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German Pages 218 Year 2019
Martin Tulaszewski, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.) Was Heilung bringt
rerum religionum. Arbeiten zur Religionskultur | Band 3
Editorial Religion ist ein Kulturphänomen. Sie zeigt sich in Kunst und Gesellschaft, in Ethos und Recht, in Sprache, Konsumkultur, Musik und Architektur. Eine Deutung spätmoderner Religion wird sich darum immer auch auf weitere Segmente der Gegenwartskultur einlassen müssen. Dies gilt auch und gerade aus der Perspektive der Religionsforschung innerhalb und außerhalb von Theologie. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt oder am dogmatischen Normenkanon rückt Religion als dynamische Ausdrucksform performativer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Religionswissenschaft, Praktische Theologie und Kulturwissenschaft stellen sich dieser Aufgabe in je spezifischen Theoriezugriffen. Dabei werden Differenzen und Deutungskonflikte, Geltungsansprüche und Übergänge kenntlich gemacht und aufgeklärt. Denn die Frage nach religionskulturellen Formaten korreliert mit der nach religiösen Traditionen, theologischen Normierungen und sozialen Zuschreibungen. Diskurse zu Religion werden so in Bezugnahme auf religionstheoretische Fragehorizonte zum Gegenstand interdisziplinären Austauschs – empirisch, philologisch und historisch vergleichend. Die Bände dieser neuen Reihe widmen sich in unterschiedlicher Weise kulturellen Phänomenen und deuten sie semiotisch und ästhetisch in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt. Im Horizont fachlich gebundener Herangehensweisen wissen sich die Herausgeberin und die Herausgeber in besonderer Weise der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands verpflichtet. Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.
Martin Tulaszewski (M.A.), geb. 1984, ist Religionswissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Märkte des Besonderen« an der Universität Rostock. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Religion und Medizin, neue religiöse Bewegungen sowie Ostkirchenkunde. Klaus Hock (Dr. theol.), geb. 1955, ist Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Islam und christlich-islamische Beziehungen, Religionen und Religionen in Afrika (insbesondere Afrikanisches Christentum), Religionshybride sowie Transkulturation. Thomas Klie (Dr. theol.), geb. 1956, ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pastoral- und Religionsästhetik, spätmoderne Religions- und Kasualkultur und Religionshybride, Performanztheorie und Sepulkralkultur.
Martin Tulaszewski, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.)
Was Heilung bringt Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung: Was heilt
Klaus Hock/Thomas Klie/Martin Tulaszewski | 9 I. Die Entfaltung des Feldes: Medizin, therapeutische Praktiken und ihre religionshybriden »Alternativen« Krankheitslehren, Heilkonzepte und therapeutische Praktiken in Theosophie und Mazdaznan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Bernadett Bigalke | 21
Was ist Heilung? Religionshybride Deutungen im alternativmedizinischen Kontext
Paula Stähler | 41
Energiearbeit als Beruf im holistischen Milieu
Johannes Endler | 51
Einstellung zu Medizinsystemen im alternativ-religiösen Feld in der Deutschschweiz: Zwei Fallbeispiele zum exklusiven Gebrauch von Alternativmedizin
Hélène Coste | 61
Geistheilung auf den »Märkten des Besonderen« – Eine Fallanalyse
Martin Tulaszewski | 73
II. Heil und Heilung: transzendenzoffene Ganzheitlichkeit und religiös imprägnierter Zusammenhalt Horizonte des religiösen Feldes: Gesundheit und Zusammenhalt
Jens A. Forkel | 91
Religionssensible Behandlungen: Einbeziehung oder Ausschluss spiritueller Methoden?
Michael Utsch | 109
Religion und Heilung. Eine christlich-theologische Perspektive
Gregor Etzelmüller | 125
III. Religion und alternative Heilungsangebote: konzeptuelle und theoretische Spannungsbögen »Imagined Origin«: Ayurveda, Reiki und Traditionelle Chinesische Medizin
Dorothea Lüddeckens | 155
Religion und komplementäre/alternative Medizin zwischen Heil und Heilung: eine interdisziplinäre Betrachtung zweier verflochtener sozialer Systeme
Jürgen Dollmann | 169
Alternative Heilungsangebote in Mecklenburg-Vorpommern – Feldtypologische Überlegungen zur Konstitution eines »Marktes des Besonderen«
Martin Tulaszewski | 187
Autorinnen und Autoren | 215
Vorwort
Heil und Heilung waren und sind nicht nur in religiösen Kontexten aufeinander bezogen. Auch im Zuge säkularisierender Entwicklungen bleibt dieser Zusammenhang explizit oder latent bestehen. Die Frage nach dem, was heilt, verweist dabei häufig über die Wiederherstellung von Gesundheit hinaus, impliziert ein Versprechen auf mehr als die bloße Reparatur von Fehlfunktionen – oder sucht bereits in Diagnose und Anamnese nach Perspektiven jenseits jener Horizonte, die bloß materielle physiologische, chemische oder biologische Abläufe ins Blickfeld nehmen. Der vorliegende Band beruht auf den Beiträgen zu einem Workshop, der am 13./14. Oktober 2017 durch das DFG-Projekt »Märkte des Besonderen. Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern« an der Universität Rostock ausgerichtet wurde. In diesem Workshop wurde der Frage nachgegangen, wie verschiedene Konzepte von »Heilung« untereinander korrespondieren, sich gegebenenfalls ergänzen oder auch voneinander abgrenzen, und ob bzw. inwiefern dabei auch ein transzendentaler Rückbezug hergestellt wird. Besondere Aufmerksamkeit galt dem Übergangsbereich zwischen konventioneller Praxis und komplementärmedizinischen Ansätzen, um das Interferenzfeld von Medizin, Heilkunde und Religion genauer auszuleuchten. Die interdisziplinäre Arbeit im Rahmen des erwähnten DFG-Projekts wurde überschattet durch den Tod von Prof. Dr. Peter A. Berger (1955–2018), der als Projektleiter neben den beiden Unterzeichnenden das gemeinsame Vorhaben durch seine sozialwissenschaftliche Expertise entscheidend qualifiziert hat. Ihm gilt unser Gedenken und unser Dank für die jahrelange Zusammenarbeit, die sich stets ebenso erfolgreich wie angenehm gestaltete. Dank gilt auch unserem Kollegen Prof. Dr. Matthias Junge, den wir dafür gewinnen konnten, sich unserem Team als Ko-Projektleiter anzuschließen und damit die Fortsetzung des Forschungsvorhabens zu gewährleisten. Schließlich sei an dieser Stelle ein ganz besonderer Dank an unsere Projektmitarbeiter ausgesprochen: Hagen Fischer, Dr. Antje Mickan und Martin Tulaszewski haben über viele Jahre hindurch ihre Feldstudien,
8 | Was Heilung bringt
Materialsammlungen und Analysen zum Erfolg des Vorhabens ganz fundamental beigetragen, und Rebekka Tibbe hat unter anderem die editorische Arbeit für diesen Band mit großer Sorgfalt unterstützt. Frank Hamburger schließlich gilt unser ausdrücklicher Dank für seine wie stets umsichtige und zuverlässige Erstellung der Druckvorlage. Rostock, im Sommer 2019 Klaus Hock und Thomas Klie
Einleitung: Was heilt Klaus Hock/Thomas Klie/Martin Tulaszewski
Im Phänomenbereich »Heilung und Heil« sind kulturell neue Übergangsformen zwischen (religiösem) Heilsversprechen und (medizinischer) Heilung zu beobachten, die sich als therapeutische Zugänge sinnstiftender Art beschreiben lassen. Im vorliegenden Sammelband1 soll deshalb der Frage nachgegangen werden, wie verschiedene Konzepte von »Heilung« miteinander korrespondieren, sich gegebenenfalls ergänzen oder auch voneinander abgrenzen – und ob bzw. inwiefern dabei auch ein transzendentaler Rückbezug hergestellt wird. Insbesondere ist der Übergangsbereich zwischen konventioneller Praxis und komplementärmedizinischen Ansätzen herauszuarbeiten. Im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes »Märkte des Besonderen«,2 das inter alia ebenfalls mit der Thematik »Heilung und Heil« befasst war, wurde ein wirtschaftssoziologischer Zugang gewählt, um alternativmedizinische Angebote als marktförmige Praxis zu erfassen und zu untersuchen. Unter dem Schlagwort Alternativmedizin lassen sich dabei unterschiedliche Praktiken subsumieren.3 Um diese in ihrer Vielfalt erfassen zu können, wird ein weiter Bogen gespannt, der es erlaubt, neben den eigentlichen Heilbehandlungsangeboten unter anderem auch Ritualpraktiken mit einzubeziehen, die beispielsweise innerhalb neu entworfener und entsprechend gedeuteter Übergangsrituale (rites 1 Den Grundstock für diesen Band bilden die Beiträge zu dem interdisziplinären Workshop »Was heilt – Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde«, der am 13./14. Oktober 2017 in Rostock stattgefunden hat. 2 DFG-Projekt »Märkte des Besonderen – Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern« (Förderzeitraum 03/2016–07/2019). 3 Der Medizinhistoriker Robert Jütte subsumierte schon Mitte der 1990er Jahre unter dem Begriff ›Alternativmedizin‹ einen »bunten Jahrmarkt ›unkonventioneller‹ Heilmethoden (von Aryuveda bis Zen-Meditation)«. Jütte, Robert: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, München: Beck 1996, S. 11.
10 | Klaus Hock/Thomas Klie/Martin Tulaszewski
de passage) entstehen. Der gegenwärtige alternativmedizinische Sektor ist von großer Dynamik und Fluidität geprägt. Der auf die Marktförmigkeit der Angebote konzentrierte Forschungszugang hat dabei den Blick auf das Feld eines alternativreligiösen Kleinunternehmertums eröffnet, das unter ständigem und permanentem Innovationsdruck steht.4 Die stetige ›Produktion‹ neuer Heil- und Heilungskonzeptionen, die in Form und Inhalt flexibel kombinierbar sind und jederzeit ergänzt werden können, unterstreichen den fluiden Charakter und die zunehmende religiöse Privatisierung dieses Bereichs.5 Diese Privatisierung findet in einer Authentizität erzeugenden Selbstermächtigung durch den Anbieter Ausdruck. Das vorgefundene Heilungsfeld ist dabei kennzeichnend für eine selbstbestimmte Suche des modernen Menschen nach Ausdrucksformen, die das eigene, ›höhere Selbst‹ entfalten. Nach Charles Taylor folgt das beschriebene Heilungsfeld einer möglichen Sozialform von Religiosität, in der die Entwicklung der menschlichen Identität hinsichtlich ihrer Reflexivität, Authentizität und Expressivität nun in den Mittelpunkt drängt.6
MÄRKTE DES BESONDEREN – RELIGIONSHYBRIDE Innerhalb des erwähnten DFG-Projektes wurden drei Teilfelder als Untersuchungsobjekte gewählt: der Bereich ›Ökologie und Spiritualität‹, der Bereich ›Kunsthandwerk und spirituelle Kunst‹7 und der im vorliegenden Band thematisierte Bereich ›Heilung und Heil‹. Forschungstheoretische Anleihen bot Pierre Bourdieus Konzept des erweiterten religiösen Feldes8, mit dem sich marktförmi4 Vgl. dazu auch Hero, Markus: »Von der Kommune zum Kommerz? Zur institutionellen Genese zeitgenössischer Spiritualität«, in: Ruth E. Mohrmann (Hg.), Alternative Spiritualität heute, Münster: Waxmann 2010, S. 35–53; Lüddeckens, Dorothea/Walthert, Rafael (Hg.): Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel – Theoretische und empirische Systematisierungen, Bielefeld: transcript 2010. 5 Vgl. Knoblauch, Hubert: »Individualisierung, Privatisierung und Subjektivierung«, in: Detlef Pollack/Volkhard Krech/Olaf Müller/Markus Hero (Hg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 329–346, hier S. 335f. 6 Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Vgl. dazu auch Heelas, Paul: Spiritualities of Life. New Age Romanticism and Consumptive Capitalism, Malden: Blackwell Publishing 2008. 7 Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A. (Hg.): Räume zwischen Kunst und Religion. Sprechende Formen und religionshybride Praxis, Bielefeld: transcript 2019. 8 Bourdieu, Pierre: »Die Auflösung des Religiösen«, in: Ders., Religion, Schriften (Bd. 13), Berlin: Suhrkamp 2011, S. 243–249.
Einleitung: Was heilt | 11
ge Vorstellungen parallelisieren lassen9 und das die Möglichkeit des Feldzugangs unter Nutzung eines diversifizierten sozialökonomischen Instrumentariums bietet. Mittels wirtschaftssoziologischer Ansätze konnten im DFG-Projekt »Märkte des Besonderen – Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern« so auch nicht organisierte Einzelpersonen in den Blick genommen werden, die ansonsten aus einer institutions- und organisationstheoretischen Perspektive nur schwerlich in den Wahrnehmungshorizont geraten. Einen Ausgangspunkt für den konzeptuellen Zugriff auf das erweiterte religiöse Feld bildete diesbezüglich der von dem französischen Wirtschaftssoziologen Lucien Karpik entwickelte Ansatz.10 Mit Blick auf die von Karpik konstatierte ›Ökonomie des Einzigartigen‹ zeigte die Erfassung der feldrelevanten Anbieter, dass dieser Markt in Mecklenburg-Vorpommern weitestgehend von Einzelunternehmern im alternativmedizinischen Bereich konstituiert wird. Wesentlicher Bestandteil der Datenerhebung und -analyse war neben den in Interviews mit Anbietern alternativmedizinischer Dienstleistungen ermittelten Informationen auch eine Netzwerkanalyse dieses Marktes. Die Netzwerkanalysen zeigten jedoch, dass die Anbieter auf diesem »Markt des Besonderen« untereinander keine nachhaltigen Verbindungen eingehen. Der Vernetzungsgrad innerhalb dieser Szene von Einzelanbietern ist sehr gering, und übergeordnete Koordinierungsinstanzen – die Lucien Karpik als ein wesentliches und konstituierendes Element für die »Märkte des Besonderen« beschreibt – waren nicht identifizierbar. Dieser »Markt des Besonderen« orientiert sich also offensichtlich an andersartig konstituierten Parametern. Das Vorgängerprojekt hatte am Beispiel von Gutshaus- und Kirchbauvereinen sowie alternativen Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern eine religionshybride Praxis identifiziert.11 Vor diesem Hintergrund lag die Vermutung nahe, dass sich diese Praxis auch in marktförmig ausgestalteten Kontexten abbildet. Innerhalb der damaligen wie auch der im Nachfolgeprojekt darauf aufbauenden Untersuchungen diente der Begriff der Religionshybridität in heuristischer 9 Bourdieu entwickelte seinen Feldbegriff nah am Marktbegriff und verwendete diesen mitunter auch synonym. Vgl. Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A.: »Einleitung«, in: Dies., Räume zwischen Kunst und Religion (2019), S. 9–18, hier S. 11. 10 Karpik, Lucien: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2011, S. 13. (Originalausgabe: Lʾéconomie des singularités, Paris: Gallimard 2007.). 11 Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Hybride Religiosität – posttraditionale Gemeinschaft. Kirchbauvereine, Gutshausvereine und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin: LIT 2014; Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer VS 2013.
