammenfassen. Wer sich daran hält, hat bereits viel getan. Jesus ist der Begründer einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung.17 Neben solchen prophetischen Bewegungen, wie sie sich etwa um Johannes den Täufer und Jesus scharten, gab es die Essener, die Pharisäer, die Sadduzäer und die Zeloten.18 Das Neue Testament zeichnet im Ansatz das Bild eines in sich pluralistischen Judentums. „Die Juden“ im Gegenüber zu Jesus, wie sie die Autoren der Evangelien aus der Erfahrung des schmerzhaften Ablösungsprozesses von ihrer jüdischen Mutterreligion streckenweise stilisieren,19 hat es so nie gegeben. Jesu Wirkkreis war das jüdische Volk. An eine organisierte Heidenmission dachte er nicht. Der schroffe Satz „Geht nicht den Weg zu Menschen aus den Völkern und nicht hinein in eine samaritanische Stadt!“ (Mt 10,5b) ist vielleicht noch Reflex darauf. Dennoch wird es im Grenzland hin und wieder zu Begegnungen mit Angehörigen anderer Volksgruppen gekommen sein. Exemplarisch wird die Geschichte von der Syrophönikerin erzählt (Mk 7,24–30 par).20 Jesus weist ihr Hilfegesuch zunächst mit Hinweis auf das Vorrecht Israels zurück, lässt sich dann aber doch von ihrem Glauben überzeugen. Beim Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5–13 par)21 ist er weniger zögerlich, vielleicht weil sie praktisch „Nachbarn“ waren oder die Ältesten der Synagoge ihn baten. Das Haus des Hauptmanns betritt er aber nicht. Bei Lukas zeigt Jesus ein gewisses Interesse an den Samaritanern (Lk 9,51–56; 10,25–37; 17,11–19). Daran könnte etwas sein, etwa im Sinne der Heimholung der Ketzer. Vielleicht lässt sich vorläufig so viel sagen: Wer unter den Heiden Glauben zeigte, wurde nicht grundsätzlich abgewiesen. Nach jüdischer Vorstellung kommen die Heiden jedoch erst im Eschaton hinzu (Jes 2,2–5). Ähnlich wird das wohl auch Jesus gesehen haben, jedenfalls aber einige seiner Anhänger, die bald nach seinem Tod, noch unter der konkreten Naherwartung stehend, mit eben dieser Begründung die Heiden zu sammeln begannen (Mk 13,10).22 Jesus wusste sich zu den Juden gesandt. An eine flächendeckende Verkündigung hat er nicht gedacht, aber jeder Mann und jede Frau seines
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Volkes sollte die Möglichkeit haben, von ihm zu hören. Deswegen wanderte er umher, heilte und lehrte. Seine Jünger sandte er aus, Gleiches zu tun (Mk 6,7–13 par). Nachdem überall im galiläischen Land die Kunde von ihm erschollen war, zog er hinauf nach Jerusalem, wohin sein Ruf ihm vorausgeeilt war. Dass er sich damit in Gefahr begab, muss ihm bewusst gewesen sein. Konflikte mit der lokalen Oberschicht und den religiösen Autoritäten hatte es schon in Galiläa wiederholt gegeben. Das gewaltsame Geschick der Propheten23 stand ihm vor Augen. Angst wird er gehabt haben, was früh in der Gethsemane-Episode stilisiert wurde (Mk 14,32–42), die durchaus Raum für menschlichen Zweifel zulässt. Jesus drang nun in das Zentrum der jüdischen Religion vor und lehrte im Tempel. Sein Tempelwort (Mk 14,58; vgl. Joh 2,19–21) zielte auf die institutionalisierte Religion und ihre Repräsentanten, stellte aber zugleich auch den Status Jerusalems als heiliger Stadt in Frage. Die symbolische Tempelreinigung (Mk 11,15–17 par; Joh 2,13–16) muss als direkter Schlag gegen den Pilgertourismus empfunden worden sein, von dem breite Kreise Jerusalems profitiert haben werden. Dies spiegelt sich noch in der zweifachen Begründung der Anklage gegen Jesus „sowohl beim Verhör vor dem Synhedrium [Mk 14,57–64] als auch in der Kreuzigungsszene [Mk 15,2932].“24 Während die Tempelaristokratie Jesus wegen seines Messiasanspruchs unter Anklage stellt, verklagen ihn einige anonym Bleibende wegen seiner Polemik gegen den Tempel. Der Johannesevangelist trifft sicherlich einen Teil der Wahrheit, wenn er berichtet, dass die jüdischen Autoritäten einem Eingreifen der Römer zuvorkommen wollten (Joh 11,47–50; 18,14). Doch fühlten sie sich wohl zuerst in ihrer eigenen Position angegriffen und sannen deswegen darauf, wie sie sich seiner entledigen könnten. Ihn vor Pilatus als jüdischen Aufrührer zu verklagen, der Herrschaftsansprüche anmelde, war ein geschickter Schachzug. Die Römer waren mit Unruhestiftern allgemein nicht zimperlich. Die Schilderung von Pilatus’ Zaudern dürfte eher eine Servilitätsadresse der Evangelisten an die Römer sein (Mt 27,11–24; Joh 18,28– 40). Jesus wurde denn auch nicht als religiöser Abweichler gesteinigt, sondern starb am Kreuz der römischen Kolonialmacht. Das Volk hatte sich von ihm abgewandt, die Jünger waren geflohen, selbst Petrus hatte ihn verraten. Wer Sympathie zeigte, musste mit Repres-
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salien rechnen. Unter Umständen konnte er selbst ans Kreuz geschlagen werden. Dennoch standen die Frauen von ferne (Mk 15,40 f.). Am Morgen des dritten Tages, als die Frauen kamen, ihn zu salben, war das Grab leer. Am gleichen Tag gab es Erscheinungen Jesu vor den Frauen (Mk 16,9 f.; Mt 28,9 f.; Joh 20,11–18), die ihm nachgefolgt waren, und vor den Jüngern (Mk 16,12–14 par; Joh 20,19–21,22). Darin ist der Glaube an seine Auferstehung gegründet.25 Seine Anhängerinnen und Anhänger kamen wieder zusammen und sagten die gute Nachricht weiter. Die Kunde von ihm und seine Botschaft – das Evangelium umfasste wohl schon früh beides – drängten darauf, weitererzählt zu werden. Schon bald drang die gute Nachricht über den jüdischen Bereich hinaus. Mit dem Überschreiten kultureller Grenzen stellte sich die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur, zugespitzt zunächst auf das Problem des Verhältnisses von Juden und Heiden.26 Exemplarisch lässt sich das an Leben und Mission des Paulus darstellen.27 Theoretisch reflektiert wurden die dabei ablaufenden Prozesse allerdings erst sehr viel später. Einige moderne Theorieansätze sollen im weiteren Verlauf dieses ersten Hauptteils vorgestellt werden.
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§ 1 Christologie und die Kultur 1. Christus und die Kultur Der amerikanische Theologe und Sozialethiker H. Richard Niebuhr (1894–1962) hat mit seinem nie ins Deutsche übersetzten Buch „Christ and Culture“1 eine Typologisierung der Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur vorgelegt, die erst in der neueren Diskussion wieder aufgegriffen wurde. Die Bandbreite der Typen reicht vom Exklusivismus der radikalen Christen, die „Christus gegen die Kultur“ gerichtet sehen (Christ against culture), bis zur inklusiven Sichtweise der Kulturchristen, für die „Christus der Erfüller der Kultur“ ist (Christ of culture). Zwischen diesen beiden Extrempositionen benennt Niebuhr drei vermittelnde Antworten, die, ausgehend von der Erfahrung, dass Christus und die Kultur weder isoliert nebeneinander stehen können noch ineinander aufgehen, die beiden Größen zueinander in Beziehung setzen. Getragen werden diese unterschiedlichen Vermittlungsversuche von der kirchlichen Mitte (church of the center). Während die Dualisten „Christus und die Kultur im Widerspruch“ zueinander sehen (Christ and culture in paradox), den es in der konkreten Situation fortwährend auszutarieren gilt, lokalisieren die Synthesisten „Christus über der Kultur“, in der er nie ganz aufgeht (Christ above culture). Dualismus und Synthese sind mithin Modifikationen der nicht praktikablen Extreme Exklusivismus und Inklusivismus. Niebuhr selbst favorisiert den dritten Typ, die Konversionisten, für die „Christus der Verwandler der Kultur“ ist (Christ the transformer of culture). Die drei von Niebuhr konstruierten Vermittlungstypen akzentuieren jeweils eine im Grunde auch von den beiden anderen geteilte Prämisse: • Christus und die (jeweilige) Kultur fordern von ihren Anhängern bzw. Angehörigen gleichermaßen Loyalität (Dualisten). • Christus geht nie völlig auf in einer Kultur (Synthesisten). • Christus ist eine kulturkritische Instanz (Konversionisten).
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Übers. 1: Christus und die Kultur (Niebuhr) radikale Christen
Kirchenchristen vermittelnde Antworten
Kulturchristen
Exklusivisten
Dualisten
Konversionisten
Synthesisten
Akkommodisten
Christus gegen die Kultur
Christus und die Kultur im Widerspruch
Christus der Verwandler der Kultur
Christus über der Kultur
Christus der Erfüller der Kultur
I Joh, Tertullian, Tolstoi
Paulus, Luther, Kierkegaard
Augustin, Calvin
Justin, Clemens, Thomas von Aquin
chr. Gnosis, Abaelard, Kulturprotestantismus
In seinem Vorwort erweist Niebuhr Ernst Troeltsch die Reverenz, dessen Typologie „der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee“2 er lediglich zu modifizieren vorgibt.3 Dieser charakterisiert als die beiden gegensätzlichen Gemeinschaftsformen des Christentums die Kirche, die aufgrund ihres Selbstverständnisses als Heilsmittlerin „der Welt sich anpassen kann“ und dadurch breiten Bevölkerungsschichten zugänglich ist, und die Sekte, deren Anhänger von Endzeiterwartungen bestimmt sind und in Kleingruppen „von der Welt sich scheiden“ wollen. Daneben stellt Troeltsch die Mystik, deren Vertretern die christliche Religion „zu einem rein persönlich-innerlichen Gemütsbesitz“ wird. Troeltschs Typen der Verhältnisbestimmung von Religion und Welt verhalten sich in gewisser Weise konzentrisch zueinander, mit der Mystik als Form verinnerlichter Religion im Zentrum und der Kirche als der Welt zugewandte Gemeinschaftsform im äußersten Ring, dazwischen die Sekte als weltabgekehrte Gruppierung. Niebuhrs Typologie ist demgegenüber polar strukturiert, mit einem deutlichen Akzent auf Christus bzw. dem Evangelium. Wenn Niebuhr von Kultur spricht, hat er die westliche Kultur im Blick. Dies zeigt sich nicht zuletzt an seiner zeitweisen synonymen Verwendung des Begriffs Zivilisation. In der missionswissenschaftlichen Diskussion zum Thema weitet sich demgegenüber der Blick auf den Pluralismus der Kulturen und Religionen weltweit. Dadurch wird die Beziehung zwischen den Grundkoordinaten Kultur und Religion in zweifacher Hinsicht komplexer:
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(1.) Kultureller Pluralismus: Erst im Kontakt mit fremden Kulturen schärft sich das Bewusstsein dafür, dass das Evangelium uns überhaupt nur in kulturell vermittelter Gestalt zugänglich ist. Der Kulturkontakt birgt daher immer auch die Chance in sich, kulturelle Engführungen in der Interpretation des Evangeliums zu korrigieren. (2.) Religiöser Pluralismus: Zugleich trifft das Christentum bei diesem Kulturkontakt auch auf fremde Religionen. Ohne hier in die Diskussion um eine Theologie der Religionen einsteigen zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass deren beiden antagonistischen Grundoptionen Exklusivismus und Inklusivismus4 durchaus kompatibel mit Niebuhrs Typologie sind. Das gegenüber den anderen Religionen lange Zeit vertretene extra ecclesiam nulla salus5 verbindet die Exklusivisten unter den Religionstheologen mit Niebuhrs radikalen Christen. Vertreter der inklusivistischen Position, die in anderen Religionen die Heilswirksamkeit des logos spermatikos6 zu entdecken meinen, sie als preparatio evangelica verstehen oder ihre Anhänger als „anonyme Christen“7 mit in die Heilsgeschichte hineinnehmen, vertreten letztendlich eine Theologie, die die Heilserwartungen der anderen Religionen im Christentum erfüllt sieht. Dieses Denkmuster teilen sie mit Niebuhrs Kulturchristen bzw. Akkommodisten. Inwiefern ich Religion als ein kulturelles System verstehe, habe ich eingangs bereits erläutert. Wenn ich also von Evangelium und Kultur spreche, ist die religiöse Dimension der jeweiligen Kultur immer mitgemeint. Im Unterschied zu Troeltschs konzentrischer und Niebuhrs polarisierender Typologisierung neige ich selbst einer dialektischen Sichtweise des Verhältnisses von Evangelium und Kultur zu, wie sie in den vermittelnden Antworten des Letztgenannten bereits angelegt ist. Unter dem Stichwort kontextuelle Theologie werde ich das im Folgenden noch näherhin ausführen.
2. Evangelium und Kultur8 Mission ist immer auch Kulturkontakt, lautet eine meiner Prämissen. Die jahrhundertealte Tradition des Christentums im Westen hat das Wissen von den kulturellen Grenzüberschreitungen des Evangeliums auf seinem
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Weg von Palästina in das heutige Europa allerdings verblassen lassen.9 Niebuhrs drei vermittelnde Antworten sind Spielarten eines Grundtypus, der Christus bzw. das Evangelium und die Kultur in einem spannungsvollen Verhältnis sieht. So unpraktikabel demgegenüber ein radikaler Exklusivismus und der Inklusivismus der Kulturchristen auch erscheinen mögen, als Tendenzen sind sie als die beiden Grundoptionen christlicher Soteriologie auch in den Vermittlungsmodellen präsent.10 Die universale Heilsverheißung in Jesus Christus nimmt alle Menschen in die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung hinein (Inklusivismus). Zugleich sind dadurch andere Heilswege ausgeschlossen (Exklusivismus). Ich spreche in diesem Zusammenhang von einem Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma.11 Niebuhrs Typologie erweist sich als durchaus übertragbar auf den interkulturellen Diskurs. Eine postmoderne Version des Exklusivismus sind die kulturpessimistischen Polemiken des Briten Lesslie Newbigin. Die Niebuhrschen Akkommodisten sind nicht nur namentlich, sondern auch konzeptionell dem missionswissenschaftlichen Akkommodationsmodell verwandt. Inklusivistische Ansätze werden uns vereinzelt auch späterhin bei unserem Gang durch die christologischen Entwürfe der Dritte-WeltTheologen noch begegnen.12 Ihrer Grundstruktur nach sind die Inkultu rations- bzw. kontextuellen Theologien jedoch dialektische Ausdifferenzierungen des Vermittlungsgedankens. Exklusivismus Lesslie Newbigin (1909–1998) war selbst – wenn auch mit Unterbrechungen – über 30 Jahre Missionar in Indien.13 Der Heimgekehrte hat sich noch in fortgeschrittenem Alter mit einer ganzen Reihe von Publikationen zu Wort gemeldet, die die Evangeliumsvergessenheit der westlichen Kultur brandmarken.14 Trotz seiner nie verhohlenen theologischen Nähe zu evangelikalen Positionen war Newbigin immer auch ein engagierter Ökumeniker. Er ist dem traditionellen Kircheneinheitsflügel innerhalb der ökumenischen Bewegung zuzurechnen, wie er sich heute vor allem noch um die Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) sammelt. Newbigin hatte wesentlichen Anteil an der südindischen Kirchenunion (1947). In der Folge wurde ihm das Amt des Bischofs von Madurai und Ramnad
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übertragen (1947–1959). Für das Amt des Generalsekretärs des Internationalen Missionsrats (IMR; 1959–1961) von seiner Kirche freigestellt, war Newbigin dann der Architekt der Integration dieses Gremiums in den ÖRK. Als erster Direktor der neugegründeten Abteilung für Weltmission und Evangelisation bekleidete er gleichzeitig das Amt eines beigeordneten Generalsekretärs des Weltrates (1961–1965). Nach einer erneuten Zeit als Bischof der Kirche von Südindien in Madras (1965–1974) lehrte er Missionswissenschaft an den Selly-Oak-Colleges in Birmingham (1974–1979). Auch kirchlich blieb Newbigin weiter aktiv. 1978 wurde er zum Moderator der Generalversammlung der United Reformed Church (URC) gewählt. Von 1980 bis 1988 übernahm er dann noch eine Gemeinde in einem sozialen Brennpunkt Birminghams, die ohne sein Zutun von der Bezirksleitung der URC geschlossen worden wäre.15 Newbigin diagnostiziert ein „Verschwinden der Hoffnung“ (1)16 in der Kultur des Westens. Als Wurzel allen Übels macht er die Aufklärung aus, die längst an ihre Grenzen gestoßen sei. Das von Newbigin entworfene Krisenszenario, in schlichter Schwarz-Weiß-Malerei gezeichnet, trägt apokalyptische Züge (36). Die westliche Kultur „ist dem Sterben nahe“ (3), sie „hat keine Zukunft und das Leben daher keinen Sinn“ (25). Als Analogie zu dieser Zeitenwende rekurriert Newbigin wiederholt auf Augustin und seine Epoche. „Eine außergewöhnlich brillante Kultur kam an das Ende ihres Lebens“ (63). Augustins Diktum „Ich glaube, um zu wissen (credo ut intellegam)“ (24) ist Newbigin zufolge signifikant für „die Verschiebung, durch die die klassische Weltanschauung durch die biblische ersetzt und dann – 15 Jahrhunderte später – die Entwicklung [in der Aufklärung] wieder umgekehrt wurde.“17 Wir stehen nun vor einer abermaligen Revision, so lässt sich folgern, die die Aufklärung ablöst und das biblische Paradigma wieder einsetzt. Unter „westlicher Kultur“ subsumiert Newbigin Kapitalismus und Marxismus, die als antagonistische Traditionsströme der Aufklärung (3) das Christentum doch gleichermaßen in den Bereich des Privaten zurückgedrängt haben. Den allgemein anerkannten Referenzrahmen (fiduciary framework) bildet die naturwissenschaftliche Weltsicht (29 f.), in der die Tatsachen über die Werte und der Zweifel über das Dogma gesetzt werden. Zum Garanten des individuellen Strebens nach Glück wurde der
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Nationalstaat (15). Der Gott der Bibel war dadurch seiner normgebenden und normgarantierenden Funktionen enthoben. Kirche und Theologie haben dieses Paradigma internalisiert und sich selbst auf die Privatsphäre beschränkt. Hier fordert Newbigin eine radikale Umkehr. Er proklamiert das Evangelium als „öffentliche Wahrheit“,18 ohne allerdings plausibel darlegen zu können, was sich für ihn mit diesem Begriff verbindet. Als heimliches Leitbild und ausgemachtes Feindbild zugleich steht ihm dabei der Islam vor Augen, „der heute die einzige globale Ideologie ist, die die herrschende Ideologie herausfordern kann und eine kohärente Alternative anbietet.“19 Unsere muslimischen Mitbürger scheuen sich nicht, den Glauben des Islam als Wahrheit zu proklamieren – als öffentliche Wahrheit, der sich letzten Endes alle unterwerfen müssen.20
Trotz aller Beteuerungen, nicht einer Rekonstituierung des Corpus Chris tianum das Wort zu reden, will Newbigin doch das Aufklärungsparadigma durch das Evangelium als Referenzrahmen ablösen. Das Plädoyer für die Wiedereinsetzung des Dogmas zieht obsolete Absolutheitsansprüche nach sich. Die Rede vom „engagierten Pluralismus (committed pluralism)“21 nimmt den Pluralismus nicht ernst.22 Richtig ist, dass Kirche und Theologie eine öffentliche Verantwortung haben und wieder diskursfähig werden müssen. In der pluralistischen Gesellschaft ist dies jedoch nur in dem Bewusstsein möglich, mit anderen Sinnangeboten konkurrieren zu müssen. Dies scheint Newbigin bei oberflächlicher Betrachtung auch zu konzedieren. Bei genauerem Hinsehen wird als Kehrseite des Exklusivismus jedoch ein Inklusivismus sichtbar, der vom Erbe der Aufklärung das nicht verschmäht, was der eigenen Position zuträglich ist, ansonsten aber eine Kultur nach eigenem Zuschnitt anvisiert. Das Evangelium soll selbst kulturschaffend wirken. Die Niebuhrsche Polarität ist damit aufgehoben. Diese auf die Spitze getriebene Christus-gegen-die-westliche-Kultur-Attitüde sieht in Christus zugleich den Erfüller einer geläuterten Kultur, die ihre abendländische Abstammung sicherlich nur schwer verleugnen könnte.23
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Akkommodation Akkommodation, die Anpassung der Evangeliumsverkündigung an die jeweilige Kultur, wurde praktiziert lange bevor es den Begriff gab. Das Problem, auf das das Akkommodationsmodell zu antworten sucht, reicht zurück bis zu den Anfängen des christlichen Glaubens. Die sukzessive Ausbreitung des Christentums nach Westen in die griechische, römische und germanische Sphäre, im Süden nach Ägypten, Nordafrika und Äthiopien, sowie im Osten bis nach Indien und China,24 ging einher mit kulturellen Grenzüberschreitungen. Mit der im Gefolge von Kolonialismus und Imperialismus in der Neuzeit einsetzenden Weltmission traf das Evangelium dann auf den globalen Pluralismus der Kulturen und Religionen. Die dabei beobachtbaren Anpassungsbemühungen sind geleitet von der Vorstellung, dass Inhalt und kulturelle Form des Evangeliums klar voneinander zu trennen sind. Wie beim Entfernen der Schale einer Nuss der Kern zutage tritt, lässt sich auch das Evangelium aus seiner kulturellen Hülle lösen. Die in diesem Zusammenhang ebenfalls gebräuchliche Gewand- und Vegetationsmetaphorik spricht davon, dass das Evangelium kulturell neu eingekleidet bzw. in einen neuen kulturellen Nährboden verpflanzt wird. Als exemplarisch für die Akkommodationsproblematik wird gemeinhin der Riten- bzw. Akkommodationsstreit angeführt.25 Er entzündete sich an der Missionstätigkeit der Jesuiten in Asien. In China hatte Matteo Ricci (1552–1610) die Konfuzius- und Ahnenehrung als zivile Praktiken auch für Christen zugelassen. Er selbst kleidete sich wie ein konfuzianischer Gelehrter. Durch eine Doppelstrategie, Vermittlung westlicher Wissenschaft bei gleichzeitiger Übernahme östlicher Bräuche, versuchte er, in China Fuß zu fassen. Seine Akkreditierung am chinesischen Kaiserhof zeugt vom Erfolg dieser Vorgehensweise. In der Schrift „Die wahre Lehre über Gott“26 sucht Ricci den Nachweis zu führen, dass der Konfuzianismus im christlichen Glauben erst zu seiner vollendeten Form gelangt. Das Buch fand Aufnahme in den Kanon der chinesischen Klassiker. Roberto de Nobili (1577–1656), ein Ordensbruder Riccis, missionierte unter der Brahmanenkaste in Indien. Im Gewand eines Brahmanen erhob er den Anspruch, mit dem Evangelium das verloren geglaubte fünfte Veda27 nach Indien zurückzubringen. Beide suchten entsprechend der Missionsstrategie ihres Ordens mit ihrer Evangeliumsverkündigung An-
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schluss an die Oberschicht zu gewinnen. Sie erlernten die Landessprache und studierten die jeweiligen Kulturen und Religionen. Im Grunde vertraten sie eine Theologie, die das Evangelium als Erfüllung der jeweiligen Kultur herausstellt. Der sich daran entzündende Streit war von sehr unterschiedlichen Faktoren bestimmt. Die nach China vordringenden Dominikaner und Franziskaner etwa beurteilten die Riten, wieder entsprechend der Missionsstrategie ihrer Orden, nach der im Volk geübten Praxis und verwarfen sie daraufhin als Aberglauben. Neben dieser Ordensrivalität gab es auch nationale Differenzen zwischen den Missionaren spanischer und portugiesischer Herkunft und kirchenpolitische Rivalitäten zwischen Patronat und Propaganda. Die theoretische Reflexion setzte mit der Begründung der Missionswissenschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. Der Begriff Akkommodation fand dabei vor allem im katholischen Bereich Verwendung. Thomas Ohm (1892–1962) differenzierte das Akkommodationsmodell dann in den Dreischritt – Akkommodation, Assimilation, Transformation – aus. Akkommodation bezeichnet für ihn die Anpassung der Verkündigung der Kirche an die jeweilige Kultur, Assimilation die Übernahme von Elementen aus dieser Kultur und Transformation ihre theologische Überformung.28 In der protestantischen Diskussion kam in den 1950er-Jahren der Begriff Indigenisierung in Gebrauch, der allerdings wenig Trennschärfe bewiesen hat. Seine Ursprünge liegen in der von Rufus Anderson (1796–1880) und Henry Venn (1796–1873) propagierten Drei-Selbst-Formel für die Selbstständigkeit der Kirchen in den Missionsgebieten – Selbstverwaltung, Selbstversorgung, Selbstausbreitung – und der vor allem für die deutsche protestantische Missionswissenschaft signifikanten Diskussion um „Kirche und Volk“.29 Shoki Coe30 kritisierte den statischen Kulturbegriff und die damit einhergehende Vergangenheitsorientierung dieses Konzepts. Eine moderne Variante des Akkommodationsmodells sind die in evangelikalen Kreisen entwickelten Übersetzungsmodelle. Charles Kraft spricht unter Rekurs auf den Unterschied von wörtlicher und paraphrasierender Übersetzung von rein formaler Übereinstimmung (formal correspondence) und dynamischer Entsprechung (dynamic equivalence).31 Die Kritik am Akkommodationsmodell lässt sich in den drei Stichworten – statisch, hierarchisch, ekklesiozentrisch – zusammenfassen:
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• Der Akkommodation liegt eine statische Vorstellung von Evangelium und Kultur und ihres Verhältnisses zueinander zugrunde. Eine Veränderung der beiden Größen bzw. eine wechselseitige Beeinflussung wird nicht einkalkuliert. • Das Akkommodationsgeschehen ist hierarchisch strukturiert, zwischen „Missionssubjekt“ und „Missionsobjekt“ besteht ein klares Gefälle. • Subjekt der Akkommodation ist allein die Kirche. Dennoch stellt das Akkommodationsmodell gegenüber dem Exklusivismus des extra ecclesiam nulla salus einen deutlichen Fortschritt dar. Die fremde Kultur und Religion der „Missionsobjekte“ wird nicht mehr generell verworfen, sondern jedenfalls erforscht und für die Evangeliumsverkündigung nutzbar gemacht. Diese Instrumentalisierung der Kultur zu einer neuen „Verpackung“ des Evangeliums wird jedoch durch den Kulturwandel und die Eigendynamik des Evangeliums sowie die Prozesse der sich daraus ergebenden Wechselwirkungen konterkariert. Der Schritt vom Akkommodations- zum Inkulturationsmodell ist in der Sache selbst angelegt. Inkulturation Das Vaticanum II markiert in der katholischen Theologie auch im Hinblick auf die Frage der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur einen Wendepunkt. • Die Liturgiereform32 folgt der Prämisse, „dass das christliche Volk sie [die Liturgie] möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann“ (Art. 21). Grundlegend ist die Zulassung des Gebrauchs der Muttersprache (Art. 36). Ausdrücklich geregelt wird die „Anpassung an die Eigenart und Überlieferung der Völker“ (Art. 37–40). Die Kirche „pflegt und fördert das glanzvolle geistige Erbe der verschiedenen Stämme und Völker, was im Brauchtum der Völker nicht unlöslich mit Aberglauben und Irrtum verflochten ist, das wägt sie wohlwollend ab, und wenn sie kann, sucht sie es voll und ganz zu erhalten“ (Art. 37). Besondere Erwähnung findet die Initiation (Art. 65) und die Musik (Art. 119). Die Anpassung soll aber auch im Hinblick auf „sakrale Kunst, liturgisches Gerät und Gewand“ erfolgen (Art. 128). Die Entscheidungsgewalt liegt immer bei der Hierarchie, den örtlichen Bischofskonferenzen und Rom.
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46 I. Kontextuelle Christologie in interkultureller Perspektive
• Durch die hohe Wertschätzung der Ortskirche rückt die lokale Kultur ebenfalls stärker in den Blick.33 • Die Demokratisierung des Kulturbegriffs in der Pastoralkonstitution34 signalisiert ein erwachendes Bewusstsein für die Dynamik kultureller Prozesse. Auch wenn die Konzilstexte selbst noch von „Anpassung“ sprechen, haben sie doch den Weg für einen (missions)theologischen Neuaufbruch bereitet, der später unter dem Neologismus Inkulturation firmiert. Die Nähe zur kulturanthropologischen Fachterminologie „Enkulturation“ bzw. „Akkulturation“ einerseits und zum theologischen Begriff „Inkarnation“ andererseits, hat der Vermutung Vorschub geleistet, dass hier eine Verschmelzung dieser Konzeptionen stattgefunden hat. Doch wird dabei oft allzu leichtfertig die distinkte Konnotation der einzelnen Termini nivelliert. • Enkulturation ist die kulturanthropologische Variante des geläufigeren Begriffs Sozialisation. Gemeint ist das Hineinwachsen des Menschen in seine eigene Kultur, im Kindesalter als Konditionierung, später dann durchaus auch in kritischer Auseinandersetzung mit der Tradition. • Akkulturation bezeichnet demgegenüber den Kontakt zwischen zwei Kulturen und die dabei auftretenden Wechselwirkungen. • Der synonyme Gebrauch von Inkulturation und Inkarnation ist wegen der unterschiedlichen Sachverhalte, um die es dabei jeweils geht, von vornherein als nicht adäquat auszuschließen. Aber auch die analogisierende Sprechweise im Sinne einer theologischen Begründungsstruktur ist zumindest problematisch. Sie suggeriert, dass das Evangelium ohne kulturelle Schale verfügbar ist und immer wieder neu inkarniert bzw. inkulturiert werden kann (Kern-Schale Modell).35 Hilfreich ist hier zunächst der Hinweis auf ein kenotisches Inkarnationsverständnis.36 Wenn das Evangelium uns jedoch nur in kulturell vermittelter Form zugänglich ist, ist Mission immer auch Akkulturation. Wird die Ortskirche als Subjekt der Mission gesehen, ist Mission zugleich als ein Prozess der Enkulturation in die jeweils eigene Kultur beschreibbar. Inkulturation oszilliert also zwischen den beiden kulturanthropologischen Konzepten. Im Gegenüber zu Akkommodation bezeichnet Inkulturation einen dynami-
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schen, reziproken Prozess. Er bleibt allerdings weiterhin ekklesiozentrisch. In neueren offiziellen Dokumenten wird der Begriff Inkulturation seiner Bedeutung nach zudem wieder auf das Akkommodationskonzept reduziert.37 Kontextuelle Theologie Inwieweit sich die katholischerseits im Gefolge des Vaticanum II überall in den Ländern der Dritten Welt formulierten Inkulturations-, Dialogund Befreiungstheologien im Rahmen eines erweiterten Kulturbegriffs, wie ihn die Pastoralkonstitution des Konzils Gaudium et Spes (Art. 53) vertritt, unter den Terminus Inkulturation zusammenfassen lassen, ist durchaus strittig.38 Ich halte jedoch Kontextuelle Theologie für den Begriff mit der größten Integrationsfähigkeit. Das Kontextualisierungskonzept ist eine Parallelentwicklung zur katholischen Inkulturationsdebatte im Umfeld des ÖRK. Seinen „Sitz im Leben“ hat es in der Reform der theologischen Ausbildung. Der Theologische Ausbildungsfonds (Theological Education Fund – TEF)39 hat die Kontextualisierung in seinem dritten Mandat zum theologischen Programm erhoben. Auf dieser Grundlage habe ich eine Theorie kontextueller Theologie entwickelt.40 Entsprechend ihrer thematischen Ausrichtung unterscheide ich einen kulturell-religiösen und einen sozio-ökonomisch und politischen Typus kontextueller Theologie. Das Inkulturationsmodell und seine Vorformen Akkommodation, Indigenisierung und Übersetzungsmodelle lassen sich unter dem kulturell-religiösen Typus subsumieren. Den zweiten sozio-ökonomisch und politischen Traditionsstrang bilden die Befreiungstheologien mit ihren Vorläufern Entwicklungstheologie und neue politische Theologie. Später hinzugekommen sind Fragen von Ökologie, Ethnizität und Geschlecht. Der Konsultationsprozess von EATWOT ist eine Erfolgsgeschichte interkultureller Theologie, weil hier die beiden großen Traditionsströme miteinander verflochten wurden und es zu einem fruchtbaren Austausch gekommen ist. Die Zukunftsfähigkeit der kontextuellen Theologien wird stark davon abhängen, ob es ihren Vertreterinnen und Vertretern gelingt, sich immer wieder neu auf die Mehrdimensionalität ihres jeweiligen Kontextes einzulassen.
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48 I. Kontextuelle Christologie in interkultureller Perspektive
Übers. 2: Typologie kontextueller Theologie kulturell-religiöser Typus
sozio-ökonomisch & politischer Typus
Akkommodation/Indigenisierung/ Übersetzungsmodelle
Entwicklungstheologie/ neue politische Theologie
Inkulturationstheologien
Befreiungstheologien
kulturell-religiöse, sozio-ökonomisch & politische, ökologische, ethnische und Gender-Dimension
Neben der hier nur noch einmal kurz angerissenen Typologisierung nach thematischen Gesichtspunkten (Übers. 2), habe ich zum Verständnis der Tiefenstrukturen der kontextuellen Theologien ein modifiziertes Modell des hermeneutischen Zirkels entwickelt. Schon bei Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer wird der hermeneutische Zirkel nicht als Zirkelschluss verstanden, sondern als Schema, wie der Verstehensprozess vonstattengeht.41 Während bei Heidegger und Gadamer jedoch die Kunst des Verstehens im Zentrum steht, ist für mich Hermeneutik zugleich Sinnproduktion, die einen Sinnzuwachs des Textes erzeugt. Unter Theologie verstehe ich dabei nicht nur die akademische oder gar systematische Theologie im engeren Sinne, sondern jegliche Form kritischer Reflexion auf den Glauben. Kontextuelle Theologien am Maßstab westlicher akademischer Theologie messen zu wollen, wird ihnen nicht gerecht, denn von dieser wollen sie sich ja gerade emanzipieren.42 Das hat zu einem epistemologischen Bruch geführt. Im EATWOT-Gründungsmanifest heißt es dazu: Wir müssen nämlich, um dem Evangelium und unseren Völkern treu zu sein, uns über die Wirklichkeiten unserer eigenen Situation Gedanken machen und das Wort Gottes im Verhältnis zu diesen Wirklichkeiten interpretieren. Eine bloß akademische Theologie, die vom Handeln getrennt ist, weisen wir als belanglos zurück. Wir sind bereit, in der Epistemologie einen radikalen Bruch zu vollziehen, der das Engagement zum ersten Akt der Theologie macht und sich auf eine kritische Reflexion oder die Realitätspraxis der Dritten Welt einlässt.43
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Kontextuelle Theologien entstehen im hermeneutischen Zirkel (Abb. 1) zwischen Text und Kontext immer wieder neu. Es sind offene Systeme ohne Anspruch auf Dauer und universale Gültigkeit. Sie reagieren ständig auf die Gegebenheiten des Augenblicks und bleiben darin notwendig fragmentarisch. Jede dieser Interpretationen des Textes ist nur eine punktuelle Sinnfestschreibung, die das Sinnreservoir des Textes nicht ausschöpft. Zugleich stellt jede Interpretation einen Sinnzuwachs des Textes dar, der in der Tradition bewahrt wird. Relationale Konstante
Text
Zugangspunkt
Kontext (Autor*in) Relevanzkriterium
Zugangspunkt
Kontexttuelle Theologie
Kontext (Leser*in)
Indentitätskriterium
Variable
Dialogkriterium Abb. 1: Der hermeneutische Zirkel
Die Kriterien müssen im hermeneutischen Prozess selbst gewonnen werden. Aus der Kontext-Perspektive ist die Relevanzfrage an die kontextuelle Theologie gestellt, inwiefern es ihr gelingt, die Relevanz des Evangeliums in der jeweiligen Situation anzusagen (Relevanzkriterium). Die Hinwendung zu den Armen und Unterdrückten in den Befreiungstheologien und das Eintreten für eine Annahme der Menschen in ihrer jeweiligen kulturellen Identität seitens der Inkulturationstheologien sind zwei solcher intersubjektiv zugänglicher Relevanzkriterien. Diese für die betreffenden Kontexte relevanten generativen Themen44 sind zugleich anknüpfungsfähig für zwei
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generative Themen des Textes: Jesu Hinwendung zu den Armen und Unterdrückten seiner Zeit und die Lehre des Paulus von der Rechtfertigung allein aus Glauben im Kontext der Differenzen zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Im hermeneutischen Prozess stellt sich dementsprechend eine zweifache Frage nach dem Kontext. Neben dem Interpretationskontext wird auch der Entstehungszusammenhang des Textes relevant. Gleichzeitig muss die kontextuelle Theologie aus der Text-Perspektive auf ihre Evangeliumsgemäßheit überprüft werden (Identitätskriterium). Dieser hermeneutische Zirkel zwischen Text und Kontext wird fortwährend abgeschritten. Auch Relevanz- und Identitätskriterium sind dabei, wie wir gesehen haben, dialektisch aufeinander bezogen. Aufgrund der zirkulären Struktur kann der Einstieg sowohl über den Text als auch über den Kontext vonstattengehen. Oberflächlich betrachtet könnte hier leicht der Verdacht eines Zirkelschlusses (circulus vitiosus) aufkommen. Doch verläuft die beschriebene Kreisbewegung nicht zwischen zwei statischen Größen. Der Kontext ändert sich gerade in den Ländern der Dritten Welt aufgrund des kulturellen Wandels und der sozialen Umbrüche ständig. Dabei sind die Kon-Texte selbst auch Texte, Konstruktionen von Wirklichkeit, die von einzelnen Theologinnen und Theologen oder ganzen Interpretationsgemeinschaften geschaffen werden. Kulturelle Renaissancen und mythologische bzw. theologische Rekonstruktionen der Geschichte sind die Folge. Daran entspinnen sich oft hermeneutische Streitigkeiten um die Interpretation der eigenen Kultur und Geschichte zwischen den verschiedenen Interessengruppen innerhalb eines Kontextes. Die Theologie muss sich auf diese Varianten immer wieder neu einstellen. Gleichzeitig erscheint der Text in der veränderten Situation in einem neuen Licht und setzt neue Bedeutungen aus sich heraus. Ich spreche daher im Hinblick auf den Text von einer relationalen Konstante. Wenn der hermeneutische Zirkel aber zwischen einer Variablen (Kontext) und einer relationalen Konstante (Text) ständig fortschreitet, dann ist er kein circulus vitiosus, sondern ein circulus progrediens. Die aus den drei vermittelnden Antworten Niebuhrs abgeleiteten Prämissen45 gelten auch für das Kontextualisierungsmodell. Allerdings ist die polare bzw. lineare Vorstellung, die Christus auf eine bestimmte Weise zur
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Kultur ins Verhältnis setzt, durch ein dialektisches bzw. zirkulares Denken abgelöst worden. Im Gegensatz zu Niebuhrs Optimismus, dass durch die Christusbotschaft die Kultur in ihrer Gesamtheit verwandelt werden kann, geht das Kontextualisierungsmodell davon aus, dass im hermeneutischen Prozess zwischen Evangelium und Kultur zwar durchaus etwas Neues entsteht, aber eben innerhalb des Referenzrahmens der jeweiligen Kultur. Aus unserer ersten Prämisse, der doppelten Loyalität bzw. christlich-kontextuellen Bi-Identität, folgt, dass die beiden anderen Prämissen für den hermeneutischen Prozess notwendig auch in ihrer Umkehrung gelten: • Die Kultur geht nie völlig auf in der kontextuellen Interpretation des Evangeliums. Beim immer wieder erneuten Abschreiten des hermeneutischen Zirkels ergibt sich schon allein aufgrund des kulturellen Wandels ständig eine neue Konstellation. • Die Kultur ist eine kritische Instanz im Streit der Interpretationen des Evangeliums. Sie eröffnet neue Perspektiven auf den Text und bricht eingefahrene Lesarten auf. Text und Kontext sind dabei gleichermaßen kritisch immer aus der Perspektive einer Hermeneutik des Verdachts zu betrachten. Juan Luis Segundo hat diesen Begriff in seinen Havard lectures früh auf die Interpretation des Textes angewandt, die feministische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza hat dies auf den Text selbst ausgeweitet, die postkoloniale Kritik ist ihr später darin gefolgt. Musimbi Kanyoro schließlich hat diese kritische hermeneutische Perspektive dann auch für die Kultur bzw. den Kontext eingefordert.46 Ich verstehe den hermeneutischen Diskurs als ein Spiel mit vier Aktanten, von denen jeder einmal die Leitung übernommen hat. Die Autororientierte Hermeneutik will diesen besser verstehen als er oder sie sich selbst (F. D. E. Schleiermacher). Eine Text-orientierte Hermeneutik spricht demgegenüber vom „Tod des Autors“ und der „Autonomie des Textes“ (Umberto Eco). In der Leserin-orientierten Hermeneutik wird dieser eine sinnkonstituierende Rolle zugeschrieben (Wolfgang Iser). Die Kontextorientierte Hermeneutik schließlich ist gewissermaßen exzentrisch auf die drei anderen bezogen, Autor und Leserin haben jeweils ihren eigenen Kontext, und der Text hat über die Jahrhunderte einen Sinnzuwachs in den unterschiedlichsten Interpretationskontexten erfahren. Mit Kwok Pui-Lan
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votiere ich für eine multi-axiale Herangehensweise, der diese unterschiedlichen Perspektiven, wie ein Prisma gebraucht.47 Die Christenheit ist heute eine globale Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft.48 Daraus ergibt sich unser drittes Kriterium: Jede kontextuelle Theologie muss sich der Diskussion auf dem ökumenischen Forum stellen (Dialogkriterium).49 Die Christologie soll mir im Folgenden gewissermaßen als Sonde dienen, die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und ökumenische Lernchancen in den Themenverknüpfungen50 der kontextuellen Theologien aufspürt. Liefert die thematische Typologie dabei das äußere Raster der Gliederung, wird sich im Laufe der Darstellung ein inneres Raster herauskristallisieren, das stärker aus der Text-Perspektive konturiert wird. Bevor wir uns auf den Weg machen, gilt es allerdings, zunächst noch meine systematisch-theologischen Prämissen offenzulegen.
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§ 2 Christologie im Kontext 53
§ 2 Christologie im Kontext – Christologie interkulturell Als christlicher Theologe schreibe ich über eine religiöse Tradition, in der ich selbst stehe und der ich mich verbunden fühle. Ich nehme eine „religiöse Perspektive“ ein, habe ich eingangs gesagt. Daraus leitet sich allerdings kein hermeneutisches Privileg ab. Im Gegenteil, die akademische Redlichkeit erfordert es, dass ich meine kritische Reflexion auf den Glauben intersubjektiv zugänglich mache. Nachdem ich im ersten Paragraphen das Themenfeld, in dem ich mich bewege, abgesteckt, und über die zugrunde liegende Methode reflektiert habe, soll es jetzt um die theologischen Rahmenbedingungen gehen. Ich will das anhand von drei Thesen zum Gegenstandsfeld der Christologie, zur Struktur christologischer Rede und zum interkulturellen Diskurs über die verschiedenen christologischen Entwürfe tun. (1.) Christologie ist das Reden von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi. Die biblischen Geschichten des Alten und Neuen Testaments wollen wie alle Geschichten weitererzählt werden. Sie drängen über sich hinaus. Um bei ihren jeweiligen Hörerinnen und Hörern jedoch auf Interesse zu stoßen, müssen sie ihre Relevanz für deren Situation entfalten. Erzählen ist ein reziproker Prozess zwischen dem Erzähler, der in unserem Fall allerdings hinter die biblischen Geschichten (Text) zurücktritt, seiner Geschichte und seinen Zuhörerinnen und Zuhörern, die in hohem Maße durch ihren je spezifischen Kontext charakterisiert sind. In dieser Konstellation bildet sich bereits die Grundstruktur des hermeneutischen Zirkels zwischen Text und Kontext ab. Christologisches Reden ist ein hermeneutisches Geschehen. Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sind gewissermaßen die ikonographischen Eckdaten, von denen aus sich die Christologie immer wieder neu erzählen lässt. Der Spannungsbogen der Jesusgeschichte verläuft von der Schilderung seines Lebens – Verkündigung an Maria, Geburt im Stall, Flucht nach Ägypten, Darstellung im Tempel, Jesu öffentliches Wirken in Galiläa, Reise hinauf nach Jerusalem und Einzug in die Stadt – über den Kreuzestod auf Golgatha bis zur Auferstehung. Je nachdem, von welchem der drei
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Eckpunkte die Geschichte entwickelt wird, eröffnet sich jeweils eine unterschiedliche Zentralperspektive auf Jesus Christus. Idealtypisch werden diese Optionen durch die drei großen Konfessionen vertreten: in der katholischen Inkarnationstheologie, der protestantischen Kreuzestheologie und der orthodoxen Auferstehungstheologie. • Im Katholizismus hat sich der Tradition folgend lange die Inkarnationschristologie der Alten Kirche gehalten. Der Glaube an die Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus hat Maria, die Gottesmutter, mit dem Jesuskind zum Symbol katholischer Frömmigkeit werden lassen. Aus der Zentralperspektive der Inkarnation erscheint der Kreuzestod Jesu als Konsequenz seines Lebensweges. Die Auferstehung ergibt sich dann ebenfalls mit einer gewissen Notwendigkeit aus der Inkarnationsvorstellung, wie diese vor die Geburt zurück in die Präexistenz erweitert wurde. In der modernen Diskussion um eine Christologie „von unten“ wird katholischerseits denn auch immer wieder die Kontinuität zur chalkedonensischen Christologie „von oben“ betont. Es geht um ihre Neuinterpretation „unter den Voraussetzungen des neuzeitlichen Denkens“.1 • In der Reformation wurde die Inkarnation keinesfalls negiert. Luther konnte in seinen Predigten recht drastisch von der Menschlichkeit Jesu sprechen.2 Doch kam es zu einem deutlichen Perspektivenwechsel. In seiner Heidelberger Disputation von 15183 wendet sich Luther polemisch gegen Gesetzesfrömmigkeit und Werkgerechtigkeit. Gerechtfertigt wird der Sünder allein aus Gnade. Das heißt nun allerdings weder, dass das Ende des Gesetzes gekommen ist, noch dass der Gläubige nicht zum rechten Handeln verpflichtet sei, sondern wendet sich radikal gegen eine Verknüpfung von menschlichem Handeln und göttlichem Heil. Mit seiner Feststellung, „dass Gott nur in Leiden und Kreuz zu finden ist“ (Beweisführung zu These XXI), macht Luther das Kreuz Jesu Christi zum hermeneutischen Schlüssel der Gotteserkenntnis. Nur „der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge beim rechten Namen“ (These XXI). Diese theologia crucis porträtiert Jesus als den Christus patiens. Eine kongeniale bildnerische Entsprechung zu Luthers Kreuzestheologie stellt die auf 1515 datierte Kreuzestafel des Isenheimer Altars von Mathias Grünewald dar.4 Das Programm läuft hier von der Verkündigung an Maria über die Geburt zur Auferstehung, wobei die Pedrella
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mit der Beweinung stets sichtbar bleibt. Die Kreuzigung justiert gewissermaßen die theologische Zentralperspektive, die in der Predella memoriert wird. Wie der Schwären bedeckte Leib sein Gegenbild jedoch in der Darstellung des Auferstandenen auf dem rechten Seitenflügel der zweiten Schauseite gefunden hat, hält auch Luther Kreuz und Auferstehung zusammen. „So genügt oder nützt es keinem schon, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes erkennt“ (Beweisführung zu These XX). • Der Zugang zur orthodoxen Christologie führt über die Liturgie und die Ikonen. Die Feier der Osternacht übt ein in die Sicht aus der Zentralperspektive der Auferstehung. Der Auferstandene wird porträtiert als der Pantokrator, der Weltenherrscher. Die orthodoxe Theologie ist eine theologia gloriae,5 die den Auferstandenen als den Christus victor verehrt. In den Ikonendarstellungen ist Christus der Sieger auch am Kreuz. Die hohe Wertschätzung der Panhagia6 schließlich lässt auch die Inkarnation mitklingen. Allein dieser holzschnitthafte Vergleich der drei großen Traditionsstränge des christlichen Glaubens am Beispiel der Christologie zeigt ihn als ein in sich plurales, offenes System. Dieser Pluralismus ist in dem Sachverhalt begründet, dass hier konkrete Menschen immer wieder neu Zeugnis von ihrem Glauben an Gott den Dreieinigen ablegen müssen. Bereits die biblischen Schriften sind der Niederschlag von Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben. Über einen längeren Zeitraum in unterschiedlichen Kontexten entstanden, gesammelt und immer wieder auch redaktionell überarbeitet, hat die ursprünglich zumeist orale Tradition schließlich literarische Form angenommen. Im Hinblick auf die Christologie heißt das, dass wir in den Paulusbriefen, den synoptischen Evangelien und dem Evangelium des Johannes bereits mindestens fünf distinkte Christologien vorliegen haben. Ich sehe den christlichen Glauben als breiten Strom der Tradition, die ihren Ausgang bei der Geschichte Gottes mit Israel und der Erneuerung und gleichzeitig Universalisierung des alten Bundes in der Person Jesu Christi nimmt. Dieses Bild ist durchaus raumzeitlich und damit geschichtlich zu verstehen. Die Tradition ist auf das Eschaton gerichtet und fließt letztendlich gewissermaßen Gott entgegen und in Gott hinein. Zuweilen
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zweigen Nebenarme davon ab, die in einen Synkretismus münden oder in einer Häresie versickern können, oft aber auch nach einer gewissen Zeit in den Hauptstrom zurückfließen und sein Bett verbreitern. Die drei Hauptströmungen Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus lassen in ihrer Komplexität und Differenz zueinander schon deutlich werden, dass es eine Einheit nur noch in der Vielheit geben kann. Dieser Pluralismus sollte jedoch als Reichtum erfahren werden und nicht als Bedrohung der jeweiligen konfessionellen Binnenidentität. Es besteht naturgemäß die Gefahr, dass, um im Bild zu bleiben, der breite Strom in einen Ozean der Beliebigkeit mündet. Hier ist die Integrationsfähigkeit der Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft gefordert, die die Christenheit von Anfang an war. (2.) Die biblischen Geschichten über Jesus Christus, die Erzählungen der Gläubigen, Männer und Frauen, einerseits, und die sie bestimmenden Themen andererseits sind die beiden komplementären Gestaltungsformen des Textes. Sie treten in Wechselwirkung mit den Geschichten der Menschen und den sie bestimmenden generativen Themen des Kon-Textes. In der Folge bildet sich ein dichtes Gewebe von Geschichten und Themen. Die biblischen Geschichten, in einem bestimmten Kontext erzählt, verlangen nach Deutung. Um ihre Relevanz für die jeweilige Situation entfalten zu können, bedarf es einer Vermittlung der in ihnen zum Ausdruck kommenden Identität des christlichen Glaubens. Die Geschichten evozieren die Themen, die in diesem Zusammenhang neu verhandelt werden müssen. Die dogmatischen Klärungen der Alten Kirche können dabei durchaus als idealtypisch gelten. Im Vordergrund stand hier die Frage nach dem ‚vere homo, vere deus‘. Im trinitarischen Streit wurde zunächst von der Gottheit, im christologischen dann von der Menschheit her argumentiert. Bestimmt wurde die Diskussion von der soteriologischen Frage. Diese Sinnfestschreibungen im Kontext der hellenistischen und römischen Kultur sind längst Bestandteil der Tradition geworden. Ihre Normativität muss jedoch im interkulturellen Gespräch immer wieder neu ausgehandelt werden. Der Versuch, einen Keil zwischen die Geschichten und die sie bestimmenden Themen zu treiben, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wer etwa nur die Themen tradieren und die Geschichten der Vergessen-
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heit anheimfallen lassen wollte, würde den Gläubigen ihre Heimat nehmen. Die Themen hätten zudem binnen Kurzem ihre Aussagekraft verloren, denn es sind die Geschichten, die sie tragen.7 Wilhelm Schapp hat in seiner „Philosophie der Geschichten“8 diese als paradoxerweise einen Anfang habend und zugleich ohne Anfang seiend charakterisiert (88) und ihnen damit (ungewollt) immer schon eine Offenheit auf Transzendenz hin attestiert. Menschsein definiert sich für ihn als in Geschichten verstrickt sein (123). Obwohl Schapp wiederholt auf Beispiele aus dem theologischen Bereich rekurriert, fehlt bei ihm das dialektische Moment der wechselseitigen Beziehung zwischen den biblischen Geschichten (Text) und den Alltagsgeschichten (Kontext). Während Menschen immer schon in Geschichten verstrickt sind und sich weiterhin in Geschichten verstricken, interpretieren sie zugleich diese Geschichten, indem sie sie miteinander „versprechen“ (Ernst Lange). Sie deuten ihre eigenen Geschichten durch die biblischen und vice versa. Dabei evozieren die Geschichten die Themen, von denen sie bestimmt werden. Ich gehe also nicht von einem Kanon im Kanon aus, auf den sich alles zurückführen lässt, sondern nehme analog zu dem Netz von Geschichten, in das wir verstrickt sind, ein ganzes Geflecht von generativen Themen an, die immer wieder neu miteinander verwoben werden. Den Begriff „generative Themen“ übernehme ich aus Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“.9 Freire hat sein pädagogisches Konzept auf der Grundlage seiner Erfahrungen bei der Alphabetisierung und Erwachsenenbildung in Brasilien entwickelt. Dabei betrachteten er und seine Mitarbeiter*innen „das Problem der Erwachsenenbildung als Frage, wie man lesen lernt und zugleich das Bewusstsein entwickelt“.10 Sie wollten weg von dem von Freire so genannten „‚Bankierskonzept‘ der Erziehung, in dem der den Schülern zugestandene Aktionsradius nur so weit geht, die Einlagen entgegenzunehmen, zu ordnen und aufzustapeln“,11 hin zu einer „problemformulierenden“, „dialogischen“ Bildung, einer Pädagogik, „die mit den Unterdrückten und nicht für sie (Individuen oder ganze Völker) im unablässigen Kampf um die Wiedergewinnung ihrer Menschlichkeit gestaltet werden muss“.12 Es gibt nicht mehr Lehrende und Lernende wie in einer traditionellen Schule, sondern nur noch Lehrer-Schüler und SchülerLehrer, die in Kulturzirkeln zusammenarbeiten.
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Um für diese Methode den Boden zu bereiten, praktizieren Freires Teams zunächst teilnehmende Beobachtung in ihren jeweiligen Einzugsgebieten. Zusammen mit Vertretern aus der Bevölkerung suchen sie nach den generativen Wörtern und Themen der Gemeinschaft vor Ort. Generativ deshalb, weil die betreffenden Wörter bzw. Themen es ermöglichen, durch ihre Verknüpfung das ganze sprachliche bzw. thematische Universum einer Gemeinschaft zu erschließen.13 Kriterien für die Auswahl der generativen Wörter sind für Freire (1.) ihr Reichtum an Phonemen, (2.) ihre phonemische Schwierigkeit und (3.) ihre Pragmatik, „das heißt eine größtmögliche Einbettung des Wortes in eine gegebene soziale, kulturelle und politische Wirklichkeit“.14 Als Beispiele führt er unter anderen „Slum“, „Regen“, „Pflug“, „Land“ und „Nahrung“ auf.15 Dienen die generativen Wörter in erster Linie dem Erlernen der Wortbildung und der Verknüpfung von Wort und Schrift, so erschließen die generativen Themen den Gesamtzusammenhang einer Kultur. Im Kontext Brasiliens waren solche generativen Themen etwa „Armut“, „Unterdrückung“ und „Freiheit“. Indem die Menschen durch ihre Sprachfähigkeit ihre eigene Identität entdecken, lernen sie zugleich, zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden. Im Hinblick auf dieses „anthropologische Konzept der Kultur“ spricht Freire von einem Scharnierthema,16 das es ermöglicht, die generativen Themen zu bündeln. Obwohl seine Sprache hochgradig theologisch gesättigt ist, lässt Freire die Religion als potenzielles Scharnierthema außen vor. Zwar fordert er eine prophetische Kirche und sympathisiert mit der Theologie der Befreiung, die ihrerseits durch ihn wesentliche Impulse empfing, aber dabei lässt er es bewenden. Freires Konzept bleibt defizitär, weil er die religiöse Dimension suspendiert.17 Die Menschen, die Freire alphabetisieren will, sind gleichzeitig gläubige Christen. Die Basisgemeinden sind ein Ort der Bewusstseinsbildung (Konzientalisierung). Ihr thematisches Universum ist verwoben mit dem christlichen Themenuniversum. Evangelium und Kultur sind dialektisch aufeinander bezogen. Die generativen Themen des christlichen Glaubens und der brasilianischen Kultur, die biblischen Geschichten und die Geschichten des Volkes durchdringen sich, legen einander aus und werden ineinander wiedererkennbar.
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Die Geschichten evozieren die generativen Themen, die die Identität des christlichen Glaubens konstituieren, habe ich gesagt. Wir werden das im Folgenden am Beispiel des generativen Themas „Christologie“ durchspielen. Die Christologie bündelt ihrerseits eine ganze Reihe generativer Themen. Drei habe ich eingangs mit Leben, Tod und Auferstehung bereits benannt. Seine Relevanz kann der Text jedoch nur entfalten, wenn diese Themen mit den generativen Themen des jeweiligen Kontextes versprochen werden. Ähnlich wie die Geschichten einander auslegen, sind auch die generativen Themen miteinander zu verschränken. Ich spreche in diesem Zusammenhang von Themenverknüpfungen. Bei diesen Themenverknüpfungen lassen sich unterschiedliche Typen unterscheiden, also etwa unser sozio-ökonomisch und politischer oder der kulturell-religiöse Typus kontextueller Theologien, die wir thematisch bisher lediglich von der Kontext-Seite her bestimmt haben. Sie müssen im Laufe unserer Untersuchung auch von der Textseite her konturiert werden. Die konkreten Ausformungen dieser Typen schließlich nenne ich Modelle. (3.) Der Pluralismus kontextueller Christologien bedarf einer interkulturellen Theologie, die die Dialogregeln festlegt und die unterschiedlichen Diskurse miteinander vernetzt. Immer da, wo ein Traditionsstrang Absolutheit für sich reklamiert, kommt es zu Interessenkollisionen. In früheren Jahrhunderten wurden innerchristliche Konflikte oft mit Gewalt ausgetragen. Der religiös verbrämte Bürgerkrieg in Nordirland ist ein Ausläufer dieser unseligen Tradition. Aber auch, dass Christen sich heute immer noch gegenseitig den Glauben absprechen oder die Teilnahme am Abendmahl verweigern, statt sich in ihrer Differenz anzunehmen, sich darin bereichern zu lassen und gemeinsam ihren Glauben zu feiern, muss ein ständiger Stachel in unserem Fleisch bleiben. Der christliche Glaube lebt gerade aus der Vielfalt der Traditionsstränge, die seinen Reichtum bewahren, unterschiedliche Wahrheitsperspektiven eröffnen und sich im Idealfall gegenseitig korrigieren. Im Gegensatz zur finsteren Zeit der Glaubenskriege gibt es heute durchaus so etwas wie eine ökumenische Gesprächskultur. Es redet nicht jeder mit jedem, und der institutionelle Widerstand ist sicherlich noch immer erheblich, doch
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die Diskurse sind bisher auch in ökumenisch dürftiger Zeit nicht abgerissen. Ähnliches lässt sich für die Rezeption der kontextuellen Theologien sagen. Zwar sind sie die Schmuddelkinder der westlich-akademischen Theologien, aber die Option für die Armen18 und die Frage pluriformer kulturell-christlicher Identitäten bleiben in unseren Diskursen virulent, und sei es nur als Steine des Anstoßes. Verdrängen lassen sie sich jedenfalls nicht mehr ohne Weiteres. Die Realität ist hier der theoretischen Bewusstseinslage und Reflexion weit voraus. Die Christenheit bedarf als globale Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft einer interkulturellen Theologie, die zwischen den verschiedenen kontextuellen Gestalten des christlichen Glaubens operiert. Sie reflektiert über die im Kulturkontakt ablaufenden theologischen Prozesse, legt theologische Begründungszusammenhänge frei und formuliert Dialogregeln.19 Interkulturelle Theologie ist ein pluralistisches Konzept. Neben dieser fundamentaltheologischen Komponente wirkt die interkulturelle Theologie aber auch traditionsbildend, indem sie die verschiedenen kontextuellen Entwürfe bewahrt und miteinander ins Gespräch bringt. Meine Theorie kontextueller Theologie und die christologischen Reflexionen in diesem Band verstehen sich als Bausteine zu solch einer interkulturellen Theologie. EATWOT war hier mit der Frage nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und wechselseitiger Befruchtung – wobei ich es vorziehe in Bezug auf Letztere, von ökumenischen Lernchancen zu sprechen – durchaus wegweisend. Diese Frage wird uns leitmotivisch auf unserem Gang durch die verschiedenen kontextuellen Christologien begleiten und am Schluss den heuristischen Rahmen für die Zusammenfassung bieten.
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II. Christologie in der Vielfalt der Kontexte
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A. „… zu verkündigen das Evangelium den Armen“ – Christologie im Kontext von Armut und Unterdrückung in Lateinamerika
Kreuzigung, Plastik aus Ton und Holz, ca. 1970 (Edilberto Merida/Peru) Christus hängt an einem grob gezimmerten Holzkreuz. Er hat die Physiognomie eines Indios. Bart und Haarpracht sind allerdings noch eine Reminiszenz an traditionelle Ikonographie. Die überdimensionierten groben Hände und Füße gehören einem barfußlaufenden, von harter Feldarbeit verhärmten Campesino. Die Skulptur ist aus Ton geformt, aus der Erde, die er im Schweiße seines Angesichts bearbeitet hat. Auf seinem Haupt sitzt wuchtig die Dornenkrone, um die Hüften ist ein Tuch geschlungen. Aus der Seitenwunde fließt sein Blut. Die Augen sind in Agonie geschlossen. Dem weitgeöffneten Mund mit den wulstigen Lippen scheint ein erstickter Schrei zu entweichen. Mitten im Leiden ist Gott gegenwärtig.
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§ 3 Historische Rekonstruktion: Der christologische Diskurs zu Zeiten der Conquista Auch wenn Gott früher kam als der Missionar,1 erreichten die ersten Christusbilder doch erst von 1492 an mit den Konquistadoren und den sie begleitenden Priestern das heutige Lateinamerika. Neben Abbildungen des Christuskindes mit Maria sind es vor allem zwei Darstellungsweisen, die wirkmächtig geworden sind: der gemarterte Leib Christi, Christus sterbend oder als Toter, und Christus als Herrscher, der Auferstandene in seiner Herrlichkeit.
1. Der spanische Christus2 Jahrhunderte hindurch hatten die spanischen Christen den maurischen Eroberern der iberischen Halbinsel zähen Widerstand geleistet. Ihre Agonie spiegelt sich in eindrücklichen Bildnissen des leidenden und sterbenden Christus. Dieser wie der Tod unsterbliche Christus ersteht nicht auf. Wozu auch? Er wartet auf nichts anderes als auf den Tod. Aus seinem halb geöffneten Mund, der schwarz wie das unentzifferbare Mysterium ist, fließt er dem Nichts entgegen, zu dem er niemals gelangt … Dieser Leichnam Christi, der als solcher nicht denkt, der vom Schmerz des Denkens und von Beklemmung frei ist, die Seele überlastet mit Trauer, bat den Vater, ihm den Leidenskelch zu ersparen … Und wieso soll ihn der Gedanke schmerzen, wenn er bloß von Blut, von geronnenem schwarzen Blut verkrustetes feuchtes, totes Fleisch ist? … Dieser spanische Christus, der nie gelebt hat, schwarz wie der Mantel der Erde, liegt flach da, hingestreckt, entseelt und hoffnungslos, mit geschlossenen Augen, das Antlitz zum Himmel gerichtet, der mit Regen geizt und das Brot versengt.3
Der ersten Atlantiküberquerung des Kolumbus im Jahr 1492 unmittelbar vorausgegangen war die Rückeroberung Granadas. Die katholischen Könige Ferdinand II. von Aragon und Isabella von Kastilien gewährten ihm die Ausrüstung für seine Reise in der Euphorie dieses Sieges. Der Recon-
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quista sollte die Conquista folgen. Kolumbus selbst war beseelt von religiösem Mystizismus. Stolz führte er seinen Namen, in dem in seltsamer Koinzidenz die Ambivalenz des Projektes deutlich wird: Christophorus, der „Christusträger“, Kolumbus (span. Colón), der „Neubesiedler“.4 Der spanische Messianismus drang auf Eroberung und Bekehrung, in dieser Reihenfolge. Christus wird entsprechend als himmlischer Monarch dargestellt. Die beiden Bilder sind gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille der kolonialistischen Propaganda. Der sterbende bzw. tote Christus ist ein Identifikationsangebot im Leiden, ohne Hoffnung zu wecken – die Auferstehung ist fern. Noch heute ist im Volkskatholizismus Lateinamerikas der Karfreitag der höchste Feiertag.5 Die Kehrseite, Christus der Herrscher, ist verkörpert im spanischen König und den Kolonialherren, denen die Indios kniefällige Verehrung schulden. Die Christologie verkommt in beiden Fällen zum Werkzeug der Unterdrückung. Dagegen regte sich früh Widerspruch.
2. Die Indios als die Armen Jesu Christi Bartolomé de Las Casas (1484–1566)6 ist heute zur Symbolfigur für den Widerstand gegen den Genozid der Conquista geworden. Die Befreiungstheologen, allen voran Gustavo Gutiérrez aus Peru (geb. 1928), haben ihn in einem groß angelegten hermeneutischen Konstrukt der Geschichte längst zu ihrem Ahnherren erklärt.7 Der kleine Bartolomé sah die ersten Indianer bereits 1493 in seiner Geburtsstadt Sevilla. Der von seiner ersten „Entdeckungsreise“ zurückgekehrte Christoph Kolumbus führte sie bei seinem feierlichen Einzug in die Stadt im Gefolge. Onkel und Vater Bartolomés schlossen sich Kolumbus auf seiner zweiten Reise an (1493). Der Vater brachte seinem Sohn bei seiner Rückkehr einen Indio-Knaben als Pagen mit (1499). Auf Geheiß Isabellas sollte dieses eigenmächtige Geschenk des Kolumbus an seine verdienten Männer jedoch zurückgegeben und alle Indiosklaven wieder in ihre Heimat überführt werden. Doch vergingen fast anderthalb Jahre bis zur Rückkehr des Indiojungen (1501). 1502 reiste Las Casas dann selbst in die Neue Welt. Er betätigte sich als Goldsucher und Gutsbesitzer (Enco-
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mendero). 1506 kehrte er nach Spanien zurück, empfing 1507 in Rom die Priesterweihe und schiffte sich noch im selben Jahr wieder nach Espanõla ein. Las Casas war zunächst Teil des kolonialen Systems, auch wenn ihm dessen Praktiken im Umgang mit den Indios bereits früh zuwider waren. Durch ihn ist der Inhalt der berühmt gewordenen Adventspredigt des Dominikaners Antonio de Montesino von 1511 überliefert. Die Dominikaner hatten diese Predigt gemeinsam erarbeitet. Den folgenden Abschnitt hat Las Casas in wörtlicher Rede wiedergegeben: Ihr alle steht in der Todsünde, und in ihr lebt und sterbt Ihr wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die Ihr gegen diese unschuldigen Völker ausübt. Sagt, mit welchem Recht und welcher Gerechtigkeit haltet Ihr diese Indios in solch grausamer und furchtbarer Knechtschaft? Mit welcher Autorität habt Ihr solch abscheuliche Kriege gegen diese Menschen geführt, die sanft und friedlich in ihren Ländern waren und von denen Ihr unzählige mit Tod und unerhörten Verwüstungen vernichtet habt? Warum haltet Ihr sie so unterdrückt und gequält, ohne ihnen Nahrung zu geben und sie zu pflegen, wenn sie krank sind, so dass sie von der übermäßigen Arbeit, die Ihr ihnen zumutet, sterben? Oder um es noch genauer zu sagen: Warum tötet Ihr sie, nur um Tag für Tag Gold zu graben und zu gewinnen? Was tut Ihr, um sie zu lehren, dass sie Gott, ihren Schöpfer, erkennen, getauft werden, zur Messe kommen, die Feiertage und Sonntage halten? Sind diese nicht Menschen? Haben sie keine vernünftige Seele? Seid Ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie Euch selbst? Ihr versteht das nicht? Das fühlt Ihr nicht? Wie könnt Ihr in so tiefen Schlaf der Gefühllosigkeit fallen? Seid sicher, dass Ihr Euch in diesem Zustand, worin Ihr Euch befindet, genauso wenig retten könnt wie die Mauren und Türken, die den Glauben an Jesus Christus nicht haben und ihn auch nicht begehren!8
Es entspinnt sich ein Diskurs über Recht und Sünde, in dem theologische und juristische Argumente eng miteinander verwoben sind. Die Dominikaner bezichtigen die Konquistadoren der Todsünde, weil sie die Indios in ihrer Gier nach Gold ausbeuten und töten. Wer nicht umkehrt und sein Verhalten ändert, dem wird die Absolution verweigert. Gleichzeitig gemahnen sie die Spanier an ihre Pflicht, den Indios das Evangelium zu ver-
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künden. Der spanische König, von den Konquistadoren alarmiert, pocht auf sein Recht, das er aus der päpstlichen Bulle „Inter caetera“ (1493) ableitet. Las Casas wird später argumentieren, dass der König gerade aufgrund dieses Dokuments zur Evangelisierung und Fürsorge für seine Untertanen verpflichtet sei. Der Provinzial des Dominikanerordens wiederum, vom König aufgefordert, seine Frailes zu maßregeln, bezichtigt diese nun seinerseits der Sünde und ermahnt sie, ihrer eigentlichen Pflicht, der Bekehrung der Ungläubigen, nachzukommen und ihre Mission nicht durch ihre Einmischung in die politischen Verhältnisse zu behindern. Die Verknüpfung von theologischer und juristischer Argumentation durchzieht die gesamte Auseinandersetzung um die Praxis der Conquista. Las Casas scheint vom Inhalt der Predigt tief beeindruckt gewesen zu sein. Ob er sie selbst gehört hat, ist allerdings umstritten. Überhaupt war der Einfluss der Dominikaner, denen er 1522 schließlich beitritt, prägend für seinen Bewusstseinswandel. Bereits 1510 ist er Pedro de Córdoba begegnet, seinem späteren „Seelenführer“, der als Oberer mit einer ersten Gruppe von Dominikanern nach Espanõla gekommen war. 1512 verweigert ein ihm unbekannter Dominikanerpater Las Casas die Absolution, weil er seine Indiosklaven noch nicht freigelassen hat. Im selben Jahr nimmt Las Casas als Feldkaplan an der Eroberung Kubas teil und wird in Caonao Zeuge eines Massakers unter den Indios. Er wird von tiefen Zweifeln gepeinigt. Seine Bekehrung zu den Indios, den Armen Jesu Christi, datiert er auf das Jahr 1514. Inzwischen selbst Encomendero auf Kuba, hat er eine Pfingstpredigt für die dort ansässigen Spanier zu halten. Seine Meditation über Jesus Sirach 34 gerät ihm zum klassischen Fall einer kontextuellen Bibelauslegung. Die entscheidende Bibelstelle lautet: Opfer aus unrechtmäßig erworbenem Gut sind Opfergaben, die Gott verhöhnen; und Gaben von Menschen, die die Tora missachten, finden keinen Gefallen bei Gott. Die Höchste hat keine Freude an den Opfergaben derer, die Gottes Willen verachten, noch vergibt sie Schuld, weil Menschen besonders viel opfern. Wie solche, die einen Sohn vor den Augen seines Vaters als Schlachtopfer darbringen, so handeln Menschen, die Opfergaben aus dem Hab und Gut von Armen darbringen. Kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt von Armen, wer ihnen das raubt, ist ein Blutmensch. Wie solche, die ihre Mitmenschen umbringen, so handeln
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Menschen, die ihnen das Lebensnotwendige entreißen, und wie solche, die Blut vergießen, handeln Menschen, die Arbeiterinnen und Arbeitern den Lohn rauben (JesSir 34, 21-27).
Las Casas entdeckt die Armen, von denen die Bibel immer wieder spricht, in den Indios wieder. Seine Erfahrung und der Bibeltext legen sich wechselseitig aus. Diese Erkenntnis radikalisiert ihn. Nach sorgfältiger Güterabwägung entlässt Las Casas seine eigenen Indios in die Freiheit, auch wenn er befürchten muss, dass sie außerhalb des Schutzes, den er ihnen gewährt hat, von anderen versklavt und hingemordet werden. Dieser Schritt erscheint ihm letztendlich jedoch unerlässlich, um selbst mit dem kolonialen System zu brechen. Nur so kann er die Freiheit erlangen, es zu bekämpfen. Theologisch war die Entdeckung, dass die Indios die Armen des Evangeliums sind, nur der erste Schritt. Es ist nun nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis, dass in den Armen der leidende Christus selbst gegenwärtig ist. Die von Las Casas betriebene friedliche Kolonisierung Venezuelas (1520/21), deren Gewinn dem König zufließen sollte, rechtfertigt er theologisch vor einem seiner Parteigänger mit eben diesem Argument: Der Kleriker, der um diese Verwunderung wusste, sagte: Señor, wenn Sie sähen, wie man an unseren Herrn Jesus Christus Hand anlegt, ihn schmäht und kränkt, würden Sie nicht mit großer Beharrlichkeit und mit all ihren Kräften darum bitten, dass man ihn Ihnen gäbe, um ihn zu ehren, ihm zu dienen, ihn zu beschenken und mit ihm all das zu tun, was Sie als wahrer Christ tun müssten? Er antwortete: Ja, gewiss. Und wenn diese ihn nicht großzügig hätten geben wollen, sondern Ihnen verkauften, würden sie ihn nicht kaufen? Zweifellos, sagte er, ich würde ihn kaufen. Dann fügte der Kleriker bei: Auf diese Weise also, Señor, habe ich gehandelt. Denn ich ließ von Jesus Christus, unserem Gott, in West-Indien, den man kränkte, ohrfeigte und kreuzigte, nicht einmal, sondern tausende Male durch die Tatsache, dass die Spanier diese Menschen niedermachen und zerstören, ihnen den Raum ihrer Bekehrung und Buße wegnehmen, indem sie ihnen das Leben vor der Zeit nehmen. Und so sterben sie ohne Glauben und ohne Sakramente. Ich habe den Rat des Königs sehr oft angefleht und gebeten, sie sollen ihnen beistehen und die Hindernisse ihrer Erlösung beseitigen, die da sind, dass die Spanier jene, die
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bereits zugeteilt sind, in Gefangenschaft halten, und auch jene, die noch nicht. Sie möchten nicht beistimmen, dass Spanier an einen bestimmten Ort des Festlandes gehen, wo die Religiosen, Diener Gottes, angefangen haben, das Evangelium zu verkünden, und wo die Spanier auf diesem weiten Land sie mit ihren Gewalttätigkeiten und dem schlechten Beispiel hindern und den Namen Christi lästern. Sie haben mir geantwortet: Das gibt es nicht, denn es würde bedeuten, dass die Frailes das Land besetzt halten, ohne dass der König Nutzen davon hat. Dann sah ich, wie sie mir das Evangelium und in der Folge Christus verkaufen wollten, indem sie ihn geißelten, Backenstreiche gaben und kreuzigten. Ich entschied, ihn zu kaufen, indem ich dem König viele Güter, Einkünfte und vergängliche Reichtümer in der Weise anbot, von der Eure Gnaden wohl gehört hat.9
Las Casas Venezuela-Abenteuer endete in einem Fiasko. Trotz solcher Rückschläge bleibt Las Casas bis zu seinem Tod in hohem Alter ein Anwalt der armen und unterdrückten Indios. Als Theologe argumentiert er mit der Bibel, als Jurist auch mit dem Naturrecht. Politisch hat er es immer wieder verstanden, sich bei Hof als Fürsprecher der Indios Gehör zu verschaffen. Dass Las Casas als Ersatz für die freigelassenen Indios zunächst dem Erwerb schwarzer Sklaven zugestimmt und damit den transatlantischen Sklavenhandel befördert hat, ruht wie ein dunkler Schatten auf dem Lebenswerk dieses Mannes. Selbst wenn er später auch hier eine erneute Umkehr vollzogen und Reue gezeigt hat: Er [Las Casas über sich selbst] war sich des Unrechts nicht bewusst, mit dem die Portugiesen sie einfingen und zu Sklaven machten. Nachdem er dies erkannte, hätte er den Rat um alles in der Welt nicht mehr gegeben, denn es war immer Unrecht, wenn man sie fing, und Tyrannei, wenn man sie zu Sklaven machte; die Neger haben die gleichen Rechte wie die Indios.10
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§ 4 Christopraxis in der Nachfolge Jesu Leonardo Boff/Brasilien und Jon Sobrino/El Salvador Das Erscheinen von Gustavo Gutiérrez „Theologie der Befreiung“ im Jahr 19721 markiert einen Kairos in der Theologiegeschichte Lateinamerikas. Gutiérrez, der vielen als der Namensvater und Nestor dieser theologischen Richtung gilt,2 legte damit eine erste systematische Grundlegung vor. Er proklamiert eine prophetische Theologie, „die zugleich vom Evangelium und von den Erfahrungen der Männer und Frauen ausgeht, die sich in diesem von Unterdrückung und Beraubung beherrschten lateinamerikanischen Kontinent dem Prozess der Befreiung verpflichtet haben.“3 Vorgetragen hatte Gutiérrez seine Gedanken erstmals einen Monat vor Beginn der zweiten Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellin 1968,4 zu deren theologischem Beraterstab er gehörte. Ihrer Zielvorgabe folgend, die Umsetzung des Reformpotenzials der Beschlüsse des Vaticanum II im lateinamerikanischen Kontext voranzutreiben, bereiteten die Delegierten den Weg für einen ekklesiologischen und theologischen Neuaufbruch zu einer „Kirche der Armen“.5 Die Analyse der lateinamerikanischen Situation und der Rolle der Kirche nimmt bei Gutiérrez denn auch einen breiten Raum ein. Theologisch ist ein ungemeiner anthropologischer Optimismus zu spüren, der ihn von der „Schaffung eines neuen Menschen“ (134)6 sprechen lässt. Gemeint ist damit gut paulinisch der neue Mensch in Christus.
1. Auf dem Weg zu einer befreienden Christologie Neben Gutiérrez „Theologie der Befreiung“ nimmt sich Leonardo Boffs im selben Jahr erschienenes Werk „Jesus Christus, der Befreier“7 eher wie ein biederes Lehrbuch aus.8 Die Genese aus einer Artikelserie auf der Grundlage seiner Lehrveranstaltungen in Petrópolis9 lässt sich nicht ganz verleugnen, vieles dient schlicht der Wissensvermittlung. Der Autor betont allerdings im Vorwort der englischen Ausgabe, dass die Befreiungsbotschaft verstanden worden sei,10 obwohl er aufgrund der politischen Situation in seiner publizistischen Freiheit stark eingeschränkt war. Auch Boff erhebt den Anspruch, vor dem Hintergrund seines lateinamerikanischen Kon-
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textes zu schreiben,11 will jedoch selber keine Analyse vornehmen. Sein Interesse ist eher systematisch-theologisch ausgerichtet. Ähnliches gilt für Jon Sobrinos12 vier Jahre später veröffentlichtes Werk „Christology at the Crossroads“.13 Wirkungsgeschichtlich betrachtet können diese beiden Bücher dennoch als die Standardwerke lateinamerikanischer Befreiungschristologie gelten.14 Leonardo Boff,15 Brasilianer italienischer Abstammung, wurde 1938 in Concórdia/Santa Catarina als ältester Sohn eines Lehrers geboren. Die Familienverhältnisse waren bescheiden, doch ermöglichte der Vater, selbst ein Jesuitenzögling, allen seinen Kindern eine Universitätsausbildung, auch den Mädchen. Von seinen zehn Geschwistern hat Leonardos jüngerer Bruder Clodovis (geb. 1944) ebenfalls eine gewisse Prominenz als Befreiungstheologe erlangt.16 In der Strenge und Frömmigkeit des italienischen Volkskatholizismus erzogen, tritt Leonardo elfjährig in das kleine Seminar der Franziskaner ein. Er studiert Philosophie und Theologie in Curitiba und Petrópolis, u. a. bei Bonaventura Kloppenburg, später einer seiner schärfsten Kritiker, und Paulo Evaristo Arns, der als Kardinal von Sao Paulo dann zu einem Förderer der Befreiungstheologie wurde, sowie Constantino Koser, von 1967–1979 Generalminister des Franziskanerordens. Bald nach der Priesterweihe (1964) geht Boff zum weiteren Studium nach München (1965–1970), wo er bei Leo Scheffczyk, Heinrich Fries, Karl Rahner, dem Exegeten Otto Kuss, aber auch bei Wolfhart Pannenberg hört. 1970 legt er seine Dissertation über „Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung“17 vor. Noch im selben Jahr wird Boff als Nachfolger von Kloppenburg auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie an die Philosophisch-Theologische Franziskaner-Hochschule in Petrópolis berufen. Neben seiner eigenen umfangreichen literarischen Produktion entfaltet er eine rege Herausgebertätigkeit im ordenseigenen Verlag Vozes, u. a. für die renommierte Revista Eclesiástica Brasileira und die portugiesische Ausgabe von Concilium. Prägende Bedeutung schreibt Boff seiner Zeit als Priester in einem Slum von Petrópolis zu und seinem Kontakt mit den Basisgemeinden in der Diözese von Acre-Parus im Regenwald des Amazonas.18 Nach massiven Auseinandersetzungen mit der Glaubenskongregation um die Theologie der Befreiung19 schied Boff 1992 aus dem
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Orden aus und lebt heute als freier Schriftsteller. An der Universität des Staates Rio de Janeiro wurde für ihn ein Lehrstuhl für Ethik und Spiritualität eingerichtet.20 2007 veröffentlichte Clodovis Boff einen Artikel unter dem Titel „Theologie der Befreiung und die Rückkehr zum Wesentlichen“ in der Revista Eclesiástica Brasileira, der einen Bruderzwist auslöste. Gemeinsam mit Gustavo Gutiérrez suchte er hinter den Kulissen die Aussöhnung mit den Bischöfen und dem Papst. Sie unterstützten das Schlussdokument der Fünften Vollversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik in Aparecida (2007), das sich ausdrücklich zur „Option für die Armen“ bekennt. Clodovis hatte sich bereits 1986 vom Gebrauch der marxistischen Gesellschaftsanalyse in der Theologie der Befreiung distanziert. Inzwischen hatte er sich auch das immer wieder von Kritikern vorgebrachte Argument, die Befreiungstheologie hätte die Armen an die Stelle Jesu Christi gesetzt, zu Eigen gemacht. Zu Unrecht, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Boffs Altersgenosse Jon Sobrino21 ist gebürtiger Spanier (1938). Mit 18 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein (1956), zu dessen mittelamerikanischer Provinz er seit 1957 gehört. 1963 erwarb er ein Lizenziat in Philosophie und Geisteswissenschaften, 1965 auch ein Diplom in Ingenieurwissenschaften, beides an der St. Louis Universität, USA. Sein Theologiestudium an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt schloss er 1975 mit einer Promotion über „Die Bedeutung von Kreuz und Auferstehung in den Theologien von Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg“22 ab. Bereits 1969 hatte er die Priesterweihe empfangen. Sobrino lehrte Philosophie und Theologie an der Zentralamerikanischen Universität José Siméon Canas in San Salvador, El Salvador. Die beiden nun näherhin zu betrachtenden Frühwerke23 zehren noch deutlich von den Doktorarbeiten ihrer Autoren. Sie setzen sich intensiv mit der deutschsprachigen systematischen Theologie und Exegese – im besonderen Maße auch der protestantischer Couleur – auseinander. Nach Struktur und Inhalt laufen sie über weite Strecken parallel. Boff stellt einen Überblick über die historisch-kritische Jesusforschung (B,1–31) und die hermeneutische Diskussion (B,32–48) an den Anfang. Seine in diesem Zusammenhang genannten fünf Charakteristika einer
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zukünftigen lateinamerikanischen Christologie (B,43–47) sind die meistzitierten Passagen des ganzen Werkes und dürfen also auch hier nicht fehlen: (1.) der Primat des anthropologischen vor dem ekklesiologischen Element, (2.) der Primat des utopischen vor dem faktischen Element, (3.) der Primat des kritischen vor dem dogmatischen Element, (4.) der Primat des Sozialen vor dem Personalen, (5.) der Primat der Orthopraxie vor der Orthodoxie. Diese fünf Primate kennzeichnen allerdings eher die Befreiungstheologie als Referenzrahmen im Allgemeinen als eine Befreiungschristologie im Besonderen. Die Gesamtkonzeption des Buches charakterisieren sie nur ungenügend. Die sich hier bereits abzeichnende Kritik an der kirchlichen Hierarchie hat Boff in diversen Aufsätzen expliziert. Für Furore sorgten sie allerdings erst, als er sie in dem Sammelband „Kirche: Charisma und Macht“24 gebündelt vorlegte. Im Rahmen seiner Christologie bleibt die Institutionskritik sekundär. Der hermeneutische Ansatz und der Ausgangspunkt beim historischen Jesus sind die eigentlichen Spezifika. Zu beidem bekennt sich auch Sobrino bereits auf den ersten Seiten seines Buches (S,1–16). Anhand der Christologien von Rahner, Pannenberg und Moltmann illustriert er die drei unterschiedlichen Zugänge über Inkarnation, Auferstehung oder Kreuz (S,17–40). Seine Einleitung beschließt er ebenfalls damit, dass er die lateinamerikanische Christologie in den Gesamtzusammenhang der Befreiungstheologie einordnet (S,33–37). Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi bilden bei Boff und Sobrino gleichermaßen den Rahmen für den Aufbau des ersten Hauptteils. Die Verkündigung des Reiches Gottes steht für sie dabei im Mittelpunkt der Wirksamkeit Jesu (B,52 f.; S,41). Sobrino sucht den Zugang über Jesu Glauben (S,79–145) und Gebet (S,146–178), Boff porträtiert ihn als den Befreier im umfassenden Sinne (B,63–79). Im Zentrum des zweiten Hauptteils stehen bei beiden die Unterscheidung von historischem Jesus und kerygmatischem Christus und die Dogmen der Alten Kirche (B,178–205). Bei Boff schließen sich daran einige Ausführungen zu der von ihm vertretenen kosmischen Christologie an (B,206–263). Sobrino fasst seine Überlegungen zur historischen Christologie noch einmal in einer Thesenreihe zusammen (S,346–395). Ein Appendix befasst sich mit dem Christus der ignatianischen Exerzitien (S,396–424). Sobrino hat ein Vorwort zur engli-
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schen Ausgabe seines Buches geschrieben (S,xv-xxvi), Boff zu der seinigen einen Epilog (B,264–295). Dem weitgehend parallelen Aufbau korreliert die Argumentationsstruktur. Es legt sich also nahe, ihre zentralen christologischen Aussagen in vier Thesen zusammenzufassen. Das darin entfaltete christologische Themengeflecht wird in allen Befreiungschristologien variiert,25 auch wenn es selten so gebündelt vorgetragen wurde. (1.) Befreiende Christologie ist hermeneutische Christologie. Das Bekenntnis zum hermeneutischen Zirkel als Grundstruktur jeglicher theologischer Reflexion ist ein Gemeingut der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und steht so auch am Anfang der Christologien von Boff (B,5. 39) und Sobrino.26 Bereits die biblischen Schriften bieten einen Pluralismus christologischer Entwürfe (B,5–7. 12; S,5). Es sind dies nachösterliche Glaubenszeugnisse (B,2; S,273), entstanden jeweils in einer spezifischen Situation (B,5–7; S,13). Auch wenn die altkirchlichen Dogmen dieses Differenzierungspotenzial empfindlich reduzieren, um die Universalität der Christusbotschaft zum Tragen zu bringen, gilt doch gleichermaßen auch für sie, dass sie Interpretationen in einer bestimmten Situation sind (B,182; S,318). Christologie ist, wie alle theologische Rede, kontextuell bedingt. Mit dem sich wandelnden Kontext muss jede Generation ihre Christologie entsprechend neu formulieren (B,1; S,347). Boff und Sobrino haben den Anspruch, dies in der Situation von Armut und Unterdrückung im Lateinamerika der 1970er-Jahre zu tun. Sie proklamieren Jesus Christus als den Befreier. Sobrino verweist dabei auf das „hermeneutische Privileg der Armen“, einer gewissen Korrelierbarkeit der Verhältnisse zur Zeit Jesu mit den lateinamerikanischen seiner Gegenwart (S,12). Boff kann dies unter dem Druck der Verhältnisse explizit erst im Epilog zur englischen Ausgabe tun (B,279). Einige vorsichtige Andeutungen finden sich jedoch in den bereits genannten fünf Primaten (B,43.46 f.). Die Kontextualität ist aber nicht nur eine methodologische Vorgabe, sie ist vielmehr dem christologischen Prozess selbst inhärent. Die Rede von Jesus Christus drängt auf Neuformulierung, gerade, um seine universale Gültigkeit immer wieder zu erweisen (B,12; S,341. 348).