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Funktion als deskriptiver Terminus zur Rekonstruktion von Ambivalenzen und ambivalenten Phänomenen. Diese werden von den Akteuren selbst als Gegensätze oder zumindest in Spannung zueinander stehend interpretiert, wobei eben diese Akteure häufig darauf drängen, die damit angezeigte Unterscheidung oder gar Trennung zwischen beiden Bereichen bisweilen holistisch integrierend aufzuheben. Die im Projekt vorgefundene Praxis wird als hybrid gekennzeichnet, um die »multidimensionale Verfasstheit der sozialen Vollzugswirklichkeit«12 zu beschreiben, in denen Ebenen miteinander vermischt werden, die in theoretischer Abgrenzung idealiter voneinander unterschieden sind. Im praktischen Vollzug verschwimmen dabei die Sphären von Medizin, alternativer Heilungspraxis, Ökonomie und Religion/Spiritualität. Inwiefern innerhalb der Angebote auf religiös konnotierte Konzepte, beispielsweise auf mediumistische Vorstellungen wie beim ›Channeling‹, oder auf energetisch konzipierte Praktiken zurückgegriffen wird – im Sinne von Was heilt? –, ist aufgrund der Unübersichtlichkeit der unter ›alternativmedizinischer Praxis‹ changierenden Angebote an dieser Stelle nicht konkret exemplifizierbar. Die Herausforderung innerhalb des Projektteilbereichs bestand darin, dass die vorgefundenen Akteure zwar eindeutig innerhalb des marktförmigen Interferenzfeldes von Religion, Medizin und Heilkunde (in Gestalt alternativmedizinischer Praktiken) agieren, sich aber in ihrem Selbstverständnis als explizit »nicht-religiös« und »nicht-spirituell« bezeichnen, obwohl die beschriebenen Praktiken unter Zuhilfenahme transzendentaler Attributionen angeboten, durchgeführt und gedeutet werden.13 Selbstverständlich ist stets zu bedenken, dass die untersuchten Praktiken möglicherweise verzerrt dargestellt werden, wenn man sie unter Bezugnahme auf religionshistorische Folien paraphrasierend zu kategorisieren versucht. Trotzdem lässt sich zunächst einmal konstatieren, dass manchen Anbietern die Ambivalenzen ihrer Weltsicht und ihres Handelns gar nicht klar sind. Die Selbstwahrnehmung ihrer Praxis findet innerhalb eines stringent rationalistisch-materialistischen Deutungsrahmens statt. Eine Verortung unter Bezugnahme auf religiöse oder religionsaffine Kategorien ist ihnen fremd. Das mag eventuell eine späte, sekundäre Auswirkung der DDR-Kirchenpolitik sein, deren Aversion 12 Daniel, Anna: Die Grenzen des Religionsbegriffs. Eine postkoloniale Konfrontation des religionssoziologischen Diskurses, Bielefeld: transcript 2016, S. 253. 13 Auf der einen Seite finden sich Aussagen wie die nachfolgende eines Reikimeister: »Reiki ist eigentlich ’ne rein körperliche Angelegenheit. Bleibt auf der physischen Ebene. Bleibt hier auf der Erde.« Auf der anderen Seite waren Äußerungen wie die einer Heilpraktikerin und Hypnotiseurin zu vernehmen, die innerhalb hypnotischer Behandlungen an ein ›Zentrum‹ appellierte, welches mediumistisch zwischen Hypnotiseur und Behandeltem geschaltet wird. Diese Anbieter verstehen sich allerdings explizit als Atheisten und Materialisten.
Einleitung: Was heilt | 13
und Indifferenz allem Religiösen gegenüber von den Akteuren bewusst oder unbewusst internalisiert wurde.14 Jedenfalls fehlt es ihnen an Kategorien und Begriffen, mit denen sie die betreffenden Phänomene (emisch) beschreiben können, zumal Transzendenz-bezogene Handlungen von ihnen gar nicht mehr als solche benannt, geschweige denn erkannt werden – sei es, dass sie das nicht können, sei es, dass sie das nicht wollen.15 ›Religionshybride Praxis‹ dient deshalb (etisch) als deskriptiver Begriff für die vielgestaltigen und marktförmigen alternativmedizinischen Angebote des zwischen Medizin, Heilkunde und Religion gelegenen Interferenzfeldes.
HEILUNG UND HEIL Im untersuchten Projektfeld »Heilung und Heil« wird in der Praxis die Vermengung der theoretisch voneinander unterschiedenen Sphären von den Akteuren nicht weiter reflektiert. Man begreift sich als eine Art von komplementärem und ganzheitlichem Scharnier, welches die (mitunter institutionell) getrennten Sphären wieder in ihren natürlichen Zusammenhang bringen soll. Lediglich das Spannungsverhältnis zu institutionell rückgebundener Religiosität kommt in den Interviews noch vereinzelt zum Tragen. Dies geschieht jedoch retrospektiv, wenn frühere Auseinandersetzungen mit etablierten religiösen Akteuren zur Sprache 14 Dazu zählt auch in Langzeitwirkung der restriktiven DDR-Religionspolitik die folgende Feststellung eines Interviewpartners, der ursprünglich aus den alten Bundesländern stammt: »Was ich als großen Unterschied erlebe, ist die ›Nicht-Spirituelle‹-Vorkonditionierung. […] Also die Worte sind nicht abgenutzt, die im spirituellen und religiösen Bereich geläufig sind. Wenn ich als Bayer das Wort ›Gott‹ höre, habe ich ein total klares Bild. Eine Tradition und auch Schwierigkeiten das loszuwerden. Und das ist hier anders. So. Nicht vorbelastet. Also es gibt auch Vorbelastungen, aber die sind sehr gering. Die Leute sind flexibel. Mental flexibel.« Geistheiler 15 So ist beispielsweise der von Volkhard Krech vorgeschlagene Zugang, Religion mittels eines kommunikativ-theoretischen Zugangs zu erfassen, bei dem vorliegenden Interviewmaterial schwer anwendbar. »Die wichtigste empirische Voraussetzung zur Identifikation religiöser Kommunikation besteht darin, dass sie sich in ihrer Selbstbeschreibung von anderen Kommunikationsweisen unterscheidet und vice versa (Hervorhebung i.O.); und zwar weder räumlich noch hierarchisch im Sinne einer Einflusssphäre […] sondern im Sinne der Ausbildung einer eigenständigen Kommunikationsform und der Zuständigkeit für bestimmte Bezugsprobleme.« Krech, Volkhard: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2011, S. 16.
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kommen. Dadurch, dass die marktförmige religiöse Praxis in Form spiritueller Sinnfindung und Sinnstiftung weitestgehend unangefochten durch traditionelle Institutionen in Mecklenburg-Vorpommern stattfindet und praktiziert wird, lassen sich keine festgeprägten Abgrenzungsdiskurse apologetischer Art seitens alternativmedizinischer Anbieter feststellen. Die Deutungshoheit über Spiritualität ist innerhalb des Marktes tatsächlich zur privaten Aushandlung transformiert.16 Im Feld ›Heil und Heilung‹ findet das durch die konsequente Ablehnung jeglicher heilsexklusiver Vorstellungen Ausdruck, was wiederum auf die feldüberspannende monistische Weltsicht verweist. Hinsichtlich der Beziehung zur Medizin wiederum ist ein interdependentes Verhältnis erkennbar, denn alternativmedizinische Angebote stehen in einer kohärenten Beziehung zur Schulmedizin. Bereits bei der Erstanamnese zeigt sich die Reziprozität des alternativen Heilungsfeldes zur konventionellen Medizin. Denn die Krankheiten der Klienten waren zunächst mit den im traditionellen medizinischen Feld etablierten Begriffen und Kategorien dia gnostiziert und benannt worden. Erst im translativen Prozess der Krankheitsursachendeutung wird der exegetische Rahmen von Krankheit und Heilung erweitert – und zwar über evidenzbasierte Therapieansätze hinaus. Der eigentlichen Heilarbeit geht dabei zunächst eine metaphorisierende Translation voraus. Das schulmedizinische Krankheitsbild wird zum Katalysator von Leiden erklärt, dessen ›eigentlicher‹ Grund jenseits der konventionell diagnostizierten Ursachen liegt. Aus der alternativmedizinischen Anamnese erwächst eine neue therapeutische Perspektive: Nun kann man Heilung erfahren und heil werden – und zwar heil von ungesunden Beziehungen oder Lebenslügen, die den Menschen von seinem wahren Inneren entfremden. Krankheiten sind somit der Ausdruck eines Entfremdungsprozesses des Ich vom Selbst. Identität und Selbstverwirklichung werden zu »quasi religiösen Metaphern«17 und bestimmen die religionshybride Praxis. Innerhalb der alternativmedizinischen Angebote werden konventionelle diagnostische Krankheitsbilder als bloße Symptombeschreibungen gedeutet, und der schulmedizinische Krankheitsbegriff wird in einen psychosomatisierenden überführt. Die Akteure innerhalb des alternativmedizinischen Feldes bieten also Sinndeutungen an, die über konventionelle Diagnostik und Therapie hinausgehen. Krankheitsursachenforschung (Psychosomatik) wird so zur Kernaufgabe dieses Feldes. Dabei rückt eine Übersetzungsleistung in den Mittelpunkt, mit der auch ein Wechsel von einem kurativen zu einem präventiven Krankheitsbegriff einhergeht. So werden physische, physiologische, psychische, ganzheitlich somatische und spirituelle 16 Vgl. Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2009. 17 Kaufmann, Franz-Xaver: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen: Mohr Siebeck 1989, S. 193.
Einleitung: Was heilt | 15
Dimensionen menschlicher Defiziterfahrungen zusammengeführt und unter der Chiffre »Heilung« subsumiert. Die Krankheitssymptomatik wird in der Regel auf zum Teil sehr weit in der Vergangenheit liegende18 psychosomatische Defizite des Klienten zurückgeführt, und der Heilungsprozess verlangt entsprechend nach individuellen Therapieformen. Die Therapie gestaltet sich als Krankheitsursachenforschung – verbunden mit biographischer Arbeit. Die Heilung wirkenden Kräfte sind eingebettet in sogenannte alternative Heilverfahren, die – abgestimmt auf das individuelle Krankheitsbild – ergänzend miteinander kombiniert werden können. Ein inventiver »Heilungsgütermix« tritt zu Tage. Dieser bringt es mit sich, dass im Feld keine wesentlichen und somit charakteristischen Abgrenzungsdiskurse zur Schulmedizin vorzufinden sind. Aus dem Selbstverständnis, ein komplementäres Heilungsangebot bereitzustellen, ergibt sich allerdings die Frage nach der – auch formal-rechtlichen – Anerkennung neben der konventionellen medizinischen Praxis. Wie die Interviews zeigen, wird in den Selbstdeutungen als besonderes Leistungsmerkmal alternativer Heilverfahren die Wiederherstellung einer anthropologischen Ganzheit hervorgehoben. Von da aus lässt sich unmittelbar der Bogen zur sogenannten Komplementärmedizin schlagen, welche vom feldüberspannenden Narrativ des »Wiederbringens« und »Wiederentdeckens« des ursprünglich »Verlorengegangenen« geprägt ist.
DIE BEITRÄGE DES BANDES So vielgestaltig und unterschiedlich wie die beobachtbaren Phänomene und Angebote im alternativen Heilungsfeld sind auch die Perspektiven auf dieses umfassende Forschungsgebiet. Die Beiträge im ersten Teil des vorliegenden Bandes entfalten deshalb zunächst das Feld, indem diverse therapeutische Praktiken und ihre religionshybriden Alternativen beispielhaft vorgestellt werden. Aus religionshistorischer Perspektive zeigt Bernadett Bigalke am Beispiel der Theosophie und der Mazdaznan-Bewegung den Überlappungsbereich esoterischer Krankheitslehren und zugehöriger Heilkonzepte. In ihrem Beitrag wird deutlich, dass eine Ausdifferenzierung des Feldes ›Religion und Medizin‹ bereits um 1900 feststellbar ist und in diesem Kontext die Mazdaznan-Akteure komplementärmedizinische Angebote entwickelten. Paula Stähler wirft in ihrem Aufsatz die Frage nach der Deutung von Heilung im alternativmedizinischen Feld auf. Sie zeichnet an zwei Fallbeispielen die aushandelnd deutenden Sinnstiftungsprozesse von Heilpraktikerinnen nach, deren Suche nach Krankheitsursachen als Ausdruck religionshyb18 Dies geschieht zum Teil auch unter Einbeziehung karmischer Vorstellungen und Reinkarnationskonzepte innerhalb der alternativmedizinischen Anamnese.
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rider Praxis beschrieben werden. Einen exemplarischen Einblick in die Thematik »Energiearbeit« in Österreich bietet Johannes Endler. Er fragt zunächst nach der soziologischen und rechtlichen Verortung energetischer Heilsysteme, die sowohl esoterisch-spirituelle als auch naturwissenschaftliche Konnotationen aufweisen und stellt eine systematische Zusammenschau energetischer Systeme und Methoden vor. Die beiden folgenden Beiträge widmen sich Fallbeispielen aus der alternativmedizinischen Praxis. Hélène Coste fragt nach Einstellungen zu Medizinsystemen im alternativ-religiösen Feld in der Deutschschweiz. Zwei von ihr interviewte Akteiurinnen vertreten insofern besonders prononcierte Positionen, als sie konventionelle Behandlungen strikt ablehnen und in Eigenregie mittels esoterischer Literatur ihre Selbstheilungskräfte aktivieren wollen. Dieser Prozess geht einher mit einer sinnhaften Bestimmung von Krankheit und der daraus resultierenden Eigenverantwortung. Martin Tulaszewski stellt am Beispiel eines Geistheilers die Sichtweise eines alternativmedizinischen Anbieters vor und analysiert dessen Selbstverortung im religionshybriden Feld. Das biografisch-narrative Interview gibt Einblicke in ein durch permanenten strukturellen Wandel gekennzeichneten dynamischen Bereich und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Anbieterkonzeptionen. Der zweite Teil des Bandes nimmt »Heil und Heilung« mit der Fokussierung auf Fragen nach transzendenzoffener Ganzheitlichkeit und nach der Bedeutung eines funktionalen, religiös imprägnierten Zusammenhalts in den Blick. Jens Forkel skizziert im Zuge seiner soziologischen Studien zum Verhältnis von Gesundheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt innerhalb der mecklenburgischen Landbevölkerung einige mitunter problematische Entwicklungen im Bereich eigenverantwortlicher Gesundheitspraxis und Selbstsorge. Die zunehmende Privatisierung gesellschaftlicher Risiken stellt Gesundheit als Teil einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Frage und bringt für eine zunehmend überalterte Landbevölkerung auf ihrer Suche nach medizinischer Versorgung ernste Herausforderungen mit sich. Michael Utsch betrachtet in seinem Beitrag Spiritualität als wertvolle Ressource und plädiert dafür, künftig bei psychotherapeutischen Behandlungen auch die jeweiligen religiösen Einstellungen der Patienten mit einzubeziehen und zu nutzen. Aus systematisch-theologischer Sicht stellt für Gregor Etzelmüller die Vermittlung von Heil und Heilung eine urchristliche Lebenspraxis dar. Heil und Heilung sind innerhalb der christlichen Seelsorge zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen, und sollten in ihrem Zusammenspiel auch gegenwärtig den Menschen lebensorientierende Impulse geben. Im dritten, abschließenden Teil des vorliegenden Bandes geht es schwerpunktmäßig um konzeptuelle und theoretische Spannungsbögen zwischen Religion und alternativen Heilungsangeboten. Dorothea Lüddeckens verdeutlicht in ihrem Beitrag am Beispiel norddeutscher alternativmedizinischer Anbieter die konstruierte
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– aber für das Feld so elementar wichtige – Rückbindung von Heilverfahren an historische, geografische und kulturelle Räume, durch die Autorität und Authentizität der Angebote verbürgt werden. Jürgen Dollmann legt in seinem Aufsatz dar, inwiefern leibesphänomenologische Betrachtungen mögliche Hilfestellungen für die Entwicklung einer ›Integrativen Medizin‹ bieten. Abschließend geht Martin Tulaszewski der Frage nach, wie die unterschiedlichen alternativmedizinischen Praktiken als marktförmige Ausgestaltungen letztlich einen »Markt des Besonderen« konstituieren – und welchen Mechanismen dieser folgt.
I. Die Entfaltung des Feldes: Medizin, therapeutische Praktiken und ihre religionshybriden »Alternativen«
Krankheitslehren, Heilkonzepte und therapeutische Praktiken in Theosophie und Mazdaznan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bernadett Bigalke
1. EINLEITUNG In diesem Aufsatz werde ich einige der übergreifenden Fragestellungen des Workshops Was heilt? Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde aufgreifen und anhand zweier Fallbeispiele – (deutsche) Theosophen sowie Mazdaznan-Anhänger um 1900 – vertiefen. Thematisiert werden u.a. die Verbindungen zwischen biomedizinischen und religiös-spirituellen Heilungskonzepten und damit der semantische Übergang zwischen (religiösem) Heilsversprechen und (medizinischer) Therapie. Diese Überlappungsbereiche werde ich im Bereich esoterischer Krankheitslehren und Heilkonzepte aufzeigen. Dabei wird sich herausstellen, dass diese sowohl kurativ als auch präventiv angelegt waren. Bei beiden Fallbeispielen soll zudem der jeweilige Typus der therapeutischen Legitimation des Heilers bzw. der zentralen spokesperson1 (Olav Hammer) herausgearbeitet werden. 1 Mit dem Begriff der spokesperson bezeichnet der Religionswissenschaftler Olav Hammer diejenigen Sprecher im esoterischen Diskurs, die als zentrale Autoren, Referenten und Webhosts sichtbar sind. Zumeist besitzen sie auch Autorität darüber, wie in der jeweiligen Gruppe (religiöse) Erfahrungen zu interpretieren sind.
Als religiöse Virtuosen prägen sie den religiösen Jargon der Gruppe, der von anderen spokespersons übernommen und sukzessive adaptiert wird. »They present doctrinal elements that can be modified, yet not abandoned with impunity. The discourse sets fuzzy limits for religious creativity, which manifest over time as the processes of diver-
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2. DIE THEOSOPHEN Die Theosophie ist im Umfeld der US-amerikanischen spiritistischen Bewegung entstanden. Ihre Anhänger grenzten sich jedoch wegen Betrugsaffären um die meist weiblichen Medien bald von ihr ab. Im Jahr 1875 gründeten die Deutschrussin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) und der US-Amerikaner Henry Steel Olcott (1832–1907) in New York die Theosophical Society, die fortan andere programmatische Akzente setzte. Dennoch werden klassisch spiritistische Charismen wie visionäre Begabung und Praktiken wie das automatische Schreiben bei Blavatsky später relevant für die Produktion ihrer Schriften, die innerhalb der theosophischen Gesellschaft autoritativen Charakter erlangten. Zunächst beschäftigte sich die Gruppe mit dem Studium und der Erklärung sogenannter okkulter Phänomene. Die spätere Vereinscharta benennt als Zweck der Vereinigung die Gründung einer universellen Bruderschaft der Menschheit ohne Unterschied von Herkunft, Glaube, Geschlecht und Hautfarbe, das vergleichende Studium von Religionen, Philosophien und Naturwissenschaften, sowie die praktische Erforschung der ungeklärten Naturgesetze und der im Menschen verborgenen Kräfte. Mit der Verlegung des Hauptquartiers nach Indien wurden hinduistische und buddhistische Lehren und auch Praktiken (zum Beispiel Yoga) rezipiert und ins eigene, sich ausdifferenzierende Lehrsystem eingebunden.2 Kosmologie und Anthropologie der Theosophen stammen hauptsächlich aus Blavatskys Hauptwerk The Secret Doctrine.3 In monistischer Konzeption wird darin die fundamentale Einheit alles Existierenden behauptet. Das ewige, hierarchisch aufgebaute Universum sei dem Gesetz der Periodizität unterworfen und entwickele sich zyklisch und dabei immer höher. Blavatskys Anthropologie ist europäisch-esoterisch und zeigt eindeutig neuplatonische Einflüsse: Das Individuum ist als Mikrokosmos ein Abbild des Makrokosmos und der Mensch ein »Pilger« durch die verschiedenen Zustände der Materie. Durch persönliche Erfahrungen entwickele man sich stetig höher. In der Theosophie wird davon ausgegence between movements and continuity within families of movements that is typical for the history of religions.« (Hammer, Olav: Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age, Leiden: Brill 2001, S. 30). 2 Zur Geschichte siehe Zander, Helmut: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, Kap. 3.2.3. Ein kurzer Überblick in Santucci, James A.: »Theosophical Society«, in: Wouter J. Hanegraaff/Antoine Faivre u.a. (Hg.), Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, Leiden: Brill 2006, S. 1114–1123. 3 Blavatsky, Helena P.: The Secret Doctrine. The Synthesis of Science, Religion and Philosophy, 2 Bde., London: Theosophical Publ. Co. 1888.
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gangen, dass diese Entwicklung durch ein Kausalitätsgesetz (Karma) verursacht wird. Gute Handlungen ziehen positive, schlechte Handlungen negative Wirkungen nach sich. Dem Menschen wohne ein Funke göttlichen Ursprungs inne. Auf dieser Ebene sei der Mensch »eins« mit dem Kosmos. Dieser göttliche Funke im Menschen wiederum ist umgeben von »Hüllen« bzw. »Körpern« oder »Prinzipien«. Die in diesem Diskurs übliche Siebenheit der Körper teilt sich in eine obere Dreiheit, die unvergänglich sei und eine niedere Vierheit, die vergänglich sei und die momentane Persönlichkeit des Menschen in sich trage. Diese Körperhüllen werden nach außen hin immer feinstofflicher.4 Ziel aller theosophischen Ethik ist die Höherentwicklung des Menschen. Ein Theosoph soll daran arbeiten, dass möglichst viele seiner irdischen Erfahrungen in den unsterblichen Teil der Prinzipien des Daseins eingehen. Der Wert des physischen Leibes eines Theosophen wird somit bestimmt durch seine Nützlichkeit für dessen geistiges Wesen. In der Konsequenz heißt Selbstbeherrschung dann nicht nur Meisterung des eigenen Intellekts, sondern vor allem auch Körperbeherrschung. Die angenommene Feinstofflichkeit einiger Körperhüllen macht den Menschenkörper permeabel. So wird dieser tatsächlich als mit allen anderen Körpern der Welt verbunden gedacht. Er ist umgeben von »Schwingungen« und »kosmischer Energie«, die permanent durch ihn hindurchströmen und die er wiederum auch selbst ausstrahlt. Mangels klarer Grenzen zwischen den einzelnen menschlichen Körpern waren Theosophen aufgefordert, die Art und Weise ihrer Sozialbeziehungen neu zu konzipieren, insbesondere im Hinblick auf reine und unreine Körper, Tugenden und Laster. Eine der Folgen war die Moralisierung jeglicher Sozialbeziehung.5 In einer lokalen Fallstudie untersuchte ich lebensreformerische Ideen und Praktiken von Theosophen und Mazdaznan-Anhängern zwischen 1895 und 1914, speziell in Leipzig und Sachsen.6 Im Fokus stand die Internationale Theosophische Verbrüderung (ITV), einer der drei großen Zweige der organisierten Theosophie im deutschsprachigen Raum. In den Verbandszeitschriften und Einzelpubli4 Wichmann, Jörg: »Das theosophische Menschenbild und seine indischen Wurzeln«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 35 (1983), S. 12–33; Baier, Karl: Meditation und Moderne. Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien, Bd. 2, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 343ff. 5 Dixon, Joy: Divine Feminine. Theosophy and Feminism in England, Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 2001, S. 123ff. 6 Bigalke, Bernadett: Lebensreform und Esoterik um 1900. Die Leipziger alternativ-religiöse Szene am Beispiel der Internationalen Theosophischen Verbrüderung, Würzburg: Ergon 2016.
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kationen der theosophischen spokespersons gab es eine intensive Kommunikation über präventive und kurative therapeutische Praktiken. Wichtigster rezipierter Sprecher für den Leipziger Zweig der Theosophie war der Mediziner Franz Hartmann (1838–1912). Hartmann ist neben Rudolf Steiner (1861–1925) als bedeutendste Person für die Geschichte der Theosophie in Deutschland einzuschätzen. Er wurde 1838 in Bayern geboren, katholisch sozialisiert und studierte Medizin in München. Im Jahr 1865 migrierte er in die USA und verbrachte dort insgesamt 18 Jahre, in denen er als Arzt in verschiedenen Bundesstaaten praktizierte. Weltanschaulich bewegte er sich in diesem Zeitraum in Kreisen von Spiritisten, Phrenologen, Freimaurern und Rosenkreuzern. Nach einiger Zeit in Indien im Hauptquartier der Adyar-Theosophen in den Jahren 1883/84, wo er auch formell zum Buddhismus übertrat, kehrte er nach Europa zurück. Zunächst bekannt und in schulmedizinischen Lehrbüchern rezipiert7 wurde Hartmann durch seine Entwicklung einer Inhalationsmethode zur Behandlung von Tuberkulose und anderen Atemwegserkrankungen. Im Jahr 1890 meldete er seine Lignosulfitmethode zum Patent an. Entwickelt hatte er diese in Kooperation mit dem Chemiker, Fabrikanten, Erfinder und Okkultisten Carl Kellner (1850–1905), der Besitzer und Direktor einer Papierfabrik im österreichischen Hallein (bei Salzburg) war. Hartmann beobachtete, dass Arbeiter in Zellulosefabriken scheinbar seltener an Atemwegserkrankungen litten als Arbeiter in anderen Berufsbranchen. Lignosulfit war ein Produkt, welches bei der Verarbeitung von Zellulose entstand. Mit finanzieller und technischer Hilfe von Kellner wurde im Jahr 1894 ein »Inhalatorium« für Tuberkulosekranke eingerichtet, dessen Leitung Hartmann übernahm.8 In den Quellen nachweisbar ist die therapeutische Nutzung des Stoffes definitiv in dem besagten Sanatorium in Hallein, in einem Inhalatorium in Leipzig, das
7 Hartmann, Franz: Ueber die Anwendung und Heilerfolge von Lignosulfit-Inhalatationen bei chronischen (tuberculösen) und acuten Erkrankungen der Athmungsorgane (insb. Keuchhusten), München: Lehmann 1896; Lipowski, Israel: Leitfaden der Therapie der inneren Krankheiten. Mit besonderer Berücksichtigung der therapeutischen Begründung und Technik. Ein Handbuch für praktische Ärzte und Studierende, Berlin: Springer 21904, S. 67–68; Muszkat, Alexander: Technik der Inhalationstherapie, Berlin: Springer 1923, S. 56; Amersbach, Karl: Die Krankheiten der Luftwege und der Mundhöhle, Berlin: Springer 1926, S. 209; Schneider, Wolfgang: Geheimmittel und Spezialitäten. Sachwörterbuch zu ihrer Geschichte bis um 1900, Frankfurt a.M.: Govi-Verlag 1969. 8 Baier, Karl: »Yoga within Viennese Occultism: Carl Kellner and Co«., in: Ders., u.a. (Hg.), Yoga in transformation: historical and contemporary perspectives, Göttingen: V&R unipress 2018, S. 387–438, hier S. 393f.
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von einem Anhänger Hartmanns betrieben wurde,9 der zugleich Heilpraktiker war, sowie in einer im Geiste der Theosophie geführten »Sommerfrische«10 im sächsischen Rochlitz, in der auch Naturheilverfahren angeboten wurden.11 Zugleich war Franz Hartmann Anhänger von Paracelsus und propagierte »okkulte Heilweisen« unter seinen theosophischen Anhängern, aber auch darüber hinaus. Ob und wenn ja welchen Effekt okkultistische Publikationen und Praktiken für seine schulmedizinische Karriere hatten, ist nicht bekannt. Es scheint keine größeren Konflikte gegeben zu haben, bzw. sind diese quellenmäßig nicht belegbar. Im Jahr 1896 schließlich kam es durch Hartmann zur erfolgreichen Gründung einer Theosophischen Gesellschaft mit bald vielen Ortsgesellschaften im deutschsprachigen Raum, die von Anfang an in Konkurrenz zu Rudolf Steiners Theosophischer Gesellschaft stand. Nach Krankheit und einer erfolglosen Selbstbehandlung mit einem »Odstrahl-Apparat«, der vom Schweizer Naturarzt Ottinger12 entwickelt worden war, verstarb Hartmann 1912 in Kempten. Solche Apparaturen haben sich äußerlich nicht stark von anderen medizinisch-technischen Apparaturen im Rahmen damaliger konventioneller Lichttherapien oder Elektrotherapien
9 Klatt, Norbert: Der Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Verzeichnis der Materialien und Korrespondenzen mit bio-bibliographischen Angaben, Göttingen: Klatt 1996, S. 294. 10 Mai, Andreas: Die Erfindung und Einrichtung der Sommerfrische: Zur Konstituierung touristischer Räume in Deutschland im 19. Jahrhundert, Leipzig: o.V. 2003. 11 Vegetarische Warte 32 (1899), Nr. 6, S. 165, Rubrik Anzeigen. 12 Ottinger praktizierte im schweizerischen Riethüsli, Kanton St. Gallen, und gab sich bei der Bewerbung seiner Strahlenapparate den Beinamen »Yogi«, was auf eine zunehmende Etablierung des Yoga-Diskurses in Deutschland schließen lässt, sollte dieser Name doch der Expertise Ottingers besondere Glaubwürdigkeit verleihen. Klatt, Norbert: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Wilhelm Hübbe-Schleiden. Indisches Tagebuch 1894/1896, Göttingen: Klatt 2009, S. 9–43, hier S. 13 (http://d-nb.info/993376584/34, 13.3.2018). Geräte wie die Ottingers gab es spätestens seit 1893. So warb schon der Leipziger Ingenieur und Chemiker Oskar Korschelt (1853–1940) dafür: Ders.: Sonnen-Aether-Strahl-Apparate. Heilmagnetische Kraft ausstrahlende Apparate ohne Elektrizität und von unbegrenzter Dauer der Wirkung. Erster Nachtrag: Zeugnisse und Berichte, Leipzig: o.V. 1893. Auf die Schrift wird verwiesen in der Zeitschrift Psychische Studien 20 (1893), S. 607; im KVK taucht die Schrift erst im Jahr 1922 auf, nun mit dem zusätzlichen Hinweis auf ein angemeldetes Patent: Korschelt, Oskar: Sonnen-Aether strahlapparate. Früh. D.R. Patent Nr. 69340, Leipzig 1922. Aufbau und Nutzungsweise sind ausführlich erklärt in Binder, Hartmut: Gustav Meyrink: Ein Leben im Bann der Magie, Prag: Vitalis 2009, S. 144–146.