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(2.) Befreiende Christologie ist relationale Christologie. Diese Relationalität Jesu Christi (B,195; S,50. 60) lässt sich an drei Punkten aufzeigen: • Die Relationalität von historischem Jesus und kerygmatischem Christus. Die Unterscheidung von historischem Jesus und kerygmatischem Christus zu überwinden, ist das erklärte Ziel von Boff und Sobrino (B,19; S,275. 305).27 Sie holen den historischen Jesus heim in die Christologie (S,79). Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sind gleichermaßen Gegenstand christologischer Rede. Einer soteriologischen Engführung ist damit gewehrt (B,10; S,8). Um ihren Ausgang beim historischen Jesus zu rechtfertigen, bemühen sich beide Autoren um den Nachweis einer impliziten Christologie in Verkündigung und Wirken Jesu (B,12. 52; S,48. 68), die die explizite nachösterliche Christologie bereits antizipiert. Der historische Jesus und der kerygmatische Christus sind aufeinander zu beziehen (B,19), mehr noch, christologische Aussagen sind überhaupt nur möglich vom historischen Jesus her (S,305). Zugleich kommt dem historischen Jesus damit eine kritische Funktion zu. Jeder christologische Entwurf muss sich an der Jesusgeschichte messen lassen (B,28; S,129. 291). • Die Relationalität von Jesus, dem Sohn, und Gott, dem Vater. Ein Aufweis für die implizite Christologie ist die Gottesbeziehung Jesu (B,17; S,60. 105), wie sie sich in seiner Verkündigung, seinem Glauben und Gebet sowie seinem Wirken spiegelt. Jesus verkündigt weder sich selbst noch einen fernen Gott, sondern das Reich Gottes (B,37. 52; S,41), dessen Anbruch er verheißt und in seinem Wirken bereits vorwegnimmt (B,54. 142; S,47 f. 68). Der eschatologische Vorbehalt bleibt gewahrt (B,55; S,63). Jesus glaubt an einen in der Geschichte gegenwärtigen Gott (S,44), dessen Handeln sich exemplarisch im Exodusgeschehen manifestiert hat. Heilsgeschichte und Weltgeschichte sind eins. Bereits Jesu Leben, seine Verkündigung und sein Wirken – erst aus nachösterlicher Sicht dann auch Tod und Auferstehung – lassen in Jesu Bezugnahme auf den Vater Gott selbst offenbar werden.
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• Die Relationalität von Gott Vater, Sohn und den Menschen. Hat sich in Jesus Christus einerseits Gott offenbart, so ist er andererseits zugleich das Bild des vollkommenen Menschen (B,197. 204 f.). Gleichzeitig werden die Armen und Unterdrückten, in denen Jesus Christus gegenwärtig ist (Christus praesens), zum Bild des „Andersseins“ Gottes (S,368). Christologische Aussagen sind immer gleichzeitig auch Aussagen über Gott und den Menschen. Die Relationalität ist eine hermeneutische Kategorie. Um das ‚vere homo, vere deus‘ (B,194) aussagen zu können und im Gleichgewicht zu halten (B,183), muss christologisches Reden den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus, Gott Vater und Sohn und die Gläubigen stets zueinander in Beziehung setzen. (3.) Befreiende Christologie ist inkarnatorische Christologie.28 Die Dreiheit von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi bildet bereits den inkarnatorischen Spannungsbogen ab. Boff und Sobrino sind an diesem Punkt von der katholischen Tradition geprägt (B,155. 188; S,124). Jesu Tod am Kreuz liegt in der Konsequenz der Menschwerdung unter den kleinen Leuten und seines ganzen Lebensweges. Die Überwindung des Todes in der Auferstehung gibt der Gegenwart im Leiden eine eschatologische Dimension. Die Auferstehung ist ein Impuls für die Befreiungshoffnung, der oft allerdings nur implizit wirkt, vermittelt durch den inkarnatorischen Spannungsbogen. Gedacht wird hier eindeutig aus der Perspektive der Kenosis ins Leiden. Trotz der schwach ausgeprägten Pneumatologie haben beide letztendlich einen trinitarischen Ansatz (B,253 f. 259).29 Während Boff jedoch unverhohlen Sympathie für kosmologische Spekulationen bekundet, stellt Sobrino im Gefolge Moltmanns den gekreuzigten Gott ins Zentrum seiner Überlegungen. Boff denkt vom Kosmos her und auf den Kosmos hin. Christus ist der Schöpfungsmittler und der Allversöhner. Sobrino reflektiert demgegenüber stärker das innertrinitarische Geschehen. Der Geist ist für beide das Medium der Kommunikation ad intra (B,253) wie ad extra.
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(4.) Befreiende Christologie ist Nachfolgechristologie. Wie Jesus seinen Glauben nicht nur in der Verkündigung des Reiches Gottes artikuliert, sondern auch in seinem Wirken sichtbar werden lässt, so müssen auch seine Anhänger umkehren (B,64; S,57) und im Glauben und in Werken in seine Nachfolge treten (B,231. 245; S,50). Nicht imitatio Christi im Sinne eines reinen Nachahmens (S,132), sondern ein Leben in der Nachfolge, das die Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes in Jesus Christus in der jeweiligen Situation relevant werden lässt (B,220; S,12), und aktive Reich-Gottes-Arbeit sind hier gefordert (S,50). Erst in der Nachfolge Jesu wird Christologie überhaupt formulierbar (S,108. 275). Die Interdependenz der vier genannten Kennzeichen befreiender Christologie ist deutlich. Relationalität ist das Movens des hermeneutischen Zirkels. Wenn Gott sich in Jesus Christus offenbart, die Glaubenden ihn aber erst in der Nachfolge Jesu richtig kennenlernen, sind das hermeneutische Vorgänge, die sich der Relationalität von Gott Vater, dem Sohn und den Gläubigen verdanken.
2. Der in den Armen gegenwärtige Christus Es ist das bleibende Verdienst von Boff und Sobrino, durch die Übernahme der Inkarnations- und Nachfolgechristologien aus der Tradition und ihre hermeneutische und relationale Durchgestaltung die Befreiungstheologie auf eine solide christologische Grundlage gestellt zu haben. In ihren Frühschriften ist jedoch nur angelegt, was schon bald zum Proprium der Befreiungstheologie werden sollte: die Wiederentdeckung der Gegenwart Christi in den Armen. Derjenige, der gekommen ist, den Armen das Evangelium zu verkünden, ist aus nachösterlicher Perspektive – als der Auferstandene – selbst in den Armen dieser Welt gegenwärtig (Mt 25). Was Bartholomé de las Casas zu Zeiten der Conquista für die Indios proklamiert hatte, wird nun zur guten Nachricht für die Armen des gesamten Subkontinents. Die Befreiungstheologie gibt damit nicht zuletzt eine eigenständige Antwort auf die Theodizeefrage. Die Kenosis Jesu Christi, seine Gegenwart im Leiden, spricht den Armen kontrafaktisch30 zu ihren Lebensverhältnissen eine Würde vor Gott zu. Die Christologie erlangt dadurch identitätsstiften-
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de Funktion. Im Zuspruch des Mit-Seins Jesu Christi gewinnen die Armen ihre Selbstachtung zurück. Der 1989 in San Salvador von den Todesschwadronen ermordete Ignacio Ellacuría31 geht noch einen Schritt weiter, wenn er von einer „historischen Soteriologie“ (823) spricht. Das gekreuzigte Volk ist nicht nur „die geschichtliche Fortdauer des Lebens und des Todes Jesu“ (835), sondern darin auch „Fortführer des Erlösungswerkes Jesu“ (838).32 Den zweiten Punkt erläutert er jedoch nicht weiter (vgl. 849). Es ist vor allem dieser aktivische Aspekt, der zu heftigem Widerspruch gegen die Befreiungstheologie geführt hat. Die Rede vom gekreuzigten Volk kann sich jedoch auf die Tradition der Gottesknechtslieder berufen. Es entwickelt sich eine neue Martyriologie, die nicht nur die ermordeten Priester und einfachen Gläubigen, die in der Nachfolge Jesu ihr Leben ließen, umfasst, sondern auch jene unbekannten Opfer der Unterdrückung, die nach Jon Sobrino ein materiales Martyrium33 erlitten haben. Sobrino selbst ist nur durch Zufall der Todesschwadron der Armee entgangen, die seinen Ordensbruder Ellacuría und fünf weitere Ordensmitglieder, sowie die Haushälterin und ihre Tochter auf dem Gelände der Universidad Centroamericana (UCA) ermordet haben. Die Aufnahme des generativen Themas der Gegenwart Jesu Christi in den Leiden der Armen und Unterdrückten in der Befreiungstheologie ist gewissermaßen eine moderne Variante von Luthers hermeneutischer Grundregel, „dass Gott nur in Leiden und Kreuz zu finden ist“.34 Die Befreiungstheologen ‚nennen die Dinge beim rechten Namen‘.35 Anders als Luther entwerfen sie allerdings eine korporative theologia crucis.36 Dieser Gemeinschaftsbezug ist konstitutiv für die Befreiungstheologien, deren afrikanische und asiatische Varianten wir am Ende dieses Ganges durch die christologischen Entwürfe der Dritten Welt näherhin in den Blick nehmen werden. Zunächst einmal wenden wir uns aber den Christologien zu, die im Kontext der Kulturen und Religionen Afrikas und Asiens entworfen wurden.
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B. „Ihr aber, wer sagt Ihr Afrikaner, dass ich sei?“ – Christologie im Kontext afrikanischer Stammeskulturen und -religionen
Afrikanischer Kruzifixus, Zementplastik, 1960er-Jahre (François Goddard/Zaire) Die Maske hängt an einem lateinischen Kreuz mit umlaufender Doppelrandung und einer Einlage aus weißen Mosaiksteinchen. Diese füllen auch die Freiräume, die sich in der halbkreisförmigen Gloriole der Maske zwischen der Umrandung und den fünf sie strukturierenden, sternförmig angeordneten Dreiecken ergeben. Die Dornenkrone wird hier ornamental als Hoheitszeichen stilisiert. Dem Heiligenschein korrespondiert formal die stufenförmige Anordnung der Locken des Haarschopfes, der die untere Hälfte der Maske umkränzt. Die Lockenpracht steht in einem gewissen Kontrast zur Kurzhaarfrisur des Kopfes. Die Gesichtsoberfläche hat der Künstler merkwürdig grobkörnig gestaltet. Die Physiognomie hingegen ist wie die gesamte Maske von präziser Ebenmäßigkeit. Die halbgeöffneten Augen markieren die Querachse, die Nase die Längsachse. Der Nasenrücken geht über in die beiden dickwulstigen Augenbrauen, deren Linien über die Wangen bis an die Mundwinkel ausgezogen sind. Es ergibt sich ein herzförmiges Ornament, dessen Spitze durch die Unterkante der rautenförmig modellierten Lippen gebildet wird. Auf der Stirn trägt die Maske drei Kauri-Schnecken, Symbole der Fruchtbarkeit. Eine der zentralen Funktionen der Masken im traditionellen Afrika ist die Repräsentation von Ahnen oder Geistern, die in ihnen Gegenwart annehmen. Die Christusmaske repräsentiert analog den Christus praesens. Dieser Kruzifixus ist keine Darstellung des Leidenden. Es ist der Herr am Kreuz, der Christus victor, Urquelle des Lebens.
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§ 5 Modelle afrikanischer Christologie Musste John S. Mbiti (1931–2019), einer der protestantischen Gründungsväter Afrikanischer Theologie,1 in einem frühen Aufsatz (1967)2 noch feststellen „es gibt keine afrikanischen Vorstellungen zur Christologie“ (72), hat sich die Lage nach Einschätzung seines katholischen Pendants Charles Nyamiti (geb. 1931) ein knappes Vierteljahrhundert später (1989) grundlegend geändert: „Zweifellos ist die Christologie das am meisten bearbeitete Thema in der heutigen afrikanischen Theologie.“3 Mbiti nennt „vier Säulen“ (72) für die theologische Arbeit in Afrika. Rechnen wir „die Bibel“ [1.] und „die Theologie der älteren Kirchen“ [2.] dem Text zu und die „traditionelle afrikanische Überlieferung [3.] und die lebendige Erfahrung der Kirche in Afrika [4.]“ dem Kontext, ergibt sich unser Schema von Text und Kontext. Sein Thema bearbeitet Mbiti unter einer zweifachen Fragestellung: (1.) welche christologischen Aussagen des Neuen Testaments bevorzugen die Afrikaner und (2.) wo lassen sich Anknüpfungspunkte in der afrikanischen Vorstellungswelt finden. Auf der Grundlage der Forschungen von Harold W. Turner zu Predigten der „Kirche des Herrn“ (Aladura),4 einer der unabhängigen afrikanischen Kirchen,5 kommt Mbiti zu dem Schluss, dass Afrikaner besonders von jenen neutestamentlichen Traditionen angesprochen werden, die Jesus als den Christus victor porträtieren. „Hingegen fehlt ein Interesse an Christi Tod und Opfer als solchem (75).“ Mbitis Begründung allerdings ist nicht unumstritten.6 Der afrikanischen Vorstellungswelt fehlt ihm zufolge die Dimension der Zukunft. Die Christologie schließe diese Lücke. In den traditionellen Vorstellungen besteht im Blick auf die Zukunft ein großes Vakuum, und Jesus füllt es aus, indem er zuerst und vor allem als Sieger über die Mächte, die das afrikanische Leben seit unermesslicher Zeit beherrschen, verstanden wird (76).
Diese Anknüpfung beim Sieg Jesu über die Mächte des Bösen erscheint gegenüber dem Argument der unterschiedlichen Zeitkonzeptionen wesentlich plausibler. Mbiti hat selbst wiederholt die These vertreten, dass die
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afrikanischen Christen zu einer diesseitsorientierten Soteriologie neigen, die wenig Raum lässt für Vorstellungen wie Sünde und Sühnetod.7 Bei der Frage nach Anknüpfungspunkten weist Mbiti bereits den Weg über die Hoheitstitel (79), eine Vorgehensweise, die sich in der weiteren Entwicklung als Leitmotiv behaupten sollte. Die wesentlichen Analogien klingen an: die Stellung des Häuptlings (81), Passageriten und Initiation (77 f.), Verwandtschaft, die die Verstorbenen einbezieht (78; 83), und Heilung (83). Aus eben diesen Bausteinen werden später die Modelle afrikanischer Christologie entwickelt. Charles Nyamiti kann für seinen Übersichtsartikel schon auf eine Fülle von Material zurückgreifen, das er nach dem uns vertrauten Raster von Inkulturations- und Befreiungstheologie8 strukturiert. Wir wenden uns in diesem Kapitel den Inkulturationstheologien zu.9
1. Jesus Christus, der Häuptling Die Häuptlingstitulatur hat ihre neutestamentliche Entsprechung in der Anrede Jesu als Herr (kyrios).10 François Kabasélé11 (geb. 1948) orientiert sich in seiner Darstellung am Luba-Missale der Diözese Mbuji-Mayi.12 Im Gefolge der Liturgiereform des Vaticanum II13 ist damit ein Messbuch geschaffen worden, das keine Übersetzung aus dem Lateinischen ist, sondern „den Texten des Tages folgt und zugleich der Kultur derer, die da beten“ (58). Die Benennung des Häuptlings ist äußerst abwechslungsreich. Mukalengé, Häuptling im allgemeinen Sinne, wurden schon die Kolonialherren, aber auch die Missionare und später die Vertreter des einheimischen Klerus genannt. Anders Titel wie Ntita für Häuptlinge, die das Recht der Initiation und Investitur anderer Häuptlinge haben, und Luaba für Häuptlingsprätendenten, die eine Überhöhung des so Bezeichneten implizieren und wenigen vorbehalten bleiben. Zentrale Kategorie ist die Macht, die der Häuptling innehat. Bantu14-Christen bezeugen, „dass Christus für sie der Häuptling ist und dass seine Person völlig mit dem Wesen der Bantu-Macht übereinstimmt“ (70). Die „Vorrechte eines Bantu-Häuptlings schienen in Jesus voll verwirklicht“ (60). Kabasélé begründet dies in fünf Punkten:
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• Jesus Christus ist der Häuptling, weil er ein Held ist. Jesus hat den bösen Mächten Einhalt geboten und dem Satan getrotzt. Er hat damit bewiesen, dass er seine Gemeinschaft beschützen und verteidigen kann. Das Luba-Misale beschreibt dies mit einer ganzen Reihe kriegerischer Metaphern. Christus ist „Cimankinda mit den unzähligen Pfeilen“ (60) und derjenige, „der mit dem Buschmesser nicht spaßt, dessen Buschmesser sein Ziel nicht verfehlt“ (mukokodi-wa-ku-muele, 61). • Jesus Christus ist der Häuptling, weil er der Sohn und der Gesandte des Häuptlings ist.15 Bei den Luba ist es eine „von den Ahnen überkommene Ausdrucksweise“ (64), Gott mit einem Häuptlingstitel (Mulopo) anzureden.16 Dass Christus der Sohn Gottes ist, haben die Bantu erst durch die christliche Offenbarung erfahren. Dass aber Gott der Häuptling des Universums und letzte Zuflucht ist, das wissen sie von ihrem Ahnenglauben her, der theologische Diskurs der Bantureligionen bestätigt dies von Anfang bis Ende (63).
Christus wird Mulopo genannt, weil er sich als Sohn des Häuptlings offenbart hat, aber auch weil er sein Gesandter ist, der traditionell ebenfalls den Häuptlingstitel trug. • Jesus Christus ist der Häuptling, weil er „stark“ ist. Der Bantu-Häuptling steht auf der Grenze zur Welt des Göttlichen, „an einem Schnittpunkt des Irdischen und Überirdischen, einer Sphäre, die von den Bantu Sphäre der ‚Starken‘ (bakolé) genannt wird“ (65). Er ist der Mittler zu den Ahnen und zu Gott und muss deshalb initiiert sein. Über ihn fließt das Leben in die Gemeinschaft, die zu fördern und zu bewahren ihm anvertraut ist. Seine Stärke ist „die Kraft der ‚Seins-Partizipation‘“ (65). • Jesus Christus ist der Häuptling, weil er großmütig und weise ist. Der Häuptling trägt Sorge für die Belange der Gemeinschaft. Seinen Ratschluss fällt er stets im Einklang mit dem Willen der Ahnen, was ihm zugleich ihre Unterstützung sichert.
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Den Bantus erscheint Christus schon deswegen als die Weisheit in Person, weil er dem Willen des Vaters folgt, weil er nichts anderes tut als das, was er den Vater tun sieht (Joh 5,19) (68).
Nur wer sich der Väter würdig erweist, hat Chancen, die Wahl zum Häuptling für sich zu entscheiden. • Jesus Christus ist der Häuptling, weil er der versöhnende Vermittler ist. „Uneinigkeit innerhalb eines Volkes [ist] das verhängnisvollste aller Übel“ (69). Hier muss der Häuptling intervenieren, um den Strom des Lebens nicht abreißen zu lassen. Ihren sichtbaren Ausdruck findet die Häuptlingswürde Jesu in der liturgischen Verwendung traditioneller Attribute eines Häuptlings, wie etwa eines Leopardenfells, Elefantenstoßzähnen oder Lanzen.
2. Jesus Christus, der Initiationsmeister Assoziativ und erfahrungsbezogen ist der Zugang, den Anselme Titianma Sanon (geb. 1937), Bischof der Diözese Bobo-Dioulasso, Burkina-Faso, zu seiner Darstellung Jesu als Initiationsmeister wählt.17 Ähnlich wie das Amt des Häuptlings ist auch das des Initiationsmeisters von den kulturellen Umbrüchen bedroht. Doch sieht Sanon die Initiation wesentlich unter pädagogischen Gesichtspunkten18 als eine Schule des Lebens, das immer Leben in Gemeinschaft ist. „Die Initiation kommt von den Ahnen.“19 Wie der Häuptling muss auch der Initiationsmeister für seine Mittlerrolle initiiert sein. Der Meister muss selbst den Weg der Initiation gegangen sein. An den Schilderungen des Lebens Jesu lässt sich für Sanon der Nachweis führen, dass Jesus in seine jüdische Stammesgemeinschaft initiiert worden ist.20 Vollendet aber wird diese Initiation in Kreuz und Auferstehung.21 „In Jerusalem und nirgendwo anders ist der Ort der höchsten Initiation.“22 Die Anrede Jesu als Initiationsmeister gewinnt bei Sanon mindestens vier Dimensionen: • Jesus Christus ist der Initiationsmeister, weil er selbst die Phasen der Initiation in exemplarischer Weise durchlaufen hat (analogische Dimension).
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Der Vorgang der Initiation ist rein formal mit Tod und Auferstehung Jesu Christi analogisierbar. Tod, Begräbnis und Auferstehung sind wohlbekannte Phasen in jedem Initiationsverfahren. Es handelt sich um die Prüfung der Trennung und Loslösung, des Eingegrabenwerdens irgendwo im Wald, in einer Höhle oder in der Wüste, und der Rückkehr zu einem neuen Leben, zu einer neuen Weise des gesellschaftlichen und religiösen Lebens.23
• Jesus Christus ist der Initiationsmeister, weil er stellvertretend für uns seine Initiation vollendet hat (soteriologische Dimension). Das Opfer Christi, seine Ganzhingabe durch das Opfer am Kreuz, ist für ihn selbst der endgültige Initiationsakt, der zugleich für alle Menschen gilt. Es ist der sichtbar grundlegende Akt der Erlösung.24 • Jesus Christus ist der Initiationsmeister, weil er uns als unser älterer Bruder in der Initiation anleitet (pädagogische Dimension). Dem ältesten Bruder kommt in matrilinearen Stammesgesellschaften eine herausgehobene Rolle zu.25 Er führt die Ahnenriten durch oder leitet die Gruppe der Initianden. Bei Jesus wird die Initiationspädagogik zu einer Einübung in die Nachfolge26 und das Geheimnis des Reiches Gottes. Nachfolge Christi ist in diesem Kontext Initiation in die Gemeinschaft der Gläubigen, in die Kirche. Christologie und Ekklesiologie werden eng miteinander verknüpft.27 Katechumenat und Taufe scheinen Sanon augenfällige Parallelen. Die bereits erwähnte Liturgiereform des Vaticanum II gibt hier die Möglichkeit, gestalterisch tätig zu werden. Sanon weitet darüber hinaus den Blick von der Christologie zu christlichen Initiationsriten allgemein. Auch die Frage der Partizipation von Christen an der Dorfinitiation wird in diesem Zusammenhang erörtert. • Jesus Christus ist der Initiationsmeister, weil er die Sprache des Symbols benutzt und zugleich eine symbolische Christologie evoziert (ästhetische Dimension). Christologie hat für Sanon aber auch eine ästhetische Dimension: „Jesus ist unser Initiationsmeister, weil er uns nach Art der erfahrenen Initiati-
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onsmeister die höchsten Werte in Form von Symbolen aufgezeigt hat.“28 Zugleich will Sanon die afrikanische Symbolik für die Christologie transparent werden lassen: Das Antlitz Christi sehen, sein afrikanisches Antlitz erkennen, das heißt, einen afrikanischen Namen für ihn zu finden.29
3. Jesus Christus, der Ahn30 Wir haben gesehen, dass Häuptling und Initiationsmeister beide auch Mittler zu den Ahnen sind und ihnen durch diesen Kontakt mit der göttlichen Sphäre Autorität zuwächst. Zugleich müssen beide gerade wegen dieser Existenz im Grenzbereich zwischen göttlicher und menschlicher Welt initiiert sein. Es liegt nahe, dass die Ahnen als „Quelle des Lebens und notwendiger Durchgang zum Höchsten Wesen“ (73) selbst Titelspender für Jesus Christus werden.31 Nicht jeder gelangt zum Rang eines Ahnen; es genügt dafür nicht zu sterben: man muss gut gelebt haben, d. h. ein tugendhaftes Leben geführt haben (75).
Neben dem ethisch vorbildlichen Verhalten (1.) nennt Kabasélé als weitere Kriterien Nachkommenschaft, denn das Leben muss perpetuiert werden (2.), und einen natürlichen, guten Tod (3.). Die „Rolle der Lebensvermittlung zwischen Gott und den Menschen […] können nur diejenigen übernehmen, die diese Bedingungen erfüllt haben“ (76). An vier Aspekten erläutert Kabasélé die Übertragbarkeit des Ahnentitels auf Christus: • Jesus Christus ist der Ahn, weil er das Leben vermittelt. Wie nach der traditionellen Vorstellung die Ahnen, vermittelt auch Jesus das von Gott geschenkte Leben in Fülle. Leben ist immer Leben in Gemeinschaft, „es ist ein zugleich biologisches und spirituelles Leben“ (78). Der Strom des Lebens fließt von Gott über Jesus in seine Gemeinschaft, die dieser durch seine Gegenwart fördert und bewahrt.
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• Jesus Christus ist der Ahn, weil er bei den Lebenden gegenwärtig ist. In Afrika reicht die Gemeinschaft mit den Ahnen über den Tod hinaus. Die Ahnen werden in das Gemeinschaftsleben aktiv einbezogen und nehmen selbst daran Anteil. Eine solche Gegenwart über den Tod hinaus hat auch Jesus Christus den Seinen verheißen. • Jesus Christus, der Ahn, ist zugleich der Älteste. Der Ahn ist nach Bantubegriffen zugleich der Älteste, „derjenige, der den Quellen und den Grundlagen am nächsten ist, der als erster da war“ (79). Wie schon bei der Häuptlingstitulatur gesehen, war auch dieser Titel ursprünglich eine Gottesprädikation. „Christus, sein einziger Sohn, erhält das gleiche Attribut ‚Ältester‘“ (80). Er wird uns zugleich zum älteren Bruder,32 dem wir Respekt zollen und der unser Mittler zum Vater ist. Denn der Älteste ist es, der für alle anderen den Ahnen und dem Höchsten Wesen die Opfergaben darbringt (80).
• Jesus Christus ist der Ahn, weil er der Vermittler zwischen Gott und Menschen und innerhalb der menschlichen Gemeinschaft ist. Wenn Leben immer Leben in Gemeinschaft ist, dann ist die Vermittlung Seins-konstitutiv. Vermittelt wird das Leben. Vermittelt wird zwischen der göttlichen Sphäre und dem Diesseits. Vermittelt werden muss aber auch innerhalb der Gemeinschaft. Durch Initiation wird das Wissen von Generation zu Generation weitergereicht. In Konfliktfällen vermittelt der Häuptling zwischen den einzelnen Gliedern der Gemeinschaft. Jesus Christus ist der „Ahne par exellence, der alle Worte und Taten der Vermittlung unserer Ahnen in sich zur Vollendung bringt“ (84). Es bleibt die Frage, welche Funktion unter diesen Vorzeichen den Bantu-Ahnen noch zukommt. Der lange Zeit von den Missionaren propagierte Exklusivismus hatte zwar den Ahnenglauben nicht auszurotten vermocht, doch haben viele afrikanische Christen diese Position internalisiert und ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Tradition entwickelt. Das Vaticanum II sorgte mit seinen Liturgiereformbestrebungen für erneute Verwirrung. Jetzt sollte plötzlich praktiziert werden, was über Generationen als verpönt galt.
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Neben der Ahnenchristologie gibt es sowohl den Versuch, die Ahnen in die kirchliche Heiligenverehrung einzubeziehen, als auch Formen einer genuin christlichen Ahnenverehrung zu entwickeln,33 wie wir das ähnlich schon bei den Initiationsriten gesehen haben.34 Eine Verehrung als Heilige wird für Kabasélé aber weder dem katholischen Heiligenverständnis gerecht noch der Würde der afrikanischen Ahnen.35 Da unsere Bantu-Ahnen aber den Glauben an Jesus Christus weder gekannt noch gelebt haben, können sie auch nicht die Rolle von Zeugen dieses Glaubens bzw. der Beispielhaftigkeit für die Christusverbundenheit spielen (85).
Kabasélé votiert demgegenüber für eine liturgische Aufnahme, wenn er vorschlägt, die Trankopfer für die Ahnen in die Eucharistiefeier zu integrieren. Der afrikanischen Kultur kommt ein Wert an sich zu, den sie in die christliche Gemeinschaft einzubringen hat. Kabasélé gebraucht das Bild von einem Sitz, der für einen später Kommenden reserviert ist: „In dem Maße, als neue Kulturen Christus begegnen, werden sicher noch verschiedene ‚freie Sitze‘ im Christentum besetzt werden“ (85).36
4. Jesus Christus, der Heiler Der guineanische Priester Cécé Kolié äußert sich kritisch gegenüber den drei bisher skizzierten Modellen.37 Seine Überlegungen zu der Möglichkeit, Jesus als Heiler zu titulieren, beginnt er mit der polemischen Feststellung, dass es für den afrikanischen Theologen leichter ist, Jesus als den großen Initiationsmeister, als Ahnen par excellence oder auch als Häuptling der Häuptlinge darzustellen. Wer Jesus als den großen Heiler verkünden will, der muss sich intensiv mit den Millionen von Hungernden im Sahel, mit den Opfern von Ungerechtigkeit und Korruption und mit den an einer Vielzahl von parasitären Erkrankungen Leidenden in den Tropenwäldern befassen (108).
Der Versuch, Jesus Christus traditionelle Titel zu verleihen, ist für Kolié ein Auswuchs westlich orientierter Theologie im Gefolge des Vaticanum II ohne Rückhalt im Volk.
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Wieder einmal zwingen wir eine Sichtweise auf, die wir von unseren westlichen Lehrmeistern übernommen haben. Werden unsere Gemeinden uns folgen, wenn wir die Meßgebete mit diesen Titeln Jesu ausdrücken, die in Afrika noch nicht den Erweis ihrer tatsächlichen Wirksamkeit erbracht haben (128)?
Indem Kolié sich den sozio-ökonomisch und politischen Realitäten des afrikanischen Kontextes zuwendet, richtet sich der Blick dabei zugleich auf den Gekreuzigten, weg vom Christus victor. Leben und Leiden Jesu treten in den Vordergrund. Kolié verdeutlicht dies an zwei Punkten: • Jesus Christus ist der Heiler, weil die Heilungen zentraler Bestandteil der Wirksamkeit Jesu waren. • Jesus Christus ist der Heiler, weil er durch sein eigenes Leiden im Leiden der Menschen gegenwärtig ist. Gemeinsam mit den traditionellen Titulaturen ist der Anrede Jesu Christi als Heiler allerdings der Gemeinschaftsbezug und die Lebenszentriertheit: • Krankheit hat in Afrika eine soziale Dimension: „Für den afrikanischen Menschen ist die Krankheit zunächst und grundlegend eine Störung im Gleichgewicht des menschlichen Organismus, aber auch und vor allem ein Riss im sozialen Gefüge“ (114). • „Für den schwarzafrikanischen Menschen ist das Verlangen nach dem Leben, nach Unvergänglichkeit, so vorherrschend, dass diejenigen, in deren Zuständigkeit das Leben in besonderer Weise fällt, einen überragenden Platz einnehmen. […] Daher sind der Islam und das Christentum für den Afrikaner nur in dem Maße glaubwürdig, als sie an seiner Seite am Kampf für das Leben teilnehmen“ (114). Dabei ist es nicht so sehr der Tod, der Furcht erregt, denn die Gemeinschaft besteht ja über den Tod hinaus, sondern „schlechtes Leben wie auch schlechtes Sterben“ (117).38
5. Die Modelle im Vergleich – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Auf die enge Verknüpfung von Häuptling, Initiationsmeister und Ahnen wurde wiederholt hingewiesen. Alle drei sind Mittlergestalten zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Häuptling und Initiationsmeister ha-
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ben eine exponierte Rolle im Diesseits, die Ahnen transzendieren gewissermaßen die Gemeinschaft. Sie gehören zur jenseitigen Welt, sind aber gleichzeitig in dieser gegenwärtig. Mbiti nennt sie die „Lebend-Toten“.39 Das Movens ist die Weitergabe des Lebens, das von Gott über die Ahnen, vermittelt durch Häuptling und Initiationsmeister, in die Gemeinschaft fließt und von den Eltern an die Nachkommen weitergegeben wird. Häuptling und Initiationsmeister nehmen eine vermittelnde Rolle innerhalb der menschlichen Gemeinschaft als Vorbilder und Leitfiguren ein. Der Häuptling hat als politisches Oberhaupt zugleich eine religiöse Funktion. Der Initiationsmeister gibt rituelles Wissen weiter, sorgt aber zugleich für die soziale Integration der Gemeinschaft. Die Stärken des mit diesen Titulaturen verbundenen Christusbildes, Gemeinschaftsbezug und Lebenszentriertheit, sind zugleich seine größten Schwächen. Als Gemeinschaft ist immer nur der eigene Stamm im Blick, auch wenn der, wie etwa bei den Bantu, ein ganzes Volk umfassen kann. Das Heil Jesu Christi aber ist universal. Der „Kult des Lebens“, um den von Kolié geprägten Begriff noch einmal aufzunehmen,40 grenzt die Kranken und Schwachen aus, jene, zu denen sich Jesus Christus bevorzugt gesandt wusste. Im Glauben an Jesus Christus vollzieht sich immer wieder eine radikale Umwertung aller Werte. Dies lässt sich nicht zuletzt an den neutestamentlichen Hoheitstiteln aufzeigen. Der im Judentum mit politisch-nationalen Erwartungen verbundene Messiastitel und der im hellenistischen Bereich in den Mysterienreligionen und im Herrscherkult verwendete Kyrios-Titel werden durch die Leidensgeschichte Jesu radikal infrage gestellt.41 Entsprechend müssen auch die traditionellen afrikanischen Titel eine Umwertung erfahren:42 • Häuptling43 „Der Vergleich mit dem Häuptling ist deshalb so gefährlich, weil er eine theologia gloriae darstellt und eine theologia crucis auslässt.“44 Das afrikanische Häuptlingsamt ist verbunden mit weltlicher Macht, dem Anspruch auf Reichtum und Prestige. Zwischen dem Häuptling und der Gemeinschaft wird eine Distanz aufgebaut, die nur schwerlich zu überwinden ist. Nur über Vermittler können die Mitglieder der Gemeinschaft sein Gehör finden. Jesus fordert demgegenüber einen radikalen Positionswechsel:
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„wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein“ (Mk 10,43 f.). Symbolischen Ausdruck findet diese Umwertung in der Fußwaschung. So weit sind die Bantu-Prinzen ganz sicher nicht gegangen; doch wer zu Lebzeiten seines Vater-Königs die Neigung zeigte, sich von seinen Altersgenossen bedienen zu lassen, oder wer diese gar als Sklaven behandelte, schloss sich damit selbst von der Wahl der Notablen aus.45
• Initiationsmeister46 Der Meister ist zwar selbst initiiert, doch geht er den Weg der Initiation nicht mehr erneut mit. Es kommt vor, dass er schwache Glieder der Gemeinschaft tötet. Jesus aber wusste sich zu den Schwachen gesandt, in ihren Leiden ist er auch heute gegenwärtig. • Ahn47 Jesus entspricht nicht den vitalistischen Kriterien der afrikanischen Ahnenverehrung. Er hat keine Nachkommen gezeugt und starb einen gewaltsamen Tod. Mit den traditionellen Hoheitstiteln Häuptling, Initiationsmeister und Ahn werden afrikanische Vorstellungen auf Jesus Christus übertragen. Es sind afrikanische Preisnamen, die beschreiben sollen, welche Bedeutung Jesus Christus für Afrikaner gewinnen könnte. Anhalt am biblischen Text haben sie wenig. Erst wenn die neuen Namen mit den biblischen Geschichten zusammengesprochen werden, erfahren sie eine Umwertung, die die wahre Bedeutung Jesu Christi aufleuchten lässt. Der Heilertitel hat demgegenüber in den Heilungsgeschichten einen konkreten Anhalt am Text. Doch beschreibt er nur einen Aspekt der Christologie. Auch hier gilt: Nur durch das Weitererzählen der Jesusgeschichte kann ihre ganze Fülle zum Tragen kommen. Von Christian G. Baëta (1908–1994), dem Nestor der Afrikanischen Theologie, stammt das vielzitierte Diktum: „Was immer die anderen in ihren eigenen Ländern tun mögen, unsere Leute leben mit ihren Toten.“48 Bujo sieht im Ahnenmodell denn auch den Kulminationspunkt der vorgestellten Modelle, „denn erst hier tritt Jesus Christus wirklich als Quelle
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des Lebens auf.“49 Die Ahnenverehrung ist der Angelpunkt afrikanischer Weltanschauung.50 Darin das Tor zu suchen, durch das das Evangelium Eingang in die afrikanische Kultur finden kann, scheint plausibel. Im folgenden Paragraphen werden wir zwei Versuche, eine Ahnenchristologie zu formulieren, näher in den Blick nehmen. Übers. 3: Modelle Afrikanischer Christologie Häuptling
Initationsmeister
Ahn
Heiler51
pro • Held • Sohn & Gesandter • „stark“ • großmütig & weise • versöhnender Vermittler
• hat selbst alle Phasen der Initiation durchlaufen • Stellvertretung • leitet uns als ältester Bruder • symbolische Christologie
• vermittelt Leben • bei den Lebenden gegenwärtig • Ältester/ältester Bruder • Vermittler zw. Gott, Menschen und Mitmenschen
• Heilungswunder • Leidensgegenwart
contra • Macht • geht den Weg der • Reichtum & Prestige Initiation nicht er• Distanz neut mit • vs Schwache
• vitalistische Kriterien: keine Nachkommen; gewaltsamer Tod
Gemeinsamkeiten Lebenszentriertheit & Gemeinschaftsbezug
Unterschiede Christus victor; theologia gloriae
Christus patiens; theologia crucis
Vertreter Kabasélé; Pobee
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Sanon; Mveng
Kabasélé; Pobee; Bujo; Kolié; Nyamiti [Shorter]
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§ 6 Christologie im Kontext afrikanischer Ahnenverehrung Charles Nyamiti/Tansania und Bénézet Bujo/Zaire Charles Nyamiti und Bénézet Bujo, beide katholische Weltpriester, haben früh die universitäre Laufbahn eingeschlagen. Als Sohn einer christlichen Familie 1931 in Ndala-Tabora, Tansania geboren und streng katholisch erzogen, war Charles Nyamiti schon in jungen Jahren fest im christlichen Glauben verwurzelt. Bald nach der Ordination (1962) eröffnete sich ihm die Möglichkeit, in Löwen, Belgien zu studieren. Die Neo-Scholastik der Löwener Schule schlug ihn in ihren Bann. Parallel absolvierte er eine Klavierausbildung, die er 1968 mit dem Examen abschloss. Im darauffolgenden Jahr legte er seine theologische Promotion vor, einen „Vergleich zwischen christlicher Initiation und Initiationsriten der afrikanischen Völker Masai, Kikuyu und Bemba, im Hinblick auf die liturgische Anpassung“. Nyamiti wechselte nach Wien, um Ethnologie und Kompositionslehre zu studieren. Es folgte eine zweite, völkerkundliche Dissertation über den „Ahnenkult bei den ostafrikanischen Kikuyu“. In diese Zeit fallen auch seine ersten Veröffentlichungen zum Thema „Afrikanische Theologie“.1 Bénézet Bujo, 1940 in Drodro, Bunia, Zaire geboren, ging nach seiner Ordination (1967) zunächst ans Lovanium nach Kinshasa, wo auch Nyamiti studiert hatte, um dann in Würzburg zu promovieren (1977) und zu habilitieren (1983). Beide haben sich in Europa in hohem Maße akademisch qualifiziert und werden nach ihrer Rückkehr an Theologische Hochschulen berufen. Nyamiti übernimmt zunächst eine Professur für Systematische Theologie am Seminar in Kipalapala (1976–1981). Von 1978 bis zu seiner Berufung an das neugegründete Catholic Higher Institute of Eastern Africa (CHIEA) in Nairobi, Kenia (1985) arbeitet er teilweise parallel auch als Gemeindepfarrer. Am CHIEA wird er bald zum Leiter des Departments für Dogmatische Theologie. Bujo hatte mehrere Jahre (1978–1989) eine Professur für Moraltheologie an der theologischen Fakultät in Kinshasa, Zaire inne. 1989 folgte er einem Ruf auf eine Professur für Moraltheologie an der Universität Fribourg, Schweiz. Während Nyamitis Interesse immer der Dogmatik galt, wandte sich Bujo der Moraltheologie zu. Nyamiti will dem Ganzen der christlichen Lehre einen afrikanischen Ausdruck geben,
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die Ethnologie ist ihm dabei die „Magd der afrikanischen Theologie“.2 Bujo fragt nach dem afrikanischen Beitrag zur Ethik. Aus unterschiedlichen Perspektiven stoßen sie dabei auf das Problem der afrikanischen Ahnenverehrung und sprechen in der Folge von einer Ahnenchristologie.
1. Jesus Christus, der Bruderahn (Charles Nyamiti)3 Zwar gibt es keine einheitliche Ahnenreligion unter den schwarzafrikanischen Stammesgesellschaften, aber „es gibt genügend Glaubensüberzeugungen, die von den meisten dieser Gesellschaften geteilt werden und [die] es einem ermöglichen, die Existenz eines allgemeinen Ahnenglaubens in Schwarzafrika zu postulieren“ (15). Auf dieser Grundlage nennt Nyamiti zwei Elemente, die für „die afrikanische Ahnenkonzeption“ (ebd.) charakteristisch sind: (1.) „eine natürliche Beziehung zwischen dem Ahnen und seinen irdischen Verwandten“ und (2.) „einen übernatürlichen oder heiligen Status, den der Ahn durch den Tod erlangt hat“ (15). Die natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen können auf Blutsverwandtschaft mit den Eltern, seltener den Geschwistern, beruhen oder in der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Clan, Stamm, einer Geheimgesellschaft o. ä. begründet sein. Um den übernatürlichen oder heiligen Status des Ahnen zu erlangen, muss der Verstorbene einen moralisch einwandfreien Lebenswandel geführt haben,4 damit er seiner künftigen Vorbildrolle gerecht werden kann. Als Ahn ist er Quelle und Hort der Stammestradition. Er nimmt eine Mittlerfunktion zwischen Gott und seinen irdischen Verwandten wahr. Lassen diese es an Aufmerksamkeit ihm gegenüber fehlen, kann das unangenehme Konsequenzen haben. Im Hinblick auf eine christliche Ahnenverehrung unterscheidet Nyamiti vier Typen (143 f.): (1.) die traditionellen Ahnen, die durch Inkorporation in den Leib Christi christlicher Ahnenverehrung teilhaftig werden, (2.) die Heiligen im Himmel und im Purgatorium, die durch ihre Zugehörigkeit zum Leib Christi Bruderahnen der afrikanischen Christen sind, (3.) Jesus Christus, der Bruderahn (Brother-Ancestor) und schließlich (4.) Gott selbst, als Stammvater (Parent-Ancestor) des Menschengeschlechts.
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Übers. 4: Jesus Christus und der afrikanische Bruderahn (Nyamiti) 5 afrikanischer Bruderahn
Jesus Christus Gemeinsamkeiten
Unterschiede
• Blutsverwandtschaft • übernatürlicher Status durch Tod
• Blutsverwandtschaft durch Abstammung von Adam
• Christus transzendiert alle verwandtschaftlichen Beschränkungen durch seine GottMenschheit • übernatürlicher Status durch Tod und Auferstehung
• übermenschliche Kräfte • Vermittlung zwischen Gott und lebenden Verwandten
• übermenschliche Kräfte • Vermittlung zwischen dem Vater und seinen menschlichen Brüdern
• Heilsmittlerschaft
• ethisches Vorbild • Quelle und Hort der Stammestradition
• ethisches Vorbild • Quelle und Hort der christlichen Tradition
• Christus ist die innere Quelle und das lebendige Prinzip des christlichen Lebens
• regelmäßige übernatürliche Kommunikation zwischen Ahnen und Lebenden durch Gebete und rituelle Opfer • Wohltaten seitens der Ahnen
• regelmäßige übernatürliche Kommunikation zwischen Christus und seinen Anhängern durch Gebete und rituelle Opfer (Messe) • Wohltaten durch Christus
• durch den Heiligen Geist • Christus vermittelt das Heil
• bei Vernachlässigung körperliche Beschwernisse • Gebete und rituelle Gaben als Ausgleich
• bei Vernachlässigung körperliche oder spirituelle Beschwernisse • Gebete und rituelle Gaben als Ausgleich
• Sünde gegen Gott – Ruf zur Umkehr
• besucht seine lebenden • besucht seine lebenden AnVerwandten in anderen hänger durch andere LebeLebewesen (Schlangen, wesen (Priester oder andere Hyänen etc.) Mitchristen) • bevorzugte Orte (Bäume; • bevorzugte Orte (Kirche; Friedhöfe) Tabernakel) • gemeinsame leibliche Eltern
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• bestenfalls praeparatio evangelica
• die erste Person der Trinität • göttliche Abstammung ist Vater und Mutter zugleich für Christus und die Glieder seines Leibes
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Obwohl die natürliche Beziehung zwischen den afrikanischen Ahnen und ihren irdischen Verwandten in der Regel auf der Elternschaft beruht, zieht Nyamiti für seine Ahnenchristologie die nach eigenem Eingeständnis seltenere Geschwisterbeziehung heran. Jesus Christus ist der Bruderahn der Menschen. Ein Bruderahn ist der Verwandte einer Person, mit der er gemeinsame Eltern hat, für die er Vermittler zu Gott und Archetyp des Verhaltens ist und mit der er – Dank seines durch den Tod erlangten übernatürlichen Status – regelmäßige heilige Kommunikation pflegt (23).
In dieser Beziehung zwischen dem afrikanischen Bruderahn und seinen irdischen Verwandten sieht Nyamiti eine Strukturverwandtschaft zu jener zwischen Jesus Christus und den Gliedern seines irdischen Leibes. Allerdings sind diese Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. „Christi Bruderschaft offenbart sich als die göttliche Variante ihres afrikanischen Pendants“ (23). Der bleibende Unterschied ist in der Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus und seiner Heilsmittlerschaft begründet. Die natürliche Verwandtschaft über die gemeinsame adamitische Abstammung wird durch die Gott-Menschheit Jesu Christi transzendiert. Das bedeutet aber zugleich, dass Christus faktisch nur dann der Bruderahn der Menschen ist, wenn diese sich im Zustand der durch Adoption erlangten habituellen Gnade befinden (17, 24, 30). Damit ist die für die afrikanische Ahnenkonzeption charakteristische natürliche Verwandtschaft de facto auf einer höheren Ebene aufgehoben. Ähnlich steht es mit dem eingangs genannten zweiten Kennzeichen, der Erlangung des übernatürlichen Status des Ahnen durch den Tod. „Aus der Perspektive seiner Göttlichkeit gesehen, fällt der Ahnenstatus Christi zusammen mit seiner ewigen, immanenten Abstammung“ (25). Aus der Perspektive seiner Menschlichkeit betrachtet, wächst sein Ahnenstatus mit der Inkarnation (27). Der Titel Ahn wird so gewissermaßen synonym für Gottessohnschaft und Inkarnation. Von der afrikanischen Ahnenkonzeption bleibt nur der Name übrig. Nyamiti spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „analogia proportionalitatis, nach der der Begriff [Bruderahn] förmlich mit Christus […] in eins gesetzt wird“.6
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Die sich an diese Analogisierung von Jesus Christus und afrikanischem Bruderahn anschließenden dogmatischen Ausführungen Nyamitis sind trotz gegenteiliger Beteuerungen substanziell unabhängig vom Ahnentitel. Dieser bleibt „formale Übersetzung“ in einem Punkt. Es erscheint mir fraglich, ob sich Nyamitis „Ahnenchristologie“ mit den Kategorien Akkommodation und Inkulturation überhaupt adäquat beschreiben lässt. Weder treten hier afrikanische Ahnenvorstellung und Evangelium in einen inneren Dialog, noch kleidet er Letzteres auch nur in ein afrikanisches Gewand.7
2. Jesus Christus der Proto-Ahn (Bénézet Bujo)8 Bujo ist, wie wir gesehen haben, von Haus aus Moraltheologe. Seine afrikanische Ethik sucht er in einer Ahnen-Christologie zu begründen. In Abgrenzung zu anderen Entwürfen bezeichnet Bujo Jesus Christus als den Proto-Ahn. Dadurch soll der Unterschied zu den afrikanischen Ahnen akzentuiert werden. In diesem Zusammenhang spricht er auch von der Notwendigkeit einer „Kulturbereinigung“ (297) unter Verweis auf die „negativen Seiten der vorchristlichen Religion – Anschauungen, Sitten und Gebräuche –, die mit der christlichen Botschaft unvereinbar sind“ (ebd).9 Im konkreten Fall der Ahnentheologie heißt das, dass nur die guten Ahnen für eine christliche Ahnenverehrung in Betracht kommen. Während diese in den Leib Christi inkorporiert werden, sind die bösen Ahnen „durch den Logos des Kreuzes und der Auferweckung besiegt und in Ketten gelegt“ (301). Niemand braucht sie mehr zu fürchten. Die guten Ahnen aber haben schon in der traditionalen Religion als ethisches Vorbild bzw. Modell10 gedient. Durch das Weitererzählen „der Gesten, Riten und Worte, die den Ahnen eigentümlich waren, wird eine lebendige Erinnerung an diese […] wachgerufen“ (295 f.). Der Ahnenglaube verknüpft die Zeitmodi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in denen die Gemeinschaft der Lebenden mit ihren Toten existiert. Das Leben fließt von Gott über die Ahnen zu den jetzt Lebenden und wird von diesen an die kommenden Generationen weitergereicht. Ist Nyamitis Denken stark durch die Neo-Scholastik geprägt worden, macht sich bei Bujo der Einfluss der neuen politischen Theologie von
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J. B. Metz11 bemerkbar. Unter Rekurs auf dessen Konzept einer narrativen Theologie spricht Bujo von einer memorativ-narrativen Soteriologie, die er dem Ahnenglauben zugrunde liegen sieht. Wenn Jesus Christus der Proto-Ahn ist, Quelle des Lebens und des Glücks, so geht es darum, die memoria seiner passio, mors et resurrectio zu aktualisieren, indem man alle Handlungen des Menschen darauf zurückführt.12
Bujo argumentiert letztendlich erfüllungstheologisch, wenn er postuliert, „dass Jesus Christus das berechtigte Lebensideal der gottesfürchtigen negro-afrikanischen Ahnen nicht nur in vollkommener Weise verwirklicht, sondern dass er es zugleich unendlich transzendiert und zur Vollendung bringt“.13 Theologische Argumentationshilfe meint Bujo in der Höllenfahrt Christi14 zu finden, wie sie das Apostolicum bezeugt. Bereits 1960 zitiert Bengt Sundkler15 den Aufsatz eines Zulu-Theologiestudenten, in dem dieser konstatiert, die Missionare hätten „die der Christianisierung offenstehende Tür verfehlt“, als sie die Verkündigung von Tod und descensio Jesu Christi nicht mit dem afrikanischen Ahnenglauben in Verbindung brachten. Bujo sucht den Ursprung dieser exegetisch auf tönernen Füßen stehenden Lehre vom Descensus ad inferos in der ‚Missionstheologie‘ der Kirchenväter. Die biblische Begründung stützt sich im Wesentlichen auf den 1. Petrusbrief (3,19 f. und 4,6). Es hat in der Alten Kirche, sobald sie mit der Missionierung ganzer heidnischer Völker begann, nicht an Stimmen gefehlt, die den erwähnten Bibeltext im Sinne der Befreiung der Gerechten, die vor Christus gelebt haben, verstanden.16
Als Kronzeugen beruft Bujo sich auf Klemens von Alexandrien und Origenes.17 Bujos vordringliches Interesse gilt der Formulierung einer negro-afrikanisch-christozentrischen Moral,18 seine Ahnenchristologie bleibt beiläufig. Die guten Ahnen werden in den Leib Christi inkorporiert. Jesus Christus als der Proto-Ahn ist der Maßstab für die Kirche wie für die afrikanische Gesellschaft.
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Dennoch zeigt Bujo sich problembewusster als viele der bisher referierten Autoren. (1.) Der Neologismus „Protoahn“ signalisiert bereits die Diskontinuität zu den traditionellen Ahnen. Bujo arbeitet die bei der Übertragung des Ahnentitels auf Jesus Christus notwendige Umwertung klar heraus. (2.) Dem latenten Vitalismus setzt er die Hinwendung Jesu zu den Kranken und Schwachen, den Armen und Unterdrückten entgegen.19 (3.) Während Exponenten der Afrikanischen Theologie wiederholt ungewöhnlich scharfe Kritik an der Schwarzen Theologie geäußert haben,20 plädiert Bujo in seiner Darstellung der afrikanischen Theologie für eine „neue Synthese“ zwischen den beiden Traditionsströmen kontextueller Theologie.21 Er kommt damit dem Anspruch der südafrikanischen Befreiungstheologen entgegen, die sich selbst als Teil der afrikanischen Theologie verstehen. Besinnen wir uns noch einmal auf unseren Ausgangspunkt, John Mbitis hellsichtige Perspektiven von 1967. Im Wesentlichen hat ihm die Entwicklung Recht gegeben. Im Zentrum Afrikanischer Theologie steht der Christus victor. Da, wo das Kreuz wirklich einmal in den Blick genommen wird, erscheint es als Ort der Verherrlichung. Die Afrikaner erklären die Bedeutung des Kreuzes nicht in erster Linie als Opfertat Christi. Das Kreuz ist für sie nicht ein Zeichen der Schande und Erniedrigung, sondern ein Symbol der Vollkommenheit, soweit es das menschliche Leben von Jesus betrifft.22
Durchbrochen wird diese theologia gloriae da, wo das Leiden der Afrikaner an den sozio-ökonomisch und politischen Verhältnissen thematisiert wird. Wenn Christus als Heiler dargestellt wird etwa, besonders aber in der Schwarzen Theologie Südafrikas, die Christus als den Befreier in einem umfassenden Sinne verkündigt. Diesen Faden werden wir in einem späteren Kapitel wieder aufnehmen. In den folgenden Paragraphen gilt es jedoch, zunächst einmal parallelen Denkstrukturen zur Afrikanischen Theologie in den asiatischen Inkulturations- und Dialogtheologien nachzuspüren.
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C. „Ich und der Vater sind eins“ – Christologie im Kontext des Pluralismus asiatischer Kulturen und Religionen
Schöpfung von Sonne und Mond, Batik, 1979 (Nyoman Darsane/Indonesien) Der Künstler porträtiert Christus als den Schöpfungsmittler, der vor dem Vater tanzt. Nyoman Darsane, der in jungen Jahren gemeinsam mit einem balinesischen Prinzen als Hindu erzogen wurde, schöpft hier ikonographisch aus der Bilderwelt des Hinduismus. Shiva, der kosmische Tänzer, ist zugleich Schöpfer, Erhalter und Zerstörer des Universums, er kann die Menschen in Unwissenheit halten oder sie zur Erkenntnis führen. Darstellungen dieses tanzenden Gottes sind in der hinduistischen Kunst allgegenwärtig. Darsane hat sich anregen lassen von dem Gedanken der getanzten Schöpfung. Die Ambivalenz der Gestalt Shivas hingegen, der Schöpfer und Zerstörer in einem ist, passt nicht zu seinem Christusbild. Wie zum Spiel lässt der tanzende Christus den lichten Ball der Sonne aus seiner linken Hand gleiten. Gebannt blickt er direkt in die Quelle des Lichts. In seiner rechten Hand schält sich aus einem Erdklumpen schon die Sichel des zunehmenden Mondes. Der Tanzende holt mit seinem ganzen Körper Schwung, um im nächsten Moment den Mond in die Höhe zu werfen. Nichts Schwerfälliges haftet an dieser Bewegung – sie ist von großer Anmut. Sein weißes Lichtgewand, ein einfaches Hüfttuch, und sein Haarschopf flattern im Hauch des Geistes. Alles ist in den gleißenden Schein der Sonne getaucht, die Gottes Licht über die Schöpfung erstrahlen lässt.
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§ 7 Christologie im Kontext des Hinduismus M. M. Thomas und Stanley J. Samartha (Indien)
1. Theologische Existenz im neuen Indien Mit M. M. Thomas (1916–1996) und Stanley J. Samartha (1920–2001) wenden wir uns zwei der großen alten Männer der indischen Theologie zu. Ihre theologischen Biographien sind mit den Emanzipationsbestrebungen der Christenheit im postkolonialen Indien und der ökumenischen Bewegung gleichermaßen eng verknüpft. Madathilparampil Mammen Thomas wurde 1916 in Travancore geboren.1 Der Vater war ein kleiner Angestellter, die Mutter Lehrerin. Seine Familie gehört der Syrischen Mar-Thoma-Kirche an.2 In dieser Frömmigkeitstradition erzogen, engagierte der Sohn sich früh im Leben der Kirche, darin dem Vorbild der Eltern folgend. Während der College-Ausbildung in Trivandrum (1931–1935) kam er neben seiner Tätigkeit für den Jugendverband der Mar-Thoma-Kirche auch in ersten Kontakt mit der christlichen Studentenbewegung (Student Christian Movement – SCM). Nach einem Abschluss in Chemie (1935) arbeitete er zunächst zwei Jahre lang als Lehrer, bevor er sich auch beruflich ganz der kirchlichen Arbeit verschrieb. Am christlichen Institut in Alleppey übernahm er den Bereich Liturgie. In der Arbeit dieses Instituts unter der Leitung von Sadhu Mathai (1985–1971) wurden bereits früh interreligiöser Dialog und soziales Engagement miteinander verknüpft. Nach nur einem Jahr ging Thomas jedoch zurück nach Trivandrum, wo er, inspiriert von Sadhu Mathai, ein Heim für Straßenkinder aufbaute und mit der städtischen Sozialarbeit kooperierte. Obwohl Thomas seine Arbeit interreligiös angelegt hatte, unterstellten die staatlichen Stellen ihm, er wolle sie zur Evangelisierung nutzen. An diesem Dissens scheiterte das Projekt schließlich. In den folgenden Jahren arbeitete Thomas in wechselnden Verantwortungsbereichen in der christlichen Jugend- und Studentenarbeit, unterbrochen durch einen einjährigen Studienaufenthalt in Bangalore (1941/42). Unter Anleitung des Pfarrers und Gandhi-Gefolgsmanns R. R. Keithahn (1898–1984) studierte er die Beziehung von Christentum und Kommunis-
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mus im Kontext des indischen Nationalismus. Sein daraus resultierendes Ansinnen, in die kommunistische Partei einzutreten und gleichzeitig ordiniert zu werden, wurde von den zuständigen Gremien gleichermaßen abgelehnt, wenn auch aus gegensätzlichen Gründen. Thomas hatte sich damit gewissermaßen zwischen alle Stühle gesetzt. 1945 berief die Kirchenleitung ihn jedoch zum ersten hauptamtlichen Jugendsekretär der Mar-Thoma-Kirche. Bereits zwei Jahre später avancierte er zum Asien-Sekretär und 1949 auch zum stellvertretenden Vorsitzenden des Christlichen Studentenweltbundes (World Student Christian Federation – WSCF; 1947–1953); seine internationale Karriere nahm ihren Lauf. Dies bedeutete für Thomas allerdings die zeitweilige Trennung von seiner Frau Pennamma, die mit ihrem neugeborenen Sohn in Indien zurückblieb. Mit einem ÖRK-Stipendium ausgestattet, verbrachte der Laientheologe Thomas 1954 ein Sabbatjahr am Union Theological Seminary in New York, wo er sich vornehmlich dem Studium der Sozialethik bei Richard Niebuhr, Paul Tillich und John C. Bernett, seinem dortigen Betreuer, widmete. Die Genfer Weggefährten und Förderer hofften, er würde nach seinem akademischen Jahr für neue Aufgaben in der ökumenischen Bewegung zur Verfügung stehen. Thomas entschied sich jedoch für die Rückkehr nach Indien. Obwohl es kein konkretes Angebot gab und er sich einige Jahre mit wechselnden Arbeitsaufträgen durchschlagen musste, wollte er sich dennoch seinem Kontext nicht zu sehr entfremden. Seine Arbeitsschwerpunkte bildeten weiterhin die Probleme des raschen sozialen Wandels und der sozialen Revolution sowie die Frage der christlichen Partizipation am Prozess des nationalen Aufbaus (nation building). Im Frühjahr 1957 wurde das Christliche Institut für das Studium von Religion und Gesellschaft (Christian Institute for the Study of Religion and Society – CISRS) gegründet, ein Zusammenschluss verschiedener Programme des Nationalen Kirchenrates. Paul D. Devanandan (1901–1962)3 wurde sein erster Direktor (1956–1962) und Thomas zu dessen Stellvertreter (Associate Director) bestellt. Ihm sollte auch die Herausgeberschaft der neugegründeten Zeitschrift Religion and Society4 obliegen. In der Aufgabenstellung des Instituts fließen die beiden zentralen Themen der indischen Theologie dieser Jahre zusammen, die Rolle der christlichen Kirchen im Prozess des nationalen Aufbaus und der Dialog mit den
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neu erwachten Religionen, insbesondere der Hindu-Renaissance. Bisher stärker an sozialethischen und gesellschaftspolitischen Fragen interessiert, gab Thomas seine anfängliche Skepsis gegenüber dieser Kombination unter dem Einfluss des Dialog-Theologen Devanandan rasch auf. Davon zeugt nicht zuletzt sein großes Buch über die christologischen Versuche der neo-hinduistischen Reformdenker (1969).5 Ohne für sich selbst einen Übertritt zum Christentum notwendig in Erwägung zu ziehen, hat sich hier gleich eine ganze Reihe hinduistischer Intellektueller mit der Person Jesu Christi auseinandergesetzt. Ein Phänomen, dem fast zeitgleich mit Thomas auch Stanley J. Samartha ein Buch gewidmet hat.6 Das CISRS, dessen Direktor Thomas nach Devanandans Tod war (1962–1975), wurde ihm zur Basis für sein vielfältiges ökumenisches Engagement, das in seiner Wahl zum Zentralausschussvorsitzenden des ÖRK für die Legislaturperiode von 1968–1975 gipfelte. 1990 machte Thomas noch einmal von sich reden, als er in hohem Alter zum Gouverneur von Nagaland, einer Provinz mit hohem Anteil an Christen unter der Stammesbevölkerung (Adivasi), gewählt wurde. Eine Position, die er aufgrund der politischen Spannungen allerdings nur kurze Zeit bekleiden sollte.7 Stanley Jedidiah Samartha8 kam 1920 als ältester Sohn einer eng mit der Basler Mission verbundenen christlichen Familie in dem Dorf Karkal im Kanara Distrikt (heute Karnataka) zur Welt. Sein Vater Lucas Jonathan Samartha (1891–1959) verbrachte seine Kindheit in einem Waisenhaus der Basler Mission, studierte an ihrem Theologischen Seminar in Mangalore und war dann Zeit seines Lebens in unterschiedlichen Positionen als Evangelist, Rektor einer Grundschule, Pfarrer und schließlich als Hausvater des Waisenhauses, in dem er aufgewachsen war, für sie tätig. Stanleys Mutter Sahadesi (1901–1982) arbeitete als Grundschullehrerin. Stanley besuchte zunächst die Oberschule der Basler Mission (1933–1937), absolvierte eine vierjährige College-Ausbildung (1937–1941) und begann sein Theologiestudium am UTC in Bangalore (1941–1945). Wie M. M. Thomas, dem er im Übrigen in diesem Zusammenhang erstmals begegnete, war auch Samartha früh in Kontakt mit dem SCM gekommen. 1940 wurde er zum SCM-Sekretär für Mangalore gewählt.
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Es mag sein, dass es der SCM war, der mich sehr früh lehrte, dass das christliche Leben pluralistisch gelebt werden kann, wie das religiöse Leben in unserem Land ja immer pluralistisch gewesen ist, sowohl in der Vision als auch in der Realität.9
Das anschließende Vikariat (Assistant pastor) absolvierte Samartha in Udipi, einem berühmten hinduistischen Pilgerzentrum (1945–1947). Er gab Bibel-Unterricht an der Oberschule der Basler Mission. Hier lernte er auch seine Frau Edna Iris Furtado kennen, die er 1947 heiratete. Aus der Ehe sind drei Kinder hervorgegangen. 1947 wurde Samartha als Dozent (lecturer) an das Seminar der Basler Mission nach Mangalore berufen. Hinter den Kulissen war er eine der treibenden Kräfte bei dessen Anschluss an die Serampore Universität. Durch Fürsprache von P. D. Devanandan, seines früheren Lehrers am UTC, der zu dieser Zeit Gastprofessor am Union Theological Seminary, New York war (1947/48), erhielt Samartha ein Stipendium für die USA (1949–1952). Er studierte am Union bei Paul Tillich und Reinhold Niebuhr. Nach dem Magisterabschluss (1950) mit einer Arbeit über das hinduistische Geschichtsverständnis bei Radhakrishnan,10 die von Tillich betreut wurde, bekam Samartha ein Stipendium der Hartford Seminary Foundation, wo er sich für den Doktorkurs einschrieb. Auf Einladung der Basler Mission konnte er noch sechs Monate in Basel u. a. bei Karl Barth und Oscar Cullmann studieren. Hier traf Samartha auch Hendrik Kraemer, der seinerzeit Direktor des Ökumenischen Instituts in Bossey war. Nach drei Jahren intensiver Studien kehrte Samartha 1952 als Rektor an das Theologische Seminar in Mangalore zurück. 1958 legte er seine Doktorarbeit über das Geschichtsverständnis des Hinduismus vor.11 Es folgte ein Ruf an das UTC in Bangalore (1960–1966) auf den Lehrstuhl von P. D. Devanandan, der ihn auch als Berater des benachbarten CISRS konsultierte. Eher als eine Zwischenstation sieht Samartha im Rückblick seine Zeit als Direktor des Serampore College (1966–1968) an. Bei der Kandy-Konsultation des ÖRK zum „Dialog mit Menschen anderen Glaubens“ (1967) wurde Victor E. W. Hyward, der Sekretär der Abteilung für Mission und Evangelisation, auf Samartha aufmerksam. Im folgenden Jahr holte er ihn als außerordentlichen Sekretär (Associate Secretary) nach Genf. Er sollte der ins Stocken geratenen Arbeit an der
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ÖRK-Studie „Das Wort Gottes und der moderne nichtchristliche Glaube“12 neue Impulse geben. Unter seiner Ägide wurde daraus das Dialogprogramm, das 1971 als eigene Unterabteilung (Sub-unit of Dialogue with People of Living Faiths and Ideologies) mit ihm als erstem Direktor installiert wurde. Samartha hat gemeinsam mit dem Vorsitzenden der neugegründeten Abteilung, Hans Jochen Margull, Professor für Missionswissenschaft und Ökumenik in Hamburg, wesentlichen Anteil an der Formulierung der 1979 vom Zentralausschuss nach langem Ringen angenommenen „Leitlinien zum Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien“,13 der bis heute gültigen Position des ÖRK zur Dialog-Problematik.14 Sein Lebensthema, der Dialog mit den anderen Religionen, ließ ihn auch nach seiner Rückkehr nach Indien nicht los. Als Gastprofessor am UTC und Berater des CISRS meldet er sich weiterhin zu Wort. M. M. Thomas hat bei seinem Alter Ego stets die Vernachlässigung des Zusatzes „… und Ideologien“ im Namenszug der Dialogabteilung moniert, hier zugleich Chiffre für die sozio-ökonomisch und politische Dimension des Kontextes.15 Umgekehrt ist Thomas für Samartha in Fragen des interreligiösen Dialogs nicht weit genug gegangen. Während Thomas sich jedoch dem Dialog mit dem Hinduismus geöffnet hat, ist der vier Jahre jüngere Stanley J. Samartha im Grunde seines Herzens immer Dialogtheologe geblieben, auch wenn er die Berechtigung der sozialen Fragestellung konzediert. Positiv gewendet sind ihre theologischen Beiträge also in gewisser Hinsicht komplementär, darin jeder auf seine Weise Schüler ihres gemeinsamen Förderers Devanandan. Einladungen zu Gastvorträgen und -professuren im In- und Ausland und die Verleihung von Ehrendoktorwürden16 zeugen von der internationalen Anerkennung dieser beiden Gründergestalten der indischen Theologie nach der Unabhängigkeit.
2. Christus-zentrierter Humanismus und Synkretismus (M. M. Thomas) M. M. Thomas ging es von Anbeginn seines theologischen Denkweges weniger um die materiale Formulierung einer genuin indischen Christologie als vielmehr um eine christologische Überformung des im „Universum der
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Glaubensweisen“17 und der „säkularen Ideologien“18 Indiens angelegten Pluralismus. Er war dazu bereit, „Christus um Christi Willen zu riskieren“, so das provokante Motto eines seiner letzten Bücher.19 Persönlich gefestigt wusste er sich dafür in seinem Glauben an Kreuz und Auferstehung Jesu Christi.20 Ähnlich wie in den Befreiungstheologien fallen auch für Thomas Heilsgeschichte und Weltgeschichte in eins.21 Das Kreuz bzw. die in Jesus offenbarte, sich selbst entäußernde, erlösende Liebe Gottes ist die zentrale Dynamik der Geschichte.22
Das Kreuz ist für Thomas jedoch nicht nur das Movens der Geschichte, sondern zugleich auch der hermeneutische Schlüssel, um das Handeln Jesu Christi in der Geschichte zu erschließen. Christus bedient sich zu diesem Zweck weltlicher und nichtchristlicher Kräfte. Der Gedanke, Christus wirke nur durch die Kirche und die Christen, ist töricht und unsinnig. Aber die Kirche und die Christen sind es, die in den Bestrebungen und Ereignissen unserer Zeit Christus erkennen können.23
In einer geschichtstheologischen Konzeption bindet Thomas das Kreuz in den Spannungsbogen von „Schöpfung, Sündenfall und Erlösung“24 ein. Von hier aus wäre es nur noch ein kleiner Schritt hin zu einer theologischen Untermauerung dieser Geschichtsschau mit der Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi und damit zur kosmischen Christologie gewesen. Die Lehre vom kosmischen Christus wurde im Gefolge der dritten Vollversammlung des ÖRK in New Delhi 1961 im ökumenischen Diskurs virulent, angeregt durch einen Vortrag von Joseph Sittler, einem Systematiker aus Chicago.25 Thomas streift dieses Thema in seinem in New Delhi gehaltenen Grundsatzreferat jedoch nur en passant und greift auch später nicht darauf zurück. Entsprechend knapp ist auch die christologische Begründung in seinem New Delhi-Beitrag gehalten. Er konstatiert zunächst, „dass das Evangelium von Jesus Christus nicht mit irgendeiner bestimmten Kultur, politischen Ordnung, sozialen Ideologie oder einem moralischen System identifiziert werden sollte.“26 Dass Thomas seinerseits dennoch nach Spuren des Geschichtshandelns Gottes sucht, begründet er mit der universalen
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Heilswirksamkeit Jesu Christi, die „sozial und kosmisch“ ist, und der daraus resultierenden Lehre von der Königsherrschaft Christi. Zu einer weiteren materialen Ausformulierung sieht er offenbar keine Notwendigkeit. Obwohl Thomas in seinem Vortrag selbst auf den Missbrauch geschichtstheologischer Konzeptionen im Dritten Reich anspielt und sich davon abgrenzt,27 wurde er von Hans Heinrich Wolf scharf angegangen und in die Nähe der Deutschen Christen gerückt.28 Gegenüber solch „neoorthodoxer Nervosität“29 seiner Kritiker beruft Thomas sich auf Barth selbst. So seltsam es erscheinen mag, die dialektische Theologie von Karl Barth, Emil Brunner und Hendrik Kraemer, die die Transzendenz des Wortes und der Tat Gottes in Jesus Christus gegenüber allen Religionen und Quasi-Religionen der Menschheit betont, hat die Grundlage für eine radikale Relativierung aller Religionen einschließlich des Christentums und selbst des Atheismus geschaffen. Und ihre Sicht Jesu Christi als die Menschlichkeit (humanism) Gottes, der die ganze Menschheit in Jesus Christus verwirft und erwählt, weist auf eine transzendente Macht, die sie alle erneuern kann. 30
Mit seinem Glauben an die christologische Transformierbarkeit der Kulturen und Religionen steht Thomas H. R. Niebuhr nahe. Christus durchwirkt die Kulturen und Religionen und macht sie dadurch zugleich für christologisches Reden anknüpfungsfähig. Heute erkennen wir weltweit die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit, dass Jesus Christus in verschiedenen Kulturen Gestalt annimmt und sie von innen heraus reformiert. Wir müssen erkennen, dass Christus die Kultur des westlichen Christentums transzendiert und dazu in der Lage ist, sich kreativ zu anderen Kulturen in Beziehung zu setzen. Da Kulturen in ihrem Innersten traditionell von ihren jeweiligen Religionen geformt sind, muss die Idee der Transzendenz Christi auf die Religionen ausgeweitet werden. […] Wir erkennen daher die theologische Berechtigung der Versuche an, die Bedeutung des Kreuzes in der Begrifflichkeit der einheimischen religiösen Traditionen auszudrücken. In diesem Prozess werden die einheimischen Traditionen selbst erneuert und zum Vehikel für Christus.31
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Entsprechend ist die Christologie für Thomas inneres Strukturprinzip und Kriterium der Geschichte zugleich. Vor diesem Hintergrund ist Thomas’ programmatischer Aufsatz über Christuszentrierten Humanismus und Synkretismus zu lesen, den ich nun näher analysieren werde. 32 Durch die Formulierung „Christus-zentriert“ will Thomas den kontroversen Begriff der „Absolutheit des Christentums“ ablösen, der in der ständigen Gefahr steht, jegliche Konzeptionen von Welt bzw. Schöpfung und menschlicher Geschichte ad absurdum zu führen. Wir können dann von anderen Realitäten der Welt und des Lebens als real sprechen, weil sie in Jesus Christus ihr Zentrum haben. Selbst den unterschiedlichen Erklärungsmodellen der Welt und des Lebens, also den anderen religiösen und säkularen Glaubensweisen, muss nicht ihr Wert abgesprochen werden, solange sie im Licht der Zentralität Christi neu definiert oder transformiert werden können (387).
Sein Engagement für die Bewältigung sozio-ökonomisch und politischer Problemstellungen begründet Thomas theologisch in einem „Christuszentrierten Humanismus“ (391).33 Parallel dazu plädiert er im Hinblick auf die kulturell-religiöse Dimension für einen „Christus-zentrierten Synkretismus“ (387 u. ö.).34 Die letztgenannte Wortkombination impliziert eine Rehabilitierung des negativ besetzten Begriffs Synkretismus, den er religionsphänomenologisch neutral verstanden wissen will. Thomas rekurriert auf Hendrik Kraemers Klassiker „Die Christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt“.35 Einst in Vorbereitung der Weltmissionskonferenz in Tambaram 1938 geschrieben, ist dieses Buch von nachhaltigem Einfluss auf die bisherige Debatte gewesen. Kraemer habe Synkretismus zwar als „illegitime Vermischung unterschiedlicher religiöser Elemente“ (389) definiert, diesen aber ursprünglich als Gegenbegriff zu „Adaptation“ eingeführt. Mit Adaptation beschreibt dieser die auch von ihm als notwendig erkannten Übersetzungsprozesse in Kontexte, die von den nichtchristlichen Religionen geprägt sind. Kraemer konzediert ausdrücklich die Legitimität verschiedener „Inkarnationen“ des Christentums.
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Rezipiert wurde jedoch nur die negative Sicht des Synkretismus. Kraemers Einsicht in die Notwendigkeit von Adaptationsprozessen wurde vom „Kraemerismus“ seiner Nachfolger unterschlagen. Thomas versteht den von ihm propagierten „Christus-zentrierten Synkretismus“ dezidiert als eine „Post-Kraemer-Theologie der interreligiösen Beziehungen“ (388). Leiten lässt er sich dabei von seiner spezifisch indischen Erfahrung. Durch das christliche Engagement im Prozess des nationalen Aufbaus ergab sich eine Kooperation mit Menschen und Gruppen anderer religiöser Traditionen auf dem sozio-ökonomisch und politischen Sektor. Auch hatte sich der Neo-Hinduismus, wie wir gesehen haben, dem Christentum bereits geöffnet. Seine Form ist „eher [als] eliptisch, mit zwei Brennpunkten in Spannung, als kreisförmig mit einem Zentrum“ (391) zu beschreiben. An den Christusdarstellungen der Hindu-Renaissance hat Thomas exemplarisch den Sitz im Leben des Christus-zentrierten Synkretismus skizziert. Entsprechend sieht er „alle Religionen und Kulturen […] in verschiedenen Stadien der Desintegration und Reintegration“ (392) befindlich. Die Adaptation des Christentums ist in diesem Kontext ein offener Prozess. „Synkretismus mit einem Gespür für die christliche Richtung ist alles, was wir jetzt erreichen können (392).“ Damit hebt Thomas die Kraemersche Unterscheidung zwischen Adaptation und Synkretismus auf. Synkretismus bezeichnet für ihn gerade den notwendigen Prozess der Adaptation in einem multireligiösen Kontext. Die Verwendung des Begriffs „Adaptation“ ist allerdings obsolet.36 Thomas betont selbst die Dynamik und Reziprozität der von ihm beschriebenen Prozesse: Der Begriff ‚Übersetzung‘ ist zur Bezeichnung der Inkarnationen des Christentums in afrikanischen und asiatischen Kulturen nicht angemessen. Damit Inkarnation wirklich stattfinden kann, bedarf es einer Wechselwirkung zwischen dem Evangelium und dem existentiellen Selbstverständnis der asiatischen und afrikanischen Kulturen. Es ist ein kreativerer Prozess als einfach nur ‚Übersetzung‘ (395).
Trotz solcher Problematisierungen ist bei Thomas insgesamt eine große terminologische Unschärfe zu monieren. Adaptation bzw. Akkommodation, der von mir für den hier gemeinten Sachverhalt bevorzugte Ter-
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minus, bezeichnet ein Modell zur Beschreibung der bei der Begegnung von Evangelium und Kultur ablaufenden Prozesse. Interreligiöser Dialog ist ein offenes Geschehen zwischen Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Religionen, ob auf der Ebene des sogenannten gelebten Dialogs (living dialogue) im täglichen Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit oder in institutionalisierten Dialogen. Davon noch einmal grundsätzlich zu unterscheiden ist Mission.37 Wenn Thomas von „Christus-zentriertem Synkretismus als dem Ziel des interreligiösen Dialogs“ (387) spricht, dann sind für ihn Mission und Dialog doch wohl die gleiche Sache. Thomas scheint ähnlich wie Karl Rahner mit seiner Rede von den „anonymen Christen“38 davon auszugehen, dass alle Religionen und Ideologien immer schon um Jesus Christus zentriert sind. Eine materiale Christologie entfaltet er nicht. Sein Anliegen ist eher fundamentaltheologisch zu nennen, wenn er „das theologische Kriterium und Ziel des Zusammentreffens des Christentums mit anderen Religionen und säkularen Ideologien“ (ebd.) formulieren will. Christuszentrierter Synkretismus ist ein hermeneutisches Konzept, kein christologisches Programm.
3. Theozentrische Christologie (Stanley J. Samartha) Während Thomas zeit seines Lebens ein überzeugter Inklusivist geblieben ist, neigte Samartha zunehmend der pluralistischen Religionstheologie zu.39 Eeuwout Klootwijk hat in seiner Utrechter Dissertation den Nachweis geführt, dass Samartha in seinem theologischen Denken „von einer christozentrischen zu einer theozentrischen bzw. Geheimnis-zentrierten (mystery-centered) Position gegenüber dem religiösen Pluralismus umgeschwenkt“ ist.40 Geleitet wurde Samartha dabei von der Einsicht in die Unvermittelbarkeit christlicher Absolutheits- bzw. Exklusivitätsansprüche im Kontext des religiösen Pluralismus Indiens. In keinem anderen Land klingt der Absolutheitsanspruch für eine bestimmte religiöse Tradition oder die Behauptung, ein bestimmter Glaube sei normativ für andere, so unverschämt, deplatziert und theologisch arrogant wie in Indien.41
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Ohne einem völligen Bruch mit der westlichen theologischen Tradition seitens der indischen Theologie das Wort reden zu wollen, plädiert Samartha doch für eine christliche Rezeption der „Hindu-Antwort auf den religiösen Pluralismus“.42 Bereits in seinem Buch über die Christologie des Neo-Hinduismus43 hatte er in seinem Bestreben, die Grundlinien einer indischen Christologie zu skizzieren, eine klare Präferenz für die advaita-Philosophie Shankaras erkennen lassen.44 Die Upanishaden45 gelten Samartha „als protestantische Bewegungen innerhalb des Hinduismus […], die das Wesen der Religion auf der einen Seite aus der Autorität der Priester und auf der anderen aus erstarrten Glaubensauffassungen und religiösen Übungen zu befreien trachten“ (168). In der Interpretation Shankaras haben sie ihre größte Klarheit entfaltet, „indem er Gott, Welt und Mensch in einen einzigen Begriff der Einheit [advaita] zusammenfasste“ (169). Samartha beruft sich zur Legitimierung seines Vorgehens auf die Urkirche, die bei der ersten Überschreitung einer kulturellen Grenze ihrem Glauben „in den Begriffen der griechischen Philosophie“ (166) Ausdruck verlieh. Durch die Aufnahme „des advaita in seinem klassischen wie in seinem modernen Verständnis“ (147) in der Hindu-Renaissance, will Samartha dem Glauben an Jesus Christus im indischen Pluralismus Raum schaffen und den überkommenen Absolutheitsanspruch des Christentums überwinden. Mit dieser Grundentscheidung für den advaita als Referenzrahmen, sind die Weichen für seinen weiteren Denkweg gestellt. Er zeigt dabei anfangs durchaus noch ein Bewusstsein für den hermeneutischen Zirkel: Christologie und advaita sollen sich wechselseitig korrigieren. Die Erkenntnisse des christlichen Glaubens an Jesus Christus als Herrn und Erlöser würden dazu verhelfen, im Gebäude der Hindu-Spiritualität den Sinn für das Personhafte, für das Geschichtliche und für das Gesellschaftliche wieder zu entdecken (169).
Wenn das Christentum die Dimension des Geschichtlichen an die hinduistische Vorstellungswelt heranträgt, transzendiert die Begegnung mit dem Hinduismus umgekehrt gerade diese Geschichtlichkeit durch die „Erkenntnis von der umfassenderen Einheit des ganzen Lebens“ (169).
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In seinem Spätwerk One Christ – Many Religions46 setzt Samartha dem normativen Exklusivismus die „relationale Unterscheidbarkeit“ Jesu Christi entgegen. Sie ist relational, weil Christus nicht ohne Beziehung zu den Nachbarn anderen Glaubens bleibt, und unterscheidbar, weil ohne die Anerkennung der Unterscheidbarkeit der großen religiösen Traditionen als unterschiedliche Antworten auf das Geheimnis Gottes keine gegenseitige Bereicherung möglich wäre (77).
Entsprechend der Lehre von der Nicht-Zweiheit (advaita, 108) wendet er sich gegen eine Anrede Jesu Christi als Gott (123 u. ö.). Soweit seien die Autoren des Neuen Testaments nie gegangen.47 „Jesus selbst war theozentrisch“ (87), und analog will Samartha von einer „theozentrischen Christologie“ (86) sprechen. Zwar gibt es keine Christologie ohne Theologie, die Umkehrung des Satzes aber gilt nicht. Auch andere religiöse Traditionen haben Theologien, ohne dass sie notwendigerweise eine Christologie ausbilden. Samartha sucht die Einheit der Wirklichkeit im Geheimnis Gottes zu begründen und löst dabei konsequent auch noch die personale Gottesvorstellung auf: „Das Geheimnis liegt jenseits der theistisch/nicht-theistisch Debatte“ (83). Das von M. M. Thomas propagierte Kriterium der Christus-Zentriertheit greift bei Samartha nicht. Ohne sich der gängigen Hindu-Praxis anzuschließen, die Jesus als die Inkarnation eines Gottes (avatara) neben andere avataras stellt, konstatiert Samartha doch, dass es im religiösen Pluralismus Indiens unumgänglich sei, dass Jesus Christus mit anderen „Heilanden“ verglichen wird. Exemplarisch zieht er Buddha, Rama und Krishna heran: „es kann heute keine glaubwürdige Christologie mehr geben, ohne zu versuchen, ihre theologische Essenz, aber auch ihre religiöse Bedeutung und ethische Leitfunktion für Millionen von Menschen zu verstehen“ (125). Samartha nennt abschließend drei Vergleichspunkte (130 f.), die ich hier in Paraphrase wiedergebe: • Offenbarung und Befreiung stehen im Leben und Werk jeder dieser drei Persönlichkeiten in einem unmittelbaren Zusammenhang. • Exklusivistische Tendenzen werden im Großen und Ganzen vermieden.
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• Die Entwicklung von ursprünglicher Menschheit zu späterer Gottheit vollzieht sich über einen längeren Zeitraum und hat generell ein offenes Ende. Den direkten Vergleich mit Jesus Christus vermeidet Samartha. Doch lässt dieser sich ohne Weiteres aufgrund seiner sonstigen Äußerungen ergänzen: • Der enge Zusammenhang zwischen Offenbarung und Befreiung besteht auch bei Jesus Christus (89 f.). • Den im Christentum verbreiteten normativen Exklusivismus will Samartha gerade durch die Auseinandersetzung mit der nach seiner Einschätzung im Umgang mit anderen Religionen offeneren Hindutradition aufbrechen (76 f.). • In der biblisch seiner Meinung nach nicht explizit zu belegenden Verehrung von Jesus Christus als Gott sieht er die Wurzel des christlichen Absolutheitsanspruchs (123 f.). Was aber macht demgegenüber für Samartha dann die Unterscheidbarkeit (distinctiveness) Jesu Christi aus? Seine eigenwillige Interpretation der Inkarnation als Selbstrelativierung Gottes in der Geschichte (76) kann nur in eine Sackgasse münden. Das kommunikative und hermeneutische Potenzial, das gerade in dem theologischen Denkmuster der Kenosis angelegt ist, wird ohne Not verschenkt. Gott relativiert sich nicht in der Inkarnation, er setzt sich in Relation zur Welt. Gleichzeitig ist uns mit seiner Offenbarung in Jesus Christus der hermeneutische Schlüssel zu seinem Geschichtshandeln an die Hand gegeben. Samartha vergibt die Chance, die von ihm propagierte „Relationalität“ Jesu Christi in der Inkarnation zu begründen, weil er sie als „Relativierung“ missversteht. Aber auch der früher von ihm gewiesene Weg über Kreuz und Auferstehung48 endet nun auf einem weiten Feld: „Kreuz und Auferstehung müssen daher im größeren Horizont des Handelns des Schöpfer- und Erlösergottes interpretiert werden. Christologie ist mehr als Soteriologie und Theologie mehr als Christologie“ (137). Dass Christologie und Schöpfungslehre miteinander vermittelt werden müssen, ist unbestritten. Die Lehre vom kosmischen Christus, mit der auch Samartha anfangs noch sympathisierte,49 bietet hierfür gerade im asiatischen Kontext gute Ansatzpunkte. Samartha schießt in seinem Abgrenzungswillen gegen einen Christozentrismus jedoch weit übers Ziel hinaus.
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Hatte er früher noch deutliche Vorbehalte gegen die Bezeichnung Christi als avatara50 vorgetragen,51 konstatiert er jetzt: Die Theorie mehrerer avataras scheint die theologisch angemessenste in einem pluralistischen Umfeld zu sein. Sie erlaubt, sowohl das Geheimnis Gottes anzuerkennen als auch die Freiheit der Menschen, auf religiöse Initiativen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich zu reagieren (131).
Die Christologie zerrinnt ihm trotz aller anderslautenden Beteuerungen zwischen den Fingern. Übrig bleibt Jesus von Nazareth als ein avatara neben anderen.52 Während bei M. M. Thomas die Christologie gewissermaßen zu einem hermeneutischen Werkzeug wird, um die christliche Identität im Pluralismus der asiatischen Religionen zu bewahren, löst sie sich bei Samartha in dem von ihm gewählten hermeneutischen Bezugsfeld, der advaita-Philosophie Shankaras, auf.