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unterschieden.13 Auch ihre Funktionsweisen wurden im Duktus der gängigen Wissenschaftssprache beschrieben. In den Periodika der Hartmann-Richtung der Theosophie sind gesundheitsbezogene Themen häufig zu finden. Medizinische, Rat gebende Beiträge in der Verbandszeitschrift »Theosophischer Wegweiser« argumentierten in der Tradition der antiken Diätetik bzw. aus einer holistischen Betrachtungsweise des Menschen. Organische Entwicklungen des Leibes seien auch von nicht-physikalischen Kräften beherrscht. Der Organismus sei nicht autark, sondern bilde ein komplexes Netzwerk, das Lebendiges mit Nicht-Lebendigem zusammenbringe. Prägende Autoren medizinischer Themen in diesem Forum waren, neben dem Arzt Franz Hartmann selbst, der Naturheiler Karl Wachtelborn sowie der Astrologe Karl Brandler-Pracht (1864–1939), der unter dem Pseudonym Johannes Balzli veröffentlichte. In den Vorträgen, Bücherempfehlungen und Artikeln dominierten die Themenkomplexe Hypnose/Magnetisches Heilen sowie Yoga/Atemlehre immer rückgekoppelt an den Kontext der theosophischen Körperlehre. Heilungen seien über den »ätherischen Körper« des Menschen vermittelt. Daher seien in medizinischen Arzneistoffen auch nur die ätherischen Bestandteile wirksam, da diese vom Ätherkörper aufgenommen werden. Als Anhänger von Paracelsus propagierte Franz Hartmann fünf mögliche Krankheitsursachen: astrale (Wetter, elektrische und magnetische Strömungen), Verunreinigungen und Vergiftungen körperlich-mechanischer und psychischer Art (zum Beispiel Darmverstopfung, moralische Verderbnis durch Alkohol oder zu viel Intellektualität), organische (zum Beispiel Tuberkulose, Krebs, Syphilis), geistige (ausgelöst durch Hypnose und spiritistische Sitzungen) und aus früheren Daseinsformen (Karma) bedingte.14 Einen Themenkomplex bildete der so genannte Heilmagnetismus bzw. die Hypnose. Hier gab es zu jener Zeit eine von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgte Debatte zwischen approbierten Ärzten und nicht approbierten Heilmagnetiseuren um Fragen der Wirkweise, der Wirksamkeit, aber auch der Ethik im Umgang mit den Patienten.15 Die theosophischen Autoren begleiteten diese Debatte ebenfalls und boten eigene Deutungen und Positionierungen für ihre Leser an. 13 Rainer, Gernet: Unter Strom: zur Geschichte der Elektrotherapie; Ausstellung vom 16. November 2000 bis 4. März 2001 im Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt (= Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt, Nr. 20), Ingolstadt: Dt. Medizinhistorisches Museum 2000. 14 Hartmann, Franz: »Theosophische Korrespondenz«, in: Theosophischer Wegweiser 7 (1904/1905), S. 163–167; Ders.: »Okkulte Wissenschaft in der Heilkunst«, in: Theosophische Kultur 3 (1911), S. 266–271, hier S. 297–302. 15 Dazu ausführlich Teichler, Jens-Uwe: »Der Charlatan strebt nicht nach Wahrheit, er verlangt nur nach Geld!« Zur Auseinandersetzung zwischen naturwissenschaftlicher
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Man warnte theosophischerseits zumeist vor den »Gefahren« und der »Gemeingefährlichkeit« dieser Art der therapeutischen Behandlung, insbesondere vor den Konsequenzen eines veränderten Bewusstseinszustands während und nach der Behandlung. Bedrohung gehe vor allem von dem zwischenzeitlichen Kontrollverlust aus. Unter die Kritik an der Hypnosepraxis fielen für die Autoren auch die rituellen Abläufe mediumistischer Praxis in spiritistischen Seancen.16 Durch die Subsumierung spiritistischer Phänomene unter das kritisch beäugte Thema Hypnose kam es somit zu einer Abgrenzung von unmittelbaren religiösen Konkurrenten. Nicht alle theosophischen spokespersons waren so rigoros. Akteure, die keine so starke institutionelle Bindung hatten, konnten auch andere Positionen vertreten. Eine allgemein bejahende Position zur magnetischen Therapie nahm der Astrologe Karl Brandler-Pracht ein. Da Krankheit eine Störung der rhythmischen Bewegung der Lebenskraft (»Prana-Moleküle«17) sei, könne ein Heiler diesen Rhythmus wiederherstellen. Dabei plädierte er u.a. für die Selbstbehandlung bzw. das Magnetisieren durch Familienmitglieder und die Kombination mit anderen Heilmethoden wie Phrenologie, medizinische Astrologie, Homöopathie, therapeutische Alchemie und Naturheilkunde.18 Den zweiten größeren Themenkomplex boten Atemlehren und »Yoga«. Wie bei der Hypnose und den magnetischen Kuren wurden ebenfalls Warnhinweise vor gefährlichem Fehlverhalten bei der Ausübung der einzelnen Techniken gegeben. Hartmann riet von den intensiven leiblichen Atemübungen des als Hatha-Yoga rezipierten Yoga ab. Es schädige die Lunge durch falsch ausgeführte, rein physische Übungen wie Luftanhalten. Und im Hinblick auf die theosophische Körperlehre mahnte er an: Wer versuche, das Geistige dem Materiellen unterzuordnen, verursache Unordnung in den Strömungen seiner Lebenskräfte, zerbreche gar die »Kanäle« seines Astralkörpers. Folgen wären: »Nervenzerrüttung, Herzkrankheiten, Irrsinn, Gehirnerweichung, physische, intellektuelle und moralische Verkommenheit, Selbstmord«. Erlaubt sei hingegen eine meditativere Form des Yoga, denn der Geist solle den Körper beherrschen, und so auch der »innerliche Atem« den äußeren. Habe man dann gelernt, »richtig« zu atmen, sei man in der Lage, die »materiellen, astralen und geistigen« Elemente aus der Luft aufzuMedizin und Laienmedizin im deutschen Kaiserreich am Beispiel von Hypnotismus und Heilmagnetismus, Stuttgart: Steiner 2002. 16 O.N.: »Die Bewusstseinsreiche im Weltall«, in: Theosophischer Wegweiser 3 (1900/ 1901), S. 252–256. 17 Semantisch interessant und typisch für die Esoterik der Zeit ist die Verbindung von physikalischen Begriffen mit Begriffen aus asiatischen Religionen. 18 Balzli, Johannes: »Heilmagnetismus«, in: Prana 6 (1915/1916), S. 310–317.
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nehmen.19 Hartmann empfiehlt also »geistige« Yoga-Übungen (Raja-Yoga) vor eher körperbezogenen Yoga-Übungen für theosophische Laien. Hartmanns Haltung und moralisierendes Schreiben über »richtiges« und »falsches« Yoga hatten u.a. einen persönlichen Hintergrund. Sein Freund Carl Kellner starb sehr früh und Hartmann schrieb dessen Tod der Verbindung von okkultem bzw. alchemischem Experimentieren einerseits und Yoga-Übungen mit dem Schwerpunkt auf Atemtechniken andererseits zu. Zudem habe Kellner dabei mit der falschen »inneren« Einstellung gearbeitet. So habe er egoistische Zwecke verfolgt. »[I]t is plausible that Kellner saw a strong relation between his spiritual improvements through yoga practice and his alchemical advancements, as the belief in the interconnectedness of the alchemist’s state of mind and the results of alchemical laboratory work was common within his occultist milieu.«20
Der Quellenlage geschuldet ist, dass man nicht genau rekonstruieren kann, was konkret die Theosophen der Hartmann-Richtung bei der Ausübung des Raja- oder Hatha-Yoga im häuslichen Bereich betrieben haben. Der Religionswissenschaftler Karl Baier hat jedoch rekonstruiert, wie »Meditationen« der Leipziger Theosophen in gemeinsamen Andachten abliefen. Meditation als Praxis nahm in seiner Bedeutung für den spirituellen Fortschritt der Theosophen sogar sukzessive zu und rangierte bald auf dem ersten Platz vor den ethischen Grundsätzen und der damit verbundenen enthaltsamen Lebensführung (Alkoholabstinenz, Vegetarismus).21 Wie auch schon im Themenbereich Hypnose/Heilmagnetismus positionierte sich Brandler-Pracht mit einer eigenen, natürlich positiv besetzten Praxis in diesem Diskursfeld. Er warb für »seine« zwölf »Prana-Exerzitien«22 zur »Regulation des Blutes« und der »Nervenkraft« und behauptete, dass diese wirksamer als herkömmliche Gymnastik seien. Bewusstes Atmen, das Sprechen von Mantren sowie das Einnehmen bestimmter körperlicher Positionen seien Heilmittel, die nicht nur die Qualität der eigenen Aura verbesserten – also auch hier wieder explizite Arbeit 19 Hartmann, Franz: »Hatha-Yoga oder die Wissenschaft des Atmens«, in: Theosophischer Wegweiser 8 (1905/1906), S. 105–112, hier S. 107–108. 20 K. Baier: Yoga within Viennese Occultism, S. 399–400. 21 K. Baier: Meditation und Moderne, S. 396ff. Der Yogadiskurs in der Theosophie beginnt in den 1880er Jahren. Wenn Theosophen vom »Meditieren« sprachen, dann beinhaltete das immer schon die damit verbundene spezifische Yoga-Rezeption. 22 Interessant an diesem Kompositum ist die Verbindung eines asiatisch kodierten Kräftekonzepts mit den allseits bekannten geistlichen Übungen katholischer Frömmigkeitspraxis.
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am theosophischen Körper –, sondern im Sinne präventiven Gesundheitsverhaltens auch vor Krankheiten schützen könnten.23
3. ZWISCHENFAZIT Medizinische Themen werden bei den Theosophen zumeist in Vorträgen und anschließend in publizistischer Form platziert. Dies geschieht über den unmittelbaren Kreis der Anhänger hinaus auch in Räumen und Zeitschriften, die dem lebensreformerischen Netzwerk zuzuordnen sind (gesellige Hinterzimmer vegetarischer Restaurants, in erschwinglichen Einzelpublikationen zu Werbezwecken, als Vernetzungsthema auf den Treffen lebensreformerischer Vereinigungen durch Reisereferenten). Wichtigste spokesperson für die Zeit um 1900 ist Franz Hartmann mit seinen spezifischen inhaltlichen Setzungen vor dem Hintergrund seiner professionellen und weltanschaulichen Karriere. Er verband auf funktionale Weise seinen Beruf als Schulmediziner, der ihn mit einer gewissen gesellschaftlich anerkannten Reputation ausstattete, mit dem des Propagandisten okkulter Heilweisen. Seine gruppeninterne Glaubwürdigkeit wurde auf dreifache Weise hergestellt: einmal durch den Status als Mediziner mit Meriten im Bereich der Therapie einer der verbreitetsten Volkskrankheiten und zweitens durch sein esoterisches Kulturkapital, d.h. seine behauptete Gabe der Hellsichtigkeit und Befähigung zu okkulten Diagnosen und Heilweisen. Drittens wirkten auch soziokulturelle Faktoren wie seine Identität und Performanz als Akademiker und weit gereister Mann mit Lebenserfahrung, der »die Welt« gesehen hat. Einen weiteren Akteurstypus nenne ich »Brückenfiguren«. Dies waren die aktiven Anhänger, das heißt die z.T. dauerhaft tätigen Reisereferenten, die in allen drei deutschsprachigen Ländern theosophische Ortsgesellschaften etablierten und potenzielle Klientel in lebensreformerischen Vereinigungen suchten. In deren Vorträgen (auch über okkulte Heilweisen) in Versammlungen von Tierschutzvereinen, Naturheilkundevereinen usw. kam es sowohl zu Wissenstransfer als auch zur Rekrutierung potenzieller Anhänger oder gar zukünftiger (zahlender) Mitglieder. Da sich auf der formalen Ebene viele der esoterischen Praktiken ähnelten und in der Szene ähnliche weltanschauliche Programmatiken kursierten, gab es theosophischerseits aber auch permanente verbale Abgrenzungen von unmittelbar benachbarten Gruppen wie Unterhaltungshypnotiseuren, Spiritisten oder Anhängern von Christian Science. Diese fungierten als negative signifikante Andere der Bezugnahme. Ein solches Verhalten ist Ausdruck des beständigen Versuchs 23 Balzli, Johannes: »Atemgymnastik«, in: Prana 7 (1916/1917), S. 525–532.
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der Theosophen, performativ Alleinstellungsmerkmale der eigenen Position her auszustellen. Dies führte zu einer spezifisch theosophischen Yoga-Rezeption und zum Entwurf eigener Atemlehren für den religiösen (Nischen-)Markt. Dabei kam es zugleich zur stetigen Weiterentwicklung theosophischer Doktrinen durch bestimmte Autoren im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten, wie dies an der Person Karl Brandler-Pracht gut abzulesen ist. Am nun folgenden Beispiel Mazdaznan lassen sich die Leitfragen des Workshops noch deutlicher aufgreifen.