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§ 8 Christologie im Kontext des Buddhismus Katsumi Takizawa und Seiichi Yagi (Japan)
1. Konversionen auf der Grenze von Buddhismus und Christentum Zwischen Katsumi Takizawa (1909–1984) und Seiichi Yagi (geb. 1932) liegt altersmäßig der Abstand einer Generation. Zudem stehen sie in gewisser Weise in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis. In ihrer theologischen Existenz jedoch gehören beide, bedingt durch die Zeitumstände, noch zur selben Generation. Der Ältere wurde am 8. März 1909 in Utsunomiya bei Tokyo als sechstes Kind des Lackwarenhändlers Saichi Takizawa geboren. Er hatte zwei Brüder und drei Schwestern. Seine Eltern stammen aus einem Bergdorf im Zentralland von Honshu, der japanischen Hauptinsel. Ursprünglich Zen-Buddhisten, wandten sie sich später der nationalistischen Hokkeshu-Sekte1 zu. Seiichi Yagi kam 1932 in einer christlichen Familie in Yokohama zur Welt. Sein Vater gehörte zum Kreis um Kenzo Uchimura (1861–1930).2 Nachdem sich Takizawa, dem Wunsch seines Vaters folgend, zunächst an der juristischen Fakultät der Tokyo-Universität eingeschrieben hatte (1927), wechselte er ein Jahr später an die kaiserliche Kyushu-Universität in Fukuoka, um fern der Ablenkungen der Hauptstadt Philosophie zu studieren. Er beschreibt selbst, wie ihn bereits als Zwölfjährigen die Frage nach dem menschlichen Sein befiel: Als ich noch sehr jung, ungefähr zwölf Jahre alt war, sah ich auf dem Rückweg von meinem Gymnasium, das weit entfernt von unserer Stadt auf dem Land lag, einen alten Bauern, der eine kleine Wassermühle mit nackten Füßen trat, um die Kartoffeln darin zu waschen. Es war ein heißer Nachmittag, wie immer im Spätsommer bei uns. Und es war eine Landschaft, die mir vertraut war. Trotzdem kam mir plötzlich der wunderliche Gedanke, aus welchem Grunde letzten Endes jener Greis seine Arbeit fortsetze. Die Sonne schien hell, und der Weg nach Hause lag da wie immer. Gleichwohl war mir, als sei ich – ich wusste nicht wie – in den tiefen, unbekannten Wald versetzt, von dichtem Nebel umgeben und stünde ganz allein
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da. Bald ging ich weiter den Weg nach Hause. Ich wollte den wunderlichen Augenblick nicht lange im Sinn behalten. Aber sein Nachklang entschwand mir nicht, sondern wurde immer größer, bis ich nicht mehr von der Frage loskommen konnte: Wo bin ich eigentlich? Woher bin ich gekommen? Wohin werde ich schließlich gehen? Seitdem verlor für mich das Leben sozusagen seine Realität und seinen Sinn. Ich konnte nicht mehr arbeiten, ohne insgeheim das Gefühl eines zwecklosen Strebens zu haben. Wenn ich mit meinen Freunden sprach, war mir immer zumute, als wäre ich durch ein dickes Glas von ihnen geschieden.3
Das Jurastudium hatte ihm keine Antwort zu geben vermocht. Im Gegenteil, die Unbekümmertheit, mit der seine Professoren anscheinend ohne jegliche Reflexion über die Grundlagen ihrer Rechtslehre auskommen zu können meinten, irritierte ihn im höchsten Maße.4 Doch auch das Studium der Philosophie, vornehmlich deutscher Provenienz, verlief zunächst unbefriedigend. Erst die Begegnung mit den Schriften von Kitaro Nishida (1870–1945) leitete eine Wende ein. Sie waren in unsagbar feinem Stil, doch mit einer streng logischen Terminologie geschrieben. Aber zu meinem Entsetzen konnte ich keine Zeile davon verstehen. […] So konzentrierte ich mich nach der Abgangsprüfung auf die Werke Nishidas. Es ging sehr schwer, manchmal schaffte ich pro Tag nur zwei Seiten. Ich lernte fast auswendig, auf welcher Seite welchen Buches diese und jene Worte und Redeweisen standen. Nach anderthalb Jahren beinahe erstickenden Nachdenkens leuchtete mir eines Tages plötzlich ein Punkt auf, auf den alles mühsame Denken und all die unerhörten Aussagen Nishidas sich bezogen. […] Die bedrückende Scheidewand, die seit jener wunderlichen Erfahrung immer schwerer mich quälte, um mich von allen Realitäten zu scheiden, verschwand plötzlich. Ich fühlte mich mit unsagbarer Freude auf festen Boden gesetzt, wo nur kindliches Spielen mir erlaubt und geboten war, was mir trotz der anstrengenden Schwierigkeiten im Grunde immer lieb und interessant sein wird. Dass der Mensch nur Mensch ist und bleibt, dass ich nichts Besonderes habe, dessen ich mich vor anderen rühmen könnte, dass ich weder mein Woher noch mein Wohin selbst bestimmen kann, das alles hat mich seither nicht mehr gequält, sondern vielmehr dazu freigemacht, je in der gegebenen Situation mein Bestes zu tun.5
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Der eben graduierte Takizawa fasste seine Einsichten in einem Aufsatz zusammen, der durch Fürsprache einer seiner Professoren veröffentlicht wurde. Es passierte etwas für japanische Verhältnisse völlig Ungewöhnliches. Der im Zenit seiner Karriere stehende Nishida schreibt dem jungen Takizawa einen anerkennenden Brief, er fühlte sich von ihm verstanden. Takizawa, der sich als Humboldt-Stipendiat auf einen Studienaufenthalt in Deutschland vorbereitete, besuchte den verehrten Meister daraufhin in Kamakura. Um Rat gefragt, empfiehlt der buddhistische Philosoph ihm überraschenderweise, bei dem Theologen Karl Barth zu studieren. Er antwortete mir: ‚Heute lieber bei Theologen als bei Philosophen, da jene viel interessanter sind als diese. Selbst bei Heidegger fehlt vorläufig etwas, was in Wahrheit nottut, nämlich Gott. Gehe also am besten zu Karl Barth, der auch unter den Theologen der festeste ist.‘6
Während Takizawa in der Endphase des Zweiten Weltkrieges bereits akademisch reüssierte, nahm Yagi nach Kriegsende gerade sein Philosophiestudium an der Tokyo-Universität auf (1950). Die Lektüre von Sören Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ führte ihn zu einer bewussten Hinwendung zum Christentum. Es war mir, als ob ich mich selbst im Spiegel gesehen hätte, in einem Spiegel, der das Unsichtbare in mir sichtbar zeigte. Ich fand die Schilderung von Verzweiflung und Stolz im Buch zutreffend. Danach wurde ich krank. Im Bett las ich Kierkegaard weiter. So hatte ich erst Zeit, mich ernsthaft mit dem Christentum zu beschäftigen, obgleich ich mich schon als Gymnasiast […] hatte taufen lassen. Im Bett lernte ich auch Griechisch und las das Neue Testament im Original. Ich las es von Matth 1,1 an. Als ich bis zum Römerbrief kam, sprach mich das Wort des Apostels an: ‚Denn wir halten dafür, dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird ohne Gesetzeswerke‘ (Röm 3,28). Durch dieses Wort glaubte ich an Jesus Christus, der um unserer Sünde willen ans Kreuz genagelt wurde und auferstanden ist. Mit diesem Glauben eignete ich mir auch alle Prämissen und Schlüsse des Glaubens an, von der Schöpfung bis zur eschatologischen Ankunft des Himmelreichs. So wurde ich Christ orthodox-protestantischen Glaubens.7
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Das Studium des Neuen Testaments lässt Yagi nicht mehr los. Nach Abschluss des Magister-Kurses schreibt er sich als Doktorand ein, geht aber zunächst nach Deutschland, um sich auf seine Promotion vorzubereiten. Takizawa und Yagi haben beide ihre Studien in Deutschland vertieft: Takizawa als Humboldt-Stipendiat 1933–35 in den Anfangsjahren des Dritten Reiches, Yagi 1958/59 in der noch jungen Bundesrepublik. Auf Anraten seines buddhistischen Mentors Nishida ging Takizawa nach Bonn, um bei Karl Barth zu hören. Nach dessen Vertreibung wechselte er dann zu Rudolf Bultmann nach Marburg. Yagi studierte historisch-kritische Exegese bei Ernst Käsemann in Göttingen. Doch auch er suchte die intensive Auseinandersetzung mit der Theologie Bultmanns. Der Deutschlandaufenthalt bedeutete für jeden der beiden eine entscheidende Wende im theologischen Denken. Takizawa meinte, in Barth einen seinem japanischen Lehrer Nishida kongenialen Denker gefunden zu haben. Im großen Hörsaal, in dem sich fast 500 Studenten versammelten, nahm ich ganz vorne Platz, etwa in der fünften Reihe und direkt vor dem Katheder, damit ich kein Wort des Lehrers überhörte. Um mich herum gab es vielleicht 20 Studenten aus der Schweiz. Als Professor Barth hereintrat, standen etwa zehn SA-Studenten sporenklirrend auf und schrien laut ‚Heil Hitler!‘. Karl Barth stand unerschütterlich wie ein Eichbaum hinter dem Katheder, betete kurz und sang mit den Studenten einige Verse aus dem Gesangbuch. Dann begann er zu lesen. ‚Die Jungfrauengeburt‘ war ausgerechnet das Thema dieses Semesters. Ich hörte zu, als wäre ich ganz mit Seele und Leib Ohr geworden. Ich wusste nicht, wie mir geschah, aber eine unsagbare Freude erfüllte mich. Nirgendwo sonst, in keinem Hörsaal und Seminar der Philosophen, fühlte ich mich selbst so frei wie hier. Trotz meiner Unwissenheit und meiner sprachlichen Schwierigkeiten war mir seine Erklärung des Glaubensbekenntnisses – ‚empfangen durch den Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria‘ – nicht ganz fremd, sondern so klar und vertraut, als ob es unmittelbar mich und mein eigenes Sein selbst anginge.8
Yagi hingegen, von seinen deutschen Mitstudierenden immer wieder auf den Buddhismus hin befragt, stieß dadurch in Deutschland auf die ihm bis dahin fremd gebliebene religiöse Vorstellungswelt seiner japanischen Heimat. Sein Unvermögen, sie zu verstehen, löste bei ihm nach eigenem Be-
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kunden eine existenzielle Krise aus. Anlässlich eines Besuches bei Wilhelm Gundert (1880–1971),9 dem Japanmissionar und späteren Professor für Japanologie in Hamburg, der als Emeritus in Ulm lebte, schenkte ihm dieser einen Sonderdruck aus der von ihm besorgten deutschen Übersetzung des Bi-Yän-Lu,10 einem klassischen Zen-Text. Gundert war während seiner Japan-Zeit in Kontakt mit Uchimuras Nicht-Kirche-Bewegung gekommen und hatte in diesem Umfeld Yagis Vater kennengelernt. Yagi schildert seine Lektüre des Textes als ein Erwachen (satori) im buddhistischen Sinne: Im Eilzug nach Göttingen las ich den Text. Der Zug war zum Glück leer; ich konnte allein in einer Ecke Platz nehmen und mich ungestört in die Lektüre vertiefen. Ich las ihn mit solchem Eifer und solcher Konzentration, dass ich schließlich müde wurde. Erschöpft und gelassen blickte ich auf die ländliche Szene in der Nähe von Kassel. Der Regen hatte eben aufgehört; die Wolken spalteten sich. Der Riss der Wolken erweiterte sich, so dass der blaue Himmel sichtbar wurde. Da blitzte in mir plötzlich das Wort auf: ‚Offene Weite – Nichts von Heilig‘.11 Ich stand auf und sah mich um. Etwas war an mir geschehen, was ich nicht sofort begreifen konnte. Alle Dinge, die ich sah, sahen ganz anders aus als bisher, obgleich sie doch dieselben blieben. Das erste Wort, das ich zu mir sagte, war dies: ‚Ich habe den Baum für den Baum gehalten. Wie falsch war das!‘ Was ich für den Baum hielt, war in Wirklichkeit nur der öffentliche Begriff ‚Baum‘. In den ‚Gegenstand‘ legte ich im Voraus, ohne dessen bewusst zu sein, den öffentlichen Begriff hinein, und wenn ich ihn sah, legte ich nur aus, was ich vorher hineingelegt hatte, und das nannte ich ‚einen Gegenstand erkennen‘. Ich erkannte also nur wieder, was ich schon lange gewusst hatte. Das war aber kein Sehen, keine Begegnung mit dem Seienden. Jetzt aber sah ich den ‚Baum‘, wie er sich ursprünglich zeigte, vor jeder Begriffsbildung.12
Nach Japan zurückgekehrt, schlugen beide die akademische Laufbahn ein. Takizawa wurde zunächst Assistent an seiner ehemaligen Universität. Nach einem Zwischenspiel als Dozent an der kaufmännischen Hochschule in Yamaguchi (1937–1943) folgte er 1943 dem Ruf auf eine Dozentur an seiner Alma Mater, wo er dann von 1947 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1971 Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie war. Bereits 1932 hatte er Toshi Ogasawara geheiratet, mit der er vier Kinder hat.
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Yagi unterrichtete anfangs Neues Testament an der Kanto Gakuin Universität. Aufgrund der Kontroversen über seine theologischen Ansichten verließ er diese jedoch bereits 1965. Er übernahm eine Professur für Deutsche Sprache an der Technischen Hochschule Tokyo (1965–1988) und betätigte sich mit großem publizistischen Erfolg als theologischer Autor. Erst nachdem er aufgrund seiner Publikationen einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte, wurde er auch von christlicher Seite zu Vorträgen und Lehraufträgen eingeladen. Den Kontakt zur deutschen Theologie haben Takizawa und Yagi durch Gastvorträge und -dozenturen nicht abreißen lassen. Takizawa nahm Gastprofessuren an der Kirchlichen Hochschule Berlin (1965/66) und den Universitäten Heidelberg (1974), Essen (1975 und 1979) und Mainz (1977) wahr. Die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg verlieh ihm anlässlich seines 75. Geburtstages den Ehrendoktor, der nur noch posthum überbracht werden konnte. Yagi lehrte in Göttingen und Hamburg. Takizawa und Yagi verkörpern in ihren Biographien geradezu den Idealtypus des Intellektuellen. Ist Takizawa aufgrund seines offenen Engagements für die revoltierenden Studierenden der 68er-Generation13 viel Anerkennung zuteil geworden, geriet Yagi ins Kreuzfeuer der Kritik der Linken, weil sein Denken zu elitär sei und „die brennenden Nöte sozialer und politischer Art, die Japan und noch viel mehr die Weltgemeinschaft erschüttern, hier nicht mehr vorkommen können“.14 Beide stellen die Frage nach dem gemeinsamen Grund von Buddhismus und Christentum. Sie beschreiten dabei, jeder auf seine Weise, den Weg der Suche nach strukturellen Übereinstimmungen entgegen dem allgemeinen Trend, inhaltliche Entsprechungen aufzuzeigen. Der Jüngere ließ sich zwar vom Älteren belehren, hat ihm gleichzeitig aber auch nachhaltig widersprochen. Ihr wissenschaftlicher Disput ist als die sogenannte Takizawa-Yagi-Debatte längst in die noch junge japanische Theologiegeschichte eingegangen.
2. Christologie als The-Anthropologie (Katsumi Takizawa) Schüler zweier Lehrer Kitaro Nishida, den Takizawa als seinen Lehrer bezeichnet,15 ohne allerdings je bei ihm studiert zu haben, ist ebenfalls schon ein Grenzgänger
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zwischen östlichem und westlichem Denken. Ursprünglich als Professor für westliche Philosophie an die kaiserliche Kyoto-Universität berufen, wurde er zum „‚Erzvater‘ der modernen japanischen Philosophie“16 und Gründer der später so genannten Kyoto-Schule. Selbst praktizierender Zen-Buddhist, wollte Takizawa der hinter seiner Zen-Erfahrung liegenden Wahrheit zugleich mithilfe westlicher Denkkategorien Ausdruck verleihen. Ihn allerdings als ‚Zen-Philosophen‘ zu bezeichnen, impliziert einen Widerspruch in sich, will der Zen-Buddhismus die intellektuelle Reflexion und damit die Subjekt-Objekt-Spaltung doch gerade überwinden und zur reinen bzw. unmittelbaren Erfahrung durchstoßen. Man sagt, dass Zen den Hintergrund meines Denkens bilde. Das ist absolut richtig […]. Im Zen geht es um das echte Ergreifen der tatsächlichen Wirklichkeit. So unmöglich es scheinen mag, ich möchte dies irgendwie mit Philosophie zusammenbringen. Das war mein Traum seit meinen dreißiger Jahren.17
In Nishidas Lehre von der „absolut widersprüchlichen Selbstidentität“18 bzw. der „Selbstidentität der sich absolut Widersprechenden“19 findet Takizawa eine erste Antwort auf seine existenzielle Frage. Ausgehend von dem Bestreben, das Verhältnis zwischen Individuellem und Allgemeinem oder, in theologischer Terminologie ausgedrückt, zwischen Mensch und Gott zu bestimmen, kommt Nishida zu dieser aus dem Blickwinkel westlicher Logik paradox anmutenden Formel. Es gibt an dem Punkt dieser Welt, wo ein wirklicher Mensch entsteht und besteht, immer schon ein Etwas, das keineswegs sein Ich-selbst ist, sondern auf ewig ist und lebt. Die Verbindung zwischen diesem Etwas und einem menschlichen Ich-selbst, die im Anfang, jetzt und hier, im Grunde des Entstehens und Bestehens dieses Ich-selbst existiert, ist kein Verhältnis, das er, erst nachdem er als menschliches Subjekt entstanden ist, mit anderen Dingen oder Menschen herstellt. Die Verbindung ergreift ihn vielmehr an dem Ort, wo er steht, sozusagen vom absoluten Hinten her, ja sie hat ihn dort schon ergriffen und wird ihn nie verlassen. […] Dieses Etwas, das trotz und in der absoluten Unterschiedenheit mit diesem Ich-selbst völlig eins ist, das sich von diesem Ich-selbst gerade dadurch absolut unterscheidet, dass es mit diesem Ich-selbst unmittelbar eins ist,
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dieses Etwas wird man im biblischen Glauben als Jahwe (Ich bin, der ich bin), als Gott den allmächtigen Herrn, den Schöpfer und den unermesslich barmherzigen Gott benennen. Und im Zen-Buddhismus wird man dasselbe Etwas als ‚das wahre Selbst‘ oder als ‚das absolut gestaltlose Subjekt‘ benennen, das mit dem Ichselbst im gewöhnlichen Sinn direkt eins, das aber zugleich keineswegs dieses Ich-selbst ist.20
Das damit formulierte Paradoxon, dass der Mensch im Urpunkt seines Selbst immer schon identisch ist mit Gott, ist die Quintessenz von Nishidas Denken.21 Diesen Gedanken seines Meisters von der „absolut widersprüchlichen Selbst-Identität“ meint Takizawa nun in Barths Urfaktum Immanuel („Gott mit uns“)22 wiederzuerkennen. Seinem theologischen Lehrer ist dies ein steter Stachel im Fleisch geblieben. An Nishidas Konzeption kritisiert Takizawa, dass dieser im Begriff der „Identität“ die Unumkehrbarkeit des Verhältnisses von Gott und Mensch verschwimmen lasse, die ihm selbst erst durch Karl Barth in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden sei.23 Bei Barth moniert er, dass dieser nicht zwischen ‚Christus, dem ewigen Sohn Gottes‘, dem Urfaktum Immanuel, und dem ‚Jesus im Fleisch‘ zu trennen wisse.24 In seiner eigenen Terminologie ausgedrückt, unterscheidet er [Karl Barth] nicht zwischen dem Immanuel im ersten Sinne, der von historisch kontingenten Reflexen völlig unabhängig bei jedem und allen Menschen gegenwärtig existiert, und dem Immanuel im zweiten Sinne, wie er sich bei uns Christen zwar allein durch den Heiligen Geist, jedoch als eine Art Selbstbestimmung unseres fleischlichen Subjektes ereignet.25
Den immer schon gegebenen Berührungspunkt Gottes mit jedem Menschen (Immanuel I) bezeichnet Takizawa als primären Kontakt. Es ist nun allerdings nicht so, dass der Mensch sich dieses Kontaktes schon immer bewusst ist. Er muss erst zu ihm erwachen, wie Takizawa es in buddhistischer Begrifflichkeit ausdrückt. Der Zustand der Nicht-Erwachtheit lässt sich christlich als Verharren in der Sünde beschreiben.
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Diese Selbstzerrissenheit, dieser Selbstwiderspruch, den wir alle, ganz gleich, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, von Geburt an ohne unser Zutun in uns selbst tragen, ist es, was von alters her im Buddhismus ‚Unwissenheit‘ und im Christentum ‚Sünde‘ genannt wird.26
Das Erwachen ist kein autonomer Akt, sondern das Innewerden eines immer schon Gegebenen. Im Erwachen vollzieht sich der sekundäre Kontakt Gottes mit dem Menschen (Immanuel II). In christliche Begriffe gefasst, bildet sich Gott, der von der Rückseite her den Menschen immer schon umfasst, in Jesus Christus auf der Vorderseite ab. Christus ist die den Menschen zugekehrte Seite Gottes. Takizawa spricht in diesem Zusammenhang bereits früh von einer „Theo-Anthropologie“.27 Die Sühnetodvorstellung hat in dieser Konzeption keinen Platz. Wenn das so ist, kann allerdings die Sünde niemals durch eine auch noch so erhabene Menschengestalt ausgerottet werden. Das gilt auch – in der christlichen Lehre – von der Gestalt Jesu, der mit seinem ‚Sühnetod‘ keineswegs die Sünde selbst in diesem ihrem ursprünglichen Sinn ausgerottet hat. Auch der ‚versöhnte Mensch‘ muss daher nach der christlichen Lehre vor das ‚Jüngste Gericht‘ treten.28
In der Folge gilt Takizawas ganzes Streben einer Synthese aus dem Denken seiner beiden großen Lehrer. Seine Fixiertheit auf diesen einen Punkt hat aus westlicher Sicht durchaus etwas Monomanisches. In immer wieder neuen Anläufen versucht er, die universale Grundlage von Buddhismus und Christentum im Urfaktum Immanuel zu erweisen. Buddhismus und Christentum Wenn Takizawa von Buddhismus spricht, hat er dabei die ursprünglich divergierenden Schulen des Zen und Jodo-Shin im Blick, die beide von bzw. über China nach Japan gelangten und hier ihre spezifisch japanische Ausprägung erhielten. Gründer der Jodo-Shin ist Shinran (1173–1262), selbst ein Schüler von Honen (1133–1212), dessen Jodo-Lehre er gewissermaßen demokratisierte und für Laien zugänglich machte. Wer immer durch Aussprechen der Formel „‚Nembutsu‘ (Namu-Amidabutsu = Amen, Ami-
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da-Buddha)“29 seine Zuflucht zum Amida-Buddha nimmt, wird die Hingeburt ins „Reine Land“ erreichen, unabhängig von seinem moralischen Status. Ermöglicht wird dies durch das Hauptgelübde Amidas, der gelobt hat, erst dann ins Nirvana einzugehen, wenn allen Menschen durch die Anrufung seines Namens die Möglichkeit gegeben war, die Wiedergeburt in seinem Land zu erlangen. Wenn ich Buddha werde und alle Menschen, die von ganzem Herzen fröhlich an mich glauben und mit dem Verlangen nach der seligen Hingeburt meinen Namen, wenn auch nur einmal, anrufen, und wenn sie gleichwohl nicht in meinem Land geboren werden können – will ich selbst niemals Buddha werden.30
Während die Wurzeln des Amida-Buddhismus nach Indien selbst zurückreichen, gilt der Zen (chin. Ch’an) als chinesische Schöpfung. In Japan wurde er in seinen beiden Strömungen durch den Mönch Eisai (1141–1215) und seinen Schüler Dogen (1200–1253) heimisch. Beide ließen sich in China im Ch’an unterweisen. Eisai brachte die Rinzai-Sekte nach Japan, die die plötzliche Erleuchtung (satori) durch Kontemplation von Koans zu befördern sucht. Dogen etablierte die Soto-Sekte, die sich ausschließlich auf das meditative Sitzen (Zazen) konzentriert. Jodo- und Zen-Buddhismus werden gemeinhin nach ihrer Soteriologie unterschieden. Wird in der Hinwendung zum Amida-Buddha die Wirkung der Kraft des Ganz-anderen (jap. tariki) gesehen, ist es im Zen allein die Kraft des Selbst (jap. jiriki). Takizawa vertritt jedoch entgegen der Tradition und der gelebten Religion die These, dass beiden Schulen die gleiche Wahrheit zugrunde liegt. Zur Legitimierung dieses hermeneutischen Konstruktes beruft er sich auf seinen Lehrer Nishida und den diesem seit Schulzeiten freundschaftlich verbundenen Daisetz Suzuki (1870–1966), den im Westen wohl bekanntesten Zen-Denker. Die Kraft des Ganz-anderen ist nach ihrer Interpretation zugleich die Kraft, die im Selbst des Menschen das Erwachen zu eben diesem Selbst bewirkt. Die Kraft des Ganz-anderen beeinträchtigt nach Shinrans Glauben nicht im Geringsten die Kraft seines Selbst, sondern macht deren alleinigen Grund und unerschöpfliche Quelle aus. Das Jenseits Amidas gibt dem Menschen, der an ihn
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glaubt, den unerschütterlichen Mut, ins Diesseits ‚zurückzugehen‘, inmitten dieser finsteren Welt, deren Teil er selber ist, aus lauter Liebe für alle anderen mit ganzer Kraft zu leben.31
Dann gilt aber auch für den Zen-Buddhismus, dass in der Kraft des Selbst eben diese Kraft des Ganz-anderen wirkt. „Das Selbst, auf das es bei Dogen allein ankommt, ist nichts anderes als der Ganz-andere in diesem Sinn.“32 Die Nähe des Jodo-Buddhismus zur protestantischen Rechtfertigungslehre ist schon Franz Xavier (1506–1552), dem Mitbegründer des Jesuitenordens und Pionier der jesuitischen Missionstätigkeit in Asien, aufgefallen. Von ihm wird anlässlich seiner Ankunft in Japan der Ausspruch kolportiert: ‚Die verfluchte lutherische Ketzerei ist schon da!‘ Takizawa beginnt seinen Aufsatz über „‚Rechtfertigung‘ im Buddhismus und im Christentum“ mit der Darstellung der im Hauptsutra (Daimuryoju-kyo) des Jodo-Buddhismus überlieferten Geschichte von Hozo-Bosatsu. Darin wird von einem König berichtet, der nach einer Predigt des Buddha Sejizai-Obutsu den Beschluss fasste, selbst die Buddhaschaft zu erlangen. Er zog vom Haus in die Hauslosigkeit, nannte sich fortan Hozo-Bosatsu33 und suchte unter Anleitung jenes Buddha die Erleuchtung. Statt aber selbst ins Nirvana einzugehen, spricht er das uns bereits bekannte Gelübde des Amida-Buddha. Trotz oder gerade wegen dieses Gelübdes wird Hozo zu Amida. Wobei dies laut Takizawa nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten Verwandlung zu verstehen ist, denn Amida ist für ihn nur eine weitere Bezeichnung für den primären Kontakt Gottes mit den Menschen. Die Tradition schreibt diese Geschichte dem historischen Buddha Shakyamuni in Form einer Predigt zu. Sie spiegelt dessen eigenen Lebensweg. Doch ist auch in diesem Fall streng zu unterscheiden zwischen dem ewig gegenwärtigen Buddha und dem sterblichen Menschen Shakyamuni. Das Verhältnis Shakyamunis zu Buddha ist analog dem Verhältnis Jesu zu Christus bzw. Immanuel im Christentum zu verstehen. Wenn Takizawa den Satz „Hozo wurde zu Amida“ allerdings umkehrt in „Amida wurde zu Hozo“, interpretiert er ihn christlich aus der Inkarnationsperspektive. Wie er selbst konzediert, hat diese Lesart in den buddhistischen Schriften keinen direkten Anhalt.34
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Takizawa unterzieht den Jodo-Buddhismus also einer doppelten relecture, indem er ihn zunächst in von christlichen Denkvorstellungen geprägter Weise darstellt und sich beim Vergleich mit dem Christentum stillschweigend zen-buddhistischer Kategorien bedient. Den Interpretationsrahmen bildet seine Theorie von primärem und sekundärem Kontakt, die Takizawa anhand der Unterscheidung zwischen Amida und Hozo, dem ewig gegenwärtigen Buddha und den gewöhnlichen Menschen Shakyamuni, sowie dem Christus im ersten und Christus im zweiten Sinn immer wieder durchspielt. Christus im ersten und zweiten Sinn Die Christologie ist für Takizawa nach eigenem Bekunden das zentrale Anliegen: „mir persönlich ist es eine der wichtigsten, oder vielmehr die eine große Aufgabe, ‚die Person Jesu Christi‘ mit Leib und Seele, mit meiner ganzen Persönlichkeit möglichst klar zu erfassen und darzustellen.“35 Er übernimmt dazu, wie wir bereits gesehen haben, die Vorstellung Nishidas, dass der Kontakt Gott – Mensch immer schon gegeben ist an dem Ort, an den der Mensch gestellt ist. Dann ist es notwendig, ‚Christus‘ in einem ersten, ursprünglichen Sinne von ‚Christus‘ in einem zweiten, zeichenhaften Sinne zu unterscheiden. Jesus als der ‚Christus im zweiten Sinne‘ ist der erste Christ, die vollkommene Norm aller Christen. Sein Kreuz müssen wir selbst mit ihm zusammen tragen. ‚Christus im ersten Sinne‘ dagegen ist im Grunde des Seins des fleischlichen Menschen Jesu, geht allem seinen Wirken voraus, wirkt unaufhörlich bei ihm und bei jedem Menschen, ehe dieser, ja ehe Jesus selbst etwas tut oder redet.36
Das Verhältnis von Gott und Mensch in Jesus Christus beschreibt Takizawa in Reminiszenz an altkirchliche Christologie als absolut „untrennbar“, aber „unvermischbar“.37 Den Kontaktpunkt, der zugleich die Grenze zwischen Gott und Mensch markiert, bezeichnet er mit seinem theologischen Lehrer Barth als Urfaktum Immanuel, Gott mit uns. Die Grenze zwischen Gott und Mensch ist unüberschreitbar und, so betont Takizawa mit Barth38 gegen Nishida, das Verhältnis Gott – Mensch ist unumkehrbar. In Jesus Christus ist die Möglichkeit des sekundären Kontaktes offenbar geworden. Er ist das Urbild des wahren Gott-Menschen und darin das
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Maß für unser eigenes Menschsein. Als solches Vorbild39 ist Christus unser Wegzeichen. Doch, und hier wendet sich Takizawa gegen seinen Lehrer Barth: „Als Zeichen ist die Gestalt Jesu von der Sache selbst streng zu unterscheiden.“40 Schon die Jünger haben geirrt, als sie den primären Kontakt erst durch die Person Jesu verwirklicht sahen.41 Die reine The-anthropologie dagegen lässt sich zwar von der kontingent-einmalig gegebenen Gestalt Jesu von Nazareth bzw. der Bibel helfen und führen, aber nie fesseln, sondern eben von ihr als dem lebendigen Wegweiser geführt, wendet sie sich ausschließlich dem Weg, der Wahrheit, dem Logos im Anfang, um mit Barth zu sprechen, dem Urfaktum Immanuel, dem ewig neuen, absolut untrennbaren – unvermischbaren – unumkehrbaren Verhältnis von Gott und Mensch zu. Deshalb kann, darf und will sie keine spezifisch-historische Gestalt als ihren eigentlichen Inhalt in sich enthalten.42
Für Takizawa ist Christologie letztendlich Ausdruck dieser reinen The-Anthropologie, nicht mehr aber auch nicht weniger.43 Dabei wird die Soteriologie gewissermaßen vom zweiten in den ersten Glaubensartikel zurückgenommen.
3. Das Ich bei Jesus (Seiichi Yagi) Vom Neuen Testament zum Zen In seiner ersten größeren Veröffentlichung „Die Entstehung des neutestamentlichen Denkens“ (jap. 1963)44 stand Yagi noch ganz in der Tradition der existenzialen Interpretation. Als Begründung für seine Orientierung an der Frage nach dem neutestamentlichen Verständnis der menschlichen Existenz verweist er allerdings bereits auf seine Begegnung mit dem Buddhismus. Seine Erkenntnis des den Auffassungen im Christentum parallelen buddhistischen Existenzverständnisses hat ihn zu der Überzeugung geführt, dass die Entstehung des christlichen Glaubens, einschließlich des Osterglaubens, nicht als übernatürlicher Vorgang zu denken sei, sondern sich geschichtlich – und zwar nicht einfach religionsgeschichtlich, sondern vor allem existenzial – verfolgen lassen müsse.45
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Ganz im Duktus des Bultmannschen Entmythologisierungsprogramms trennt Yagi daher grundsätzlich zwischen dem, was er „religiöse Psychologie“ nennt, also etwa die Wundergeschichten oder die Jungfrauengeburt, und solchen Texten, die von „genuin religiöser Bedeutung“ sind.46 Für die letztgenannten unterscheidet er drei Typen bzw. Strukturen neutestamentlichen Denkens,47 die die „drei Grundformen der menschlichen Beziehung zueinander, nämlich die Wir-Beziehung, die Beziehung zu sich selbst und die Ich-Du-Beziehung“ (86) theologisch reflektieren. • Typ A ist die klassische heilsgeschichtliche Theologie judenchristlichen Ursprungs mit ihren zentralen Topoi: Erwählung des Volkes Israel, alter Bund, Gesetz und Verfehlung der Menschen, Sühnetod Christi und Rechtfertigung des Menschen, neuer Bund und neues Gottesvolk, Auferstehung, Jüngstes Gericht und Reich Gottes. Im Mittelpunkt steht die Sozialität des Menschen („Wir-Verhältnis des Menschen vor Gott“). Die Gerechtigkeit Gottes wird zur existenzialen Kategorie. ‚Kreuz und Auferstehung‘ erfahren ihre Deutung im Sühnetod Jesu Christi. In der Rechtfertigung des Sünders vollzieht sich die existenziale Wende vom alten zum neuen Menschen, die die Freiheit von der Gesetzlichkeit (Nomismus) begründet. Ältestes Zeugnis ist für Yagi I Kor 15,3-5. • Typ B ist hellenistischen Ursprungs und lässt sich vielleicht am besten als inkarnatorische Theologie beschreiben, Yagi selbst bietet keine Benennung. Der präexistente Gottessohn ist der Schöpfungsmittler. In die Welt gesandt, entäußert er sich selbst und wird Fleisch. Jesu Kreuzestod ist ein Akt des Gehorsams und Vollendung seines Erdenweges. Er wird von Gott „auferweckt, erhöht und zum Kosmokrator eingesetzt“ (83). „Kreuz und Auferstehung Jesu Christi werden jetzt verstanden im Sinne des Sieges über die Mächte der Sünde und des Todes.“48 Der Gläubige ist mit Christus gestorben und auferstanden. Er lebt in Christus und gehört dem Leib Christi an. Es geht hier wesentlich um die Individualität des Menschen, sein „Verhältnis zu sich selbst“. Die existenziale Kategorie ist ‚Leben‘. In der Freiheit von der Sorge ums Dasein vollzieht sich die existentiale Wende. Yagi bezieht sich auf den Philipperhymnus (Phil 2,6–11) und den Johannesprolog (Joh 1,1–18). • Typ C geht es um die Mitmenschlichkeit des Menschen, das „Ich-DuVerhältnis“, wie Yagi es unter Rekurs auf Martin Buber49 nennt. „Darin
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ist die Liebe Gottes zu uns offenbar geworden, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat“ (84; vgl. Joh 3,16). Analog dem Liebesverhältnis Gottes zu den Menschen müssen auch die menschlichen Beziehungen gestaltet werden. „Das Heil, das sich in Christus ereignet hat, wird hier verstanden als der Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen.“50 Liebe ist die existenziale Kategorie. Die existenziale Wende wird als die Befreiung von „einer in sich verschlossenen Liebe“ interpretiert. Als Referenz dient Yagi etwa I Joh 4,7–10. Übers. 6: Typen neutestamentlicher Theologie (Yagi) Typ A
Typ B
Typ C
heilsgeschichtliche Theologie
inkarnatorische Theologie
Theologie der Liebe
existenzialer Sitz
Sozialität des Individualität des Menschen (Wir-Ver- Menschen (Verhälthältnis) nis zu sich selbst)
Mitmenschlichkeit des Menschen (Ich-DuVerhältnis)
existenziale Kategorie
Gerechtigkeit
Leben
Liebe
existenziale Wende
Freiheit vom Nomismus
Freiheit von der Sorge ums Dasein
Freiheit von der in sich verschlossenen Liebe
Diese drei Typen kommen im Neuen Testament nicht in Reinform vor, sondern sind auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Neutestamentliche Theologie erweist sich damit jedoch als pluralistisch. Versuche, sie etwa in das heilsgeschichtliche Schema zu zwängen, greifen zu kurz (86).51 Dennoch haben sie einen gemeinsamen Bezugspunkt in „Christus, dem auferstandenen Herrn“ (86). Die einmal an der Verkündigung der Urgemeinde herausgearbeiteten Typen findet Yagi nun auch in der Predigt Jesu wieder. Er unterscheidet vier Gruppen von Worten Jesu: (1.) Worte über das Gesetz, (2.) das Leben und (3.) die Liebe sowie (4.) Worte über das Reich Gottes. Korrespondieren die ersten drei Gruppen den Typen urchristlicher Verkündigung, sind die Worte über die Herrschaft Gottes gewissermaßen ihr Konvergenzpunkt. „Die Herrschaft Gottes ist bei Jesus die transzendente Bestimmung, wie der Mensch sein soll“ (88).
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Die völlige Fokussierung auf die menschliche Existenz hatte bei Yagi anfangs zu einer Suspendierung der Frage nach der Realität Gottes geführt. Unter dem Eindruck der Kritik Takizawas vollzog er jedoch eine radikale Wende in seinem Denken. Er macht sich dessen Einsicht in die Gründung der menschlichen Existenz im primären Kontakt zu eigen, den er in seiner eigenen Terminologie als das Selbst des Menschen bezeichnet, und kehrt sich in der Folge gegen Bultmann: „Wir vermissen bei Bultmanns Interpretation leider die adäquate Begrifflichkeit für Transzendenz oder das Selbst in unserem Sinne, obwohl er existential orientiert gewesen war.“52 Yagi nimmt die drei Typen urchristlicher Verkündigung nun noch einmal kritisch in Augenschein. Sie beziehen sich auf die Verkündigung Jesu so, „dass ‚Herrschaft Gottes‘ und ‚Christus, der auferstandene Herr‘ letztendlich dieselbe Sache bezeichnen“ (89). Bultmann hat dafür die Formel vom ‚verkündigten Verkündiger‘ geprägt. In dieser Verknüpfung von Christologie und Soteriologie in der Interpretation des Jesusereignisses liegt der entscheidende Fehler der Urchristenheit, dem auch Bultmann noch aufgesessen ist. Die Jünger haben „den Grund der eigentlichen Existenz, der ihnen jetzt erschienen ist, mit Jesus selbst identifiziert“ (89). Es ist jedoch zu unterscheiden zwischen Christus als dem transzendenten Grund der menschlichen Existenz und dem geschichtlichen Jesus. „Gottheit und Menschheit Christi sind zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden“ (90 f.). Im Glauben an die Heilswirksamkeit Jesu Christi sieht Yagi den eigentlichen Hinderungsgrund für das Verstehen des Neuen Testaments. Er widerspricht dem zentralen Lehrsatz der Bultmannschen Hermeneutik: Nicht das Vorverständnis der Sache ermöglicht ihr Verstehen, sondern die unmittelbare Erfahrung der Sache selbst. Hatte Yagi zunächst die Unterscheidung zwischen kerygmatischem Christus und historischem Jesus aus der historisch-kritischen Exegese übernommen, wie er sie bei seinem Lehrer Käsemann kennengelernt hat, deutet er nun den verkündigten Christus als ein Missverständnis der ersten Christinnen und Christen und fragt nach dem Selbstverständnis des Verkündigers Jesus: „Was ist das ‚Ich‘ bei Jesus?“ Diese Frage führt ihn zu einer Neudeutung der Menschensohnworte und der Antithesen53. Die traditionell in drei Gruppen eingeteilten Worte (1.) vom kommenden, (2.) vom leidenden
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und auferstehenden sowie (3.) vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn waren immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten. Gelten die Worte der zweiten Gruppe allgemein als vaticina ex eventu, sieht Bultmann in den der dritten Gruppe zugehörigen schlicht einen Übersetzungsfehler. Im Aramäischen war in diesen Worten das ‚der Sohn des Menschen‘ überhaupt nicht messianischer Titel, sondern hatte den Sinn von ‚Mensch‘ oder von ‚ich‘. Diese Gruppe scheidet also aus.54
Damit bliebe lediglich die erste Gruppe von Worten, die vom kommenden Menschensohn in der dritten Person sprechen, als Quelle möglicher ursprünglicher Jesusworte übrig. Yagi hält demgegenüber jedoch auch die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn, die in der ersten Person sprechen, grundsätzlich für echt. Mit den Menschensohnworten der dritten Gruppe erklärte Jesus seine Taten und Worte für die Taten und Worte des Menschensohns durch ihn. Der Menschensohn ist für Jesus, vielmehr bei Jesus, das ganz Andere und das ganz Selbst zugleich (45).55
Yagi nimmt dabei an, „dass die Gestalt des Menschensohns bei Jesus die Personifikation der Herrschaft Gottes sei“ (44). Deutlicher werden die Konsequenzen dieses Denkens in Yagis Antwort auf die Frage, wer in den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21–48) eigentlich zu Wort kommt. Bei den Antithesen, oder besser bei den Worten Jesu überhaupt, kommt etwas Göttliches (die Herrschaft Gottes, der Menschensohn als ihre Personifikation) durch sein empirisches Ego zur Sprache (46).
Yagi postuliert eine Doppelstruktur des Ich.56 Das Ego des Menschen, das ganz im Sinne unseres Sprachgebrauchs ständig bedroht ist, dem Egoismus zu verfallen, ist grundsätzlich vom Selbst zu unterscheiden, das Takizawas Vorstellung vom Immanuel bzw. dem primären Kontakt entspricht. Wenn das Ego zu diesem Selbst erwacht, konstituiert sich das Selbst-Ego, wie es
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bei Jesus auf vorbildliche Art geschehen ist. Dieses Selbst kann Yagi mit Takizawa auch Christus oder, wie im vorliegenden Fall, Menschensohn nennen.57 Stärker als Takizawa das getan hat, betont er aber das gleichzeitige Gegenüber des Ganz-anderen. Dies wird deutlich, wenn wir uns Yagis Paulusbild zuwenden. Zentral ist ihm hierbei der Halbvers Gal 2,20 geworden: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“, der Zenbuddhisten oft als eine Art christliches Koan gilt. Auch im Ich des Paulus erkennt Yagi die Doppelstruktur von Ego und Selbst (Abb. 5). Die Beziehung Jesu zum Menschensohn ist dieselbe, wie die Beziehung des Paulus zum ‚Christus in mir‘.58
Paulus schildert dann in Gal 2,20 sein Erwachen zu Christus. Christus ist aber nicht nur ‚in mir‘, ich bin auch ‚in Christus‘. „Christus als das Gegenüber, d. h. Christus als Gegenstand des Glaubens, und Christus als das letzte Subjekt des Glaubenden sind bei Paulus paradox identisch“ (37). In Röm 7 beschreibt er negativ den Zustand vor dem Erwachen als unter bzw. ‚in der Sünde sein‘ und das Wirken der ‚Sünde in ihm‘ (Röm 7,17). 59 Christus als Wirkungsfeld Personen „in Christus“
Christus als das S letzte Subjekt von mir
Selbst als Sitz des Lebensgelübdes
Christus in mir (Front Christi)
Verkündigung Ego
O
Christus als Gegenüber
Anrede an mich Antwort auf die Anrede: Ausdruck des Lebensgelübdes
Abb. 5: Die Frontstruktur (Yagi)60
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Unter Berufung auf das Johannesevangelium kann Yagi sagen, „dass das Verhältnis zwischen Christus und dem Glaubenden das Verhältnis zwischen Vater und Sohn reflektiert“ (39). Paulus steht exemplarisch für alle Gläubigen, „der Mensch ist von Anfang an so beschaffen, dass in ihm zwei Zentren, das göttliche und das menschliche, zugleich eins und zwei sind“ (41). Diese Grundannahme über die menschliche Existenz gilt für Christentum und Buddhismus gleichermaßen. Christus und Buddha Anders als Takizawa personalisiert Yagi den Vergleich zwischen Christentum und Buddhismus.61 Er betrachtet Jesus Christus und Gautama Buddha als Religionsstifter, die „in ihrer jeweiligen Situation und Tradition religiöse Wahrheit gefunden und realisiert haben, die der ganzen Menschheit gemeinsam ist“ (25). Ihre Lehre wird vergleichbar durch ein analoges Verständnis der menschlichen Existenz. Beide sahen diese durch die Arroganz des Ego ständig bedroht. Während Gautama in der Verabsolutierung des entfremdeten Ego die Ursache des Leidens erkennt, wendet sich Jesus gegen die Verabsolutierung des Relativen in Form des Gesetzes als Ursache der Sünde. „Für Gautama resultierte die Arroganz im Leiden, für Jesus in der Sünde. Das Leiden ist im Selbst zentriert, die Sünde ist eine Sache der persönlichen Beziehungen“ (28). Gemeinsam ist buddhistischem und christlichem Existenzverständnis demnach die Offenheit des Selbst auf Transzendenz hin und deren ständige Bedrohung durch eine Selbstverabsolutierung des Ego. Für das neutestamentliche Denken und die Verkündigung Jesu weist Yagi eine Ausdifferenzierung in die drei Grundformen menschlicher Beziehung nach. „Buddhistisches Denken dagegen konzentriert sich auf die Beziehung des Menschen zu sich selbst. Kommunale oder interpersonale Beziehungen kommen verhältnismäßig selten zur Sprache.“62 Die Sozialität des christlichen Glaubens unterscheidet ihn grundsätzlich vom Buddhismus, dessen vordringliches Interesse es ist, „die Sache des Selbstseins zu klären“. Während Gautama als höchstes Ziel das letztendliche Eingehen des einzelnen ins Nirvana lehrte, wo das Individuelle verlöscht wie eine Kerze, verkündigte Jesus das Nahen des Gottesreiches, wo die Menschen ihre Wohnung nehmen beim Vater (28 f.).
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Die ersten Anhänger Buddhas waren wesentlich der gebildeten Oberschicht zuzurechnen, Jesus verkündigte das Reich Gottes bevorzugt den kleinen Leuten (30). Die Lehre Buddhas war philosophisch abstrakt, Jesu Verkündigung narrativ und konkret (28 f.). Konnte Buddha nach seiner Erleuchtung noch über dreißig Jahre durchs Land ziehen und seine Lehre entfalten, beschränkte sich die öffentliche Wirksamkeit Jesu auf ein bis maximal drei Jahre. Buddha starb im hohen Alter an den Folgen einer Lebensmittelvergiftung im Kreise seiner Jünger, Jesus erlitt früh einen gewaltsamen Tod am Kreuz, von allen verlassen (31). Die Anhänger Buddhas sollten ihren Meister auf ihrem Weg zur Erleuchtung wie ein Fährboot am anderen Ufer des Flusses zurücklassen, das Urchristentum hingegen schrieb Jesus die Rolle eines Heilsmittlers zu. Der wesentliche Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum ist in ihrem Verhältnis zu ihren Stifterfiguren angelegt. Während die Christen an die Person Jesu Christi glauben, stützen die Buddhisten sich auf den Dharma, „das ewige kosmische Weltgesetz“,63 nicht die Person Gautamas (31). Übers. 7: Jesus Christus und Gautama Buddha (Yagi) Lehrer (Religionsstifter)
Gautama Buddha
Jesus Christus
Inhalt der Lehre
Verabsolutierung des entfremdeten Ego → Leiden ← Dharma/Nirvana
Verabsolutierung des Relativen → Sünde ← Reich Gottes
Art des Lehrens
philosophisch
narrativ/geschichtlich
Anhänger
gebildete Oberschicht
„kleine Leute“
Glaube
an das Dharma
an Jesus Christus
Dauer der Lehrtätigkeit
stirbt im Kreise seiner früher, gewaltsamer Tod; Jünger; Wirksamkeit bis ins nur ca. 1–3 Jahre öffentlihohe Alter che Wirksamkeit
Die Frontstruktur als Brücke vom buddhistischen zum christlichen Denken ‚Ich existiere in Beziehungen, also bin ich‘, so lässt sich in Abwandlung des Descarteschen Diktums Yagis Grundannahme fassen. Ausgangspunkt seines Denkweges war, wie wir gesehen haben, die Strukturierung des neutestamentlichen Denkens anhand der „drei Grundformen der menschlichen
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Beziehung“.64 Yagi meint, im Neuen Testament ein dem Buddhismus analoges Existenzverständnis gefunden zu haben. Die Frage nach der Realität Gottes klammerte er dabei zunächst aus. Erst aufgrund der Kritik Takizawas fragt er: „Müssen wir wirklich von Gott reden?“65 Yagis Auseinandersetzung mit Takizawa hat ihn dessen Unterscheidung von primärem und sekundärem Kontakt übernehmen lassen. Anders als dieser denkt er diese Kontakte aber nicht punktuell, sondern entwickelt seine eigene Theorie von der Frontstruktur, wieder in Auseinandersetzung mit dem buddhistischen Denken.66 Yagi rekurriert vor allem auf drei Begriffe, um das buddhistische Existenzverständnis zu erläutern: sunyata („Non-Substantialität alles Seienden“), pratityasamupada („gegenseitige Abhängigkeit und Bezogenheit“) und muge („Ineinander ohne Hindernis“). Deutlich ist, dass seine Übersetzung dieser Begrifflichkeit geprägt ist von der Existenzphilosophie. Sunyata und pratityasamutpada beschreiben letztendlich den gleichen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven. Während sunyata negativ bedeutet, dass nichts den zureichenden Grund seines Seins in sich hat, bedeutet pratityasamutpada positiv, dass ein Ereignis von den anderen abhängig ist. Im einen Begriff wird jeweils der andere mitgesetzt. Dagegen schließt die Substanz, die sich nur auf sich selbst setzt, sowohl sunyata als auch pratityasamutpada aus. Deshalb erkennt das buddhistische Denken keine Substanz an (46).
Alles Sein ist demnach In-Beziehung-Sein. „Am Anfang war Beziehung“, zitiert Yagi Martin Buber. Dieses Existenzverständnis ist die Voraussetzung für ein „Ineinander ohne Hindernis“ (muge). Das, was sich außer mir befindet, wird in einen Bestandteil von mir verwandelt, indem das, was jetzt mir gehört, immer noch ein Teil dessen bleibt, was sich außer mir befindet (24).
Entsprechend dieser existenzialen Grundannahme, dass das In-Beziehung-Sein seinskonstitutiv ist, unterscheidet Yagi zwischen dem Einzelnen, das immer schon auf Beziehung hin angelegt ist, und dem Seienden, das erst in der Beziehung konstituiert wird.
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Da das Lebewesen als das Einzelne für sich allein nicht existieren kann, ist es kein Seiendes. Damit es aber ein Seiendes werden kann, bedarf es notwendig des anderen, dessen Front es sich aneignet (44). Wand (W) a A Das Einzelne
b B
Das Seiende Abb. 6 & 7: Die Frontstruktur (Yagi)
Diese Unterscheidung illustriert Yagi (Abb. 6) durch ein an einer Seite offenes Rechteck (das Einzelne) und ein geschlossenes (das Seiende). Zur weiteren Illustration des Gemeinten übernimmt Yagi ein von Nishitani Keiji geprägtes Bild von der Trennwand (W) zwischen zwei Räumen (A und B), die, beiden zugehörig, den einen in den anderen abbildet (a/b) und sie zugleich konstituiert (Abb. 7). Dieses dem Christentum und dem Buddhismus gemeinsame Existenzverständnis bezeichnet Yagi als Front-Struktur alles Seienden. „Die Front ist das, worin wir dem anderen begegnen“ (25). Mit seiner Front verbindet sich das Einzelne mit einem anderen Einzelnen, es kommt zu Front-Gabe und Front-Aneignung, wobei dies als reziproker Prozess gedacht wird und entsprechend auch als Front-Wechsel bezeichnet werden kann. Yagi sieht darin zugleich die Notwendigkeit von Individualität und Differenz begründet, denn zwischen Gleichen kann es keinen Front-Wechsel geben. Dies ist jedoch kein singulärer Prozess, die Front-Struktur birgt ein großes Pluralisierungspotenzial. Yagi verdeutlicht dies noch einmal mithilfe seines Rechtecks. Auch wenn eine beliebige Zahl Einzelner aneinandergereiht wird, bleibt immer noch ein Rechteck offen (Abb. 8). Erst wenn das letzte zirkular an das erste anschließt, ergibt sich ein geschlossener Kreislauf (Abb. 9). Um jedoch der Pluralität der Beziehungsmöglichkeiten graphisch gerecht zu werden, wäre die Kugel angemessen (45). Häufig kommt es aber zu Fehlentwicklungen, bei denen die Einzelnen hierarchisch geschichtet werden (Abb. 10).
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Yagi unterscheidet drei Typen der Frontstruktur. Neben dem in unserem Zusammenhang vernachlässigbaren substanziellen Typ, bei dem es um den materiellen Austausch geht, sind das der Wellen- und der FeldTyp. Mit dem Wellen-Typ lässt sich etwa die Wirkung der Worte Jesu auf die Nachgeborenen erklären. Die Front-Ausdehnung ermöglicht, dass „die Worte Jesu uns erreichen und uns immer noch anreden, obgleich er selber schon vor zweitausend Jahren gestorben ist“ (30). Zur vollen Entfaltung kommt Yagis Christologie aber erst durch das Interpretament des FeldTyps. Anders als Takizawa, der den Kontakt zwischen Transzendenz und Mensch in einem Punkt verwirklicht sieht, denkt Yagi sich diese Beziehung als ein Wirkungsfeld.67 Dies ermöglicht ihm die Rekonstruktion des Gegenübers. Ich befinde mich im Wirkungsfeld Christi oder traditionell ausgedrückt, ich bin ‚in Christus‘, zugleich wirkt ‚Christus in mir‘. E3
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Aus beutung
Abb. 8–10: Die Frontstruktur (Yagi)
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§ 8 Christologie im Kontext des Buddhismus 137
4. Interreligiöse Christologie als intellektuelle Grenzerfahrung Die Takizawa-Yagi-Debatte Die äußeren Umstände sind schnell erzählt. Takizawa begann eine Rezension zu Yagis „Die Entdeckung des neutestamentlichen Denkens“ (jap. 1963), die sich zu einem eigenen Buch unter dem Titel „Der biblische Jesus und das moderne Denken“ (jap. 1965), ausweitete. Yagi reagierte darauf mit einem weiteren Buch, „Der biblische Christus und die menschliche Existenz“ (jap. 1967), worauf Takizawa sein „Immanuel, der Ursprungsort der Freiheit“ (jap. 1969) folgen ließ. Trotz des weiterhin bestehenden Dissenses nahm Takizawa die beiden Bücher Yagis als philosophische Dissertation an (1967). Ihre Debatte setzten sie zunächst in der Zeitschrift „Evangelium und Welt“ (jap.) fort.68 Übereinstimmung wurde dabei nicht mehr erzielt. Takizawa kritisierte an Yagi, dass dieser rein existenzial und ideengeschichtlich argumentiere und beanspruche, philosophisch neutral zu bleiben.69 Dies führe zu Indifferenz in der Wahrheits- bzw. Gottesfrage. „Yagi rede von der Transzendenz nicht sachgemäß, wie das auch bei Bultmann der Fall sei.“70 Nach der Lektüre von Takizawas ein Jahr zuvor erschienenem Hauptwerk „Buddhismus und Christentum“ (jap. 1964) übernimmt Yagi in seinem zweiten Buch von 1967 dessen Grundlegung der menschlichen Existenz im Immanuel und die Unterscheidung von primärem und sekundärem Kontakt. Diese Adaption bedeutet eine völlige Kehrtwende in Yagis Denken. In der Folge prägt er seine eigene Terminologie und entwickelt eine Systematik. Nach Kenzo Tagawa wurde er vom Existenzialisten zum Essenzialisten.71 Takizawa scheint dieses Einlenken Yagis auf seine Argumentation allerdings nie wirklich gewürdigt zu haben. Seinerseits eignet er sich durch Yagi vermittelt die Unterscheidung von historischem Jesus und kerygmatischem Christus an, verwendet sie aber im Sinne seines eigenen Denkens. Der historische Jesus ist dann das Vorbild für den im Menschen verwirklichten sekundären Kontakt. Der kerygmatische Christus ist der große Irrtum der Gemeinde. Gegenüber Takizawas ontologischer Sicht des Urfaktums Immanuel betont Yagi, dass der primäre Kontakt nur ein potenzieller ist, der erst im sekundären verwirklicht wird.
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Soweit das Göttliche sich nicht selbst dem Ego offenbart – d. h. soweit wir uns dessen nicht bewusst sind –, ist diese Realität praktisch nicht existent und in diesem Sinne sind wir nicht mit dem Göttlichen vereint.72
Hier gewinnt nun die aus dem Zen-Buddhismus übernommene Konzeption der unmittelbaren Erfahrung an Trennschärfe. Yagi hatte von Anfang an den Eindruck, Takizawa selbst kenne nicht ‚die unmittelbare Erfahrung‘ und deshalb argumentiere er nicht von der unmittelbaren Erfahrung her, sondern aufgrund der unpräzisen Schilderung Nishidas. Dieser Eindruck aber verstärkte sich um so mehr, je öfter und länger Yagi mit Takizawa Gespräche führte.73
Takizawa und seine Schüler machten Yagi den Vorwurf, er würde die Unumkehrbarkeit des primären und sekundären Kontaktes infrage stellen. Dieser Unterstellung begegnet Yagi mit seiner Feldtheorie. Wenn er Christus als das Wirkungsfeld deutet, sind wir immer schon „in Christus“, auch wenn die Selbst-Identität des „Christus in mir“ dadurch nur potenziell gegeben ist und erst im sekundären Kontakt, der letztendlich nichts anderes als die unmittelbare Erfahrung des primären Kontaktes ist, verwirklicht wird.74 Christus als ein Gegenüber des Menschen ist Takizawa immer fremd geblieben. Aber auch Yagi erhält die Unterscheidung zwischen Christus im ersten und zweiten Sinne ausdrücklich aufrecht. Gemeint ist bei ihm ebenfalls die den Menschen zugekehrte Seite Gottes. Interreligiöse Christologie Werner Kohler, selbst ein Barth-Schüler, der sich als Japan-Missionar in seiner Theologie tief auf das Denken Takizawas eingelassen hat,75 nennt diesen einen „Buddhist[en], der Christ ist“.76 Kohlers Mainzer Assistent Ulrich Schoen hat in seiner Habilitationsschrift für diesen Sachverhalt den Begriff der „interreligiösen Existenz“77 geprägt. Doch treffen diese Charakterisierungen noch nicht den Kern des Problems. Bei Takizawa und Yagi steht die gedachte Religion im Vordergrund, weniger die gelebte. Sie nehmen mit ihren Betrachtungen einen Standpunkt außerhalb der beiden Religionen ein und konstruieren dadurch eine Metareligion.78
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Entgegen der Maxime seines Lehrers Barth, allein „die christliche Religion ist die wahre Religion“,79 ist für Takizawa das Urfaktum Immanuel der gemeinsame Grund von Buddhismus und Christentum. „Es ist ausgeschlossen, die Religion mit dem Grund der Religion zu vermischen.“80 Yagi hat diesen Denkansatz Takizawas übernommen. Während sich Takizawa jedoch vehement gegen die Bezeichnung Religionsphilosoph gewehrt hat,81 nennt Yagi die Religionsphilosophie neben neutestamentlicher Wissenschaft und dem Dialog mit dem Buddhismus als sein drittes Arbeitsgebiet.82 Beiden geht es um eine Deabsolutierung des Christentums. Zentraler Ansatzpunkt ist für beide die Christologie. Durch eine radikale Trennung von Christologie und Soteriologie und die Zurücknahme der Letzteren in den ersten Glaubensartikel, die Gotteslehre,83 bleibt zunächst einmal eine Urbild- bzw. Vorbildchristologie übrig. Gleichzeitig kommt es zu einer immensen Aufwertung der Anthropologie. Dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, wird hier letztendlich so interpretiert, dass Gott selbst sich in jedem Menschen abbildet.
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§ 9 Christologie im gesamtasiatischen Kontext Kosuke Koyama und Choan-Seng Song
1. Die Geschichten des Evangeliums in Asien erzählen In unserer Galerie der kontextuellen Theologen fallen Kosuke Koyama und Choan-Seng Song etwas aus dem Rahmen. Sie überschreiten den Kontext ihrer Heimatländer theologisch und wenden sich dem gesamtasiatischen Horizont zu. Einen Gutteil ihres Lebens haben sie zudem zunächst als Studenten, später dann als ökumenische Funktionäre und theologische Lehrer im westlichen Ausland verbracht. Im Unterschied zu den in den beiden vorangegangenen Paragraphen vorgestellten speziellen Dialogtheologien vertreten Koyama und Song das ganze Spektrum der Inkulturationstheologie. Kosuke Koyama ist 1929 als Sohn einer christlichen Familie in Tokio zur Welt gekommen.1 Sein Großvater väterlicherseits hatte sich unter dem Einfluss des britischen Laientheologen Herbert George Brand (1865–1942), der auf eigene Faust in Japan und Korea missionierte (1888–1921), vom Buddhismus zum Christentum bekehrt. Der Respekt, den dieser Mann der japanischen Kultur und dem Buddhismus entgegenbrachte, hatte den Großvater von seiner Evangeliumsbotschaft überzeugt. Dem Andenken Brands ist Koyamas theologischer Rechenschaftsbericht „Mount Fuji and Mount Sinai“ gewidmet. Der Vater, durch das große Erdbeben von 1923 völlig verarmt, fand mit einer akuten Lungenentzündung Aufnahme in einem wohltätigen buddhistischen Krankenhaus, wo er den Folgen seiner Krankheit erlag. Er starb, als Kosuke fünf Jahre alt war. Anders als viele Neubekehrte, die unter dem Einfluss der westlichen Missionare ihre eigene Kultur völlig verneinen, hatte Koyama aufgrund seiner Familiengeschichte als Christ in dritter Generation eine offene Einstellung zu seinem kulturellen Erbe. Seine Taufe im Jahr 1942, mitten im Krieg, galt in der angeheizten Stimmung jedoch als ein Bekenntnis zur Religion des Feindes.2 Die christliche Minderheit (ca. 1 %) wurde trotz wiederholter Servilitätsadressen seitens der Kirchenleitung von der Regierung mit Argwohn beobachtet.
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Die Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg, die Koyama als sechzehnjähriger im zerbombten Tokio bewusst miterlebte, prägte ihn nachhaltig. Wiederholt kommt er darauf zu sprechen: Es war der 25. Mai 1945. Die ganze Nacht wurde Tokio von den amerikanischen B29-Flugzeugen bombardiert. Unser winziges Holzhaus war mit dem ganzen Tokio in Schutt und Asche gefallen.3 Die Nacht […] begann mit einer bedrohlichen Stille, aber gegen Mitternacht verwandelte sich unser Stadtteil von Tokio in ein Flammenmeer, es hagelte Feuerbomben. Die Luftangriffe setzten sich bis in die frühen Morgenstunden fort. Ich war allein und rannte von einem Luftschutzkeller zum anderen. Ich hörte das schrille Fluggeräusch einer Bombe auf mich zukommen. In Panik rannte ich so schnell ich konnte, allerdings in die falsche Richtung, wie sich herausstellte. Wäre ich etwas schneller gelaufen, wäre mein Kopf von einer riesigen Bombe zerschmettert worden, die vor mir niederging und durch Zufall nicht explodierte. Sie verschwand im Boden, ich sprang darüber weg und rannte zum nächsten Unterstand, wo ich hoffte, die übrigen Mitglieder meiner Familie zu finden.4 Der Morgen dämmerte, als ob nichts geschehen sei. Ich wusste, dass es Tag wurde, weil ich die Sonne über der Mondlandschaft, die einmal Tokio gewesen war, aufgehen sah. Ich sah die Sonne, […] aber es war eine Sonne, die ich nicht kannte. Die Sonne, die mir vertraut war, ging an diesem Morgen nicht auf. Es war eine andere, fremde Sonne, die über der Wüste aufging. Über Nacht war Tokio völlig verändert worden. Ich fühlte mich heimatlos. Ich fühlte mich deplatziert und verloren. Ich fühlte, wie eine unerträgliche Einsamkeit mich umschloss. Tokio war eine verlassene Stadt und ich ein verlassenes Wesen. Ich war zur Waise geworden. Ich fühlte mich wie außerhalb der Zeit gestellt, […] als ob ich in unbelebte Zeitlosigkeit versunken wäre.5
Koyamas Entschluss, Theologie zu studieren, war mit von dem Verlangen bestimmt, die bitteren Erfahrungen der Kriegsjahre aufzuarbeiten. Das Studium am Tokyo Union Theological Seminary verlief in dieser Hinsicht allerdings frustrierend für ihn. Die Frage der Kriegsschuld und die von Japan begangenen Kriegsverbrechen wurden in den Seminardiskussionen nicht thematisiert. Wohl auch aus Enttäuschung darüber entschied Koyama sich gegen die Gemeindearbeit und ließ Japan für ein Auslandsstudium hin-
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ter sich. Anders als seine beiden Landsleute Takizawa und Yagi führte ihn sein Weg nicht in das zu diesem Zeitpunkt ebenfalls vom Krieg zerstörte Deutschland, von dessen theologischer Tradition die japanische Theologie stark bestimmt war, sondern in die Vereinigten Staaten, das Land der Sieger. Nach dem Bakkalaureat an der Drew University (1954) schrieb er sich in Princeton ein, wo er 1955 den Magistergrad erwarb und vier Jahre später (1959) seine Doktorarbeit über Luthers Exegese der Bußpsalmen vorlegte.6 Koyama hüllt sich über die Erfahrungen dieser Studienjahre in ungewöhnliches Schweigen. Gemeinsam mit seiner amerikanischen Frau Lois Rozendaal, die er als seine Kommilitonin in Princeton kennengelernt hatte, kehrt er nach Japan zurück. Die Vereinigte Kirche Christi in Japan (Kyodan)7 entsendet sie als Missionare nach Thailand. Von 1960–1968 unterrichtet er Systematische Theologie am Thailand Theological Seminary in Chiangmai. Koyama entdeckt Asien als seinen theologischen Resonanzboden wieder. Neben den Kriegserlebnissen sollten ihm diese Jahre zu seiner zweiten großen theologischen Referenzerfahrung werden. Er entwirft die Vision einer „Theologie von unten“, die sich selbst entäußert und mit den „Rohmaterialien“ und „Rohsituationen“ Asiens arbeitet. Die 1974 erschienene Aufsatzsammlung Waterbuffalo Theology8 dokumentiert seine ersten Schritte in diese Richtung. Sie hat ihn mit einem Schlag bekannt gemacht. In der Einleitung erläutert er sein Programm auf recht poetische Art und Weise: Auf meinem Weg zur Dorfkirche versäume ich nie, einer Herde Wasserbüffel beim Grasen im schlammigen Reisfeld zuzusehen. Dieser Anblick ist ein Moment der Inspiration für mich. Warum? Weil es mich daran erinnert, dass die Menschen, denen ich das Evangelium bringen soll, den Großteil ihrer Zeit mit diesen Wasserbüffeln im Reisfeld zubringen. Die Wasserbüffel bereiten mich darauf vor, dass ich vor diesen Farmern in der einfachsten Satzstruktur und mit einem klaren Gedankenaufbau predigen muss. Sie erinnern mich daran, alle abstrakten Ideen zu verwerfen und ausschließlich Objekte zu erwähnen, die unmittelbar greifbar sind. ‚Klebriger Reis‘, ‚Banane‘, ‚Pfeffer‘, ‚Hund‘, ‚Katze‘, ‚Fahrrad‘, ‚Regenzeit‘, ‚undichtes Dach‘, ‚Fischfang‘, ‚Hahnenkampf‘, ‚Lotterie‘, ‚Magenschmerzen‘ – das sind sinntragende Worte für sie. ‚Heute Morgen‘, sage ich in Gedanken zu mir selbst, ‚werde ich versuchen, das Evangelium von Jesus Christus durch das Medium des Hahnenkampfes zu vermitteln.‘9
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1968 wechselt Koyama als Direktor der Association of Theological Schools in South East Asia und Dekan der South-East Asia Graduate School of Theology nach Singapur. Hier kann er institutionell verwirklichen, was er theologisch proklamiert. Zu seinen neuen Aufgaben gehört auch die Herausgeberschaft des South East Asia Journal of Theology,10 das sich über die Jahre zur wichtigsten theologischen Zeitschrift Asiens entwickelt. Koyama bereist nun ganz Asien. Er ist einer der Mitinitiatoren des Programms für Theologie und Kultur (Program for Theology and Culture in Asia – PTCA; seit 1987) der South-East Asia Graduate School. Das Jahr 1974 bringt noch einmal eine einschneidende Veränderung. Koyama verlässt Asien und tritt eine Dozentur (Senior Lecturer) für Religionsphänomenologie an der Universität von Otago in Dunedin, Neuseeland an (1974–1979). 1980 folgt er einem Ruf an das Union Theological Seminary in New York, wo er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Ökumenik und Weltchristenheit gelehrt hat. 2009 ist er einem Krebsleiden erlegen. Im selben Jahr wie Koyama (1929) in dem von Japan besetzten Taiwan (1895–1945) geboren, ist Choan-Seng Song11 in vielem dessen theologischer Zwillingsbruder. Er ist Sohn einer alteingesessenen chinesisch-stämmigen Familie, die schon früh zur Presbyterianischen Kirche konvertiert war. Das Christentum ist in Taiwan ähnlich wie in Japan eine verschwindende Minderheit (ca. 1 %), genießt aber durchaus Sympathien in der Bevölkerung. Die Presbyterianische Kirche ist die mit Abstand größte Denomination. Song studierte auf Anraten seines Mentors Hwang Chong-Hui, besser bekannt als Shoki Coe (1914–1988),12 zunächst Philosophie an der Taiwanesischen National-Universität (1950–1954; B. A.). Seine theologischen Studien absolvierte er in Edinburgh (1955–1958), New York (1958–1959) und Basel (Winter 1959/60). Nach einem Intermezzo als Dozent für Altes Testament am Tainan Theological College (TTC; 1960–1962) ging er zurück ans Union Theological Seminary nach New York (1962–1964), wo er 1965 mit einer Arbeit über das Verhältnis von Offenbarung und Religion bei Karl Barth und Paul Tillich promoviert wurde.13 Als Nachfolger von Shoki Coe war er dann bis zu seinem erneuten Weggang aus Taiwan Dekan des TTC und Professor für Systematische Theologie (1965–1970).
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Ähnlich wie Koyama musste Song die kulturell-religiöse Welt seiner Heimat nach den langen Jahren im Ausland erst neu entdecken. Doch schon parallel mit der Doktorarbeit in New York formuliert er erste Gedanken zu einer kontextuellen Theologie.14 Wiederholt äußert er sich auch kritisch gegenüber dem Regime der Nationalchinesen. Mit dieser Position steht er innerhalb der Presbyterianischen Kirche keinesfalls allein.15 Als Taiwan 1971 seinen Sitz in den Vereinten Nationen zugunsten der Volksrepublik China verliert und durch den Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in China die Normalisierung der Beziehungen augenfällig wird, gibt die Kirche eine „Öffentliche Erklärung zum Schicksal unserer Nation“ ab. 1977 folgt als Reaktion auf die Ein-China-Politik der USA die kirchliche „Menschenrechtserklärung“. Selbstbestimmung, Demokratisierung und Menschenrechte sind die zentralen Forderungen dieser Verlautbarungen. Für Song zeigt sich darin, „wie Gott seine konstruktive Politik durch die Kirche in Taiwan verwirklicht“.16 Sein selbstgewähltes Exil führt ihn zunächst erneut in die USA, wo Song als Asiensekretär der Reformierten Kirche arbeitet (1971–1973). 1973 geht er als stellvertretender Direktor der Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates nach Genf (1973–1982). Daran schließt sich eine Tätigkeit als Studiensekretär des Reformierten Weltbundes (World Alliance of Reformed Churches – WARC) an (1982–1987), zu dessen Präsident er später gewählt werden sollte (1997–2004). 1985 folgt er einem Ruf auf eine Professur für Theologie und asiatische Kulturen an der Pacific School of Religion in Berkley, Kalifornien. Zugleich ist er Dekan des bereits genannten Programms für Theologie und Kultur der South East Asia Graduate School of Theology, von 1990–1992 nebenamtlich auch wieder Rektor des TTC. Song hat sich nach seiner Emeritierung in Berkley (ca. 2009) in Tainan zur Ruhe gesetzt und sein Spätwerk auf Chinesisch publiziert. Choan-Seng Song und Kosuke Koyama sind Grenzgänger zwischen Asien und dem Westen, die in beiden Traditionen zu Hause sind. Oder sind sie heimatlos geworden? Während Song in Taiwan durchaus Anerkennung zuteil wurde, was sich nicht zuletzt an seiner (abermaligen) Ernennung zum nebenamtlichen Rektor des TTC (1990–1992) ablesen lässt, ist Koyama in Japan nicht rezipiert worden.17 Ihre Bücher sind keine Mo-
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nographien im akademischen Sinne, sondern Kompendien theologischer Gebrauchstexte – Gelegenheitsschriften, deren Genre zwischen Meditation und Essay oszilliert. In Fußnoten und eingestreuten Exkursen wird jedoch deutlich, dass sie mit der akademischen Theologie bestens vertraut sind. Beide sind auch kulturanthropologisch und religionsgeschichtlich gebildet. Ihre Verweigerung gegenüber der akademischen Konvention geschieht daher wohl bewusst. Das Movens ihrer theologischen Besinnungen ist die Frage der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur. Beide haben sich jedoch auch kritisch mit der Politik ihrer Heimatländer auseinandergesetzt. Während Song aktiv in der Organisation der Exiltaiwanesen mitarbeitete, manifestierte sich Koyamas Protest theologisch in seinem beständigen Warnen vor jeglicher Form von Idolatrie, wie er sie im japanischen Kaiserkult erleben musste. Neben der kulturell-religiösen Dimension ist mithin auch die sozio-ökonomisch und politische Dimension in ihren Schriften präsent. Methodisch beruft Koyama sich bereits auf den Theologischen Ausbildungsfonds (TEF) und sein Programm der Kontextualisierung. Doch benutzt er die Begrifflichkeit ohne jegliche Differenzierung.18 Im gleichen Atemzug mit Kontextualisierung spricht er von kritischem Akkommodations-Prophetismus (critical accommodational prophetism) und prophetischer Akkommodation (prophetic accommodation; 21), Inkarnation (23) und Indigenisierung (ebd.). Er kann aber auch von Dritte-Welt-Theologie (3), Inkulturation (87;123), Inlokalisierung (123) und Hebraisierung (156) reden. Koyama denkt dabei durchaus dialektisch. Jeder Missionar muss sich in zwei Arten von Exegese einüben: „Exegese des Wortes Gottes und Exegese des Lebens und der Kultur des Volkes, unter dem er lebt und arbeitet“ (91). Im Zusammenhang mit seiner Interpretation der „Theologie des Schmerzes Gottes“ seines Lehrers Kazoh Kitamori (1916–1998)19 spricht er von einer sich wechselseitig durchdringenden Korrelation (penetrating correlation) von Evangelium und Kultur (123). Für C. S. Song ist das „Versprechen“ (Ernst Lange) von Geschichten aus dem reichen Schatz asiatischer Kulturen und Religionen mit den biblischen Geschichten das Kompositionsprinzip seines reichen Œuvres.
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Wo das Wort Gottes und die Lebenswirklichkeit wechselseitig aufeinander bezogen sind, befinden sich beide in einem ständigen Prozess der Veränderung.20
Zwar spricht er unter Berufung auf Juan Luis Segundo gelegentlich vom „hermeneutischen Zirkel“,21 doch scheint Song insgesamt der gängigen Terminologie zu misstrauen.22 Wenn er sie doch einmal anführt, gebraucht er sie ähnlich undifferenziert wie Koyama.23 Dies gilt, obwohl die Ursprünge der Kontextualisierungsdebatte nach Taiwan weisen und Shoki Coe wesentlich an der Formulierung des Dritten Mandatsprogramms des TEF beteiligt war.24 Songs eigene Terminologie „Theologie des Dritten Auges“ und „transpositionelle Theologie“ wird, einmal eingeführt, nicht wieder aufgegriffen. „Der Begriff ‚Drittes Auge‘ ist dem Buddhismus entlehnt.“25 Song beruft sich auf den Zenmeister und Philosophen Daisetz Suzuki: Zen […] möchte uns ein ‚Drittes Auge‘ – so nennen es die Buddhisten – verleihen, um jenen bislang unbekannten Bereich wahrnehmen zu können, der durch unsere Unwissenheit verschlossen geblieben ist. Wenn die Wolke der Unwissenheit verschwindet, dann eröffnet sich uns die Unendlichkeit der Himmel in dem Augenblick, wo wir zum ersten Mal der Natur unseres eigenen Wesens ansichtig werden.26
Die „Theologie des Dritten Auges“, zugleich Titel des Buches, mit dem Song der internationale Durchbruch gelang, öffnet den Blick für das Wirken Gottes im Bereich der jeweils eigenen Kultur.27 In diesen Kontext hinein gilt es, die christliche Theologie zu transponieren, von „Israel nach Asien“, so das Motto eines frühen programmatischen Aufsatzes.28 Song definiert diese „Transposition“ näherhin als (1.) Übergang in Raum und Zeit, (2.) Kommunikation und (3.) Inkarnation.29 Mit Inkarnation ist der Begriff gefallen, der sich als theologische Chiffre für die Kontextualisierungsprozesse wie ein roter Faden durch das gesamte Werk zieht. Von einigen wenigen Passagen abgesehen, arbeitet Song allerdings nicht konzeptionell, sondern narrativ, ähnlich wie Koyama. Er hat mit der story-Theologie Ernst gemacht. Während Song jedoch, selbst da, wo er von Taiwan spricht, weitgehend hinter seine Geschichten zurücktritt,
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thematisiert Koyama immer auch Koyama. Was er in der Einleitung seines letzten großen Buches schreibt, gilt im Grunde auch für alle vorhergehenden: Dieses Buch ist ein Bericht über meine persönliche Pilgerfahrt, wie ich meine geschichtliche Erfahrung und mein Glaubensbekenntnis zusammengebracht habe, oder besser gesagt, wie ich durch die Gnade Gottes dazu gebracht wurde, meine eigene geschichtliche Erfahrung und die Kreuzestheologie in einen inneren Dialog zu bringen.30
Beide Autoren räumen gleichermaßen der Christologie einen hohen Stellenwert in ihrer Theologie ein, wenn auch aus verschiedenen Zentralperspektiven und mit unterschiedlicher Funktion.
2. Das Kreuz hat keinen Handgriff (Kosuke Koyama) Koyamas theologisches Denken ist Kreuzes-zentriert. Dass das Kreuz keinen Handgriff hat, versinnbildlicht für ihn die Sperrigkeit und Unverfügbarkeit dieses christlichen Symbols. Gott hat sich im Kreuz Jesu Christi selbst entäußert. „Er begründete seine Zentralität, indem er sich an die Peripherie begab.“31 Das Kreuz symbolisiert Scheitern, Leiden und Tod vor aller Auferstehung. „Die biblische Wahrheit ist keine intakte, sondern eine erlittene Wahrheit. Die Wahrheit leidet, weil sie im innigen Kontakt zu den Menschen steht.“32 Nachfolge Jesu Christi ist Kreuzes-Nachfolge. Christen bedürfen dazu eines „gekreuzigten Verstandes (crucified mind)“.33 „Der gekreuzigte Verstand ist der von der Torheit und Schwachheit Gottes erschütterte Verstand.“34 Gemeint ist damit ein Habitus des Respekts gegenüber Gott und den Mitmenschen, gerade auch gegenüber den Menschen fremder Kulturen und Religionen. Gott ist für Koyama ein Gott der Langsamkeit, der sich dem Menschen in seiner Geschwindigkeit von „drei Meilen die Stunde“ anpasst.35 „Die Kreuzigung Jesu Christi, des Sohnes Gottes, bedeutet, dass Gott so langsam ging, dass er bei seiner Suche nach dem Menschen ans Kreuz geschlagen wurde.“36 Wenn er die Menschen in der Geschichte aufsucht, begegnet Gott ihnen mit Respekt für die Autonomie, in die er sie entlassen hat.
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Diesem Verhalten Gottes entsprechend, müssen die Menschen sich ihm ebenfalls langsam, bedächtig und mit Respekt nähern. Gleichzeitig findet dieses Gottesverhältnis sein Abbild in der Beziehung zu den Mitmenschen. Koyama wendet sich gegen eine „Kreuzzugsmentalität (crusading mind)“,37 die den anderen gering achtet. Wir betrachten die Menschen in ihrer Gesamtheit und stufen dann alle, die keine Christen sind, als ‚Nicht-Christen‘ ein.38
Einer solchen Haltung wehrend, proklamiert Koyama mit seinem Konzept der „Nachbarschaftlichkeit (neighbourology)“39 einen radikalen Perspektivenwechsel. In der Begegnung mit dem Nächsten, auch dem einer anderen Kultur und Religion angehörenden, begegnet uns Gott. Unser Gespür für die Gegenwart Gottes wird verzerrt, wenn wir es versäumen, Gottes Realität unter den Bedingungen der Realität unserer Nachbarn zu sehen. Und unser Gespür für die Realität unserer Nachbarn wird entstellt sein, solange sie nicht unter den Bedingungen der Realität Gottes gesehen wird.40
Wir müssen unsere Theologie daher gewissermaßen aus der Perspektive der anderen und gemeinsam mit ihnen treiben. Werden wir und unsere Religion von den anderen doch auch nach unserem Verhalten ihnen gegenüber eingeschätzt: „Unsere Nachbarn kümmern sich nicht um unsere Christologie, aber sie bekunden von Zeit zu Zeit Interesse an unserer Nachbarschaftlichkeit.“41 Gemäß diesem Konzept der Nachbarschaftlichkeit richtet Koyama sein Augenmerk weniger auf das religiöse System, den -ismus, bzw. die Lehre, die -logie, als auf die gelebte Religion und ihre konkreten Anhängerinnen und Anhänger.42 Koyama redet dabei keineswegs dem Synkretismus das Wort. Wobei er unter Synkretismus zunächst religionsphänomenologisch die Prozesse versteht, die bei der Begegnung und Interaktion von Religionen ablaufen.43 „Die Frage ist, ob eine solche Wechselwirkung des Evangeliums mit irgendeiner Religion oder Kultur eine Bereicherung oder eine Verzerrung des Evangeliums hervorbringt“.44 Ähnlich wie M. M. Thomas vertritt Kosuke Koyama eine inklusive Position:
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Wenn wir alle dazu bringen, sich vor dem Namen Jesu zu verneigen, sind wir nicht synkretistisch. Aber wenn wir den Namen Jesu neben irgendeinen anderen Namen stellen und sagen, dass es wirklich keinen Unterschied zwischen diesem und den anderen Namen gibt, werden wir synkretistisch.45
Bei Koyama wird im Ansatz ein Missionsverständnis sichtbar, wie es biblisch in Mt 5,14–16 angelegt ist. „Licht der Welt“, „Stadt auf dem Berge“ sein, hinter dieser bildreichen Sprache steht der Anspruch an die Anhänger Jesu, bei den Menschen präsent zu sein und ihnen mit ihrem Verhalten ein Vorbild zu geben, „Nachbarschaftlichkeit ist in der Tat das beste Gefäß, um Christus weiterzureichen.“46 Der christliche Glaube breitet sich nicht durch Kreuzzüge aus. Er wird sich ohne Geld, ohne Bischöfe, ohne Theologen und ohne Planung ausbreiten, wenn die Menschen einen gekreuzigten Verstand und nicht eine Kreuzzugsmentalität bei den Christen erkennen.47
Als asiatischer Christ verkörpert Koyama das Dilemma des Kulturkontakts in Person. Am Anfang seines theologischen Hauptwerkes „Mount Fuji and Mount Sinai“ stellt er denn auch die rhetorische Frage: „Wie kann ich die Gedankenwelt des Berges Sinai schätzen lernen, ohne sie in einen Dialog mit der kulturellen Welt zu bringen, in die ich selbst hineingeboren wurde?“48 Koyama lässt hier sein kulturell-religiöses Erbe Revue passieren. Er betont, dass seine Theologie „mit einem tiefen Gefühl des Respekts für diese Erinnerungen beginnt“.49 Doch wie das Kreuz die kritische Instanz für das eigene Verhalten gegenüber den anderen ist, so müssen auch die anderen sich am Anspruch des Kreuzes messen lassen. Ich würde vorschlagen, dass es [das Kreuz] das Kriterium für die Symbole aller Religionen werden soll. Dies ist ein skandalöses Kriterium, weil es ein gekreuzigtes Kriterium ist, ein Kriterium radikaler Selbstverneinung. Es ist das Kriterium, das die theologia crucis wahrt.50
Der Staatsshintoismus, der Japan in den Krieg stürzte, wird als Götzendienst (idolatry) entlarvt. Die japanische Niederlage deutet Koyama als Strafgericht
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Gottes.51 Diesem Trauma seiner Jugend steht die Wiederentdeckung der asiatischen Kulturen und Religionen während seiner Zeit als Missionar in Thailand und theologischer Funktionär in Singapur gegenüber. Koyamas Weltbild erinnert an Troeltschs Kulturkreistheorie.52 Asien ist von zwei großen Traditionsströmen bereichert worden: „(1.) der indischchinesischen Tradition und (2.) der jüdisch-christlich-islamischen Tradition“.53 Die asiatische Spiritualität ist kosmologisch, naturorientiert und generiert ein zyklisches Weltbild. Die biblische Spiritualität ist demgegenüber eschatologisch und basiert auf einer linearen Geschichtsauffassung. Asiatische Frömmigkeit ist weltabgewandt, ihre Götter sind kühl. Der christliche Gott ist heiß, der Welt zugewandt. Übers. 8: Asiatische und biblische Spiritualität (Koyama) asiatische Spiritualität
biblische Spiritualität
Kosmologie
Eschatologie
Natur (zyklisch)
Geschichte (linear)
weltabgewandt (kühl)
weltzugewandt (heiß)
Diese Gegenüberstellung durchbricht Koyama in dreifacher Hinsicht: • Religionsphänomenologisch sucht er nach Entsprechungen zwischen christlicher und asiatischer Spiritualität. Dem gemeinhin als geschichtslos charakterisierten Buddhismus etwa, dem Koyama mit großer Sympathie begegnet, attestiert er geschichtliches Denken.54 Begründet sieht er dies zunächst in der Bedeutung, die dem historischen Buddha als Religionsstifter zukommt. Zudem trägt seine Lehre emanzipatorische Züge: Opfer, magisches Denken und das Kastensystem lehnt er ab. Selbst ein so zentraler Satz wie die Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit (pratityasamutpada) impliziert geschichtliches Denken. „Der Buddhismus nimmt die Geschichte ernst, weil er das Problem der tanha [Gier] ernst nimmt.“55 • Mit der überraschenden Feststellung, dass es „keinen fundamentalen Unterschied zwischen Ost und West gibt“,56 bringt Koyama ein anthropologisches Argument ins Spiel. Der Mensch ist als solcher zunächst kosmologisch orientiert. Die eigentliche „Kulturrevolution“ wurde
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durch das Eingreifen Gottes in die Geschichte ausgelöst. „Einige Kulturen waren historisch diesem Gott mehr ausgesetzt als andere.“57 „Es ist die Tiefe, in der der Westen diesem kritischen Element ausgesetzt war, die ihn vom Osten unterscheidet.“58 Die Übergänge zum dritten, theologischen Argumentationsmuster sind fließend. • Das ‚Gott kam früher als der Missionar‘ ist auch bei Koyama deutlich zu vernehmen: „Oft werde ich daran erinnert, dass Jesus Christus unter den Völkern der Welt gegenwärtig war, auch vor der Ankunft von Missionaren, Christen und Kirchen.“59 Nach den Spuren dieses Geschichtshandelns Gottes in Asien zu suchen, betrachtet Koyama als seine vornehmste Aufgabe. Des grundsätzlichen Antwortcharakters dieses Unternehmens ist er sich dabei durchaus bewusst.60 Das Kriterium für diese Suche im Kontext des Pluralismus der Kulturen und Religionen Asiens ist für Koyama das Kreuz. Die Nähe zum hermeneutischen Konzept des „Christus-zentrierten Synkretismus“ von M. M. Thomas wurde schon herausgestellt. Credohaft postuliert Koyama: „Niemand kann die Inkarnation von der Kreuzigung und die Kreuzigung von der Auferstehung isolieren. […] Wir haben keine Aufsplitterung in eine Theologie der Inkarnation, eine Theologie des Kreuzes und eine Theologie der Auferstehung.“61 Eingedenk dieser Prämisse kann er selbst dann aber durchgängig aus der Kreuzesperspektive argumentieren. Während ihm die Inkarnation zur theologischen Begründung der Inkulturationsprozesse dient, zu deren Kriterium er das Kreuz erhoben hat, muss die Auferstehung als zum Kreuzesgeschehen gehörig mitgedacht gelten, ohne dass sie weiter thematisiert wird. Die Jesusgeschichten spielen in Koyamas Theologie eine eher nachgeordnete Rolle. Anders bei Song, der die Inkarnationsperspektive mit der Schöpfungstheologie verbindet.