4. DIE MAZDAZNAN Mazdaznan ist sehr wahrscheinlich im Umfeld des New Thought und der Körperkulturbewegung um 1900 in den USA entstanden. Verbreitet war New Thought vor allem in der städtischen Mittelschicht, insbesondere unter weißen Frauen mit einer liberalen protestantischen Religiosität, die offen waren für Einflüsse aus den »östlichen Religionen«. Es existierte kein standardisiertes Set von Dogmen. Religiöse Anbieter arbeiteten mit verschiedenen weltanschaulichen Entwürfen: idealistischen, spiritistischen, pantheistischen, kabbalistischen, christlichen und theosophischen. Eine konstruktive Nutzung des Geistes in der Wechselbeziehung mit dem Kosmos sollte in der »spirituellen Höherentwicklung« des Einzelnen münden, aber auch in physische und psychische Gesundheit, Selbstbeherrschung und sogar in wirtschaftliches Wohlergehen. Medizinische therapeutische Ideen und Praktiken mit spirituellen Entwürfen zu verknüpfen, war in dieser Szene selbstverständlich.24 Der religiöse Name des Begründers von Mazdaznan lautete Otoman ZarAdusht Hanish (wahrscheinlich Otto Hanisch). Nachgewiesen ist die Mazdaznan Temple Association of Associates of God seit etwa 1900 in Chicago. Zu dieser Zeit war die religiöse Szene Chicagos von großer Diversität gekennzeichnet; insbesondere die so genannten mental healing movements waren hier aktiv.25 In seiner autobiographischen Konstruktion erzählt Hanish von seinem Weg zum »Meister« und Erben einer »östlichen Weisheitsschule«. Dazu gehörten Reisen nach Asien und dortige Offenbarungserlebnisse. Hanish ging davon aus, im Besitz »geheimen Wissens« zu sein. Er bediente die in diesen Kreisen üblichen Narrative einer philosophia perennis und stärkte damit alternative Entwürfe zu jüdischen und christ24 Hanegraaff, Wouter J.: »New Thought Movement«, in: Ders., Dictionary of Gnosis & Western Esotericism, 2 Bde., Leiden: Brill 2005, S. 861–865. 25 Voorhees, Amy B.: »Understanding the Religious Gulf between Mary Baker Eddy, Ursula N. Gestefeld, and Their Churches«, in: Church History 80 (2011), S. 798–831, hier S. 803.
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lichen Genealogien der Offenbarung. Die dafür angeführten Autoritäten waren zumeist Hermes Trismegistus, Zarathustra oder Pythagoras. Bei Mazdaznan lag die Betonung auf Zarathustra. Wie bei Franz Hartmann wurde jedoch zeitgleich durch die Behauptung des Erwerbs eines medizinischen Doktortitels in den USA Hanishs Autorität doppelt abgesichert und seine Lehre parallel in die westliche Wissenschaftstradition eingeordnet. Ab 1907 begannen erste Institutionalisierungsversuche von Mazdaznan in Europa, speziell in Leipzig, durch den Deutschschweizer Anhänger David Ammann, der mit seiner Familie aus den USA remigriert war. Kurz nach 1900 erschienen Health- and Breath Culture, Inner Studies und Mazdaznan Dietetics – Bücher, in denen Hanish sein vegetarisches Ernährungssystem, seine Konzentrations- und Atemübungen, genaueste Anweisungen zur Körperpflege sowie eugenische Vorstellungen niedergelegt hatte.26 Die explizit religiösen Schriften Ainyahita und Yehoshua Nazir (Jesus) wurden zeitlich erst danach publiziert.27 Darin werden damals beliebte popularisierte Interpretationen apokrypher Evangelien wiedergegeben (Jesus war in Indien etc.). Für unseren Kontext interessant ist, dass Jesus darin als great physician adressiert wird. In einer rationalistischen Interpretation werden die Heilkräfte Jesu nicht als durch Gott gewirkte Wunder vorgestellt, sondern als auf »natürlichen« therapeutischen Techniken basierend. Für Hanish gibt es keinen Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft. Auch dies ist ein Topos, welcher in den Programmatiken der New Thought-Akteure häufiger zu finden ist und sowohl in der Tradition liberaler protestantischer Theologien steht, als auch in der im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts breitenwirksam einsetzenden Rezeption aufklärerischen Denkens und in einem damit verbundenen spezifischem Wissenschaftsverständnis (Baconianism) zu verorten ist.28 Andererseits stellt Hanish sei26 Hanish, Otoman Zar-Adusht: Health and Breath Culture According to Mazdaznan Philosophy (Sun-Worship), Chicago: The Sun-Worshiper Pub. Co. 1902; Ders.: Inner Studies. A Course of Twelve Lessons, Chicago: The Sun-Worshiper Pub. Co. 1902; Ders.: Mazdaznan Encyclopedia of Dietetics and Home Cook Book of Cooked and Uncooked Foods. What to Eat and How to Eat It, Chicago: Mazdaznan Pub. Co. 21904. 27 Hanish, Otoman Zar-Adusht: Ainyahita in Pearls, Chicago: Mazdaznan Press 1913; Ders.: Yehoshua Nazir. Jesus the Nazarite. Life of Christ, Los Angeles: Mazdaznan Press 1917. 28 »Baconianism« bzw. die »induktive Methode« meint einen damals allgemein verbreiteten Enthusiasmus für Naturwissenschaft. Damit verbunden waren ein gewissenhafter Empirismus und ein Vertrauen in die menschlichen Wahrnehmungsorgane sowie wissenschaftstheoretisch ein Realismus. Die Kehrseite war ein Misstrauen gegenüber jedweder Spekulation und Konzepten, die nicht aus wissenschaftlicher Beobachtung herrührten (Hazen, Craig James: The Village Enlightenment in America. Popular Reli-
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ne Lehre auch in den Kontext der zarathustrischen Religionstradition: Mazdaznan versteht sich als »neopersisch« im Sinne der Neuverkündigung einer »Uroffenbarung«. Mazdaznan ist damit Teil der zeitgenössischen Faszination für Zarathustra. Diese Figur fungierte häufig als populäre Projektionsfläche für andere Weisheitstraditionen.29 Aus dem komplexen Set an Praktiken und Ideen bei Mazdaznan sollen im Folgenden drei genauer vorgestellt werden: die Temperamentenlehre bzw. Phrenologie, die Darmpflege und die Atemlehre.30 Hanish entwirft eine eigene Konzeption der Temperamente. In der deutschsprachigen Mazdaznan-Zeitschrift sind diesem Thema mehrere Artikel gewidmet. Autor war ebenfalls ein Schulmediziner, Dr. med. Nikolaus Müller. Darin werden die drei menschlichen Haupttemperamente als »materiell«, »spirituell/moralisch« und »intellektuell« vorgestellt. Erstrebenswert sei die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit hin zum intellektuellen Temperament. Ein Mazdaznan soll »Nerven- und Gehirnmensch« sein; nicht »Muskelmensch«. Mazdaznan postuliert einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeit, Form und Größe des Gehirns und damit der Schädelform sowie dessen »Lesbarkeit«. Eine Diagnose bietet die Möglichkeit zur persönlichen Veränderung durch Atemübungen, richtige Diät und richtiges Denken. Jedem Temperament entsprechen bestimmte Krankheitsanlagen. Der »materiell basierte Mensch« neige zu Erkrankungen des Verdauungstraktes und der Leber; das spirituelle Temperament zu Krankheiten am Urogenitalsystem sowie zu Neurasthenie und Nervenleiden; der intellektuelle Typ zur Erkrankung der Lunge. Die Konzepte dahinter sind dem weiten Feld der Diätetik in der Tradition der Humoralpathologie zuzuordnen und sind wahrscheinlich auch von der Rezeption antiker anthropologischer Entwürfe der christlichen Gnosis inspiriert.31 gion and Science in the Nineteenth Century, Urbana: University of Illinois Press 2000, S. 10). 29 Stausberg, Michael: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die europäische Religionsgeschichte der frühen Neuzeit, 2 Bde., Berlin: De Gruyter 1998. 30 Die sexualpraktischen und eugenischen Konzepte von Mazdaznan bleiben hier aus Platzgründen unberücksichtigt. Siehe dazu Desponds, Severine: »Eugenik und die Konstruktion der weiblichen Übernatur. Eine Fallstudie über die Mazdaznan-Bewegung in den Vierzigerjahren«, in: Anna-Katharina Höpflinger/Anna Jeffers/Daria Pezzoli-Oligiati (Hg.), Handbuch Gender und Religion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 297–307. Jelinek-Menke, Ramona: »›Ein solches Kind ist ein wahrer Erlöser‹. Eugenik und die Konstruktion menschlicher Normalität bei Mazdaznan«, in: Zeitschrift für junge Religionswissenschaft (2013), S. 29–55. 31 In gnostischen Heilsgeschichten wurde der Mensch als Konstrukt und Teil des Kosmos und gleichzeitig als noch zu vollendendes Projekt gedacht. »Der Mensch besteht nach
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Wert gelegt wurde bei Mazdaznan auf eine vegetarische Ernährungsweise, und hier nicht nur auf die Reinheit der Nahrung, sondern auch auf die Reinheit und gesunde Funktionsweise des Verdauungssystems. Regelmäßige Darmpflege war für einen Mazdaznan ein Muss. Hanish gab allerlei praktische Hinweise für eine gute Verdauung und Pflege des Darmes, der von Verstopfung, innerer »Gärung« und »Fäulnis« bedroht sei. Im deutschen Mazdaznan-Kontext war es ein praktizierender Arzt und zugleich Mazdaznan-Anhänger – Heinrich Oberdörffer – der in diese Krankheitslehre einführte und dementsprechende Praktiken bewarb: »Die beständige Resorption der in Fäulnis und Zersetzung übergehenden und zu lang im Darm verweilenden Stoffe bilden die erste körperliche Ursache aller folgenden Krankheiten: das ganze unendliche Heer der Nervenkranken einschließlich der Geisteskranken, alle Arten der Verdauungsstörungen seitens Magen, Leber und Darm, die große Schar der unterleibskranken Frauen, Lungenkranke, Gichtiker, Zuckerkranke, Hautkranke.«32
Oberdörffer rahmt diese Erkenntnis als Mazdaznan zugleich religiös: »Aber in einem Tempel [=Körper, B.B.], der aufgebaut ist aus Leichen und zersetzenden Fäulnisprodukten, kann kein Gott wohnen. […] Die Zellen des ganzen Körpers […] müssen so rein sein, dass nur reine Gedanken und das Streben nach wahren Idealen sie durchziehen und durchglühen können.«33
Der Versandhandel der deutschen Mazdaznan-Zentrale in Leipzig vertrieb Tees, Gewürze und Kräuter, die in (alternativ-)medizinischen Kreisen damals wie heute zur Behandlung von Blähungen, als Abführmittel oder zur Ausschwemmung von Wasser benutzt werden.34 Zusätzlich wurde temporäres Fasten als Universalheilmittel propagiert, ebenso Waschungen im und am Körper: Als Grundlage für äußere Waschungen des Körpers und intestinale Spülungen dienten Wassermidieser Anthropologie […] aus – abgesehen vom Körper – drei Seelenteilen bzw. Seelensubstanzen: Einer hylischen [materiellen, B.B.], einer psychischen und einer pneumatischen Seelensubstanz.« (Löhr, Winrich: »Der Mensch als Konstrukt und als Projekt. Zu den Anfängen anthropologischer Reflexion im Christentum des 2. Jahrhunderts«, in: Markus Hilgert (Hg.), Menschen-Bilder. Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft, Heidelberg: Springer 2012, S. 67–84, hier S. 77. 32 Oberdörffer, Heinrich Joseph: Chronische Stuhlverstopfung und deren Heilung nach Mazdaznan, Leipzig: Ammann o.J., S. 37. 33 Ebd., S. 16f. 34 z.B. Leinsamenröllchen, Kümmelöl, Hagebuttenschalen, Poleiminze, Süßholzwurzel und Wermut.
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schungen aus Borax, Kaliumpermanganat oder Knoblauch- und Eukalyptusöl. Bei Magenleiden, Schwindsucht, Rheuma und chronischem Katarrh riet Mazdaznan zu Afterkompressen und Darmspülungen. Die Benutzung von Klistieren wurde wie das Fasten generell empfohlen, um Verstopfungen zu vermeiden. Die für die Selbstbehandlung benötigten Zutaten und Geräte – diverse Seifensorten, ein Darm-Bade-Apparat usw. – konnten bei den Mazdaznan erworben werden. Die Sorge um einen funktionierenden Verdauungsapparat war keine Besonderheit der Mazdaznan-Heilkunde, sondern eingebettet in einen popularisierten (schul-)medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts. Die dauernde Sorge um die Verstopfung der Verdauungsorgane erfasste Mediziner, Gesundheitsreformer und die Öffentlichkeit. Sie mobilisierte medizinische Unternehmer, welche unter Verweis auf die neuesten Erkenntnisse der universitären Medizin vorbeugende und therapeutische Mittel und Geräte entwickelten. Die in diesem Zusammenhang hergestellten Klistierspritzen zur Selbstbenutzung im privaten Haushalt etwa waren als Alternative zur kostspieligen (Darm-)Kur im Sanatorium für den Mittelstand gedacht – vorausgesetzt, dieser besaß bereits eine Wohnung mit Badezimmer und Spülklosett. Gesundheitsratgeber in den USA um 1850 und später auch in Deutschland waren zu einem guten Teil die Übersetzung der Wertvorstellungen der (weißen) Mittelschicht in physiologische Begriffe: Selbstbeherrschung und Mäßigung gehörten zu den Standardthemen der Rhetorik. Gesundheit wurde hier zur moralischen Verpflichtung. Im Zuge der Entdeckung der Mikroorganismen (und damit der Keimtheorie als neuer Krankheitslehre) wurde diese Haltung zudem gestützt durch medizinische Theorien der Autointoxikation: Die permanente Verunreinigung des menschlichen Blutes durch Darmbakterien sei in Gang. 35 »Lungen-, Nerven- und Geistesgymnastik« war eine weitere Praxis, die im Praxisalltag der Mazdaznan eine zentrale Rolle spielte. Es handelte sich um reflektiertes, methodisiertes Atmen, so genanntes »bewusstes«, »individuelles Atmen«. Hanish deklarierte es als höchstes »Entwicklungsmittel«. Es führe zu erhöhter Konzentrationsfähigkeit und zur Verlängerung des irdischen Lebens, da es alle Krankheiten heile und zudem »gefährliche« Kohlensäure aus dem Körper entferne. In Mazdaznan-Sprache wurde dieses Atmen auch »praktische Pneumatologie« genannt. Dabei unterstrich man Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge zwischen der Praxis des Betens und dem systematischen Atmen. Das Mazdaznan-Atemsystem wurde dadurch sowohl naturwissenschaftlich-physiologisch als auch religiös begründet und legitimiert. Atemtechniken nach Mazdaznan haben ebenfalls eine verflochtene Vorgeschichte in verschiede35 Whorton, James C.: Inner Hygiene. Constipation and the Pursuit of Health in Modern Society, Oxford: Oxford University Press 2000.
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nen Bereichen der US-amerikanischen als auch deutschen Gesellschaft: einerseits im New Thought und der Rezeption von Meditations-/Yogapraktiken im Zuge der Aneignung buddhistischer und hinduistischer Ideen und Praktiken36 und andererseits in der sich rasant entwickelnden Körperkulturbewegung (Bodybuilding, Rhythmus- und Gymnastikbewegung).37 Die Mazdaznan-Anthropologie geht davon aus, dass das ganze »materielle« Leben auf der Zirkulation des Atems und der Fähigkeit des Einzelnen, die verschiedenen Wirkungen desselben in die einzelnen Körperteile zu senden, beruhe. Dabei ist von der Rezeption mesmeristischer Positionen auszugehen. Diese waren nach 1800 in Teilen in der romantischen Medizin weiterverarbeitet worden. So referiert Hanish über zwei voneinander abgekoppelte Nervensysteme im Körper. Die Ganglien transportierten »elektrisches Nervenfluidum«, und das sympathetische Nervensystem die »magnetische Kräfte«. Der menschliche Leib wird gedacht als Organismus, der aus unzähligen »Intelligenzen und Kollektivelementen« zusammengesetzt ist, die alle durch das doppelte Nervensystem mit dem Gehirn verbunden sind und auch über diesen Weg gesteuert werden können. Die menschlichen Ausstrahlungen stellen Verbindungen mit allem in der Natur und im Universum her. Erkenne der Mensch dies, könne er alles im Weltall kontrollieren. Die Fähigkeit des Menschen, das Universum zu beherrschen, hänge dabei vom Grad seiner Selbstbeherrschung und Konzentrationsfähigkeit ab.38 Der menschliche Gedanke wird als Substanz gedacht, dessen Schwingungen durch Konzentration in bestimmte Richtungen gelenkt werden kann. Dies ist eine Konzeption von Gedankenkraft, wie sie typisch für theosophische und andere New Thought-Entwürfe ist, und die später die Positive Thinking-Bewegung beeinflusst hat.39 Ziel der speziellen Ernährung, der Atemübungen und der hygienischen Maßnahmen ist bei Mazdaznan die »Durchgeistigung des Körpers«, um »Ätherstoffe zum Aufbau und Ausbau des Körpers zu bringen«. Der physische Körper sollte durch Gedankenkraft, Heilung und Reinigung geformt werden, indem man kosmische Energie in die eigene verformbare, körperliche Materie überführt.40 Hier wird das Bild des 36 Siehe ausführlich dazu K. Baier: Meditation und Moderne. 37 Wedemeyer-Kolwe, Bernd: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 38 Amman, David: Mazdaznan Diätetik und Kochbuch, Leipzig: Mazdaznan-Verlag 1912, S. 10; Hanish, Otoman Zar-Adusht: Mazdaznan Atmungs- und Gesundheitslehre, Leipzig: Mazdaznan-Verlag 21910, S. 5, 48, 153, 191; Ders.: Mazdaznan Wiedergeburts-Lehre, Leipzig: Mazdaznan-Verlag 1929. 39 George, Carol: God’s Salesman. Norman Vincent Peale and the Power of Positive Thinking, New York: Oxford University Press 1993. 40 O. Hanish: Wiedergeburts-Lehre, S. 14.
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Menschen als Projekt, das es erst noch zu vollenden gilt, besonders deutlich. Das hatte durchaus auch ästhetischen Charakter, denn Ziel war die Schaffung eines »durchsichtigen« Menschen.
5. ZWISCHENFAZIT Sowohl Hanish als auch zwei weitere Mazdaznan-Autoren zu explizit medizinischen Themen werden in der Ratgeberliteratur und der Verbandszeitschrift als »Dr. med.« vorgestellt, und sie klären die Anhänger und Interessenten über anatomische, anthropologische und nosologische Angelegenheiten auf. Die soziale Wirkung dieses institutionalisierten Kulturkapitals dürfte in etwa die gleiche gewesen sein wie die für die Anhänger Hartmanns. Zugleich agierte und beeindruckte Hanish mit seinem religiösen Titel (Zar Adusht), indem er symbolische Referenzen an die »uralte« zarathustrische Tradition machte. In Anlehnung an Pierre Bourdieu und seine These von der Auflösung des religiösen Feldes in der Moderne formuliert der Religionswissenschaftler Jürgen Mohn hierzu treffend: »Heil, Heilung und Gesundheit werden an der Grenze von Religion (traditionellen und neuen religiösen Strömungen) und Wissenschaft neu definiert und technisch-religiöser Kuren unterworfen. Eine besondere Rolle als Nachfolger der Clerc komme […] den Religionsintellektuellen zu, die sich auf Wissenschaft und traditionelle Weisheitslehren wie spirituelle Körpertechniken gleichermassen und in unterschiedlichen Dosen stützen.«41
Während Bourdieu seine Aussage wohl auf Entwicklungen im religiösen Feld in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezogen hat, lässt sich diese Feststellung problemlos auf einige (alternativ-)religiöse Gruppierungen für die Zeit um 1900 übertragen. Max Weber beschreibt im Hinblick auf Frömmigkeitspraktiken systematisierte Techniken des Herstellens von Heil, die zum Heilsbesitz führen würden. Dazu gehören auch Manipulationen am Körper, die auf die Transformation desselben angelegt sind. Dabei soll die »Domestizierung und Transformierung der natürlichen Körperlichkeit in eine heilsgewisse Körperlichkeit« verstetigt werden
41 Mohn, Jürgen: »Körperkonzepte in der Religionswissenschaft und der Religionsgeschichte«, in: Christina aus der Au/David Plüss (Hg.), Körper – Kulte. Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften, Zürich: TVZ 2007, S. 47–74, hier S. 70 (Herv. im Orig.). Mohn verweist auf die mittlerweile klassisch gewordene Passage bei Bourdieu, Pierre: Die Auflösung des Religiösen, in: Ders., Rede und Antwort, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 231–237, hier S. 235.
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via Integration in die alltägliche Lebensführung.42 Insofern ist Mazdaznan ein sehr schönes Beispiel dafür, wie der konkrete Leib bzw. der individuelle Körper zu einem »identitätsstiftende[n] Erfahrungs- und Einschreibungsmedium« werden kann.43 Das Fallbeispiel Mazdaznan zeigt zudem deutlich, dass religiöse Akteure, Körperkulturisten, Akteure auf dem Gesundheitsmarkt, Ärzte und Ernährungswissenschaftler damals interpersonale Netzwerke bildeten, die thematisch verschränkte Diskurse hervorbrachten, welche als neue Wissensvorräte zu etikettieren sind. Dies gilt für Deutschland und die USA. Zudem werden die Anhänger von Mazdaznan aufgefordert, diese präventiven und therapeutischen Praktiken durchaus als religiöse Praktiken in ihren Alltag zu integrieren. Dabei kommt es in diesem Diskurs zur selbstverständlichen Verbindung von religiösen und alternativmedizinischen Topoi44 mit der schulmedizinischen Körperlehre.45 Der Fall Mazdaznan mahnt damit zur Einsicht, dass die Erforschung der Religionsgeschichte mit konflikttheoretischen Modellen vom Verhältnis von Religion und Wissenschaft nicht immer einen systematischen Mehrwert an Erklärung bringt. Diese sind in ihrer (globalen) Generalisierbarkeit für das 19. und 20. Jahrhundert ohnehin generell zu hinterfragen. Gegenüber ihren religiösen Herkunftsmilieus – in Leipzig zumeist die Evangelisch-Lutherische Kirche – ist von Seiten der Theosophie und seitens Mazdaznans kein expliziter Exklusivitätsanspruch gestellt worden. Die meisten der Anhänger blieben wohl Mitglieder der Kirche und engagierten sich in den jeweiligen Vereinen nach dem Grad ihres persönlichen Interesses. Sie nahmen die weltanschaulichen Angebote und Praktiken zusätzlich wahr. Wohl gab es hochengagierte Anhänger nebst ihren Familien, die an internen Zeremonien wie Initiationsriten für Kinder und Erwachsene oder speziellen Eheschließungszeremonien teilnahmen, 42 J. Mohn: Körperkonzepte, S. 52. Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 325f. 43 J. Mohn: Körperkonzepte, S. 67. 44 In den Quellen finden sich z.B. objektsprachliche Begriffe wie Sushumna, Nadi, Chakra, die der zeitgenössischen Yoga-Rezeption zuzuordnen sind. 45 Die Rezeption biomedizinischen Wissens zeichnet nicht nur die vielen Gruppierungen im Bereich des New Thought aus. Auch britische christliche Gruppierungen, die eine personale Dämonologie vertraten, haben um 1900 zur Erklärung und Validierung von Besessenheitsphänomenen anatomische, neurologische und bakteriologische Konzepte und Termini benutzt. So würden sich Dämonen z.B. bevorzugt von Nervenzellen ernähren und via das menschliche Nervensystem im Leib agieren. Hayward, Rhodri: »Demonology, Neurology, and Medicine in Edwardian Britain«, in: Bulletin of The History of Medicine 78 (2004), S. 37–58, hier S. 53f.
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die von Ammann und Hanish durchgeführt wurden. Hier wäre noch zu prüfen, ob es sich bei diesen Familien um »Dissidenten« gehandelt hat (der bürokratische Terminus für Personen, die aus der Kirche ausgetreten waren). Von einer dezidierten Propagierung der Heilsexklusivität durch die spokespersons der Vereine ist jedoch nicht auszugehen.46
6. ERGEBNISSE Religiöse Virtuosen und Autoritätsfiguren wie Hartmann prägten für einen bestimmten Teil der deutschen theosophischen community das Vokabular für das Sprechen über Krankheit und Gesundheit. Andere Akteure der theosophischen Szene im weitesten Sinne übernahmen und veränderten dieses sukzessive allerdings innerhalb eines bestimmten Rahmens, wie man an Brandler-Prachts Entwürfen sehen kann. Die gleiche Entwicklung ist bei Mazdaznan zu beobachten: Hanish prägte zunächst den Mazdaznan-Diskurs durch die Übersetzung seiner Schriften durch David Ammann ins Deutsche. Dann entwickelten die Mazdaznan-Anhänger und zugleich Schulmediziner Oberdörffer und Müller diesen für den deutschen Standort weiter. Ähnlichkeiten sind auch bei den diskursiven Strategien und Rhetoriken zu beobachten. Innerhalb beider Gruppen gibt es mehrere Methoden und auch mehrere Quellen von Wissenserlangung, die als legitim erachtet werden und je nach Kontext unterschiedlich hierarchisiert werden: Tradition/alte Schriften, persönliche Erfahrung in Form von Offenbarungen/Hellsichtigkeit (»Clairvoyance«) und die Wissensvorräte der Naturwissenschaft. Der Bezug zur naturwissenschaftlichen Medizin war eine diskursive Strategie im positiven, affirmierenden und manchmal auch im negativen, abgrenzenden Sinne. Dabei wurde selektiv gearbeitet: Es kam zur Rezeption von in der Öffentlichkeit verfügbaren Forschungsergebnissen, die die eigenen Positionen stützen konnten. Diese Selektivität war typisch und wurde nicht als Widerspruch erfahren oder thematisiert. Man könnte zudem die Hypothese in den Raum stellen, dass durch den Prozess der Medikalisierung im 19. Jh. auch sich als alternativmedizinisch oder alternativreligiös verstehende Akteure wie die Theosophen bei eigenen Aussagen über Krankheit und Gesundheit fast schon dazu gezwungen waren, zu damit verbundenen naturwissenschaftlichen Konzepten Position zu beziehen. Bei Mazdaznan geschah diese Bezugnahme in den Texten ohne Spannung und selbstverständlicher als bei den Theosophen.
46 B. Bigalke: Lebensreform und Esoterik, Kap. 3.5.3.
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Theosophen und Mazdaznan argumentierten holistisch und machten ein doppeltes Angebot: Zunächst gab es kurative Angebote für die Neumitglieder und jungen Anhänger der jeweiligen Gruppen, und zugleich bzw. direkt im Anschluss wurde präventiv, auf die Zukunft ausgerichtet, argumentiert. Dabei ging es auch um die eigene Gesundheit, aber vor allem um die anvisierte Transformation hin zum jeweiligen Entwurf des idealen Menschseins. Das heißt, hier ist eine chronologische Beobachtungsperspektive einzunehmen und zwischen Neukonvertiten und älteren Mitgliedern/Anhängern zu differenzieren. Integrierte naturwissenschaftliche Wissensbestände spielten bei der Kommunikation mit neuen oder potenziellen Anhängern eine wichtige Rolle. Sie dienten als »externe«, aber bereits integrierte Instanz der Urteils- und Vertrauensbildung. In Bezug auf den Workshop und den daraus entstehenden Sammelband wäre anhand dieser vorgestellten Fallbeispiele zu fragen und noch stärker herauszuarbeiten, was heute das spezifisch kulturell Neue an therapeutischen/religiösen/ spirituellen »Mischformen« ist. Wie unterscheiden sie sich von den Formen um 1900? Bei dem Bemühen, diese Frage zu beantworten, wird auch noch einmal nach dem jeweiligen Beobachtungszeitraum und der Beobachterperspektive zu differenzieren sein – je nachdem, ob man aus der Perspektive der Religionsgeschichte oder der Medizingeschichte erzählt. Welches historiographische Narrativ würde man konstruieren, wenn man a) eine long durée von 150 Jahren im Blick hätte und b) diese theoretisch erfassen möchte? Diese Frage ist schwer zu beantworten und kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Sie aufgeworfen zu haben, dient der Reflexion über den jeweiligen Blick, mit dem man das Material betrachtet. Atmen nach theosophischer oder nach Mazdaznan-Art, innere, reinigende Kuren oder die Prana-Exerzitien von Brandler-Pracht sind Therapieformen, die quantitativ im Bereich der alternativen Medizin um 1900 nicht großartig ins Gewicht fallen. Längerfristig einflussreich und quantitativ bedeutsamer waren durchgängig die Angebote der Naturheilkunde und ab den 1920er Jahren die der anthroposophischen Medizin. Die im Workshop vertretene Hypothese ist, dass gegenwärtig ein »Interferenzfeld« von Medizin, Heilkunde und Religion existiert. Es stellt sich die Frage, ob dieser Begriff eine bildliche Funktion hat oder auf ein konkretes sozialtheoretisches Modell verweist, etwa auf die Feldtheorie von Bourdieu oder ähnliche. Ein Interferenzfeld setzt eine historisch davorliegende, bereits vorhandene, klare Differenzierung von Teilfeldern voraus. Eine Differenzierung der Felder Religion und Medizin hatte wohl um 1900 institutionell im weitesten Sinne stattgefunden, aber nicht vollständig. Diskursiv und auf der Akteursebene sind viele Überschneidungen zu beobachten, wie man zum Beispiel bei Mazdaznan und der These von der Selbstvergiftung durch Darmbakterien sehen kann.