3. Theologie der Inkarnation in Asien (Choan-Seng Song) Song baut seine Argumentation zweigleisig auf. Gott hat die Welt geschaffen und ist seit Anbeginn in eine Geschichte mit ihr verstrickt. In Jesus Christus ist er Mensch geworden und in diese Geschichte eingegangen. „Darum muss Theologie primär von Geschichte handeln, und zwar der
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Geschichte der Völker und Nationen.“62 Durch die enge Verknüpfung von Schöpfung und Erlösung will Song seine Prämisse, dass Gott in den asiatischen Kulturen und Religionen wirkt, theologisch plausibel machen. So hängen Schöpfung und Erlösung untrennbar miteinander zusammen. Wo es Schöpfung gibt, ist auch Erlösung. Dies gilt gleichermaßen umgekehrt. Die Schöpfung ist Gottes Erlösungswerk, und die Erlösung ist Gottes Schöpfungsakt.63
Doch erachtet Song die Gotteslehre als denkbar ungeeignet für den Einstieg in die Theologie.64 Ein Rest von Offenbarungspositivismus ist ihm aus seiner Zeit als Schüler von Thomas F. Torrance in Edinburgh und der späteren Doktorarbeit über Barth geblieben. Gott „hat sich in Jesus Christus offenbart, und darum muss Jesus Christus im Zentrum unserer theologischen Arbeit stehen“.65 Dennoch will er sich die Theo-logie keinesfalls durch einen Christozentrismus verbauen. Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sind vielmehr der hermeneutische Schlüssel, um die Spuren des Geschichtshandelns Gottes in Asien aufzudecken. Weil in Jesus Christus Gottes schöpferisches und erlösendes Handeln in seiner äußersten Verdichtung sichtbar wird, wirft er ein neues Licht auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.66 Deshalb müssen wir versuchen, durch seine Person und sein Handeln hindurch Gottes Heilswerk in den Kontexten der asiatischen kulturellen und religiösen Erfahrung zu verstehen.67
Die Pneumatologie ist demgegenüber auch bei Song lange Zeit nur schwach ausgeprägt gewesen. Erst im Rahmen seiner trinitarisch angelegten Trilogie „Das Kreuz in der Lotuswelt“ widmet er ihr einen eigenen Band. Der Geist Gottes ist es, der Jesus zu seinem Handeln ermächtigt.68 In diesem Geist ist der Auferstandene bei uns gegenwärtig (227).69 Der Heilige Geist ist das Medium der Kommunikation ad intra wie ad extra. Und wenn der Geist den gekreuzigten, gestorbenen und begrabenen Jesus dazu in die Lage versetzt, mit uns in der Welt gegenwärtig zu sein, als Jesus auferstanden, lebendig und arbeitend, wird derselbe Geist auch für uns Ostern geschehen las-
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sen, die wir den Mächten der Korruption, der Zerstörung und des Todes an jedem Tag unseres Lebens erneut entgegentreten müssen (305).
Durch das Nacherzählen und miteinander Versprechen unzähliger Geschichten, biblischer, asiatischer aber auch westlicher, rekonstruiert Song die Geschichte des dreieinigen Gottes. Hinter dem Kaleidoskop von Geschichten verbirgt sich ein dialektischer Verstand, der den Leser immer wieder mit überraschenden Perspektivenwechseln konfrontiert. Drei davon seien in ihren theologischen Konsequenzen kurz skizziert. • Identifikation versus Stellvertretung In den „ökonomisch Ausgebeuteten, politisch Unterdrückten, kulturell und religiös Entfremdeten, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse oder Klasse Diskriminierten“ ist der leidende Jesus gegenwärtig. „Kurz gesagt, Jesus ist das gekreuzigte Volk.“70 Der Kreuzestod Jesu ist nicht primär als Stellvertretung und schon gar nicht als Opfer zu deuten. Am Kreuz hat Gott in Jesus Christus die Leiden der kleinen Leute geteilt. Gott ist Mensch geworden bis in den Foltertod am Kreuz. Der Gott am Kreuz – das ist nicht in erster Linie der Gott, der Leiden und Tod stellvertretend für diese Welt auf sich genommen hat, sondern das ist der Gott, der mit der Welt leidet und stirbt. Der Gedanke der Stellvertretung muss hinter den der Identifikation zurücktreten. Im gekreuzigten Gott offenbart sich uns der Gott, der sich mit uns bis zur letzten Konsequenz im Leiden und Sterben identifiziert. Gott leidet mit uns und stirbt mit uns.71
Dieser Perspektivenwechsel kann nicht folgenlos für die Hamartiologie bleiben. „Es gibt keinen theologischen Grund für einen kausalen Zusammenhang zwischen Sünde und Gnade.“72 Sünde ist menschliche Verfehlung gegen Gott und die Mitmenschen bzw. die Gemeinschaft. Das Kreuz wird für Song zur Chiffre für die dunklen Seiten der Schöpfung, für die Gewalt, die Menschen fähig sind anderen Menschen zuzufügen. „Das Kreuz bedeutet, dass menschliche Wesen menschliche Wesen verwerfen.“73 Zugleich verschränken sich im Kreuz die Sünde gegen den Mitmenschen und die Sünde gegen Gott. Das Kreuz wird so zum Inbegriff der Sünde.
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Der Skandal des Kreuzes ist der Skandal der Menschheit. Dieser Skandal ist selbst für Gott zu viel. Mit dem tiefen Schweigen protestiert Gott gegen den Skandal, den menschliche Wesen gegen Gottes geliebten Sohn begangen haben. 74
Das Schweigen Gottes impliziert für Song sein Mitleiden mit seiner Schöpfung. Song wendet sich jedoch zugleich gegen eine Deutung des Kreuzes als innertrinitarisches Geschehen, wie sie etwa von Jürgen Moltmann und in Asien von Kazoh Kitamori vertreten wird. An dieser Stelle gehen Kitamori und Moltmann in ihrem theologischen Denken über das hinaus, was als biblischer Glaube bezeugt ist.75
• Gottesherrschaft versus Reich Gottes Song spricht von der Gottesherrschaft (reign of God) in polemischer Abgrenzung zu einer jenseitsorientierten Reich-Gottes-Hoffnung (kingdom of God).76 Im Zentrum der Verkündigung Jesu Christi steht die Gottesherrschaft (ix). Genau genommen hat Jesus die Gottesherrschaft nicht in die Welt gebracht, weil sie schon da war. Was er getan hat, war, Menschen in seine Manifestierung zu verstricken, sie erkennen zu lassen, dass sie da ist, ihr inneres Auge zu öffnen, es zu sehen (162).
Jesu Vision der Gottesherrschaft ist aus dem Zusammenleben mit den kleinen Leuten erwachsen (4). Zugleich ist sie das hermeneutische Prinzip, um sein Leben und Werk zu verstehen (2). Botschaft und Person stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang (xii). • Missio Dei versus Missio ecclesiae Gott wirkt in seiner Schöpfung von Anbeginn. Dieses Geschichtshandeln des dreieinigen Gottes kann auch als Missio Dei beschrieben werden. Die Missio ecclesiae stellt darin nur einen begrenzten Bereich dar. Jeder Versuch, sie zu verabsolutieren, kehrt sie gegen Gott. Das heißt zugleich, dass das Heil und damit die Gegenwart Gottes selbst sich nicht auf die Kirche beschränken lässt.
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… eine bestimmte Kultur allein, selbst diejenige, die als christliche Kultur bezeichnet wird, kann nicht die Gesamtheit der Gedanken Gottes für die Welt offenbaren. Solange die Hindu-Kultur oder die konfuzianistische Kultur nicht konsultiert wird, bleibt der Gott der Christen ein partieller Gott.77
Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, dass Song sich gegen Proselytenmacherei wendet.78 Eine christlich-ökumenische Vision sollte nicht zu schnell in ein christliches Missionsunternehmen übersetzt werden. Dieses Wort der Warnung ist notwendig, damit wir nicht im Namen Jesu einen ‚christlich-ökumenischen Imperialismus‘ praktizieren und blind dafür sind, wer wir und andere wirklich sind. Eine ökumenische Vision, wenn sie ihrem Namen gerecht werden soll, umfasst viele lokale Visionen – eine Hindu-Vision, eine buddhistische Vision, eine konfuzianistische Vision, eine islamische Vision und so weiter. Die christliche Vision ist eine dieser lokalen Visionen. Sie ist ein Teil der ökumenischen Vision.79
Doch bleibt Songs Einstellung zur Mission letztendlich ambivalent. Kritische Töne80 stehen unvermittelt neben einer Missionstheologie, die durchaus der Koyamas vergleichbar ist.81 Auch wenn bei Songs umfangreichem Œuvre für die Leserinnen und Leser die permanente Gefahr darin besteht, im Gewebe der Geschichten den roten Faden zu verlieren, gelingt es ihm anders als Koyama doch, eine offene, aber durchaus kohärente Christologie zu entwerfen. Inkarnations- und Kreuzestheologie bzw. Schöpfungs-Erlösungsparadigma und Tod-Auferstehungsparadigma, wie er es selbst einmal genannt hat,82 verschmelzen bei ihm. Das Kreuz weist darauf hin, dass sich der Anbruch der neuen Schöpfung unter unsagbarem Schmerz und Leid vollzieht. In seinem ganzen Sein leidet Gott in Jesus Christus am Kreuz. Derselbe Gott, der leidet, ist auch der Gott, der erlöst.83
Der inkarnatorische Spannungsbogen hält Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi zusammen. Die Christologie wird zugleich zum hermeneutischen Schlüssel für das Geschichtshandeln des dreieinigen Gottes. Song
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schafft eine Synthese von Inkulturations- und Befreiungstheologie. All dies verdichtet sich für ihn im Titel seiner Trilogie „Das Kreuz in der Lotuswelt“. Für den Buddhisten hat der Lotos als religiöses Symbol den gleichen Stellenwert, den das Kreuz für den Christen besitzt. Auch wenn die zwei Sinnbilder sich in jeder Hinsicht grundsätzlich unterscheiden, verweisen beide gleichwohl auf die eine entscheidende Frage menschlichen Lebens: die Erlösung.84
Song buchstabiert unter christologischen Vorzeichen noch einmal durch, was er seit den frühen sechziger Jahren in einer Vielzahl von Aufsätzen und Büchern entfaltet hat. In Konturen wird hier sichtbar, wie eine zukünftige ökumenische Theologie, in deren Zentrum Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi stehen, von Gott dem Dreieinigen sprechen könnte.
4. Modelle asiatischer Christologie Am Ende unseres Durchgangs durch die asiatischen Inkulturations- bzw. Dialogtheologien kristallisieren sich drei Grundmodelle asiatischer Christologie heraus. M. M.Thomas und Kosuke Koyama vertreten einen Chris tozentrismus, der die Christologie zum Kriterium der Kultur- und Religionsbegegnung erhebt. Ziel des interreligiösen Dialogs ist die Mission, aber eine gewissermaßen postkoloniale Mission, die die kulturellen Identitäten der anderen wahren will. Der innere Widerspruch des inklusivistischen Modells, das den anderen eben doch als immer schon unter dem Heil Jesu Christi stehend sieht und so die andere Religion letztendlich nicht ernst nehmen kann, bleibt bestehen. Die Frage ist allerdings, ob es theologisch kohärent anders überhaupt zu denken ist. Ich spreche in diesem Zusammenhang vom Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma.85 Der Versuch jedenfalls, diesen Widerspruch durch ein theozentrisches Modell aufzuheben, wie es von Stanley J. Samartha und Katsumi Takizawa vertreten wird, ist zum Scheitern verurteilt. Sie suchen den gemeinsamen Heilsgrund von Hinduismus bzw. Buddhismus und Christentum in der Gotteslehre. Samartha gibt dabei auch noch die Vorstellung von einem personalen Gott auf. Übrig bleibt im besten Fall eine Urbild- bzw. Vorbildchristologie.
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Ein Ausweg scheint in den Entwürfen von Seiichi Yagi und C. S. Song angelegt zu sein. Sie verorten die Soteriologie ebenfalls in der Gotteslehre. Trotz des wiederholt monierten pneumatologischen Defizits beschreiten sie tendenziell einen trinitarischen Lösungsweg. Ich spreche daher von einer christozentrischen Theologie. Während Yagis Feldmodell, nach dem die Menschen sich immer schon im Feld der ihnen zugekehrten Seite Gottes befinden, geschichtslos ist (synchron), nimmt Song die Menschen hinein in die Geschichte des dreieinigen Gottes (diachron). Das theozentrische Modell weist durch das ihm eigene Gepräge einer theologia gloriae eine gewisse Nähe zur Afrikanischen Christologie auf. Allerdings lässt das diagnostizierte Auseinanderdriften von Christus als der den Menschen zugekehrten Seite Gottes und dem Menschen Jesus von Nazareth das Bild vom Christus victor verblassen, wie es etwa in der kosmischen Christologie durchaus angelegt ist. Übers. 9: Modelle asiatischer Christologie Christozentrismus
Christozentrische Theologie
Theozentrismus
Jesus Christus als Differenzkriterium
Jesus Christus als hermeneu- Ur- bzw. Vorbildchristologie tischer Schlüssel
Jesus Christus als Heilsmittler
Soteriologie in der Gotteslehre verortet
Offenbarung Gottes in Jesus Christus
• Jesus als Mensch • Christus als die den Menschen zugekehrte Seite Gottes
Thomas, Koyama
Samartha, Takizawa
Song, Yagi
Die theologia crucis dient im christozentrischen Modell als formales Differenzkriterium gegenüber den anderen Kulturen und Religionen. C. S. Song vertritt demgegenüber eine materiale Christologie, die Jesus im gekreuzigten Volk gegenwärtig sieht. Damit nimmt er ein zentrales Thema der Befreiungstheologien auf, denen wir uns nun erneut zuwenden wollen.
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D. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern …“ – Christologie im Kontext von Armut und Unterdrückung in Afrika und Asien
Flüchtlinge aus Ostpakistan, Holzschnitt, 1973 (Solomon Raj/Indien) Das Bildzentrum nimmt eine am Boden zusammengekauerte Mutter ein, ihr Kind eng umschlungen haltend. Schräg hinter den beiden sitzt der Vater in fast meditativer Haltung. Die Frau trägt einen Sari, der Mann Hüfttuch und Turban, um seinen Hals hängt ein schlichter Lederschmuck. Die Kleidung des Kindes ist nicht näher bestimmbar. Mutter und Kind sind barfuß. Alle drei haben die Augen vor Erschöpfung geschlossen. Aus dem mit unregelmäßigen, kurzen Schnitten strukturierten Hintergrund wölbt sich der Oberkörper Jesu Christi hervor, den linken Arm um den Vater legend, mit der Hand dessen linke Schulter umfassend. Der rechte Arm ragt über den Bildrand hinaus. Christus wirkt nach vorne gebeugt, als ob er die drei beschirmen wollte. Auf seinem Haupt prangt eine mächtige Dornenkrone. Auch sein Gesicht ist von Erschöpfung gezeichnet, die Augen sind geschlossen. Der nur mit dem Lendenschurz der Kulis bekleidete Unterleib geht in die Schraffur des Hintergrundes über. Vorne rechts steht ein Tongefäß, die einzige Habe der Familie. Gottes Sohn ist als kleiner Leute Kind zur Welt gekommen. Solomon Raj hat sie wiederholt als Flüchtlingsfamilie porträtiert. Christus ist unter den Armen und Unterdrückten gegenwärtig, zugleich tritt er ihnen als einer der ihren immer wieder gegenüber.
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§ 10 Der Schwarze Messias – Christologie im Kontext des Rassismus James H. Cone/USA und Allan A. Boesak/Südafrika In etwa zeitgleich, aber unabhängig von der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung entwickelte sich unter der schwarzen Minderheit in den Vereinigten Staaten ebenfalls eine Befreiungstheologie. Ihre Wurzeln hat sie in der Bürgerrechts- und der Black-Power-Bewegung mit ihren beiden kongenialen Protagonisten, dem Pfarrer Martin Luther King und dem Muslim Malcolm X.1 Bezeichneten sich ihre Exponenten im Einklang mit der Gesamtbewegung anfangs selbst als Neger (negroes), dann als Schwarze (blacks), hat sich heute weitgehend der Begriff Afro-Amerikaner (AfroAmericans) durchgesetzt, ein Hinweis auf ihr Selbstverständnis als afrikanische Diaspora. Die Rückbesinnung auf die afrikanischen Wurzeln hat in Teilen der Bewegung zur Ablehnung des Christentums als der Religion der weißen Sklavenhalter geführt. Diese Haltung begünstigte das Vordringen des Islams, prominent vertreten durch Malcolm X und seine Schwarzen Muslime (Black Muslims). Ähnlich wie in Lateinamerika Gustavo Gutiérrez mit der Veröffentlichung seines Buches „Theologie der Befreiung“ (1971/72) zur Gründergestalt avancierte, wurde in den USA James H. Cone durch seine beiden in kurzem Abstand erschienenen Bücher Black Theology and Black Power (1969)2 und A Black Theology of Liberation (1970)3 zur Galionsfigur dieser theologischen Bewegung. Der Südafrikaner Allan A. Boesak hat sich in seiner Kampener Dissertation „Unschuld die schuldig macht“4 im Wesentlichen mit Cones Entwurf einer „Schwarzen Theologie“ auseinandergesetzt. Cone ist der ungeliebte Pate der südafrikanischen Schwarzen Theologie, deren Vertreter nicht müde werden, ihre Eigenständigkeit zu beteuern.5
1. Jesus ist schwarz (James H. Cone) James Hal Cone (1938–2019)6 wurde als Kind einer schwarzen Familie in Fordyce, Arkansas, einer Kleinstadt im Süden der USA, geboren. Als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern in das nahegelegene Bearden, ein
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1200-Seelen Dorf mit einem Drittel schwarzer Bevölkerung. Die häuslichen Verhältnisse der fünfköpfigen Familie, neben James Hal gab es noch zwei weitere Söhne, waren ärmlich, doch legte der Vater einen gewissen Stolz an den Tag und widersetzte sich der latenten Rassendiskriminierung. Cone schildert verschiedentlich7 zwei kontrastierende Eindrücke, die ihm von Bearden in Erinnerung geblieben sind: die Frömmigkeit und Gemeinschaft in der Schwarzen Kirche, der African Methodist Episcopal Church (AME), und der Rassismus der Weißen. Die Entscheidung für das Theologiestudium ist früh gefallen. Sechzehnjährig, nach Abschluss der Highschool (1954), ging James Cone gemeinsam mit seinem Bruder Cecil zunächst an ein staatlich nicht anerkanntes Seminar der AMEKirche, das Shorter College. Später wechselten die Brüder dann aber an das ebenfalls zur methodistischen Kirche gehörende, jedoch anerkannte Philander Smith College. Nach dem Erwerb des Bachelor gingen die beiden wiederum gemeinsam ans Garrett Biblical Institute (später Garrett Evangelical Theological Seminary) nach Evanston, Illinois im Norden der USA. Cones Schilderung der Schikanen, die er als junger, begabter Student in diesen Jahren über sich ergehen lassen musste, ist bedrückend.8 Dennoch fand er auch unter den Weißen Lehrer, die ihn förderten, und konnte 1965 mit einer Arbeit über Barths Anthropologie promovieren. Bereits 1964 war ihm eine Dozentur am Philander Smith College übertragen worden, von der er jedoch nach nur zwei Jahren durch die weiße Seminarleitung wieder verdrängt wurde. Cone wechselte daraufhin ans Adrian College in Adrian, Michigan (1966). Es ist die Zeit der Bürgerrechtsbewegung und der Rassenunruhen. Im Sommer 1966 erscheint in der New York Times eine Erklärung des National Commitee of Negro Churchmen (später National Conference of Black Churchmen), mit der sie offen die Black-Power-Bewegung unterstützten.9 Cone selbst suchte schon seit längerer Zeit nach Möglichkeiten, seine schwarze Erfahrung und seine theologische Arbeit miteinander in Beziehung zu setzen. Zweifel an der Relevanz der an weißen Seminaren gelehrten akademischen Theologie für die Situation schwarzer Christen waren ihm schon während seiner Dozententätigkeit am Philander Smith College gekommen. Er schreibt dazu im Rückblick:
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Was aber hatten Barth, Tillich und Brunner mit dem Leben jener jungen schwarzen Männer und Frauen zu tun, die von den Baumwollfeldern von Arkansas, Tennessee und Mississippi stammten und die sich eine neue Zukunft zu gestalten suchten. […] Sechs Jahre lang hatte ich Theologie studiert, um nun zur Schlussfolgerung zu gelangen, dass sie für das, was mir am meisten am Herzen lag, irrelevant war.10
Diese Aussage Cones ist symptomatisch für den epistemologischen Bruch, der der Formulierung einer jeden Befreiungstheologie vorangeht. Es ist immer auch ein biographischer Bruch. Theologie und Biographie sind auf ähnliche Art und Weise miteinander verschränkt wie Theologie und Kontext.11 Die beiden hermeneutischen Zirkel verhalten sich gewissermaßen wie Mikro- und Makrostruktur. Ich will damit keinesfalls Theologie und Biographie in eins setzen, doch macht die für den theologischen Prozess propagierte dialektische Beziehung zwischen Text und Kontext nicht vor dem eigenen Leben halt, zumal die Partizipation ausdrücklich gefordert ist. Gerade die Befreiungstheologen sind von ihrer Theologie in besonderem Maße existenziell betroffen. Einer Einladung an das Elmhurst College folgend, bündelt Cone seine Gedanken erstmals in schriftlicher Form. Er schildert die Entstehung seines Vortragsmanuskripts Christianity and Black Power mit beredten Worten: Ich werde die Abfassung jenes Textes nie vergessen. Sowohl meine Identität als Christ als auch meine Identität als Schwarzer standen auf dem Spiel. An erster Stelle kam dabei für mich meine Identität als Schwarzer, und ich wäre nie bereit gewesen, sie für eine weiße Interpretation des Evangeliums, so wie ich diese am Garrett kennengelernt hatte, preiszugeben. Wenn Christus in den Freiheitskämpfen der Schwarzen oder in den Gettos inmitten der schwarzen, von Ratten gebissenen Kinder nicht zu finden war, wenn er sich nur in den weißen Kirchen und ihren Seminaren aufhielt, dann wollte ich von ihm nichts mehr wissen. Es ging mir nicht darum, ob man die Anliegen der Black-Power-Bewegung so deuten oder zurechtstutzen konnte, dass sie sich mit einem weißen Christus versöhnen ließen, sondern darum herauszufinden, ob der ganze biblische Christus auf die vorurteilsbefrachtete Interpretation weißer Gelehrter beschränkt blieb oder nicht. Ich war fest entschlossen, das zu Papier zu bringen, was ich im tiefsten meines Herzens spürte.
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Ich entschloss mich, ein richtiges Manifest zu schreiben, worin ich die Black-Power-Bewegung mit dem Evangelium Jesu identifizierte. […] Von Barth und anderen hatte ich auch gelernt, welche ideologischen Gefahren ein solches Vorgehen in sich barg. Für jemanden, der seine Theologie auf die göttliche Offenbarung gründen will, muss eine solche Gleichsetzung des Evangeliums mit einer konkreten politischen Bewegung ungeheuerlich sein. Aber ich wollte provozieren, genauso wie Barth provoziert hat, als er seinen Aufstand gegen die liberale Theologie wagte. Wie Barth in seiner Kritik an der liberalen Theologie die Theologie wieder vom Kopf auf ihre Füße stellen wollte, so wollte ich auch seine Theologie zurechtrücken und ihren Brennpunkt auf die Unterdrückten im allgemeinen sowie auf den schwarzen Befreiungskampf im Besonderen konzentrieren.12
Cones Reminiszenz an Karl Barth dokumentiert eindrücklich sein Ringen mit der westlichen, weißen theologischen Tradition. Er selbst reklamiert für sich, der bessere Barthianer zu sein: „Ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass ich in meinem Denken Barth näher stehe als sie [die Barthianer].“13 Cone hat für diesen vorgeblichen Barthianismus von seiner eigenen Klientel viel Kritik einstecken müssen, doch ist der theologische Vatermord längst vollzogen. Radikaler als die meisten Befreiungstheologen zieht Cone die Verwerfung Jesu Christi ins Kalkül, sollte es sich erweisen, dass er nicht im Leiden der Schwarzen gegenwärtig ist.14 Die ihn existenziell bewegende Frage lautet: ‚Wie kann ich als Schwarzer trotzdem Christ sein?‘ Diese Identitätsproblematik ist der hermeneutische Schlüssel zu seiner Identifikation von Black-Power-Bewegung und Evangelium Jesu Christi. Die Black-Power-Bewegung ist Ausdruck der Rekonstruktion einer Schwarzen Identität. Vergleichbar der lateinamerikanischen Befreiungstheologie schafft sie sich dabei ihren eigenen Ursprungsmythos.15 Über Jahrhunderte haben die Schwarzen die Diskriminierung ihrer weißen Unterdrücker internalisiert. Sie übernahmen deren Definition ihrer selbst als nicht-weiß und sahen ihre schwarze Hautfarbe als minderwertig an. Die Überwindung dieser Selbstverneinung verdichtet sich in dem Slogan „Schwarz ist schön (black is beautiful)“. Cone widerspricht jenen Aktivisten, die meinen, in diesem Prozess die Bedeutung des christlichen Glaubens für die schwarze Gemeinschaft vernachlässigen oder ihn gar als Religion des weißen Mannes abqualifizieren zu können. Sieht er
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in der Verkündigung der Schwarzen Kirche doch vielmehr eine Parallelstruktur zur Black-Power-Botschaft. Auf ähnliche Weise, wie wir das schon bei der Befreiungstheologie Lateinamerikas beobachten konnten, verleiht der Glaube an die Gegenwart Jesu Christi in ihrem Leiden den Schwarzen kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen ihre eigene Würde vor Gott und gibt ihnen ihre Selbstachtung zurück. Sechs Tage in der Woche hörten die Schwarzen von der weißen Gesellschaft, dass sie nichts wären. Aber am Sabbat oder dem ersten Tag in der Woche gingen sie zur Kirche, um etwas anderes über ihr Menschsein zu hören.16
Die Identifikation der Armen und Unterdrückten, in diesem Fall der schwarzen Sklaven und ihrer Nachkommen, mit dem Leiden Jesu Christi wirkt identitätsstiftend. Darin besteht eine weitere Parallele zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Dieses Verständnis des Kreuzes ist der weißen Lesart diametral entgegengesetzt. Die provozierende Identifikation von Black-Power-Bewegung und Evangelium ist bei genauerem Hinsehen also funktional begründet. Beide wollen strukturell das Gleiche, den Schwarzen ihre Menschenwürde zusprechen. Cones Ausführungen machen die Schwarze Kirche nachgerade zur Vorläuferin der Black-PowerBewegung. Die Schwarze Theologie ihrerseits transzendiert die Ziele von Black Power und zeigt ihre Verankerung im Glauben an Jesus Christus auf. Cone hatte durch die Publikation der beiden bereits eingangs genannten Schriften zur Schwarzen Theologie eine gewisse Popularität erlangt und erhielt mehrere Angebote von renommierten Schulen. 1969 folgte er dem Ruf ans Union Theological Seminary in New York, wo er bis zu seinem Krebstod gelehrt hat. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war nicht zuletzt die unmittelbare Nachbarschaft des Seminars zu Harlem. Cones Lebenswerk wurde mit 13 Ehrendoktorwürden und zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Methodisch legt Cones Ausgangsfrage – „was hat das Evangelium von Jesus Christus mit dem schwarzen Kampf für Gerechtigkeit in den Vereinigten Staaten zu tun?“17 – einen hermeneutischen Ansatz nahe. Die von ihm benannten Quellen Schwarzer Theologie lassen sich in zwei Gruppen unseren beiden hermeneutischen Bezugsgrößen zuordnen: Offenbarung,
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Schrift und Tradition dem Text und Schwarze Erfahrung, Schwarze Geschichte und Schwarze Kultur dem Kontext.18 Diese will Cone, ganz im Sinne des hermeneutischen Zirkels, dialektisch aufeinander beziehen. Das dialektische Verhältnis von schwarzer Erfahrung und Schrift ist der Ausgangspunkt für die Christologie im Rahmen der Schwarzen Theologie.19
Eine Christologie, die der Boffs oder Sobrinos vergleichbar wäre, findet sich unter Cones zahlreichen Publikationen nicht. Doch betont er wiederholt, dass das Zentrum seiner Schwarzen Theologie, wie überhaupt jeder christlichen Theologie, Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sei.20 Die Norm jeglicher Rede von Gott (God-talk), die Schwarze Rede (black-talk) sein will, ist die Verkündigung Jesu als dem Schwarzen Christus, der der Befreiung der Schwarzen die notwendige Seele verleiht.21
Darum herum gruppiert sich ein Set an Themen, das sich in unterschiedlichen Akzentuierungen in allen Befreiungstheologien nachweisen lässt und darum hier einmal exemplarisch dargestellt werden soll. Zum Vergleich ziehe ich Gustavo Gutiérrez „Theologie der Befreiung“ heran.22 (1.) Die Einheit der Geschichte Der Glaube an das Geschichtshandeln des dreieinigen Gottes lässt die Befreiungstheologen die als künstlich angesehene Unterscheidung von Heilsgeschichte und Weltgeschichte überwinden (C,54; G,140). Gottes Geschichte mit der Welt beginnt mit ihrer Schöpfung, hat in der Neuschöpfung in Jesus Christus ihren bisherigen Höhepunkt erreicht und ist auf seine Wiederkunft ausgerichtet. „Es gibt nur eine Geschichte mit Christus als ihrem Ziel“ (G,140). Die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eng miteinander verknüpft. Die „gefährliche Erinnerung“ (J. B. Metz) an Exodus und Jesusereignis eröffnet in der Gegenwart zugleich Hoffnung auf Zukunft hin.23 Die kleinen Leute werden zu Subjekten der Geschichte (C,129; G,46), denn die Neuschöpfung in Jesus Christus, seine Gegenwart in ihren Leiden, begründet ihre Identität und gibt ihnen ihre eigene Würde zurück.
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(2.) Die Parteilichkeit Gottes Vom Anbeginn seiner Geschichte mit dem Volk Israel bis heute nimmt Gott Partei für die Armen und Unterdrückten. Cone zeigt das paradigmatisch am Exodusereignis, am Auftreten der Propheten und an Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi (C,53–57; G,140–160).24 Gott hat sein Volk aus der Unterdrückung in Ägypten befreit. Wenn die Armen in Israel von den Herrschenden bedrückt werden, treten Propheten auf und gemahnen an dieses Befreiungsgeschehen. Sie verkünden Gottes Zorn über die bestehenden Verhältnisse. Im Exil wird die Erinnerung an den Exodus zur Quelle der Hoffnung auf eine neuerliche Befreiung durch Gott. In ähnlicher Weise wie der Exodus das Grunddatum der Geschichte Gottes mit seinem Volk und hermeneutischer Schlüssel zu ihrem Verständnis ist, erschließt das Jesusereignis seine universale Heilsverheißung. In Jesus Christus, seinem eingeborenen Sohn, hat sich Gott selbst in der Geschichte offenbart. Doch nicht aus königlichem Geschlecht, sondern als kleiner Leute Kind ist er geboren. Gottes Sohn ist als einer der ihren in die Welt gekommen. Aus dieser Annahme der Leiden der Armen und Unterdrückten durch Jesus Christus erwächst ihnen der Zuspruch einer eigenen Würde vor Gott, kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen. Die Geburtsgeschichten (Mt 1–2; Lk 1–2), das Magnifikat (Lk 1,46–55), die Antrittspredigt in Nazareth (Lk 4,18 f.), die Antwort auf die Täuferfrage (Lk 7,18–23; Mt 11,2–6) und immer wieder das Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31–46) sind das Repertoire biblischer Geschichten, die zum Beleg herangezogen werden. (3.) Individuelle und strukturelle Sünde Ohne die individuelle Sündhaftigkeit der menschlichen Existenz leugnen zu wollen, haben die Befreiungstheologen dem Sündenbegriff doch eine neue Dimension gegeben. Sünde ist zunächst ganz traditionell Abkehr von Gott und den Mitmenschen, wobei hier besonders wieder die armen und unterdrückten Nächsten im Blick sind. Sündig sind nicht nur die Menschen, sündig sind auch die Strukturen, in die sie verstrickt sind (G,40 f. 138 f. 169. 183 f.).25 Unterdrückte und Unterdrücker bedürfen gleichermaßen der Befreiung. Doch während den kleinen Leuten in besonderer Weise das Gottesreich zugesprochen wird, ergeht an die Unterdrücker
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der Ruf in die Umkehr. Die Armen und Unterdrückten sind diejenigen, gegen die gesündigt wird. Raymund Fung hat in diesem Zusammenhang vom Status derjenigen, gegen die gesündigt wird (sinned-againstness), gesprochen.26 (4.) Der neue Mensch in Christus Unter Rekurs auf Paulus spricht Cone vom „neuen schwarzen Menschen“ (C,63 f.), dessen „neu gefundene Identität in Christus“ gegründet ist. Es ist die Überwindung der Sünde der Selbstverleugnung durch Internalisierung der diskriminierenden Fremdperspektive, sei es als Schwarzer oder Armer, wie auch des Status der sinned-againstness. Die identitätsstiftende Funktion der Christologie (C,161) ist der Impuls für einen ungeheuren anthropologischen Optimismus, von dem Gutiérrez sich zu der Rede von der „Schaffung eines neuen Menschen“ (G,34 f. 37. 89. 147) hinreißen lässt. Die von diesem geradezu beschworene „Anthropophanie“ (G,197) ist dennoch keine Vergottung des Menschen, gemeint ist bei Gutiérrez wie bei Cone der ‚neue Mensch in Christus‘ (C,63 f.). (5.) Kirche als Gemeinschaft Die konkrete Kirchengemeinde, ob die einer Schwarzen Kirche in den USA oder eine lateinamerikanische Basisgemeinde, ist der Ort, wo die Armen und Unterdrückten sich in der Gemeinschaft Jesu Christi erfahren. Sie kann ein Stück weit eine Gegengesellschaft darstellen. Die Befreiungstheologen sind sich dabei der Ambivalenz der Institution Kirche durchaus bewusst. Nur allzu oft war die Kirche systemkonform und -stabilisierend, allen entgegengesetzten Verlautbarungen zum Trotz. Sie erinnern die Kirche in ihrer Gesamtheit daher an ihr prophetisches Amt (C,10; G,113. 115), das sie selbst als Theologen gegenüber Gesellschaft und Kirche gleichermaßen wahrnehmen. (6.) Reich Gottes und Eschatologie Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil geben die Befreiungstheologien den eschatologischen Vorbehalt nicht auf. Die Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“ bleibt gewahrt (C,50; G,151). Doch stehen sie im alten Streit um die Eschatologie sicherlich aufseiten der
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präsentischen oder realisierten Eschatologie. Der Akzent der Reich-Gottes-Verkündigung liegt auf der Antizipation desselben in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi. Jesus hat den Armen und Unterdrückten das Gottesreich zugesprochen, seine Heilungen und Speisungen sind bereits ein Angeld darauf. Die Überwindung des Todes in der Auferstehung ist das Grunddatum der Befreiungshoffnung. Bei der Parusie werden die Armen und Unterdrückten Jesus Christus darin nachfolgen und in sein Reich eingehen. Aber begonnen hat dieser Prozess schon jetzt im Zuspruch ihrer eigenen Würde und in ihrer neu gefundenen Identität in Jesus Christus. Der Ruf in die Nachfolge ist wesentlich auch ein Aufruf zur Reich-GottesArbeit (G,71), die in Lateinamerika für viele zu einer Leidensnachfolge bis zum Martyrium geworden ist. Die genannten generativen Themen lassen traditionelle dogmatische Topoi wie Gotteslehre, Hamartiologie, Anthropologie, Ekklesiologie und Eschatologie anklingen, ohne dass der Anspruch erhoben wird, sie in ihrer ganzen Breite zu verhandeln. Es geht vielmehr um eine Neuausrichtung innerhalb des befreiungstheologischen Themengeflechts. Durch Verknüpfung der verschiedenen Gedankenstränge entsteht dabei ein kohärentes Textgewebe. Wer versucht, die Christologie herauszutrennen, zerstört es. Umgekehrt verliert die Christologie ohne das sie umgebende Themenensemble ihre Signifikanz.
2. Schwarz und Weiß versöhnt in Jesus Christus (Allan A. Boesak) Das Œuvre des Südafrikaners Allan A. Boesak besteht zum Großteil aus Gelegenheitsschriften wie Vorträgen und Predigten.27 Auch er hat keine Christologie im klassischen Sinne vorgelegt. Doch bekennt er sich mit Cone zur Zentralität Jesu Christi. Für die Schwarzen ist er der Schwarze Messias (49), der im Leid der armen und unterdrückten Schwarzen Nordamerikas und Südafrikas gegenwärtig ist und ihnen ihre eigene Würde vor Gott zurückgibt. Schwarze Theologie ist nicht bereit, die Wirklichkeit des historischen Jesus von der Wirklichkeit seiner Gegenwart in der Welt heute zu trennen (48).
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Die Aufhebung der künstlichen Unterscheidung zwischen historischem Jesus und kerygmatischem Christus in der Lehre vom Christus praesens ist, wie wir bereits im Lateinamerika-Kapitel festgestellt haben, einer der Schlüsselsätze befreiungstheologischer Christologie. Schwarze Theologie ist eine Theologie der Befreiung. Sie ist der Überzeugung, dass Befreiung nicht nur ein Teil des Evangeliums ist oder mit ihm übereinstimmt, sondern der Inhalt und Rahmen des Evangeliums von Jesus Christus (9). Die Bedeutung der Vorstellung eines schwarzen Messias liegt darin, dass sie die Konkretheit der fortgesetzten Präsenz Christi heute ausdrückt (49).
Allan Aubrey Boesak28 wurde 1946 als Sohn eines schwarzen Grundschullehrers und seiner weißen Ehefrau in Kakamas (Kapprovinz) geboren. Nach den seit 1948 gültigen südafrikanischen Rassengesetzen gehört er damit zur Gruppe der „Farbigen (Coloureds)“, die eine Zwischenstellung zwischen Schwarz und Weiß einnehmen. Der Vater starb, als Allan sechs Jahre alt war. Die Mutter brachte ihn und seine sieben Geschwister als Näherin durch. Sie erzog ihre Kinder im pietistischen Glauben der Niederländisch-Reformierten Missionskirche. Am Seminar dieser Kirche begann Boesak sein Theologiestudium (1962), das er 1967 an der Universität des Westkaps, einer Ausbildungsstätte speziell für Farbige, abschloss. Die ersten Jahre als Pfarrer der Immanuel-Gemeinde in Paarl (1968–1970) und die Konfrontation mit dem Apartheidssystem in der täglichen Gemeindearbeit ließen ihn die Mängel dieser Ausbildung deutlich spüren. Von weißen Theologen der Niederländisch-Reformierten Kirche erzogen, die als ‚Missionare‘ in unserer Kirche galten, waren meine Jahre am Seminar eine Zeit der Frustrationen. Die Professoren waren nicht kompetent; ihre Theologie war eine seltsame Mischung aus einem aus dem 19. Jahrhundert stammenden holländischen Calvinismus, der die Grundlage für die von der weißen Niederländisch-Reformierten Kirche vertretene Theologie der Apartheid lieferte, und einer pietistischen jenseitsbezogenen Theologie, die darauf abzielte, das Evangelium zu spiritualisieren. Man lehrte uns eine Theologie, die ganz und gar irrelevant für unsere Situation war.29
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Umso größer war die Euphorie, als ihm ein mehrjähriger Studienaufenthalt in den USA und den Niederlanden ermöglicht wurde (1970–1976).30 Nach seiner Rückkehr arbeitete Boesak als Pfarrer und engagierte sich politisch im Anti-Apartheidskampf. 1982 brachte er auf der Vollversammlung des Reformierten Weltbundes in Ottawa, Kanada erfolgreich einen Antrag ein, die Apartheid auf der Grundlage des Reformierten Bekenntnisses als Häresie zu brandmarken. In der Folge musste die weiße Niederländische Reformormierte Kirche (NGK) die WARC verlassen, und Boesak wurde zum neuen Präsidenten gewählt (1983–1990). Er war Mitglied im ANC und 1983 Initiator der Vereinigten Demokratischen Front (United Democratic Front – UDF). Dem ersten Ehrendoktor der Yale Divinity School 1984 sind noch viele Ehrungen gefolgt. Ende der 1980er-Jahre kam es erstmals zu Gerüchten um außereheliche Beziehungen. Boesak legte schließlich seine kirchlichen Ämter nieder und ging 1990 als Chairman des ANC in der Western Cape Provinz ganz in die Politik. Privat ließ er sich von seiner langjährigen Frau und Mutter von vier gemeinsamen Kindern scheiden und heiratete die weiße Journalistin Elna Botha (1991). Kurz vor seiner Ernennung zum südafrikanischen Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf wurde Boesak durch Danish Church Aid aber auch Desmond Tutu die Veruntreuung internationaler Spendengelder vorgeworfen. Trotz politischer Rückendeckung wurde er 1997 zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Nach einem Jahr wurde er von Präsident Thabo Mbeki begnadigt. Boesak übernahm wieder Ämter in Kirche und Politik, auch theologisch meldete er sich zurück. 2013 wurde er vom Christian Theological Seminary und der Butler University in Indianapolis, Indiana für 4 Jahre zum Desmond Tutu Professor für Peace, Global Justice, and Reconciliation Studies ernannt. Boesak bleibt eine schillernde Figur, an der sich die Geister scheiden werden. Boesaks 1976 vorgelegte Doktorarbeit ist wesentlich eine intensive Auseinandersetzung mit der Schwarzen Theologie nordamerikanischer Provenienz. Die Schwarze Theologie Südafrikas wird allgemein als amerikanischer Import betrachtet. Trotz des literarischen Vorsprungs der Amerikaner, bemühten sich südafrikanische Vertreter wie Basil Moore, Eigenständigkeit für sich zu reklamieren, doch wollte Ihnen dies nie so ganz gelingen.
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Während das Schlagwort ‚Schwarze Theologie‘ aus den Vereinigten Staaten nach Südafrika importiert wurde, wurde der Inhalt der Schwarzen Theologie nicht mitimportiert.31
Dass es Unterschiede zwischen der Situation Schwarzer in Südafrika und den USA gibt, ist evident. Doch ist der Kontext nur das eine Konstitutivum. Der Text, der in den unterschiedlichen Situationen auszulegen ist, bleibt der gleiche. Und dass es auffällige „Parallelen hinsichtlich der Lage der Schwarzen in Amerika und Südafrika“ gibt,32 wie auch Moore konzediert, muss sich auch in der jeweiligen Interpretation des Textes niederschlagen. Hier hat der Wunsch nach Eigenständigkeit den Blick getrübt. In diesem Dilemma stand auch Boesak. Sein heimliches Alter Ego beim Abfassen seiner Dissertation war dabei James Cone, auf den er immer wieder rekurriert. Ihre theologische Ausgangsposition ist strukturell die gleiche. Boesak bezeichnet sich selbst als kontextuellen Theologen,33 der über die Relevanz des Evangeliums in der Situation Schwarzer in Südafrika nachdenkt.34 Schwarze Theologie ist die theologische Reflexion schwarzer Christen im Blick auf die Situation, in der sie leben, und im Blick auf ihren Befreiungskampf. Schwarze fragen: Was bedeutet es, an Jesus Christus zu glauben, wenn man schwarz ist und in einer Welt lebt, die von weißen Rassisten kontrolliert wird (1 f.)?
Schwarze Theologie ist eine Befreiungstheologie mit Christus als ihrem Zentrum. Boesak spricht von einer „christologischen Theologie“ (14; vgl. 9). In vier eng miteinander verknüpften Punkten versucht Boesak, sich von Cone abzugrenzen:35 (1.) Black Power oder Black Consciousness Bereits auf der ersten Seite seines Buches betont Boesak, dass „Schwarzes Bewusstsein ein integraler Teil von Schwarzer Macht [ist]“ (B,1, vgl. 75). Der Versuch, den Begriff auf den reinen Bewusstseinsbildungsprozess im Sinne einer schwarzen Identitätsfindung zu beschränken, ist ein Widerspruch in der Sache selbst. Die Überwindung der institutionalisierten Fremdbestimmung durch die weißen Unterdrücker hat in der Situation der Apartheid zwangsläufig Konsequenzen. Dies ist schon am sogenann-
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ten SASO-Manifest der schwarzen Südafrikanischen Studentenorganisation (South African Students’ Organisation – SASO) von 1971 ablesbar, das einen deutlichen Zusammenhang zwischen Schwarzem Bewusstsein und politischer Aktion herstellt.36 Auch Boesak konzediert, „dass der Begriff Schwarzes Bewusstsein [von südafrikanischen schwarzen Theologen] in einer Weise interpretiert wird, dass er nahezu mit der Schwarzen Macht identisch wird“ (B,89). Er verfällt daher darauf, die Unterscheidung auf die Gewalt- und Ideologiefrage zuzuspitzen. (2.) Gewalt oder Gewaltlosigkeit Cone mit militanten schwarzen Nationalisten wie Albert Cleage Jr. (B,49. 137–142) und J. R. Washington (B,150) in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen, wie Boesak das tut, wird ihm nicht gerecht. Darin, dass er Weißen das moralische Recht abspricht, die Gewaltfrage zu thematisieren, stimmt Boesak ihm zu (B,79. 149). Theologisch bleibt Cones Auseinandersetzung mit der Gewaltproblematik unbefriedigend. Bonhoeffers Bekenntnis zum gewaltsamen Widerstand als eigenem Schuldigwerden, das vielleicht das Überzeugendste ist, was hierzu gesagt werden kann, zieht er nicht heran.37 Aber seine Äußerungen machen doch glaubhaft, dass Gewalt für ihn nur die letzte Möglichkeit ist (C,150–155).38 Boesak bezieht letztlich eine ähnliche Position, auch er erteilt der Gewalt keine generelle Absage. In seiner theologischen Argumentation bleibt er ebenfalls vage. (3.) Ideologie oder Theologie In dreifacher Hinsicht stellt Boesak Cone de facto unter Ideologieverdacht: Er verleihe (1.) der Schwarzen Situation Offenbarungscharakter (B,13) bzw. identifiziere quasi Schwarze Macht und Evangelium (B,86), betone (2.) einseitig den Rassismus (B,175–177) und vereinnahme (3.) Gott „ausschließlich für die schwarze Erfahrung“ (B,168 f.). Keines dieser Argumente hält einer genaueren Prüfung stand. • Primat der Situation Cone ist sich, wie wir gesehen haben, des hermeneutischen Zirkels durchaus bewusst. Situation und Evangelium sind dialektisch aufeinander zu beziehen.39 Seine Deutung der Black-Power-Bewegung als „die Mitte der
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Botschaft Christi an das Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts“ (C,9) ist sicherlich eine Gratwanderung. Doch spitzt er seine Behauptung, „dass Ziel und Botschaft von Black Power […] mit dem Evangelium von Jesus Christus in Einklang stehen“ (C,58 f.), zu auf die Frage der Identitätsfindung, und hier hat seine Argumentation große Plausibilität (C,9 f., 58 f., 129). Boesak folgt ihm darin. • Primat des Rassismus Den Rassismus als unvereinbar mit dem Evangelium von Jesus Christus zu brandmarken, war das Pathos von Cones theologischem Aufbruch. Der Vorwurf, er wolle nur sein Stück vom Kuchen des American way of life, trifft Cone nicht, andere schon, wie Boesak richtig herausarbeitet (B,156 f.). Dass Cones erste Manifeste hier schweigen, liegt vielleicht in der Natur der Sache begründet. Er hat später sehr wohl den Kapitalismus kritisiert. Er konnte aber auch aufzeigen, dass die amerikanischen weißen Marxisten ebenfalls nicht frei von Rassismus waren.40 • Primat der Schwarzen Wie eingangs bereits festgestellt, war die Schwarze Theologie eine Parallelentwicklung zur Befreiungstheologie. Cone versteht seine Theologie in der Tat als eine partikulare Auslegung des Evangeliums von Schwarzen, mit Schwarzen und für Schwarze.41 Der Gebrauch der Attribute schwarz und weiß ist metaphorische Redeweise. In Cones Kontext sind die Armen und Unterdrückten des Evangeliums die kleinen Leute der schwarzen Gemeinschaft, die schwarzen Aufsteiger hingegen haben sich von den Weißen korrumpieren lassen. Zu dem Zeitpunkt, als Boesak sein Buch abschloss, gehörte Cone bereits gemeinsam mit diesem zu den Gründungsmitgliedern von EATWOT, einem ökumenischen Forum, auf dem er in den folgenden Jahren die Schwarze Theologie immer wieder ins Gespräch mit den anderen DritteWelt-Theologien bringen sollte. (4.) Umkehr oder Versöhnung „Befreiung und Versöhnung bedingen einander“ (B,109). Versöhnung ist sicherlich das große Thema für Boesak wie überhaupt in der südafrikani-
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schen Schwarzen Theologie.42 Cone lässt demgegenüber vernehmlich den Ruf zur Umkehr ertönen. Den Rassenhass predigt er nicht (C,22), aber dass es für einen Reichen – Cone würde in seinem metaphorischen Idiom sagen „einen Weißen“ – schwierig ist, ins Gottesreich zu gelangen, ist ein für viele unbequemes Jesuswort (Mk 10,25). Trotz allem verbalen Radikalismus schließt jedoch auch Cone bereits sein erstes, umstrittenstes Buch mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zur Versöhnung: Schwarze Theologie ist eine Theologie, die Gottes Versöhnungsakt in Jesus Christus ernst nimmt. In der Tat ist das Herz der neutestamentlichen Botschaft das Evangelium von der Versöhnung (C,159).43
Auch in diesem Punkt liegen Cone und Boesak demnach näher beieinander als Letzterer uns glauben machen will. Bei beiden finden sich übereinstimmend zwei Voraussetzungen für die Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß, auch wenn Cone betont, dass die Bedingungen von den Schwarzen gestellt werden, und die Weißen zur Umkehr zu den Schwarzen ruft. • Die Schwarzen müssen ihre internalisierte Sklavenmentalität ablegen und sich selbst in ihrem Schwarz-Sein annehmen. Theologisch wird ihnen als neuen Menschen in Christus eine eigene Würde vor Gott zugesprochen (B,33. 109 f; C,161). • „Versöhnung ist nur nach der Aufrichtung von Recht und sozialer Gerechtigkeit möglich“ (B,110; C,156). Der weiße Rassismus muss ausgelöscht werden. Die Weißen müssen lernen, „die Schwarzen als Schwarze anzureden und nicht nur als eine mit schwarzer Farbe angestrichene Art weißer Menschlichkeit“ (C,159). In metaphorischer Redeweise fordert Cone die Bekehrung zu den Armen und Unterdrückten, im konkreten Fall eben den Schwarzen, ein: Die Versöhnung macht uns alle schwarz. Durch diesen radikalen Wandel werden wir vollkommen mit dem Leiden der schwarzen Massen identifiziert. […] In Amerika schwarz zu sein, hat sehr wenig mit der Hautfarbe zu tun. Schwarz zu sein heißt: dass euer Herz, eure Seele, eure Gedanken, euer Leib dort sind, wo die Entrechteten sind. […] Deshalb heißt Versöhnung mit Gott nicht, dass die Haut
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eines Menschen physisch schwarz sein muss. Sie hängt wesentlich von der Farbe eures Herzens, eurer Seele und eures Denkens ab (163 f.).44
„Schwarzsein“ ist in der Schwarzen Theologie eine Metapher für ‚arm und unterdrückt sein‘ und die Identifikation mit den so Leidenden. Das ‚Schwarzsein‘ Christi ist deshalb nicht einfach eine Aussage über die Hautfarbe, sondern vielmehr ein Bekenntnis, dass Gott noch nie die Unterdrückten in ihrem Ringen allein gelassen hat, wirklich noch nie. Er war mit ihnen in Ägypten zur Zeit der Pharaonen, er ist mit ihnen in Amerika, Afrika, Asien und Lateinamerika und wird am Ende der Zeit kommen, um ihr Menschsein und ihre Freiheit ganz zu vollenden.45
Weil Jesus Christus sich mit den Armen und Unterdrückten identifiziert hat, können sich die Schwarzen umgekehrt mit ihm identifizieren. Durch die Gegenwart Jesu Christi in ihren Leiden wird ihnen eine Würde vor Gott und den Menschen kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen zugesprochen.46 Sie lernen dadurch, sich selbst anzunehmen. Darin besteht die identitätsstiftende Funktion der Christologie im Kontext von Armut und Unterdrückung. Wurde in den beiden vorhergehenden Kapiteln über die afrikanischen und asiatischen Inkulturationstheologien die Annahme der jeweiligen kulturellen Identität analog zur Inkarnation gesehen und die Schaffung einer christlich-kulturellen Bi-Identität angestrebt, setzen die Befreiungstheologen noch elementarer bei der Menschenwürde an.47 Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die folgenden Paragraphen.
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§ 11 Jesus Christus im Minjung begegnen – Christologie im Kontext einer Entwicklungsdiktatur 1. Ahn Byung-Mu und die Minjung-Bewegung Südkoreas Der Koreaner Ahn Byung-Mu (1922–1996)1 ist neben Katsumi Takizawa und Seiichi Yagi einer der wenigen asiatischen kontextuellen Theologen der ersten Generation, die in Deutschland studiert haben. Geboren wurde er am 23. Juni 1922 in Shinanju, Süd-Pyunganprovinz, im heutigen Nordkorea, als Sohn eines die traditionelle asiatische Medizin praktizierenden Arztes. Die Mutter stammte aus einfachen Verhältnissen. Als Byung-Mu ein Jahr alt war, floh die Familie aus dem japanisch besetzten Korea2 in die Mandschurei.3 Konfuzianistisch erzogen, trat er schon in jungen Jahren zum christlichen Glauben über. Darüber kam es zum endgültigen Zerwürfnis mit dem Vater, der trank und sich eine Konkubine hielt. Als Ahns Mutter sich von ihrem Mann trennte, trug der Sohn durch Aushilfsarbeiten zum Lebensunterhalt bei. Er besuchte die kanadisch-presbyterianische Missionsschule in Yongchang. Zum Studium ging Ahn 1941 dann aber doch, wie viele bildungsuchende Koreaner seiner Generation, in das Land der verhassten Kolonialherren. Nach dem Abschluss der CollegeAusbildung an der Taisho-Universität (1943) immatrikulierte er sich an der philosophischen Fakultät der Waseda-Universität für die Fachrichtung Soziologie. Um sich der drohenden Zwangsrekrutierung durch die japanische Armee zu entziehen, brach Ahn sein Studium noch im selben Jahr ab und tauchte in der Mandschurei unter. Zeitweilig arbeitete er als Laienprediger in einer Gemeinde. Nach Kriegsende übernahm er zunächst Selbstverwaltungsaufgaben und verhandelte mit den russischen Besatzern. Die Hoffnungen der Koreaner auf nationale Autonomie erfüllten sich jedoch nicht. Korea wird entlang des 38. Breitengrades in eine amerikanische und eine russische Zone geteilt, aus denen schon bald eigene Staatengebilde hervorgehen sollten. Vor den zunehmenden Repressalien der Kommunisten gerade auch gegen Christen flieht Ahn 1946 nach Seoul, wo er sich und
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seine Mutter zunächst als Englischlehrer durchbringt. Gleichzeitig nimmt er sein Soziologiestudium wieder auf, im Beifach studiert er Religionswissenschaft. Seine Wahl zum Vorsitzenden der Koreanischen Christlichen Studierendenvereinigung (Korea Student Christian Federation – KSCF) ist Indiz für sein anhaltendes christliches Engagement. Die Person Jesu übt eine große Faszination auf ihn aus. Im Selbststudium lernt er Altgriechisch und liest theologische Literatur. Nachhaltig prägend ist für ihn die Begegnung mit den Schriften Rudolf Bultmanns. Bultmann ist der einzige Lehrer gewesen, der großen Einfluss auf mich hatte, als Theologe und gleichzeitig Neutestamentler. […] Wenn ich Bultmann nicht begegnet wäre, hätte ich Theologie nie angefangen. Er hat mir einen Weg gezeigt, Theologie zu treiben.4
Mit Freunden gründet Ahn eine christliche Kommunität. Sie betonen das Laienelement und wollen eine Alternative zur etablierten Kirche aufzeigen. Dies ist auch der Impetus bei der Gründung des Chungang-Seminars, das der theologischen Ausbildung von Laien dienen soll. Ahn unterrichtet zunächst Soziologie und Altgriechisch. Seine ersten neutestamentlichen Lehrveranstaltungen kreisen um den historischen Jesus. Als es in der Kommunität zunehmend zu Spannungen kommt und ein Scheitern absehbar ist, beschließt Ahn, seine Jesusstudien in Deutschland zu vertiefen. Da Bultmann selbst bereits seit 1951 emeritiert ist, geht er nach Heidelberg zu dessen Schüler Günther Bornkamm (1905–1990). Ahn arbeitet weiterhin vornehmlich im Selbststudium. In der Fremde wendet er sich jedoch auch der eigenen Tradition zu und beginnt die konfuzianistischen Klassiker zu lesen. Ich musste als Koreaner oder Asiate meinen Standpunkt neu definieren [...]. Ich wollte mich einmal befreien von der westlichen Theologie und von einem anderen Aspekt her fragen. Mit bewusster Skepsis wollte ich fragen, ob meine Begeisterung für Jesus Zufall ist.5
1965 promoviert er mit einer Arbeit über „Das Verständnis der Liebe bei Kung-tse und bei Jesus“. Nach seiner Rückkehr unterrichtet Ahn zunächst
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wieder am Chungang-Seminar, dem er zugleich als Präsident vorsteht (1965–1971). 1971 folgt er einem Ruf an die Hankuk Theologische Hochschule in Seoul. Zu Beginn der 1970er-Jahre spitzt sich die politische Lage in Südkorea immer mehr zu. Nach dem Sturz des ersten südkoreanischen Staatspräsidenten Singman Rhee (1875–1965) im Gefolge von Studentenunruhen im Jahre 1960 hatte Park Chung-Hee (1917–1979) 1961 durch einen Militärputsch die Macht an sich gerissen. Der kurze Frühling der Demokratie wurde im Keim erstickt. Der neue starke Mann betrieb in mehreren Fünf-Jahres-Plänen die Umwandlung des Südens von einer Agrarregion in einen modernen Industriestaat. Begünstigt wurde dieser Prozess durch niedrige Lohnkosten, lange Arbeitszeiten und die Unterdrückung unabhängiger Gewerkschaften. Die Verelendung der Landbevölkerung aufgrund der staatlich regulierten Lebensmittelpreise wurde dabei billigend in Kauf genommen. Park ließ sich 1963 in ‚freien‘ Wahlen im Amt bestätigen, 1967 wurde er wiedergewählt. Um für eine dritte Amtszeit kandidieren zu können, betrieb er eine Verfassungsänderung (1969), konnte sich 1971 in einer in ihrer Legitimität angezweifelten Wahl dann jedoch nur noch knapp gegen den Oppositionskanditaten Kim Dae-Jung (1924–2009) durchsetzen. Außenpolitisch geriet das Regime durch die Annäherung der USA an China und das sich darin abzeichnende Ende des Kalten Krieges im Pazifik zunehmend in die Isolation. Innenpolitisch wurde das Land erstmals seit der Einführung der Fünf-Jahres-Pläne von einer wirtschaftlichen Krise erschüttert. Park reagierte darauf mit der Einführung der Yushin-Verfassung (1972), die ihm unbeschränkte Machtbefugnisse einräumte. Der Widerstand gegen die immer repressiver werdende Entwicklungsdiktatur wuchs. Ahn engagiert sich in der Menschenrechtsarbeit. Die äußeren Umstände bleiben nicht ohne Einfluss auf sein theologisches Denken. Er entfremdet sich zunehmend von der deutschen theologischen Tradition, die er einst so begierig aufgesogen hatte. Im Rückblick spricht er von der „deutschen Gefangenschaft“ der koreanischen Theologie.6 Ja, und lange, lange habe ich in Deutschland geweilt. Als ich zurückkam, habe ich angefangen, hier deutsche Theologie zu unterrichten, und da habe ich entdeckt,
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unsere Frage war westliche Frage, die Antwort war genau wieder westliche Antwort. Dadurch war der Fragende weg, einfach verschwunden. […] Wir müssen also ehrlich fragen, was wir wollen und wer wir sind. Und die Antwort muss von uns kommen, wir müssen da mit drin sein.7
Die intellektuellen Zirkel, in denen sich die Opposition formiert, entdecken das Minjung, die „kleinen Leute“, als die eigentlichen Subjekte der koreanischen Geschichte. In einer quasi theologischen Deutung rekonstruieren sie diese Geschichte als Leidensgeschichte des Minjung. Dies ist eine Vorgehensweise, die uns in vergleichbarer Form schon von der lateinamerikanischen und Schwarzen Befreiungstheologie her bekannt ist.8 Der Soziologe Han Wan-Sang (geb. 1936) charakterisiert das Minjung näherhin als eine Gruppe von Menschen, „die politisch unterdrückt, wirtschaftlich ausgebeutet, sozial entfremdet und in kultureller und intellektueller Hinsicht im Stand des Unwissens gehalten wird.“9 Der sinokoreanische Begriff Minjung ist zusammengesetzt aus „Min“ „Volk“ und „-jung“ „Masse“, also „Masse des Volkes“ oder „Volksmasse“. Doch betonen die Vertreter der Minjung-Bewegung immer wieder mit einigem Pathos seine Unübersetzbarkeit. Sie wollen dem Minjung bewusst keine Definition geben, um die Zugehörigkeit möglichst offenzuhalten. Deutlich ist jedoch die Abgrenzung gegen den marxistischen Klassenbegriff. Dies lässt sich nicht allein mit der Repression der Militärs erklären, die mit ihren Antikommunismusgesetzen die Opposition knebeln wollten. Tiefgreifender noch war wohl die eigene schmerzhafte Erfahrung des blutigen Bruderkrieges von 1950–1953. Praktisch jeder Koreaner hatte in seiner Familie oder seinem näheren Bekanntenkreis Verluste zu beklagen. Die Minjung-Bewegung ist eine politische Reformbewegung, die innenpolitisch für die Achtung der Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Demokratisierung und, im Hinblick auf die Teilung des Landes, für nationale Selbstbestimmung und Wiedervereinigung eintritt. Damit einher geht eine kulturelle Renaissance, die die bereits von den japanischen Besatzern unterdrückte und unter dem westlichen Einfluss weiter vernachlässigte koreanische Kultur revitalisiert. Es entspinnt sich ein hermeneutischer Streit um die Deutung der koreanischen Geschichte und Kultur mit der militärischen und bürokratischen Elite. Denn auch die Staatsführung sucht
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ihre Legitimität in einer gemeinsamen koreanischen Identität neu zu begründen, nachdem der Antikommunismus als ideologischer Kitt nur noch bedingt tauglich ist. Die Regierung geht massiv gegen die Oppositionellen vor. Auch die Minjung-Theologen werden von ihren Stellen relegiert, verhaftet und z. T. gefoltert. Ahn selbst wurde am 1. März 1976 als Mitunterzeichner der „Erklärung zur demokratischen Rettung der Nation“10 verhaftet und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Aufgrund des internationalen Drucks wurde er jedoch bereits im Dezember desselben Jahres wieder entlassen. Seine Rehabilitierung, die ihm die Rückkehr an die Hankuk-Universität ermöglichte, erfolgte wie die vieler Hochschullehrer jedoch erst 1984 in einer Phase relativer Entspannung. Die Minjung-Theologen betonen immer wieder, dass sie nur Teil einer größeren Bewegung sind, in der sie als Christen eine Minderheit stellen. Was einzelne Theologen seit den frühen Siebzigern formulieren, wird auf Einladung der Christlichen Konferenz Asiens (Christian Conference of Asia – CCA) und des Nationalen Kirchenrates (National Council of Churches Korea – NCCK) 1979 auf einer Konferenz unter dem unverfänglichen Motto „Das Volk Gottes und die Mission der Kirche“ erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Noch während die Konsultation läuft, wird Park Chung-Hee vom Chef seines Geheimdienstes ermordet. Die erneut aufkeimenden Hoffnungen auf Demokratisierung werden im KwangjuMassaker (1980) blutig erstickt.11 Der Konferenzband12 bleibt das theologische Manifest der Bewegung. Alles, was seitdem erschienen ist, ist im Grunde nur noch eine Reminiszenz. Aufsätze und Anthologien, Theologie als Fragment, gesprochen in eine bestimmte Situation, ohne Anspruch auf bleibende Gültigkeit. Kirchlich ist die Minjung-Theologie immer eine Minderheitenposition geblieben, doch hatten ihre Protagonisten kirchenpolitisch und politisch einen ungleich größeren Einfluss.
2. Jesus und Minjung Ähnlich wie die Schwarze Theologie hat auch die Minjung-Theologie keine explizite Christologie hervorgebracht. Doch ist Jesus Christus implizit auch hier das Gravitationszentrum, an dem sich die Argumentation ausrichtet.
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Der Zugang gelingt wieder über die Frage nach der Relevanz der Person Jesu für den koreanischen Kontext. Es ist das Verdienst des Neutestamentlers Ahn, den befreiungstheologischen Jesusdeutungen eine spezifisch koreanische Variante hinzugefügt zu haben.13 Im ochlos, der Menschenmenge um Jesus, wie sie das Markusevangelium beschreibt, entdeckt er eine Referenzgruppe, um die Situation des koreanischen Minjung theologisch zu deuten. Der Evangelist hat mit ochlos einen in der hellenistisch-jüdischen Literatur seiner Zeit überwiegend pejorativ besetzten Begriff für „Volksmenge“ zur Bezeichnung einer in seinem Evangelium zentralen Menschengruppe übernommen. Zöllner, Sünder und Kranke gehörten scheinbar ebenso dazu wie Frauen und Kinder. Es sind die sozial und religiös Geächteten, die Schwachen und an den Rand Gedrängten, kurz die Armen und Unterdrückten. Dieser amorphen und in ihrer Zusammensetzung schwankenden Gruppe von Mitgliedern der galiläischen Unterschicht gilt die direkte Zuwendung Jesu. Sie strömen überall zusammen, wo Jesus auftritt, und sind die Adressaten seiner Mission. An ihnen wirkt Jesus seine Wunder zum Erweis der nahe herbeigekommenen Gottesherrschaft. Diesen kleinen Leuten verheißt er das Reich Gottes. Ihre Nähe gewährt ihm zugleich einen gewissen Schutz, denn die Herrschenden fürchten das Volk. Die unbedingte Hinwendung Jesu zu den „kleinen Leuten“ wird dabei schon auf der sprachlichen Ebene signalisiert. Ahn korrigiert mit dieser sozialkerygmatischen Deutung des ochlos die Sicht der Formgeschichte, die in dieser Gruppierung lediglich eine stilistische Figur im Sinne des „antiken Chores“ (Martin Dibelius) sah. Im krassen Widerspruch zu der bisher geschilderten engen Beziehung zwischen Jesus und Volk in Galiläa steht der Verrat des ochlos in Jerusalem. Doch ist die Passionsgeschichte insgesamt als ein zunehmender Vereinsamungsprozess Jesu gestaltet. Petrus, Jakobus und Johannes, jene Jünger, die in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu Jesus stehen, fallen in Gethsemane immer wieder in den Schlaf. Bei seiner Verhaftung fliehen dann alle. Petrus, der ihm noch von ferne folgt, verleugnet ihn dreimal. Der ochlos fordert lautstark seinen Tod. Am Kreuz scheint auch Gott selbst fern. Jesu Aufschrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ertönt aus tief empfundener menschlicher Einsamkeit. Von ferne aber stehen die Frauen. Sie waren die einzigen, die blieben.
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Der Markusevangelist stützt seine Darstellung auf mündliche Überlieferung. Soweit geht Ahn mit der traditionellen Exegese einig. Er spricht in diesem Zusammenhang jedoch davon, dass die kleinen Leute das Jesusereignis in Form von Gerüchten weiterverbreiten. Gerüchte sind die Kommunikationsform in Situationen der Unterdrückung. Das Gerücht ist subversiv. Das Volk hat die Geschichten, wie Jesus mit ihnen in Galiläa gelebt hat, ihnen die Gottesherrschaft verkündigte, ihre Krankheiten heilte und sie speiste, bewahrt und gibt sie weiter. Ganz anders agieren die Repräsentanten der sich konsolidierenden, offiziellen Kirche. Sie formulieren das Kerygma von der Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu Christi. Das Kerygma erzählt nicht das Ereignis selbst weiter, sondern interpretiert es. Diese Entgeschichtlichung dient der Institutionsstabilisierung nach innen und der Konfliktreduktion nach außen. Demgegenüber betont Ahn in unverhohlener Polemik gegen Bultmann: „Am Anfang steht das Ereignis, nicht das Kerygma.“14 Er erhebt das Leben Jesu wieder zum konstitutionellen Bestandteil der Christologie. Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sind das Ereignis, in dem Gott sich der Welt offenbart hat. Die Kategorie Ereignis ist für Ahn Ausdruck der Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens. Jesu Wirken in Palästina, sein Tod und seine Auferstehung werden zum hermeneutischen Schlüssel für die Gegenwart des Auferstandenen in Minjung-Ereignissen wie der Selbstverbrennung des Textilarbeiters Chun Tae-Il oder dem Foltertod des Studenten Park Chun-Chul.15 Für Ahn verdichtet sich die Nacherzählung des Jesusereignisses zur Sozialbiographie. Diesen Begriff übernimmt er von Kim Yong-Bock (geb. 1938), dem mit Abstand Jüngsten im Bunde der ersten Generation der Minjung-Theologen. Ahn überträgt dieses Konzept, das Kim im Umgang mit den Geschichten (stories) des koreanischen Minjung entwickelt hat,16 konsequent auf das Verhältnis Jesus – ochlos. Jesus stirbt nicht für das Minjung, sondern mit ihm, er stirbt den Tod der kleinen Leute. In ihrem Leiden wird der Auferstandene immer wieder gegenwärtig. Die sich hier abzeichnende korporative theologia crucis hat Ahn den Vorwurf einer Identifikation des Minjung mit Jesus Christus und damit gleichsam einer Vergottung des Minjung eingetragen. Dies ist eine Kritik, die in ähnlicher Form den Befreiungstheologien immer wieder entgegengehalten wird.17 Hier ist jedoch zunächst grundsätzlich zu fragen: Wer wird
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mit wem identifiziert, bzw. wer identifiziert sich mit wem? Jesus hat sich mit den kleinen Leuten identifiziert, und, seinem Ruf in die Nachfolge gehorchend, sollen auch wir uns mit ihnen identifizieren. Die Nachfolge als Identifikation mit Jesus heißt so vor allem, sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten zu stellen, mit denen Jesus sich identifizierte.18 [Die Minjung-Theologen] sind im leidenden Minjung dem leidenden Christus begegnet.19
Der Akzent liegt auf der Gegenwart Jesu Christi im Leiden. Die Koreaner sprechen von Han und reklamieren ähnlich wie für den Terminus Minjung seine Unübersetzbarkeit. Sie schreiben dem Begriff eine gewisse Paradoxie zu, die westlichen Leidenskonzeptionen diametral entgegenläuft. Bei Suh Nam-Dong (1918–1984), von vielen neben Ahn als der zweite Stammvater der Minjung-Theologie betrachtet, findet sich folgende Kurzdefinition: Han ist ein Grundgefühl des unterdrückten koreanischen Volkes. Er ist auf der einen Seite ein Konglomerat von Defätismus, Resignation und Verzweiflung der Schwachen, manchmal ‚sublimiert‘ in großartiger Kunst. Andererseits aber ist er der explosiv wirkende Mut und Lebenswille der Schwachen, der in den Revolten oder Revolutionen des im Han zerrissenen Minjung zum Vorschein kommt.20
Hier scheint jedoch bereits eine christologische relecture dieses Begriffs vorzuliegen, die Suh von dem katholischen Dichter und Laientheologen Kim Chi-Ha (geb. 1941) übernommen hat. Han ist für Suh in christlicher Terminologie ausgedrückt der Zustand derjenigen, gegen die gesündigt wird. „‚Sünde‘ ist Sprache der Herrschenden, ‚Han‘ ist Sprache des Minjung“.21 Die Trennung zwischen historischem Jesus und kerygmatischem Christus hebt Ahn in uns nun schon vertrauter befreiungstheologischer Manier im Christus praesens auf. Die Suche nach dem gegenwärtigen Christus hat ihn sein Antlitz im Minjung entdecken lassen. Der Text des Markus-evangeliums und der koreanische Kontext legen sich wechselseitig aus und werden ineinander wiedererkennbar. Die Gegenwart Jesu Christi im Leiden
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des Minjung hat identitätsstiftende Funktion, den kleinen Leuten wird kontrafaktisch eine Würde zugesprochen. Gelegentlich auf seine Methode hin befragt, antwortete Ahn mir: Ehrlich gesagt, ich habe keine besondere Methodologie, keine eigene Hermeneutik. Am Anfang wollten wir keine neue theologische Schule gründen, sondern wir wollten nur leben. Dann haben wir durch das Leben einen anderen Blickwinkel gewonnen. […] Ich habe die Dinge von oben her gesehen, und jetzt sehe ich sie von unten her. Ich habe immer alles vom Intellekt her betrachtet, aber jetzt sehe ich alles vom Leben des Minjung her, aus der Sicht der Leidenden. Ausleger und Inhalt des Textes darf man nicht trennen. Dadurch könnten wir leicht ins SubjektObjekt-Schema verfallen. Ich lege die Bibel aus, gleichzeitig lege ich mich aus. […] es gibt keinen Text ohne Kontext und keinen Kontext ohne Text. Wie Bultmann schon gesagt hat, der Ausleger gehört auch in die Geschichte, d. h. in den Text. Wir legen einen zweitausend Jahre alten Text aus, aber als Koreaner, die in der heutigen Zeit leben, legen wir unsere Geschichte aus. In dieser Hinsicht ist es nicht der Jesus von vor zweitausend Jahren, es ist zwar der historische Jesus, aber er ist auch jetzt gegenwärtig.22
Während Ahn entsprechend seiner Profession als Neutestamentler seine Minjung-Theologie in einer relecture des Markus-Evangeliums gründete und aus dieser Textperspektive den koreanischen Kontext in den Blick nahm, beschritt sein Alter Ego, der Systematiker Suh Nam-Dong, den umgekehrten Weg. Suh sprach gerne von der Konfluenz zweier Traditionen: Es ist die Aufgabe der koreanischen Minjung-Theologie zu bezeugen, dass in der Mission Gottes [Missio Dei] in Korea die Minjung-Tradition des Christentums und die koreanische Minjung-Tradition zusammenfließen. Dazu ist es erforderlich, an den Ereignissen, die wir für Gottes Eingreifen in die Geschichte und das Wirken des Heiligen Geistes halten, teilzunehmen und sie theologisch zu interpretieren.23
Suh hat sich anlässlich eines Vortrages kurz vor seinem plötzlichen Tod mit Ahn einen theologischen Schlagabtausch über diese Frage der Zuordnung von Text und Kontext geliefert, der nicht mehr ausdiskutiert werden konnte. Als 1991 auf der siebten Vollversammlung des ÖRK in Canber-
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ra die junge koreanische Theologin Chung Hyun-Kyung (geb. 1956) mit einer furiosen theologischen Performance die Gemüter erhitzte und die theologische Öffentlichkeit mit ihrem Diktum „Wir sind der Text, und die Bibel und die Tradition der christlichen Kirche sind der Kontext unserer Theologie“24 provozierte, war dies im Grunde nur eine Neuauflage eines Grundsatzstreits, der schon in der Vätergeneration schwelte. Suhs noch im Theoretischen bleibende Konzepte finden bei Hyun Young-Hak (1921–2004), dem dritten Senior der Bewegung, ihre praktische Umsetzung. Gemäß seiner Devise: „Wir glauben nicht an einen invaliden Gott, der erst huckepack vom ersten Missionar nach Korea gebracht wurde“,25 suchte er nach den Spuren des Geschichtshandelns Gottes in der koreanischen Kultur. Hyun erzählt Geschichten, die er nur spärlich theologisch interpretiert. Fragmentarisch entsteht jedoch das Bild einer Narrenchristologie. Malttugi, der Diener der Adligen (Yangban), gibt in einer zentralen Szene des von Hyun erzählerisch nachempfundenen BongsanMaskentanzes seine Herren der Lächerlichkeit preis. Er ist ein koreanischer Clown, der transparent wird für die Gestalt Jesu. Eine ähnliche Funktion schreibt Hyun auch der Schamanin zu, die im Ritual (Kut) das Leiden (Han) ihrer Anhängerinnen und Anhänger therapiert.26 Im Maskentanz oder in den Festen gewinnen die kleinen Leute eine „kritische Transzendenz“,27 die es ihnen ermöglicht, über ihre Peiniger aber auch ihre eigene missliche Lage zu lachen. Hyuns von seinen Erfahrungen mit dem Minjung geprägtes Jesusbild bleibt ambivalent. Jesus begegnet ihm in seiner Erinnerung als Geist, wie er blutüberströmt am Kreuz hängt,28 aber auch als Dokaebi, eine Art koreanischer Troll, der seinen Schabernack mit den Menschen treibt.29 Um zu Priestern des Han zu werden, müssen die Minjung-Theologen in der Nachfolge Jesu selbst zu Narren um Christi willen werden. Was Ahn sich sehr viel nüchterner am biblischen Text erarbeitet hat, erreicht Hyun durch eine narrative Inszenierung, die Imaginierung der Gegenwart des leidenden Christus im leidenden Minjung und vice versa. Während die Schwarze Theologie mit dem Rassismus ein schnell intersubjektiv begreifbares Übel anprangert, erfordert die Minjung-Theologie zu ihrem Verständnis als politische Theologie im koreanischen Kontext ein Mindestmaß an Information über die jüngere koreanische Geschichte.
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Theologisch haben beide Bewegungen den Zugang zur Christologie gleichermaßen über die Person Jesu und die Lehre vom Christus praesens gefunden. Beide lassen sich als Kreuzestheologien im besten Sinne verstehen, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Die Minjung-Theologie legt ihr ganzes Pathos auf die Gegenwart Jesu im Leiden (Han), die Schwarze Theologie rückt stärker die Versöhnung in Jesus Christus ins Zentrum. Ihre Argumentation trifft sich in der identitätsstiftenden Funktion, die sie der Christologie beimessen. Südafrika und Südkorea sind inzwischen durch große politische Veränderungen gegangen. Die Oppositionellen von einst stellen heute die Regierung. Die Exponenten der Schwarzen Theologie und der Minjung-Theologie ringen noch stets damit, diese Veränderungen theologisch zu begleiten und sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Wie wir im folgenden Paragraphen noch sehen werden, sind sie jedoch schon stilprägend geworden für theologische Neuaufbrüche anderswo.
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§ 12 Jesus mit uns – Christologie im Kontext befreiungstheologischer Neuaufbrüche in den 1980er-Jahren Die indische Dalit-Theologie und die japanische Burakumin-Theologie sind Spätgekommene unter den Befreiungstheologien der Dritten Welt. Während es zur Dalit-Theologie inzwischen eine ganze Reihe oft allerdings recht redundanter Publikationen gibt, ist, was die Burakumin-Theologie anbelangt, die Quellenlage in westlichen Sprachen extrem dünn. Wenn ich diese beiden theologischen Bewegungen dennoch an das Ende dieses Kapitels stelle, dann nicht zuletzt, um zu zeigen, wie sich gewisse Strukturen und Argumentationsmuster durchhalten. Im Hinblick auf unser Leitthema heißt das, auch hier wird nicht mit einer ausformulierten Christologie zu rechnen sein. Der Zugang wird erneut über die Person Jesu erschlossen, der von den theologisch argumentierenden Interessenvertretern unter den jeweiligen Armen und Unterdrückten als einer der ihren reklamiert wird. Aus diesem identifikatorischen Imperativ ergibt sich ein christologischer Impuls für die Rekonstruktion einer eigenen Identität. Die Exponenten dieser Theologien haben die Bücher ihrer Vorläufer in aller Regel gelesen. Ihre Vernetzung hat sich durch EATWOT oder etwa die Theologische Kommission der Christlichen Konferenz Asiens (Commission on Theological Concerns – Christian Conference of Asia – CTC-CCA) gegenüber den Anfangszeiten der kontextuellen Theologien entscheidend verbessert, was allerdings auch dazu geführt hat, dass Begriffe wie Minjung, Dalit oder Burakumin auf Konferenzen mit einer gewissen Austauschbarkeit Verwendung finden.1
1. Von der Dalit-Bewegung zur Dalit-Theologie Dalit ist die z. Zt. gängige Selbstbezeichnung der indischen Kastenlosen. „Kaste“ ist ein von den Portugiesen geprägter Begriff für die Strukturierung der indischen Gesellschaft. Die Hindus selbst reden von varna (Farbe) und jati (Geburt, Beruf). Religiös verankert ist die Einteilung in Kasten bzw. varnas in einem Ursprungsmythos, der im Rigveda2 überliefert ist:
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Welche Anordnung trafen sie, als sie Purusa (Urmensch) in viele Teile spalteten? Wie wurde sein Mund, wie seine beiden Arme, wie seine Schenkel und Füße genannt? Die Brahmanen wurden sein Mund, die Rajanya (Krieger) seine beiden Arme; die Vaisya (Händler und Landwirte) bildeten seine beiden Schenkel, und aus seinen Füßen wurden die Shudras (Versklavte Klasse) geboren.3
Diese vier varnas werden durch die jatis noch einmal in viele tausend Subkasten unterteilt. Während die Angehörigen der ersten drei varnas als „Zweifachgeborene“ die Heiligen Schriften lesen dürfen, ist das den Shudras untersagt. Die Kastenlosen, die außerhalb dieses Systems bleiben, werden entsprechend als avarnas bezeichnet. Sie rangieren noch unter den Shudras. Da sie aufgrund ihrer Berufe als rituell unrein gelten, werden sie auch „Unberührbare“ genannt. Sie müssen in eigenen Quartieren am Rande der Dörfer und Städte leben und dürfen den Kastenhindus nur in gebührendem Abstand begegnen. Die englische Kolonialverwaltung sprach von den „unterdrückten Klassen (depressed classes)“, später wurde ihnen als „registrierten Kasten (scheduled casts)“ durch das Programm der positiven Diskriminierung besondere Förderung zuteil. Mahatma Gandhi nannte die Kastenlosen „Kinder Gottes (Harijans)“, ein durchaus ambivalenter Begriff, ist er doch bedeutungsgleich mit der Bezeichnung für die vaterlosen Kinder der Tempelprostituierten. Die Selbstbezeichnung „Dalit“ geht wohl auf Gandhis Gegenspieler, den Begründer der modernen Dalit-Bewegung, B. R. Ambedkar zurück.4 Der Begriff deckt gewissermaßen das ganze Wortfeld „Unterdrückung“ ab. Der Dalit-Theologe Arvind P. Nirmal nennt sechs Bedeutungen: Erstens kann es die ‚Gebrochenen‘, die ‚Zerrissenen‘, die ‚Ausgeliehenen‘, die ‚Gespaltenen‘ bedeuten – zweitens die ‚Zur-Verfügung-Stehenden‘, die ‚Sich-Ausdehnenden‘ – drittens die ‚In-der-Mitte-Geteilten‘ – viertens die ‚Unter-die-Räder-Gekommenen‘, die ‚Vertriebenen‘, die ‚Zerstreuten‘ – fünftens die ‚Unterdrückten‘, die ‚Zerstörten‘ – sechstens die ‚Erscheinenden‘ und die ‚Hervorgehobenen‘.5
Die Ursprünge der Kasteneinteilung und der Segregation der Kastenlosen liegen im Dunkeln. Die gängige Theorie besagt, dass um ca. 1500 vor Chr.
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die sogenannten Arier, indo-europäische Stammesvölker aus Zentralasien, in Nordindien einfielen, sich im Lande ausbreiteten und die Ureinwohner unterjochten. Während John C. B. Webster (geb. 1935) in seiner Geschichte der Dalit-Christen6 jedoch skeptisch gegenüber der Evidenz der Quellen bleibt, vornehmlich kommen dafür das Rigveda und der archäologische Befund der prä-arischen Indus-Tal-Zivilisation in Betracht, baut der DalitTheologe James Massey (1943–2015) eben darauf seine ganze Argumentation auf.7 Massey kommt zu dem Schluss, „dass die Dalits ihre historischen Wurzeln mit der Stammesbevölkerung (indigenous people), insbesondere jenen Gruppen, die besser bekannt sind als adivasi, teilen.“8 Er trifft sich darin mit den christlichen Vordenkern der Stammesgesellschaften, die den Anschluss an die Dalit-Bewegung suchen.9 Ähnlich wie bei der MinjungTheologie und den übrigen Befreiungstheologien stoßen wir hier erneut auf ein hermeneutisches Konstrukt der Geschichte, gewissermaßen einen geschichtstheologischen Ursprungsmythos.10 Webster konstatiert demgegenüber nüchtern, „die Frage nach den Ursprüngen von Kaste, Unberührbarkeit und spezifischen Dalit-Kasten endet in Spekulation, Unsicherheit und Frustration.“11 Er widmet dem Problem ganze viereinhalb Seiten und wendet sich dann der Darstellung der Entwicklung der modernen Dalit-Bewegung zu, für die er drei Phasen unterscheidet. Ihre Anfänge sieht Webster in den sogenannten Massenbewegungen (mass movements). Es handelt sich dabei um kollektive Konversionen der Dalits zum Islam, zum Sikhismus, vor allem aber zum Christentum, die ihnen eine gewisse Öffentlichkeit verschafften. Die Hindus sahen sich durch eine Stärkung der religiösen Minderheiten unter Zugzwang gesetzt. Als die Briten in ihrer Verfassung (Government of India Act) von 1909 Indien nicht als einheitliche Nation, sondern als eine Vielzahl divergierender „Interessen“ definierten, trat die Dalit-Bewegung in ihre zweite Phase. Die „Politik der Zahlen“ (politics of numbers), nach der diese Interessen reguliert werden sollten, orientierte sich vornehmlich an der Religionszugehörigkeit. Dieser Grundsatz setzte sich in der dritten Phase fort, als nur die Hindu-Dalits in den Genuss der besonderen Förderung (compensatory discrimination) kamen. Die christlichen Dalits werden so de facto doppelt diskriminiert, als Dalits und als Christen, die nicht in den Vorzug der ihnen als Dalits eigentlich gesetzlich zugesicherten Vergünstigungen
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kommen. Während der Geltungsbereich des Gesetzes inzwischen auf die Sikh-Dalits (1956) und die buddhistischen Dalits (1990) ausgeweitet wurde, blieben die christlichen Dalits weiter außen vor.12 Oft als „Reischristen“ verspottet, die nur, um ihre missliche Lage zu verbessern, zum Christentum übergetreten seien,13 werden sie auch innerhalb der neuen Glaubensgemeinschaft weiterhin diskriminiert. Obwohl die Mehrzahl der indischen Christen Dalits sind, die Schätzungen sprechen von bis zu 80 % bei den Protestanten und immerhin noch 60 % bei den in ihrer Missionstätigkeit traditionell stärker an der Oberschicht orientierten Katholiken,14 sind sie weder in den Kirchenleitungen angemessen repräsentiert, noch haben diese sich der Dalit-Problematik angenommen. Die kirchliche Hierarchie und die Theologie wurden gleichermaßen von konvertierten Angehörigen höherer Kasten dominiert, die theologisch die Kontinuität zum Hinduismus suchten. A. P. Nirmal spricht in diesem Zusammenhang von einer „brahmanischen Tradition“ der indischen Theologie.15 Der Vordenker der modernen Dalit-Bewegung, B. R. Ambedkar, selbst ein Kastenloser aus Maharashtra, hatte als Auslandsstipendiat in den USA und England studiert und kehrte 1923 als promovierter Jurist in seine Heimat zurück. Er avancierte schnell zu einem Wortführer der Kastenlosen. Bei den Round-Table-Konferenzen in London (1930/31), wo über die zukünftige Beteiligung der Inder an der Regierung ihres Landes beraten wurde, forderte er die Rechte der Unterdrückten und Minderheiten ein. Der Streit mit Gandhi entzündete sich dabei an seiner Forderung nach gesonderten Vertretungen für seine Klientel. Gandhis berühmtes „Fasten bis zum Tode“ von 1932 richtete sich denn auch weniger gegen das englische Kolonialsystem als vielmehr gegen eine solche Sonderregelung für die Kastenlosen. Im sogenannten „Poona-Pakt“ gestand Gandhi Ambedkar für dessen Einlenken ein Kontingent für diese Gruppen reservierter Parlamentssitze zu. Während Gandhi den Hinduismus reformieren wollte, sagte Ambedkar sich davon los: Ich hatte das Pech, mit dem Stigma der ‚Unberührbarkeit‘ geboren zu werden. Aber dies ist nicht meine Schuld. Es wird in meiner Macht liegen, nicht als Hindu zu sterben.16
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Kurz vor seinem plötzlichen Tod 1956 war er mit Hunderttausenden seiner Anhänger zum Neo-Buddhismus konvertiert, der damit überhaupt erst wieder in Indien zu florieren begann. Ambedkar setzte auf Bildung, sein Motto war „vereinigt euch, bildet euch und agitiert!“17 Die von ihm begründeten Ausbildungsstätten wurden zu Keimzellen der Dalit-Literatur-Bewegung (Dalit Sahitya Movement). Einige ihrer Protagonisten gründeten 1972 die Dalit-Panther (Dalit Panthers). Als Vorbild dienten die Neger-Literatur und die Schwarze-Panther-Bewegung (Black Panther) in den USA. Analog zu Schwarzer Macht (Black Power) und Schwarzem Bewusstsein (Black Conciousness) ist nun von Dalit-Macht (Dalit Power) und Dalit-Bewusstsein (Dalit Conciousness) die Rede. Der Slogan „Dalit sein ist würdevoll (Dalit is dignified)“ ist eine Reminiszenz an „schwarz sein ist schön sein (black is beautiful)“. Hier ist ein direkter Einfluss einer Emanzipationsbewegung der Armen und Unterdrückten auf eine andere, verwandte Bewegung auch auf der säkularen Ebene nachweisbar. Im Schatten der Dalit-Bewegung entwickelte sich die Dalit-Theologie, ihrerseits beeinflusst von der Schwarzen Theologie. Ein Meilenstein war protestantischerseits eine Konsultation im Jahre 1986, die unter dem Thema „Auf dem Weg zu einer Dalit-Theologie (Towards a Dalit Theology)“ gemeinsam von der Christlichen Dalit-Befreiungsbewegung (Christian Dalit Liberation Movement – CDLM) und dem Christlichen Institut für das Studium von Religion und Gesellschaft (CISRS) veranstaltet wurde. Der unter dem gleichen Titel publizierte Konferenzband (1988)18 enthält die meisten auch heute noch maßgeblichen Beiträge, die inzwischen oft mehrfach wieder abgedruckt worden sind.19 Von ihrem äußeren Erscheinungsbild her zeigt die Dalit-Theologie das für die Befreiungstheologien typische Gepräge. Ich will das an vier Punkten kurz erläutern: • Die Dalit-Theologie ist eine theologische Bewegung. Wie die Befreiungstheologien insgesamt trägt die Dalit-Theologie sehr stark das Gepräge eines theologischen Aufbruchs bzw. einer theologischen Bewegung, die von einer Gruppe von Theologen getragen wird, aus der oft erst im Rückblick einzelne besonders herausragen.
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• Die Dalit-Theologie ist nur Teil der umfassenderen Dalit-Bewegung. Der theologische Aufbruch vollzieht sich im Gefolge der politischen und kulturellen Emanzipationsbewegung der Kastenlosen. Die christlichen Dalits stellen darin eine Minorität dar, wie die Christen in Asien ja überhaupt nur eine verschwindende Minderheit sind. Ähnliches gilt von daher auch für die Minjung- und die Burakumin-Theologie. In Lateinamerika, den USA und Südafrika, die christlich geprägt sind, waren es säkulare Emanzipationsbewegungen, z. T. auch marxistisch beeinflusste, die den Impuls zu einer theologischen Neubesinnung gaben. • Die Dalit-Theologie ist Teil des Projekts der Rekonstruktion einer Gegenkultur. Die Dalit-Bewegung und mit ihr die Dalit-Theologie wenden sich gegen sozio-ökonomisch und politische Strukturen – das hinduistische Kastensystem –, die kulturell-religiös begründet sind. Im Gegensatz zu anderen Befreiungstheologien handelt es sich dabei nicht um eine Auseinandersetzung mit den Spätfolgen des europäischen Kolonialismus. Die MinjungTheologie und die Schwarze Theologie etwa waren demgegenüber Teil kultureller Renaissancen, die im Zuge der Rekonstruktion ihrer eigenen Identität das durch die japanischen Kolonialherren bzw. die weißen Sklavenhalter und Kolonisten unterdrückte kulturelle Erbe revitalisierten. In der lateinamerikanischen Befreiungstheologie kamen solche Tendenzen erst spät zum Tragen. Hier lag der Akzent lange Zeit einseitig auf den sozio-ökonomisch und politischen Fragen. Durch das Gespräch mit den afrikanischen und asiatischen Inkulturations- und Dialogtheologien hat hier ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Heute wird die Volksreligiosität, die Kultur der Indigena und der Afro-Lateinamerikaner neu entdeckt. • Die Dalit-Theologie ist eine Gegentheologie. Die Dalit-Theologie wendet sich speziell auch gegen eine andere kontextuelle Theologie, die Dialog-Theologie des meist den höheren Kasten angehörenden theologischen Establishments. Die südafrikanische Schwarze Theologie etwa opponierte gegen die Exodustheologie der Buren.20 Lateinamerikanische Befreiungs- und Schwarze Theologie richten sich auch gegen eine vergleichsweise weniger reformwillige liberale Theologie.21
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2. Jesus war ein Dalit – Arvind P. Nirmal/Indien
Der früh verstorbene Arvind P. Nirmal (1936–1995)22 nahm für sich in Anspruch, der Begründer der Dalit-Theologie zu sein. Er will in einem Vortrag am United Theological College (UTC) in Bangalore 1981 als erster auf die Notwendigkeit einer solchen Theologie hingewiesen haben. Als ich daher 1981 aufgefordert wurde, meine Abschiedsvorlesung vor der CareyGesellschaft des UTC in Bangalore zu halten, gab ich meinem Vortrag den Titel ‚Auf dem Weg zu einer Shudra-Theologie‘. Er brachte eine ziemliche Diskussion ins Rollen. Es wurde moniert, dass die Bezeichnung ‚Shudra‘ ebenso wie ‚Harijan‘ von denen abgelehnt würde, auf die sie angewendet werde. Ich fand heraus, dass die sogenannten Shudras es vorzogen, als Dalits angesprochen zu werden. Darüber hinaus musste ich entdecken, dass es bereits eine Dalit- bzw. Dalit-Panther-Befreiungsbewegung gab. Während ich noch in Bangalore war, hörte ich, dass in Maharashtra gegen Ende der sechziger Jahre ein neuer Trend in der MarathiLiteratur, näher bekannt als Dalit-Literatur-Bewegung, die Phantasie der DalitSchriftsteller beflügelt hatte. Als ich nach Pune übersiedelte,23 beschloss ich, diese Bewegung genauer in den Blick zu nehmen.24
Shudra ist allerdings die Bezeichnung für die niedrigste Kaste, deren Angehörige, selbst am untersten Ende der Hindu-Sozialordnung stehend, immer noch auf die Dalits herabblicken.25 Auch wenn Nirmal sich darauf beruft, dass in Maharashtra „die Begriffe ‚Sudra‘, ‚Ati Sudra‘ und ‚Dalit‘, untereinander austauschbar“26 sind, verwischt er durch seine ursprüngliche Wortwahl „Shudra-Theologie“ doch deutliche Grenzen im unteren Spektrum des Kastensystems. Wie immer es sich mit der Urheberschaft auch verhalten mag, Nirmal war jedenfalls der erste Inhaber eines neugeschaffenen Lehrstuhls für Dalit-Theologie am lutherischen Gurukul College in Madras (1987–1994), und seine Antrittsvorlesung „Auf dem Weg zu einer christlichen DalitTheologie“ (3. November 1987) kann mit einigem Recht als das theologische Manifest der Bewegung gelten.27 Arvind Nirmal war Pfarrerssohn aus einer südindischen Kleinstadt. Die Ehe seiner Eltern war vierzehn Jahre lang kinderlos geblieben. Er selbst leistete der Mythenbildung um seine Person Vorschub, wenn er etwa fol-
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gende ‚Vorgeburtsgeschichte‘ kolportierte: Eines Tages kam ein Schüler von Sadhu Sundar Singh in meine Heimatstadt. Er hat für meine Eltern gebetet und ihnen die Geburt eines Sohnes und einer Tochter angekündigt. Aber der Sohn müsse in den Dienst der Kirche gegeben werden. Ehe ich geboren wurde, war mein Schicksal schon bestimmt. Aber meine Eltern haben nicht daran gedacht, dass ich einmal theologischer Lehrer werden würde.28
Nirmal studierte tatsächlich Theologie. Seine Kirchenleitung schickte ihn nach dem mit Auszeichnung bestandenen Examen zunächst aufs Land. Hier musste Nirmal erfahren, dass er auch als Akademiker weiter den Diskriminierungen als Kastenloser ausgesetzt blieb. Zwar sollte er den Kindern der Angehörigen höherer Kasten Englischunterricht erteilen, aber Wasser aus ihrem Brunnen schöpfen durfte er nicht. Wie die anderen Dalits musste er die 200 Meter Abstand zum Brunnen der Hindus wahren und vom brackigen Wasser des Dalit-Brunnens trinken. Auch wenn Nirmal diese Erfahrung später als prägend bezeichnet, in seiner Theologie findet sie zunächst keinen Niederschlag. Nach dem Studium in Oxford29 begann seine akademische Karriere als Dozent für Systematische Theologie am UTC in Bangalore (1976–1981). Die Sammlung seiner Aufsätze aus den Jahren 1970–1990, unter dem Titel Heuristic Explorations 1991 erschienen, lässt deutlich zwei Forschungsinteressen dieser Jahre hervortreten: die schon durch den Titel signalisierte Auseinandersetzung mit wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen, die in der indischen christlichen Theologie seiner Einschätzung nach bisher keine Rolle spielten,30 und der religiöse Pluralismus Indiens. Nirmal zeigt sich bestens vertraut mit der hermeneutischen Diskussion.31 Auch wenn er später gerne einen Aufsatz von 1978 zitiert,32 in dem er kritisch auf die „brahmanische Tradition“ in der indischen christlichen Theologie eingeht, so weist Nirmal der Dialogtheologie doch einen wichtigen Platz in der theologischen Ausbildung zu und beteiligt sich selbst rege an diesem Diskurs.33 Erst am Ende des Sammelbandes ist seine Antrittsvorlesung auf dem Lehrstuhl für Dalit-Theologie am Gurukul wieder abgedruckt. Nirmal34 charakterisiert die Dalit-Theologie anhand einer Auslegung
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des deuteronomistischen Bekenntnisses (Dtn 26,5–9), dem er paradigmatische Bedeutung beimisst (39 f.). • Dalit-Theologie ist Identitätstheologie. Anders als die Befreiungstheologie, die das Exodusgeschehen zum Grunddatum der Geschichte Gottes mit seinem Volk erhoben hat, fragt Nirmal noch dahinter zurück nach den Ursprüngen des Volkes Israel. Ähnlich wie der ‚wandernde Aramäer‘, der mit wenigen Leuten nach Ägypten kam und erst dort in der Fremde zu einem Volk anwuchs, wurden die Dalits vom „Nicht-Volk“ zum „Gottes-Volk“. Doch hinkt dieser Vergleich insofern, als die Dalits nach dem Geschichtsbild der Dalit-Bewegung ja gerade zu den Ureinwohnern Indiens gehörten und ihrer Identität durch die einfallenden Arier beraubt wurden. Als eigentlicher Vergleichspunkt bleibt auch hier, dass den Dalits durch den Zuspruch der Erwählung Gottes kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen eine Würde vor Gott zugesprochen wird. • Dalit-Theologie ist eine Theologie des Volkes. Der wandernde Aramäer war der Erzvater der Exodusgemeinschaft; auch die Dalit-Theologie sucht nach den Ursprüngen und der Identität der Dalit-Gemeinschaft. „Die Frage der Identität und der Wurzeln ist untrennbar an das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft gebunden“ (40). • Dalit-Theologie ist eine Leidenstheologie. Auch hier muss der bereits als schief erkannte Vergleich mit Israel herhalten. So wie die Israeliten in Ägypten gelitten haben, leiden auch die Dalits unter der Diskriminierung durch das Kastensystem. • Dalit-Theologie ist eine Befreiungstheologie. Die Befreiung geschieht mit starker Hand und hat ihren Wert in sich, die Landnahme ist ein zweiter Schritt. Die Dalits müssen sich organisieren und ein Dalit-Bewusstsein entwickeln. Sie waren nicht nur ein „Nicht-Volk“ sondern „Nicht-Menschen“, bevor sie zu „Gottes Volk“ wurden. Dass im Ursprungsmythos der Dalits diese gerade selbst Opfer einer „Landnahme“ waren, führt den ganzen Vergleich allerdings ad absurdum. Nirmal grenzt sich dabei deutlich gegen die Befreiungstheologie lateinamerikanischer
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Provenienz ab. Ihre Rezeption in Indien, Nirmal spricht terminologisch unscharf von „Dritte-Welt-Theologie“, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, da die marxistisch inspirierte Klassenanalyse in der Auseinandersetzung mit dem kulturell-religiös sanktionierten Kastensystem versagt (35 f.).35 Die Dalit-Problematik gibt dem Thema „Befreiung“ demgegenüber erst seinen spezifisch indischen Klang. Neben der allgemeinen Charakterisierung als Volks- und Befreiungstheologie sind mit Identität und Leiden zwei uns bereits vertraute Themen benannt. Für die Begründung des Dalit-Seins Jesu arbeitet Nirmal denn auch mit diesen befreiungstheologischen Elementen. Jesus identifiziert sich „mit den Dalits seiner Zeit“ (vgl. etwa Mk 2,15 f.), in seinem „Nazareth-Manifest“ (Lk 4,16 f.) spricht er ihnen die Befreiung zu (47). Er ist der Menschensohn, der leiden muss. Das zentrale Symbol aber ist das Kreuz. Er war am Kreuz der gebrochene, der zu Tode gequetschte, der gespaltene, der zerrissene Mensch – der Dalit in der bestmöglichen Bedeutung des Wortes (49).
Nirmal gibt der eingangs genannten sechsten Bedeutung von Dalit „die ‚Erscheinenden‘ und die ‚Hervorgehobenen‘“ christologische Obertöne. Gerade in und durch die Schwächeren, die Unterdrückten, die Geschundenen und an den Rand Gedrängten wird Gottes erlösende Herrlichkeit gezeigt, weil die Gebrochenheit zu Gottes eigentlichem Wesen gehört (50).
Wieder ist es Jesu Leidensgegenwart, die Tatsache, „dass der Jesus aus Palästina, der auch unmittelbar für uns der Jesus Indiens ist, inmitten des Befreiungskampfes der Dalits in Indien steht“ (43), in der kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen die Würde der Dalits vor Gott begründet wird. Nirmal müht sich allerdings um den Nachweis, „dass Jesus Christus, in dessen Nachfolge wir stehen, selbst ein Dalit war – trotz seines Judeseins“ (45). Anders als die bisher untersuchten Befreiungschristologien geht er über eine bloße Analogisierung, die theologisch durch die Lehre vom Christus praesens zu legitimieren ist, hinaus und will das Kastensystem direkt auf das Palästina zur Zeit Jesu übertragen. Diese konkordistische36 Vorgehensweise, mit der unter den Bauern Lateinamerikas oder den No-
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maden Afrikas etwa durchaus Anfangserfolge zu erzielen sind, ist im Fall der Kastenordnung von vornherein zum Scheitern verurteilt, dazu sind die Verhältnisse einfach zu unterschiedlich. Auch der Hinweis auf Jesu Stammbaum (45) kann kaum überzeugen: Dass es unter seinen Vorfahren einige moralisch anfechtbare Gestalten gab, Nirmal nennt Tamar, Rahab und Salomo, kann, salopp gesagt, in jeder guten Familie vorkommen, ein Bezug zur Kastenordnung lässt sich aus diesen moralischen Anstößigkeiten wohl nur schwerlich herstellen. Der Versuch schließlich, die These, Jesus habe durch die Vertreibung der Händler und Geldwechsler vom Vorhof der Heiden den Nichtjuden ihre religiösen Rechte zurückgegeben, mit dem hinduistischen Tempelverbot für Dalits in Relation zu setzen, erscheint mir ebenfalls wenig geglückt. Werden die kulturell-religiösen Schranken des Kastensystems durch die universale Heilsbotschaft Jesu Christi doch gerade transzendiert. Nirmals Denken bleibt hier in Hindu-Kategorien verhaftet. Zu dieser Beobachtung passt, dass Nirmal die in der christlichen Tradition zumeist auf Jesus Christus bezogene Gottesknechtstypologie auf Gott überträgt. Gott selbst ist ein Dalit-Gott. „Er ist ein Gottesknecht – ein Gott, der dient“ (43). Sind wir bereit zu sagen, mein Hausmädchen oder der Mann, der mein Haus putzt, mein bhangi, sei mein Gott? Es ist nämlich wirklich in diesem Sinne zu verstehen, dass unser Gott ein dienender Gott ist. Er ist ein Bedienender, ein dhobi, ein bhangi, und steht für alle Dienste, die traditionellerweise das Los der Dalits waren. Dies bedeutet, dass wir an den Diensten dieses dienenden Gottes Anteil hatten. Von einem Diener-Gott oder Gottesknecht zu sprechen, heißt, ihn als wirkliche Dalit-Gottheit zu identifizieren und anzuerkennen (44).
Nirmal vertritt also, ähnlich wie wir das bei Stanley J. Samartha, einem prominenten Vertreter der von ihm bekämpften brahmanischen Tradition in der indischen Theologie, gesehen haben, einen dezidierten Theozentrismus. Gotteslehre und Christologie verschmelzen dabei zusehends, gleichzeitig driften Gottheit und Menschheit Jesu Christi auseinander. Übrig bleibt Jesus, der Dalit.
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3. Die Burakumin tragen die Dornenkrone Jesu – Teruo Kuribayashi/Japan Im Vergleich mit der Dalit-Theologie steht die Burakumin-Theologie noch ganz am Anfang ihrer Entwicklung. Sie wird vor allem von Pfarrern getragen, die unter den Burakumin arbeiten. Ihr Engagement hat nicht zuletzt Niederschlag in kirchlichen Dokumenten gefunden.37 Der Theologe Teruo Kuribayashi (1948–2015), Professor der Kwansei Gakuin Universität, hat in seiner am Union Theological Seminary in New York geschriebenen Doktorarbeit das Burakumin-Problem in den weiteren asiatischen Kontext gestellt.38 Die Diskriminierung der sogenannten Burakumin oder Eta reicht zurück in die Ständeordnung des japanischen Mittelalters unter dem Tokugawa-Shogunat (1600–1867).39 Teruo Kuribayashi übersetzt „buraku“ mit „außerhalb des Dorfes“, das Suffix „-min“ leitet er vom japanischen Wort für „Auge“ ab und schreibt dem Kompositum die Bedeutung zu „Menschen, deren Augen mit einer Nadel ausgestochen wurden, um sie zu blenden“.40 Diese Form der geradezu mythischen Aufladung von Begrifflichkeiten war schon bei der Minjung- und der Dalit-Theologie zu beobachten. Eta wird wesentlich nüchterner mit „viel Schmutz“41 bzw. „Verdreckte“42 wiedergegeben. Noch unterhalb der Burakumin bzw. Eta rangieren die Hinin „Bettler, Prostituierte, fahrendes Volk, Medien, Wahrsager, Wanderprediger und Justizflüchtlinge“,43 deren Status allerdings nicht erblich ist. Als Lederverarbeiter, Abdecker oder Totengräber galten die Burakumin wegen ihres Berufsstandes als unrein. Wie die Dalits mussten sie an den Rändern der Dörfer und Städte siedeln. Einmal abgesondert, wurde der Berufsstand und damit der soziale Status erblich. Die Burakumin sind „ethnisch gesehen reine Japaner“,44 ihre Diskriminierung ist also „weder rassisch, ethnisch noch religiös“45 zu erklären. Dass sie im Gegensatz zu den übrigen Japanern keine Verbindung zum Stammbaum der Kaiserfamilie haben, ist ein späteres mythologisches Konstrukt.46 Obwohl im Zuge der Meiji-Restauration47 seit 1871 durch Gesetz offiziell gleichgestellt, dauert die Diskriminierung der Burakumin bis in die Gegenwart an. Ein Schicksal, das sie mit der während der japanischen Kolonialisierung und des Zweiten Weltkriegs nach Japan verschleppten
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koreanischen Minderheit, Japans Ureinwohnern, den Ainus, und der Bevölkerung von Okinawa teilen. 1922 initiierten die Burakumin eine Befreiungsbewegung, die Zenkoku Suiheisha (1922–1940). Als Banner wählte diese säkulare Emanzipationsbewegung, ohne mehrheitlich christlich zu sein, die rote Dornenkrone auf schwarzem Grund, befestigt an einem Bambusspeer, dem Symbol der japanischen Bauernaufstände. In dem Manifest der Gründungsversammlung heißt es: Als Dank dafür, dass wir den Tieren (als Abdecker) das Fell abziehen mussten, wurde uns bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren gezogen; als Belohnung dafür, dass wir den Tieren das Herz herausreißen mussten, wurden uns bei lebendigem Leibe die Herzen zerrissen. Obwohl wir verlacht und bespien wurden, obwohl wir wie unter einem Pflug ständig unter einem Alptraum lebten, hat man uns den Stolz auf unser blutvolles Leben nicht zerstören können. Dazu wurden wir, die wir in dieser Tradition stehen, mit einem Zeitalter konfrontiert, in dem sich Menschen an die Stelle Gottes setzen wollten. Aber jetzt kommt die Zeit, in der wir die Opfer verweigern und das Zeichen unserer Stigmatisierung abwerfen. Jetzt kommt die Zeit, in der die Dornenkrone der Märtyrer zum Zeichen des Segens wird. Die Zeit ist da, wo wir mit Stolz aussprechen können, dass wir ‚Eta‘ sind. Wir dürfen nie mehr durch sklavische Worte und feiges Benehmen unsere Vorfahren beschämen und andere Menschen entehren.48
Die Dornenkrone symbolisiert die Gegenwart Jesu im Leiden. Sie ersetzt das allzu oft ideologisch missbrauchte Kreuzessymbol.49 Wieder findet sich das Motiv der Umwertung einer Stigmatisierung zu einer Selbstbezeichnung. Den Eta bzw. Burakumin wird hier durch das messianische Symbol der Dornenkrone kontrafaktisch eine Würde zugesprochen, wie wir das schon bei den Armen Lateinamerikas, den Schwarzen, dem Minjung und den Dalits gesehen haben. Das identitätsstiftende Moment der Gegenwart Jesu im Leiden ist durchgängig nachweisbar. Anlässlich der zweiten Vollversammlung der Suiheisha im Jahre 1923 wurde in ähnlicher Weise auch der Exodus rezipiert:
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Der 3. März 1922 soll als der glorreiche Gründungstag der nationalen Suiheisha in Erinnerung bleiben. Es war der Tag, an dem unsere drei Millionen Brüder und Schwestern, die unter einem Fluch standen, den Weg zur Freiheit wählten. Das erinnert uns an das Volk Israel, das in Ägypten verachtet war. Sie suchten die Freiheit von Unterdrückung zu erlangen, am Tage geführt von einer Rauchsäule und bei Nacht von einer Feuersäule, und zogen in die Wüste von Paran. Seitdem ist ein Jahr vergangen, und nun ist der Tag der Zweiten Nationalen Konferenz gekommen. Obwohl die Wildnis kein Ende nimmt und das gelobte Land noch weit ist, marschieren wir tapferer weiter (our marching tone is even higher and more brave). Die Geschichte ist ein Prozess der Befreiung. Drei Millionen Brüder und Schwestern und sechstausend unbefreite Buraku versammelt euch unter der Flagge mit der Dornenkrone!50
Wie im Titel seiner Doktorarbeit A Theology of the Crown of Thorns. Towards the Liberation of the Asian Outcasts51 bereits angedeutet, nimmt Teruo Kuribayashi den gesamtasiatischen Kontext in den Blick, explizit nennt er „Indien, Burma, Nepal, Korea und Japan“ (vi), konzentriert sich dann aber im Wesentlichen auf Indien, Japan und ansatzweise Korea. Seine Kernthese ist, dass die Situation der Ausgestoßenen (outcasts) in den asiatischen Gesellschaften sich nicht durch sozio-ökonomisch und politische Theorien erklären lässt, sondern Folge „religiös-kultureller Sanktionen“ (14) im Umgang mit „Schmutz, Blut und Tod“ (9) ist, hinter denen „Konzepte von Verunreinigung und Entweihung“ stehen, die die Kenntnis der asiatischen Religionen, Kulturen und ihrer Geschichte voraussetzen (15). Die Darstellung und Analyse bleiben dann allerdings sehr an der Oberfläche. Das gilt gerade auch für den japanischen Kontext und die Situation der Burakumin selbst. Kuribayashi bietet stattdessen eine breit angelegte, sozialkerygmatische Bibelauslegung, denn „der Kontext und der biblische Text sind dialektisch aufeinander bezogen“ (115). Leider bleibt die vom Autor gepriesene story-Theologie (70) ebenfalls Postulat. Text und Kontext stehen relativ unvermittelt nebeneinander. Kuribayashis Argumentationsstruktur folgt einem uns inzwischen schon vertrauten Formular:52 (1.) Die diskriminierte Gruppe wird benannt und ihre Mitglieder mit den Armen und Unterdrückten der biblischen Schriften identifiziert.53 (2.) Sünde wird in diesem Zusammenhang unter
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Berufung auf das Neue Testament als eine soziale und nicht als eine moralische Kategorie verstanden.54 (3.) Es wird der Anschluss an eine säkulare Emanzipationsbewegung gesucht, die im Fall der Suiheisha ja bereits offen mit christlichen Symbolen arbeitet: „es waren die Burakumin selbst, die als erste Jesu Dornenkrone als Symbol ihres Leidens und ihrer Befreiung annahmen“.55 (4.) Jesus ist bei den Burakumin als Mitleidender und Befreier zugleich gegenwärtig. 56 Kuribayashis ethischer Appell an die Kirchen, ihr prophetisches Amt wahrzunehmen, trifft sich mit einer Initiative des Nationalen Japanischen Kirchenrates, der bereits 1976 auf seiner 26. Vollversammlung eine Erklärung veröffentlicht und einen Sonderausschuss für Fragen der Diskriminierung der Burakumin berufen hat.57 Ist die Dalit-Theologie von der Schwarzen Theologie der USA beeinflusst, hat bei der Burakumin-Theologie die Minjung-Theologie Pate gestanden. Kuribayashi zitiert ausführlich den katholischen Dichter und Laientheologen Kim Chi-Ha aus Korea. Darüber hinaus ist jedoch auch James Cone in Japan und Korea kein Unbekannter.58 Beide theologischen Bewegungen sind in ihrer Impuls- und Korrektivwirkung nicht zu unterschätzen. Sie rücken Probleme ins Bewusstsein, die lange verschwiegen wurden, und korrigieren ein durch die älteren kontextuellen Theologien vermitteltes einseitiges Bild. Theologisch sind sie jedoch nur noch wenig innovativ gegenüber dem bisher erreichten Diskussionsstand. Die Frage ist, ob das überhaupt gewollt ist oder ob ihre Protagonisten sich mit der Problemanzeige bescheiden. Wohlgemerkt, ich will hier nicht einer theologischen Systembildung im klassischen Sinne das Wort reden. Aber es gilt für die kontextuellen Theologen und Theologinnen, die Themen weiter zu verknüpfen und das Themengeflecht enger zu weben, wenn sie international diskursfähig werden und das von ihnen immer wieder scharf kritisierte, geltende Paradigma von Theologie ablösen wollen.
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Übers. 10: Modelle befreiungstheologischer Christologie Befreiungstheologie LA Titel
MinjungTheologie
DalitTheologie
BurakuminTheologie
Jesus Christus, der Befreier
Menschheit Gottheit
Schwarze Theologie
Leben Jesu ist Teil der Christologie Arme
Schwarze
Minjung
Dalit
Burakumin
identifikatorischer Imperativ (Christus praesens); neuer Mensch in Christus Kreuz Sünde Soteriologie
Leiden mit; korporative theologia crucis strukturelle Sünde; sinned-againstness „schon jetzt“ & „noch nicht“ (präsentische Soteriologie)
Parallel zu den befreiungstheologischen Neuaufbrüchen hat sich wie eingangs problematisiert59 eine Theologie von Frauen in der Dritten Welt und ihrer Diaspora etabliert, die ich der zweiten Generation zurechne. Mit dem folgenden Paragraphen halte ich den Männern der ersten Generation den Spiegel vor. Die Frauen zeigen die Intersektionalität der in den vorangegangenen Paragraphen verhandelten generativen Themen wie Rassismus, Klassismus, Kastismus und den gegen sie gerichteten Sexismus auf und suchen nach weiblichen Bildern Jesu Christi in ihren jeweiligen Kontexten.
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E. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel“ – Christologie von Frauen aus Afrika, Asien und Lateinamerika sowie ihrer Diaspora
Namaku Isa, Öl auf Leinwand, 2005 (F. Sigit Santoso/Indonesien) Santoso überblendet hier auf subtile Art die Ikonographien von Jesus und Maria. Die Gesichtszüge sind androgyn. Die rechte mit nach unten zeigenden Fingern geöffnete Fläche einer männlichen Hand ist die buddhistische Mudra der Wunschgewährung. Die Linke mit der Handfläche vor die Brust gelegt, dort wo das Herz sitzt, ist weiblich. In vielen traditionalen Kulturen ist dies eine Begrüßungs- und Selbstbezeichnungsgeste. Nach javanischer Vorstellung ist die linke Seite die schwächere, weibliche. Beide Hände sind durch eine feine rote Schnittwunde gezeichnet, die die Stigmata symbolisiert. Unter dem durch eine leichte Ausbeulung im Stoff angedeuteten rechten Busen ist das leuchtend weiße Untergewand durch Blut befleckt; eine Anspielung auf den Lanzenstich in die Seite. Der dunkle Umhang gibt der Figur etwas Würdevolles. Ihr Kopf wird von einem haarfeinen Heiligenschein umzirkelt. Der Blick ist auf die Betrachter*innen gerichtet. Vor ihr steht ein von einem hellblau schimmernden Tuch bedeckter runder Tisch, mit einem überdimensionierten weißen Teller. Darauf liegt ein blutroter in zwei Teile zerschnittener Fisch. Die Spitze des dazwischen liegenden Messers deutet auf die Betrachter*innen. Der Titel, Namaku Isa, indonesisch für „Mein Name ist Jesus“ verwendet den Namen Jesu, der so auch im Koran zu finden ist. Zweigeschlechtliche Gottheiten sind im hindu-buddhistischen Erbe Indonesiens ebenfalls bekannt. Das weibliche Prinzip, die shakti nimmt dann die eine Hälfte des göttlichen Körpers ein. In Jakarta ausgestellt, erweckt dieses Bild Assoziationen mit der Queer-Szene, in der westliche Freier gerne ihr neokoloniales sexuelles Begehren ausleben.
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§ 13 Jesus und die Frauen | Die weiblichen Gesichter Christi – Christologie im Kontext von Sexismus, Rassismus und Klassismus Die doppelte Abgrenzung der Theologinnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika sowie ihrer Diaspora gegenüber den westlichen feministischen Theologinnen einerseits und ihren Landsmännern andererseits durchzieht auch ihre Christo- oder besser Jesulogien. Sind sie in der Regel doch weniger an christologischer Lehrbildung interessiert als vielmehr an konkreten Antworten auf Jesu Frage „Und ihr, für wen haltet ihr mich?“ (Mk 8,29) vor dem Hintergrund der lebensweltlichen Glaubensperspektiven der Frauen in ihren jeweiligen Kontexten. Auch wenn meine Zeuginnen ähnlich wie die Männer der ersten Generation eine westlich-akademische Ausbildung genossen haben und zur kosmopolitischen theologischen Elite gehören, sind sie trotzdem zugleich organische Intellektuelle, die in der kirchlichen Frauenarbeit und der Frauenbewegung ihrer Länder ebenso gut vernetzt sind und die doppelte und dreifache Diskriminierung oft genug auch am eigenen Leib erfahren mussten. Dennoch sind sie sich der Problematik dieses Klassenunterschiedes bewusst und reflektieren darüber. Das Dilemma, das sich daraus ergibt, hat Gayatri Chakravorty Spivak auf den Punkt gebracht „Können die Subalternen sprechen?“1 Die hier vorgestellten Theologinnen begegnen dem, indem sie die Betroffenen in ihren stories, die sie weitererzählen, selbst zu Wort kommen lassen. Gleichzeitig verweben sie auch fiktive und faktive literarische Texte, in denen sich Frauenerfahrungen spiegeln, in ihre theologischen Reflexionen. Unter dem Titel Inheriting our Mother’s Gardens. Feminist Theology in Third World Perspective erschien bereits 1988 ein Sammelband mit autobiographischen Texten von Theologinnen aus der Dritten Welt und ihrer Diaspora sowie amerikanischer feministischer Theologinnen.2 Die Gartenmetapher geht auf die afro-amerikanische Schriftstellerin Alice Walker zurück und spielt auf die schöpferischen und bewahrenden Qualitäten der Frauen an. Vor allem aber durchbricht sie die patriarchalen Gesellschaftsordnungen und richtet den Blick auf die intergenerativen und interkulturellen Beziehungen zwischen Frauen und rückt damit ihre Erfahrungen ins
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Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine Anzahl der hier vorgestellten Theologinnen haben daran mitgeschrieben.
1. Generative Themen aus der Perspektive des Kontextes Eine der zentralen Fragen der zweiten Generation (second wave) westlichfeministischer Theologie, von der Katholikin Rosemary Radford Ruether (geb. 1938) auf den Punkt gebracht „Kann ein männlicher Erlöser Frauen erlösen“,3 die das Fundament des christologischen Gedankengebäudes erschütterte, stellt sich den Dritte-Welt-Theologinnen offensichtlich so nicht, da sie sich auf die Person Jesu konzentrieren. Ähnliches gilt für die feministische Infragestellung der Opfer- bzw. Sühnechristologie etwa durch Dorothee Sölle (1929–2003): „Wächst das Heil aus einem blutigen Menschenopfer?“4 Sie kann in diesem Zusammenhang auch von „christlichem Masochismus“ und „theologischem Sadismus“ sprechen.5 „Die äußerste Konsequenz des theologischen Sadismus ist die Anbetung des Henkers.“6 Die befreiungstheologischen Perspektivenwechsel, die schon von der ersten Generation eingeleitet wurden, vom Leiden für zum Leiden mit und vom Sünder sein, zum Sein derjenigen, gegen die gesündigt wird, haben hier neue Sichtweisen ermöglicht.7 Zugleich ist festzustellen, dass die Opferchristologie im Sinne eines Leidens mit und der Identifikation Gottes mit den Leiden der Frauen im Christus praesens in Kontexten von Armut und multipler Unterdrückung weiterhin deutungsmächtig ist. In Kontexten, die von traditionalen Religionen geprägt sind, in denen das Opfer von ritueller Bedeutung ist, kommt verstärkend noch die kulturelle Anknüpfungsfähigkeit hinzu. Im Zentrum steht für die Dritte-Welt-Theologinnen aber Jesu exemplarisch anderer Umgang mit den Frauen. Hier ergeben sich durchaus Gesprächsbrücken mit westlich feministischen Theologinnen, die nicht den von Mary Daly eingeschlagenen Weg des post-christlichen Feminismus beschritten haben, der die „Christolatrie“ verwirft,8 sondern etwa im Sinne einer apologetisch-feministischen Hermeneutik wie die bereits genannten Rosemary Radford Ruether und Dorothee Sölle mit Hilfe einer intertextuellen Traditionskritik alternative Denkwege aufzeigen. Die prophetisch-
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messianische Tradition wird zu einer kritischen Instanz gegenüber den „Texten des Terrors“ (Phyllis Trible).9 Vertreterinnen einer konstruktiv-feministischen Hermeneutik wie Luise Schottroff und Elisabeth Schüssler Fiorenza fragen nach den Frauenerfahrungen, die sich hinter den biblischen Texten verbergen;10 Letztere votiert darüber hinaus auch für eine Sophia-Christologie.11 Die Betonung des emanzipatorischen Impulses Jesu vor dem Hintergrund seines kulturell-religiösen Kontextes rief jüdische Feministinnen auf den Plan, die darin eine Reproduktion des latenten christlichen Antijudaismus sahen.12 Immer wieder zitierte biblische Geschichten sind die blutflüssige Frau, die syrophönizische Frau am Brunnen, die arme Witwe, die Frau, die Jesus salbt und die seiner Jüngerinnen, die noch bei der Kreuzigung von ferne standen, als alle anderen ihn verlassen hatten und die das Grab leer finden. Als exemplarisch kann hier das Buch der japanischen feministischen Theologin Hisako Kinukawa „Frauen im Markusevangelium“ gelten.13 Sie arbeitet heraus, dass die Initiative von den Frauen ausgeht, die in Jesus Heil sehen und gesellschaftliche und rituelle Grenzen überschreiten, die durch eine „Ehre/Schande-Kultur“ (183) markiert werden, um daran teilzuhaben. Jesus wird durch sie ebenfalls zum „Grenzbrecher“ (182). „Die Begegnungen waren gegenseitig und beide Seiten empfingen und lernten etwas (183).“ Die Beziehungen konstituieren sich oft in Grenzerfahrungen von Krankheit und Tod. Sie sind getragen von Empathie und gegenseitigem Vertrauen, das seinen Ausdruck in körperlicher und emotionaler Nähe findet. Kinukawa spricht von einer „Lebensgemeinschaft“ (183), die diese Frauen zu Jüngerinnen Jesu macht. Dieser Bezug auf Jesu konkreten Umgang mit Frauen findet sich auch in den Publikationen afrikanischer und lateinamerikanischer Theologinnen.14 Was die Christologie betrifft, grenzen sich afrikanische Frauen von der doppelt patriarchalen Hoheitstitel-Christologie der Männer der ersten Generation ab und nehmen generell eine inkulturationskritische Haltung ein.15 Dennoch wollen sie zugleich das lebensfördernde und gemeinschaftstragende ihrer afrikanischen Kultur und Weltanschauung auch im Christentum bewahren. Asiatische Frauen entwerfen demgegenüber offensiv „weibliche“ Inkulturationschristologien. Sie suchen Entsprechungen zum Heilsmittler Jesus in den Göttinnen und religiösen Charismatikerin-
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nen Asiens, wie etwa den Schamaninnen. Die lateinamerikanischen Theologinnen sind diejenigen, die am meisten an systematisch-christologischer Theoriebildung interessiert sind und sich klassischen Fragen von Rechtfertigung oder Gut und Böse stellen. Allen gemeinsam ist eine Orientierung an der Befreiungsbotschaft Jesu. Diesen Diskursen wollen wir uns nun exemplarisch zuwenden.
2. Christologie in den Kontexten afrikanischer Frauen – Mercy Amba Oduyoye und Musa Dube Mercy Amba Oduyoye/Ghana – Christologie im Herd-halt Gottes Bei Mercy Amba Oduyoye trifft sich die Muttermetaphorik mit ihrer Abstammung aus einer matrilinearen Akan-Gesellschaft: „Mir wurde damit bewusst, dass in meinen Adern das Blut von Müttern floss, welche sich nicht herumkommandieren ließen, auch nicht von noch so berühmten Söhnen der Sippe, von Brüdern, deren Kinder als Neffen später ihr Erbe beanspruchen würden.“16 Eine gewisse Tragik ergibt sich daraus, dass sie anders als von ihrer Großmutter prophezeit keine Zwillinge bekommen hat (31), sondern kinderlos geblieben ist. In der lebens- und gemeinschaftszentrierten afrikanischen Kultur haftet ihr damit zeitlebens ein Makel an.17 Diesen kompensiert sie für sich selbst dadurch, dass sie die junge Generation afrikanischer Theologinnen als ihre Töchter betrachtet. Eine Sichtweise, die durch ihren Preisnamen „Mutter der afrikanischen Theologie von Frauen“ in der Außenwahrnehmung durchaus bestätigt wird. Im Blick auf ihre Mütter formuliert sie: „Ich fühle mich ihnen gegenüber verantwortlich als eine, von der erwartet wird, dass sie in der Gemeinschaft die Tradition schützender Lebenszentriertheit weiterträgt (48).“ Damit transzendiert Oduyoye die gängige biologistische Interpretation afrikanischer Weltanschauung. Sie ist die Mittlerin des emanzipatorischen Elans ihrer Mütter für die nächste Generation afrikanischer Frauen. „Ich muss die Nährstoffe für meine Theologie aus den Brüsten meiner Mutter saugen, deren Erfahrungen von Kirche und Leben meiner eigenen viel näher ist (35).“ Ihre Mutter hatte schon eine für die ihrerzeit für Mädchen noch ungewöhnliche höhere Schulbildung genossen und sich für die Emanzipation der Frauen in Kirche und Gesellschaft eingesetzt.
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Mercy Amba war die Erstgeborene (1934) von neun Kindern einer in zweiter Generation christlichen Familie, die der methodistischen Kirche angehörte. In den Adern beider Familienlinien floss zugleich königliches Blut, das sie mit der traditionalen Religion verband. Dass sie ihren Familiennamen Yamoah später gegen den Namen ihres nigerianischen Ehemannes eintauschen musste, sieht sie als Folge des patriarchalen westlichen Kolonialismus: „dass sie sich von Personen, die sich über ihre Eltern identifizierten, in das Anhängsel eines Ehemanns verwandelt hatten – das war bis dahin undenkbar gewesen [für ghanaische Frauen] (37).“ Mercys Vater war methodistischer Pfarrer, der viel im Land herumgekommen ist. Ihre Mutter folgte ihm nach und arbeitete ehrenamtlich in der Kirche mit. Eine Tradition, die sie durchaus kritisch sieht: Das Charisma der Frauen wird von der Kirche nur dann geschätzt und nutzbar gemacht, wenn es gratis zur Verfügung gestellt wird. Meine Mütter akzeptierten das. Ich aber nicht. Warum habe ich es dann so lange Zeit meines Lebens trotzdem getan? In meiner eigenen Theologie unterscheide ich zwischen opfern und geopfert werden. Die Kirche opfert viel zu viele Frauen auf dem Altar des Patriarchats. Dennoch gibt es Frauen, die bewusst und vorsätzlich in der Kirche bleiben und sich darum bemühen, die Zukunft schon in einer unterdrückten Gegenwart zu leben. Ein solches Opfer ist lebendig und lebensstärkend (50).
Oduyoye übernimmt von der nigerianischen Soziologin Felicia I. Ekejiuba den Begriff des „Herd-halt (hearth-hold)“ statt des gebräuchlichen „Haushalt (household)“18 als Metapher für die Kirche. Damit rückt sie die Frau ins Zentrum der familia dei. Entsprechend sympathisiert sie auch ohne Quellenangabe mit dem von Ada María Isasi-Díaz eingeführten weiteren Wortspiel kin-dom statt Kingdom of God, das ebenfalls auf die Zentralität der Familie anspielt.19 So wie sich die Familie als die kleinste Einheit um den häuslichen Herd der Mutter versammelt, versammelt sich die Kirche um Gott als Mutter. In ihrem autobiographischen Text beschreibt Oduyoye idealtypisch das Leben von fünf Generationen methodistischer Frauen, wobei sie das Leben ihrer Tochter und Enkelin notgedrungen imaginieren muss. Die Großmutter hatte noch als Bäckerin und Marktfrau gearbeitet und selbst-
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ständig zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen und sich gleichzeitig ehrenamtlich in der Kirche engagiert. Trotz ihrer Highschool-Ausbildung beschränkte sich ihre Mutter auf das ehrenamtliche Engagement in der Kirche. Mercy Amba selbst hat nach ihrer Schulzeit in Kumasi und Accra eine Ausbildung zur Lehrerin gemacht. Neben ihrer Lehrtätigkeit (1954– 1967) studierte sie zunächst Pädagogik an der Universität von Accra, später dann auch Theologie (1963–1969). Ein Stipendium führte sie in dieser Zeit für zwei Jahre nach Cambridge (1963–1965). 1967 begann ihre Karriere in der ökumenischen Bewegung als Jugendsekretärin des Weltrats für christliche Erziehung im ÖRK, im Anschluss arbeitete sie von 1970–73 als Jugendsekretärin für die Konferenz Afrikanischer Kirchen in Ibadan, Nigeria, der Heimat ihres Mannes, den sie in der ökumenischen Studierendenbewegung kennengelernt hatte. Es folgte eine Dozentur an der Universität von Ibadan (1974–1986). Hier traf ihre matrilineare Akan-Kultur auf die patrilineare ihres Mannes, was zu ihrem zunehmenden Engagement für Gendergerechtigkeit führte. Weltweite Gastdozenturen an den Selly Oak Colleges in Birmingham (1981/82), Havard (1985/86) und am Union Theological Seminary, New York (1986/87) zeugen von wachsender internationaler Anerkennung. 1987 kehrte sie als Stellvertretende Generalsekretärin und Leiterin der Abteilung für „Bildung und Erneuerung“ zum ÖRK nach Genf zurück (1987–1994). Auch die ökumenische Bewegung war noch stets fest im patriarchalen Griff. Es gab Stimmen, die Oduyoye nahelegten, dass es sich für eine verheiratete Frau nicht zieme, eine solche Position anzustreben. Schließlich war ein offizieller Zustimmungsbrief ihres Mannes notwendig, damit sie die Position überhaupt antreten konnte.20 In diesen Jahren wurde sie zu einer der zentralen Figuren der Ökumenischen Dekade der Kirchen in Solidarität mit den Frauen (1988–1998). Seit 1994 ist Oduyoye freiberuflich tätig. 1998 gründete sie das Institut Afrikanischer Frauen in Religion und Kultur auf dem Campus des Trinity College in Legon, Ghana. Eine Einrichtung, deren Präsidentin sie bis heute ist und in der sie nicht zuletzt ihre eigene Bibliothek für die Studierenden zugänglich gemacht hat. Mit ihrer Intervention auf der ersten EATWOT-Vollversammlung in Neu Delhi 1981, wo sie mit ihrem Ruf nach dem „Aufbruch im Aufbruch“
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Raum für die Frauen in den kontextuellen Theologien eingeklagt hat21 und der daraus resultierenden Gründung der EATWOT-Frauenkommission, hat Oduyoye interkulturell-feministische Theologiegeschichte geschrieben. Von 1997–2001 war sie dann selbst die erste weibliche EATWOTPräsidentin. In Afrika hat Oduyoye nach einem mehrjährigen Vorlauf den Circle of Concerned African Women Theologians gegründet, der 2019 sein 30-jähriges Jubiläum in Gabarone, Botswana feiern konnte und Musa Dube zu seiner neuen Vorsitzenden gekürt hat. Der Circle hat sich gleichermaßen als theologische Plattform mit beachtlichen publizistischen Erfolgen, wie als Instrument der Nachwuchsförderung und des Netzwerkens auf dem Kontinent bewährt. Mercy Amba Oduyoye repräsentiert jenen selbstbewussten postkolonialen Typus afrikanischer Intellektueller, die ihr vom Kolonialismus geschundenes afrikanisches Erbe rekonstruieren und einen Platz in der Weltgesellschaft reklamieren, zu der Afrika einen eigenständigen Beitrag zu leisten habe. Als Anhängerin der Religion der ehemaligen Kolonialherren unterzieht sie auch diese einer relecture: „Ich sehe es als meine Pflicht an, eine relevante Theologie für eine lebendige Christenheit in Afrika zu schaffen (47).“ Wobei sie patriarchale Elemente in afrikanischer und westlicher Kultur sowie christlicher Religion immer wieder anprangert und demgegenüber die Rolle der Frauen hervorhebt: „Ich habe Vertrauen in die Zukunft der afrikanischen Frau und in ihre Kraft, Afrika zu verändern (34).“ Zugleich ist Oduyoye auch zu einer kosmopolitischen Intellektuellen geworden, die in internationalen Foren Afrika und seine Frauen repräsentiert und Netzwerkstrukturen einer anderen Moderne wie EATWOT und den Circle wesentlich geprägt hat. Dafür ist sie mit mehreren Ehrendoktoraten und Preisen ausgezeichnet worden. Christologie und Methode Trotz ihrer substanziellen Kritik an der patriarchalen Verfasstheit sowohl ihrer afrikanischen Kultur als auch des Christentums und der wechselseitigen Verstärkung dieser Tendenzen, propagiert Oduyoye einen „schöpferischen Synkretismus (creative syncretism)“, der die beiden miteinander verbindet.
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Wenn die christliche Theologie afrikanisches Denken benützt, versucht sie nicht, den afrikanischen Geist einzufangen und zu zähmen, sondern sie möchte, dass der afrikanische Geist das Christentum revolutioniert, zum Besten für alle, die sich zu ihm bekennen.22
Der männlich dominierten akademischen Theologie setzt sie eine narrative Theologie entgegen, die auf den Erfahrungen afrikanischer Frauen basiert. Erzählungen tragen mehr zur Selbstwerdung eines Menschen bei als alles andere […] All jene Dinge, die es offenbar wert sind, erinnert und weitererzählt zu werden, formen uns – kaum merkbar, doch unergründlich, tiefer und nachhaltiger, als man glaubt (33).
Diese narrative Identitätsbildung deckt sich mit der narrativen Struktur der Bibel. „Das Evangelium war das gesprochene Wort – gehört, geglaubt und weitererzählt (40).“ Entsprechend werden die Erfahrungen der Frauen und die biblischen Geschichten etwa in den kirchlichen Gesängen in einem hermeneutischen Zirkel aufeinander bezogen. In der methodistischen Kirche Ghanas wuchs die Tradition, das Evangelium im Gesang wiederzugeben, aus der ursprünglichen Fanti-Verehrung.23 Damit antworteten die Frauen auf die Predigten. Von Anfang an war die Mehrzahl der Prediger und Mahner Männer, ebenso wie die wenigen, die lesen konnten. Die Frauen verinnerlichten die Geschichten, indem sie das Gehörte oder Gelesene nach Kapiteln und Versen auswendig lernten. Aus diesem Repertoire flochten sie ihre Liedtexte. Man muss die afrikanischen Frauen beten hören, um einen Zugang zu ihrer Realität zu bekommen. Die Frauen führen diese Tradition heute fort, indem sie ihre alltäglichen Angelegenheiten mit Mustern aus der Bibel verweben und sie bei den Gemeindeversammlungen vortragen (40).
Auch im Blick auf die Christologie macht Oduyoye diesen narrativen Ansatz stark.
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Das Wort ‚Christologie‘ gehört nicht zum Vokabular afrikanischer christlicher Frauen, solange sie nicht irgendeine formale theologische Ausbildung hatten. Aber sie reden alle über Jesus, glauben an Jesus, haben eine enge Beziehung zu Jesus, den Sohn Marias und legen Zeugnis davon ab, was Jesus für sie getan hat.24
Laut Oduyoye ist die Geschichte vom Besuch Marias bei Elisabeth für Afrikanerinnen dabei von zentraler Bedeutung. Dass zwei Frauen ihre wundersamen Schwangerschaften und ihre Verbundenheit mit Gott solidarisch miteinander teilen und selbst die Ungeborenen einander freudig begrüßen, reflektiert idealtypisch die Lebenszentriertheit und den Gemeinschaftsbezug afrikanischer Religiosität.25 Als systematische Theologin und Religionswissenschaftlerin entwirft Oduyoye ihre Christologie im Spannungsfeld von westlich theologischer Tradition und afrikanischer Weltanschauung, die sie gleichermaßen mit einer Hermeneutik des Verdachts einer Patriarchatskritik unterzieht. In ihrer Rede anlässlich der Verleihung eines Ehrendoktors an der Universität von Amsterdam bekennt sie: „Ich fühlte mich dazu berufen für mich selbst Klarheit zu schaffen, was mein Glaube an Jesus Christus beinhaltet. Darum habe ich mich in der Dogmatik spezialisiert.“26 Die christologischen Klärungsversuche der altkirchlichen Konzilien sind in der Denkund Sprachwelt der Antike verortet, Oduyoye spricht demgegenüber zeitgemäß von „der Solidarität des göttlichen und menschlichen in Christus“,27 die für sie zugleich das Idealbild christlicher Anthropologie ist. Gott ist in Jesus Christus mit den Leiden der Menschen solidarisch, zugleich ist jeder Mensch gottebenbildlich. An der Gotteslehre fasziniert Oduyoye die lebensspendende Schöpfung und der gemeinschaftliche und kommunikative Aspekt der Trinität, was wiederum gut anschließt an die Lebens- und Gemeinschaftszentriertheit afrikanischer Religion. Zugleich kritisiert sie deren Vitalismus und die Diskriminierung etwa kinderlos gebliebener Frauen, ebenso wie die Diskriminierung von Frauen in Kirchen und theologischen Ausbildungsstätten. Oduyoye, die beides am eigenen Leibe erfahren hat, setzt dem die mütterliche Seite Gottes und Jesu Christi (mothering) entgegen.28 Insgesamt konstatiert sie eine Kontinuität traditioneller christologischer Denkfiguren. Für Afrikanerinnen ist Jesus der Retter vor bösen Mächten, der Christus victor.
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Auch das freiwillige Opfer wird durchaus positiv gesehen. Jesus ist als „der verwundete Heiler“ zugleich der Befreier. Christologie ist für afrikanische Frauen wesentlich Soteriologie. Wie Jesu Leiden als freiwilliges Leiden heilswirksam ist, so kann auch freiwilliges menschliches Leiden für andere Heil wirken. Soteriologie und Befreiung fallen dabei praktisch in eins.29 Musa Dube – Christologie in Zeiten der HIV/AIDS Pandemie Musa Dube kam 1964 in Botswana als Tochter einer kinderreichen Immigrantenfamilie aus Zimbabwe zur Welt. In einer Zeit, die Kwame Nkrumah, der erste Primierminister von Ghana nach der Unabhängigkeit, 1958 anlässlich des ersten all-afrikanischen Volkskongresses in Accra zu „Afrikas Dekade der Unabhängigkeit“ erklärte. Sie geht auf diesen sozialen Ort im einleitenden Kapitel ihrer Doktorarbeit Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible ein: Diejenigen von uns, die im Zeitalter des bewaffneten Befreiungskampfes, vom Zweiten Weltkrieg bis zur südafrikanischen Unabhängigkeit, aufwuchsen und ihren christlichen Glauben bekannten, durften nie bequem unsere Plätze einnehmen. Debattierclubs in Schulen und Colleges stellten einen Antrag nach dem anderen, um uns permanent aufs Podest zu rufen. Wir wurden aufgefordert, die Ethik unserer Religion zu erklären, ihre Praktiken zu rechtfertigen, ebenso wie ihre Anhängerinnen und ihre Institutionen. Die Debattierclubs verlangten zu erfahren, warum die biblischen Texte und ihre westlichen Leser Instrumente des Imperialismus waren und wie wir, als schwarze Afrikaner unseren Glauben in eine Religion rechtfertigen, die uns verraten hat – eine Religion des Feindes sozusagen. Diese Fragen und Anträge motivieren meine Suche: in Anbetracht der Rolle der Bibel bei der Unterstützung des Imperialismus, wie sollen wir die Bibel als postkoloniale Subjekte lesen?30
Nach einem Bachelorabschluss in Umwelt- und Religionswissenschaften an der Universität von Botswana (1988) ging Musa Dube zum weiteren Studium an die Universität von Durham in Großbritannien, wo Sie einen Master (MA) im Neuen Testament (1990) erwarb. Es folgte ein zweiter Masterabschluss (1996) und nur ein Jahr später der PhD im Neuen Testament, beide an der Vanderbilt Universität in den USA. Dube unterrichtete
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als Lecturer, Senior Lecturer, Associate Professor und seit 2008 als Full Professor an der Universität von Botswana. Letzteres eine überfällige Anerkennung ihrer Arbeit an einer patriarchalen Institution. Ein kurzes Intermezzo als Assistant Professor am Scripps College, Claremont (2004/05) in den USA blieb ein temporärer brain drain. Dube entschied sich zur Rückkehr in ihre afrikanische Heimat, wo sie heute die führende Neutestamentlerin ist. Sie war Gastprofessorin am Union Theological Seminary New York, der Universität Bamberg und Professor Extraordinary an der Stellenbosch Universität, Südafrika. Dube hat zahllose Auszeichnungen für ihre Forschung und Lehre sowie den Kampf gegen HIV/AIDS erhalten. Als theologische Beraterin der Ökumenischen HIV/Aids-Initiative in Afrika (EHAIA) des ÖRK engagierte sich Musa Dube besonders für ein HIV/Aids sensitives Curriculum in der theologischen Ausbildung.31 Von 2002–04 war sie Afrika weit unterwegs, um Theolog*innen im HIV/AIDS & Gender Main Streaming auszubilden, in Namibia, Botswana, Südafrika, Zimbabwe, Mozambique, Tansania, Kenia, Ghana, Nigeria, Kongo, Rwanda, Kamerun, Benin und Äthiopien. Sie wirkte dabei auch auf die Produktion relevanter Beratungsliteratur für die jeweiligen Länder hin. Der Tabuisierung dieses Themas steht ein latentes Interesse der Studierenden gegenüber, hier adäquat informiert zu werden. Sie sind schließlich auch diejenigen, die später eine wichtige Rolle als soziale Verantwortungsträger und Multiplikatoren übernehmen müssen. Mit theologischen Schlagwörtern wie „Gott hat Aids“ oder „Die Kirche hat Aids“ hat Dube eine überfällige Diskussion angestoßen. Christologie und Methode Für ihr methodisches Vorgehen hat Musa Dube die Metapher Rahabs Leseprisma geprägt. Es ist ein postkoloniales feministisches Auge, das viele Blickwinkel eröffnet, um literarische Texte zu sehen, lesen und hören und dabei unterdrückerischen imperialen und patriarchalen Strukturen und Ideologien zu widerstehen (123). [Dadurch können sich] Lese- bzw. Schreibweisen befreiender Interdependenz entwickeln, die Differenz, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit für verschiedene Kulturen, Religionen, Gender, Klassen, Sexualitäten, Ethnizitäten und Rassen
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ständig reevaluieren und in der wechselseitigen Verbundenheit unserer Beziehungen feiern (ebd.).
Mit dieser postkolonialen Hermeneutik des Verdachts blickt Dube auch auf die afrikanischen Christologien der ersten Generation, die Jesus afrikanische Hoheitstitel bzw. Preisnamen verliehen haben. Für die Afrikaner, die das Evangelium in imperialistische Kleider gehüllt empfangen haben, war Christus in königlichen, autoritären und militärischen Begriffen definiert, die die Unterwerfung des Kontinents legitimierten. Christus wurde präsentiert als ,Aller Herr, König der Könige, Eroberer und Retter der Sünder.‘32
Einzig die Akklamationen Jesu als Befreier und Heiler passieren den Test und können als „inklusiv“ gelten (147). Die Applikation von Titeln wie Ahne, Häuptling und analog wohl auch Initiationsmeister vollzieht sich demgegenüber noch im Denkrahmen der kolonialen westlichen Gefangenschaft der afrikanischen Christenheit und patriarchaler Kategorien.33 Die meisten der vorgeschlagenen christologischen Perspektiven entpuppten sich als männlich dominiert und einige von ihnen billigten die koloniale Grundstruktur, die afrikanische Kulturen und Religionen mit dem christlichen Glauben unterjocht hat. Die Perspektiven gingen von einem Bezugssystem aus, das afrikanische Religionen und Kulturen, wie die Hebräische Bibel, als lediglich partielle Offenbarung betrachtete, die schließlich in der Person Christi oder dem Neuen Testament vollendet wurde (147).
Dies konterkariert die Intention einer postkolonialen Identitätsrekonstruktion, deren Repräsentanten sich ja gerade von der christologischen Legitimierung der Unterwerfung der afrikanischen Völker und der Auslöschung ihrer Kulturen und Religionen als minderwertig emanzipieren wollten. Dube prangert die doppelte Unterdrückung der afrikanischen Frauen durch ein koloniales und patriarchales Denken afrikanischer Theologen und Kirchenführer an, das sich auch in ihren Christologien niederschlägt. „Afrikanische Frauen haben sich daher darum bemüht Christologien zu
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formulieren, die zugleich gender-inklusiv und dekolonisierend sind (147).“ Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass die afrikanischen Kulturen und Religionen Teil von Gottes Schöpfung sind und Gott überwiegend als non-gendered betrachten. Dube selbst sucht insbesondere nach einer Christologie als Instrument im Kampf gegen die HIV&AIDS Pandemie, die nach der gerade erst erlangten Unabhängigkeit Afrika erneut zu erobern und unterdrücken droht. „Gerechtigkeit, Mitleiden (compassion), Befreiung und Heilung“ (150) sind Konzepte, die ihr dabei wichtig sind. Referenzgeschichten für „Christus, den mitleidenden Befreier und Heiler“ (159) im christlichen Testament sind für Dube etwa die lukanische Feldrede (Lk 6), die Antrittspredigt in Nazareth (Lk 4) oder das Gleichnis vom letzten Gericht (Mt 25). „Seid barmherzig (compassionate), wie auch Gott eure Vater-Mutter barmherzig ist (Lk 6,36 [153]).“ Jesus/Christus verharrt dabei nicht im Mitleid, sondern heilt und befreit. Diese Christologie ist jedoch ein Aufruf an Bischöfe, Priester, Pfarrer und alle anderen, die leitende Aufgaben in der Gemeinschaft haben sowie an ihre Gefolgschaft, damit anzufangen, mitleidende Leitung in der HIV&AIDS Era zu demonstrieren; mit denen zu leiden, die leiden (bis hin dazu, sich selbst als HIV positive Kirche zu betrachten); ihre Sphäre von Schmerz, Furcht, Verwirrung, Gebrochenheit, Machtlosigkeit zu betreten und Christus in den Gesichtern der Infizierten und Betroffenen zu sehen (163).
Eine solche Christologie konterkariert eine Theologie, die immer noch die Opfer beschuldigt und Krankheit als eine Strafe für ihre Sünde ansieht. Im Gegenteil, Gott mit uns, Immanuel ist in unserem Leiden, unserer Krankheit gegenwärtig. Gott und die Kirche haben gleichermaßen AIDS. Musa Dube entwirft eine Christologie, die gleichzeitig biblisch-theologisch fundiert und relevant ist für Afrika, wo das Verlangen nach Heil immer zugleich das Verlangen nach Heilung ist.
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3. Christologie in den Kontexten asiatischer Frauen – Chung Hyun-Kyung und Kwok Pui-Lan Chung Hyun-Kyung – Christologie als befreiender und lebenszentrierter Synkretismus Schon ihre Geburt im Jahr 1956 wurde für Chung Hyun-Kyung im Nachhinein zu einem Minjung-Ereignis.34 Erst Jahre nach dem Tod ihrer Eltern erfuhr sie bei einem Besuch in ihrer Heimat von einer Cousine vom Land, die im elterlichen Haushalt geholfen hatte, um versorgt zu sein, dass die Frau, die sie ihr Leben lang für ihre Mutter gehalten hatte, nicht ihre leibliche Mutter war. Da diese trotz vieler Bemühungen nicht schwanger geworden war, hatte sich ihr Vater schließlich eine Leihmutter (ci-baji) gesucht und mit dieser eine Tochter gezeugt. Bei der Übergabe des Kindes am Tag nach ihrem ersten Geburtstag, versuchte die leibliche Mutter, sich vergeblich zu widersetzen. In der Folge fiel sie in geistige Umnachtung, und ihr Sohn beging aus Verzweiflung darüber schließlich Selbstmord. Die arme Frau hatte keine Möglichkeit, sich gegen den seinerzeit reichen Seouler Bürger durchzusetzen. Die patriarchale konfuzianistische Gesellschaft erlaubte es dem Vater, sich eine andere Frau zu nehmen, um seine Familienlinie zu kontinuieren. Die beiden Frauen wurden jede auf ihre Weise Opfer dieses Systems. Die Ehefrau wurde durch ihre Unfruchtbarkeit erniedrigt und musste ertragen, dass ihr Mann den ersehnten Nachwuchs mit einer anderen zeugte. Die leibliche Mutter verlor ihr Kind und konnte es nur schützen, indem sie ihre Leihmutterschaft verheimlichte, da es sonst als uneheliches Kind in der koreanischen Gesellschaft diskriminiert worden wäre. Die beiden Frauen hassten einander, nicht den Mann und die patriarchale Gesellschaft, die die Ursache ihres Leidens waren. Gleichzeitig verband sie die Liebe zu ihrer Tochter. Die „Gebete aus dem Schatten der Geschichte“ (58) ihrer leiblichen Mutter haben Hyun-Kyungs Leben ebenso behütet, wie die Fürsorge ihrer Ziehmutter. Die Ziehmutter fand einen sozialen Freiraum in der Missionsgruppe einer protestantischen Kirche, versah gleichzeitig aber als ergebene Ehefrau ihre Aufgaben bei der Vorbereitung der konfuzianistischen Ahnenriten ihres Mannes, traf sich mit ihren Freundinnen im buddhistischen Tempel
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und konsultierte Wahrsager*innen. Die leibliche Mutter war zunächst Buddhistin und berichtete ihrer Tochter, dass sie während der Schwangerschaft zwei Träume (tae-mong) mit buddhistischen und schamanistischen Visionen hatte, die in der koreanischen Kultur durchaus einen Stellenwert haben und als Anerkennung des ungeborenen Kindes durch die religiösen Autoritäten gedeutet werden können. Später fand sie eine spirituelle Heimat in einer Pfingstkirche, die ihrer Tochter vor der Begegnung mit ihrer leiblichen Mutter immer als „Opium für das Volk“ suspekt gewesen war. In diesen religiösen Patchworkbiographien ihrer Mütter wurzelt Chungs Vision eines „lebens- und befreiungszentrierten Synkretismus“. Hyun-Kyung wuchs zunächst in behüteten Verhältnissen auf. Die Familie verarmte dann jedoch durch den Bankrott ihres Vaters. Trotzdem schaffte die Tochter es mit Zähigkeit und Fleiß sowie der Unterstützung ihrer Ziehmutter, an den besten Schulen zu studieren. Chung selbst sieht die Erfahrung des sozialen Abstiegs und der Verarmung im Nachhinein als Vorbereitung auf die Studierendenbewegung, die für Demokratisierung und Menschenrechte streitet. Die Studierenden gehen dabei auch in die Fabriken und aufs Land, um sich mit den Arbeitern und Bauern zu solidarisieren. Nach dem BA (1979) und MA (1981) an der Ehwa-Frauenuniversität bricht sie schließlich zu weiteren Studien in die USA auf. Ihr Weg führt sie über Claermont (MDiv 1984) und das Women’s Theological Center in Boston (Diplom 1984) an das Union Theological Seminary nach New York. Das Antlitz ihrer alten, kranken leiblichen Mutter ist Chung zur „Ikone Gottes“ geworden, „in der sie viele namenlose gekreuzigte Menschen“ (4 f.) erkennen konnte.35 Gottes Leidensgegenwart im Christus praesens unter den Armen und Unterdrückten transzendiert Geschlechtergrenzen. Diese korporative theologia crucis ist typierend für die Minjung Theologie. In ihrer Doktorarbeit Struggle to be the Sun again,36 die sie am Union Theological Seminary bei James Cone, dem Vater der Schwarzen Theologie geschrieben hat, kehrt Chung zu den Quellströmen einer asiatischen Theologie von Frauen zurück: das Frauenreferat der Christlichen Konferenz Asiens, die Frauenkommission von EATWOT, sowie die Zeitschrift In God’s image. Nach einem einleitenden Kapitel über den sozialen Kontext asiatischer Theologie von Frauen, folgen vier thematische Kapitel über Anthropologie, Christologie, Mariologie und Spiritualität sowie ein Schluss-
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kapitel über die Zukunft asiatischer feministischer Theologie. Das Buch ist ihren drei Müttern, ihrer leiblichen Mutter Oh Yang-Kwan, ihrer Ziehmutter Kang Du-Ran und ihrer Mentorin an der Ehwa-Frauenuniversität Chang-Won gewidmet. Nach dem Studium in den USA kehrte Chung zunächst nach Korea zurück und unterrichtete an ihrer Alma Mater der Ehwa-Frauenuniversität. Nach ihrem legendären Auftritt in Canberra kam es jedoch in Korea und in evangelikalen Kreisen zu einer Art Hexenverfolgung, die nicht zuletzt Chungs Ehe scheitern ließ. Chung ging daraufhin ins selbstgewählte theologische Exil nach New York. Als Nachfolgerin von Kosuke Koyama unterrichtet sie seitdem als Associate Professor of Ecumenical Theology am Union Theological Seminary. Ihre Schwerpunkte sind Feministische Theologie und Spiritualität, Ökofeminismus, Interreligiöser Dialog und Meditation. 2008 wurde sie von ihrem Zen-Lehrer Seung Sahn zur Dharma-Lehrerin ordiniert. Chung identifiziert sich selbst als christlich-buddhistisch und arbeitet an einem Salim-Manifest, einer Theologie des Lebens, die an das koreanische Konzept Salim (Leben) anknüpft,37 das über Kim Chi-Ha seinen Weg in die Minjung-Bewegung gefunden hat. Ihre Stellung in New York hat Chung die Freiheit eröffnet, sich in Korea und weltweit für die Frauenbewegung einzusetzen und in alternativen Foren für ihre Sache zu werben. Publiziert hat sie seit den Tagen ihrer Doktorarbeit vor allem auf Koreanisch.38 Christologie und Methode Als Befreiungstheologin der zweiten Generation hat Chung früh die Lebenssituation der koreanischen Frauen als „Minjung innerhalb des Minjung“ beschrieben.39 Um das vielfältige Leiden der Koreanerinnen unter Patriarchat, Militarismus, Kapitalismus etc. zu bekämpfen, sollen Theologinnen und Aktivistinnen zu „Priesterinnen des han“ werden. Unter Aufnahme des schamanistischen Rituals han-pu-ri, können sie dann in einem Dreischritt zunächst den Geschichten der vielfach unterdrückten Frauen lauschen und ihnen einen sicheren Raum zum Sprechen geben (speaking and hearing). Das führt dazu, dass diese ihr Leiden zu benennen lernen (naming). Schließlich müssen sie gemeinsam nach Veränderungsmöglichkeiten suchen (changing).40 Chungs Interesse an gelebter Religion und Religiosität, Ritual und Performance, aber auch Meditation, lässt sie in ihrer
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Doktorarbeit schließlich einen „überlebens- und befreiungszentrierten Synkretismus“ postulieren (113), der aus den Religionen das aufnimmt, was dem Leben und der Freiheit dient. Ihr Auftritt in Canberra war eine gelungene performative Umsetzung dieser Theologie. Sie zog in einem weißen traditionellen Gewand, wie es auch von Schamaninnen während des kut getragen wird, und begleitet von einer Gruppe koreanischer Musiker*innen ein. Spontan hatten sich noch zwei fast nackte Aborigines mit Didgeridoos, ihren traditionellen Blasinstrumenten, darunter gemischt. Chung kombinierte in ihrer Performance Musik, Tanz und visuelle Kunst. Bevor sie ans Rednerpult trat, rief sie die Namen der Geister der unschuldig Gestorbenen an, biblische Gestalten, Märtyrer, aber auch die Geister unbekannter Opfer von Krieg, Gewalt und Katastrophen und der geschundenen Natur. Zum Abschluss dieses Eingangsrituals ließ sie die Liste mit diesen Namen zwischen ihren Händen in Flammen und Rauch aufgehen.41 Chung zeichnet in ihrer Doktorarbeit nach, wie asiatische Frauen sich zunächst an den traditionellen Christusbildern abarbeiten (53–61), diese in der Folge aber auch transformieren und neue schaffen (62–73). Während sie Christusbilder verwerfen, die Jesus als weltliche oder religiöse Machtperson wie König oder Hohepriester porträtieren, ist das Bild vom „aktiv“ leidenden Gottesknecht sehr populär, ähnlich wie wir das schon bei den Afrikanerinnen gesehen haben. Asiatische Frauen deuten ihr eigenes Leiden in seiner Nachfolge als „Empowerment“ für sich und andere (Lydia Lascano und Virginia Fabella, beide Philippinen, Choi Man Ja und Park Soon Kyung, beide Korea). Chung weist zu Recht auf die Ambivalenz dieser Umdeutung des eigenen Leidens hin,42 kann Religion doch so auch zum Marxschen Opium des Volkes werden. „Wo war Jesus, wenn die Körper asiatischer Frauen geschlagen, vergewaltigt und verbrannt wurden (55)?“ Ebenso ambivalent ist die Titulierung Jesu als „Herr“ (58). Einerseits kann der Titel auf eine göttliche Autorität jenseits des kolonialen Christus und des Patriachats auch in seinen indigenen Varianten etwa des Konfuzianismus verweisen, andererseits verstärken sich patriarchales Christentum und lokale Kultur gegenseitig in der Unterdrückung der asiatischen Frauen (Mary John Mananzan, Philippinen und Park Soon Kyung, Korea). Jesus als „Immanuel (Gott mit uns)“ schließlich deuten asiatische
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Theologinnen wie Monica Melanchthon, Indien und Lee Oh Jung, Korea als das neue Menschsein Jesu in den Frauen Asiens, jenseits patriarchaler Geschlechterausgrenzungen. Philippinische Theologinnen sehen in Jesus den Befreier, Revolutionär und politischen Märtyrer, der in ihren Leiden präsent ist (Lascano). Ähnlich begegnen koreanische Theologinnen Jesus in den Arbeiterinnen. Jesus wird diesen eucharistisch zum Saatkorn, mit dem sie den sie ständig bedrohenden Hunger stillen können. Marianne Katoppo, Indonesien, Kwok Pui-Lan, Hongkong, Lee Oh-Jung und Park Soon-Kyung, beide Korea, betonen das für Jesus typierende Mitleiden (compassion), indem sie ihn metaphorisch als Mutter ansprechen (64). Koreanische Theologinnen wie Chung selbst porträtieren Jesus auch als Schamanin, als „Priesterin des Han“, die das Leiden der Frauen im Ritual (Han-Pu-Ri) löst.43 Chung charakterisiert den Schamanismus als eine Religion von Frauen für Frauen: (1.) Die Schamaninnen sind überwiegend weiblich, (2.) ihre Klientel ebenfalls und (3.) das trifft auch für die Geister selbst zu. Insofern unterstreicht diese Identifikation Jesu weibliche Seite. Am Ende ihrer Canberra-Performance fragt Chung, ob nicht auch Guanyin, der in einen weiblichen Bodhisattva des Mitleidens und im Volksglauben als Göttin verehrte transformierte Bodhisattva Avalokiteshvara, der Lieblingsjünger des Buddha, ein weibliches Bild für Christus sein könnte, „die die Erstgeborene unter uns ist, die uns vorangeht und andere mit sich nimmt?“44 Das Mitleiden (compassion) ist das tertium comparationis zwischen Guanyin und Jesus. Der gender switch in der Person der Guanyin rückt auf christlicher Seite Jesus und Maria näher zusammen, der sich Chung in einem separaten Kapitel zuwendet. Schon die Jesuiten hatten im Zuge ihrer Chinamission die Ikonographie der Guanyin für ihre Mariendarstellungen rezipiert. In der Christologie verstärkt dieser Dialog der Bilder das mütterliche Element.45 Chungs Konzept des lebenszentrierten Synkretismus lässt M. M.Thomas „Christuszentriertheit“ ebenso hinter sich wie die Kreuzeszentriertheit ihres Vorgängers auf dem Lehrstuhl am Union Seminary in New York, Kosuke Koyama. Ihre intra- wie interreligiös hybride und fluide Christologie experimentiert mit Versatzstücken aus Mariologie und Frauenmystik, ebenso wie mit Schamanismus und Buddhismus und deren spirituellen Ressourcen.
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Kwok Pui-Lan – Postkoloniale Christologische Imaginationen Kwok Pui-Lan hat sich früh mit Chung Hyun-Kyung und Elizabeth Tapia (geb. 1950) als den drei ersten asiatischen Frauen, die in den USA einen theologischen Doktorgrad anstrebten, zusammengeschlossen. Sie hat in den letzten Jahrzehnten am konsequentesten die Selbstorganisation und Repräsentation asiatischer und asiatisch-amerikanischer christlicher Theologinnen vorangetrieben, etwa im Rahmen des Zusammenschlusses Pacific, Asian and North American Asian Women in Theology and Ministry (PANAAWTM, seit 1984) oder des Asian Theological Summer Institute (seit 2007). Zahlreiche Preise und zwei Ehrendoktorate honorieren ihr Engagement. Pui-Lan wurde 1952 als Tochter einer kinderreichen Familie in Hongkong geboren.46 Der Vater verehrte besonders die Göttin Mazu, Schutzpatronin der Fischer und Seefahrer. Gemäß konfuzianistischer Tradition hoffte er auf einen männlichen Nachkommen. Dieser Wunsch erfüllte sich erst mit den beiden letztgeborenen Söhnen, nachdem seine Frau ihm zuvor fünf Töchter geschenkt hatte. Kwok selbst hat eine Tochter. Pui-Lan stellte nach eigener Aussage schon als Kind „die Legitimität eines sozialen Systems infrage, das Jungen und Mädchen nicht gleichwertig behandelt“ (17). Während ihre Mutter die „buddhistische Volksreligion“ praktizierte, kommt die Tochter selbst über einen Nachbarn in Kontakt mit der anglikanischen Kirche und entscheidet sich bewusst dafür, Christin zu werden. Die Diakonin und später eine der beiden ersten ordinierten Frauen in der anglikanischen Kirche Huang Xianyung wird ihr zur geistlichen Ziehmutter. Reverend Huang hat immer gepredigt, dass Männer und Frauen von Gott gleich erschaffen sind, und sie hat die Frauen ermutigt, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. […] Ihr Dienst bei den Bedürftigen half mir, Spuren des Göttlichen zu sehen (19).
Das Kirchengebäude ihrer Gemeinde selbst war mit Backsteinen, aber unter Aufnahme chinesischer Stilelemente erbaut worden. Darin zeigt sich bereits die Ambiguität einer Religion, die zwar in Asien entstanden ist, heute aber als eine westliche Religion wahrgenommen und mit dem Erbe des Kolonialismus identifiziert wird. „Mit dieser historischen Last müssen
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wir chinesischen Christen uns vor unserem eigenen Volk rechtfertigen“ (21), so Kwok. Christologie und Methode In dieser Situation kombiniert Kwok in ihrem umfangreichen Œuvre feministische, kontextuelle asiatische und postkoloniale Theologie miteinander. Sie fragt nach der local agency chinesischer Frauen, tritt für interreligiösen Dialog ein, in einem Kontext, in dem die Bibel ein heiliger Text unter vielen ist, und will die patriarchalen Elemente im Christentum ebenso wie in den asiatischen Kulturen und Religionen entlarven, gleichzeitig aber den Reichtum ihres kulturellen Erbes nicht verwerfen.47 Nach ihren Anfängen als Dozentin in Hongkong hat Kwok den Großteil ihrer akademischen Karriere in den USA verbracht, entsprechend verschob sich ihr Selbstverständnis langsam von der asiatischen feministischen Theologin zu ihrer Existenz in der Diaspora.48 Die Suche nach dem historischen Jesus charakterisiert Kwok als Identitätssuche des durch die Begegnung mit dem Fremden im kolonialen Projekt verunsicherten weißen Mannes. Der epistemologische Rahmen der ersten Forschungen wurde aus einer Kombination von orientalistischer Philologie, rassistischer Ideologie und einem eurozentrischen Studium der Mythologie und Religionen anderer Menschen erbaut.49
Die Erforschung der zu kolonisierenden anderen und die Jesusforschung sind gleichermaßen ein orientalistisches Konstrukt. Schon für Augustin und die Kirchenväter war Hebräisch die ursprüngliche authentische Sprache der Menschheit. In der orientalistischen Philologie wurde diese Sicht erst durch die Erforschung des Sanskrits im Zuge der Ausbreitung des Empire infrage gestellt. Das Griechische aber konnte seinen Status als „Herrensprache“ bewahren. Heilige Texte und ihre frühen Manuskripte wurden fetischisiert.50 Ihre dogmatische Interpretation durch die Kirchen wurde mit einer evolutionistischen Sicht gekontert. Albert Schweitzer, der Vater der Leben Jesu Forschung, deckte diese Agenda auf, ging dann aber selbst nach Afrika, um die heutigen Natives zu retten.51
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Diese Parallelisierung von Interesse am historischen Jesus und dem Umgang mit den Fremden greift heute noch: Die ‚richtigen‘ weißen Männer in Amerika haben sich lauthals beklagt, sie hätten viel Terrain an Frauen, Minderheiten und Schwule und Lesbierinnen verloren. Die Massenmedien in den USA haben das Wütende-weiße-Männer-Syndrom hochgespielt. Immer wenn die weißen Männer in ihrer Identität verunsichert sind, suchen sie nach Jesus. […] Wenn die Jesusforschung im 19. Jahrhundert Hand in Hand mit der Suche nach ,Eingeborenen‘ einherging, so sind die ‚Eingeborenen‘ heute bereits in den USA vorzufinden und die Weißen müssen nicht in die Fremde ziehen, um sie zu finden. Sie wissen einfach nicht, wie sie mit ihnen zurechtkommen sollen oder wie sie sie loswerden können.52
In Jesus! The Native führt Kwok diese Überlegungen im Blick auf die Rolle der Bibelleser*innen und Exeget*innen mit „nativem“ Hintergrund weiter aus. Während es in jüngster Zeit jedenfalls im amerikanischen akademischen Kontext möglich geworden ist, etwa in systematisch-konstruktiver Theologie und Ethik den eigenen sozialen Standort zu thematisieren, gilt in den Bibelwissenschaften weiterhin das Objektivitätspostulat, das getragen wird von dem Überlegenheitsgefühl einer weißen, männlichen Mittelklasse-Elite (white supremacy). Sowohl Studierende als auch Dozierende mit ethnisch diversem Hintergrund oder aus der Zwei-Drittelwelt treffen auf weiße Dozierende und Studierende, die an den Identitätsdiskursen der anderen (natives) weder Interesse noch auch nur Verständnis dafür haben.53 Kwok will dem mit drei ineinandergreifenden Strategien begegnen.54 Die Natives sollen zunächst einmal sowohl die Methoden (tools) und den Diskurs ihrer „Herren (masters)“ kennenlernen als auch alternative Methoden wie Postkoloniale Kritik und alternative Zugänge wie das Bibellesen von den Rändern her. Dieser zweigleisige Lernprozess (parallel processing) ist zwar aufwendig, empowered die Studierenden und Dozierenden aber zu kritischem Denken und macht sie diskursfähig. Die zweite Strategie, das Überschreiten der Identitätsdiskurse (beyond identification), mag manche geneigte Leser*innen überraschen, da Kwok die Hermeneutik des Verdachts damit gegen die eigene Klientel kehrt und davor warnt, in
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die Falle der Selbst-Tribalisierung zu gehen und sich den von den weißen Herren zugeschriebenen Status des Native zuzuziehen, mit anderen Worten also die Perspektive des Unterdrückers zu internalisieren. Entsprechend sollten sie drittens auch nicht dem Muster mancher von dem Aufklärungsstereotyp des „edlen Wilden“ inspirierten westlichen Exegeten folgen und Jesus diese Rolle zuschreiben (beyond noble savaging Jesus). Kwok wendet sich damit gegen „binäre Konstruktion[en]“55 im Sinne einer Wir- und Sie-Dichotomie von „the West against the rest“. Sie plädiert für einen multi-perspektivischen und multiaxialen Ansatz, dessen postkoloniale Subjekte sich nicht auf den von den weißen Herren zugewiesenen Raum (space) und zeitlichen Rahmen (time) beschränken lassen und von den Rändern der Postmoderne her denken. Dieser andere Zeithorizont erlaubt uns, über die Menschheit in ihren Differenzierungen zu sprechen – gender, race, Klasse, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Alter, Behinderungen und so weiter. In diesem kulturellen Raum und dieser Zeit ist niemand ein ‚Eingeborener (native)‘, und gleichzeitig sind wir alle ‚Eingeborene (natives)‘.56
An anderer Stelle hat Kwok nach der Perspektive der nichtchristlichen Natives auf die ihnen fremde Religion gefragt.57 Dass Gott sich einmalig in einem konkreten Menschen inkarniert haben soll, der am Kreuz stirbt und dann auferstanden sein soll, sowie die Deutung dieses Geschehens als Versöhnung und Erlösung, ist Anhängern der klassischen kosmischen Religiosität Chinas, einer synkretistischen Amalgamation aus Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus, ebenso wenig plausibel wie Jesu sozialer Status als illegitimes Kind oder sein Umgang mit Angehörigen der Unterschicht. Auch die Heilungen beeindrucken nicht, sondern verorten ihn höchstens in der Volksreligion. Der Verrat seiner Jünger ist aus der Sicht des asiatischen Ideals eines Lehrer-Schülerverhältnisses ebenfalls irritierend. Einzig eben diese Rolle Jesu als Lehrer und seine Ethik bieten einen Anknüpfungspunkt. Die klassische Zwei-Naturen-Lehre interpretiert Kwok neu als „contactzone“ zwischen Mensch und Gott in „Jesus/Christus“.58
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Das hybrideste Konzept in der christlichen Tradition ist Jesus/Christus. Der Raum zwischen Jesus und Christus ist verwirrend und fluide, er widersteht einfachen Kategorisierungen und Sinnfestlegungen (closure [171]).
Wie einst Shoki Coe sich mit seinem Konzept der Kontextualisierung vom älteren Begriff der Indigenisierung abgrenzte, der ihm zu statisch war, will Kwok mit der Aufnahme des Begriffs Hybridität jeglichem kulturellen Essenzialismus vorbeugen (182) und die interkulturellen Prozesse in ihrer Fluidität und Ambiguität beschreiben. Sie übernimmt dazu von Rita Nakashima Brock den Begriff der „interstitiellen Integrität (interstitial integrity)“. Die subtilen, nuancierten Unterschiede im Zwischen, die multidimensionalen Temporalien, die pluriphonen Stimmen von Frauen und Männern und die ‚fruchtbare Ambiguität‘ bieten neue Möglichkeiten und eröffnen neue Räume für kreative theologische Imaginationen von Christus (171).
Kwok spielt dies am Beispiel des „schwarzen Christus“, „Jesus als Maismutter“ (George Tinker), Christus Shakti (Aruna Gnanadason, Stella Baltazar), Jesus als theologischer Transvestit zwischen jüdischer und christlicher Identität (Susannah Heschel) oder Jesus als Bi/Christus (Marcella Althaus-Reid) durch (174–182). Schon in ihrer Einführung in die asiatische feministische Theologie, die zehn Jahre nach Chungs Dissertation erschienen ist, bewegt sich Kwok in ihrem Christologie-Kapitel in den gleichen Diskursfeldern und beruft sich oft auf dieselben Theologinnen wie diese.59 Sie nimmt dabei eine regionale Einteilung vor: Philippinen, Korea, China und Indien. Entsprechend werden Portraits Jesu als Befreier (Mary John Mananzan, Virginia Fabella und Lydia L. Lascano), Priester des Han (Chung), und Verkörperung des weiblichen Prinzips, Shakti (Aruna Gnanadason und Stella Baltazar) vorgestellt.60 Kwok selbst entwirft hier eine ökofeministische Christologie im Kontext chinesischer Kosmologie, die sie „organisch“ nennt. Sie grenzt sich damit vom vorherrschenden Anthropozentrismus in der Christologie bewusst ab.61
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Eine ökologische Christologie wird eine Vision der ökologischen Gerechtigkeit für Mensch und Natur gleichermaßen entwerfen und die Beiträge anderer Religionen und Traditionen willkommen heißen (91). […] ein organisches Modell der Christologie untersucht die Implikationen von Natur-Metaphern für Christus, entdeckt das Potential einer weisheitlichen Christologie wieder und schlägt vor, Jesus als eine der Epiphanien Gottes zu sehen (93).62
Kwoks interkulturelle Christologie integriert postkoloniale, inter-religiöse und ökofeministische Perspektiven. Dadurch entsteht ein faszinierend hybrides theologisches Kaleidoskop.