Was ist Heilung? Religionshybride Deutungen im alternativmedizinischen Kontext Paula Stähler
Die Beobachtung, dass unter Heilung sehr Unterschiedliches verstanden werden kann, war nicht nur Anlass für die Rostocker Tagung,1 sondern ist auch der Ausgangspunkt des hier vorgestellten Forschungsprojekts zu Deutungen von Krankheit und Heilung. Grundlegende These ist, dass die Vorstellungen und Deutungen alternativmedizinischer Anbieter in Hinblick auf Heilung deutlich über ein medizinisches Angebot hinausgehen und Aspekte einer transzendenten Heilsvorstellung enthalten. Wie weit das Feld dessen ist, was unter Heilung verstanden werden kann, zeigen exemplarisch die beiden folgenden Begriffsbestimmungen: »Als Heilung bezeichnet man den biologischen Prozess der Rückbildung einer Erkrankung bzw. einer pathologischen Gewebsveränderung in Richtung des gesunden Ausgangszustands. Der Heilungsvorgang basiert auf körpereigenen Reparaturmechanismen, die durch Maßnahmen eines Therapeuten ermöglicht, unterstützt oder auch nur beschleunigt werden können. Die vollständige Heilung ohne bleibende Narben oder Schäden bezeichnet man als restitutio ad integrum, während sich die Reparationsheilung (Defektheilung) definitionsgemäß unter Zurückbleiben von Schäden vollzieht.«2 »Heilung heißt Ganzwerdung. Sucht man den Ursprung des Begriffs gesund, stößt man auf die germanische Wurzel sunda- im Sinne von stark, kräftig. Heilung ist Ganzwerdung, der Kraft und Stärke entspringen. Kraft resultiert aus dem Miteinander unterscheidbarer Teile,
1 Was heilt – Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde; 13.–14. Oktober 2017. 2 Antwerpes, Dr. med. Frank: »Heilung«, http://flexikon.doccheck.com/de/Heilung, 7.7.2017.
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die ihren jeweils passenden Platz im Ganzen einnehmen. Folglich ist Heilung ein integrativer Prozess. Dabei wird Fehlendes von Unfertigem angenommen.«3
An den beiden hier herausgegriffenen Beispielen zeigen sich grundsätzliche Unterschiede in Hinblick auf die dahinterstehenden Referenzen. Während die erste Bestimmung auf eine funktionale Perspektive der Reparatur rekurriert – der menschliche Körper funktioniert über Mechanismen, die in der Lage sind, mal mit, mal ohne das Zurücklassen von Narben, den Originalzustand wieder herzustellen – liegt bei der zweiten Lesart eine holistische und integrierende Sicht zugrunde, die den Charakter des Prozesses und das Ideal einer Ganzheit zur Leitfigur macht. Gemeinsam ist diesen beiden Bestimmungen von Heilung – und weitere Beispiele ließen sich problemlos ergänzen –, dass sie jeweils unterschiedliche Aspekte aufgreifen und dabei zugleich für sich in Anspruch nehmen, sagen zu können, was Heilung ist. Sie haben vielfältige Phänomene im Blick, Vorgänge und Prozesse, vermutlich auch jeweils unterschiedliche konkrete Fälle, die als Grundlage der Verallgemeinerung dienen, sie setzen Schwerpunkte in der Gewichtung der zentralen Charakteristika und sie deuten. Die Bezeichnung Heilung ist, so lässt sich festhalten, eine Deutung. Gedeutet wird immer dort, wo Menschen sich Wirklichkeit erschließen. In diesem Prozess, so soll Deutung hier verstanden werden, wird Bezug genommen auf vielfältige kulturelle, aber auch subjektive Implikationen, Assoziationen und Erfahrungen, Wahrnehmungen und Prozesse; zugleich auch auf Welt- und Wissenschaftsordnungen, die für besonders plausibel gehalten werden und in deren Struktur die Deutung eingeordnet werden kann. Deutungen sind erforderlich, so der Systematische Theologe Philipp Stoellger, wo Phänomene nicht angemessen durch eine eindeutige Definition abgebildet werden: »Von Deutung […] wird oft dann gesprochen, wenn es um komplexe Größen geht wie ›Leben‹ und ›Welt‹ oder um unerfahrbare Größen wie ›Tod‹ oder ›Jenseits‹ oder um ›Undinge‹, ›Ungegenständliches‹ und ›Unanschauliches‹ wie Gott, Sünde oder Glaube. Gedeutet wird, wo Deutungsfähigkeit vorliegt, Undeutlichkeit, Deutungsbedarf oder Mehrdeutigkeit.«4 3 Depner, Dr. med. Michael: »Heilung«, http://www.seele-und-gesundheit.de/therapie/ heilung.html, 8.6.2017. 4 Stoellger, Philipp: »Deutungsmachtanalyse. Zur Einleitung in ein Konzept zwischen Hermeneutik und Diskursanalyse«, in: Ders. (Hg.), Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Band 63), Tübingen: Mohr Siebeck 2014, S. 1–85, hier S. 20. Hervorhebung im Original.
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In der Begegnung mit komplexen Phänomenen wie Leben, Gott oder Heilung wird sichtbar, dass die Welt nicht durchgängig über Definitionen im Sinne von ›das ist xy‹ zugänglich ist. Vielmehr ist es notwendig, sie mithilfe von Deutungen zu erschließen. Dabei lassen sie ›etwas als etwas‹ sehen, abgrenzen und verstehen. Ziel des Deutens ist es, Ordnung und Orientierung zu schaffen, die Welt und ihre Phänomene in einer bestimmten Weise zu verstehen und als sinnvoll (strukturiert) wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund lässt sich konkretisieren: Uns ist ein bestimmtes Befinden oder ein beobachteter Prozess nicht an sich, sondern immer schon gedeutet, zum Beispiel als Krankheit oder als Heilungsprozess zugänglich und in der Deutung erfolgt sinnhaft Einordnung. Das Symptom zeigt sich, die Deutung strukturiert. Insofern geben Deutungen, wie der Systematische Theologe Jörg Lauster formuliert, »Antworten darauf, wie wir Wirklichkeit erleben«.5 Sie ordnen und lassen etwas als bedeutungsvoll wahrnehmbar werden. Um die Frage nach der Deutung von Krankheit und Heilung (praktisch-)theologisch zu bearbeiten, bieten sich über den Deutungsbegriff direkte Anschlussstellen an bestehende Diskurse. So lässt sich (Praktische) Theologie mit Wilhelm Gräb, Jörg Lauster u.a. als Deutungswissenschaft verstehen, die die »Praxis lebensgeschichtlicher Sinndeutung«6 reflektiert. Gegenstand einer so verstandenen Theologie ist »Religion als Deutung des Lebens«. Gedeutet wird dabei freilich nicht ›nur‹ das ›Leben‹, sondern jene als überkomplex oder letztbegründend bezeichneten Inhalte, die den Menschen in der Begegnung mit Welt und Selbst, im Fragen nach Gott und Sinn zu Klärung und (Ein-)Ordnung herausfordern. Zudem haben Deutungen, so Lauster, nicht allein die Fähigkeit, vorhandenen Sinn aus einem Phänomen oder Widerfahrnis zu erschließen, sondern auch »zu dem bloßen Phänomen eine Bedeutung hinzuzufügen«7 und damit »deutende […] Sinnstiftungsprozesse«8 zu eröffnen. Geht man nun über eine christlich-institutionelle Perspektive hinaus und nimmt zudem in den Blick, dass Religion im Kontext spätmoderner Gesellschaften komplexen Transformationsprozessen unterworfen ist, lässt sich auch danach fragen, welche nominell nicht-religiösen Deutungen sich als Sinnkonstruktionen eines religionskulturellen Übergangsbereiches beschreiben lassen. Eine sol-
5 Lauster, Jörg: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt: WBG 2005, S. 14. 6 Gräb, Wilhelm: Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 5. 7 J. Lauster: Religion als Lebensdeutung, S. 14. 8 Ebd., S. 14.
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che analytische Perspektive jenseits der strikten Dichotomie von Religion und Nicht-Religion eröffnet das Konzept »Religionshybride«. Eingeführt im Rahmen des gleichnamigen Forschungsprojektes9 wurde nach religionsähnlichen und möglicherweise sogar religionsproduktiven Phänomenen und Akteuren in der post-religiösen Gesellschaft der ehemaligen DDR gefragt.10 Dahinter steht u.a. die Vermutung, dass in einer spätmodernen, sich als grundlegend säkularisiert verstehenden Gesellschaft religionsähnliche Phänomene zu beobachten sind, die sich in Bereichen zeigen, in denen explizit nicht von Religion, Religiosität oder Spiritualität gesprochen wird. Bezogen auf die Heilungsthematik lassen sich so Phänomene und Deutungen in den Blick nehmen, die sich als medizinische Angebote und Erklärungsmuster verstehen, zugleich aber religionsaffine Züge aufweisen. Sinnvoll ist die hier vorgeschlagene These nur dann, wenn ein weiter Religionsbegriff zugrunde gelegt wird. Mit der Einführung des Begriffs »Religionshybride« in Aufnahme der Religionsbestimmungen von Detlef Pollack, Danièle Hervieu-Léger u.a. wird hier untersucht, welche religionskulturellen Übergangsphänomene sich zeigen, die über die klassische binäre Trennung von religiös und nicht-religiös hinausgehen. Der Religionswissenschaftler Arnaud Liszka beschreibt dies als »Perspektivenwechsel«, durch den Inhalte und Formen über das »Transzendieren […] der Alltagswelt durch die Erschaffung einer Sinnwelt in der Spannung zwischen den Polen expliziter Religion und expliziter Nicht-Religion graduell eingetragen werden können«.11 Gefragt wird dabei nach inhaltlichen Bezügen, die hier als religionsaffin benannt werden. Gibt es, angewandt auf die Thematik der Heilungsvorstellungen in alternativmedizinischen Kontexten beispielsweise Erklärungen und Deutungsmuster zu Heilungsprozessen, die Transzendenzbezüge aufweisen? Wird Sinnstiftung angefragt und/oder angeboten? Daneben steht die Frage nach religionsäquivalenten Bezügen in Form von 9 Vgl. zu diesem Projekt: Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer VS 2013; sowie: https://www.wiwi.uni-rostock.de/religionshybride/?L=ist. 10 Untersucht wurden in dem Projekt »als ›religionshybrid‹ charakterisierte Ausdrucksgestalten transzendenzbezogener Sinnproduktionen und ihrer Vergemeinschaftungsformen. […] Dieser Gegenstandsbereich [wurde] auf die Muster subjektiver Sinngebungen und die Logik einer gemeinsam geteilten performativen Praxis hin befragt, ohne die Konsistenz einer positiven Religion vorauszusetzen.« (Berger, Peter A./Hock, Klaus/ Klie, Thomas: »Religionshybride – Zur Einführung«, in: Berger/Hock/Klie, Religionshybride (2013), S. 7–45, hier S. 7. 11 Liszka, Arnaud: »Die Vermehrung der Religionshybride«, in: Berger/Hock/Klie, Religionshybride (2013), S. 65–87, hier S. 79.
Was ist Heilung? Religionshybride Deutungen … | 45
Riten, Vergemeinschaftungsweisen oder Strukturen, Interaktionsformen und Vernetzungen, die ohne inhaltliche Bezugnahme strukturelle Analogien zu Religion aufweisen. Werden etwa bestimmte rituelle Praktiken ausgeführt? Lassen sich religionsäquivalente Performanzen finden? Diese und weitere Fragen leiten die folgende Analyse. In Aufnahme dieser theoretischen Überlegungen soll anhand empirischen Materials exemplarisch verdeutlicht werden, welche religionshybriden Bezüge in den Krankheits- und Heilungsdeutungen von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern sichtbar werden. Das Material stammt aus einer Interview-Studie mit Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern in Nord-Ost-Deutschland, die zu ihren Vorstellungen und Deutungen von Krankheit, Gesundheit und Heilung interviewt wurden. Dass für die Studie Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker und nicht Heiler und Heilerinnen, Schamanen oder Besprecherinnen befragt wurden, gründet in der rechtlichen Stellung der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker. Die Bezeichnung Heilpraktiker ist in Deutschland geschützt und darf nur durch bestimmte Personen geführt werden. Diese unterliegen dem Heilpraktiker-Gesetz.12 Sie haben im europäischen Vergleich einzigartig weitreichende Befugnisse. Das Heilpraktiker-Gesetz regelt die Heilbehandlungen durch eine Person, die »die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, ausüben will« und stellt heraus, dass es »dazu der Erlaubnis [bedarf]«.13 Die gesetzlich geregelte Heiltätigkeit umfasst dabei »jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen«.14 Eine Zulassung als Heilpraktiker bzw. Heilpraktikerin ist an das Bestehen einer Prüfung durch einen Amtsarzt beim Gesundheitsamt gebunden. Im Rahmen eines Multiple-Choice-Tests und einer mündlichen Prüfung werden Themen wie Berufs- und Gesetzeskunde, einschließlich der rechtlichen Grenzen der nichtärztlichen Ausübung der Heilkunde, Erkennen von Infektionskrankheiten, Erkennung und Erstversorgung akuter medizinischer Notfälle, Anatomie, Physiologie, Anamnese usw. abgefragt. Mit der gesetzlichen Regelung reagierte man auf den Vorwurf, sogenannte »Kurpfuscher« würden ohne entsprechende Kenntnisse Heilbehandlungen anbieten – und dabei mitunter die Gesundheit ihrer Patienten stärker gefährden als schützen. Nach der 12 Das Heilpraktiker-Gesetz (HeilprG) wurde 1939 erlassen und ist mit Änderungen in seiner aktualisierten Form (letzte Aktualisierung 2016) bis heute gültig. Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: »Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung«, http://www.gesetze-im-internet.de/heilprg/ BJNR002510939.html vom 23.12.2016. 13 Ebd., §1 Abs. 1. 14 Ebd., §1 Abs. 2.