4. Christologie in den Kontexten lateinamerikanischer Frauen – Elsa Tamez und Yvone Gebara Elsa Tamez – Christologie als Rechtfertigung, die Leben schenkt Elsa Tamez wurde 1951 in Monterrey, Mexiko als Tochter einer kinderreichen, sozial schwachen Familie geboren, die der presbyterianischen Kirche angehörte. Sie ist seit 1975 mit dem kolumbianischen methodistischen Theologen José Duque verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hat. Bereits 1969 war sie selbst in die Methodistische Kirche gewechselt. Aufgrund der Diasporasituation und da die presbyterianische Kirche Mexikos bis heute keine Frauenordination kennt, ging Tamez zum Theologiestudium nach Costa Rica an die Universidad Biblica Latinoamericana in San José, wo sie 1979 graduierte. In Costa Rica erlebte sie hautnah die Anfänge der Revolution in Nicaragua mit, da die Sandinisten zunächst von dort aus operierten. Nach einem Aufbaustudium in Literatur und Linguistik (1985) promovierte Tamez 1990 in Lausanne mit einer bahnbrechenden Arbeit zur Rechtfertigungslehre des Paulus aus befreiungstheologischer Sicht. Tamez war bis zu ihrer Emeritierung Professorin, zeitweise auch Rektorin ihrer Alma Mater Universidad Biblica Latinoamericana. Zugleich war sie Mitarbeiterin des renommierten Departamiento Ecumenico de Investigaciones (Ökumenisches Forschungszentrum, DEI) in San José und Beraterin der Vereinigten Bibelgesellschaften. Ihr besonderes Engagement gilt dabei Bibelübersetzungen in die indigenen sowie die Taubstummen-Sprachen. Unter ihrem Rektorat (1995–2000) – als erste Frau in einer solchen
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Funktion auf dem lateinamerikanischen Kontinent – florierte ihre Alma Mater UBL nach schwieriger Zeit. Die von ihr 1994 initiierte internationale Kampagne „Eine Million Namen von Frauen, die unseren Traum verwirklichen (Un millón de nombres de mujeres construyendo nuestro sueño)“ brachte der UBL finanzielle Unabhängigkeit. Die Spende eines symbolischen Dollars sollte jeweils mit dem Namen einer Frau verbunden werden, die für Glauben und Theologie eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Diese Namen wurden dann zur Erinnerung auf den neuen Gebäuden der UBL verewigt. Früh schon hat Tamez ihr Frausein im Kontext der allgegenwärtigen Unterdrückung artikuliert. Die englische Übersetzung einer Sammlung von Gesprächsprotokollen trägt den plakativen Titel Against Machismo (1987). Tamez interviewt die erste Generation der vorwiegend männlichen Befreiungstheologen, katholisch und protestantisch, zu ihrer Sicht auf die Rolle der Frauen im Befreiungsprozess. Die Gespräche kreisen um Geschlechterrollen in Kirche und Gesellschaft und eruieren theologische und hermeneutische Perspektiven. Ihr Engagement in der lateinamerikanischen Frauenkommission von EATWOT führt zur Publikation des Konferenzbandes Through her Eyes. Women’s Theology from Latin America (1989). Jedenfalls im Rahmen der Befreiungstheologie hat sie damit wesentlich zu einem Bewusstseinswandel beigetragen. Ihre vielfach übersetzte Lausanner Doktorarbeit „Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen“ (1989) setzt dann nicht nur in der Paulusexegese neue Akzente, indem Tamez biographisch die Gefängniserfahrung des Paulus zentral stellt und seine Schriften aus der Perspektive der Armen und Unterdrückten liest, sondern sie erschließt der Befreiungstheologie zugleich einen Zugang zu Paulus, wo lange der Akzent einzig auf Jesus lag. Elsa Tamez ist die führende protestantische Bibelwissenschaftlerin Lateinamerikas in einem katholischen und heute auch zunehmend pfingstlerisch geprägten kirchlichen Kontext. Ihr ist es gelungen, sowohl diese Diasporasituation als auch die zusätzliche Sprachbarriere immer wieder zu durchbrechen. Als Vermittlerin zwischen der in den Basisgemeinden praktizierten lectura popular und wissenschaftlicher Exegese hat sie die
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exegetische Neubegründung der Befreiungstheologie in Lateinamerika jenseits des Exodusparadigmas wesentlich vorangetrieben. Ihr Beitrag zur Christologie soll im Folgenden dialogisch mit dem von Yvone Gebara erschlossen werden. Tamez ist wiederholt geehrt worden. Die theologische Gemeinschaft ihres Heimatlandes Mexiko ist stolz darauf, ihr bereits zwei Ehrendoktorate verliehen zu haben. 2018 folgte ein Ehrendoktor der Evangelisch-Theologischen Fakultät Mainz.63 Ivone Gebara – Christologie in der esse-Diversität Gottes Ivone Gebara kam 1944 als mittlere Tochter einer syrisch-libanesischen Einwandererfamilie in Sao Paulo, Brasilien zur Welt.64 Als Mädchen erfüllte sie nicht den Wunsch ihrer Eltern nach einem männlichen Nachkommen. Mit diesem Defizit mussten sie und ihre beiden Schwestern leben lernen. Gebara scheint sich diesem Makel anders als ihre Schwestern früh mit einem Hunger nach Bildung und mit ihrem lebenslangen Einsatz für die Bildung und das Empowerment von Mädchen und Frauen entgegengestemmt zu haben. Nach dem Studium der Philosophie an der Universität von Sao Paulo trat sie in den Orden der Augustiner Chorfrauen ein, der sich in besonderem Maße der Bildung von Mädchen verschrieben hat. Der als persönlicher Schritt in die Freiheit erfahrene Ordenseintritt war zugleich eine weitere große Enttäuschung für ihre Eltern, die auf Gebara lastete, da sie sich damit wiederum dem traditionellen Ideal der Hausfrau und Mutter entzog. Parallel zum Philosophieunterricht an einer Schule begann sie ein Theologiestudium ebenfalls an der Universität von Sao Paulo, wo sie ihrem Mentor, dem belgischen Priester und Befreiungstheologen José Comblin (1923–2011) begegnete. Er ermunterte sie zu einem Auslandsstudium in Löwen, das sie mit einer philosophischen Promotion über Paul Ricoeur abschloss. Nachdem Comblin 1971 durch die Diktatur (1964–1985) ausgewiesen, ins Exil nach Chile gegangen war, übernahm seine Schülerin ab 1973 dessen Aufgaben am interdiözesanen Seminar Instituto Teológico Recife. Dieses war 1968 von Dom Helder Camara (1909–1999), dem Erzbischof von Olinda und Recife und einer der führenden Befreiungstheologen im lateinamerikanischen Episkopat, gegründet worden. In diesem Denklabor der Befreiungstheologie lehrte sie Philosophie und Fundamen-
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taltheologie bis zu dessen durch den Vatikan erzwungenen Schließung 1989. Gebara wurde dadurch zur „Nomadentheologin“, die als Privatgelehrte publiziert und noch stets weltweit zu Vorträgen und Lehrveranstaltungen eingeladen wird. Selbst das zweijährige Bußschweigen, das ihr die Glaubenskongregation nach Prüfung ihrer Schriften auferlegte, fiel bei ihr als Frau noch dem Schweigen anheim. Während die Verfahren gegen die Befreiungstheologen Leonardo Boff und Jon Sobrino oder den Dialogtheologen Tissa Balasuriya für Furore sorgten, blieb die Maßregelung Yvone Gebaras weitestgehend unbeachtet. Auslöser waren ihre differenzierten und situationsethischen Aussagen zur Abtreibung als Folge patriarchaler Gewalt in einem Interview mit der Zeitschrift Veja gewesen. Gebara nutzte diese Zeit konstruktiv zu einer zweiten theologischen Promotion an der päpstlichen Universität in Löwen (1995–99). Das ursprünglich auf Französisch geschriebene Buch „Die dunkle Seite Gottes. Wie Frauen das Böse erfahren“ erhielt so ironischwerweise von Johannes Paul II das nihil opstat. Seit ihrer Rückkehr nach Brasilien lebt sie wieder in ihrem sozial schwachen Barrio von Camaragibe, einem der Vororte von Recife, in Solidarität mit den einfachen Frauen. Christologie und Methode Yvone Gebara ist durch ihre Arbeit über Paul Ricoeur geprägt von der Phänomenologie, die sie auch als Methode ihrer theologischen Doktorarbeit wählt, in der sie sich narrativ den Frauenerfahrungen von Bösem und Heil nähert. Sie ist dabei nicht so sehr an dem Bösen, das wir tun, interessiert, als vielmehr an dem Bösen, das wir erleiden (23), vor allem die armen, oft mehrfach unterdrückten Frauen. Diese Perspektive deckt sich mit der Kritik der Befreiungstheologie an der strukturellen Sünde und mit Raymund Fungs Konzept des gegen jemand sündigen (sinnedagainstness). Die Christologie kommt dabei unter soteriologischen Gesichtspunkten in den Blick, wie wir das auch von anderen feministischen Theologinnen kennen. Die Kritik Gebaras gilt nicht so sehr dem Mannsein des Erlösers selbst als vielmehr der patriarchalen Überhöhung desselben (210).
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Wie gesagt ist das Paradigma des Leidens in der patriarchalen Welt nicht nur androzentrisch, sondern auch anthropozentrisch geprägt. Dadurch spielt es nicht nur das Leiden von Frauen herunter, sondern auch die Gewalttaten, die an Tieren, Pflanzen und am Ökosystem verübt werden (148).
In ihrer ökofeministischen Theologie setzt Gebara dem die Metapher von der „Zoe-Diversität Gottes (esse diversity)“ (212) entgegen. Alles hängt mit allem zusammen, „Alles kommt von Gott und Gott lebt in allem“ (214). Gott ist Gott in Beziehung (relatedness). Selbst in der Rede vom gekreuzigten Gott haben wir es mit der Absolutsetzung einer besonderen Form des Leidens und einer Art der Manifestation des Göttlichen zu tun. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit, die Erinnerung an den gekreuzigten Jesus und zugleich an die anderen gekreuzigten Männer und Frauen zu bewahren (157).
Gebara wendet sich darum auch gegen eine Verabsolutierung des Leidens des einen Mannes Jesu für andere. Wenn das Leiden Jesu nicht einzigartig, sondern geteilt ist, dann bildet sich das in vielen Kreuzen, die getragen werden müssen, ab. Das Kreuz als Metapher göttlichen Heils ist aber nicht zu denken ohne die Auferstehung. Entsprechend gibt es dann auch nicht nur eine Erlösung im Eschaton, sondern viele kleine „schon jetzt“ (162). ‚Jetzt‘ muss sich etwas Gutes in meinem Leben ereignen, jetzt muss mein Schmerz gelindert werden, jetzt muss in meinem Körper die Freude geliebt und respektiert zu werden, Gestalt annehmen (164).
Gott setzt sich in der Leidensgegenwart Jesu Christi in Beziehung zu den Leiden der Menschen, Männer und Frauen. Zugleich gilt, dass das von Jesus gelebte Heil sich, wie unser eigenes Heil auch, nicht automatisch durch das von einer imperialistischen Macht auferlegte Kreuz einstellt, sondern nur durch den Aufbau von gerechten Beziehungen, von Respekt und Zärtlichkeit unter den Menschen zu erlangen ist (150).
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In diesem Kontext versucht die Exegetin Elsa Tamez in einer relecture der paulinischen Schriften aus der Perspektive der Armen und Unterdrückten, wie sie die lectura popular einnimmt, die Rede vom rechtfertigenden Handeln Gottes relevant werden zu lassen: Der Schrei des vor allen anderen Ausgeschlossenen nämlich des Gekreuzigten: ‚Mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ und der Ruf Gottes des Schöpfers: ‚Leben und Gerechtigkeit für alle‘ kommen also in der Geschichte zusammen. Jesus Christus ist die Gerechtigkeit des fleischgewordenen Gottes. Er führt uns zu dem, der rechtfertigt, und der die Dinge ins Sein ruft. […] In einem Kontext, wo die Armen in ihrer bloßen Existenz bedroht sind, erfordert eine theologische Lektüre der Rechtfertigung, dass der Akzent auf die Gnade Gottes gesetzt wird, die den Ausgeschlossenen zur Würde eines Sohnes und einer Tochter erhebt. Bevor sie deshalb von der ‚Versöhnung des Sünders‘ redet, redet sie zuallerst von der Solidarität Gottes mit dem Ausgeschlossenen.65
Ähnlich wie Leonardo Boff das für die Trinitätstheologie herausgearbeitet hat, gewinnt bei Tamez die Rechtfertigungslehre eine soziale Dimension. Wenn die Armen es sind, die da beleidigt werden, dann muss die Möglichkeit von Vergebung und Annahme Gottes auch durch die Armen vermittelt werden. Jeder aufrichtige Mensch, der zugibt, dass er sich an den Ausgeschlossenen versündigt hat, fühlt sich von seiner Schuld befreit, wenn Gott ihm durch sie vergibt. Die Brisanz, in den Armen jene zu sehen, die einem vergeben, liegt darin, dass man sich seine eigene Sünde ihnen gegenüber eingesteht.66
Wenn Gebara einen Perspektivenwechsel vom Bösen, das von der Befreiungstheologie unbezweifelt auch die Armen und Unterdrückten tun können, auf das Böse, was sie erleiden, vollzogen hat, dann hat Tamez aufgezeigt, dass diejenigen, denen wir Böses getan haben, uns zu Mittlern von Gottes Vergebung werden können. Gebaras Theologie und Christologie ist getragen von einer Option für das Leben, die das Leiden im Hier und Jetzt durch Empathie und Solidarität lindern und Heil erfahrbar machen will, selbst wenn sie davon weiß, dass unsere anthropologische Konstitution eine Gemengelage von Gut und Böse ist (219). Tamez gelingt es, einen
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der Spitzensätze protestantischer Gotteslehre, die Rechtfertigung allein aus Glauben, als Option für eben dieses Leben der Ausgeschlossenen, der Armen und Unterdrückten zu entschlüsseln.
5. Christologie in den Kontexten von Frauen in der Diaspora – Womanist, Mujerista, Asian American Christologie Jaquelin Grant – Ist der Womanist Christus keine schwarze Frau? Jaquelin Grant (geb. 1948) wurde in den Südstaaten, in Georgetown, Carolina in eine kinderreiche methodistische Pfarrersfamilie geboren. 1985 war sie die erste Afro-Amerikanerin, die einen Doktorgrad in Systematischer Theologie erwarb. Ihr Doktorvater war James Cone am Union Theological Seminary in New York. Grant arbeitete früh für das Frauenstudienprogramm an der Havard Divinity School (1977–79), gründete dann aber selbst das Zentrum für schwarze Frauen in Kirche und Gesellschaft (Center for Black Women in Church and Society) am Interdenominationellen theologischen Zentrum in Atlanta, zu dem auch das Turner Theological Seminary gehört, an dem sie ihren Master of Divinity erworben hatte. Neben ihrer Professur arbeitete die ordinierte Pfarrerin der African Methodist Episcopal Church (AME) in verschiedenen Afro-Amerikanischen Methodistischen Kirchengemeinden der Region. In ihrem Klassiker White Women’s Christ and Black Women’s Jesus67 setzt sich Grant schwerpunktmäßig mit der Christologie-Debatte innerhalb der feministischen Theologie weißer Mittelklassefrauen auseinander. „Die Herausforderung der dunkleren Schwester“ beschränkt sich auf das letzte Kapitel (195–222). Grant stellt zunächst fest: „Feministische Theologie ist aus zweierlei Gründen inadäquat: sie ist weiß und sie ist rassistisch (195).“ Schon der Ausgangspunkt feministischer Theologie, die Frauen-Erfahrung, ist für weiße und schwarze Frauen in den USA seit den Zeiten der Sklaverei völlig unterschiedlich. Die Macht und Unterdrückungsverhältnisse zwischen weißer Herrin und schwarzer Dienerin blieben auch über die Abschaffung der Sklaverei hinaus erhalten. „Schwarzer Feminismus erwächst aus der dreidimensionalen Realität schwarzer Frauen von race/ Sex/Klasse (202).“
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Der Begriff ‚womanist‘ bezieht sich auf die Erfahrungen schwarzer Frauen. Er akzentuiert, wie [Alice] Walker sagt, unser in Verantwortung, in Kontrolle, skandalös, mutig und unverfroren genug sein, um das Recht zu verlangen, theologisch zu denken und es unabhängig von sowohl weißen und schwarzen Männern als auch weißen Frauen zu tun. Schwarze Frauen müssen aus ihrer dreidimensionalen Erfahrung von Rassismus/Sexismus/Klassismus heraus Theologie treiben (209).
Christologisch zentral steht wiederum Jesu Mitleiden. Schwarze Frauen „identifizierten sich mit Jesus, weil sie glaubten, dass Jesus sich mit ihnen identifizierte (212).“ Diese Gegenwart Christi in den Erfahrungen schwarzer Frauen lässt den schwarzen Christus selbst für Grant zur schwarzen Frau werden (220). Kelly Brown Douglas (geb. 1957), anglikanische Priesterin und Canon Theologin der Washington Cathedral sowie Gründungsdekanin der Episcopal Divinity School am Union Theological Seminary in New York (2017), hat dies in ihrer ebenfalls bei James Cone geschriebenen Doktorarbeit The Black Christ68 aufgegriffen. Sie zeichnet die Entstehung dieser Metapher in den Sklaven-Geschichten und Spirituals, im frühen schwarzen Nationalismus und der schwarzen Literatur, über Malcolm X und Martin Luther bis zur schwarzen Theologie nach. Über Grants Kritik hinausgehend prangert Brown Douglas in ihrer sozio-politischen Analyse der Ganzheitlichkeit und ihrer religiös-kulturellen Analyse die Diskriminierung sexueller Minderheiten, schwarzer Schwuler und Lesben, in den schwarzen Kirchen und in der schwarzen Theologie an (105).69 Der womanistische schwarze Christus ist für sie nicht nur der Bewahrer und Befreier, sondern auch ein Prophet (107). Exemplarisch ist der Tochter einer schwarzen Mittelklasse-Familie in Dayton, Ohio Christus im täglichen Überlebenskampf und im Angesicht ihrer Großmutter mütterlicherseits erschienen. Die einfachen schwarzen Frauen in den schwarzen Kirchen und der schwarzen Gemeinschaft sollten darum auch das Forum der womanistischen Theologie sein und nicht weiße akademische Mittelklasse-Milieues (114). „Christus ist in meiner Großmutter und anderen schwarzen Frauen gegenwärtig, die für Leben und Ganzheitlichkeit kämpfen (117).“ Delores S. Williams (geb. 1937), presbyterianische Pfarrerin und Professorin für Theologie und Kultur an ihrer Alma Mater Union Theological
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Seminary, liest in ihrem Klassiker Sisters in the Wilderness70 die Hagar-Geschichte aus der Perspektive schwarzer Frauen. Entsprechend sensitiv reagiert sie auf das christologische Konzept der „Stellvertretung (surrogate)“, weil es zu sehr an die Rolle der schwarzen Frauen über die Zeit der Sklaverei hinaus als Ersatzmütter, Sexualobjekte für ihre weißen Sklavenhalter, Ammen für die weißen Kinder der weißen Misses etc. erinnert und diese Rollen womöglich religiös sanktioniert. Es ist ihre feste Überzeugung, dass das Heil von Leben und Wirksamkeit Jesu ausgeht und nicht von seinem Tod. Die Menschheit ist dann erlöst durch Jesu priesterliche (ministerial) Vision des Lebens und nicht durch seinen Tod. Es ist nichts Göttliches im Blut des Kreuzes. Die Stellvertretungserfahrung schwarzer Frauen ist nicht Gottes Wille. Noch kann der christliche Glaube eine solche Idee bejahen. Jesus ist nicht gekommen, um ein Stellvertreter zu sein. Jesus kam für das Leben, um den Menschen eine perfekte Vision der priesterlichen Beziehung zu eröffnen, von der sie nur sehr beschränkte Kenntnis hatten. Als Christinnen können schwarze Frauen das Kreuz nicht vergessen, aber sie können es auch nicht verherrlichen. Das zu tun würde heißen das Leiden zu glorifizieren und ihre Ausbeutung heilig zu erklären. Das zu tun ist die Sünde der Schändung zu glorifizieren (167).
Grant, Douglas und Williams teilen die Überzeugung, dass Jesus im Leben schwarzer Frauen gegenwärtig ist und ihren täglichen Überlebenskampf mit ihnen durchleidet. Das Heil liegt darin, dass er ihr Kreuz immer wieder auf sich nimmt und die Last mit ihnen teilt, nicht aber darin, dass er einen fernen Opfertod gestorben ist. Ada María Isasi-Díaz – Mujerista Theologie und die familia dei Ada María Isasi-Díaz (1943–2012) wuchs in Havanna, Cuba als Tochter einer katholischen Familie auf.71 Der Sturz des Diktators Batista und die Machtübernahme Fidel Castros machten sie 1960 zum politischen Flüchtling in den USA. Sie trat in den Ursulinen-Orden ein, an deren MerisiAcademy, einer englischsprachigen Mädchenschule in Havanna, sie ihren Abschluss gemacht hatte. Dieser Schritt ermöglichte ihr ein Bachelor of Arts-Studium am ordenseigenen College of New Rochelle im Staat New
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York. Für drei Jahre arbeitete sie als Missionarin in den Armenvierteln von Lima, Peru (1967–69). Nach ihrer Rückkehr verließ sie den Orden und arbeitete zunächst als Lehrerin an einer Highschool in Louisiana. Die Teilnahme an der ersten Frauen-Ordinations-Konferenz (Women’s Ordination Conference [WOC]) in Detroit im Jahre 1975 bezeichnet IsasiDíaz als ihre Geburtsstunde als Feministin.72 Sie hatte gerade einen Masterstudiengang in Mittelalterlicher Geschichte in Rochester, New York begonnen. In der Folge wurde sie als WOC-Mitarbeiterin angestellt. Nach sieben Jahren wurde ihr jedoch die Kündigung nahegelegt, weil sie inzwischen begonnen hatte, sich zu sehr für die Anliegen der Latinas einzusetzen, in einer Bewegung, die in ihrer überwiegenden Mehrheit weiße MittelklasseFrauen repräsentierte. Ihre Erfahrungen im Kampf für die Armen in Lima und nun in der Frauenbewegung ließen sie früh die Intersektionalität von Sexismus, Rassismus und Klassismus erkennen. Inzwischen hatte Isasi-Díaz in Rochester einen Master of Divinity begonnen. 1983 konnte sie dank der Unterstützung von Beverly Wildung Harrison (1932–2012) und anderen ihr Studium am Union Theological Seminary in New York fortsetzen. Dem Master of Divinity folgte 1990 der PhD. Von 1990 bis zu ihrer Emeritierung 2009 unterrichtete Isasi-Díaz als Professorin für Ethik und Theologie an der Drew Universität in Madison, wo sie auch das Hispanische Institut für Theologie gründete. In ihrer Nachbarschaft in East-Haarlem predigte sie regelmäßig in der Kirche, der sie schon während ihrer Studienzeit angehört hatte. 2012 erlag sie 69-jährig ihrem Krebsleiden in NYC. Isasi-Díaz prägte in Analogie zur womanist-Theologie den Begriff der Mujerista-Theologie,73 die in den Alltagserfahrungen (la cotidiano) der einfachen Hispanas/Latinas und ihrem Glauben gründet und ihnen einen Sprach-Raum eröffnet. Für die Christologie bedeutet das, ihre Antworten auf Jesu Frage „Wer sagt ihr, dass ich sei“ zur Grundlage zu machen und nicht dogmatische Lehrsätze der westlichen Tradition.74 Der Brauch, den Namen Jesus und den Titel Christus in ein Wort zusammen zu ziehen – Jesucristo –, verschafft der mujerista-Theologie den kreativen Raum, der nötig ist um eine Christologie zu entwickeln, die darauf reagiert, was Hispanas/ Latinas im Hinblick auf die Botschaft Jesu von Nazareth glauben (242 f.).
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Dabei geht es einerseits um die individuelle Hinwendung zu Jesu mío, die selbstbewusst davon ausgeht, dass Jesus nicht nur etwas für die Armen und Unterdrückten getan hat, sondern dass diese auch kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen durch ihre liebende Hinwendung zu Jesus etwas für diesen tun können. Etwa indem sie inbrünstig im Gebet die Füße des Bildes des Gekreuzigten berühren, um ihn ihre Nähe spüren zu lassen (261). Andererseits geht es um Christi Gegenwart in der Gemeinschaft und deren Christusförmigkeit. Isasi-Díaz identifiziert drei Kennzeichen einer gelebten Hispana-/Latina-Christologie: Leben in Beziehungen, Gott mit uns und Teil der familia dei sein (243). Sie prägt dafür den Neologismus Kin-Dom of God, statt des von antiken Herrschaftsverhältnissen geprägten Kingdom. Das Gefühl für familia, das wir im Hinterkopf haben, wenn wir über Gottes Familie sprechen, das kin-dom, ist ein wirklicher Sinn für das Zuhause, ein Sinn für Zugehörigkeit und Geborgenheit, um völlig sich-selbst zu sein und zu werden. Familie gibt uns ein Gefühl von Einheit und Zusammenhalt, das einen gesunden Sinn für Selbst-Identität und Selbst-Wert fördert, die so wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung sind (249).
Dies hat weitreichende christologische Konsequenzen. Die Verkündigung des Reiches Gottes ist die zentrale Metapher für Jesu Botschaft und Wirken. Alle Mitglieder der familia dei sind ebenso einzigartig wie Jesus, weil wir alle ein Bild Gottes (imago dei) sind. Alle, die sich dazu verpflichten mit ihren Leben und Taten das Königreich Gottes zu verkündigen sind Vermittler des Königreiches. Jeder von uns hat die Fähigkeit ein anderer Christus, ein alter Christus zu sein (246).
Dies schließt für Isasi-Díaz auch das Teilen in die Heilsmittlerschaft ein (253). Mit der womanist-Christologie teilt die Mujerista-Christologie eine Anthropologie, die die Gegenseitigkeit in der Beziehung zwischen dem schwarzen Jesus, dem Jesu mio und den Frauen betont, in der Soteriologie geht sie noch darüber hinaus.
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Rita Nakashima Brock und Wonhee Anne Joh – Jesus Christus im asiatischamerikanischen Herzen Rita Nakashima Brock (geb. 1950) ist Tochter eines Puertoricaners und einer Japanerin, die von ihrem weißen Stiefvater adoptiert wurde.75 Beide Väter waren amerikanische Soldaten, die in Fukuoka, Japan stationiert waren, wo ihre Mutter Ayako als Krankenschwester in einem Armeekrankenhaus arbeitete. Ihr leiblicher Vater wurde an die Front nach Korea versetzt, als sie sechs Monate alt war. Ihre Mutter lernte ihren Stiefvater Ray kennen, der als Arzt im selben Krankenhaus arbeitete. Als sie sechs Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Amerika. Rita lernte die Sprache ihres vermeintlichen Vaters und begann, so einen Zugang zu ihm zu finden. Sie beschreibt ihr Verhältnis als sehr eng. Doch als der Vater völlig verändert aus dem Vietnamkrieg zurückkehrt, kommt es zu häuslicher Gewalt und in der Folge zum Bruch mit ihrem Ziehvater. Vor seinem plötzlichen Tod durch Herzinfarkt (1976) hat es keine Aussöhnung mehr zwischen den beiden gegeben. Rita erfährt erst nach dem Krebstod ihrer Mutter (1983), dass er nicht ihr leiblicher Vater war, auch wenn sie als Kind schon versucht hatte, die Disparitäten in den Daten der Familiengeschichte zu ergründen. Die Tochter begibt sich auf die Suche nach ihren puertoricanischen Wurzeln und ihrem leiblichen Vater. Dieser bleibt ihr in ihren Begegnungen ein Fremder, der auch später keine Verantwortung in seinen Beziehungen übernommen hat, aber das puertoricanische Blut in ihren Adern ist für sie dennoch leichter zu ertragen als die Vorstellung, Teil zu haben an der weißen Überlegenheitsideologie. Rita Nakashima Brock beschreibt eindrücklich ihre Erfahrungen mit Rassismus und ihrem Ringen mit ihren multiplen Identitäten. Ihre Auseinandersetzung mit der „moralischen Verletzung“ (moral injury) von Kriegsveteranen ist auch eine biographische Suche nach dem verlorenen Vertrauen in ihren Ziehvater.76 Heute bedauert sie, dass es nicht mehr zu einer Versöhnung zwischen ihnen gekommen ist, weil sie gelernt hat zu verstehen, was er erlitten hat. Dass er nach Aussage ihres buddhistischen japanischen Großvaters „ein gutes Herz hatte“ und ihr eigenes Fazit, dass er „an gebrochenem Herzen“ gestorben ist, spiegelt die zentrale Metapher ihrer Christologie Journeys by Heart.77 Nakashima Brock wendet sich vehement gegen eine Christologie
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des „kosmischen Kindesmissbrauchs“ (56), in der der patriarchale GottVater den einsamen Helden-Sohn Jesus opfert. Sie nimmt von der Einzigartigkeit und Absolutheit Jesu ebenso Abschied wie von der von vielen Feministinnen favorisierten Multiplizität vieler individueller Christusse, die im Lauf der Geschichte emergieren. Sie spricht stattdessen von einer Christa/Gemeinschaft (52), die getragen wird von der erotischen Kraft, die Beziehungen innewohnt, die über die Herzen kommunizieren. Herz, als Metapher für das menschliche Selbst und unsere Fähigkeit zu Intimität, erkennt die Verbindung von Körper, Geist, Verstand und Leidenschaft durch HerzWissen, das tiefste und umfassendste Wissen. Weil wir am besten ‚im Herzen‘ wissen. Das Herz, das Zentrum aller lebenswichtigen Funktionen, ist der Sitz des Selbst, von Energie, Liebe, Mitleiden, Bewusstsein, Zärtlichkeit und – das lateinische cor bedeutet Herz. Sich ein Herz nehmen ist Mut gewinnen. Unsere Leben florieren in Fülle vom Herzen aus, dem Zentrum unseres Seins, das geschaffen ist und erhalten wird durch wechselseitige Abhängigkeit (interconnection; xiv).
Die zweite Metapher „erotische Kraft“ ist in einer patriarchalen Welt vor allem sexuell konnotiert, wurde aber in der feministischen Literatur etwa bei Audre Lord als relationale Kategorie reclaimed. Erotische Kraft ist die Kraft unserer ursprünglichen Wechselbeziehung. Erotische Kraft, die Herzen schafft und verbindet, involviert die ganze Person in Beziehungen der Selbst-Erkenntnis, Verwundbarkeit, Offenheit und Fürsorglichkeit (26).
Nakashima Brock vollzieht im Blick auf die Machtfrage einen Perspektivenwechsel, indem sie die Sicht der Schwächsten und Verletzlichen einnimmt und ihre Wahrnehmung der Machtausübung über sie und ihre eigene Sehnsucht nach Kraft und Empowerment nachspürt (26 f.). Dies deckt sich mit dem Diskurs über sinned-againstness. Die Herzmetapher findet sich auch im Titel des Buchdebuts von Wonhee Anne Joh Heart of the Cross, die auch explizit auf Nakashima Brock rekurriert.78 Wonhee (geb. 1966) ist als Kind mit ihren Eltern, die aus einem kleinen Dorf bei Kwangju im Süden der koreanischen Halbinsel stammen, in die USA emigriert. Die Familie ihres Vaters hatte bereits Verluste im Wi-
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derstand gegen die japanische Kolonialherrschaft zu beklagen. Der Vater selbst engagierte sich auch noch von den USA aus für die koreanische Demokratisierungsbewegung und später für Frieden und Wiedervereinigung seines Heimatlandes. Die Tochter macht ihre Erfahrungen eines Lebens „im elliptischen Zwischen (eliptical in-between, xxiii)“ Amerika und der alten Heimat Korea zum Ausgangspunkt ihrer Christologie. Während der katholische Dichter und Laientheologe Kim Chi-Ha dan als Gegenkonzept zu han eingeführt hatte – dan durchtrennt han (119), will Joh den international noch wenig bekannten koreanischen Begriff jeong als komplementäres Konzept etablieren und theologisch aufladen. Sie kontinuiert dabei die Sprachmystik der Minjung-Theologen der ersten Generation, die immer wieder betont haben, dass minjung und han auf spezifisch koreanischen Erfahrungen beruhen und nicht übersetzbar seien. Sie ließen sich auch nicht in eine Definition zwängen, da sonst die Gefahr der Verobjektivierung bestünde. Jeong ist komplex und nicht übersetzbar, doch ähnlich wie schon die Minjung Theologen nährt Joh sich ihrem Sujet narrativ und macht es so auch für ihre Leser*innen verständlich. Zugleich finden sich bei Joh wie auch schon bei den Minjung-Theologen der ersten Generation gelegentlich Umschreibungen dieser Begrifflichkeiten. Als Konzept umfasst jeong Ideen wie Mitleiden, Zuneigung, Solidarität, Relationalität, Verwundbarkeit, und Vergebung ohne sich darin zu erschöpfen. Das Wort für jeong, wenn es mit chinesischen Schriftzeichen geschrieben wird, ist im Wesentlichen aus Zeichen für Herz, Verwundbarkeit und etwas, das „im Entstehen“ ist, zusammengesetzt. […] Jeong macht Beziehungen tragfähig (sticky), aber erkennt auch die Komplexität aller Beziehungshaftigkeit (xiiif.).
Während sich im Begriff han das Leiden der koreanischen Immigrant*innen unter Rassismus, Sexismus und Klassismus verdichtet, beschreibt jeong das trotz alledem. Jeong transformiert das Zusammenleben in der Diaspora trotz aller Ambiguitäten und Unterdrückungserfahrungen und ermöglicht versöhnende Gemeinschaftserfahrungen, die von „Mitgefühl, Liebe, Verwundbarkeit und Anerkennung von Heterogenität“ (xxi) und Differenz getragen werden. Theologisch ist dies im Kreuz begründet, das „symbolisch den Horror des han und die Kraft des jeong verkörpert“ (xiv;
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vgl. xxii). Joh und Brock entwerfen eine korporative Christologie, die anthropologisch betrachtet ihren Sitz im Herzen der Einzelnen hat und soteriologisch gesehen Heil durch ihre Kommunikation in der Gemeinschaft vermittelt. In der Christa/Gemeinschaft ist eine personale Christologie endgültig aufgehoben in der Wirkmacht Gottes.79 Marcella Althaus-Reid – Indecent Christologie Marcella Althaus-Reid (1952–2009) fällt gleich in doppelter Hinsicht aus dem Rahmen dieses Kapitels.80 Als lateinamerikanische Theologin in der europäischen Diaspora (74) ist sie immer noch eine absolute Ausnahmeerscheinung, und sie ist die Mutter der Queer-Theologie, die binäre gender-Unterscheidungen endgültig hinter sich lässt und gleichzeitig im Diskurs Geschlecht wieder durch Sex ablöst und dieses in der Theologie lange unterdrückte Thema ins Zentrum rückt. Coming-out (of the closet) gehört dabei zur theologischen Standortbestimmung. Entsprechend hat AlthausReid sich als bisexuell geoutet, mit einer kinky Vorliebe für Leder.81 Marcella wuchs als Kind einer katholischen Familie in den Slums von Buenos Aires auf. Sie konvertierte später zum Methodismus. Ihre Theologie ist aber dennoch imprägniert vom Volkskatholizismus und den afro(latein)amerikanischen Religionen wie Umbanda. Althaus-Reid berichtet, dass es sie drei Jahre gekostet habe, bis sie endlich am Instituto Superior Evangélico de Estudios Teológicos (ISEDET), der protestantischen Wiege der Befreiungstheologie, als Studentin zugelassen wurde (89 f.). Sie studierte bei José Míguez Bonino und J. Severino Croatto und bezeichnet sich noch stets als Befreiungstheologin, auch wenn sie die patriarchale Gefangenheit ihrer Lehrergeneration anprangert und die Befreiung der Sexualität als konstitutive Gerechtigkeitspraxis einklagt.82 Dass sie es ernst meint, zeigt ihre Arbeit in den Armenvierteln von Buenos Aires noch zu Zeiten der Militärdiktatur (1976–1983). Die Bewusstseinsbildung (Conscientização) nach Paulo Freire ist ihr dabei ein wichtiges Instrument geworden.83 Dieses Engagement verschaffte Althaus-Reid eine Einladung nach Schottland, wo sie nach diesem Modell eine Gemeinwesenarbeit in den Armenvierteln von Dundee und Perth aufbauen sollte. Sie lebte seit 1986 in Edinburgh, wo sie Mitglied der Metropolitan Community Church (MCC) war, die sich als inklusiv im Blick auf die LGBT(QIA+) Gemeinschaft ver-
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steht. Bald nach ihrer Promotion in St. Andrews 1994 über den Einfluss des Denkens von Paul Ricoeur auf die Befreiungstheologie war AlthausReid zunächst Lecturer für Ethik und Praktische Theologie, ab 2006 dann Professorin für Kontextuelle Theologie am New College in Edinburgh. Sie war damit nicht nur die einzige Frau auf einem Theologischen Lehrstuhl in Schottland zu dieser Zeit, sondern auch die erste Theologie-Professorin an der Universität von Edinburgh überhaupt. 2009 erlag sie einem langjährigen Krebsleiden. Mit ihrer „sexualisierten Christologie (indecent Christology)“ will Althaus-Reid das Bild eines „theologisch als heterosexuell orientierten (zölibatären) Mann gekleideten […] Jesus mit ausradierten Genitalien, [eines] Jesus minus erotischen Körper“ (114) dekonstruieren. Diesem „systematischen Messias“ (114) stellt Althaus-Reid den Messias gegenüber, der von der Gemeinschaft, die ihn umgibt, erst lernt, was es heißt, Messias zu sein. Seine Messianität muss ausgehend von einem mit der Gemeinschaft geteilten Set an „messianischen Codes und Erwartungen“ (155) gewissermaßen erst ausgehandelt werden (vgl. 68). Dieser „dialogische Messianismus“ zirkuliert um zwei Themen: „ein Verlangen nach Gerechtigkeit (desire for Justice)“ und die Mittlerschaft zwischen Gott und Mensch, die asymmetrisch und darum versöhnend sein kann (155 f.). Althaus-Reid entlarvt dabei zugleich die Ambiguität dieser Beziehung durch ihre S/M-Leseperspektive: Jesus unterwirft sich, Gott dominiert (160). Diese Herrschaftsstruktur wird von der Kirche gegenüber ihren Gliedern perpetuiert (161). Die S/M-Szene von Buenos Aires hatte in der Zeit der Militärdiktatur gewissermaßen ein hermeneutisches Privileg zu verstehen, welch perverse Befriedigung die Folterknechte aus ihrer Tätigkeit zogen (153). Zugleich haben die Befreiungstheologen ihr durch die Identifizierung von Heil mit Befreiung zugleich den sicheren Raum der Transzendenz versperrt. Wo die subtile Grenze zwischen Lust an der spielerischen Unterwerfung und Beherrschung und dem Ernstfall verläuft, wird hier nicht weiter reflektiert. Die Mütter der Playa del Mayo versuchten unterdessen, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten, Gedanken von Heil und Auferstehung (121) waren für Althaus-Reid angesichts der „Verschwundenen“ fern. Sie sucht die Auferstehung in der Lust und illustriert dies mit einer relecture der Lazarus-Geschichte aus homoerotischer Perspektive (122).
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Althaus-Reid bedient sich einer Hermeneutik der Aneignung oder poetischer des Wilderns (textual pouching), die sie aus der Medientheorie entlehnt.84 Die Fans, in ihrem Fall die Queerszene, adaptieren biblische Figuren in ihre Lebenswelt und entwerfen ihr eigenes Heteropia (147). Geschickt spielt sie mit dem Jargon der Queer-Szene, Inkarnation als göttliches coming-out (112), Christus als cross-dresser (79) oder Maria als dragqueen (79), um nur einige Beispiele zu nennen. Mit dieser Lesestrategie wendet sie sich gleichermaßen gegen koloniale wie befreiungstheologische Konstruktionen bzw. Deformationen. „Der erste Auftritt der Jungfrau Maria in Lateinamerika war eine Tragödie, der zweite, während des gegenwärtigen Diskurses der Befreiungstheologie eine Farce (57).“ Lateinamerika wurde ideologisch und religiös nicht mit Hilfe Jesu Christi, sondern Mariens erobert (80). Ihre Vulva erigiert unter dem Kleid zum Phallus hegemonialer Gewaltfantasien (62). „Maria war die betörende Killerin der Amerikas (58).“ Noch die Militärdiktatoren des 20. Jahrhunderts beriefen sich auf dieses Marienbild (59). Die Befreiungstheologen ihrerseits haben in Unserer Lieben Frau von Guadaloupe (la Guadalupana) Maria zur Ikone der keuschen, heterosexuellen Landfrau erhöht. Arme Frauen, die im städtischen Dschungel überleben müssen, wie Althaus-Reid selbst, kommen in dieser Vision nicht vor. Sie suchen ihr Heil daher oft lieber im Transvestitentum der Santa Librada. „Librada ist der populäre ambigiöse göttliche cross-dresser der Armen, das instabile Bild Christi als Maria gekleidet“ (80). Populär ist auch La Difunta Correa (the Deceased Correa), „die einzige Tochter Mariens; sie ist Jesus oder zumindest, ein anderer Jesus, oder der Jesus des ‚Anderen‘ (85).“ Diese Fluidität und Ambiguität in der Heilsmittlerschaft passen offenbar besser zu ihrer marginalisierten instabilen Existenz. „Die theologischen cross-dressings wechseln fortwährend zwischen Jesus, Gott und Maria (85 f.).“ Althaus-Reids theologische Abwege (per/versions) und Obszönitäten85 führen sie zum Bi/Christus, der die Fluidität und Ambiguität betont und binäre Unterscheidungen transzendiert. Die Suche nach dem obszönen Jesus ist weder neu noch beschränkt auf ein befreiendes feministisches Vorhaben. Historisch betrachtet, sind obszöne Chris
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tusse dann erschienen, wenn Menschen die graziösen Ansprüche gegenwärtiger Christologien entblößen wollten. Der Schwarze Christus der Schwarzen Theologie war obszön, weil er den Rassismus unter der Verkleidung eines weißen Jesus entblößt hat. […] Die Christa ist ein weiteres Beispiel dieser Obszönität. Sie entkleidet Gott seiner Maskulinität (111).“
Schon die Befreiungstheologen wollten trotz der Option für die Armen auch die Reichen von ihren Verstrickungen in die strukturelle Sünde befreien (115) und transzendierten damit jedenfalls ideologische Dichotomien. Gleichzeitig blieben sie homosozial bzw. homo-solidarisch und perpetuierten Homophobie und Misogynie des lateinamerikanischen Machismo (89 f.). Der Bi/Christus überwindet sowohl solche binären Grenzziehungen als auch die Heteronormativität (117), in der auch die westliche feministische Theologie noch lange gefangen war. Der Bi/Christus nimmt es alles in seinem Leben auf sich: ökonomische Entbehrungen und soziale Marginalisierung, verschärft durch eine Art heterosexueller Exkommunikation von Gott, mit der Menschen, die sexuelle und politische Dissidenten sind, konfrontiert werden (116).
Mit den Worten von Ricoeur gespielt: ,Der Bi/Christus gibt zu denken (118)!‘
6. Generative Themen aus der Perspektive des Textes Alle unsere Protagonistinnen mussten sich zunächst einmal von einer weißen, männerdominierten akademischen Theologie emanzipieren und ihre eigene Stimme finden. Zugleich war es nicht einfach, sich damit in ihren eigenen ebenfalls kulturell-religiös patriarchal geprägten Kontexten Gehör zu verschaffen. Ihre Landsmänner stehen ihren weißen theologischen „Herren“, was das betrifft, in nichts nach. Mit der EATWOTFrauenkommission und regionalen theologischen Foren von Frauen, wie dem afrikanischen Circle, der asiatischen Zeitschrift In God’s image, oder der lateinamerikanischen EATWOT-Frauensektion und der Zeitschrift RIBLA, für die Diaspora Theologinnen auch eigene Sektionen auf AAR/
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SBL, haben sie sich mühsam Plattformen und Resonanzräume geschaffen, um gemeinsam ihre Theologien zu entwickeln und ins Gespräch zu bringen. Die Frauen treffen sich mit ihren Landsmännern in der Akklamation Jesu Christi als Befreier. Aber im Unterschied zu der in den männlich dominierten Befreiungstheologien vorherrschenden Monokausalität reflektieren die Frauen die Intersektionalität von Sexismus, Rassismus, Klassismus, Kastismus etc. Zugleich denken sie die sich schon in den Christologien der Männer abzeichnenden Deabsolutierungs- und Dekolonisierungstendenzen konsequent zu Ende. Die von den vorgestellten Theologinnen geteilte Tendenz, die Christologie zu deabsolutieren, richtet sich sowohl nach außen im Blick auf die Heilsmittler*innen anderer Religionen als auch nach innen hinsichtlich der Einzigartigkeit Jesu. Dabei werden Jesus und Christus entweder auseinanderdividiert, wie wir das z. T. auch schon bei asiatischen Theologen der ersten Generation gesehen haben oder zu Jesuchristo kontraktiert und so die klassische Unterscheidung in historischen Jesus und kerygmatischen Christus passiert. Letzteres hindert anscheinend nicht, von Jesu mio und alter Christo zu sprechen. Ich liebe Jesus, weil und wie er mich liebt und aus diesem Wissen heraus kann ich anderen zum Christus/zur Christa werden. Damit gehen die Frauen in ihrer Anthropologie und Soteriologie weit über die Christologien der Männer der ersten Generation hinaus. Ein zweites geteiltes generatives Thema ist es, die Christologie zu dekolonisieren. Die von weißem Überlegenheitsdenken (white supremacy) aufgeladenen Herrschaftsmetaphern und Hoheitstitel Christi werden verworfen, ebenso wie die patriarchal-koloniale Instrumentalisierung der Opferchristologie von der Hermeneutik des Verdachts entlarvt wird. Da wo ihre Landsmänner diese theologia gloriae ihrer weißen Herren imitiert haben, wie etwa in der Übertragung afrikanischer Preisnamen auf Jesus Christus, wenden sich die Theologinnen gegen eine Inkulturationstheologie, die das einheimische patriarchale Denken christologisch überhöht. Gleiches gilt für eine patriarchale Instrumentalisierung der Opferchristologie, sei es durch einheimische Kirchenführer, Inkulturations- oder Befreiungstheologen. Zugleich bleibt das Mitleiden (compassion) Jesu, die
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Leidensgegenwart Gottes im Christus praesens bzw. Immanuel ein generatives Thema des Empowerments von Frauen. Durch diese Dekonstruktionen und Ikonoklasmen traditioneller Christusbilder geht die Christologie von Frauen wesentlich in der Soteriologie auf. Das Verlangen nach Heilung körperlicher Krankheiten und dem Heilwerden prekärer Lebensverhältnisse, der Überwindung sozialer Unrechtsstrukturen sowie der Befreiung derer, gegen die gesündigt wird, sind das Movens christologischer Rede. Das eingangs geschilderte besondere Verhältnis Jesu zu den Frauen führt zu einer ausgeprägten Jesusfrömmigkeit jenseits historischer Rekonstruktionen. Das Heil liegt in der Solidarität Gottes mit den Menschen, Frauen und Männern, wie sie sich exemplarisch in Jesu Leben und Handeln offenbart hat. Dieser Jesus ist den Frauen in ihren Leiden immer wieder gegenwärtig. In der familia dei, der Christa/gemeinschaft reinszenieren sie die ursprüngliche Jesusgemeinschaft und werden dadurch selbst zu Heilsmittlerinnen. Die Christologie von Frauen eröffnet damit neue Resonanzräume der Erfahrung des Göttlichen. Wir sind nun am Ende unseres Weges durch die kontextuellen Christologien Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sowie ihrer Diaspora angelangt. Der Schlussteil fragt nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie nach ökumenischen Lernchancen. Er versucht eine systematische Zusammenfassung und zeigt Gesprächsmöglichkeiten mit den kontextuellen Theologien auf.
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§ 14 Modelle kontextueller Christologie – Gemeinsamkeiten, Unterschiede und ökumenische Lernchancen Trotz der kulturellen Differenzen weisen die biographischen Porträts der in den vorangegangenen Paragraphen vorgestellten kontextuellen Theologen und Theologinnen doch auffällige Gemeinsamkeiten auf. Die meisten haben einen ‚Mittelschichthintergrund‘, wobei dieser Begriff in der Dritten Welt nur bedingt tauglich und kaum mit unseren Vorstellungen von Mittelschicht kompatibel ist. Doch immerhin hatten oft schon die Väter und Mütter eine formale Ausbildung, etwa als Lehrer, genossen und trugen dafür Sorge, dass ihre Kinder, oft Jungen und Mädchen, auch Zugang zu höherer Bildung bekamen. Ihr Auskommen war mithin gesichert. Bei den katholischen Vertretern lief das Leben zumeist in ruhigeren Bahnen, da sie mit dem Eintritt in einen Orden oder auch der Ordination zum Weltpriester unter die Obhutspflicht ihrer Ordensoberen bzw. der kirchlichen Hierarchie traten, die ihre Begabungen förderten und ihnen weiterführende Bildungschancen eröffneten. Diese Rahmenbedingungen sind sicherlich mit ein Grund dafür, dass ihre Biographien oft hinter das Werk zurücktreten. Unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit haben die Dritte-Welt-Theologen und Theologinnen alle jedenfalls einen Teil ihrer akademischen Ausbildung im Westen, den USA oder Europa, erhalten.1 Eine Sonderstellung nehmen die US-Minoritäten ein, die von ihren Exponenten früh als Diaspora der Dritten Welt stilisiert werden. James Cone hat die Problematik ihrer „Doppelidentität“ wiederholt thematisiert. Viele Männer der ersten Generation haben noch über die klassischen dogmatischen Themen oder traditionelle theologische Entwürfe promoviert. Gemeinsam ist ihnen auch die Erfahrung des vielzitierten epistemologischen Bruches in ihrer theologischen Biographie. In die Heimat zurückgekehrt, schien das im Westen angeeignete Wissen für die Bewältigung der Probleme ihres eigenen Kontextes wenig zu taugen. Andererseits ist es in der Folge aber auch nicht zu einem totalen Bruch mit der westlichen theologischen Tradition gekommen. Trotz gelegentlich recht scharfer Polemik bleibt dieses Erbe präsent.
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Die Frauen der zweiten Generation haben den epistemologischen Bruch demgegenüber meist schon während ihrer Ausbildung vollzogen. Rita Nakashima Brock schilderte in der Asian North American Religion, Culture and Society Unit der AAR in San Diego 2019,2 dass sie sich ein fünfjähriges Moratorium auferlegt habe, währenddessen sie keine Theologie der weißen Männer las, um ihre eigene Stimme zu finden. Viele der qualifizierenden Arbeiten dieser Generation sind denn auch schon ihrer kontextuell-theologischen Identitätsfindung gewidmet. Der epistemologische Bruch hat auf der fundamentaltheologischen und methodischen Ebene stattgefunden. Theologie bekommt einen stärkeren Gebrauchscharakter. Es geht um die theologische Reflexion akuter Problemlagen, weniger um Systembildung. Pamphlete, Manifeste, Meditationen, Vortragsmanuskripte und kurze Essays sind neben Aufsätzen, Sammelbänden und gelegentlichen Monographien als aussagekräftige Quellen zu berücksichtigen. Wenden wir uns nun zunächst dem Vergleich der von der ersten Generation erarbeiteten Modelle zu. Die hermeneutische Grundstruktur der dialektischen Beziehung von Text und Kontext ist durchgängig erkennbar. Die Wahrnehmung des Kontextes ist dabei selbst schon immer ein hermeneutisches Konstrukt. Die Befreiungstheologien schaffen sich ihr eigenes Geschichtsbild mit teils mythologischen Zügen. Die Inkulturations- bzw. Dialogtheologien entwickeln eine spezifische Sicht der Kulturen und Religionen, oft im Rahmen kultureller Renaissancen. Die eingangs aufgrund der thematischen Schwerpunktbildungen innerhalb des jeweiligen Kontextes eingeführte Typeneinteilung in Befreiungs- und Inkulturations- bzw. Dialogtheologien ist während unseres Durchgangs durch die verschiedenen Entwürfe der Männer der ersten Generation von der Textseite her auch theologisch konturiert worden. Konfrontiert mit dem Leiden der Armen und Unterdrückten, bot sich den Befreiungstheologen die Kreuzestheologie als Zentralperspektive an, um ihre Erfahrungen theologisch zu interpretieren. Jesu Hinwendung zu den kleinen Leuten, den Armen, Kranken und Sündern, Zöllnern und Dirnen, dem galiläischen ochlos, und der Tod am Kreuz, wie ihn unzählige dieser Menschen vor und nach ihm erlitten, lassen auch heute Situationen des Leidens, der Armut und Unterdrückung für seine Gegenwart transparent werden. Christus hat nicht für diese Menschen gelitten, sondern er
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leidet immer wieder mit ihnen. Er ist der Christus praesens, der im Geist in den Leiden gegenwärtige Sohn Gottes. Dadurch wird die traditionelle Sühne- und Opfertheologie de facto durch eine korporative theologia crucis abgelöst. Das christologische Themengewebe ist dabei von kontextueller Theologie zu kontextueller Theologie durchaus unterschiedlich strukturiert. Während in den afrikanischen und asiatischen Befreiungs theologien, überwiegend protestantischer Provenienz, das Kreuzesgeschehen als das zentrale Ereignis im Leben Jesu hervorgehoben wird, schreibt die katholische Befreiungstheologie Lateinamerikas den Kreuzestod in den inkarnatorischen Spannungsbogen ein. Allen gemeinsam ist aber die identitätsstiftende Funktion, die sie der Christologie beimessen. Christi Gegenwart im Leiden verleiht den Armen und Unterdrückten eine Würde vor Gott kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen und lässt sie ihre eigene Geschichte in der Geschichte Jesu Christi bergen. In den afrikanischen und asiatischen Inkulturations- bzw. Dialogtheologien wird das Thema ‚vere homo, vere deus‘ in Auseinandersetzung mit den in den jeweiligen Kulturen und Religionen virulenten soteriologischen Vorstellungen neu aufgerollt.3 Die Afrikaner identifizieren den christlichen Gott gerne mit ihrem jeweils eigenen Stammesgott und betrachten Jesus Christus als das Novum, in dem ihre Religion erst eigentlich zur Erfüllung kommt. Indem sie ihm einen afrikanischen Preisnamen geben, wollen sie ihn bei sich heimisch machen. Afrikanische Theologie wird dabei zu einer theologia gloriae, die den Christus victor preist. Sie kommt darin unter den kontextuellen Theologien der orthodoxen Option am nächsten. Auch bei asiatischen Theologen ist die Vorstellung verbreitet, dass sich hinter den verschiedenen Religionen eigentlich derselbe Gott verberge. In der Folge treten Gottheit und Menschheit Jesu Christi auseinander. Christus wird als die den Menschen zugekehrte Seite Gottes in die Gotteslehre absorbiert, Jesus droht zu einem heiligen Mann bzw. Propheten unter anderen zu werden.4 Ein wichtiges Korrektiv sind für die erste Generation die Kreuzestheologien in ihren verschiedenen afrikanischen und asiatischen Abschattungen. Diese Funktion der Christologie bzw. des Kreuzes als kritischer Instanz in einer multi-kulturell-religiösen Situation findet sich auch in einigen chris
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tozentrischen Inkulturations- bzw. Dialogtheologien. Sie verkürzen die Christologie allerdings auf ein rein formales Kriterium, die Jesusgeschichte wird nicht mehr weitererzählt. Überhaupt zeigen die Inkulturationstheologien, von C. S. Song und Kosuke Koyama einmal abgesehen, insgesamt eine Erzählschwäche. Sie operieren fast ausschließlich auf der Ebene der generativen Themen und der Themenverknüpfungen. Erinnern wir uns noch einmal an die eingangs unterschiedenen Zentralperspektiven der Christologie: Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi. Die Befreiungstheologien nähern sich den Themen Leben und Tod stärker erzählerisch, während die Inkulturationstheologien auf der formalen Ebene verharren. Die Inkarnationsperspektive dient ihnen zur theologischen Begründung ihrer Inkulturationsbemühungen, das Kreuz als Kriterium. Die Auferstehungsperspektive bleibt insgesamt eher implizit, hat aber im Christus praesens oder Christus victor ihren Anhalt. Die konfessionellen Grenzen zwischen katholischer und protestantischer kontextueller Theologie sind längst fließend geworden. Die Orthodoxen hingegen beteiligen sich kaum an diesen Diskursen. Die Befreiungstheologen sprechen davon, dass Gott in der Geschichte wirkt, für die Inkulturations- bzw. Dialogtheologen war er in den Kulturen und Religionen immer schon gegenwärtig. Dieser Gott hat sich in Jesus Christus offenbart. Die Befreiungstheologen sehen darin den hermeneutischen Schlüssel ihrer Erfahrungswirklichkeit, von den Inkulturations- und Dialog-Theologen wird die Einzigartigkeit dieses Geschehens allerdings gelegentlich in Zweifel gezogen. Liegt das Heil nicht bereits in Gottes Schöpfungshandeln, in seiner grundsätzlichen Zuwendung zu seinen Geschöpfen begründet? Wie die Auferstehungsperspektive ist auch die Pneumatologie allgemein schwach ausgeprägt, auch wenn sie in der praesentia Dei und dem Christus praesens immer mitgedacht ist. Neben der Frage nach der Heilsbedeutung des Kreuzes, dem Verhältnis von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus, steht hiermit auch die Dreieinigkeit Gottes zu einer erneuten Klärung an. Es sind also doch wieder die großen generativen Themen des christlichen Glaubens, die der Text auch in den neuen Kontexten evoziert. Es kann nun nicht darum gehen, die terminologischen Klärungen der Alten Kirche, die durchtränkt sind von der kulturell-religiösen Vorstellungswelt
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des Hellenismus, eins zu eins in die Kontexte Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu übersetzen. Wir müssen vielmehr immer wieder neu nach den dahinterstehenden Konzeptionen fragen. Hinzu kommt, dass wir es im Fall der altkirchlichen Theologie mit längst Tradition gewordener Lehrbildung zu tun haben, die aus ihrer Sicht diverse Häresien ausgeschieden hat, während die kontextuellen Theologien noch offene Prozesse sind. Übers. 11: Modelle kontextueller Christologie der ersten Generation sozio-ökonomisch und politi- kulturell-religiöser Typus scher Typus (Befreiungstheo- (Interkulturations- und logien) Dialogtheologien) generative Themen • Armut und Unterdrückung • kulturell-religiöser Pluralis↓ Text/Kontext → • Rekonstruktion der Leidensmus geschichte des Volkes • kulturelle Renaissancen • Menschenwürde • kulturelle Identität Inkarnation
Leben Jesu als Bestandteil der theologische Begründung des Christologie Inkulturationsvorgangs
vere homo, vere deus
• theologia crucis • Christus patiens (Akzent auf der Menschheit)
• theologia gloriae • Christus victor (Akzent auf der Gottheit)
Kreuzestheologie
identitätsstiftend
Identitätskriterium
Gott der Dreieine
Gott handelt in der Geschichte
Gott ist in den Kulturen und Religionen gegenwärtig
Jesus Christus als hermeneutischer Schlüssel
Christus als die den Menschen zugewandte Seite Gottes
(Heiliger Geist als Medium der Kommunikation ad intra und ad extra)
Die Theologinnen der zweiten Generation haben in diesen Diskursen durchaus eigene Akzente gesetzt. Nicht von ungefähr entzündete sich der Konflikt mit den Orthodoxen um die kontextuellen Theologien an der Frage des Heiligen Geistes. Als Chung Hyun-Kyung in Canberra ihren Hauptvortrag zum Tagungsmotto „Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung“5 in ein Happening verwandelte und die koreanischen Geister
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der Ahnen zu Ikonen des Heiligen Geistes stilisierte, kam es zum Eklat.6 Nach Mercy Amba Oduyoyes Intervention auf der ersten EATWOT-Vollversammlung in Neu Delhi 1986, die das formale Recht der Frauen auf theologische Gleichberechtigung im Diskurs eingeklagt hat, war dies die zweite, diesmal materiale Intervention einer Theologin aus dem globalen Süden, auf dem internationalen ökumenischen Parkett, die nicht zu überhören war. Methodisch und typologisch besteht durchaus eine Kontinuität zwischen erster und zweiter Generation, sowohl was den hermeneutischen Zirkel betrifft als auch mit Blick auf die beiden großen Schulen Befreiungs- sowie Inkulturations- und Dialogtheologien, trotz aller kritischen Abgrenzungen. Intersektionalität und Methodenpluralismus haben hier jedoch zu einer größeren Ausdifferenzierung und Komplexität geführt. Inhaltlich haben die Dritte-Welt-Theologinnen und -Theologen und ihre Diaspora durch die Verknüpfung der generativen Themen des Textes mit den generativen Themen ihres jeweiligen Kontextes einen Sinnzuwachs des Textes produziert und zugleich Engführungen in der westlich theologischen Tradition aufgebrochen. Die Frauen der zweiten Generation sind dabei noch deutlich über ihre männlichen Kollegen hinausgegangen. Zwar bleiben vordergründig weiterhin traditionelle Begrifflichkeiten wie Mitleiden oder Opfer wirkmächtig, aber daraus entwickelt sich eine Christologie, die in der Relationalität gründet, Heil demokratisiert und sich Jesus und seine Gemeinschaft mit Frauen zum Vorbild nimmt. Ihre Jesulogie hat eine neue Anthropologie hervorgebracht, ihre Christologie ist wesentlich Soteriologie. Das Programm der Befreiungstheologien ist in der „Option für die Armen“ prägnant zusammengefasst. Es basiert auf einer relecture der Jesusgeschichte vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Armut und Unterdrückung, die sich in vielem mit den Erkenntnissen der sozialgeschichtlichen Evangelienexegese westlicher Provenienz deckt. Die Frauen optieren daran anschließend für das Leben – in Beziehungen und Gemeinschaft – wie es Jesus exemplarisch vorweggenommen hat. Dieses Leben ist geprägt durch Gottes Gerechtigkeit und eine Solidarität von Frauen und Männern, die den ganzen Kosmos einschließt, die gleichermaßen Heil machen und heilswirksam sind.
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§ 14 Modelle kontextueller Christologie 255
Paulus, die zweite Gründergestalt der christlichen Religion, ist demgegenüber in den kontextuellen Theologien bisher marginalisiert worden, mit Ausnahme des bahnbrechenden Entwurfes von Elsa Tamez, einer der prominentesten Vertreterinnen einer feministischen Befreiungstheologie der zweiten Generation in Lateinamerika.7 Über die Gründe der ansonsten gängigen Ignoranz lässt sich nur spekulieren. Es mag am literarischen Genre der Briefliteratur oder der theologischen Begrifflichkeit des Paulus liegen, die sich einer narrativen Rezeption zunächst zu sperren scheinen. Wer die kontextuellen Theologien etwa auf ihre Explikation der Rechtfertigungslehre hin befragen wollte, hätte, von Tamez und zumindest implizit der Post-Apartheid Schwarzen Theologie einmal abgesehen, bald eine Fehlanzeige zu vermelden. Der Begriff taucht als solcher selten auf. Während die Befreiungstheologien biblische Theologien sind, operieren viele Inkulturations- und Dialogtheologien auf der Themenebene. Dennoch will ich im Folgenden den Dialog mit einer Rekonstruktion der theologischen Biographie des Paulus eröffnen. Ich knüpfe daran die These, dass, ähnlich wie Jesu Hinwendung zu den Armen und Unterdrückten der Befreiungstheologie zum generativen Thema geworden ist, Paulus und seine Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben über die befreiungstheologische relecture durch Tamez hinaus in besonderem Maße für die Inkulturationsproblematik rezipierbar wäre. Zugleich mag die bei den kontextuellen Theologien entlehnte Frage nach den kulturell-religiösen Faktoren neue Impulse für unser Verständnis des Paulus geben.
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Epilog: Paulus und die Kultur Paulus verkörpert den Grundkonflikt der Urchristenheit, die Grenzüberschreitung zwischen Juden und Heiden bzw. Juden- und Heidenchristen, in Person. Durch seine Herkunft aus der Diaspora und seine dadurch bedingte Vertrautheit mit der hellenistischen Umwelt zur grenzüberschreitenden Heidenmission prädestiniert, leugnete er seine jüdische Herkunft doch nie. Seine eigene Absage an die Heilswirksamkeit des Gesetzes nach seiner Berufung brachte ihn jedoch nicht nur in Konflikt mit den Juden, sondern bald auch mit den Judenchristen. Dennoch trat er um den Preis seines Lebens für die Einheit in der Vielheit der jungen Kirche ein. Wie Jesus selbst war auch sein Zeitgenosse Paulus1 gebürtiger Jude. Begegnet sind sie einander nie. Paulus ist diejenige Gestalt des Urchristentums, die für uns noch am deutlichsten aus dem Dunkel der Geschichte hervortritt. Für die Rekonstruktion seiner Biographie benutze ich zunächst seine eigenen Briefe, allesamt binnen weniger Jahre gegen Ende seines Lebens verfasst. Zu diesem Befund ziehe ich ergänzend die Apostelgeschichte heran. Bezüglich ihrer Historizität nehme ich eine mittlere Position ein.2 Sie ist sicher nicht die erste Kirchengeschichte im modernen Sinne, ihr Verfasser schreibt mit einer theologischen Intention für eine bestimmte Klientel.3 Andererseits lässt sich doch einiges auch anhand der Briefe überprüfen. Von den heute gemeinhin als echt erachteten sieben Paulusbriefen gilt der I Thess allgemein als der älteste und der Röm als theologisches Testament des Paulus.4 Die Abfolge der übrigen Briefe ist umstritten. Wie die Chronologie5 bieten auch die Abfassungsorte viel Anlass zu Spekulationen. Paulus selbst nimmt außer in einem Rechenschaftsbericht in den ersten beiden Kapiteln des Galaterbriefes nur beiläufig auf seine Biographie Bezug. Dennoch bleibt der Autor hinter seinen Briefen für uns noch erkennbar. Dass Paulus überhaupt Briefe geschrieben hat, ist bereits ein Indiz für seine Bildung. Er zeigt sich vertraut mit hellenistischer Popularphilosophie und Rhetorik.6 Seine Korrespondenz hat er diktiert (Röm 16,22), gelegentlich aber auch selber Hand angelegt (Gal 6,11), den kurzen Philemonbrief aus dem Gefängnis wohl gleich ganz selbst geschrieben (Phlm 19). Es ist der einzige Brief, der sich nur an einen Adressaten und seine
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Hausgemeinde richtet (Phlm 1 f.). Die anderen sind allesamt an Großstadtgemeinden adressiert und sollten in der Versammlung verlesen werden (I Thess 5,27). Die Briefe wurden oft durch Mitarbeiter überbracht, die zwischen dem jeweiligen Aufenthaltsort des Paulus und den Gemeinden pendelten. Gelegentlich schickten auch die Gemeinden Abgesandte zu ihm. Auf manches, was ihm dabei berichtet wurde, reagierte er schriftlich (I Kor 5,1; 7,1). Seine Briefe zeigen uns Paulus auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Heidenmissionar. Er beweist dabei ein erstaunliches Organisationstalent. Um seine Gemeinden zu betreuen, die immer wieder in Konflikte mit den örtlichen Synagogen gerieten, von judaisierenden Wandermissionaren angefochten und von ihrer hellenistischen Umwelt bedrängt wurden, hatte Paulus einen Mitarbeiterstab aufgebaut.7 Die Mitarbeiter hielten nicht nur die Kommunikation zwischen ihm und seinen Gemeinden aufrecht, sondern mussten ihn z. T. auch vor Ort vertreten. Paulus warb sie in den Gemeinden an, zuweilen wurden sie auch direkt von diesen entsandt, um für eine gewisse Zeit in der Mission mitzuarbeiten. Die Gemeinden unterstützten ihn aber nicht nur personell, sondern auch geistlich (Phil 1,19) und finanziell (Phil 4,10–14.18; II Kor 11,8 f.). Über seine Herkunft und Frühzeit8 erfahren wir demgegenüber wenig mehr, als dass er jüdischer Abstammung aus dem Geschlecht Benjamins ist und sich zu den Pharisäern zählt (Phil 3,5). Seine Vertrautheit mit dem städtischen Milieu und seine hellenistische Bildung sprechen dafür, dass er der jüdischen Diaspora in einer der größeren Städte des Reiches entstammt. Die Apostelgeschichte nennt Tarsos in Kilikien als Geburtsort. Er sei Bürger seiner Heimatstadt gewesen (Act 21,39) und habe das römische Bürgerrecht bereits von seinem Vater geerbt (Act 16,37 f.; 22,25–29; 23,27; indirekt 25,10 f; 21,25 f; 28,19). Seine jüdische Bildung habe er in Jerusalem zu Füßen des Gamaliel, eines der führenden pharisäischen Gelehrten seiner Zeit, erhalten (Act 22,3). Von Beruf sei er Zeltmacher gewesen (Act 18,3). Am strittigsten ist wohl das römische Bürgerrecht.9 Gewichtige Gründe sprechen dagegen. • Es war z. Zt. des Paulus selbst unter den Würdenträgern der Provinzen noch relativ selten.
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• Die Rechte und Pflichten eines römischen Bürgers sind nur schwer mit der von Paulus selbst bezeugten Zugehörigkeit zu den gesetzesstrengen Pharisäern zu vereinbaren. • Die wiederholt von ihm erlittenen synagogalen und staatlichen Prügelstrafen (II Kor 11,24 f.) hätten an einem römischen Bürger nicht vollstreckt werden dürfen. Es legt sich der Verdacht nahe, dass der Verfasser der Apostelgeschichte aus der Überstellung des Paulus nach Rom auf dessen römisches Bürgerrecht geschlossen hat, zumal dies seiner eigenen Konzeption, Paulus als vorbildlichen Juden und Christen und loyalen Bürger des römischen Reiches zugleich darzustellen, durchaus entgegenkam. Aus ähnlichen Gründen wie das römische ist auch das tarsische Bürgerrecht fraglich. Paulus hätte sich etwa auf Dauer kaum der Verehrung der Stadtgötter entziehen können. Auch die Ausbildung in Jerusalem, noch dazu durch Gamaliel, ist zweifelhaft. Nach eigener Aussage (Gal 1,22) war er den Gemeinden in Judäa nicht von Angesicht bekannt. Das Studium in Jerusalem würde sich freilich wiederum gut in das Bild fügen, das Lukas von Paulus zu zeichnen bemüht ist. Unverdächtiger ist hier schon die Information über Tarsos als Geburtsort. Paulus berichtet jedenfalls, dass er in seiner Frühzeit in dieser Gegend missioniert hat (Gal 1,21). Auch die Berufsangabe Zeltmacher mag stimmen. Der Apostel war stolz darauf, dass er auf den ihm eigentlich zustehenden Unterhalt durch die Gemeinden in der Regel verzichten konnte und von seiner eigenen Hände Arbeit lebte. Oft war er dabei bis in die Nacht hinein tätig (I Thess 2,9; vgl. I Kor 4,12).10 Handwerker wird er gewesen sein, auf Wanderschaft, ohne eigene Werkstatt, im Tagelohn. Paulus berichtet in den sogenannten Peristasenkatalogen selbst, dass es ihm zuweilen schlecht ging (I Kor 4,10–13; II Kor 6,4–10; 11,23–30.32 f.). Doch kannte er „satt werden oder hungern, sei es Überfluss haben oder Mangel leiden“ (Phil 4,11 f.). Seine Gemeinden unterstützten ihn, wenn er Mangel litt (Phil 4,10–20; II Kor 11,9), und er fand Unterkunft in ihren Häusern (Phlm 22). Wie Paulus selbst sind auch seine Gemeinden eher in der Unterschicht anzusiedeln, einige wenige Reiche werden dazugehört haben. Doch fehlten die ganz Reichen und Mächtigen ebenso wie die absolut Armen.11
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Als gesetzestreuer Pharisäer war Paulus zu einem Verfolger der Christusanhänger im Umfeld der Diaspora-Synagogen geworden (Gal 1,13 f.; Phil 3,5 f.; I Kor 15,9); ob auch in Jerusalem (Act 8,3), ist aufgrund von Gal 1,22 f. wiederum zweifelhaft. Seine Berufung zum Heidenapostel schildert er als Offenbarung des Sohnes Gottes „in mir“ (Gal 1,16). Er sieht dieses Ereignis als letztes in einer Reihe von Erscheinungen, die mit der Erscheinung vor Petrus begann (I Kor 15,5–8). In der Apostelgeschichte ist das, was Paulus knapp berichtet, breit ausgeschmückt (Act 9; 22; 26). Paulus ist bemüht, möglichst unabhängig zu erscheinen. Nach seiner Berufung hat er „nicht erst bei irdischen Instanzen Genehmigung eingeholt, noch [… ist er] hinaufgegangen nach Jerusalem“ (Gal 1,16 f), sondern wandte sich auf eigene Faust nach Arabien. In Damaskus konnte er nur knapp der Verfolgung entgehen (II Kor 11,32 f.). Er hat während dieser drei Jahre anscheinend versucht zu missionieren, mit mäßigem Erfolg, denn andernfalls würde er sich gemäß seiner sonstigen Praxis (Phil 2,16 u. ö.) dieser Gemeindegründungen gerühmt haben. Nach einem ersten, nur vierzehntägigen Besuch in Jerusalem bei Petrus, anlässlich dessen er auch Jakobus traf, ging er nach Syrien und Kilikien, also eventuell in seine Heimat. Dort ist er in Kontakt mit der Gemeinde in Antiochien gekommen.12 Zunächst als Mitarbeiter des Barnabas, nicht umgekehrt. Hier wird er vieles von dem gelernt haben, was er seinen Gemeinden weitergegeben hat (I Kor 15,3). Das später so genannte Apostelkonzil in Jerusalem (Gal 2,1–10 vgl. Act 15,1–35) und der bald darauf anzusiedelnde Konflikt mit Petrus und Barnabas in Antiochien (Gal 2,11–21) markieren das Ende dieser Lehr- und Wanderjahre. Zielstrebig beginnt Paulus sein eigenes missionarisches Projekt. Er gründet seine Gemeinden in den großen Städten entlang der Verkehrsadern des römischen Reiches. Dabei zieht es ihn unermüdlich nach Westen. Der Gemeinde in Rom schreibt er, dass er „keine Aufgabe mehr in diesen Gegenden [habe]“ (Röm 15,23). Wie Jesus es für ausreichend hielt, seine Botschaft überall in Galiläa verkündigt zu haben, setzt auch Paulus auf die Selbstausbreitung der Botschaft. Zu mehr reicht die Zeit nicht, denn Paulus steht ebenfalls noch unter der konkreten Naherwartung (I Thess 4,15.17; I Kor 15,51). Er führt ein apokalyptisches Missionsprogramm durch, wie es etwa auch in Mk 13,10 formuliert ist.
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Nehmen wir die wiederholten Prügel- (II Kor 11,24 f.) und Haftstrafen (Phil 1,7.12–26; Phlm 1.9 f.13),13 die Paulus erdulden musste, als Indiz für die dahinterstehenden Konflikte, dann wird er nach seiner Bekehrung wohl im Umfeld der Diaspora-Synagogen gewirkt haben. Für seine als Polemik gegen das Gesetz und die jüdische Lebensweise empfundene Lehre hat er die synagogale Strafe der „vierzig Streiche weniger einen“ bezogen. Auch die erwähnte Steinigung (II Kor 11,25) dürfte in diesem Kontext zu sehen sein. Seine Gegner werden ihn bei der Staatsmacht verklagt haben (vgl. I Kor 6,1–8). Zudem wird er selbst zuweilen im öffentlichen Raum das Evangelium verkündigt haben, auf den Marktplätzen und an den Straßenecken, wo sich etwa auch die Wanderphilosophen produzierten. Dadurch hat Paulus öffentliches Ärgernis erregt. Ein weit ungefährlicherer Ort missionarischer Verkündigung werden die Häuser gewesen sein, von denen gelegentlich die Rede ist (I Kor 1,16; 16,15.19; Phlm 2; Röm 16,23).14 Schließlich wird sich bei seiner handwerklichen Erwerbstätigkeit die Möglichkeit zu manch zwanglosem missionarischen Gespräch ergeben haben. Die Spuren des Paulus verlieren sich irgendwo in Rom; ob er noch bis nach Spanien gekommen ist, wie es sein Plan war (Röm 15,24), ist zweifelhaft. Nach I Clem 5 erlitt Paulus in Rom das Martyrium. Die Grenzüberschreitung ist Paulus zum Lebensthema geworden.15 Er verbreitete den Christusglauben, der seinen Ursprung im Milieu der kleinen Leute Palästinas hatte, in die hellenistischen Stadtzentren des römischen Weltreiches. Während Jesus die Städte mied, entstammte Paulus dem städtischen Milieu der jüdischen Diaspora. Als Angehöriger einer religiösen Minderheit inmitten des hochgradig absorptionsfähigen Hellenismus besonders gesetzestreu erzogen, war er doch zugleich mit hellenistischer Bildung und dem entsprechenden Habitus vertraut.16 Jesus bewegte sich noch in den Grenzen des Judentums. Paulus hat sie de facto überschritten, auch wenn seine jüdische Abstammung für ihn selbst stets wesentlicher Bestandteil seiner Identität geblieben ist.17 Der Glaube an Jesus Christus transzendiert für Paulus ethnische, soziale und geschlechtliche Differenzen, ohne sie aufzuheben. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus (Gal 3,28).
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In unmittelbarem Zusammenhang mit Identitätskonflikten auf der Grenze von Juden bzw. Judenchristen und Heiden bzw. Heidenchristen steht auch die später sogenannte Rechtfertigungslehre des Paulus. Gal 2,15 f.wird eingeleitet mit der Aussage „Wir sind von Geburt Juden und nicht Sünder aus den Heiden.“ Auf Röm 3,28 folgt in V. 29 die Rückversicherung: „Oder ist Gott allein der Gott der Juden? Ist er nicht auch der Gott der Heiden? Ja gewiss, auch der Heiden.“ Was ist christliche, zunächst ja judenchristliche Identität? Mussten die neu hinzugewonnenen Heiden bzw. Griechen, wie Paulus sie zuweilen auch nennt, erst Juden werden, um dann Christen werden zu können? Für Paulus sollte allein der Glaube an Jesus Christus zählen. Seine judenchristlichen Gegenspieler beharrten aber auf der Beschneidung, der Einhaltung der Feiertage und der Heilswirksamkeit des Gesetzes. Kulturelle und religiöse Elemente sind hier eng miteinander verflochten. An dieser Einschätzung ändert sich auch dann grundsätzlich nichts, wenn Paulus für seine Rechtfertigungslehre bereits aus der Tradition geschöpft haben sollte.18 Deutlich ist, dass er als gesetzestreuer Pharisäer die Gemeinde um ihrer Abkehr von der Heilswirksamkeit des Gesetzes willen verfolgt hatte.19 Nach seiner Berufung machte er sich ihren Standpunkt mit ebensolchem Eifer zu eigen. Die Rechtfertigungslehre bzw. die Gedanken, die sie formten, sind wohl zunächst als innerjüdisches Differenzkriterium gegenüber anderen Emanzipationsbewegungen entstanden, weniger als direkte Begründung der Heidenmission, doch hat sie dieser den Weg geebnet. Die aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten waren selbst schon kulturelle Grenzgänger. In der von ihnen gegründeten Gemeinde in Antiochien werden die Grenzen zu den Heiden denn auch erstmals überschritten worden sein. Paulus musste sich in seiner Hoffnung, auf dem Apostelkonzil in Jerusalem alle von seiner Theologie überzeugt zu haben, enttäuscht sehen. Die Vereinbarung „wir unter den Heiden, sie aber unter den Beschnittenen“ (Gal 2,9) interpretierten die Jerusalemer anscheinend im Sinne zweier distinkter Gemeinschaften. Daher verweigerten sie den Heidenchristen in Antiochien die Mahlgemeinschaft. Seine als Polemik empfundene Lehre vom Ende der Heilswirksamkeit des Gesetzes wurde schon gar nicht gebilligt, sondern hat, einmal nach Jerusalem gedrungen, die Atmosphäre
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endgültig vergiftet. Um zu schlichten, wollte Paulus selbst dorthin reisen und die Kollekte überbringen (Röm 15,25–33), die er gemäß der Absprache auf der Apostelversammlung in seinen Gemeinden für die Bedürftigen in Jerusalem gesammelt hatte.20 Paulus sah die Einheit der jungen Christenheit gefährdet, die er unter keinen Umständen aufs Spiel setzen wollte. Die heimlichen Adressaten und Adressatinnen des Römerbriefes dürften von daher in Jerusalem zu suchen sein. Paulus korrigiert hier seine polemischen Positionen aus dem Galaterbrief, in dem er mit konkreten Gegnern zu ringen hatte. Ebenso wenig wie Jesus ging es Paulus darum, das Gesetz aufzuheben. Er verkündigt die Gerechtigkeit Gottes,21 die in Jesus Christus zu ihrer Fülle gelangt ist. Die Tora, für die Heidenchristen um einige rituelle Vorschriften ermäßigt und zusammengefasst im Liebesgebot (Röm 13,8–10; Gal 5,14), ist Hilfe zum Leben. Ihre Heilswirksamkeit ist in Jesus Christus zu ihrem Ende gekommen, ihre Heiligkeit bleibt bewahrt.22 Das Liebesgebot ist für beide in Kontinuität mit ihrer jüdischen Tradition von zentraler Bedeutung. Die Menschen können sich geborgen wissen in der Liebe Gottes, in der sie Gott und ihren Mitmenschen begegnen sollen. Jesus hatte den kleinen Leuten in Palästina das Reich Gottes verkündigt und ihnen damit kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen eine Würde vor Gott zugesprochen, die ihnen zugleich eine eigene Identität verlieh. Bei Paulus verschiebt sich im Zuge seiner Grenzüberschreitungen der Akzent auf die Frage kultureller Identitäten. Die soziale Komponente schwingt aber weiterhin mit, was oft übersehen wird.23 Der von Paulus formulierte Zuspruch der Gerechtigkeit Gottes besonders für die Schwachen (I Kor 1,27) steht in Kontinuität zur Reich-Gottes-Verkündigung Jesu.24 Mission ist immer auch Kulturkontakt, haben wir eingangs gesagt und die kontextuellen Christologien als Formen der Kulturbeziehung charakterisiert. Paulus und die urchristliche Missionsbewegung haben hierfür die Weichen gestellt. Dass er ‚den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche wurde‘ und die ‚Rechtfertigung allein aus Glauben‘ betonte, hat dem kulturellen Pluralismus der Christenheit überhaupt erst Raum geschaffen. Durch den Zuspruch der Gerechtigkeit Gottes besonders für die Schwachen wird dabei gleichzeitig den Armen und Unterdrückten eine eigene Würde vor Gott verliehen. So verstanden, ist die Rechtfertigung
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allein aus Glauben ein identitätsstiftendes und -bewahrendes Geschehen. Im Kontext der kulturellen und sozialen Konflikte, mit denen die Rechtfertigungsbotschaft von Anbeginn eng verknüpft war, lässt sich auch ihre stärker gemeinschaftsbezogene Interpretation legitimieren. Sie könnte sich als Korrektiv unserer stark am Individuum ausgerichteten Auslegungstradition erweisen. Während unseres Durchgangs durch die kontextuellen Christologien ist die Frage der Identität schnell zum heimlichen Leitthema geworden. Das war auch der Anknüpfungspunkt für eine relecture der Biographie des Paulus und seiner Rechtfertigungsbotschaft. Die Inkulturations- und Dialogtheologien thematisieren das Problem der kulturell-religiösen Identität. Die Frage lautet noch immer, ähnlich wie schon bei Paulus selbst, wie lässt sich mein jeweiliges kulturell-religiöses Erbe mit meiner Konversion zum christlichen Glauben versöhnen?25 Der balinesische christliche Künstler Nyoman Darsane,26 selbst ein konvertierter Hindu, brachte das mir gegenüber einmal auf die Formel „Christus ist meine Seele, und Bali ist mein Körper.“ In den Befreiungstheologien liegt das ganze Pathos auf dem Zuspruch der eigenen Würde jedes Menschen vor Gott,27 auch kontrafaktisch zu der alle Lebensvollzüge bestimmenden Erfahrung von Armut und Unterdrückung. Während ihre Protagonisten sich dafür hauptsächlich auf die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu berufen, hat Elsa Tamez aufgezeigt, dass auch die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus diesen Zuspruch leistet. Paulus wartet insofern in doppelter Hinsicht darauf, von den kontextuellen Theologinnen und Theologen neu entdeckt zu werden. Dabei wird jedoch auch sein ambivalentes Verhältnis zu den Frauen in seinen Gemeinden zu thematisieren sein. Hier könnte sich der schon bei Jesus und den Evangelienberichten erprobte Zugang einer Rekonstruktion der Geschichten und Rollen der Frauen, die in den Anschreiben und Grußadressen der Paulusbriefe genannt werden und die seine Mission substanziell unterstützt zu haben scheinen, erneut bewähren.28 Rezeptionsgeschichtlich wäre eine protestantische Heimholung Marias als der ersten Gerechtfertigten aus Glauben denkbar.29 Asiatische Theologinnen wie Marianne Katoppo und Chung Hyun-Kyung haben hier früh den Weg gewiesen, indem sie Maria als befreite Frau aus Fleisch und Blut und zugleich Mutter des Gottessohnes als weibliche Identifikationsfigur
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Jesus zur Seite stellten, jenseits kirchlicher Vereinnahmung und Stereotypisierung.30 Die in diesem Band vorgestellten Entwürfe kontextueller Christologien sind zunächst menschliches Bemühen, die kulturellen und sozialen Grenzen zu überschreiten. Zugleich nimmt das Evangelium, bzw. der im Geist gegenwärtige Christus, selbst immer wieder neue Gestalt in den verschiedenen Kontexten an. Voll Vertrauen darauf schrieb Paulus an seine Gemeinden in Galatien, dass er weiter um sie ringen werde, bis dass „Christus in euch Gestalt gewinne (Gal 4,19)!“
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Verzeichnis der Abbildungen und Übersichten Abbildungen Abb. 1: Der hermeneutische Zirkel
Übersichten 49
Abb. 2: Edilberto Merida/Peru, Kreuzigung, Plastik aus Ton und Holz, ca. 1970 (mit freundlicher Genehmigung Mary knoll Fathers and Brothers, Maryknoll, NY)63 Abb. 3: François Goddard/Zaire, Afrikanischer Kruzifixus, Zementplastik, 1960er-Jahre (mit freundlicher Genehmigung Vivant Univers, Photos-Service, Namur [Belgien]) 79 Abb. 4: Nyoman Darsane/Indonesien, Schöpfung von Sonne und Mond, Batik, 1979 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers) 99
Übers. 1: Christus und die Kultur (Niebuhr)38 Übers. 2: Typologie kontextueller Theologie48 Übers. 3: Modelle Afrikanischer Christologie91 Übers. 4: Jesus Christus und der afrikanische Bruderahn (Nyamiti) Übers. 5: Darstellung der HinduRenaissance bei M. M. Thomas und S. J. Samartha
94
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Übers. 6: Typen neutestamentlicher Theologie (Yagi) 128
Abb. 5-10: Die Frontstruktur (Yagi) 131-136
Übers. 7: Jesus Christus und Gautama Buddha (Yagi) 133
Abb. 11: Solomon Raj/Indien, Flüchtlinge aus Ostpakistan, Holzschnitt, 1973 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers) 159
Übers. 8: Asiatische und biblische Spiritualität (Koyama)
Abb. 12: F. Sigit Santoso, Namaku Isa, Öl auf Leinwand, 2005 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers) 203
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Übers. 9: Modelle asiatischer Christologie157 Übers. 10: Modelle befreiungs theologischer Christologie
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Übers. 11: Modelle kontextueller Christologie der ersten Generation 253
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Anmerkungen Vorbemerkungen 1 Die besten europäischen Sammlungen von theologischen Zeitschriften und Publikationen aus dem globalen Süden finden sich in den Bibliotheken von Missio Aachen (www. mikado-ac.info/home.html) und der Universität Utrecht (IIMO-Kollektion).
Einleitung zur ersten Auflage 1 Anton Wessels, Images of Jesus. How Jesus is Perceived and Portrayed in Non European Cultures, London 1990 [niederländisch 1986], hat die diesen Bemühungen innewohnende Ambivalenz in dem nicht zu übersetzenden Wortspiel „portrayal or betrayal“ prägnant zusammengefaßt. 2 Vgl. Volker Küster, Aufbruch der Dritten Welt. Der Weg der ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen [EATWOT], in: Verkündung und Forschung 37, 1992, 45–67; ders., Einführung in die Interkulturelle Theologie, Göttingen 2011, § 5. 3 Mercy Amba Oduyoye, Reflections from a Third World Woman’s Perspective. Women’s Experience and Liberation Theologies, in: Irruption of the Third World. Challenge to Theology, Virginia Fabella und Sergio Torres (Hgg.), Maryknoll, NY 1983, 246–255, 247. Vgl. Dorothea Erbele, Töchter Afrikas, steht auf! Die ghanaische Theologin Mercy Amba Oduyoye, in: Evangelische Kommentare 30, 1997, 453 f. 4 Herausgefordert durch die Armen. Dokumente der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen 1976–1986, Freiburg im Br. etc. 1990, 144–166, 154 f.; vgl. Doing Theology in a Divided World. Papers from the Sixth International Conference of the Ecumenical Association of Third World Theologians, January 5–13, 1983, Geneva, Switzerland, Virginia Fabella und Sergio Torres (Hgg.), Maryknoll, NY 1985. 5 Doris Strahm, Vom Rand in die Mitte. Christologie aus der Sicht von Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika, Luzern 1997, hat hierzu eine materialreiche und umfassende Studie vorgelegt (vgl. inzwischen meine Rezension in: Exchange 31, 2002, 101 f.). 6 Selbst bevorzuge ich die Formulierung „Christlicher Glaube und Kultur“, weil der Nachdruck dabei auf die individuell oder in kommunikativer Gemeinschaft gelebte Glaubenserfahrung gelegt wird. Zudem haftet dem Begriff „Evangelium“ etwas Formelhaftes an, das zu Essenzialismus verleiten kann. 7 Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn, Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge, Massachusetts 1952, haben bereits in den 1950er-Jahren einhundertsechzig unterschiedliche Definitionen von Kultur zusammengetragen. 8 Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 21991, 7–43. 9 Geertz, Dichte Beschreibung, 9; vgl. 46. 10 Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung, 44–95. 11 Geertz, Religion, 48. 12 Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben: oder was hält der Religionskritik stand?, München 1978, 48 f. 13 Geertz, Religion, 74.
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Anmerkungen 267 14 Vgl. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1992. 15 Vgl. Volker Küster, Theologie im Kontext. Zugleich ein Versuch über die Minjung-Theologie, Nettetal 1995. 16 Zur Lange-Rezeption im deutschen Kontext vgl. Volker Drehsen, Kirche für die Welt und andere Indigenisationen, in: Protestantische Texte 86, 1997, 483–497.
Einleitung zur Jubiläumsausgabe 1 Übersetzungen ins Niederländische (2012) und Indonesische (2014) folgten. 2 Die monographische Literatur seither ist sehr überschaubar und bewegt sich trotz gelegentlicher Variation im Detail innerhalb des hier abgesteckten Diskursfeldes. Sie lässt sich grob kategorisieren in Studien zu einzelnen Theologen, christologischen Modellen, Bildern oder Titeln sowie Kontinenten. Eine grobe Durchsicht der in Zeitschriften und Sammelbänden publizierten Beiträge verändert diese Einschätzung nicht. Exemplarisch seien genannt: Wilhelm Richebächer, Religionswechsel und Christologie. Christliche Theologie in Ostafrika vor dem Hintergrund religiöser Syntheseprozesse, Neuendettelsau 2003 und Diane B. Stinton, Jesus of Africa. Voices of Contemporary African Christology, Maryknoll, NY 2004, die sich auf regionale Spezifika innerhalb Schwarzafrikas konzentrieren und die Rezeption in den Kirchen in den Blick nehmen. Für Asien bieten Michael Amaladoss, Jesus neu sehen. Indische Denkanstösse, Freiburg im Br. 2010 [engl. 2006], und John Parratt, The other Jesus. Christology in Asian Perspective, Frankfurt a. M. etc. 2012 Überblicke entlang der bekannten Modelle. Zwei neue englischsprachige Textbuchreihen unterscheiden sich durch ihre evangelikale bzw. ökumenische Ausrichtung (vgl. zu diesen Kategorien Küster, Einführung § 1). In Jesus without Borders. Christology in the Majority World, Gene L. Green et al. (Hgg.), Michigan 2014 erschienen in der Majority World Theology Series bei Eerdmans schreiben evangelikale Autoren; African Theology on the Way. Current Conversations, Diane B. Stinton (Hg.) 2015 und Asian Theology on the Way. Christianity, Culture and Context, Peniel Rajkumar (Hg.) 2015, beides International Study Guides verlegt von Fortress Press richten sich an ein liberales, ökumenisch-orientiertes Publikum. 3 Vgl. etwa C. S. Song, The Believing Heart. An Invitation to Story Theology, Minneapolis 1999; ders., In the Beginning were Stories, Not Texts. Story Theology, Cambridge, UK 2012. 4 Ein gelungenes Beispiel aus dem Kreis meiner Protagonisten ist Allan Boesak, The Tenderness of Conscience. African Renaissance and the Spirituality of Politics, Stellenbosch 2005; vgl. ders. und Curtiss Paul DeYoung, Radical Reconciliation. Beyond Political Pietism and Christian Quietism, Maryknoll, NY 2012 (siehe unten § 10). 5 Vgl. Volker Küster, A Protestant Theology of Passion. Korean Minjung Theology Revisited, Leiden 2010; ders. und Jin-Kwan Kwon (Hgg.), Minjung Theology Today. Contextual and Intercultural Perspectives, Leipzig 2018; ders., Another Child of Conflict – Korean Minjung Theology and the Cold War in Asia, in: Philip L. Wickeri (Ed.), Unfinished History. Christianity and the Cold War in East Asia, Leipzig 2016, 249–273; ders., Eine Protestantische Theologie der Passion. Minjung-Theologie heute, in: Wort und Antwort 60, 2019, 156–162. 6 Deutsch Robert Schreiter, Die Neue Katholizität. Globalisierung und die Theologie, Frankfurt a. M. 1997; vgl. Volker Küster, Von der lokalen Theologie zur neuen Katholizität. Robert J. Schreiters Suche nach einer Theologie zwischen dem Lokalen und dem Globalen, in: Evangelische Theologie 63, 2003, 362–374.
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7 Zur Diskussion in der Missionsgeschichtsschreibung vgl. Volker Küster, German Writings on the History of Mission: A Review of Some Recent Publications in the Light of General Trends, in: Exchange 40, 2011, 369–373; hier: Karl Müller und Werner Ustorf (Hgg.), Einleitung in die Missionsgeschichte. Tradition, Situation und Dynamik des Christentums, Stuttgart 1995. 8 Johann Baptist Metz, Im Aufbruch zu einer kulturell polyzentrischen Weltkirche, in: Franz-Xaver Kaufmann und Johann Baptist Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, Freiburg im Br. 1987, 93–123. 9 Schreiter, Die Neue Katholizität, 34–38. 10 Ähnliches gilt für die Unterscheidung verschiedener Wellen in der feministischen Theologie. 11 Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, der „zweiten Welt“, wurde auch die Sinnhaftigkeit des Begriffs „Dritte Welt“ infrage gestellt. In Analogie zum „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) postulierten linke Theoretiker wie Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt a. M. 1992. Ich betrachte „Dritte Welt“ allerdings als einen strategischen Begriff, wie das ähnlich auch die Ökumenische Vereinigung von Dritte-Welt-Theolog*innen (EATWOT) gesehen haben dürfte, die diese Selbstbezeichnung auch weiterhin führt. Die Strukturen des Kalten Krieges wirken auch heute noch nach. Alternativ verwende ich in neueren Publikationen gelegentlich auch den Begriff „globaler Süden“. 12 Vgl. Joerg Rieger und Kwok Pui-Lan, Occupy Religion. Theology of the Multitude, Lanham etc. 2013, 69 und 87; dazu Volker Küster, Kwok Pui-Lan, Globalization, Gender and Peacebuilding: The Future of Interfaith Dialogue, Joerg Rieger and Kwok Pui-Lan, Occupy Religion: Theology of the Multitude, in: Exchange 46, 2017, 317–319. 13 Vgl. Küster, A Protestant Theology of Passion; ders. und Kwon, Minjung Theology Today. 14 Allan A. Boesak, The Tenderness of Conscience, 195–198. Vgl. aaO., 173, 175 und 185; Volker Küster, Gott – Terror. Ein Diptychon, Stuttgart: Kohlhammer, 2. durchgesehene und erweiterte Aufl. 2018 [1. Aufl. Frankfurt a. M.: Lembeck 2009], 82–86. 15 Tutu zitiert in Antjie Krog, Country of my Skull, London etc. 1999, 24. 16 Vgl. aaO., 239. Antjie Krog bringt in ihrem Buch wiederholt ihre Scham über dieses Ungleichgewicht zum Ausdruck. 17 Desmond Tutu, No Future Without Forgiveness, London etc. 1999, 58, 138, 184–189. 18 Tutu, No Future, 220. 19 Vgl. Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a. M. 1980 [frz. 1952]; ders., Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 2001 [frz. 1961]. 20 Dies hat auch Allan Boesak, Unschuld die schuldig macht. Eine sozialethische Studie über Schwarze Theologie und Schwarze Macht, Hamburg 1977, 109 früh gesehen. Vgl. James Cone, Schwarze Theologie. Eine christliche Interpretation der Black-Power-Bewegung, München und Mainz 1971, 28 f. Für Lateinamerika vgl. Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek bei Hamburg 1973 und sein Konzept der „Bewusstmachung“ bzw. „Bewusstwerdung“ (conscientization). 21 Das Konzept der Intersektionalität wurde von der schwarzen Juristin Kimberlé Crenshaw in den Diskurs eingeführt. Zur Rezeption in Deutschland vgl. Katrin Meyer, Theorien der Intersektionalität zur Einführung, Hamburg 2017.
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22 Vgl. Mika Vähäkangas, Contextuality, Plurality and Truth. Theology in World Christianities, Eugene, Oregon 2020. 23 Vgl. Küster, Einführung, § 5; ders., Gott – Terror. 24 Diego Irarrázaval, Inculturation. New Dawn of the Church in Latin America, Maryknoll, NY 2000, 5; vgl. Küster, Einführung, 91. 25 Vgl. Robert Schreiter, Die neue Katholizität, 49 f. 26 Vgl. Virgilio Elizondo, The Future is Mestizio. Life Where Cultures Meet, rev. Ed. Boulder Colorado 2000. 27 Vgl. Joo-Mee Hur, Theological Reflections on Migrant Married Women in South Korea, in: Towards Theology of Justice for Life in Peace (Minjung-Dalit Theological Dialogue), Bangalore 2012, 275–283; dies., Embarking on a Theological Journey with Literature – A Confluence of Two Stories of Migrant Brides, in: Minjung Theology Today, 127–144. 28 Vgl. Volker Küster, Von der Kontextualisierung zur Glokalisierung, in: Theologische Literaturzeitung 134, 2009, 261–278; ders., Einführung, § 2. 29 Vgl. James Cone, A Black American Perspective on the Future of African Theology, in: African Theology en Route, Kofi Appiah-Kubi und Sergio Torres (Hgg.), Maryknoll, NY 1979, 176–186, 178. 30 Dwight Hopkins, Black Theology USA and South Africa, Maryknoll, NY 1989; vgl. auch die ebenfalls bei James Cone geschriebene Doktorarbeit seines Studienkollegen Emmanuel Martey, African Theology: Inculturation and Liberation, Maryknoll, NY 1993. 31 Vgl. Hopkins, Black Theology, 2. 32 Virgilio Elizondo, Galilean Journey. The Mexican-American Promise, Maryknoll, NY 2000 [1983]. Die Beschreibung Galiläas als Grenzland findet sich ähnlich auch in der Minjung-Theologie (siehe unten § 11). 33 Elizondo, The future is Mestizio, 77–79; ders., A God of Incredible Surprises. Jesus of Galilee, Lanham 2003, 21–31. 34 Vgl. in der Kultursoziologie die Arbeiten zum „Randseiter (marginal man)“ von Robert Ezra Park, Migration und der Randseiter, in: Peter-Ulrich Merz-Benz und Gerhard Wagner (Hgg.), Der Fremde als sozialer Typus, Konstanz 2002 [1928], 55–72 und seinem Schüler Everett V. Stonequist, The Marginal Man. A Study in Personality and Culture Conflict, New York 1961 [1937]. 35 Vgl. George E. „Tink“ Tinker, American Indian Liberation. A Theology of Sovereignity, Maryknoll, NY 2008, 84–111; ders. et al., A Native American Theology, Maryknoll, NY 2001, 62–84 und 113–125. 36 Vielen der frühen Arbeiten ist eine Skepsis gegenüber der Benennung „feministisch“ abzuspüren. In der Konsequenz wurde wahlweise von einer Theologie von Frauen, womanist oder Mujerista-Theologie gesprochen. Interkulturell-feministische Theologie könnte begrifflich die Diversität bei der Rückkehr jüngerer Autorinnen zum Feminismus als strategischen Begriff zum Ausdruck bringen. Vgl. etwa Kwok Pui-Lan, Feminist Theology as intercultural discourse, in: The Cambridge Companion to Feminist Theology, Cambridge 2002, 23–39; Feminist Intercultural Theology. Latina Explorations for a Just World, Maria Pilar Aquino und Maria Jose-Rosado-Nunes (Hgg.), Maryknoll, NY 2007. 37 Umso erfreulicher, dass durch die Verleihung des Gutenberg Research Award an Kwok Pui-Lan (2015), den Gutenberg Teaching Award für Musa Dube (2017) und einen theologischen Ehrendoktor für Elsa Tamez (2019) die Johannes Gutenberg Universität und der
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Fachbereich Theologie in den letzten Jahren einiges zur Anerkennung dieser Theologinnen und ihrer Arbeit beitragen konnten. Gute Einführungen in die verschiedenen Diskurse sind Mercy Amba Oduyoye, Introducing African Women’s Theology, Cleveland, Ohio 2001; Kwok Pui-Lan, Introducing Asian Feminist Theology, Cleveland Ohio 2000; ein entsprechender Lateinamerikaband von Elsa Tamez ist leider nicht zustande gekommen, vgl. aber dies., Und die Frauen? Befreiungstheologen stehen Rede und Antwort, Münster 1990; Las Mujeres Toman la Palabra: En Diálogo con Teólogos de la Liberación Hablan Sobre la Mujer, editado con M. J. Rosado Nunes, Editorial DEI, San José de Costa Rica 1989; dies. (Hg.), Through her Eyes. Women’s Theology from Latin America, Maryknoll, NY 1989. Ferner Virginia Fabella, Der Weg der Frauen. Theologinnen der Dritten Welt melden sich zu Wort, Freiburg im Br. 1996. Der Circle of Concerned African Women Theologians, die Zeitschrift In God’s image und der Women’s Resource Center in Asien, die „Revista de Interpretación Bíblica Latinoamericana (RIBLA)“ in Lateinamerika sowie die EATWOT-Frauenkommission sind wichtige Knotenpunkte der Theologie von Frauen. Im Blick auf die Rezeption in der deutschsprachigen Theologie neben Strahm, Vom Rand in die Mitte mittlererweile Manuela Kalsky, Christaphanien. Die Re-Vision der Christologie aus der Sicht von Frauen in unterschiedlichen Kulturen, Gütersloh 2000, die einen interkulturellen Vergleich zwischen westlich feministischer Christologie (Rosemary Radford-Reuther und Isabel Carter Heyward) und afrikanischer (Mercy Amba Oduyoyoe), asiatischer (Virginia Fabella und Chung Hyun-Kyung) sowie womanischter Christologie bietet; Überblicke neueren Datums sind Muriel Orevillo-Montenegro, The Jesus of Asian Women, Maryknoll, NY 2006; Martha T. Frederiks und Martien E. Brinkman, Images of Jesus. Contributions of African and Asian Women to the Christological Debate (1982–2007), in: Studies in Interreligious Dialogue 19, 2009, 13–33; Elisabeth A. Johnson (Hg.), The Strength of Her Witness. Jesus Christ in the Global Voices of Women, Maryknoll, NY 2016 stellt noch einmal das Material der letzten Jahrzehnte zusammen. 38 Vgl. Volker Küster, Christian Art in Asia: Yesterday and Today, in: The Christian Story: Five Asian Artists Today, Museum of Biblical Art, New York und London 2007, 28–43; ders., Visual Arts in World Christianity, in: Wiley-Blackwell Companion to World Christianity, London 2016, 368–385. 39 Vgl. Volker Küster, Zwischen Pancasila und Fundamentalismus. Christliche Kunst in Indonesien, Leipzig 2016. 40 Die westlichen Wortführer der Lausanner Bewegung, Peter Beyerhaus und Billy Graham, dachten, mit dem Auszug aus dem Ökumenischen Weltrat der Kirchen aus Protest gegen ihrer Auffassung nach säkulare und sykretistische Tendenzen die Kontextualisierungsdiskussion hinter sich gelassen zu haben. Evangelikale aus der Dritten Welt widersprachen dem jedoch, Armut, kulturelle Vielfalt und religiöser Pluralismus sind Themen, denen sich auch die Lausanner Bewegung nicht dauerhaft entziehen konnte (vgl. Küster, Einführung, § 1). 41 Vgl. Rieger und Kwok, Occupy Religion.
Prolog: Jesus und die Kultur 1 Aus der Fülle der Jesusliteratur sei hier verwiesen auf: Christoph Burchard, Jesus von Nazareth, in: Jürgen Becker et al., Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart etc. 1987, 12–58; Gerd Theißen und Annette Merz, Der historische Jesus. Ein
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Lehrbuch, Göttingen 1996 [42011]; Eckart David Schmidt (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, Göttingen 2018; Jens Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig 62017; Jens Schröter und Christine Jacobi (Hgg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017; Angelika Strotmann, Der historische Jesus. Eine Einführung, Paderborn 32012; Klaus Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013; Werner Zager (Hg.), Jesusforschung in vier Jahrhunderten. Texte von den Anfängen historischer Kritik bis zur „dritten Frage“ nach dem historischen Jesus, Berlin und Boston 2014; Markus Sasse, Land und Leute z. Zt. Jesu. Sachinformationen und fachdidaktische Überlegungen, in: Religionspädagogische Hefte 2/2018, 1–11. 2 Je nachdem, ob die Chronologie der Synoptiker oder die des Johannesevangeliums zugrundegelegt wird. 3 Stephen Hultgren, Die Bildung und Sprache Jesu, in: Schröter und Jacobi, Jesus Handbuch, 219–227. Chris Keith, Jesus’ Literacy: Scribal Culture and the Teacher from Galilee, New York und London 2011. 4 Vgl. Theißen und Merz, Jesus 128 f. 5 Carsten Claußen und Jörg Frey (Hgg.), Jesus und die Archäologie Galiläas, NeukirchenVluyn, 2008. Gabriele Faßbeck et al. (Hgg.), Leben am See Gennesaret. Kulturgeschichtliche Entdeckungen in einer biblischen Region, Mainz 2003; Jürgen K. Zangenberg, Galiläa und Umgebung als Wirkungsraum, in: Schröter und Jacobi, Jesus Handbuch, 230–237. Jürgen Zangenberg und Jens Schröter, Bauern, Fischer und Propheten. Galiläa zur Zeit Jesu, Darmstadt 2012. 6 Vgl. Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart etc. 1995, 101–118; Theißen und Merz, Jesus, 163 f. Anders: James G. Crossley, Jesus im politischen und sozialen Umfeld seiner Zeit, in: Schröter und Jacobi, Jesus Handbuch, 252–262, im Anschluss an Morten H. Jensen, Herod Antipas in Galilee. The Literary and Archaeological Sources on the Reign of Herod Antipas and its Socio-Economic Impact on Galilee, Tübingen 2006. 7 Vgl. Jos Ant, 18,116–119; Jürgen Becker, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, Neukirchen-Vluyn 1972. 8 Vgl. Luise Schottroff und Wolfgang Stegemann, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen, Stuttgart etc. 21981; Wolfgang Stegemann, Das Evangelium und die Armen. Über den Ursprung der Theologie der Armen im Neuen Testament, München 1981. 9 Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis … Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, Gütersloh 21993 [engl. 1983], 144–204; Luise Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994. 10 Vgl. Wolfgang Stegemann, Lasset die Kinder zu mir kommen. Sozialgeschichtliche Aspekte des Kinderevangeliums, in: Willy Schottroff und Wolfgang Stegemann (Hgg.), Traditionen der Befreiung. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen. Band 1. Methodische Zugänge, München und Berlin 1980, 114–144. 11 Vgl. Theißen und Merz, Jesus, 256–284. 12 Fernando Bermejo-Rubio, Jesus and the Anti-Roman Resistance. A Reassessment of the Arguments, in: Journal for the Study of the Historical Jesus 12, 2014, 1–105.
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13 Vgl. Klaus Wengst, Pax Romana, Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986. 14 Vgl. Gerd Theißen, Das „schwankende Rohr“ (Mt 11,7) und die Gründungsmünzen von Tiberias, in: ders., Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 21992, 26–44. 15 Vgl. Volker Küster, Jesus und das Volk im Markusevangelium. Ein Beitrag zum interkulturellen Gespräch in der Exegese, Neukirchen-Vluyn 1996. 16 Christoph Burchard, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: ders., Studien zu Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 1998, 3–26. 17 Vgl. Gerd Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, München 31981. 18 Vgl. Theißen und Merz, Jesus, 132–138. 19 Vgl. Klaus Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 1990; Klaus Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 6, 1991, 215–242. 20 Vgl. Gerd Theißen, Die Geschichte von der syrophönikischen Frau und das tyrischgaliläische Grenzgebiet, in: ders., Lokalkolorit, 63–85. 21 Christoph Burchard, Zu Matthäus 8,5–13, in: ders., Studien, 65–76. 22 Christoph Burchard, Jesus für die Welt. Über das Verhältnis von Reich Gottes und Mission, in: ders., Studien, 51–64. 23 Vgl. Dieter Lührmann, Biographie des Gerechten als Evangelium. Vorstellungen zu einem Markuskommentar, in: Wort und Dienst 14, 1977, 25–50; Odil Hannes Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, Neukirchen-Vluyn 1967. 24 Vgl. Gerd Theißen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 21983, 142– 159, 157 f. 25 Vgl. Klaus Wengst, Ostern – Ein wirkliches Gleichnis, eine wahre Geschichte. Zum neutestamentlichen Zeugnis von der Auferweckung Jesu, München 1991. 26 Vgl. Ferdinand Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, NeukirchenVluyn 21965; Andreas Feldtkeller, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, Fribourg (CH) und Göttingen, 1993. 27 Siehe unten Epilog.
§ 1 Christologie und die Kultur 1 H. Richard Niebuhr, Christ and Culture, New York 1951 (zitiert nach der Taschenbuchausgabe von 1975). Vgl. Bert Hoedemaker, The Theology of H. Richard Niebuhr, Philadelphia 1970. Für die deutsche Theologie jener Jahre, die unter dem starken Einfluß Karl Barths und seiner Schule stand, waren Niebuhrs Gedanken unzeitgemäß. 2 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912, Tübingen 1994, Teilband II, 967 (Zitate ebd.).
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3 Vgl. Niebuhr, Christ and Culture, xif. 4 Vgl. John Hick, The Non-Absoluteness of Christianity, in: ders. und Paul F. Knitter (Hgg.), The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of Religions, Maryknoll, NY 1987, 16–36; Küster, Einführung, § 4. 5 Cyprian, Ep 73,21, in: Corpus scriptorium ecclesiasticorum Latinorum Vol. III, Pars II, 795: „Salus extra ecclesiam non est.“ 6 Vgl. Justin, Apol. I,44 u. ö.; dazu Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 2 1990, 100–103. 7 Karl Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: ders., Schriften zur Theologie V, Einsiedeln etc. 1962, 136–158. 8 Vgl. zum folgenden ausführlich Küster, Theologie im Kontext, 18–52. 9 Vgl. Anton Wessels, Europe: Was it Ever Really Christian? The interaction between gospel and culture, London 1994. 10 Vgl. Niebuhr, Christ and Culture, 116 f. 11 Küster, Einführung, 24 und 136. 12 Siehe unten M. M. Thomas (§ 7) und Kosuke Koyama (§ 9). 13 Erste Ausreise gemeinsam mit seiner Frau Helen im September 1936. 14 Vgl. Lesslie Newbigin, The Other Side of 1984. Questions for the Churches, Genf 1983 (dt. ders., Salz der Erde?! Fragen an die Kirchen heute, Neukirchen-Vluyn 1985); ders., Foolishness to the Greeks. The Gospel and Western Culture, Genf 1986 (dt. ders., „Den Griechen eine Torheit.“ Das Evangelium und unsere westliche Kultur, Neukirchen-Vluyn 1989); ders., The Gospel in a Pluralist Society, Grand Rapids und Genf 1989; ders., Truth to Tell. The Gospel as Public Truth, Grand Rapids und Genf 1991; eine gute Zusammenfassung ist ders., Das Evangelium und Wahrheit, in: Das Evangelium in unserer pluralistischen Gesellschaft, Hamburg 1995, 55–60; kritisch dazu Werner Ustorf, A Partisan’s View. Lesslie Newbigin’s Critique of Modernity, in: ders., Christianized Africa – De-Christianized Europe? Missionary Inquiries into the Policentric Epoch of Christian History, Ammersbek bei Hamburg 1992, 107–117. 15 Vgl. Lesslie Newbigin, Unfinished Agenda. An Autobiography, Genf 1985. 16 Newbigin, The Other Side (Seitenangaben im Text). 17 Newbegin, Das Evangelium und Wahrheit, 58. 18 Vgl. Newbigin, Truth to Tell. 19 Newbegin, Das Evangelium und Wahrheit, 55. 20 Ebd. 21 Newbigin, Truth to Tell, 56. 22 Michael Welker, Der missionarische Auftrag der Kirchen in pluralistischen und multireligiösen Kontexten, in: Missionarische Kirche im multireligiösen Kontext, Hamburg 1996, 47–64, 50 definiert den Pluralismus als „eine hochentwickelte Form sozialen, kulturellen und religiösen Zusammenlebens“. Mit diesem systemischen Verständnis grenzt er sich gegen drei Negativ-Definitionen ab: Pluralismus ist weder Relativismus, noch Individualismus und auch kein Egoismus (aaO., 50 f.). Gegen einen „Pluralismus der Beliebigkeit“ wendet sich auch Eilert Herms, Pluralismus aus Prinzip, in: ders., Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, 467–485.
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Wilfried Härle, Aus dem Heiligen Geist. Positioneller Pluralismus als christliche Konsequenz, in: Die Zeichen der Zeit. Lutherische Monatshefte 1, 7/1998, 21–24, spricht in diesem Zusammenhang von einem „positionellen Pluralismus“. Theo Sundermeier, Pluralismus, Fundamentalismus, Koinonia, in: Evangelische Theologie 54, 1994, 239–310, setzt dem „prinzipiellen Pluralismus der Postmoderne“ einen „konnektiven Pluralismus“ entgegen (304). Vgl. Christoph Schwöbel et al., Art. Pluralismus, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 26, Berlin und New York 1996, 717–742. Der Pluralismus ist zunächst einmal eine Gegebenheit, die empirisch beschreibbar ist. Er verführt zu Missbrauch im Sinne eines „anything goes“, eröffnet dem spätmodernen Menschen bei verantwortungsbewusstem Umgang aber auch ungekannte Entfaltungsmöglichkeiten. Die Angst gegenüber dieser „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) ist groß und lässt viele in den Fundamentalismus als der vermeintlich einfacheren Lösung fliehen. Hier Orientierung zu geben, Normen bereitzustellen und auch ein Stück Gegengesellschaft vorzuleben, ist die große Herausforderung an die christlichen Kirchen (vgl. Michael Welker, Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995). Dabei eignet sich der christliche Glaube selbst in mehrfacher Hinsicht als Modell des Pluralismus. Schon der Kanon der biblischen Schriften ist in sich pluralistisch (vgl. Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 1960, 214–223). Die Gotteslehre spricht von der Dreifaltigkeit Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Schließlich ist auch die globale Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft der Christenheit ein in sich plurales Gebilde verschiedener Konfessionen, Denominationen und Gruppen, die den breiten Strom der Tradition bewahren und weiter generieren. 23 Einen Weggefährten hat Newbigin in dem Gambier Lamin Sanneh (1942–2019) gefunden (vgl. ders., Theologische Reflexionen zu einer Missionslehre und westlicher Kultur, in: Das Evangelium in unserer pluralistischen Gesellschaft, 8–18). Der gebürtige Muslim konvertierte achtzehnjährig zum Christentum. Er studierte Geschichte und Islamwissenschaften in den USA, Großbritannien und im Nahen Osten. Nach Berater- und Lehrtätigkeit in Afrika lehrte er zunächst in Harvard, seit 1989 dann als Professor für Mission und Weltchristenheit in Yale. Bei Sanneh bekommt der Duktus der Argumentation einen postkolonialen Einschlag. Das westliche Christentum ist dekadent geworden, während die Christenheit in der Dritten Welt vital ist und wächst (Reflexionen, 17). Sanneh hebt stärker noch als Newbigin auf Sitte und Moral ab: „Die Perfektion des technischen Apparates hat mit unerschütterlicher und unerbittlicher Gewißheit unsere Kontrolle über Institutionen, persönlicher und öffentlicher Art, und über den Weltraum ausgedehnt, während unsere Erkenntnis der sittlichen Wahrheit schwach und ungewiß geworden ist. […] Im gegenwärtigen fortgeschrittenen Zustand der Ablehnung der Religion als unwissenschaftlich steht die Gesellschaft diesen epochemachenden Herausforderungen mit einem Dahinschwinden entsprechender moralischer Ressourcen gegenüber, die nötig wären, um sich ihnen zu stellen“ (Reflexionen, 17 f.). Ansonsten sind die Argumente austauschbar. Vgl. Lamin Sanneh, West African Christianity. The Religious Impact, Maryknoll, NY 1983; ders., Translating the Message. The missionary impact on culture, Maryknoll, NY 1989 [überarbeitete Neuauflage 2015]; ders., Encountering the West. Christianity and the Global Cultural Process. The African Dimension, Maryknoll, NY 1993; ders., Whose Religion is Christianity?, Grand Rapids 2003; dazu Martha Frederiks, Congruency, Conflict or Dialogue. Lamin Sanneh on the relation between gospel and culture, in: Exchange 24, 1995, 123–134.
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24 Vgl. John C. England, The Hidden History of Christianity in Asia. The Churches of the East Before 1500, Dehli 1996. 25 Vgl. Horst Rzepkowski, Art.: Ritenstreit, in: ders., Lexikon der Mission. Geschichte, Theologie, Ethnologie, Graz etc. 1992, 366–368. 26 Vgl. Matteo Ricci, The true Meaning of the Lord of Heaven, St. Louis 1985. 27 Die vier Veden sind die ältesten Heiligen Schriften der Hindus. 28 Vgl. Thomas Ohm, Neuer Wein in neuen Schläuchen, in: ders., Ex Contemplatione Loqui. Gesammelte Aufsätze, Münster 1961, 150–172, 150: „Mit Akkommodation meine ich dabei die bewußte und planmäßige Anpassung der Kirche und ihrer Lebensäußerungen an die Völker in den Missionsländern, mit Assimilation die Übernahme des bei diesen Völkern vorhandenen Wahren, Wertvollen, Edlen und Schönen in den Schatz der Kirche und mit Transformation eine besondere Form der Assimilation, nämlich jene, mit der eine Umformung des Assimilierten verbunden ist, eine Umformung, welche das Assimilierte für eine Verwendung seitens der Kirche und in der Kirche geeignet macht.“ 29 Vgl. Johannes Christian Hoekendijk, Kirche und Volk in der deutschen Missionswissenschaft, München 1967; Hans-Werner Gensichen, Kirche und Volk in der Mission, in: ders., Mission und Kultur. Gesammelte Aufsätze, München 1985, 71–81. 30 Vgl. Shoki Coe, Contextualizing Theology, in: Mission Trends 3. Third World Theologies, Gerald H. Anderson et al. (Hgg.), Toronto und Grand Rapids 1976, 19–24. 31 Vgl. Charles H. Kraft, Christianity in Culture. A Study in Dynamic Biblical Theologizing in Cross-Cultural Perspective, Maryknoll, NY 1979, 261–275. 32 Die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ wurde als erster Konzilstext diskutiert (1962) und verkündet (1963). Vgl. Karl Rahner und Herbert Vorgrimler (Hgg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg im Br. etc. 231991, 37–90. 33 Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 3. 34 Gaudium et Spes, Art. 53, in: Rahner und Vorgrimler, Konzilskompendium, 506 f. 35 Vgl. Ari Roest Crollius, Inculturation and Incarnation. On Speaking of the Christian Faith and the Cultures of Humanity, in: Bulletin Secretariatus pro non Christianis 13, 1978, 134–140. 36 Vgl. Theo Sundermeier, Inkulturation und Synkretismus. Probleme einer Verhältnisbestimmung, in: Evangelische Theologie 52, 1992, 192–209, 195 f.; Hans Waldenfels, Das „Kenotische“ als Grundzug missionarischer Kommunikation, in: ders. (Hg.), „… denn ich bin bei Euch“ (Mt 28,20). Perspektiven im christlichen Missionsbewußtsein heute (FS Josef Glazik und Bernward Willeke), Zürich etc. 1978, 327–338. 37 Vgl. Enzyklika Redemptoris Missio Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. über die fortdauernde Gültigkeit des missionarischen Auftrages, 7. Dezember 1990, Bonn o. J., Abschnitte 52 f. vgl. 17. 38 Während Theo Sundermeier, Inkulturation und Synkretismus, 194, Inkulturation als Oberbegriff vorschlägt, spricht Deane William Ferm, Third World Liberation Theologies. An Introductory Survey, Maryknoll, NY 1986, im Hinblick auf die Theologien der Dritten Welt durchgängig von Befreiungstheologien. 39 Vgl. Ministry in Context. The Third Mandate Programme of the Theological Education Fund (1970–1977), Bromley 1972; Learning in Context. The Search for Innovative Patterns in Theological Education, Bromley 1973.
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276 Anmerkungen
40 Vgl. Volker Küster, Models of Contextual Hermeneutics: Liberation and Feminist Theological Approaches compared, in: Exchange 23, 1994, 149–162; ders., Theologie im Kontext, 39–52; ders., Text und Kontext. Zur Systematik kontextueller Hermeneutik, in: Der Text im Kontext. Die Bibel mit anderen Augen gelesen, Hamburg 1998, 130–143; ders., Einführung, § 2. 41 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986; Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (GW 1), Tübingen 61990; ders., Vom Zirkel des Verstehens, in: ders., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Tübingen 1986, 57–65. 42 Hier liegt mein Grunddissens mit Dietrich Ritschl (1929–2018), den dieser in seiner Rezension meines Buches „Theologie im Kontext“ (ders., Der Kontext als Chance und Problem, in: Ökumenische Rundschau 46, 1997, 247–249), noch einmal ebenso deutlich benannt hat. Ich bin mit Ritschl durchaus darin einig, dass die jeweiligen kontextuellen Theologien als alleiniger Grund, auf dem „Pfarrer und Pfarrerinnen ausgebildet und Gemeinden orientiert und genährt werden könnten“, nicht tragfähig wären (aaO., 249). Aber ohne sie bleibt die theologische Ausbildung in den betreffenden Kontexten eben defizitär. Um beim koreanischen Beispiel zu bleiben: Die Ignoranz vieler theologischer Lehrer gegenüber der gesellschaftlichen Situation, in der die jungen Theologen und Theologinnen das Evangelium verkündigen sollten, zu erleben, war ebenso beklemmend, wie ihre völlige Unkenntnis der eigenen kulturell-religiösen Tradition. 43 Schlußerklärung der Gründungsversammlung der EATWOT in Daressalam, Tansania 1976, zitiert nach: Herausgefordert durch die Armen, 43 f. (siehe oben Einleitung). 44 Siehe unten § 2 (2.). 45 Siehe oben § 1.1. 46 Juan Luis Segundo, The Liberation of Theology, Maryknoll, NY 1976; Elisabeth Schüssler Fiorenza, Toward a Feminist Biblical Hermeutics: Biblical Interpretation and Liberation Theology, in: The Challenge of Liberation Theology. A First World Response, Brian Mahan und L. Dale Richesin (Hgg.), Maryknoll, NY 1981, 91–112; Musimbi Kanyoro, Introducing Feminist Cultural Hermeneutics. An African Perspective, London 2002. 47 Vgl. Kwok Pui-Lan, Interpretation als Dialog. Eine biblische Hermeneutik aus Asien, Luzern 1996; dies., Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville 2005; zum Ganzen Küster, Einführung, § 2. 48 Vgl. Albrecht Grözinger, Erzählen und Handeln. Studien zu einer trinitarischen Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1989; Francis Schüssler Fiorenza, Die Kirche als Interpretationsgemeinschaft. Politische Theologie zwischen Diskursethik und hermeneutischer Rekonstruktion, in: Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns, Edmund Arens (Hg.), Düsseldorf 1989, 115–144. 49 Vgl. David Tracy, Theologie als Gespräch. Eine postmoderne Hermeneutik, Mainz 1993. 50 Siehe unten § 2 (2.).
§ 2 Christologie im Kontext – Christologie interkulturell 1 Walter Kasper, Christologie von unten? Kritik und Neuansatz gegenwärtiger Christologie, in: Grundfragen der Christologie heute, Leo Scheffczyk (Hg.), Freiburg im Br. etc. 1975, 141–170, 145.
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Anmerkungen 277
2 Vgl. etwa Luthers Weihnachtspredigt von 1530 (WA 29, 642–656). 3 WA 1, 353–374; ich zitiere nach Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 1, Kurt Aland (Hg.), Stuttgart und Göttingen 1969, 379–394 (nähere Angaben im Text). 4 Vgl. Max Seidel, Der Isenheimer Altar von Mathis Grünewald, Stuttgart und Zürich 1990; Theo Sundermeier, Luthers Kreuzestheologie. Ist eine kontextuelle Theologie universalisierbar?, in: ders., Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft, Erlangen 1995, 223–235. 5 Ich verwende den Begriff hier neutral und nicht polemisch wie Luther in seiner Kritik an der Theologie seiner Zeit. 6 Orthodoxer Ehrentitel für Maria, die Mutter Gottes (=„Allheilige“). 7 Ähnliche Gedanken erwägt Dietrich Ritschl. Während er sich jedoch der analytischen Methode verpflichtet weiß (ders., Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984, 68–71), versuche ich, die hermeneutische Methode weiterzuentwickeln. Ich gehe davon aus, daß die Texte die Themen evozieren, Ritschl fragt nach den impliziten Axiomen hinter den Texten, die unser Denken steuern. Die story ist für Ritschl lediglich das Rohmaterial der Theologie, für mich sind die biblischen Geschichten und die Erfahrungen der Menschen mit Gott dem Dreieinigen ihr konstitutiver Bestandteil. Hier kommt wieder das bereits benannte unterschiedliche Theologieverständnis ins Spiel (siehe oben § 1.1). Vgl. Dietrich Ritschl und Hugh O. Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976, 7–41; ders., Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: ders., Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München 1986, 147–166; ders., The Regulatory Function of Implicit Axioms in Thought and Action, in: Interdisziplinary Science Reviews 11, 1986, 136–140; ders., The Search for Implicit Axioms behind Doctrinal Texts, in: Gregorianum 74, 1993, 207–221. 8 Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 31985 (Seitenangaben im Text); ders., Philosophie der Geschichten, Frankfurt a. M. 2 1981. 9 Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek bei Hamburg 1990 [1970]. Vgl. ders., Erziehung als Praxis der Freiheit, Stuttgart und Berlin 1974; ders. und Frei Betto, Schule, die Leben heißt. Befreiungstheologie konkret. Ein Gespräch, München 1986; Dimas Figueroa, Paulo Freire zur Einführung, Hamburg 1989; Werner Simpfendörfer, Paulo Freire. Erziehung als Praxis der Freiheit, in: ders., Ökumenische Spurensuche. Porträts, Stuttgart 1989, 143–163. 10 Freire, Erziehung, 58. 11 Freire, Pädagogik, 57. 12 Freire, Pädagogik, 35. 13 Vgl. Freire, Pädagogik, 84, Anm. 19. 14 Freire, Erziehung, 68. 15 Freire, Erziehung, 100–103. Siehe unten § 9 zu Kosuke Koyama. 16 Freire, Pädagogik, 101. 17 Hier besteht eine gewisse Nähe zu dem ebenfalls der Phänomenologie verpflichteten Wilhelm Schapp.
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18 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993. 19 Der von dem katholischen Pastoraltheologen Adolf Exeler in den 1970er-Jahren propagierten „Vergleichenden Theologie“ fehlt diese fundamentaltheologische Dimension der interkulturellen Theologie. Sie ist zunächst rein empirisch ausgerichtet. Vgl. ders., Vergleichende Theologie statt Missionswissenschaft?, in: Waldenfels, „… denn ich bin bei Euch“, 199–211; ders., Wege einer vergleichenden Pastoral, in: Evangelisation in der Dritten Welt. Anstöße für Europa, Ludwig Bertsch und Felix Schlösser (Hgg.), Freiburg im Br. etc. 21987, 92–121. Vgl. Giancarlo Collet, Bekehrung – Vergleich – Anerkennung. Die Stellung des Anderen im Selbstverständnis der Missionswissenschaft, in: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 77, 1993, 202–215. Inzwischen hat vor allem in den USA die komparative Theologie von Francis X. Clooney Popularität erlangt. Sie ist letztendlich eine Art Apologetik in guter jesuitischer Tradition. Francis X. Clooney, Komparative Theologie. Eingehendes Lernen über religiöse Grenzen hinweg, Paderborn etc. 2013; dazu Küster, Einführung, 285–292.
§ 3 Historische Rekonstruktion: Der christologische Diskurs zu Zeiten der Conquista 1 Vgl. das Buch gleichlautenden Titels von Leonardo Boff, Gott kam früher als der Missionar, Düsseldorf 1991. 2 Vgl. John A. Mackay, The Other Spanish Christ. A Study in the Spiritual History of Spain and South America, New York 1932; Saúl Trinidad, Christologie – Conquista – Kolonisierung, in: Giancarlo Collet (Hg.), Der Christus der Armen. Das Christuszeugnis der lateinamerikanischen Befreiungstheologen, Freiburg im Br. etc. 1988, 23–36; Maximiliano Salinas, in: Riolando Azzi et al., Theologiegeschichte der Dritten Welt. Lateinamerika, Gütersloh 1993, 65 f. 3 Miguel de Unamuno zit. bei Trinidad, Christologie, 24. Ich habe die Übersetzung „Kadaver Christus“ abgeändert in „Leichnam Christi“; Auslassungen schon im Zitat bei Trinidad. 4 Vgl. Trinidad, Christologie, 29 f. 5 Vgl. Jon Sobrino, Christology at the Crossroads. A Latin American View, London 41987 (Maryknoll, NY 1978; span. 1976), 180; Giancarlo Collet, Im Armen Christus begegnen. Einleitung, in: ders., Der Christus der Armen, 7–22, 17 f.; Trinidad, Christologie, 33. 6 Vgl. Bartolomé de Las Casas. Werkauswahl, 3 Bde, Mariano Delgado (Hg.), Paderborn etc. 1994–1997, darin: Mariano Delgado, Bartolomé de Las Casas (1484–1566). Weg, Werk und Wirkung oder Vom Nutzen mystisch-politischer Nachfolge in Krisenzeiten, Bd. 1, 11– 34; Martin Neumann, Las Casas. Die unglaubliche Geschichte von der Entdeckung der Neuen Welt, Freiburg i. Br. etc. 1990; Matthias Gillner, Bartolomé de Las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents. Das friedensethische Profil eines weltgeschichtlichen Umbruchs aus der Perspektive eines Anwalts der Unterdrückten, Stuttgart etc. 1997. 7 Vgl. Gustavo Gutiérrez, Gott oder das Gold. Der befreiende Weg des Bartolomé de Las Casas, Freiburg im Br. etc. 1990; ders., Auf der Suche nach den Armen Jesu Christi. Evangelisierung und Theologie im 16. Jahrhundert, in: Collet, Der Christus der Armen, 37–56. Gutiérrez hat in Rímac, dem Slum von Lima, wo er seit vielen Jahren als Priester tätig ist, ein Bartolomé-de-Las-Casas-Zentrum eingerichtet, mit kleiner Bibliothek und Konferenzraum.
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Anmerkungen 279
8 Zitiert nach Gutiérrez, Auf der Suche, 40. 9 Zitiert nach Gutiérrez, Auf der Suche, 53. 10 Zitiert nach Martin Neumann, Las Casas. Die unglaubliche Geschichte von der Entdeckung der Neuen Welt, Freiburg 1990, 91 f.
§ 4 Christopraxis in der Nachfolge Jesu 1 Bereits 1971 in Peru erschienen; 1972 dann in Salamanca (Spanien); engl. Maryknoll, NY 1973; dt. München und Mainz 1973. Ich zitiere nach der dt. Ausgabe 81985. 2 Vgl. Robert McAfee Brown, Gustavo Gutiérrez. An Introduction to Liberation Theology, Maryknoll, NY 1990. 3 Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 2. 4 Vgl. Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 4 Anm. 1; engl. jetzt ders., Toward a Theology of Liberation, in: Alfred T. Hennelly (Hg.), Liberation Theology. A Documentary History, Maryknoll, NY 1990, 62–76. 5 Vgl. Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellin und Puebla (Stimmen der Weltkirche 8), Bonn o. J. 6 Vgl. Leonardo Boff, Jesus Christ Liberator. A Critical Christology of our Time, London 7 1990 [1978], 134–138. 7 Zunächst 1971 in Aufsatzform in 10 Folgen in der Zeitschrift Grande Sinal veröffentlicht (vgl. Leonardo Boff, Jesus Christus, der Befreier, Freiburg im Br. etc. 1986, 9), brachte das Verlagshaus Vozes, dem L. Boff eng verbunden ist, es 1972 als Buch heraus. Ich zitiere nach der englischen Ausgabe Leonardo Boff, Jesus Christ Liberator. In Deutschland erschien unter dem Titel „Jesus Christus, der Befreier“ 1986 bei Herder ein Sammelwerk, das neben dem Buch ursprünglichen Titels noch zwei spätere Werke sowie einen kürzeren Textauszug umfasst. Es handelt sich dabei um „Leiden Christi, Leiden der Welt“ (port. Petrópolis 1977; 2. Aufl. 1978), „Die Auferstehung Christi – Unsere Auferstehung im Tod“ (port. Petrópolis 1972; 6. Aufl. 1983), sowie einen Auszug aus dem Band „Der Glaube an der Peripherie der Welt“ (port. Petrópolis 1978, 3. Aufl. 1983) als Schlußteil. Die deutsche Übersetzung enthält gegenüber der englischen Ausgabe einige Umstellungen: Der zeitlich später datierende Epilog steht jetzt am Anfang, die beiden ursprünglichen Einleitungskapitel wurden in Form eines Anhangs an den Schluß gerückt. Eine Neuausgabe gleichen Titels in Taschenbuchform von 1993, die einen Verschnitt des Sammelbandes bietet, macht die Verwirrung endgültig komplett. 8 Enrique Dussel, in: Theologiegeschichte der Dritten Welt. Lateinamerika, 308, rechnet Boff bereits der 2. Generation zu. Diese Einteilung erscheint mir jedoch wenig plausibel. Ich setze die Generationsgrenze wesentlich später an. 9 Vgl. Horst Goldstein, Leonardo Boff. Zwischen Poesie und Politik, Mainz 1994, 37. 10 Vgl. Boff, Jesus Christ, xii. 11 Vgl. Boff, Jesus Christ, 43. 12 Dussel, Theologiegeschichte der Dritten Welt. Lateinamerika, 315, rechnet auch Sobrino der 2. Generation zu. Er bezeichnet ihn als „neues Gesicht“. 13 Ich zitiere nach der englischen Ausgabe Sobrino, Christology at the Crossroads; eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor; deutsch jetzt aber Jon Sobrino, Christologie der Befreiung, Mainz 1998; ders., Der Glaube an Jesus Christus, Mainz 2008. Vgl. Sturla J. Stalsett,
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The crucified and the Crucified. A Study in the Liberation Christology of Jon Sobrino, Frankfurt a. M. etc. 2003. 14 Es geht mir dabei weniger um eine Gesamtdarstellung der Christologien der beiden Autoren als vielmehr um ihren christologischen Impuls für die Befreiungstheologien, der hier in seiner Ursprünglichkeit zutage tritt. Boff hat später viele Anregungen moderner Christologien aufgenommen, die dieses Pathos in den Hintergrund treten ließen. Vgl. Antonio Carlos de Melo Magalhães, Christologie und Nachfolge. Eine systematisch-ökumenische Untersuchung zur Befreiungschristologie bei Leonardo Boff und Jon Sobrino, Ammersbek bei Hamburg 1991; ferner die zeitlich später anzusiedelnde ambitionierte fünfbändige Christologie von Juan Luis Segundo „Jesus von Nazareth gestern und heute“ (Jesus of Nazareth Yesterday and Today, Maryknoll, NY etc. 1984–1988 [span. 1982]). 15 Vgl. Deane William Ferm, Leonardo Boff, in: ders., Profiles in Liberation. 36 Portraits of Third World Theologians, Mystic, Connecticut 1988, 124–128; Joao Batista Libanio und Andreas Müller, „Mysterium Liberationis“: Leonardo Boff, Brasilien, in: Hans Waldenfels (Hg.), Theologen der Dritten Welt. Elf biographische Skizzen aus Afrika, Asien und Lateinamerika, München 1982, 30–42; Horst Goldstein, Leonardo Boff. 16 Vgl. Clodovis Boff, Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie der Befreiung, München und Mainz 21984. 17 Leonardo Boff, Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung. Versuch einer strukturfunktionalistischen Grundlegung im Hinblick auf das II. Vatikanische Konzil, Paderborn 1972. 18 Vgl. Ferm, Leonardo Boff, 125 f. 19 Vgl. Der Fall Boff. Eine Dokumentation, Brasilianische Bewegung für die Menschenrechte (Hg.), Düsseldorf 1986. 20 Vgl. Goldstein, Leonardo Boff, 57. 21 Vgl. Deane William Ferm, Jon Sobrino, in: ders., Profiles in Liberation, 184–188. 22 Jon Sobrino, El significado de la cruz e de la ressurection en las theologias de Jürgen Moltmann y Wolfhart Pannenberg (span.), Diss. masch., Frankfurt a. M. 1970. 23 Den Seitenangaben im Text sind Sigilla zur Unterscheidung der Werke von Boff (= B) und Sobrino (= S) beigegeben. Die Belegstellen sind nach ihrer Signifikanz ausgewählt, Vollständigkeit ist nicht angestrebt. 24 Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Düsseldorf 21985. 25 Siehe unten § 10–12. 26 Im Vorwort zur englischen Ausgabe, xxi; implizit in der Einleitung (S. 12–14; vgl. 110). 27 In den theologischen Diskursen in Asien ebenso wie in denen der Frauen sind Jesulogie und Christologie demgegenüber oft noch weiter auseinandergedriftet (siehe unten § 7, 8 und 13). 28 Vgl. Hermann Brandt, Gottes Gegenwart in Lateinamerika. Inkarnation als Leitmotiv der Befreiungstheologie, Hamburg 1992. 29 Sobrino macht dies im Vorwort zur englischen Ausgabe explizit (aaO., xx.xxv). 30 Ich verwende den Begriff „kontrafaktisch“ im Sinne einer göttlichen Realität, die die Lebenswirklichkeit der Menschen transzendiert. 31 Ignacio Ellacuría, Das Gekreuzigte Volk, in: ders. und Jon Sobrino (Hgg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 2, Luzern 1996, 823–850 (Seitenangaben im Text).
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32 Vgl. ähnliche Gedanken in der Christologie von Frauen (siehe unten § 13). 33 Jon Sobrino, The Witness of the Church in Latin America, in: Sergio Torres und John Eagleson (Hgg.), The Challenge of Basic Christian Communities, Maryknoll, NY 1981, 161– 188, 176: „Hier können wir von einem ‚materialen‘ Martyrium sprechen, da die Opfer oft sterben, ohne zu realisieren, warum sie sterben oder was sie mit ihrem Tod bezeugen.“ 34 Luther, Heidelberger Disputation, Beweisführung zu These XXI (Weimarer Ausgabe 1, 362). 35 Vgl. Luther, Heidelberger Disputation, These XXI. 36 Vgl. die korporative Kreuzestheologie der Minjung-Theologie (siehe unten § 11).
§ 5 Modelle afrikanischer Christologie 1 In Abgrenzung zur südafrikanischen Variante der Befreiungstheologie, der sogenannten Schwarzen Theologie (siehe § 10), fasse ich die Selbstprädikation „Afrikanische“ Theologie als zweiteiligen Fachterminus auf. 2 John S. Mbiti, Afrikanische Beiträge zur Christologie, in: Theologische Stimmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika III, Georg F. Vicedom (Hg.), München 1968, 72–85 (Seitenangaben im Text). 3 Charles Nyamiti, African Christologies Today, in: Robert J. Schreiter (Hg.), Faces of Jesus in Afrika, London 1992, 3–23, 3 (Erstabdruck in: J. N. K. Mugambi und Laurenti Magesa [Hgg.], Jesus in African Christianity. Experimentation and Diversity in African Christology, Nairobi 1989, 17–39). 4 Harold W. Turner, Profile through Preaching, London 1965; vgl. Kofi Appiah-Kubi, Christology, in: John Parratt (Hg.), A Reader in African Christian Theology, London 1987, 69–79 (Genf 1976). 5 Die Afrikanischen Unabhängigen Kirchen (AUK) sind aus einer Begegnung mit bzw. einer Abspaltung von den Missionskirchen entstanden. Ihre Gründer waren afrikanische Prophetengestalten. Vgl. Hans-Jürgen Becken, Wo der Glaube noch jung ist. Afrikanische Unabhängige Kirchen im Südlichen Afrika, Erlangen 1985, 11: „Die AUK möchten eine afrikanische Antwort auf die christliche Botschaft geben und unter afrikanischer Leitung ihr kirchliches Leben nach afrikanischen Formen und Denkweisen selbst gestalten.“ 6 Vgl. Werner A. Wienecke, Die Bedeutung der Zeit in Afrika in den traditionellen Religionen und in der missionarischen Verkündigung, Frankfurt a. M. etc. 1992; Bénézet Bujo, Der afrikanische Ahnenkult und die christliche Verkündigung, in: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 64, 1980, 293–306, 296; ders., Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontext, Düsseldorf 1986, 32–37. 7 Vgl. John Mbiti, ὃ σωτὴϱ ἡμῶν as an African experience, in: Christ and Spirit in the New Testament, Barnabas Lindars und Stephen S. Smalley (Hgg.), Cambridge 1973, 397– 414; ders., Some Reflections on African Experience of Salvation Today, in: Living Faiths and Ultimate Goals. A continuing dialogue, Stanley J. Samartha (Hg.), Genf 1975, 108–119. 8 Weniger plausibel erscheinen mir Nyamitis weitere Untergliederungsversuche. Die Unterscheidung zwischen solchen Inkulturationstheologien, die aus der Perspektive der Bibel die afrikanische Realität in den Blick nehmen („From the Bible to African Reality“) und solchen, die ihren Anhalt gerade in dieser Realität haben und von dort aus eine Christologie entwerfen („From African Reality to Christology“), ist in höchstem Maße willkürlich. Hier ist vielmehr mit einem dialektischen Prozeß zu rechnen. Auch Nyamitis Prognose, dass sich neben der südafrikanischen Schwarzen Theologie eine afrikanische Befreiungs-
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theologie etablieren werde, ‚die aufgrund ihrer breiteren Perspektive eine vielversprechendere Zukunft habe‘ (13; vgl. Bénézet Bujo, Afrikanische Theologie, 19), hat sich nicht erfüllt. Die von ihm hier subsumierte afrikanische feministische Theologie etwa schöpft aus beiden Traditionsströmen und geht eigene Wege (vgl. Strahm, Vom Rand in die Mitte, 151–269; Oduyoye, Introducing African Women’s Theology). 9 Meiner Darstellung der Modelle Afrikanischer Christologie lege ich die Dokumentation eines Symposiums mit Beiträgen aus dem frankophonen Afrika zugrunde, das zu Beginn der 1980er-Jahre in Paris stattfand. Die Franzosen Joseph Doré und René Luneau hatten zunächst einige afrikanische Doktoranden in Paris konsultiert, unter ihnen war mit François Kabasélé aus Zaire bereits einer der späteren Hauptredner der Konferenz. Diese Gruppe stellte ein Repertoire an Themen zusammen und sprach eine Anzahl bis dahin weithin unbekannter afrikanischer Theologen gezielt als Referenten an. Der in der Reihe Jésus et Jésus-Christ erschienene Tagungsband erfuhr eine große Verbreitung. Vgl. Chemins de la Christologie Africaine, François Kabasélé et al. (Hgg.), Paris 1986; im Deutschen wurde der Band gekürzt um drei Beiträge vom Missionswissenschaftlichen Institut Missio in Aachen herausgebracht: Der schwarze Christus. Wege afrikanischer Christologie, Freiburg im Br. etc. 1989; für den englischsprachigen Bereich legte Robert Schreiter mit Faces of Jesus in Africa (1991) eine Anthologie vor, die neben den zentralen Texten des französischen Bandes auch auf eine in Afrika erschienene Sammlung zurückgreift (Mugambi und Magesa, Jesus in African Christianity). Ergänzend ziehe ich jeweils auch die von Nyamiti referierten Autoren heran. 10 Ukachukwu Chris Manus, Christ the African King. New Testament Christology, Frankfurt a. M. 1993 untersucht mit der Anrede Jesu Christi als König eine Variante der Häuptlingstitulatur, wenn er den neutestamentlichen Textbefund mit der afrikanischen Königstradition ins Gespräch bringt. 11 François Kabasélé, Christus als Häuptling, in: Der Schwarze Christus, 57–72 (Seitenangaben im Text). 12 Die Luba aus Südzaire werden zu den Bantu-Völkern gerechnet. 13 Siehe oben § 1.2. 14 Bantu (dt. Menschen) ist eine Sammelbezeichnung für eine große Gruppe sprachverwandter Völker und Stämme im mittleren und südlichen Afrika. Die ca. 100 Mio. Menschen bilden keine ethnische oder kulturelle Einheit. 15 Der anglikanische Theologe John S. Pobee, Grundlinien einer afrikanischen Theologie, Göttingen 1981, 91 aus Ghana tituliert Jesus als Nana, in der Sprache seines Akan-Stammes die Bezeichnung für die Ahnen und das höchste Wesen. Das höchste Wesen wird zugleich als Oberhäuptling gedacht, dem sich alle Häuptlinge als seine Repräsentanten unterordnen. „In unserer Akan-Christologie sollten wir an Jesus als den der Sprache mächtigen denken, der in allen öffentlichen Angelegenheiten als Häuptling, Gott, auftrat und der der oberste Beamte des Staates ist – in diesem Fall der Welt“ (aaO., 93). 16 Schon der Xhosa Ntsikana aus Südafrika (gest. 1821) preist in seinem großen Hymnus Gott wie einen Häuptling. Er spricht ihn dabei direkt an. In den knappen christologischen Versen, die ohne die Nennung des Namens Jesu Christi auskommen, rezipiert Ntsikana die traditionelle Opfertheologie. Vgl. Theo Sundermeier, Erstgestalten afrikanischer Theologie, in: ders., Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft, Erlangen 1995, 126–151, 126–134.
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17 Vgl. Anselme Titianma Sanon, Jesus, Meister der Initiation, in: Der schwarze Christus, 87–107; ders., Das Evangelium verwurzeln. Glaubenserschließung im Raum afrikanischer Stammesinitiationen, Freiburg im Br. etc. 1985, bes. 106–148. 18 Vgl. Sanon, Evangelium, 85. 19 Sanon, Evangelium, 125. 20 Vgl. Sanon, Evangelium, 108 f. 21 Vgl. Engelbert Mveng, Christus der Initiationsmeister, in: Theo Sundermeier (Hg.), Zwischen Kultur und Politik. Texte zur afrikanischen und zur Schwarzen Theologie, Hamburg 1978, 78–81, 79: „Wenn der Afrikaner Jesus Christus begegnet, sieht er in ihm den Sohn Gottes, den Herrn über Leben und Tod, den Einen, der durch sein Leben, seine Lehre, seine Wunder, sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung für den Menschen der oberste Meister der Initiation ist. Er ist für den Afrikaner der Eine, der die letzte Wahrheit vom Sinn des Lebens und des Todes kennt, der Eine, der den endgültigen Sieg des Lebens über den Tod bringt“. 22 Sanon, Evangelium, 117. 23 Sanon, Evangelium, 111 f. 24 Sanon, Jesus, 99. 25 Harry Sawyerr, Creative Evangelism. Towards a New Christian Encounter with Africa, London 1968, 72 f. hat vorgeschlagen, Christus als den älteren Bruder anzusprechen; Charles Nyamiti spricht vom „Bruderahn“ (siehe unten § 6.1). 26 Vgl. Sanon, Evangelium, 125: „Initiiert werden heißt dann, eintreten in Christi eigene Initiation und teilnehmen an seinen Prüfungen.“ 27 Vgl. Bujo, Afrikanische Theologie, 99. 28 Sanon, Evangelium, 118. 29 Sanon, Jesus, 93. 30 Vgl. François Kabasélé, Christus als Ahne und Ältester, in: Der schwarze Christus, 73–86 (Seitenangaben im Text). 31 Vgl. Pobee, Grundlinien, 91. 32 Siehe unten § 6.1. 33 Vgl. Fritz Kollbrunner, Auf dem Weg zu einer christlichen Ahnenverehrung? Die Diskussion um den Heimholungsritus der Shona, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 31, 1975, 19–29. 110–123; Jean-Marc Ela, Die Ahnen und der christliche Glaube: Eine afrikanische Frage, in: Concilium (D) 13, 1977, 84–94. 34 Siehe oben § 5.2. 35 Anders Charles Nyamiti, Christ as our Ancestor. Christology from an African Perspective, Gweru 1984, 96–151. 36 Enyi Ben Udoh, Guest Christology. An interpretative view of the christological problem in Africa, Frankfurt a. M. 1988, will umgekehrt Jesus Christus zunächst nach afrikanischem Gastrecht aufnehmen und ihn dann in die Gemeinschaft initiieren. Er grenzt sich damit sowohl gegen den kolonialen Christus der Missionare als auch gegen „afrikanische christliche Apologeten“ (155) wie John Mbiti ab. „Seine Verwandtschaft und Herrschaft sind weitgehend von der Qualität seines Lebens und seiner Leistungen bestimmt, die Vertrauen zwischen Gastgeber und Gast aufbauen. Die Möglichkeiten und Natur von Gastgeber-GastBeziehungen sind nie vorgegeben. Es ist eine fortwährende Begegnung im Zusammenleben
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als Familie (13).“ Jesus Christus und die christlichen Kirchen müssen sich gleichermaßen im afrikanischen Zusammenleben bewähren. 37 Cécé Kolié, Jesus – Heiler?, in: Der schwarze Christus, 108–137 (Seitenangaben im Text). Vgl. Aylward Shorter, Jesus and the witchdoctor. An approach to healing and wholeness, Maryknoll, NY 1985. 38 Der Erfolg der unabhängigen Kirchen erklärt sich für Kolié aus diesem „Kult des Lebens“ (114). Vgl. Appiah-Kubi, Christology, 78. 39 John S. Mbiti, African Religions and Philosophy, Oxford etc. 2., durchges. und erw. Aufl. 1990 [1969], 81–89. Die dt. Übersetzung ders., Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin und New York 1974, 104–114 gibt den englischen Begriff „living dead“ mit „Totenseelen“ wieder. 40 Siehe oben § 5.4. 41 Vgl. Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, Göttingen 2., durchges. Aufl. 1964. 42 Vgl. François Kabasélé, Jenseits der Modelle, in: Der schwarze Christus, 138–161; Bénézet Bujo, Auf der Suche nach einer afrikanischen Christologie, in: Der andere Christus. Christologie in Zeugnissen aus aller Welt, Hermann Dembowski und Wolfgang Greive (Hgg.), Erlangen 1991, 87–99. 43 Vgl. Sawyerr, Creative Evangelism 72 f.; Pobee, Grundlinien, 95; Kabasélé, Jenseits, 141–147; Bujo, Auf der Suche, 88 f. 44 Pobee, Grundlinien, 95. 45 Kabasélé, Christus als Häuptling, 69. 46 Vgl. Kabasélé, Jenseits, 158 f.; Bujo, Auf der Suche, 89 f. 47 Vgl. Kabasélé, Jenseits, 153 f.; Bujo, Auf der Suche, 93. 48 Baëta zitiert bei Bengt Sundkler, The Christian Ministry in Africa, Uppsala 1960, 289; vgl. Theo Sundermeier, Auf dem Weg zu einer afrikanischen Kirche: Christian G. Baëta, Ghana, in: Waldenfels, Theologen der Dritten Welt, 71–81, 76; ders., Nur gemeinsam können wir leben. Das Menschenbild schwarzafrikanischer Religionen, Gütersloh 1988, 143. 49 Bujo, Auf der Suche, 92. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Uchenna A. Ezeh, Jesus Christ the Ancestor. An African Contextual Christology in the Light of the Major Dogmatic Christological Definitions of the Church from the Council of Nicea (325) to Chalcedon (451), Frankfurt a. M. 2003. 50 Vgl. Sundermeier, Nur gemeinsam, 142–159. 51 Vgl. die Christologie der Schwarzen Theologie, die ebenfalls auf die Gegenwart Jesu Christi im Leiden abhebt. Auch die Lebenszentriertheit und den Gemeinschaftsbezug teilt sie mit der Afrikanischen Christologie insgesamt (siehe § 10).
§ 6 Christologie im Kontext afrikanischer Ahnenverehrung 1 Vgl. Charles Nyamiti, African Theology. Its Nature, Problems and Methods, Kampala 1971; ders., The Scope of African Theology, Kampala 1973. 2 Nyamiti, African Theology, 33, zitiert bei Heribert Rücker, „Afrikanische Theologie“: Charles Nyamiti, Tansania, in: Waldenfels, Theologen der Dritten Welt, 54–70, 56. 3 Nyamiti, Christ as our Ancestor (Seitenangaben im Text); Vgl. Rücker, „Afrikanische Theologie“: Charles Nyamiti; ders., „Afrikanische Theologie“ Darstellung und Dialog, Innsbruck und Wien 1985, 80 f.; Ulrike Link-Wieczorek, Reden von Gott in Afrika und Asien.
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Darstellung und Interpretation afrikanischer Theologie im Vergleich mit der koreanischen Minjung-Theologie, Göttingen 1991, 156–184; Mika Vähäkangas, In Search of Foundations for African Catholicism. Charles Nyamiti’s Theological Methodology, Leiden 1999. 4 Vgl. Kabasélé (siehe oben § 5.3). 5 Die Übersicht folgt Nyamitis tabellarischem und stichworthaftem Vergleich zwischen dem afrikanischen Bruderahn und Christi Beziehung zu den Menschen (Nyamiti, Christ, 19–24). 6 Charles Nyamiti, Ansätze afrikanischer Theologie, in: Dem Evangelium auf der Spur. Theologie in der Dritten Welt, Sergio Torres et al. (Hgg.), Frankfurt a. M. 1980, 20–33, 29. 7 Zu einem anderen Urteil kommt Theo Sundermeier, „Fremde Theologien“, in: Evangelische Theologie 50, 1990, 524–534, 529–533. 8 Bénézet Bujo, Der afrikanische Ahnenkult (Seitenangaben im Text); ders., Afrikanische Theologie, 79–98; ders., Auf der Suche nach einer afrikanischen Christologie. 9 Vgl. Nyamiti, Ansätze afrikanischer Christologie, 26. 10 Bujo bezieht sich auf Dietmar Mieth (vgl. Günther Stachel und Dietmar Mieth, Ethisch handeln lernen. Zu Konzeption und Inhalt ethischer Erziehung, Zürich 1978, 106–116): „Wo zur Nachahmung und Befolgung aufgefordert wird, sprechen wir von Vorbildern, wo zur eigenen Initiative angeregt wird, sprechen wir von Modellen“ (110). 11 Vgl. Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 51992. 12 Bujo, Afrikanische Theologie, 93. 13 Bujo, Afrikanische Theologie, 86. 14 Vgl. Wilhelm Maas, „Abgestiegen zur Hölle“. Aspekte eines vergessenen Glaubensartikels; in: Internationale Katholische Zeitschrift 10, 1981, 1–18; Herbert Vorgrimler, Fragen zum Höllenabstieg Christi, in: Concilium (D) 2, 1966, 70–76; Metz, Glaube, 131. 15 Sundkler, Christian Ministry, 290–294. 16 Bujo, Der afrikanische Ahnenkult, 302. 17 Nyamiti betont in diesem Zusammenhang, dass Jesu adamitische Abstammung ihn „nur zum Bruderahn all derer macht, die nach seinem Tod auf der Erde lebten“ (Nyamiti, Christ, 28). Erst seine Gott-Menschheit transzendiert diesen Status: „Christus ist der Bruderahn aller Menschen nicht aufgrund seiner adamitischen Abstammung, sondern einzig wegen seiner gott-menschlichen Struktur“ (ebd.). 18 Vgl. Bujo, Afrikanische Theologie, 82. 19 Vgl. Bujo, Auf der Suche, 97 f. 20 Vgl. etwa Nyamiti, Ansätze afrikanischer Theologie, 30 f. Umgekehrt wendet sich von südafrikanischer Seite Manas Buthelezi, Ansätze Afrikanischer Theologie im Kontext von Kirche in Südafrika, in: Theologie im Konfliktfeld Südafrika. Dialog mit Manas Buthelezi, Ilse Tödt (Hg.), München 1976, 33–132, 115, kritisch gegen einen ethnographischen Ansatz. Buthelezi selbst favorisiert einen anthropologischen Ansatz. (aaO., 121). Einen gewissen Ausgleich zwischen den beiden Schulen bietet das Konzept der „anthropologischen Armut“ des Kameruners Engelbert Mveng, Third World Theology – What Theology? What Third World? Evaluations by an African Delegate, in: Irruption of the Third World. Challenge to Theology, Virginia Fabella und Sergio Torres (Hgg.), Maryknoll, NY 1983, 217–221, 220.
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21 Bujo, Afrikanische Theologie, 20. John Samuel Pobee (Hg.), Exploring Afro-Christology, Frankfurt a. M. 1992 dokumentiert eine Genfer Konferenz von 1988, die Vertreterinnen und Vertreter der beiden Schulen afrikanischer Theologie und der afrikanischen Diaspora zusammengebracht hat. 22 Mbiti, Afrikanische Beiträge zur Christologie, 78. Vgl. Kwesi A. Dickson, Theology in Africa, Maryknoll, NY 1984, 185–199; Theo Sundermeier, Das Kreuz als Befreiung. Kreuzesinterpretationen in Asien und Afrika, München 1985, 45–72; Yacob Tesfai, Afrikanische Reflexionen zum Kreuz, in: Zeitschrift für Mission 18, 1992, 6–15.
§ 7 Christologie im Kontext des Hinduismus 1 Vgl. M. M.Thomas, My Pilgrimage in Mission, in: International Bulletin of Mission Research 13, 1989, 28–31; ders., My Ecumenical Journey, Trivandrum 1990; Hielke T. Wolters, Theology of Prophetic Participation. M. M.Thomas’ Concept of Salvation and the Collective Struggle for Fuller Humanity in India, Delhi 1996 (Lit.!). 2 Die Thomaschristen führen ihre Ursprünge auf eine Missionstätigkeit des Apostels Thomas in Indien zurück. Ein Höhlenversteck, der Berg, auf dem er das Martyrium erlitten haben soll, und sein Grab werden in Chennai als heilige Stätten verehrt. Gemeinden lassen sich allerdings erst für das 3. Jh. nachweisen. Aufgrund einer wechselvollen Geschichte gibt es heute neben der ursprünglich orthodoxen, inzwischen in sich ebenfalls gespaltenen Kirche verschiedene Gruppierungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Die Syrische Mar-Thoma-Kirche in Malabar ist eine stärker reformatorisch orientierte Kirche, die sich Mitte des 19. Jh. unter dem Einfluß der anglikanischen Church Missionary Society abgespalten hat. 3 Vgl. Joachim Wietzke, Theologie im modernen Indien – Paul David Devanandan, Frankfurt a. M. und Bern 1975. 4 Vgl. Religion and Society, Bangalore (seit 1957). 5 Vgl. M. M.Thomas, The Acknowledged Christ of the Indian Renaissance, London 1969. In der dt. Ausgabe M. M. Thomas, Christus im neuen Indien. Reform-Hinduismus und Christentum, Göttingen 1989, wurde mit Hinweis auf seinen nun vorliegenden Beitrag zur Theologiegeschichte der Dritten Welt: Indien, München 1992 die Darstellung der Rezeption der Hindu-Renaissance durch christliche Theologen weitestgehend gekürzt. Mit dem Titel grenzt sich Thomas ab gegen Raimundo Panikkar, The Unknown Christ of Hinduism, London 1964 (rev. Aufl. 1981; dt. ders., Der unbekannte Christus im Hinduismus, Mainz 1986). Für Panikkar ist Christus eine Chiffre für den mystischen Urgrund, die Einheit der Wirklichkeit, der auch im Hinduismus verborgen ist und den er deutlich von der Person Jesu abhebt. Thomas hingegen will schlicht die Rezeption Jesu Christi in der Hindu-Renaissance nachzeichnen. Vgl. Robin Boyd, An Introduction to Indian Christian Theology, New Delhi 1969, Nachdruck der überarbeiteten Neuauflage von 1975, 312; Jan Peter Schouten, Jesus as Guru. The Image of Christ among Hindus and Christians in India, Amsterdam und New York 2008. 6 Die deutsche Ausgabe Stanley J. Samartha, Hindus vor dem universalen Christus. Beiträge zu einer Christologie in Indien, Stuttgart 1970, erschien vier Jahre vor der englischen (ders., The Hindu Response to the Unbound Christ, Madras 1974). Dem Buch liegt eine Vorlesungsreihe zugrunde, die Samartha bereits 1963 am UTC in Bangalore gehalten hatte. Auch Thomas konnte auf Vorträge aus seiner Zeit als Gastprofessor am Union Theological Seminary in New York (1966/67) zurückgreifen. Ähnlich wie Thomas variiert Samartha
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ebenfalls das von Panikkar einmal vorgegebene Thema, nicht ohne sich dann kritisch davon abzusetzen (vgl. Samartha, Hindus, 141–143). Während Thomas seine Auswahl breit angelegt hat und mit Keshab Chandra Sen und P. C. Mozoomdar zwei weitere Vertreter der von Rammohan Roy (1772–1833) gegründeten Brahmo Samaj (‚Gesellschaft Gottes‘) vorstellt, konzentriert sich Samartha ganz auf die Vertreter des Neo-Advaita, die an Shankaras Advaita-Philosophie anknüpfen; hier laufen ihre Darstellungen dann weitestgehend parallel. Die nachfolgende Tabelle stellt die von Thomas und Samartha behandelten Exponenten der Hindu-Renaissance zum Vergleich nebeneinander. Übers. 5: Darstellung der Hindu-Renaissance bei M. M. Thomas und S. J. Samartha M. M. Thomas
S. J. Samartha
Raja Rammohan Roy Keshab Chandra Sen P. C. Mozoomdar Ramakrishna Vivekananda
Raja Rammohan Roy
Radhakrishna Gandhi
Ramakrishna Vivekananda Akhilananda Gandhi Radhakrishna
7 Vgl. Bendangjungshi, Confessing Christ in the Naga Context. Towards a Liberating Ecclesiology, Münster etc. 2011. 8 Vgl. Stanley J. Samartha, Between Two Cultures. Ecumenical Ministry in a Pluralist World, Genf 1996; Jan A. B. Jongeneel, Kraemer und Samartha, zwei „feindliche Brüder“, in: Zeitschrift für Mission 14, 1988, 197–205; Eeuwout Klootwijk, Commitment and Openness. The Interreligious Dialogue and Theology of Religions in the Work of Stanley J. Samartha, Zoetermeer 1992 (Lit.!). 9 Samartha, Between two Cultures, 9. 10 Stanley J. Samartha, The Hindu View of History According to Dr. S. Radhakrishnan, Diss. masch. New York 1950. 11 Stanley J. Samartha, The Modern Hindu View of History According to Representative Thinkers, Diss. masch., Hartford 1958. 12 Die 1955 vom Zentralausschuß beschlossene Studie „The Word of God and the Living Faiths of Men“, sollte die seit Tambaram (1938) schwelende Problematik aufarbeiten. Vgl. Carl F. Hallencreutz, Der Dialog in der Geschichte der ökumenischen Bewegung, in: Dialog mit anderen Religionen. Material aus der ökumenischen Bewegung, Hans Jochen Margull und Stanley J. Samartha (Hgg.), Frankfurt a. M. 1972, 53–65. 13 Leitlinien zum Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien (EZW Arbeitstexte Nr. 19 VI/1979); Ökumenische Erwägungen zum Dialog und zu den Beziehungen mit Menschen anderer Religionen, 2004 (beide Dokumente auch auf www.oikoumene.org). 14 Vgl. Joachim Zehner, Der notwendige Dialog. Die Weltreligionen in katholischer und evangelischer Sicht, Gütersloh 1992, 65–106. 15 Vgl. Stanley J. Samartha, „… and Ideologies“, in: Ecumenical Review 24, 1972, 479–486. 16 Thomas: Serampore 1970, Leiden 1975; Samartha: Serampore 1986 und Utrecht 1986. 17 Vgl. M. M.Thomas, Men and the Universe of Faiths, Madras 1975.
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18 Vgl. M. M.Thomas, The Secular Ideologies of India and the Secular Meaning of Christ, Madras 1976. 19 Vgl. M. M.Thomas, Risking Christ for Christ’s Sake. Towards an ecumenical theology of pluralism, Genf 1987. 20 Vgl. die Sammlung von bereits 1937 verfassten Meditationen und Gebeten M. M. Thomas, The Realization of the Cross. Fifty Thoughts and Prayers centered on the Cross, Madras 1972. 21 Siehe unten § 10.1 (1.). 22 Thomas, Universe of Faiths, 137; vgl. 135: „Die Zusage ‚Jesus ist der Messias‘ bedeutet, daß Leben, Tod und Auferstehung Jesu das Zentrum des geschichtlichen Prozesses der Erfüllung des göttlichen Heilsplanes für die ganze Welt sind. Zugleich versinnbildlicht die Geschichte der Menschen, die diese Zusage annehmen und in der Erwartung der ihr inhärenten Verheißung leben, die Macht und die Präsenz des göttlichen Willens in der Welt, die Königreiche dieser Welt in das Königreich Gottes und seines Christus zu verwandeln.“ 23 M. M. Thomas, Die Herausforderung an die Kirchen in den jungen afrikanischen und asiatischen Nationen, in: Neu Delhi Dokumente. Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz 1961, Focko Lüpsen (Hg.), Witten 1962, 437–454, 442. Vgl. Thomas, Universe of Faiths, 138: „Aber das historische Kreuz bleibt der Schlüssel bzw. das Kriterium, um die emphatischen Reaktionen und positiven Antworten des Glaubens auf das universale Kreuz erkennen zu können.“ 24 Thomas, Universe of Faiths, 129. 25 Jacob Mathew, Asian Christology. De-Routing the Classical and Re-Rooting the Contextual, New Delhi 2016 rekonstruiert die Christologie von Tissa Balasuriya (1924–2013) als eine Synthese aus dem befreienden und dem kosmischen Jesus Christus 26 Thomas, Herausforderung an die Kirchen, 440. 27 Vgl. Thomas, Herausforderung an die Kirchen, 448. 28 Hans Heinrich Wolf, Christus am Werk in der Geschichte. Im Licht der „Barmer Theologischen Erklärung“ der Bekennenden Kirche von 1934, in: Ökumenische Rundschau 15, 1966, 28–47; M. M. Thomas, Einige Bemerkungen zu dem Artikel von H. H. Wolf, aaO., 47–53. 29 Thomas, Risking, 112. 30 Thomas, Universe of Faiths, 147. 31 Thomas, Universe of Faiths, 151; vgl. ders., Risking, 119. 32 Vgl. M. M.Thomas, The Absoluteness of Jesus Christ and Christ-centred Syncretism, in: Ecumenical Review 37, 1985, 387–397 [= revidierte und im dritten Teil erweiterte Fassung von ders., Christ-Centred Syncretism, in: Religion and Society 26, 1979, 26–35]. Die dt. Version ders., Christusorientierter Synkretismus – Ziel des Dialogs zwischen verschiedenen Religionen, in: Zeitschrift für Mission 7, 1981, 70–80, liegt zeitlich zwischen den beiden englischen. Sie ist im dritten Teil bereits erweitert, weicht an einigen Stellen aber auch von der späteren englischen Fassung ab. Die Übersetzung ist oft ungenau, vgl. etwa „Christus-orientierter Synkretismus“ (70 u. ö.) oder „Christus-betonter Humanismus“ (74; Hervorhebungen jeweils von mir). Ich zitiere nach der englischen Fassung in Ecumenical Review (Seitenangaben im Text). 33 Vgl. Thomas, Secular Meaning of Christ; ferner die Auseinandersetzung über die Frage des sogenannten Säkularökumenismus zwischen M. M. Thomas und Wolfhart Pan-
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nenberg: Wolfhart Pannenberg, „Die Hoffnung der Christen und die Einheit der Kirche“. Bericht über die Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung vom 15. bis 30. August 1978 in Bangalore, Indien, in: Ökumenische Rundschau 27, 1978, 473–483; M. M. Thomas, Christlicher Ökumenismus und Säkularökumenismus, in: Ökumenische Rundschau 28, 1979, 172–178; Wolfhart Pannenberg, Die „westliche“ Christenheit in der Ökumene. Eine Antwort an M. M. Thomas, in: Ökumenische Rundschau 28, 1979, 306–316. 34 Vgl. Thomas, Universe of Faiths; ders., Christology and Pluralistic Consciousness, in: International Bulletin of Mission Research 10, 1986, 106–108. 35 Hendrik Kraemer, The Christian Message in the Non-Christian World, Grand Rapids, Michigan 1938 (dt. 1940). 36 Vgl. Küster, Theologie im Kontext, 25–29. 37 Vgl. Volker Küster, Art. Dialog VII. Dialog und Mission, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart4, Bd. 2, 821. 38 Vgl. Karl Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: ders., Schriften zur Theologie V, Einsiedeln etc. 1962, 136–158. Thomas, Universe, 138, nimmt direkt auf Rahner Bezug. 39 Die beiden standen denn auch bei der Kontroverse um die pluralistische Religionstheologie auf unterschiedlichen Seiten. Während Samartha ein Referat auf der ClaremontKonferenz von 1986 gehalten hat, deren Dokumentation heftig diskutiert wurde, steuerte Thomas einen Beitrag zu einem in der gleichen Serie publizierten Gegenprojekt bei. Vgl. Stanley J. Samartha, The Cross and the Rainbow. Christ in a Multireligous Culture, in: John Hick und Paul F. Knitter (Hgg.), The Myth of Christian Uniqueness. Towards a Pluralistic Theology of Religions, Maryknoll, NY 1987, 69–88; M. M. Thomas, A Christ-Centered Humanist Approach to Other Religions in the Indian Pluralistic Context, in: Gavin D’Costa (Hg.), Christian Uniqueness Reconsidered. The Myth of a Pluralistic Theology of Religions, Maryknoll, NY 1990, 49–62. 40 Klootwijk, Commitment, 267. 41 Stanley J. Samartha, One Christ – Many Religions. Toward a Revised Christology Maryknoll, NY 1991, 82. 42 Samartha, One Christ, 77. 43 Samartha, Hindus (Seitenangaben im Text). 44 Vgl. Samartha, One Christ, 107 f. 45 Als Vedanta („Ende des Vedas“) den vier Veden zugeordnete Heilige Schriften des Hinduismus. 46 Samartha, One Christ (Seitenangaben im Text). 47 Anders noch Samartha, Hindus, 185 und 187. 48 Vgl. Samartha, Hindus, 188–197. 49 Vgl. Samartha, Hindus, 194. 50 Inkarnation eines Gottes. 51 Samartha, Hindus, 162 f. 52 Vgl. M. Thomas Thangaraj, The Crucified Guru. An Experiment in Cross-cultural Christology, Nashville 1994, der sich der Christologie im indischen Kontext von der menschlichen Seite Jesu als Lehrer (guru) nähert.
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§ 8 Christologie im Kontext des Buddhismus 1 Von Nichiren (1222–1282) gegründete buddhistische Sekte. 2 Uchimura, Laienprediger und Begründer der Nicht-Kirche-Bewegung (Mukyokai), lehnte den Denominationalismus der westlichen Missionare und feste Kirchenstrukturen ab. Vgl. Hannelore Kimura-Andres, Mukyokai. Fortsetzung der Evangeliumsgeschichte, Erlangen 1984. 3 Katsumi Takizawa, Zen-Buddhismus und Christentum im gegenwärtigen Japan, in: Yagi Seiichi und Ulrich Luz (Hgg.), Gott in Japan. Anstöße zum Gespräch mit japanischen Philosophen, Theologen, Schriftstellern, München 1973, 139–159, 141; vgl. ders., Was und wie ich bei Karl Barth gelernt habe, masch. 21 S., 2. 4 Vgl. Takizawa, Zen-Buddhismus und Christentum, 141 f. 5 Takizawa, Zen-Buddhismus und Christentum, 142–144; vgl. ders., Was und wie ich bei Karl Barth gelernt habe, 5. 6 Takizawa, Zen-Buddhismus und Christentum, 144. 7 Aus einer autobiographischen Skizze Yagis, zitiert bei Ulrich Luz, Zwischen Christentum und Buddhismus: Seiichi Yagi, Japan, in: Waldenfels, Theologen der Dritten Welt, 161–178, 162 f. 8 Takizawa, Was ich bei Karl Barth gelernt habe, 6 f. Vgl. jetzt Karl Barth – Katsumi Takizawa: Briefwechsel 1934–1968, Susanne Hennecke und Ab Venemans (Hgg.), Göttingen 2015. 9 Vgl. Markus Himmelmann, Im Dialog mit Japan. Wilhelm Gundert und Werner Kohler, in: Zeitschrift für Mission 22, 1996, 169–188. 10 Bi-Yän-Lu. Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdenen Felswand, verfaßt auf dem Djia-schan bei Li in Hunan zwischen 1111 und 1115, im Druck erschienen in Sïtschuan um 1300, verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert, 3 Bde, München 1960, 1967 und 1973. 11 Vgl. Erstes Beispiel, in: Bi-Yän-Lu, 37–59. Sprüche wie dieser werden im Zen-Buddhismus Koan genannt. Der Meister reagiert damit auf Fragen des Schülers, der den Weg zum Erwachen sucht. Die Rinzai-Schule hat ein Koan-System ausgebildet. Das „Erwachen“ (satori) ist allerdings nicht kausal an dieses System geknüpft, sondern ist eher eine Unterbrechung, ein plötzliches Aufleuchten der Erkenntnis (vgl. Daisetz Suzuki, Leben aus Zen, Frankfurt a. M. 1982). 12 Yagi zitiert bei Luz, Zwischen Christentum und Buddhismus, 164. 13 Vgl. Katsumi Takizawa, Die Lage der Kirche und der Universität in Japan, in: Probleme japanischer und deutscher Missionstheologie, Ferdinand Hahn (Hg.), Heidelberg 1972, 8 f. 14 Luz, Zwischen Christentum und Buddhismus, 178; vgl. John O. Barksdale, Seiichi Yagi’s Typology of New Testament Thought, in: North East Asia Journal of Theology Nr. 17, 1976, 36–52, 49. 15 Katsumi Takizawa, Reflexionen über die universale Grundlage von Buddhismus und Christentum, Frankfurt a. M. etc. 1980, 53 und 135. 16 Ryôsuke Ohashi, Einführung, in: ders. (Hg.), Die Philosophie der Kyôto-Schule. Texte und Einführung, Freiburg im Br. und München 1990, 11–45, 14. 17 Nishida zitiert bei Fritz Buri, Der Buddha-Christus als der Herr des wahren Selbst. Die Religionsphilosophie der Kyoto-Schule und das Christentum, Bern und Stuttgart 1982, 54.
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18 Takizawa, Reflexionen, 53. 144 u. ö. (vgl. Register). 19 Diese Variante findet sich in der deutschen Übersetzung des Aufsatzes Kitaro Nishida, Was liegt dem Selbstsein zugrunde?, in: Yagi und Luz, Gott in Japan, 94–112, und in einigen unveröffentlichten Manuskripten Takizawas. 20 Takizawa, Reflexionen, 10 f. Takizawa zitierte in diesem Zusammenhang gerne ein Gedicht des Zen-Meisters Daito Kokushi: Für ewig geschieden, jedoch keinen Augenblick getrennt; den ganzen Tag zusammen, doch keinen Augenblick in eins. Dieser Logos wohnt in jedem Menschen. Takizawa, Reflexionen, 160; vgl. Heyo E. Hamer, Vorwort, in: Takizawa, Reflexionen, I-VIII, I. 21 Vgl. Katsumi Takizawa, Die Überwindung des Modernismus – Kitaro Nishidas Philosophie und die Theologie Karl Barths, in: ders., Reflexionen, 127–171, 157: „Es gibt in Wirklichkeit keine eigenständige Philosophie Nishidas bis auf die Entdeckung des oben mehrfach erwähnten Urpunktes.“ 22 Vgl. Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik I/1, 110 f. Es findet sich kein Eintrag im Register zu diesem Stichwort. 23 Vgl. Takizawa, Überwindung des Modernismus, 162 f. 24 Vgl. Katsumi Takizawa, Nachwort, in: Walter Böttcher, Rückenansicht. Perspektiven japanischen Christentums, Stuttgart und Berlin 1973, 154–173, 171 f. 25 Takizawa, Reflexionen, 122; vgl. 161. 26 Takizawa, Reflexionen, 9. 27 Vgl. Takizawa, Reflexionen, 86 und 124. Später verkürzt er das Präfix auf The-anthropologie. 28 Takizawa, Reflexionen, 19 f. 29 Katsumi Takizawa, „Rechtfertigung“ im Buddhismus und im Christentum, in: ders., Das Heil im Heute. Texte einer japanischen Theologie, Theo Sundermeier (Hg.), Göttingen 1987, 181–196, 181. 30 Zitiert bei Takizawa, Rechtfertigung, 182. 31 Katsumi Takizawa, Die Kraft des Anderen und die Kraft des Selbst im Buddhismus verglichen mit dem Christentum, in: ders., Reflexionen, 46–65, 49 f. 32 Takizawa, Die Kraft des Anderen, 54. 33 Vgl. Takizawa, Rechtfertigung, 181: „d. h. der Suchende, der in sich selbst das BuddhaDharma, die erleuchtend-erlösende Wahrheit enthält.“ 34 Vgl. Takizawa, Rechtfertigung, 189 Anm. 1. 35 Katsumi Takizawa, Das Grundproblem der Christologie, in: Jahrbuch der Literarischen Fakultät der Kyushu Universität, 4, 1956, 1–51, 3. 36 Takizawa, Rechtfertigung, 194. 37 Vgl. Katsumi Takizawa, Theologie und Anthropologie – ein Widerspruch? Entwurf einer reinen The-anthropologie, in: Jochanan Hesse (Hg.), „Mitten im Tod – vom Leben umfangen“. Gedenkschrift für Werner Kohler, Frankfurt a. M. etc. 1988, 59–68, 65: „Das heißt aber nicht, daß in Jesus von Nazareth der unvermischbare Unterschied und die unumkehrbare Ordnung zwischen Gott und Mensch im Urfaktum (Urverhältnis) Immanuel verwischt worden wäre.“
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38 Vgl. KD I/1, 135. 39 Vgl. Katsumi Takizawa, Eine Frage an die Theologie Karl Barths und das Problem des historischen Jesus, in: Philosophisches Jahrbuch der Kyushu Universität 26, 1967, 1–34, 23; Takizawa, Reflexionen, 122. Takizawa beruft sich dafür auf Barth. 40 Takizawa, Grundprobleme der Christologie, 29. 41 Vgl. Takizawa, Nachwort, 159. 42 Takizawa, Theologie und Anthropologie, 61. 43 Vgl. seinen letzten, posthum veröffentlichten Aufsatz, den er als Dankrede bei der Verleihung des theologischen Ehrendoktors in Heidelberg halten wollte: ders., Theologie und Anthropologie; dazu Theo Sundermeiers Laudatio auf Takizawa: ders., Präsentische Theologie. Der Beitrag K. Takizawas im interkulturellen Gespräch, in: Takizawa, Das Heil im Heute, 11–24. 44 Dieses Buch wurde nie übersetzt. Ich rekonstruiere den im folgenden referierten Gedankengang aus Yagis Äußerungen in frühen Aufsätzen und aus der Sekundärliteratur. Vgl. Seiichi Yagi, Was hindert uns, das Neue Testament zu verstehen?, in: Ferdinand Hahn (Hg.), Probleme japanischer und deutscher Missionstheologie, 63–93 (Seitenangaben im Text); Barksdale, Yagi’s Typology. 45 Seiichi Yagi, Geschichte und Gegenwart der neutestamentlichen Forschung in Japan, in: Theologische Stimmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika II, Gerhard Rosenkranz (Hg.), München 1967, 29–39, 37. Yagi selbst über sein Buch, „dem seine Begegnung mit dem Buddhismus zugrundeliegt“ (ebd.). 46 Barksdale, Yagi’s Typology, 36. 47 Yagi beruft sich auf Max Webers Konzept der „Idealtypen“. Aufgrund der Kritik an seiner Aufnahme des Terminus „Typus“ verwendet er dann aber auch den Begriff „Struktur“, vgl. ders., Was hindert uns, 80 Anm. 17. 48 Seiichi Yagi, Paul and Shinran; Jesus and Zen: What Lies at the Ground of Human Existence?, in: Buddhist-Christian Dialogue. Mutual Renewal and Transformation, P. O. Ingram und F. J. Streng (Hgg.), Honolulu 1986, 197–215, 199. 49 Vgl. Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995 [11., durchges. Aufl. 1983]. 50 Yagi, Paul and Shinran, 199. 51 Yagi wendet sich hier explizit gegen Oscar Cullmann und die heilsgeschichtliche Schule. 52 Seiichi Yagi, Der Weg zum Heil: Christus und Buddha – Ein Vergleich aus christlicher Sicht, in: Der Buddha-Christus. Zum christlich-buddhistischen Dialog (Tagungsprotokoll 18/1992), Evangelische Akademie Iserlohn 1992, 54–72, 63. 53 Vgl. Seiichi Yagi, „I“ in the Words of Jesus, in: Hick und Knitter, The Myth of Christian Uniqueness, 117–134, 124–126 (= dt. um Einleitung und Schluß gekürzt: ders., Das Ich bei Jesus, in: Hesse, Mitten im Tod, 37–48, 43–46); ders., Das Ich bei Paulus und Jesus – zum neutestamentlichen Denken –, in: Annual of the Japanese Biblical Institut 5, 1979, 133–153, 148–151; ders., Paul and Shinran, Jesus and Zen, 208 f. 54 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 31. 55 Yagi, Das Ich bei Jesus (Seitenangaben im Text). 56 Der in diesem Zusammenhang von Yagi auch verwendete Begriff „Subjektwechsel“ (37) ist mißverständlich und sollte besser vermieden werden.
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57 Gelegentlich spricht Yagi auch vom Selbst als dem Sitz des „Gelübde des Lebens“ (Seiichi Yagi, Die Frontstruktur als Brücke vom buddhistischen zum christlichen Denken, München 1988, 67–72), eine Anspielung auf das Gelübde des Amida-Buddha. 58 Seiichi Yagi, Jesus und Zen, in: Brennpunkte in Kirche und Theologie Japans. Beiträge und Dokumente, Terazono Yoshiki und Heyo E. Hamer (Hgg.), Neukirchen-Vluyn 1988, 186–194, 190. 59 Vgl. Seiichi Yagi, Weder persönlich noch generell – Zum neutestamentlichen Denken anhand Röm VII –, in: Annual of the Japanese Biblical Institute 2, 1976, 159–173. 60 Die Abb. 5–10 sind entnommen aus Yagi, Frontstruktur. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. 61 Vgl. Seiichi Yagi, Christ and Buddha, in: R. S. Sugirtharajah (Hg.), Asian Faces of Jesus, Maryknoll, NY 1993, 25–45 (Seitenangaben im Text). John d’Arcy May, Buddhologie und Christologie. Unterwegs zu einer kollaborativen Theologie, Innsbruck und Wien 2014 erwähnt zwar die Kyoto-Schule, nimmt aber auf Yagi und Takizawa keinen Bezug. 62 Menschwerdung Gottes im Buddhismus und im Christentum. ZRP-Interview mit Prof. Seiichi Yagi, in: Zeitschrift für Religionspädagogik 35, 1980, 55–57, 57. 63 Vgl. Theo Sundermeier, Gott im Buddhismus?, in: Evangelische Theologie 48, 1988, 19–35, 24. 64 Yagi, Was hindert uns, 86. 65 Seiichi Yagi, Buddhistischer Atheismus und christlicher Gott, in: Gott in Japan, 160– 191, 181. 66 Vgl. Yagi, Frontstruktur (Seitenangaben im Text). 67 Auch Takizawa verwendet gelegentlich (vgl. Index, in: ders., Reflexionen, 190) den auf Nishida selbst zurückgehenden Begriff des Feldes (Takizawa, Reflexionen, 148 f.), doch liegt bei ihm der Akzent eindeutig auf dem punktuellen Kontakt. „Das Feld, in das der Mensch je an seinem Ort und in seiner Zeit eingesetzt ist, ist der Grund des Entstehens und Bestehens des Ich-Selbst, der allem eigenen Wirken vorausgeht und immer neu mit dem wahren Subjekt, das nicht dieses Ich-Selbst ist, absolut bedingungslos eins ist“ (Takizawa, Reflexionen, 16). 68 Vgl. Barksdale, Yagi’s Typology, 52. 69 Vgl. Kenzo Tagawa, The Yagi-Takizawa Debate, in: North East Asia Journal of Theology March 1969, 41–59; 49; Barksdale, Yagi’s Typology, 37; Yagi, in: Theologiegeschichte der Dritten Welt. Japan, 148 f. 70 Yagi, Theologiegeschichte der Dritten Welt. Japan, 148. Die von Yagi hier (148 f.) aufgeführten drei Kritikpunkte Takizawas kreisen alle um die Wahrheitsfrage. 71 Tagawa, Yagi-Takizawa Debate, 57 f.: „Durch Takizawa beeinflußt, entwickelt er [Yagi] jetzt eine Theorie der essentiellen Struktur der menschlichen Existenz.“ 72 Yagi, „I“ in the words of Jesus, 128. 73 Yagi selbst über die Takizawa-Yagi-Debatte in: Theologiegeschichte der Dritten Welt. Japan, 150. 74 Yagi spricht in diesem Zusammenhang auch von „Integration“ (vgl. ders., Frontstruktur, 81–94). 75 Vgl. Kohlers Rede von der „Grundidentität“ hinter den „sekundären Identitäten“ (ders., Umkehr und Umdenken. Grundzüge einer Theologie der Mission, Frankfurt a. M. 1988, 189–220).
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76 Werner Kohler, Japanische Christologische Versuche, in: Heribert Bettscheider (Hg.), Das asiatische Gesicht Christi, St. Augustin 1976, 49–67, 62. 77 Ulrich Schoen, Das Ereignis und die Antworten. Auf der Suche nach einer Theologie der Religionen heute, Göttingen 1984, 142; vgl. zum Problem jetzt auch ders., Bi-Identität. Zweisprachigkeit, Bi-Religiosität, doppelte Staatsbürgerschaft, Zürich und Düsseldorf 1996. 78 Vgl. Takizawa, Reflexionen, 105. 79 Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik I, 2, 357. 80 Takizawa, Reflexionen, 28. 81 „Zum Schluß möchte ich nur noch ein Wort über die sogenannte ‚Religionsphilosophie‘ hinzufügen. Was ich Ihnen heute Abend vorgetragen habe, hat nichts mit der sowohl im modernen Westen, als auch bei uns in Japan üblichen sogenannten ‚Religionsphilosophie‘ zu tun. Denn in dieser ist im Anfang der Mensch, oder das menschliche Ich-Selbst vorausgesetzt, daß im Grunde gar nicht klar ist, was es sei. Die Religion wird als ein besonderer Akt festgestellt, der sich im Unterschied zu allen anderen Akten auf das absolut Umfassende alles Seienden, das Erste und das Letzte des menschlichen Lebens bezieht. Aber als Philosophie will sie nicht in die Sache selbst der Religion hineingehen. Sie bleibt bewußt für immer in dem weit entfernten äußeren Kreis, der das Kernproblem, die Wahrheitsfrage der Religion, selbst nie berührt. Indem sie sich vor der eigentlichen Schwierigkeit des Problems zurückzieht und träge und selbstgefällig in der Vorhalle steckenbleibt, bildet sie sich ein, streng wissenschaftlich zu verfahren. Und diese fatale Lücke füllt sie unverschämt mit dem Begriff der ‚besonderen Offenbarung‘, ja mit dem Namen Jesus Christus. Sie denkt dabei nicht einmal an den Ernst, mit dem sich Hegel selbst noch mit diesem eigentlichen, schweren Problem beschäftigte. Die Pseudo-Wissenschaftlichkeit und die Scheinfrömmigkeit dieser Art müssen heute radikal ausgerottet werden, zumal wir dabei die großen Vorgänger wie Karl Barth im Westen und Kitaro Nishida im Osten haben“ (Katsumi Takizawa, Philosophie und Theologie in meinem Denken, masch. 14 S., 14). 82 Yagi, in: Theologiegeschichte der Dritten Welt: Japan, 150. 83 Vgl. Theo Sundermeier, Das Kreuz in japanischer Interpretation, in: Evangelische Theologie 44, 1984, 417–440.
§ 9 Christologie im gesamtasiatischen Kontext 1 Vgl. Merrill Morse, Kosuke Koyama. A Model for Intercultural Theology, Frankfurt a. M. etc. 1991 (Lit!), 15–19; Deane William Ferm, Kosuke Koyama, in: ders., Profiles in Liberation, 87–90; Kosuke Koyama, Mount Fuji and Mount Sinai. A Critique of Idols, Maryknoll, NY 1985, 15 f. 2 Vgl. Koyama, Mount Fuji, 5; ders., Vergebung und Politik. Eine japanische Sicht, in: Wolfgang Huber (Hg.), Schuld und Versöhnung in politischer Perspektive. Dietrich-Bonhoeffer-Vorlesungen in Berlin, Gütersloh 1996, 42–52, 45. 3 Kosuke Koyama, Three Mile an Hour God. Biblical Reflections, Maryknoll, NY 1980, 108. 4 Koyama, Mount Fuji, 22. 5 Koyama, Three Mile, 108. Vgl. ferner ders., Vergebung und Politik. 6 Das Thema legt es nahe zu fragen, inwieweit seine Wahl nicht biographisch bestimmt war. Morse schweigt dazu, überhaupt widmet sie Koyamas Biographie nur wenige Seiten. Bei einem Mann wie Koyama, dessen Theologie so eng mit seinen persönlichen Erfahrungen verknüpft ist, ist das eine für mich schwer nachvollziehbare Entscheidung.
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7 Während des II. Weltkriegs unter massiver Repression der Regierung entstandener Zusammenschluß von 34 protestantischen Denominationen (1941). Nach Kriegsende traten die Lutheraner, Anglikaner und einige kleinere Gruppierungen aus. Die Methodisten, Kongregationalisten und ein Teil der Presbyterianer bilden den Kernbestand des heutigen Kyodan. 8 Kosuke Koyama, Waterbuffalo Theology, Maryknoll, NY 21976. 9 Koyama, Waterbuffalo Theology, viif. Vgl. Paulo Freires Konzept der generativen Wörter und Themen. Siehe oben § 2 (2.). 10 Das South East Asia Journal of Theology (SEAJT, Singapore 1,1959/60 – 23,1982) fusionierte mit dem North East Asia Journal of Theology (NEAJT, Tokio 1,1968 – 28/29,1982) zum East Asia Journal of Theology (EAJT 1,1983 – 4,1986), das später noch einmal in Asia Journal of Theology (AJTh 1,1987 ff.) umbenannt wurde. 11 Vgl. Justus Freytag, Theologie mit einem Dritten Auge: Choan-Seng Song, China, in: Waldenfels, Theologen der Dritten Welt, 141–160; Deane William Ferm, Choan-Seng Song, in: ders., Profiles in Liberation, 107–111; Karl H. Federschmidt, Theologie aus asiatischen Quellen. Der theologische Weg Choan-Seng Songs vor dem Hintergrund der asiatischen ökumenischen Diskussion, Münster und Hamburg 1994. 12 Vgl. Jonah Chang, Shoki Coe. An Ecumenical Life in Context, Genf 2011. 13 Vgl. C. S. Song, The Relation of Divine Revelation and Man’s Religion in the Theologies of Karl Barth and Paul Tillich, Diss. masch. New York 1965. 14 Vgl. C. S. Song, Die zeitgenössische chinesische Kultur und ihre Bedeutung für die Aufgabe der Theologie, in: Theologische Stimmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika I, Hans-Werner Gensichen (Hg.), München 1965, 52–72; ders., Die Bedeutung der Christologie in der christlichen Begegnung mit den östlichen Religionen, in: Theologische Stimmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika III, Georg F. Vicedom (Hg.), München 1968, 86–111. 15 Vgl. C. S. Song, Theologie des Dritten Auges. Asiatische Spiritualität und christliche Theologie, Göttingen 1989 (engl. 1979), 227–230; ders., Theology from the Womb of Asia, Maryknoll, NY 1986, 101 f.; ferner John Jyigiokk Tin, Christianity in Taiwan, in: Christianity in Asia. north-east asia, T. K. Thomas (Hg.), Singapur 1979, 89–112. 16 Song, Theologie des Dritten Auges, 230. 17 Vgl. Odagaki Masaya, in: Theologiegeschichte der Dritten Welt: Japan, München 1991, 207 f. 18 Vgl. Koyama, Waterbuffalo Theology (Seitenangaben im Text). 19 Vgl. Kazoh Kitamori, Theologie des Schmerzes Gottes, Göttingen 1972. 20 Song, Theologie des Dritten Auges, 103. 21 Song, Theologie des Dritten Auges, 102 f. 22 Vgl. Song, Die zeitgenössische chinesische Kultur, 70. 23 Vgl. C. S. Song, Jesus in the Power of the Spirit, Minneapolis 1994, 159. 24 Den Band Theology from the Womb of Asia hat Song den Direktoren des TEF, Shoki Coe, Aharon Sapsezian und Samuel Amirtham, gewidmet. Bereits im Vorwort zu C. S. Song, The Compassionate God, Maryknoll, NY 1982 bedankt er sich bei Shoki Coe für sein Engagement für die Kontextualisierung der Theologie (xiii). 25 Song, Theologie des Dritten Auges, 22. Mit „köyi“ nimmt Song später einen weiteren buddhistischen Begriff auf, der die „Methode der Ausdehnung (method of extension)“ des
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Buddhismus in einer fremden Kultur beschreibt (vgl. Song, Compassionate God, 178 f.). Darin ist Köyi durchaus dem anthropologischen Terminus „Akkulturation“ vergleichbar. 26 Daisetz Suzuki zitiert bei Song, Theologie des Dritten Auges, 22. 27 Vgl. Song, Theologie des Dritten Auges, 22 f. 28 C. S. Song, Von Israel nach Asien. Ein theologischer Sprung, in: Europäische Theologie herausgefordert durch die Weltökumene, Genf 1976, 10–29. 29 Vgl. C. S. Song, Introduction, in: ders., The Compassionate God, 1–17, 5–12. 30 Koyama, Mount Fuji, x. 31 Koyama, Mount Fuji, 243. 32 Kosuke Koyama, Das Kreuz hat keinen Handgriff. Asiatische Meditationen, Göttingen 1978, 82. 33 Koyama, Kreuz, 11 u. ö. Der Übersetzer gibt „crucified mind“ im Deutschen mit „gekreuzigter Geist“ wieder; obwohl semantisch korrekt, weckt dies theologisch doch falsche Assoziationen. Um eine Verwechslung mit dem Geist Gottes auszuschließen, übersetze ich „mind“ mit „Verstand“ und ändere Zitate aus dem deutschen Text stillschweigend entsprechend ab. 34 Koyama, Kreuz, 17. 35 Vgl. das Buch gleichen Titels Koyama, Three Mile an Hour God. 36 Kosuke Koyama, 50 Meditations, Maryknoll, NY 21983 [1979], 9. 37 Koyama, Waterbuffalo Theology, 24. 38 Koyama, 50 Meditations, 124. Vgl. Song, Compassionate God, 64: „… diese lang etablierte Verwendung des Wortes ‚nicht-christlich‘ in unserem christlichen Vokabular macht uns Christen zum Zentrum aller Menschen und aller Dinge. Es ist ein Ausdruck des christlichen Zentrismus.“ 39 Koyama, Waterbuffalo Theology, 89–94. 40 Koyama, Waterbuffalo Theology, 91. Vgl. Song, Theologie des Dritten Auges, 116: „Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen unserem Fragen nach Gott und unserem Fragen nach dem Nächsten.“ 41 Koyama, Waterbuffalo Theology, 91 f. 42 Vgl. Koyama, Waterbuffalo Theology, 129–132. 43 Vgl. Koyama, Mount Fuji, 178. 44 Koyama, Mount Fuji, 187. 45 Koyama, Three Mile, 67 f. 46 Koyama, Waterbuffalo Theology, 93. 47 Koyama, Three Mile, 54. 48 Koyama, Mount Fuji, 8 f. 49 Koyama, Mount Fuji, 8. 50 Kosuke Koyama, „Extended Hospitality to Strangers“ – A Missiology of Theologia Crucis, in: International Review of Mission 82, 1993, 283–295, 292. 51 Vgl. Koyama, Mount Fuji, 56. 52 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie, Gütersloh 21985 (Nachdruck der 2. Aufl. Tübingen 1929), 70–72. 53 Koyama, Three Mile, 48. 54 Vgl. Koyama, Mount Fuji, 118–120.
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55 Koyama, Mount Fuji, 116; vgl. 115: „Ignoranz verursacht Gier und Gier verursacht Leiden.“ 56 Kosuke Koyama, The Asian Approach to Christ, in: Missiology 12, 1984, 435–447, 436. 57 Koyama, Asian Approach, 437. 58 Koyama, Asian Approach, 436. 59 Koyama, 50 Meditations, 72. 60 Koyama, Asian Approach, 435. 61 Koyama, Three Mile, 24 f. 62 Song, Theologie des Dritten Auges, 79. 63 Song, Theologie des Dritten Auges, 55. 64 Vgl. Song, Theologie des Dritten Auges, 117. 65 Song, Theologie des Dritten Auges, 101. 66 Song, Theologie des Dritten Auges, 79. 67 Choan-Seng Song, Die Maßgeblichkeit Christi, in: Douglas J. Elwood (Hg.), Wie Christen in Asien denken. Ein theologisches Quellenbuch, Frankfurt a. M. 1979, 147–168, 147. 68 Choan-Seng Song, Jesus in the Power of the Spirit, Minneapolis 1994, 70 und 134. 69 Song, Jesus in the Power, 227. 70 Choan-Seng Song, Jesus, the Crucified People, New York 1990, 215 f. Ähnliche Gedanken werden in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie von Ignacio Ellacuría vertreten (siehe oben § 4.2). 71 Song, Theologie des Dritten Auges, 191. Vgl. Song, Crucified People, 215 f. 72 Song, Crucified People, 19; vgl. 114. 73 Song, Crucified People, 98. 74 Song, Crucified People, 116. 75 Song, Theologie des Dritten Auges, 84; vgl. ders., Crucified People, 98. 76 Vgl. C. S. Song, Jesus and the Reign of God, Minneapolis 1993, 17 (Seitenangaben im Text). 77 Song, Compassionate God, 38; vgl. 180 f. 78 Vgl. Song, Spirit, 243. 79 C. S. Song, Jesus in the Power, 179. 80 Vgl. Song, Theologie des Dritten Auges, 149; ders., Reign of God, 243. 81 Vgl. Song, Spirit, 281. 82 Vgl. Choan-Seng Song Replies, in: Occasional Bulletin of Missionary Research 1:3, 1977, 13–15, zitiert bei Federschmidt, Theologie aus asiatischen Quellen, 149. 83 Song, Theologie des Dritten Auges, 74. 84 Song, Theologie des Dritten Auges, 122 f. 85 Vgl. Küster, Einführung, 23 f. und § 4.
§ 10 Der Schwarze Messias – Christologie im Kontext des Rassismus 1 Vgl. James H. Cone, Martin & Malcolm & America. A Dream or a Nightmare, Maryknoll, NY 1991. 2 James H. Cone, Schwarze Theologie. Eine christliche Interpretation der Black-PowerBewegung, München und Mainz 1971 (engl. ders., Black Theology and Black Power, New York 1969).
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3 James H. Cone, A Black Theology of Liberation, Twentieth Anniversary Edition, Maryknoll, NY 1990 (1970). 4 Allan A. Boesak, Unschuld die schuldig macht. Eine sozialethische Studie über Schwarze Theologie und Schwarze Macht, Hamburg 1977. 5 Andererseits wehrt sich Boesak, Unschuld, 93, ausdrücklich gegen ein Auseinanderdividieren von amerikanischer und südafrikanischer Schwarzer Theologie. 6 Zur Biographie vgl. James H. Cone, Gott der Befreier. Eine Kritik der weißen Theologie, Stuttgart etc. 1982, 7–17; ders., Zeugnis und Rechenschaft. Christlicher Glaube in Schwarzer Kirche, Fribourg und Schweiz 1988; ders., Said I Wasn’t Gonna Tell Nobody. The Making of a Black Theologian, Maryknoll, NY 2018. 7 Vgl. Cone, Gott der Befreier, 7–17; ders., Zeugnis und Rechenschaft, 15–25. 8 Vgl. Cone, Zeugnis und Rechenschaft, 15–47. 9 Vgl. Gayraud S. Wilmore und James H. Cone, Black Theology. A Documentary History, 1966–1979, Maryknoll, NY 71990 (1979), 23–30. 10 Cone, Zeugnis und Rechenschaft, 45. 11 Vgl. Küster, Theologie im Kontext, 106–109. 12 Cone, Zeugnis und Rechenschaft, 53 f. 13 Cone, Zeugnis und Rechenschaft, 55. 14 Vgl. ähnliche Gedanken bei dem Minjung-Theologen Hyun Young-Hak, Der koreanische Maskentanz aus dem Blickwinkel eines Theologen, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Minjung. Theologie des Volkes Gottes in Südkorea, Neukirchen-Vluyn 1984, 49–59, 58: „Als Christen mußten wir mit der Voraussetzung an die Arbeit gehen, daß Gott, der Herr der Geschichte, in und durch unsere Geschichte handelt und daß Gott, wie es in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi offenbart ist, ein besonderes Interesse für die Unterdrückten, also das Minjung, hat. Wenn das nicht so wäre, hätte der christliche Gott keinen Platz in unserer Geschichte, auch nicht in den Ereignissen unserer Gegenwart oder in dem, was die Zukunft bringt.“ 15 Siehe oben § 3.2. 16 Cone, Gott der Befreier, 16. 17 Cone, Black Theology of Liberation, xi. 18 Vgl. Cone, Black Theology of Liberation, 23–35. 19 Cone, Gott der Befreier, 74. 20 Vgl. Cone, Schwarze Theologie, 44; ders., Black Theology of Liberation, 110; ders., Gott der Befreier, 13.72; ders., Zeugnis und Rechenschaft, 127; ders., Für mein Volk. Schwarze Theologie und schwarze Kirche, Fribourg (CH) 1987, 49. 21 Cone, Black Theology of Liberation, 38 vgl. 5. 114; ders., Schwarze Theologie, 129; ders., Gott der Befreier, 54, 92 und 95 f. 22 Vgl. Gutiérrez, Theologie der Befreiung (= G); für Cone beziehe ich mich hauptsächlich auf sein erstes Buch: ders., Schwarze Theologie. Eine christliche Interpretation der BlackPower-Bewegung, München und Mainz 1971 (= C), Seitenangaben mit Sigilla jeweils im Text. 23 Vgl. Cone, Gott der Befreier, 90. 24 Vgl. Cone, Black Theology of Liberation, 2–4. 25 Vgl. Cone, Black Theology of Liberation, 51.
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26 Raymond Fung, Good News to the Poor – A Case for a Missionary Movement, in: Your Kingdom come. Mission Perspectives. Report on the World Conference on Mission and Evangelism, Melbourne, Australia 12–25 May 1980, Genf 1980, 83–92. 27 Vgl. Allan Boesak, Ein Fingerzeig Gottes. Zwölf Predigten in der Situation Schwarzer in Südafrika, Hamburg 1980; ders., Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Texte aus dem Widerstand, Neukirchen-Vluyn 1985; ders., Black and Reformed. Apartheid, Liberation, and the Calvinist Tradition, Maryknoll, NY 1984. Ich setzte mich im Folgenden mit seiner Dissertation Unschuld die schuldig macht auseinander (Seitenangaben im Text). 28 Vgl. Erhard Kamphausen, Schwarze Theologie: Allan Aubrey Boesak, Südafrika, in: Waldenfels, Theologen der Dritten Welt, 96–114; Deane William Ferm, Allan Boesak, in: ders., Profiles in Liberation, 14–18. 29 Boesak zitiert bei Kamphausen, Schwarze Theologie, 100. 30 Vgl. Boesaks Vorwort zu: Unschuld die schuldig macht, XI-XIII. 31 Basil Moore, Was ist Schwarze Theologie?, in: ders. (Hg.), Schwarze Theologie in Afrika. Dokumente einer Bewegung, Göttingen 1973, 13–23, 13. 32 Moore, Was ist Schwarze Theologie?, 13. 33 Boesak, Unschuld, 15–18. Die Übersetzerin gibt den inzwischen auch im Deutschen eingeführten Begriff noch mit „kontextuale Theologie“ (contextual theology) wieder. 34 Vgl. Boesaks Einleitung „Predigt in der Situation Schwarzer in Südafrika“ zu seinem Predigtband A. A. Boesak, Ein Fingerzeig Gottes. Zwölf Predigten in der Situation Schwarzer in Südafrika, Hamburg 1980, 18–42. Ein Text, der in seinem ganzen Duktus stark an Ernst Langes Predigtlehre erinnert. Vgl. E. Lange, Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, München 21987 [1982]. 35 Seitenangaben mit Sigilla im Text: Boesak, Unschuld (= B) und Cone, Schwarze Theologie (= C). 36 Vgl. Das SASO-Manifest, in: Theo Sundermeier (Hg.), Christus – der schwarze Befreier, Erlangen 31981, 82–84. 37 In dieser sensiblen Frage zählt vielleicht auch, daß Bonhoeffer ein Weißer war. 38 Vgl. Cone, Gott der Befreier, 141–149. 39 Vgl. Cone, Black Theology of Liberation, 31; ders., Gott der Befreier, 74. 76. 40 Vgl. Cone, Zeugnis und Rechenschaft, 161–182, bes. 167. 41 Vgl. Cone, Gott der Befreier, 92–95. 42 Vgl. Theo Sundermeier, Schwarzes Bewußtsein – Schwarze Theologie, in: ders., Christus, der schwarze Befreier, 9–36. 43 Vgl. Cone, Gott der Befreier, 150–169. 44 Vgl. die Verwendung der Herzmetapher bei Rita Nakashima-Brock (siehe § 13). 45 Cone, Gott der Befreier, 96. 46 Vgl. Cone, Gott der Befreier, 54: „Das ist der Sinn der Inkarnation. Gott kommt in Christus zu den Schwachen und Hilflosen und wird einer von ihnen, indem er die von ihnen erfahrene Unterdrückung zu seiner eigenen macht und so ihre Sklavenexistenz in ein Sein zur Freiheit verwandelt.“ 47 Ein Vermittlungsversuch ist das von Engelbert Mveng geprägte Konzept der „anthropologischen Armut“ (siehe oben § 6.2).
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§ 11 Jesus Christus im Minjung begegnen – Christologie im Kontext einer Entwicklungsdiktatur 1 Vgl. Küster, Theologie im Kontext, 116–132; ders., A Protestant Theology of Passion dort auch ausführlich zur Minjung-Theologie insgesamt. Die zitierten Interviews habe ich mit Ahn während eines Studienaufenthaltes in Südkorea 1987/88 geführt. 2 Japan hatte nach dem Sieg im russisch-japanischen Krieg (1904/05) die koreanische Halbinsel zunächst zu seinem Protektorat gemacht und 1910 dann annektiert. Diese Okkupation endete erst mit der japanischen Niederlage im II. Weltkrieg. 3 Die Mandschurei wurde erst 1931 durch Japan besetzt. 4 Interview vom 20.7.1988. 5 Interview vom 14.5.1988. 6 Vgl. bes. Ahn, Byung-Mu, Das leidende Minjung. Koreanische Herausforderung an die europäische Theologie, in: Evangelische Kommentare 20, 1987, 12–16. 7 Interview vom 14.5.1988. 8 Siehe oben § 10.1 (1.). 9 Zit. nach Hyun Young-Hak, Minjung: The Suffering Servant and Hope, in: Inter-Religio 7, 1985, 2–14, 4. 10 Vgl. Widerstand in Korea: Erklärung zur demokratischen Rettung der Nation, epd Dokumentation 43/77, 11–15. Dieses Manifest kreist um die großen Themen des politischen Widerstandes: Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und Wiedervereinigung. Signifikant ist der dezidierte Antikommunismus, der darin zum Ausdruck kommt. 11 In Kwangju, der Hauptstadt der Cholla-Provinz, der strukturschwächsten Region Südkoreas, hatte die Bevölkerung eine Art Räterepublik ausgerufen. Die Regierung setzte Truppen im Inneren ein, die mit äußerster Brutalität gegen die eigene Bevölkerung vorgingen. Dieses Trauma hat bis in jüngster Zeit die koreanische Politik überschattet. 12 Vgl. Minjung Theology. People as the Subjects of History, Maryknoll, NY 2., rev. Aufl. 1983 [Erstveröffentlichung Singapur 1981]; der dt. Band, Jürgen Moltmann (Hg.), Minjung. Theologie des Volkes Gottes in Südkorea, Neukirchen-Vluyn 1984, ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen aus dem englischsprachigen Konferenzband und einer umfangreicheren koreanischen Sammlung. 13 Vgl. Ahn, Byung-Mu, Jesus und das Minjung im Markusevangelium, in: Moltmann, Minjung, 110–132; ders., Die Träger der Überlieferung des Jesusereignisses, in: ders., Draußen vor dem Tor. Kirche und Minjung in Korea. Theologische Beiträge und Reflexionen, Göttingen 1986, 99–119; Volker Küster, Jesus und das Volk im Markusevangelium. Ein Beitrag zum interkulturellen Gespräch in der Exegese, Neukirchen-Vluyn 1996; ders., Jesus and the minjung revisited: The Legacy of Ahn Byung-Mu (1922–1996), in: Biblical Interpretation 19, 2011, 1–18. 14 Ahn, Die Träger, 101. 15 Vgl. Ahn, Minjung-Bewegung und Minjung-Theologie, in: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 73, 1989, 126–133 (= Zeitschrift für Mission 15, 1989, 18–26). 16 Vgl. Kim Yong-Bock, Theology and the Social-Biography of the Minjung, in: Bulletin of the Commission of Theological Concerns Vol. 5 No. 3 – Vol. 6 No. 1 (Dec. 1984 – April 1985) 66–78: „Der gegenwärtig einzige Weg, die Sozialbiographie des Minjung zu verstehen, ist, ihm in Dialog und Partizipation zu begegnen und es seine eigenen Geschichten
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erzählen zu lassen“ (70). „Das Konzept der Sozialbiographie umfaßt die subjektiven Erfahrungen des Minjung ebenso wie die objektiven Bedingungen und Strukturen und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse“ (71). 17 Vgl. etwa Peter Beyerhaus, Theologie als Instrument der Befreiung. Die Rolle der neuen ‚Volkstheologien‘ in der ökumenischen Diskussion, Gießen 1986; dazu Küster, Theologie im Kontext, 53–67. 18 Ahn, Byung-Mu, Der Befreier Jesus (Lk 4,18–19), in: ders., Draußen vor dem Tor, 60–65, 65. 19 Ahn, Byung-Mu, Was ist die Minjung-Theologie? Zur „Theologie des Volkes“ in Südkorea, in: Junge Kirche 43, 1982, 290–296, 295. 20 Suh, Nam-Dong, Han: Darstellungen und Theologische Reflexionen, in: Moltmann, Minjung, 27–46, 32 f. 21 Suh, Han, 43. 22 Interview vom 20.7.1988. 23 Suh Nam-Dong, Historical References for a Theology of Minjung, in: Minjung Theology, 155–182, 177. 24 Chung, Hyun-Kyung, Struggle to be the Sun Again. Introducing Asian Women’s Theology, Maryknoll, NY 1990, 111. Siehe unten § 13. 25 Hyun, Young-Hak, Der koreanische Maskentanz aus dem Blickwinkel eines Theologen, in: Moltmann, Minjung, 49–59, 59. 26 Vgl. Volker Küster, Priesterschaft des Han. Betrachtungen zu einem Holzschnitt von Hong Song-Dam, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 49, 1993, 37–48. 27 Hyun, Der koreanische Maskentanz, 53. 28 Vgl. Hyun, Suffering Servant, 7. 29 Vgl. Hyun, Suffering Servant, 9.
§ 12 Jesus mit uns – Christologie im Kontext befreiungstheologischer Neuaufbrüche in den 1980er-Jahren 1 Vgl. God, Christ & God’s People in Asia, Dhyanchand Carr (Hg.), Hongkong 1995. 2 Der Rigveda, eine Hymnensammlung, ist unter den vier Veden die älteste Heilige Schrift der Hindus. 3 Rigveda, X,90,11–12, zitiert bei Arvind P. Nirmal, Auf dem Weg zu einer christlichen Dalit-Theologie, in: Gerechtigkeit für die Unberührbaren. Beiträge zur indischen Dalit-Theologie, Klaus Schäfer (Hg.), 32–50, 32. 4 In der Literatur wird als Vorläufer immer wieder auch Mahatma Jyotirao Phule (1827– 1890) genannt, vgl. James Massey, Historical Roots, in: ders. (Hg.), Indigenous People: Dalits. Dalit Issues in Today’s Theological Debate, Delhi 1994, 3–55, 6; John C. B. Webster, The Dalit Christians. A History, Delhi 1994, 32,72; M. E. Prabhakar, Die Suche nach einer DalitTheologie, in: Gerechtigkeit für die Unberührbaren, 17–31, 20 f. 5 Nirmal, Auf dem Weg, 33. Ein Vergleich mit der englischen Version (A. P. Nirmal, Towards a Christian Dalit Theology, in: Massey, Indigenous People, 214–230) zeigt, dass Nirmal hier, allerdings ohne Quellenangabe, den Eintrag in einem Sanskrit-Englisch-Wörterbuch referiert, wobei er den einzelnen Bedeutungen lediglich den bestimmten Artikel „the“ vorangestellt hat (vgl. The Practical Sanskrit-English Dictionary, Bd. 2, Poona 1958, 804).
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6 Vgl. Webster, The Dalit Christians, 1–5. 7 Vgl. Massey, Historical Roots, 7–31. Vgl. zum Problem Hermann Kulke und Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens, Stuttgart etc. 1982. 8 Massey, Historical Roots, 55. 9 Vgl. Nirmal Minz, Dalits und Stammesvölker auf der Suche nach einer gemeinsamen Ideologie, in: Gerechtigkeit für die Unberührbaren, 88–97; ders., Dalits and Tribals: A Search for Solidarity, in: V. Devasahayam (Hg.), Frontiers of Dalit Theology, Madras 1997, 130–158. 10 Siehe oben § 11.1. 11 Webster, The Dalit Christians, 5. 12 Vgl. Klaus Schäfer, Einführung, in: Gerechtigkeit für die Unberührbaren, 5–16, 11. 13 Vgl. Nirmal, Auf dem Weg, 42. 14 Vgl. M. Azariah, Der heilende Dienst der Kirche für die Dalits, in: Gerechtigkeit für die Unberührbaren, 69–76, 71. 15 Nirmal, Auf dem Weg, 33. 16 Zit. bei Nirmal, Auf dem Weg, 32. 17 Zit. bei Nirmal, Auf dem Weg, 40; vgl. die Ideen von Paulo Freire und ihre Bedeutung für die lateinamerikanische Befreiungstheologie. 18 Towards a Dalit Theology, M. E. Prabhakar (Hg.), Delhi 1989. 19 Vgl. etwa A Reader in Dalit Theology, Arvind P. Nirmal (Hg.), Madras 1991; Massey, Indigenous People; dt. jetzt die vorzügliche Auswahl von Klaus Schäfer, Gerechtigkeit für die Unberührbaren. 20 Vgl. das Kairosdokument, in: Christen im Widerstand. Die Diskussion um das südafrikanische KAIROS Dokument, Stuttgart 1987, 9–43, 14–19, das in diesem Zusammenhang von einer „Staatstheologie“ spricht. 21 Vgl. Gustavo Gutiérrez, Two Theological Perspectives: Liberation Theology and Progressivist Theology, in: The Emergent Gospel. Theology from the Developing World, Sergio Torres und Virginia Fabella (Hgg.), Maryknoll, NY 1978, 227–255, 242. Hier ist auch die vom Kairosdokument sogenannte „Kirchentheologie“ (aaO., 20–27) einzuordnen. 22 Vgl. Klaus Zöller, Arvind P. Nirmal, – Portrait eines indischen Befreiungstheologen, in: ems Informationsbrief 3/1994, 2 f. 23 Nirmal war als Dekan an das Theologische College in Pune berufen worden. 24 Arvind P. Nirmal, A Dialogue with Dalit Literature, in: Towards a Dalit Theology, 64–82, 65 f 25 Ich konnte in Madurai, Indien beobachten, dass Shudras in einem Dalit-Tempel als Priester fungieren. 26 Arvind P. Nirmal, Dalittheologie. Vom „Nicht-Volk“ zum „Gottes-Volk“ – ein neues theologisches Paradigma, in: Befreiender Dialog – Befreite Gesellschaft. Politische Theologie und Begegnung der Religionen in Indien und Europa, Loccum 1994, 41–52, 47 27 Die Abschiedsvorlesung von 1981 fehlt in der Anthologie Arvind P. Nirmal, Heuristic Explorations, Madras 1991. In seinem Beitrag zur Madraskonferenz von 1986 hatte Nirmal die Dalit-Theologie in den Kontext der Dalit-Literatur als Ausdruck der säkularen Emanzipationsbewegung gestellt (ders., A Dialogue), den theologischen Teil übernimmt er z. T. wörtlich in seine Antrittsvorlesung (ders., Auf dem Weg). Auch in einem dritten Vortrag für eine Tagung an der Evangelischen Akademie Loccum (ders., Vom „Nicht-Volk“) arbeitet er mit Versatzstücken aus den beiden vorhergehenden Texten. Daneben gibt es noch zwei
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kürzere Texte, die aber inhaltlich nichts Neues bieten (ders., Developing a Common Ideology: Some Theological Considerations, in: ders. [Hg.], Towards a Common Dalit Ideology, Madras o. J. [1989], 121–126; ders., Doing Theology from a Dalit Perspektive, in: ders., A Reader, 139–144). 28 Zitiert bei Zöller, Nirmal, 3. 29 Zöller, Nirmal 2, nennt irrtümlich Cambridge. 30 Nirmal, Heuristic Explorations, 106. 31 Nirmal, Hermeneutics: Some Issues, in: Heuristic Explorations, 28–38. 32 Vgl. Arvind P. Nirmal, Theological Research: Its Implications for the Nature and Scope of the Theological Task in India, in: ders., Heuristic Explorations, 18–27, 27 [urspr. in: For the Sake of the Gospel, Gnana Robinson (Hg.), Madurai 1978]. Nirmal verweist darauf in ders., A Dialogue, 65; ders., Auf dem Weg, 33, ders., Vom „Nicht-Volk“, 44 f. 33 Vgl. Arvind P. Nirmal, Some Theological Issues Connected with Inter-Faith Dialogue and their Implications for Theological Education in India, in: ders., Heuristic Explorations, 61–81. 34 Nirmal, Auf dem Weg (Seitenangaben im Text). 35 Vgl. Nirmal, A Dialogue, 64 f. 36 Vgl. J. Severino Croatto, Die Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen Hermeneutik, München 1989, 19. 37 Vgl. das Kapitel „Für Recht und Freiheit der benachteiligten Gruppen“, in: Brennpunkte in Kirche und Theologie Japans. Beiträge und Dokumente, Terazono Yoshiki und Heyo E. Hamer (Hgg.), Neukirchen-Vluyn 1988, 44–67. 38 Vgl. Teruo Kuribayashi, A Theology of the Crown of Thorns: Towards the Liberation of the Asian Outcasts, New York 1987. Auszüge daraus erschienen zuerst in der Japan Christian Review 58,1992, 19–32 und wurden inzwischen in verschiedenen Sammelbänden wieder abgedruckt: R. S. Sugirtharajah (Hg.), Frontiers in Asian Christian Theology. Emerging Trends, Maryknoll, NY 1994, 11–26; God, Christ & God’s People in Asia, 93–114. Ich zitiere nach der Version Teruo Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, in: God’s People in Asia. 39 Von Tokugawa Ieyasu (1543–1616) begründete Shogun-Dynastie. Der Shogun (jap. urspr. Feldherr) führte im Namen des Kaisers die Regierungsgeschäfte. De facto hatte er die Macht im Staate inne. 40 Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, 93. In Brennpunkte, 44, heißt es dazu lapidar: „buraku = Gemeinde; min = Bewohner“. 41 God’s People in Asia, 90. 42 Brennpunkte, 44. 43 Kuribayashi, Theology of the Crown of Thorns, 25. Laut Brennpunkte, 44, wurde „Hinin (Nicht-Person)“ im japanischen Mittelalter als weiteres Synonym für Burakumin verwandt. 44 Brennpunkte, 44. 45 God’s People in Asia, 90. 46 Vgl. God’s People in Asia, 91. 47 1867 gab der 15. Tokugawa-Shogun Yoshinobu die Regierungsgewalt an den Kaiser Mutsuhito zurück. Der unter dem Ehrennamen Meiji („Erleuchtete Herrschaft“) in die Geschichte eingegangene Kaiser trieb die noch unter Yoshinobu begonnene Annäherung
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an den Westen weiter voran und reformierte das Land von Grund auf. Er erließ eine neue Verfassung, die Japan zur konstitutionellen Monarchie machte. Gleichzeitig war in dieser Verfassung aber auch die göttliche Abstammung des Kaisers verankert. Der Shintoismus wurde zur Staatsreligion. 48 Wort der Gründungsvollversammlung der Verstoßenen in Japan, in: Brennpunkte, 61 (Hervorhebung von mir). 49 Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, 94. 50 Zitiert bei Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, 100. 51 Kuribayashi, Theology of the Crown of Thorns (Seitenangaben im Text). 52 Der zusammenfassende Aufsatz, Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, lässt diese noch deutlicher in den Vordergrund treten. 53 Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, 93 f. 54 Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, 94. 55 Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, 98–101, 100. 56 Kuribayashi, Theology of Crowned with Thorns, 106–110. 57 Vgl. Appell an die Christen zum Problem der Diskriminierung der Burakumin (Verstoßenen), in: Brennpunkte, 62–64. 58 Vgl. James H. Cone, A Black American Perspective on the Asian Search for a Full Humanity, in: Asia’s Struggle for Full Humanity: Towards a Relevant Theology, Maryknoll, NY 1980, 178–182 und 187 f. 59 Siehe oben Einführungen.
§ 13 Jesus und die Frauen | Die weiblichen Gesichter Christi – Christologie im Kontext von Sexismus, Rassismus und Klassismus 1 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson und Lawrence Grossberg (Hgg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana 1988, 271–313 [dt. dies., Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien und Berlin 2008]. 2 Von dem bewusst interkulturell zusammengesetzten Herausgeberinnen-Kollektiv der englischen Ausgabe (Philadelphia 1988) Letty M. Russel, Kwok Pui-Lan, Ada María IsasiDíaz und Katie Geneva Cannon, ist bei der deutschen Ausgabe nur Russel übriggeblieben. Auch Titel und Untertitel sind leicht abgewandelt und verlieren dadurch ihre intergenerative und interkulturelle Aufladung. Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe Letty M. Russel (Hg.), In den Gärten unserer Mütter. Religiöse Erfahrungen von Frauen heute, Freiburg 1990. 3 Rosemary R. Ruether, Sexismus und die Rede von Gott. Schritte zu einer anderen Theologie, Gütersloh 1985, 145–170. 4 Dorothee Sölle, Christologie auf der Anklagebank, in: Junge Kirche 57, 1996, 130–140, 131; vgl. dies., Vater, Macht und Barbarei. Feministische Anfragen an autoritäre Religion, in: Concilium 17, 1981, 223–227; dies., Warum brauchen wir eine feministische Christologie?, in: Evangelische Theologie 53, 1993, 86–92. 5 Vgl. Dorothee Sölle, Leiden, Freiburg etc. 1993 [1973], 5, 40, 44 u. ö. 6 Sölle, Leiden, Freiburg, 39. 7 Siehe oben § 10.1 (3.). 8 Mary Daly, Jenseits von Gottvater, Sohn & Co. Aufbruch zu einer Philosophie der Frauenbefreiung, München 1980.
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9 Phyllis Trible, Texts of Terror. Literary-Feminist Readings of Biblical Narratives, Philadelphia 1984 [dt. Mein Gott, warum hast du mich vergessen! Frauenschicksale im Alten Testament, Gütersloh 1987]. 10 Vgl. Luise Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994; dies., Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, München 1990; Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis … Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, Gütersloh 1988; Küster, Einführung, 69–73. 11 Elisabeth Schüssler Fiorenza, Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh 1997; vgl. Elizabeth A. Johnson, She Who Is. The Mystery of God in Feminist Theological Discourse, New York 2018 [1992]. 12 Vgl. Judith Plaskow, The Coming of Lilith. Essays on Feminism, Judaism, and Sexual Ethics, 1972–2003, Boston 2005, 89–109. 13 Hisako Kinukawa, Frauen im Markusevangelium. Eine japanische Lektüre, Luzern 1995 (Seitenangaben im Text); dies., Doing Theology in Asia. A Japanese Feminist Perspective, https://www.cca.org.hk//ctc/ctc98–01/1.htm am 06.06.2020. 14 Vgl. etwa die Beiträge in Leidenschaft und Solidarität. Theologinnen der Dritten Welt ergreifen das Wort, Luzern 1992 (bes. 52–55) und Johnson, Strength of Her Witness (bes. 178–181). 15 Siehe unten Oduyoye und Dube. 16 Mercy Amba Oduyoye, Sei eine Frau, und Afrika wird stark sein, in: Russell, In den Gärten unserer Mütter, 31–51, 32 (Seitenangaben im Text). 17 Vgl. Mercy Amba Oduyoye, A Coming Home to Myself. A Childless Woman in the West African Space, in: Liberating Eschatology. Essays in Honor of Letty M. Russel, Margaret A. Farley und Serene Jones (Hgg.), Louisville 1999, 105–120. 18 Mercy Amba Oduyoye, Introducing African Women’s Theology, Cleveland und Sheffield 2001, 78 f. 19 Siehe unten § 13.4. 20 Vgl. Yolanda Smith, Mercy Amba Oduyoye, https://www.biola.edu/talbot/ce20/database/mercy-amba-oduyoye am 06.06.2020. 21 Vgl. Oduyoye, Reflections from a Third World Woman’s Perspective. 22 Mercy Amba Oduyoye, Der Wert afrikanischer religiöser Vorstellungen und Bräuche für die christliche Theologie, in: Dem Evangelium auf der Spur, 202–210, 210. 23 Übersetzungsfehler im englischen Original steht „Fanti primal worship“ (43) deutsch sollte es daher besser heißen „traditionalen Religion der Fante“. 24 Oduyoye, African Women’s Theology, 51. Vgl. dies, Wir selber haben ihn gehört. Theologische Reflexionen zum Christentum in Afrika, 142–157; dies. und Elisabeth Amoah, Wer ist Christus für afrikanische Frauen?, in: Leidenschaft und Solidarität, 69–87. 25 Oduyoye, African Women’s Theology, 51. 26 Mercy Amba Oduyoye, Jezus, de gezalfde, in: Manuela Kalsky und Theo Witvliet (Hgg.), De gewonde genezer. Christologie vanuit het perspectief van vrouwen in verschillende culturen, Baarn 1991, 11–25, 11 f. 27 Oduyoye, Jezus, de gezalfde, 20. 28 Oduyoye, African Women’s Theology, 47f. 29 Vgl. Oduyoye, African Women’s Theology, 64.
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30 Musa W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis, MO 2000, 3 f. (Seitenangaben im Text). 31 Musa W. Dube (Hg.), HIV/AIDS and the Curriculum: Methods of Integrating HIV/ AIDS in Theological Education, Geneva 2003; dies. (Hg.), AfricaPraying: A Handbook of HIV/AIDS Sensitive Sermons and Liturgy, Geneva 2003; dies. und Musimbi Kanyoro (Hgg.), Grant Me Justice: HIV/AIDS and Gender Readings of the Bible, Pietermaritzburg und New York 2004. 32 Musa W. Dube, Towards an HIV & AIDS Christology. Christ the Compassionate Healer and Liberator, in dies., The HIV & AIDS Bible. Selected Essays, Scranton und London 2008, 145–167, 145 (Seitenangaben im Text). 33 Siehe oben § 5. 34 Chung Hyun-Kyung, Auf den Spuren eines langen Traumes, in: Russel, In den Gärten unserer Mütter, 52–70, 56–59 (Seitenangaben im Text). 35 Chung Hyun-Kyung, Struggle to be the Sun Again, Introducing Asian Women’s Theology, Maryknoll, NY 1990 (Seitenangaben im Text) [dt. Schamanin im Bauch Christin im Kopf. Frauen Asiens im Aufbruch, Stuttgart 1992]. 36 Der Titel ist einem Gedicht der Japanerin Hiratsuka Raicho entlehnt. Ursprünglich war die Frau die Sonne, heute ist sie der Mond, also in Abhängigkeit von der Sonne geraten. 37 Vgl. Chung Hyun-Kyung, Popular Religion And Fullness Of Life. An Asian Eco-Feminist Reflection, https://www.cca.org.hk/ctc/ctc02-01/ctc0201 .htm am 1. 12. 2020. 38 Vgl. Chung Hyun-Kyung, In the End, Beauty Will Save Us All. A Feminist Spiritual Pilgrimage, 2 Bde, Seoul 2002; dies., Letter from the Future. Goddess-Spell According to HyunKyung, Seoul 2003; dies. und Allice Walker, Hyun-Kyung und Allice’s Fabulous Love-Affair with God, Seoul 2004. 39 Chung Hyun-Kyung, „Han-Pu-Ri“. Doing Theology from Korean Women’s Perspective, in: Ecumenical Review 40, 1988, 27–36, 27 und 31. 40 Vgl. Chung „Han-Pu-Ri“, 34 f. 41 Chung Hyun-Kyung, „Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung“, in: Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1991, Walter Müller-Römheld (Hg.), Frankfurt a. M. 1991, 47–56, 47 f. 42 Ähnlich Kwok Pui-Lan, Introducing Asian Feminist Theology, 81 f. 43 Chung, „Han-Pu-Ri, 34 f.; dies., „Opium oder Keim der Revolution?“ Schamanismus: Frauenorientierte Volksreligiosität in Korea, in: Concilium 1988, 393–398. 44 In Chung, Komm, Heiliger Geist, 56, der offiziellen Übersetzung des ÖRK, wurde das weibliche Geschlechtspronomen im englischen Original in ein maskulines umgewandelt (Korrektur des Verf.). 45 Vgl. Shusako Endo, Das Mütterliche in: Yagi und Luz, Gott in Japan, 16-46. 46 Kwok Pui-Lan, Mütter und Töchter – Gelehrte und Kämpferinnen, in: Russel, In den Gärten unserer Mütter, 17–30 (Seitenangaben im Text). 47 Vgl. Kwok Pui-Lan, Chinese Women and Christianity 1860–1927, Atlanta 1992; dies., Interpretation als Dialog. Eine biblische Hermeneutik aus Asien, Luzern 1996; dies., Globalization, Gender and Peacebuilding. The Future of Interfaith Dialogue, New York 2012. 48 Kwok Pui-Lan, Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville 2005, 25. 49 Kwok Pui-Lan, Farbkodierungen für Jesus. Ein Interview mit Kwok Pui-Lan, in: Andreas Nehring und Simon Tielesch (Hgg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische
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und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013, 112–122, 114 [engl. 1998]. Der Titel ist eine Anspielung auf die Methodik des Jesusseminars. 50 Kwok, Farbkodierungen, 118 f. 51 Vgl. Kwok Pui-Lan, Jesus! The Native. Biblical Studies from a Postcolonial Perspective, in: Teaching the Bible: The Discourses and Politics of Biblical Pedagogy, Fernando F. Segovia und Mary Ann Tolbert (Hgg.), Maryknoll, NY 1998, 69–85, 79 f. 52 Vgl. Kwok, Farbkodierungen für Jesus, 115. 53 Vgl. Kwok, Jesus! The Native, 70–75. 54 Vgl. Kwok, Jesus! The Native, 80–83. 55 Kwok, Farbkodierungen, 120. 56 Kwok, Jesus! The Native, 83. 57 Kwok Pui-Lan, Chinese Non-Christian Perceptions of Christ, in: Any Room for Christ in Asia?, Leonardo Boff und Virgilio Elizondo (Hgg.), Concilium 1993/2, 24–32 (Seitenangaben im Text). 58 Kwok Pui-Lan, Engendering Christ. Who do you say that I am?, in: Postcolonial Imagination and Feminist Theology, 168–185, 171 (Seitenangaben im Text). 59 Kwok, Introducing Asian Feminist Theology, 79–97. 60 Die philippinische Theologin Muriel Orevillo-Montenegro schöpft in ihrer ebenfalls bei James Cone geschriebenen Doktorarbeit The Jesus of Asian Women, Maryknoll, NY 2006 erneut aus den gleichen Quellen. In vier geographisch gegliederten Kapiteln kommen neben den nun schon bekannten Protagonistinnen Gnanadason (Indien), Mananzan (Philippinen), Chung (Korea) und Kwok (Hongkong) auch die Christologien der einfachen Frauen und Bewegungen und unbekanntere Theologinnen zu Wort. Bei Doris Strahm, Vom Rand in die Mitte, 1997, 57–150 stehen Virginia Fabella (Philippinen), Monica Melanchton (Indien) und Chung (Korea) im Zentrum. Manuela Kalsky, Christaphanien, 2000, 229–264 fokussiert sich für Asien auf Fabella (Philippinen) und ihre befreiende Jesulogie und Chung (Korea) mit ihrer synkretistischen Jesus-Deutung und diagnostiziert dabei im Vergleich der beiden eine Verschiebung von der Re-Interpretation zur Re-Vision der Christologie. Zu Chung liegt ferner auch die Monographie Marion Haubner, Han. Christologie Im Werk Von Chung Hyun Kyung, Frankfurt a. M. etc. 2004 vor. 61 Vgl. Kwok Pui-Lan, Ecology and Christology, in: Journal of Feminist Theology 5, 1997, 113–125. 62 Kwok, Introducing Asian Feminist Theologies, 91 und 93. 63 Die biographischen Angaben beruhen auf meinen Recherchen im Zusammenhang mit der Verleihung des Ehrendoktors. 64 Vgl. Ivone Gebara, Die dunkle Seite Gottes. Wie Frauen das Böse erfahren, Freiburg etc. 2000, 73–89 (Seitenangaben im Text); Margit Eckhold, Ivone Gebara CND, Brasilien, in: Gesichter einer fremden Theologie, 215–221. 65 Elsa Tamez, Rechtfertigung als Bejahung des Lebens, in: Ulrich Schoenborn (Hg.), Hermeneutik in der Theologie der Befreiung, Mettingen 1994, 109–113, 111 (= Zeitschrift für Mission 16, 1990, 107–110). 66 Elsa Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1988, 240. Vgl. dies., Die Option für die Ausgeschlossenen in einer ausschließenden Welt. Zu Rö-
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mer 9–11, in: Zeitschrift für Mission 21, 1995, 24–34, dazu Dorothea Erbele, Der Blick von unten. Die Theologin Elsa Tamez liest die Bibel anders, in: Evangelische Kommentare 31, 1/1998, 16–18. 67 Jacquelyn Grant, White Women’s Christ and Black Women’s Jesus. Feminist Christology and Womanist Response, Atlanta 1989 (Seitenangaben im Text). 68 Kelly Brown Douglas, The Black Christ, Maryknoll, NY 1994. 69 Vgl. Kelly Brown Douglas, Sexuality and the Black Church. A Womanist Perspective, Maryknoll, NY 1999. In Stand Your Ground. Black Bodies and the Justice of God, Maryknoll, NY 2015 zieht Brown Douglas dann Parallelen zwischen Jesus und dem von einem weißen Vigilanten 2012 erschossenen schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin. 70 Delores S. Williams, Sisters in the Wilderness. The Challenge of Womanist God-Talk, Maryknoll, NY 1993. 71 Vgl. Ada María Isasi-Diaz, Ein spanischer Garten im fremden Land, in: In den Gärten unserer Mütter, 90–104; dies., La Lucha. My story, in: dies., La Lucha Continues. Mujerista Theology, Maryknoll, NY 2004. 72 Isasi-Diaz, Ein spanischer Garten, 93; dies., My story, 11. 73 Spanisch für „Frau“ in Abgrenzung zur feministischen Theologie weißer Frauen. Anders als die Selbstbezeichnung womanist hat sich dieser Begriff über das viel beachtete Œu vre von Isasi-Diaz hinaus nicht durchsetzen können. 74 Ada María Isasi-Díaz, Identifícate con Nosotros. A Mujerista Christological Understanding, in: La Lucha Continues. Mujerista Theology, 240–266 (Seitenangaben im Text). 75 Zur Biographie vgl. Rita Nakashima Brock und Gabriella Lettina, Soul Repair. Recovering from Moral Injury after War, Boston 2012, xxi-xxiv und 122–126; und die Abschnitte zu Rita’s story in: Rita Nakashima Brock und Rebecca Ann Parker, Proverbs of Ashes. Violence, Redemptive Suffering, and the Search for What Saves Us, Boston 2001. 76 Vgl. Brock und Lettina, Soul Repair. 77 Rita Nakashima Brock, Journeys by Heart. A Christology of Erotic Power, New York 1996 [1988] (Seitenangaben im Text). 78 Wonhee Anne Joh, Heart of the Cross. A Postcolonial Christology, Louisville und London 2006, 121, 95–98 (Seitenangaben im Text). 79 Vgl. Carter Heyward, Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 1986. 80 Marcella Althaus-Reid, Indecent Theology. Theological perversions in sex, gender and politics, London und New York 2001 (Seitenangaben im Text). Vgl. dies., The Queer God, London und New York, 2003. 81 Vgl. den Titel ihrer Festschrift Lisa Isherwood und Mark D. Jordan (Hgg.), Dancing Theology in Fetish Boots. Essays in Honour of Marcella Althaus-Reid, London 2010. 82 Marcella Althaus-Reid, From Liberation Theology to Indecent Theology – the Trouble with Normality in Theology, in: Ivan Petrella (Hg.), Latin American Liberation Theology – The Next Generation Maryknoll, NY 2005, 20–38. 83 Siehe oben § 2 (2.). 84 Henry Jenkins, Textual Poachers: Television Fans and Participatory Culture, New York 2 2012 [1992] unter Rückgriff auf Michel de Certeau, The Practise of Everyday Life, Berkeley 3 2011 [1984]. 85 In Anlehnung an Jean-Paul Sartre, Being and Nothingness, New York 1956.
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§ 14 Modelle kontextueller Christologie – Gemeinsamkeiten, Unterschiede und ökumenische Lernchancen 1 Vgl. ders., A Black American Perspective on the Future of African Theology, in: Kofi Appiah-Kubi und Sergio Torres, African Theology en Route. Papers from the Pan-African Conference of Third World Theologians, Maryknoll, NY 1979, 176–186, 177. 2 Am Dienstag 26.11.2019, (A26–102) 8:30–10:00. 3 Karl-Heinz Ohlig, Fundamentalchristologie im Spannungsfeld von Christentum und Kultur, München 1986, 16, vertritt die These, dass die Christologie eine Funktion der Soteriologie ist: „Die soteriologische Fragestellung aber ist das, was die christliche Verkündigung vorfindet; sie ist nicht von ihr erst produziert, allenfalls kann sie sie aufgreifen und modifizieren bzw. korrigieren und in ‚richtige‘ Bahnen lenken. Die Menschen aller Zeiten und Kulturen haben diese religiöse Frage nach Heil, und sie haben sie auf ihre Weise.“ Vgl. ders., Gibt es eine Einheit der multikulturellen Christologien? Transkulturelle Christologie als Herausforderung, in: Hermann Dembowski und Wolfgang Greive (Hgg.), Der andere Christus. Christologie in Zeugnissen aus aller Welt, Erlangen 1991, 186–205. 4 Das von Hermann Dembowski genannte Identitätskriterium, dass in Jesus Christus Gott, Mensch und Heil zusammengesprochen werden müssen, greift hier nur noch mittelbar. Vgl. ders., Einführung in die Christologie, Darmstadt 1976; ders., Christologie weltweit – Einleitung, in ders. und Greive, Der andere Christus, 9–24; ders., Christologie im Kontext Europas, aaO., 30–52; ders., Unser Christus – der einzige Weg? in: Jesuit Missions 24, 1992, 190–219. 5 Vgl. Chung, „Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung“. 6 Vgl. Überlegungen orthodoxer Teilnehmer, gerichtet an die Siebte Vollversammlung, in: Im Zeichen des Heiligen Geistes, 280–282; Athanasios Basdekis, Canberra und die Orthodoxen. Anfragen und Forderungen an den ÖRK im Anschluß an die 7. Vollversammlung, in: Ökumenische Rundschau 40, 1991, 356–374. 7 Siehe oben § 13.4.
Epilog: Paulus und die Kultur 1 Vgl. Eve-Marie Becker und Peter Pilhofer (Hgg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, Tübingen 2005; Friedrich W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013; PaulGerhard Klumbies und Daniel. S. Du Toit (Hgg.), Paulus – Werk und Wirkung (FS Andreas Lindemann), Tübingen 2013; Eckart Reinmuth, Paulus. Gott neu denken, Leipzig 2004; E. P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995; Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin und New York 2003; Oda Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen und Basel 2006; Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011. 2 Vgl. Claus Jürgen Thornton, Der Zeuge des Zeugen. Lukas als Historiker der Paulusreisen, Tübingen 1991; Rainer Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, Tübingen 1994, die der Apostelgeschichte beide einen hohen Quellenwert für die Biographie des Paulus attestieren; kritisch dagegen: Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin und New York 1975, 393–399; Gerd Lüdemann, Paulus der Heidenapostel I. Studien zur Chronologie, Göttingen 1980; François Vouga, Geschichte des frühen Christentums, Tübingen 1994, 85.
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3 Vgl. Christoph Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus, Göttingen 1970, 169– 185. 4 Vgl. Günther Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, in: ders., Geschichte und Glaube II, München 1971, 120–139. 5 Robert Jewett, Paulus-Chronologie. Ein Versuch, München 1982; Niels Hyldahl, Die paulinische Chronologie, Leiden 1986; Alfred Suhl, Paulinische Chronologie im Streit der Methoden, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 26.2, 1995, 940–1188. 6 Vgl. Rudolf Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Göttingen 1910; Carl Joachim Classen, Paulus und die antike Rhetorik, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 82, 1991, 1–33; Bernhard Heininger, Die religiöse Umwelt des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 44–82, 68–74. Tor Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, Berlin und New York 2006. 7 Vgl. Wolf-Henning Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission, Neukirchen-Vluyn 1979; Eva Ebel, Das Missionswerk des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 97–106, 102–105. Markus Öhler, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Paulus, in: Horn, Paulus Handbuch, 243–256. 8 Vgl. Martin Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: Paulus und das antike Judentum, Martin Hengel und Ulrich Heckel (Hgg.), Tübingen 1991, 177–291; Karl-Wilhelm Niebuhr et al., Der vorchristliche Paulus, in: Horn, Paulus Handbuch, 49–80. 9 Vgl. Wolfgang Stegemann, War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 78, 1987, 200–229; Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart etc. 1995, 256–261; Klaus Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, 92–112, 95; anders: Gerd Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 249 f. Eva Ebel, Das Leben des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 83–96: 90 f. Karl L. Noethlichs, Der Jude Paulus – ein Tarser und Römer?, in: Raban von Haehling (Hg.), Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung, Darmstadt 2000, 53–84; Heike Omerzu, Tarsisches und römisches Bürgerrecht, in: Horn, Paulus Handbuch, 55–58. 10 Vgl. Gerd Theißen, Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 2. erw. Aufl. 1983, 201–230; Gerhard Dautzenberg, Der Verzicht auf das apostolische Unterhaltsrecht. Eine exegetische Untersuchung zu 1 Kor 9, in: Biblica 50, 1969, 212–232; Peter Lampe, Paulus – Zeltmacher, in: Biblische Zeitschrift 31, 1987, 256–261. 11 Stegemann und Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 74. 127. 261, legen ein deutlich zweigeteiltes pyramidales Modell der römischen Gesellschaft zugrunde, das zwischen Elite (Oberschichtsgruppen) und Nicht-Elite (Unterschichtsgruppen) unterscheidet. Die Unterschichtsgruppen werden noch einmal differenziert nach relativ Wohlhabenden bzw. Armen und den absolut Armen, die unterhalb des Existenzminimums leben, sowie nach Stadt und Land. Vgl. Gerd Theißen, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums, in: ders., Studien zur Soziologie, 231–271; Wayne A. Meeks, The First Urban Christians. The Social World of the Apostle Paul, New Haven und London 1983 [dt. 1993].
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12 Vgl. Jews and Christians in Antioch in the first four Centuries of the Common Era, Wayne A. Meeks et al. (Hgg.), Michigan 1978, 13–24. 13 Vgl. auch die Peristasenkataloge I Kor 4,10–13; II Kor 6,4–10; 11,23–30.32 f.; dazu: Stegemann, War der Apostel, 223 f.; Stegemann und Stegemann, Sozialgeschichte, 258. 14 Vgl. Jürgen Becker, Paulus und seine Gemeinden, in: Die Anfänge des Christentums, 102–159, 125–127; Christian Strecker, Hausgemeinden und urbanes Christentum, in: Horn, Paulus Handbuch, 238–243. 15 Vgl. jetzt Esther Kobel, Paulus als interkultureller Vermittler. Eine Studie zur kulturellen Positionierung des Apostels der Völker, Paderborn 2019, die Paulus als „bi-kulturelle Persönlichkeit“ charakterisiert und seine Missionsstrategie mithilfe der Kulturtransferforschung interpretiert. Sie zeigt dies beispielhaft an der Agonmethaphorik auf, die seine Konversionstätigkeit als Wettkampf für Christus beschreibt, „um einen unvergänglichen Kranz (στέφανος ἄφθαρτος) zu gewinnen. Der unvergängliche Kranz repräsentiert ein neues Deutungsmuster der gesamten menschlichen Existenz, und zwar nicht nur in dieser Welt, sondern über den Tod hinaus. […] So übernimmt Paulus, der mindestens bis zu einem bestimmten Mass mit verschiedenen ethnischen Gruppen unter seinen Adressatinnen und Adressaten vertraut ist, Begriffe und Konzepte aus deren Welt, adaptiert und rekontextualisiert sie. Dadurch wirkte er als bikultureller Mittelsmann, als interkultureller Vermittler sowie Übersetzer und schafft, letztlich durch ein christologisches Prisma hindurch, den Boden für etwas Neues (221 f.).“ 16 Vgl. Christoph Burchard, Erfahrungen multikulturellen Zusammenlebens im Neuen Testament, in: ders., Studien, 293–311. 17 Vgl. Gerd Theißen, Judentum und Christentum bei Paulus. Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einem beginnenden Schisma, in: Hengel und Heckel, Paulus und das antike Judentum, Tübingen 1991, 331–356; Eve-Marie Becker, Die Person des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 107–119, 102–105: 114–116. Jörg Frey, Das Judentum des Paulus, aaO., 5–43. 18 Vgl. Christoph Burchard, Nicht aus Werken des Gesetzes gerecht, sondern aus Glauben an Jesus Christus – seit wann?, in: ders., Studien, 230–240. 19 Dieter Zeller, Zur neueren Diskussion über das Gesetz bei Paulus, in: Theologie und Philosophie 62, 1987, 481–499; Hermann Lichtenberger, Paulus und das Gesetz, in: Hengel und Heckel, Paulus und das antike Judentum, 361–378; Michael Bachmann, Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck „‚Werke‘ des Gesetzes“, in: Michael Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive, Tübingen 2005, 69–134. Udo Schnelle, Paulus und das Gesetz. Biographisches und Konstruktives, in: Becker und Pilhofer, Biographie und Persönlichkeit des Paulus, 245–270; Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 339–411. 20 Vgl. Dieter Georgi, Der Armen zu Gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, Neukirchen-Vluyn 2., durchges. und erw. Aufl. 1994; Klaus Berger, Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte, in: New Testament Studies 23, 1977, 180–204; Andreas Lindemann, Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als ›diakonisches‹ Unternehmen, in: Wort und Dienst 28, 2005, 99–106. Friedrich W. Horn, Die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, in: ders., Paulus Handbuch, 116–119. 21 Vgl. Ernst Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Erster und zweiter Band, Göttingen 1964, Bd. 2, 181–193; Eduard Lohse, Die Gerechtigkeit Gottes in der paulinischen Theologie, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1973, 209–227.
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22 Vgl. Peter von der Osten-Sacken, Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus, München 1989; ders., Evangelium und Tora. Aufsätze zu Paulus, München 1987. 23 Vgl. aber die genannten Arbeiten von Elsa Tamez (siehe oben § 13, 200 Anm. 6). 24 Vgl. Eberhard Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, Tübingen 61986, 267: „Vielmehr gibt uns Rm 14,17 das Recht zu der Behauptung, daß Paulus den Begriff der basileia durch den der dikaiosyne ersetzt hat.“ 25 Der christliche Glaube hat immer auch eine kulturbewahrende Funktion gehabt. Die vielgescholtenen Missionare des 19. Jahrhunderts haben die fremden Kulturen und Religionen, ihre Sprachen und Symbolsysteme gründlich erforscht und dokumentiert, um das Evangelium weitersagen zu können. Auf den Missionsschulen wurde die postkoloniale Elite herangebildet. Diese Aspekte des missionarischen Projektes sind bei der notwendigen und leider allzuoft gerechtfertigten Kritik der Verknüpfung von Mission und Kolonialismus ins Hintertreffen geraten. Früh gab es auch schon einheimische Mitarbeiter, vor allem Übersetzer, die den Missionaren gewissermaßen als „Fremdenführer“ dienten (vgl. Theo Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996, 33), zugleich aber auch selbst zu Boten des Evangeliums wurden. Hier haben sich frühe Formen einheimischer Theologie entwickelt, die noch wenig erforscht sind. Lamin Sanneh, West-African Christianity. The Religious Impact, Maryknoll, NY 1983 und Kwok, Chinese Women and Christianity haben den einheimischen Beitrag (local agency) exemplarisch herausgearbeitet. 26 Vgl. Das schöne Evangelium. Christliche Kunst im balinesischen Kontext, Theo Sundermeier und Volker Küster (Hgg.), Nettetal 1991; Volker Küster, Accommodation or Contextualization? Ketut Lasia and Nyoman Darsane – Two Balinese Christian Artists, in: Mission Studies 16, 1999, 157–172. 27 Vgl. Wilfried Härle und Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 1979, 78–99, 99: „Und sie [die Rechtfertigungsbotschaft] ist als solche Definition nicht nur Begrenzung des Menschseins, sondern zugleich seine Auszeichnung, erweist sich doch von Jesus Christus her das gerechtfertigte Menschsein als das von Gott aufgerichtete (‚auferweckte‘) und erhöhte Menschsein und insofern als das unaufhebbare Eingesetztsein des Menschen in die Würde seiner Gottebenbildlichkeit.“ 28 Luise Schottroff, Wie berechtigt ist die feministische Kritik an Paulus? Paulus und die Frauen in den ersten christlichen Gemeinden im Römischen Reich, in: dies., Befreiungserfahrungen, 229–246, 246 attestiert Paulus im Kontext seiner Zeit, fast schon ein Feminist gewesen zu sein. Antoinette Clark Wire, The Corinthian Women Prophets. A Reconstruction through Paul’s Rethoric, Minneapolis, MN 1990 gibt den korinthischen Prophetinnen durch eine Analyse der paulinischen Rethorik ihre Stimme zurück und setzt Sie Paulus gegenüber ins Recht. In dies., 2 Corinthians, Collegeville, MN 2019 beschreibt sie den Umschwung des Paulus hin zu einer positiven Haltung ihnen gegenüber im Laufe der Auseinandersetzung. Elsa Tamez, Struggles for Power in Early Christianity. A Study of the First Letter to Timothy, Maryknoll, NY 2007 liest den Text gegen den Trend der bisherigen feministischen Exegese intersektional. Die befreiungstheologische Kritik an den Reichen trifft hier reiche Frauen und führt in der Konsequenz zu einer unerhörten patriarchalen Verallgemeinerung. Vgl. Luise Schottroff et al. (Hgg.), Paulus. Umstrittene Traditionen – Lebendige Theologie. Eine
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feministische Lektüre, Gütersloh 2001 und die Beiträge zu Paulus in: Frank Crüsemann et al. (Hgg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel (FS Luise Schottroff), Gütersloh 2004. 29 Vgl. Volker Küster, Maria – Mutter des Glaubens. Versuch einer ästhetischen Annäherung, in: „Daß Gott eine große Barmherzigkeit habe.“ Konkrete Theologie in der Verschränkung von Glauben und Leben, Doris Hiller und Christine Kress (Hgg.), Leipzig 2001, 289–306. 30 Vgl. Marianne Katoppo, mitleiden – mithandeln. Theologie einer asiatischen Frau, Erlangen 1981, 29–37 [engl. 1979]; Chung, Struggle, 74–84.
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Autor*innenverzeichnis A Ahn, Byung-Mu 300, 301 Aland, Kurt 277 Althaus-Reid, Marcella 308 Amaladoss, Michael 267 Anderson, Gerald H. 275 Appiah-Kubi, Kofi 269, 281, 284, 309 Arens, Edmund 276 Azariah, M. 302 Azzi, Riolando 278
B Bachmann, Michael 311 Baëta, Christian G. 284 Barksdale, John O. 290, 292, 293 Barth, Karl 291, 294 Basdekis, Athanasios 309 Becken, Hans-Jürgen 281 Becker, Eva-Marie 309, 311 Becker, Jürgen 270, 271, 311 Bedford-Strohm, Heinrich 278 Bendangjungshi 287 Berger, Klaus 311 Bermejo-Rubio, Fernando 271 Bernhardt, Reinhold 273 Bertsch, Ludwig 278 Beyerhaus, Peter 301 Bitterli, Urs 267 Boesak, Allan Aubrey 171, 172, 173, 174, 267, 268, 298, 299 Boff, Clodovis 280 Boff, Leonardo 72, 73, 74, 75, 76, 77, 278, 279, 280, 307 Bornkamm, Günther 310 Böttcher, Walter 291 Boyd, Robin 286
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Brandt, Hermann 280 Brinkman, Martien E. 270 Brock, Rita Nakashima 308 Brown Douglas, Kelly 308 Buber, Martin 292 Bujo, Bénézet 281, 282, 283, 284, 285, 286 Bultmann, Rudolf 292, 310 Burchard, Christoph 270, 272, 310, 311 Buri, Fritz 290 Buthelezi, Manas 285
C Cannon, Katie Geneva 304 Carr, Dhyanchand 301 Certeau, Michel de 308 Chang, Jonah 295 Chung, Hyun-Kyung 301, 307 Classen, Carl Joachim 310 Claußen, Carsten 271 Clooney, Francis X. 278 Coe, Shoki 275, 295 Collet, Giancarlo 278 Cone, James Hal 165, 166, 167, 172, 173, 174, 249, 268, 269, 297, 298, 299, 304 Croatto, J. Severino 303 Crollius, Ari Roest 275 Crossley, James G. 271 Cyprian 273
D Daly, Mary 304 d’Arcy May, John 293 Dautzenberg, Gerhard 310 D’Costa, Gavin 289 Delgado, Mariano 278
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Autor*innenverzeichnis 315
Dembowski, Hermann 284, 309 Devasahayam, V. 302 DeYoung, Curtiss Paul 267 Dickson, Kwesi A. 286 Drehsen, Volker 267 Dube, Musa W. 306 Dussel, Enrique 279 Du Toit, Daniel S. 309
E Eagleson, John 281 Ebel, Eva 310 Eckhold, Margit 307 Ela, Jean-Marc 283 Elizondo, Virgilio 269, 307 Ellacuría, Ignacio 280 Elwood, Douglas J. 297 Endo, Shusako 306 England, John C. 275 Erbele, Dorothea 266, 308 Exeler, Adolf 278 Ezeh, Uchenna A. 284
F Fabella, Virginia 266, 270, 285, 302, 307 Fanon, Frantz 268 Farley, Margaret A. 305 Federschmidt, Karl H. 295, 297 Feldtkeller, Andreas 272 Ferm, Deane William 275, 280, 294, 295, 299 Figueroa, Dimas 277 Frederiks, Martha T. 270, 274 Frei, Betto 277 Freire, Paulo 268, 277, 295, 302 Frey, Jörg 271, 311 Freytag, Justus 295 Fung, Raymond 299
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G Gadamer, Hans-Georg 276 Gebara, Ivone 307 Geertz, Clifford 266 Gensichen, Hans-Werner 275 George, E. 269 Georgi, Dieter 311 Gillner, Matthias 278 Glazik, Josef 275 Gnanadason, Aruna 307 Goldstein, Horst 279, 280 Grant, Jacquelyn 308 Green, Gene L. 267 Greive, Wolfgang 284, 309 Grossberg, Lawrence 304 Grözinger, Albrecht 274, 276 Gundert, Wilhelm 290 Gutiérrez, Gustavo 165, 166, 167, 168, 278, 279, 298, 302
H Haehling, Raban von 310 Hahn, Ferdinand 272, 284, 290, 292 Hallencreutz, Carl F. 287 Hamer, Heyo E. 291, 293, 303 Härle, Wilfried 274, 312 Haubner, Marion 307 Heckel, Ulrich 310, 311 Heidegger, Martin 276 Heiniger, Bernhard 310 Hengel, Martin 310, 311 Hennecke, Susanne 290 Hennelly, Alfred T. 279 Herms, Eilert 273, 312 Heyward, Isabel Carter 270, 308 Hick, John 273, 289 Hiller, Doris 313 Himmelmann, Markus 290 Hoedemaker, Bert 272
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316 Autor*innenverzeichnis
Hoekendijk, Johannes Christian 275 Hong, Song-Dam 301 Hopkins, Dwight 269 Horn, Friedrich-Wilhelm 309, 310, 311 Hultgren, Stephen 271 Hur, Joo-Mee 269 Hyldahl, Niels 310 Hyun-Kyung, Chung 270, 306 Hyun, Young-Hak 300, 301
I Ingram, P. O. 292 Irarrázaval, Diego 269 Isasi-Díaz, Ada María 304 Isherwood, Lisa 308
J Jenkins, Henry 308 Jensen, Morten H. 271 Jewett, Robert 310 Johnson, Elisabeth A. 270, 305 Joh, Wonhee Anne 308 Jones, Hugh O. 277 Jones, Serene 305 Jongeneel, Jan A. B. 287 Jordan, Mark D. 308 Jos, Ant 271 Jüngel, Eberhard 312
K Kabasélé, François 282, 283, 284, 285 Kalsky, Manuela 270, 305, 307 Kamphausen, Erhard 299 Kanyoro, Musimbi 276 Käsemann, Ernst 274, 311 Kasper, Walter 276 Kaufmann, Franz-Xaver 268 Keith, Chris 271 Kimura-Andres, Hannelore 290
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Kim, Yong-Bock 300 Kinukawa, Hisako 305 Kitamori, Kazoh 295 Klootwijk, Eeuwout 287, 289 Kluckhohn, Clyde 266 Klumbies, Paul-Gerhard 309 Knitter, Paul F. 273, 289 Kobel, Esther 311 Kohler, Werner 290, 293, 294 Kokushi, Daito 291 Kolié, Cécé 284 Kollbrunner, Fritz 283 Koyama, Kosuke 273, 294, 295, 296, 297 Kraemer, Hendrik 287, 289 Kraft, Charles H. 275 Kress, Christine 313 Kroeber, Alfred L. 266 Krog, Antjie 268 Kulke, Hermann 302 Kuribayashi, Teruo 303, 304 Küster, Volker 266, 267, 268, 269, 270, 272, 273, 276, 278, 289, 297, 298, 300, 301, 305, 312, 313 Kwok, Pui-Lahn 268, 269, 270, 276, 304, 306, 307, 312 Kwon, Jin-Kwan 267, 268
L Lampe, Peter 310 Lange, Ernst 299 Las Casas, Bartolomé de 278 Lettina, Gabriella 308 Libanio, Joao Batista 280 Lichtenberger, Hermann 311 Lindars, Barnabas 281 Lindemann, Andreas 309, 311 Link-Wieczorek, Ulrike 284 Lohse, Eduard 311 Lucha, La 308
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Autor*innenverzeichnis 317
Lüdemann, Gerd 309, 310 Lührmann, Dieter 272 Lüpsen, Focko 288 Luther, Martin 281 Luz, Ulrich 290, 291
M Maas, Wilhelm 285 Mackay, John A. 278 Magesa, Laurenti 281, 282 Mahan, Brian 276 Mananzan, Mary John 307 Manus, Ukachukwu Chris 282 Margull, Hans Joachim 287 Martey, Emmanuel 269 Masaya, Odagaki 295 Massey, James 301, 302 Mathew, Jacob 288 Mbiti, John S. 281, 284, 286 McAfee Brown, Robert 279 Meeks, Wayne A. 310, 311 Melanchon, Monica 307 Melanchthon, Monica 221 Melo Magalhães, Antonio Carlos de 280 Merz, Annette 270, 271, 272 Merz-Benz, Peter-Ulrich 269 Metz, Johann Baptist 268, 285 Meyer, Katrin 268 Mieth, Dietmar 285 Minz, Nirmal 302 Moltmann, Jürgen 300 Moore, Basil 299 Morse, Merrill 294 Mugambi, Jesse N. K. 281, 282 Müller, Andreas 280 Müller, Karl 268 Müller-Römheld, Walter 306 Mveng, Engelbert 283, 285, 299
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N Nakashima-Brock, Rita 299 Nam-Dong, Suh 301 Nehring, Andreas 306 Nelson, Cary 304 Neumann, Martin 278, 279 Newbigin, Lesslie 273, 274 Niebuhr, H. Richard 272, 273 Niebuhr, Karl-Wilhelm 310 Nirmal, Arvind P. 301, 302, 303 Nishida, Kitaro 290, 291 Noethlichs, Karl L. 310 Ntsikana, Xhosa 282 Nunes, M. J. Rosado 270 Nyamiti, Charles 281, 282, 283, 284, 285
O Oduyoye, Mercy Amba 266, 270, 282, 305 Ohashi, Ryôsuke 290 Öhler, Markus 310 Ohlig, Karl-Heinz 309 Ohm, Thomas 275 Ollrog, Wolf-Henning 310 Omerzu, Heike 310 Orevillo-Montenegro, Muriel 270, 307 Osten-Sacken, Peter von der 312
P Panikkar, Raimundo 286 Pannenberg, Wolfhart 289 Park, Robert Ezra 269 Parratt, John 267, 281 Pilhofer, Peter 309, 311 Plaskow, Judith 305 Pobee, John Samuel 282, 283, 284, 286 Prabhakar, M. E. 301
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318 Autor*innenverzeichnis
R Radford-Reuther, Rosemary 270 Rahner, Karl 273, 275, 289 Rajkumar, Peniel 267 Reinmuth, Eckart 309 Ricci, Matteo 275 Richebächer, Wilhelm 267 Richesin, L. Dale 276 Rieger, Joerg 268, 270 Riesner, Rainer 309 Ritschl, Dietrich 276, 277 Robinson, Gnana 303 Rosenkranz, Gerhard 292 Rothermund, Dietmar 302 Rücker, Heribert 284 Ruether, Rosemary Radford 304 Russel, Letty M. 304, 305 Rzepkowski, Horst 275
S Salinas, Maximiliano 278 Samartha, Stanley J. 281, 286, 287, 289 Sanders, E. P. 309 Sanneh, Lamin 274, 312 Sanon, Anselme Titianma 283 Sartre, Jean-Paul 308 Sasse, Markus 271 Sawyerr, Harry 283, 284 Schäfer, Klaus 301, 302 Schapp, Wilhelm 277 Scheffczyk, Leo 276 Schlösser, Felix 278 Schmidt, Eckart David 271 Schnelle, Udo 309, 311 Schoenborn, Ulrich 307 Schoen, Ulrich 294 Schottroff, Luise 305, 312 Schouten, Jan Peter 286
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Schreiter, Robert J. 267, 268, 269, 281, 282 Schröter, Jens 271 Schüssler Fiorenza, Elisabeth 305 Schüssler Fiorenza, Francis 276 Schwöbel, Christoph 274 Segovia, Fernando F. 307 Segundo, Juan Luis 276, 280 Seidel, Max 277 Shorter, Aylward 284 Simpfendörfer, Werner 277 Smalley, Stephen S. 281 Smith, Yolanda 305 Sobrino, Jon 73, 74, 75, 76, 77, 278, 279, 280, 281 Sölle, Dorothee 304 Song, Choan-Seng 267, 295, 296, 297 Spivak, Gayatri Chakravorty 304 Stachel, Günther 285 Stalsett, Sturla J. 279 Steck, Odil Hannes 272 Stegemann, Ekkehard Wilhelm 271, 310, 311 Stegemann, Wolfgang 271, 310, 311 Stinton, Diane B. 267, 305 Stonequist, Everett V. 269 Strahm, Doris 266, 270, 282, 307 Streng, Frederick J. 292 Strotmann, Angelika 271 Sugirtharajah, Rasiah S. 293, 303 Suhl, Alfred 310 Sundermeier, Theo 274, 275, 277, 282, 283, 284, 285, 286, 291, 292, 293, 294, 299, 312 Sundkler, Bengt 284, 285 Suzuki, Daisetz 290, 296
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Autor*innenverzeichnis 319
T
W
Tagawa, Kenzo 293 Takizawa, Katsumi 290, 291, 292, 293, 294 Tamez, Elsa 270, 307, 312 Terazono, Yoshiki 293, 303 Tesfai, Yacob 286 Theißen, Gerd 266, 270, 271, 272, 310, 311 Thomas, M. M. 273, 286, 287, 288, 289 Thomas, T. K. 295 Thornton, Claus Jürgen 309 Tielesch, Simon 306 Tin, John Jyigiokk 295 Tödt, Ilse 285 Tolbert, Mary Ann 307 Torres, Sergio 266, 269, 281, 285, 302, 309 Tracy, David 276 Trible, Phyllis 206 Trinidad, Saúl 278 Troeltsch, Ernst 272, 296 Turner, Harold W. 281 Tutu, Desmond 268
Wagner, Gerhard 269 Waldenfels, Hans 275, 278, 280, 284, 290, 295, 299 Webster, John C. B. 301, 302 Welker, Michael 273, 274 Wengst, Klaus 271, 272, 310 Wessels, Anton 266, 273 Wickeri, Philip L. 267 Wienecke, Werner A. 281 Wietzke, Joachim 286 Willeke, Bernward 275 Williams, Delores S. 308 Wilmore, Gayraud S. 298 Wischmeyer, Oda 309, 310, 311 Witvliet, Theo 305 Wolf, Hans Heinrich 288 Wolter, Michael 309 Wolters, Hielke T. 286
U
Zager, Werner 271 Zangenberg, Jürgen K. 271 Zehner, Joachim 287 Zeller, Dieter 311 Zöller, Klaus 302, 303
Udoh, Enyi Ben 283 Unamuno, Miguel de 278 Ustorf, Werner 268, 273
V
Y Yagi, Seiichi 290, 291, 292, 293, 294 Young-Hak, Hyun 298
Z
Vähäkangas, Mika 269, 285 Vegge, Tor 310 Venemans, Ab 290 Vicedom, Georg F. 281 Vielhauer, Philipp 309 Vorgrimler, Herbert 275, 285 Vouga, François 309
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10:06 Uhr
Ein Grundlagenwerk der interkulturellen Theologie Als Kompendium unterschiedlicher Christologien aus Afrika, Asien und Lateinamerika bietet dieses Standardwerk zugleich eine anschauliche, allgemeine Einführung in verschiedene kontextuelle Theologien der »Dritten Welt«. Die um ein Kapitel über christologische Entwürfe von Frauen erweiterte Neuauflage zeigt, wie sich die Kontexte, in denen diese Theologien betrieben werden, geändert haben und fragt, wie die dargestellten Entwürfe heute zu bewerten sind.
» Volker Küsters Buch ist zu einem Klassiker avanciert. In seiner Bündelung der Perspektiven des globalen Südens ist es ein ›must-read‹ für jeden, der sich ernsthaft darum bemüht, zu verstehen, wie eine interkulturelle Christologie Gestalt annehmen kann.
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Miguel de La Torre, Professor an der Iliff School of Theology
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27255-6
Seite 1
Interkulturelle Christologie
10.02.2021
KÜSTER
Kuester_Interkulturelle-Christologie_RZ:148x220
VOLKER KÜSTER
Interkulturelle Christologie Die vielen Gesichter Jesu Christi