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amtlichen Zulassung und dem Nachweis der medizinischen Grundlagen müssen die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker sich für konkrete Methoden ausbilden (lassen), um Heilbehandlungen anbieten zu können. Aufgrund dieser strukturellen Bedingungen sind Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker so interessante Gesprächspartner: Anders als (selbsternannte) Heiler, die sich z.T. sehr weit außerhalb des klassischen medizinischen Feldes bewegen, müssen sie sich im Rahmen ihrer Prüfung und Zulassung mit dem Wissen und Stand der Schulmedizin beschäftigen – und ihre eigenen Deutungen zur evidenzbasierten Medizin ins Verhältnis setzen. Insofern haben sie eine Nähe zur klassischen Medizin, und ihr Angebot kommt nicht nur aus diesem, eben alternativmedizinischen Feld, sondern ist auch entsprechend codiert. Umso mehr stellen sich dann die Fragen: Welche Erklärungsmuster sind für Menschen relevant, die die evidenzbasierte Medizin kennen und sich bewusst von ihr abgrenzen? Welche Beweggründe haben sie, ihre Methoden anzubieten und mit welchen Erwartungen werden sie dabei konfrontiert? Welche Vorstellungen haben sie von der Wirkweise ihrer Methoden? Was verstehen sie darunter, wenn sie von Krankheit, Gesundheit oder Heilung sprechen? Steht nicht nur die Behandlung von körperlichen Sym ptomen, von medizinischer Heilung, im Fokus, sondern wird möglicherweise auch ein religiöser Mehrwert erwartet, gesucht und gefunden, eine Vorstellung von Heil in der Heilung? D.h.: Lassen sich religionshybride Phänomene und Deutungen erkennen, die über ein medizinisches Angebot hinausgehen? Im empirischen Material finden sich durchaus Anhaltspunkte für die These. Exemplarisch werden dazu Passagen aus drei Interviews vorgestellt. Das erste Beispiel15 stammt aus dem Interview mit einer Heilpraktikerin, die erst nach einiger Zeit in anderen Berufen die Ausbildung absolviert und dann in einer Gemeinschaftspraxis ihre Arbeit begonnen hat. Nach den Gründen für die Ausbildung gefragt, beschreibt sie:
15 Alle Interviews stammen aus einer von der Autorin durchgeführten Studie, in der vor allem Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in leitfadengestützten Interviews befragt wurden. Die Interviews werden mit Angaben zu den Interviewten (Geschlecht, Alter, Auswahl an angebotenen Methoden) zu Beginn aufgelistet und nachfolgend mit Kennziffern sowie Zeitangabe des Ausschnitts zitiert. In diesem Aufsatz werden folgende Interviews verwendet: I1: Interview, Heilpraktikerin, weiblich, Ende 40, Methoden u.a.: Yoga, Shiatsu, Psycho-Kinesiologie. I2: Interview, Heilpraktikerin, weiblich, Anfang 40, Methoden u.a.: Craniosakraltherapie, Allergietherapie, Reiki. I3: Interview, Heilpraktikerin, weiblich, Anfang 30, Methoden u.a.: Gesprächstherapie, Traumatherapie.
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»Also, Auslöser war, wenn man so will, ein eigenes Krankheitsbild und dann irgendwo auf der Stelle zu steh’n und dann zu erkennen, dass es nicht nur der Erreger ist, sondern auch mein Kopf, also oder meine Wünsche, meine Glaubenssätze, in dem Fall hat meine Blase mir sozusagen gezeigt, also ich bin in einem Moment angekommen in meinem Leben, wo ich mich nicht mehr anpassen kann, also wo ich was verändern muss in meinem Handeln; äh, um mich, äh ja … wieder irgendwie in die eigne Kraft zu bringen, das war mir vorher überhaupt nicht bewusst. […]«.16
Die besonders bemerkenswerten Aspekte dieser Passage lassen sich unter drei Stichpunkten zusammenfassen. Erstens findet eine Kopplung von Ursachen statt. In der Erklärung des eigenen Krankheitsbildes stellt die Heilpraktikerin fest, dass es zwar einen medizinischen Hintergrund, nämlich einen »Erreger«, gegeben habe, zugleich macht sie deutlich, dass die eigenen »Wünsche, meine Glaubenssätze« in gleicher Weise für die Krankheit verantwortlich gemacht werden müssen. D.h. die Vorstellung zur Ursache der Krankheit geht über einen rein medizinischen Zusammenhang hinaus. Zweitens ist die Vorstellung eines »sprechenden Organs« hervorzuheben. Ein körperlicher Auslöser wird zur Grundlage für eine fundamentale Lebensänderung, das Organ wird zum Wegweiser einer notwendigen und konsequenten Veränderung. Leitend ist hier das Ideal einer Einheit von Körper und Geist; Entscheidungen über das Leben können nicht vom einen Teil ohne den anderen getroffen werden. Drittens, und hier finden sich bereits Vorstellungen einer transzendenten Größe, macht die Heilpraktikerin deutlich, dass Gesundheit bzw. Heilung sich durch das »In-die-eigene-Kraft-bringen« (wieder-) herstellen lässt. Die »eigene Kraft« meint dabei weder Muskelaufbau noch Stärkung des Immunsystems, sondern eine innere, in der Person befindliche Quelle der Gesundheit. In ähnlicher Weise beschreibt eine andere Heilpraktikerin ihren therapeutischen Ansatz. Sie spricht dabei nicht mehr (nur) von sich, sondern von ihren Patientinnen und Patienten. Während zuvor von der eigenen Kraft die Rede war, wird nun die innere Mitte zum Ort der Heilung: »[…] ich gebe immer einen Ratschlag für Zuhause mit auf den Weg, eine Übung, ein Buch, ein Wickel, ein Kraut, einen Tee. Aber eigentlich wollen sie auf die Liege, sie wollen berührt werden. Und sie wollen ihrem Körper auch mal Gehör schenken. Für manche ist das eine tolle Erfahrung, die arbeiten über den Körper ganz viel auf, auch in den Wochen danach, und es verändert sich viel. Manche kriegen auch einen Schreck, wenn sie wieder anfangen, sich selber zu spüren. […] Menschen, die schon eine längere Geschichte hinter sich haben. Oder einfach so gestresst sind, dass sie hier sitzen und sagen: ›Ich spüre mich 16 I1; [03:12].
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gar nicht mehr. Ich funktioniere noch in meinen Rollen, aber ich kriege keine Luft mehr. Können wir da irgendwas machen?‹ Ja, die sich irgendwie auch verloren haben teilweise, in diesem Hamsterrad. Ja, und dann versuchen wir Stück für Stück, sozusagen, sie wieder dahin zu führen, dass sie wieder so in ihrer Mitte sind, oder sich selber spüren.«17
Als wichtiges Leiden ihrer Patientinnen und Patienten identifiziert die Heilpraktikerin das »Sich-verloren-Haben«. Adäquate Therapie zu dieser Diagnose ist die gemeinsame Suche, die Führung, »Stück für Stück« wieder in die eigene Mitte zu gelangen. Auch hier kann das tiefe Innere, das ganz Immanente transzendiert verstanden werden. Die innere Mitte findet sich nicht somatisch im Bauchraum oder im Herzen, sie ist kein organisches Inneres, sondern die transzendierte Vorstellung einer Kraft, die einen Menschen von innen heraus stärkt und gesund macht (oder hält). Ein weiterer Aspekt ist bei dieser Interview-Passage bemerkenswert: Während die Heilpraktikerin ihre Patientinnen und Patienten berät und mit verschiedenen Mitteln versorgt, wünschen diese von ihr in erster Linie »Berührung«. Die Berührung stellt den Körper in den Mittelpunkt. Zugleich wird eine bestimmte Sicht auf diesen Körper transportiert: Ihm kann man »Gehör schenken«, er ist mehr als eine funktionale Maschine, die, wenn es notwendig ist, repariert werden muss, er ist selbst Teil eines Ganzen, das es zu »spüren« gilt. Dieses Körperbild kommt im gleichen Interview auch bei der Frage nach dem Heilungsverständnis zum Tragen: »[Heilung ist] ganz still mal zu sein und zu hören, was bin ich, was will ich, was ist meine Aufgabe? Was will ich eigentlich in diesem Leben? Und dann auch den Mut haben diesen Weg auch zu gehen, auch wenn er unangenehm ist. Und Heilung ist ja wirklich, also, ist für mich wirklich […] eine Balance von Körper, Geist, und Seele.«18
Heilung kann nur in der Einheit von Körper, Geist und Seele gelingen. Ohne Geist und Seele kann auch dem Körper keine Heilung zukommen. Soweit deutet diese Heilpraktikerin in klassisch psychosomatischen Kategorien. Darüber hinaus zeigt sich aber, dass Heilung für sie gar nicht in medizinischem Vokabular zu beschreiben ist. Ihre Deutung ist vielmehr eine, die sich zum Sinn des Lebens in Beziehung setzt. Heilung heißt, einen Lebenssinn zu finden, die eigene Aufgabe, eine Bestimmung, für die es sich zu leben – und, wenn nötig – auch zu kämpfen oder zu leiden lohnt. Heilung wird somit dort möglich, wo die Konstruktion eines Sinnzusammenhangs für das eigene Leben gelingt.
17 I2; [09:05]. 18 I2; [13:49].
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Ebenfalls auf Sinnstiftung orientiert ist die Aussage einer anderen Heilpraktikerin zum Krankheits- und Sterbeprozess: »Und wie gesagt, wenn man dann Patienten sieht, die einfach so dermaßen übertherapiert sind, […] wo es einfach nicht mehr darum geht. Ich hab jetzt eine Frau, die nimmt eine neue Chemotherapie, weil die so am Leben hängt. Und diese Chemotherapie, wenn man die drei Zyklen nimmt, verlängert des Leben um zwei Monate. […] diese Grenzverschiebung, hab ich so das Gefühl, das macht hier ganz viel Leid. […] Und dann [werden] auch wieder Familienmitglieder krank, ja, weil ein Sterbeprozess oder ein Krankheitsprozess ist im Grunde genommen immer was Natürliches. Und das hat es bei uns verloren, diese Natürlichkeit. […] Ich find’s auch gut, dass die Menschen da einen Glauben dran haben, dass, hm, dass Heilung geschehen kann, ja, aber nicht muss.«19
Auch diese Heilpraktikerin stellt eine Verbindung von Krankheit und Sinn her, wenngleich weniger explizit als im vorangegangenen Beispiel. Hintergrund ihrer Argumentation sind regelmäßige Aufenthalte in Asien. Über ihre dortigen Beobachtungen entwirft sie ein »Gegenbild« zur westlichen Gesellschaft und stellt die beiden konträren Modi des Umgangs mit Krankheit einander gegenüber. Über die Verbindung zur Natur gelingt eine sinnhafte Einordnung von Krankheit. Krankheit und Sterben sind als natürliche Prozesse, als Teilaspekte eines großen Ganzen zu sehen, das es zu akzeptieren gilt. So kann diese Heilpraktikerin auch auf die Frage nach der Ursache von Krankheit sagen: »Schicksal«. Das »Große und Ganze«, das hier anklingt, kommt auch in der folgenden Passage zum Ausdruck, wenn die Heilpraktikerin ihre durch die Ausbildung und die Arbeit in der alternativen Heilkunde veränderte Sicht auf die Welt beschreibt: »Also vorher hab’ ich das wirklich auch sehr organisch und sehr getrennt von innen und außen gesehen, und das find’ ich sehr faszinierend jetzt auf dem Weg, auf dem ich bin: Dieses wie es dann doch alles ineinander webt also, bin ich immer wieder erstaunt, dass tatsächlich nichts losgelöst ist, also, so ist mein Erkennen immer wieder im Kleinen und im Neuen, im Alten, wo man schon denkt, das ist vertraut … und dann merkt man: Nee, ich hab’ nur ein Stück gesehen, war eigentlich gar nicht alles.«20
Ihre Sicht nicht nur auf Krankheit, sondern ihr »Erkennen« an sich, ist von einem bruchstückhaften zu einem holistischen geworden – wo sich »alles ineinander webt«, alles miteinander zu einem Ganzen verbunden ist. Diese holistische Vorstellung bezieht sich auf den Menschen, die Gesundheit, die Welt – im Kleinen und 19 I3; [26:52]. 20 I1; [3:44].
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Großen, im Neuen und Alten. Sowohl auf der Ebene der Inhalte als auch in Hinblick auf die zeitliche Dimension hat sich die Perspektive dieser Heilpraktikerin grundlegend gewandelt. Dabei funktioniert der Einstieg methodisch strukturiert: Am Anfang steht über das Lernen von Methoden die Erkenntnis, bisher nur einen Teil und eben nicht alles gesehen und gewusst zu haben. In diesem Erkennen des Partikularen ist der Gedanke an ein Größeres, an eine Transzendenzvorstellung, wenn auch nicht explizit benannt, so doch semantisch klar angelegt. Eine ebenfalls transzendente Vorstellung findet sich bei dieser Heilpraktikerin in Hinblick auf ihre eigene Tätigkeit, wenn Patientinnen und Patienten beispielsweise mit Schmerzen zu ihr in die Behandlung kommen: »[…] also in der Traditionellen Chinesischen Medizin gibt es, gibt es diesen Ausdruck: der Schmerz ist der Schrei von dem Gewebe; wenn es jetzt im körperlichen Gewebe stattfindet, was energetisch unterversorgt ist; also bring ich dort Energie rein und durchflute das wieder.«21
Der Schmerz wird behandelt, indem das körperliche Gewebe durch die Heilpraktikerin mit Energie durchflutet und neu energetisch aufgeladen wird. Dabei geht es nur im übertragenen Sinne um einen physikalischen Prozess; die Heilpraktikerin argumentiert nicht über Naturgesetze und Energieerhaltung, wenn sie von der energetischen Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten spricht. Vielmehr meint sie eine Energie, die durch sie selbst fließt und übertragen wird, die aber als transzendente Größe – diese Vorstellung findet sich analog auch im Kontext von Reiki-Behandlungen – von außerhalb ihrer selbst durch sie in das unterversorgte Gewebe übergeht: Schmerzbehandlung ganz ohne Schmerztabletten. In Sinnstiftungsprozessen, Transzendenzbezügen und holistischen Vorstellungen werden medizinische Angebote überschritten. Religionshybride Deutungen im alternativmedizinischen Kontext – die angeführten Beispiele bestätigen die These, dass sich in den Begründungszusammenhängen alternativmedizinischer Anbieter religionshybride Referenzen zeigen.
21 I1; [16:58].
Energiearbeit als Beruf im holistischen Milieu Johannes Endler
»Finanzdesaster Krankenhaus Nord. […] Der Ex-Autohändler und NLP-Trainer legte um die Baustelle einen ›Energie-Schutzring‹ – um 95.000 Euro Steuergeld.« (Kronen Zeitung, 14.3.2018.) »Die Energetiker des Landes sind außer sich. [Der Berufsgruppenobmann bei der Wirtschaftskammer Österreich betont, dass] der Herr gar kein Energetiker ist. Er hat keinen Gewerbeschein als Energetiker.« (Die Presse, 20.3.2018.) »Wir sagen nur: Ein einfacher Segen wäre günstiger gewesen ;)« (Erzdiözese Wien per Twitter, 15.3.2018)
Zu Beginn des Jahres 2018 berichteten österreichische Medien in zahlreichen Beiträgen über einen öffentlich finanzierten »energetischen Schutzring«, der schließlich zum Rücktritt der zuständigen Gesundheitsstadträtin führte. Der Diskurs wurde von verschiedenen Interessengruppen (Politik, Wirtschaft, Skeptiker, Kirche, Energetiker etc.) nicht ohne Polemik geführt und zeigt die gesellschaftliche Relevanz sowie die ambivalente Beurteilung der Energiearbeit bzw. der Berufsgruppe der Energetiker. Aus kultur- bzw. religionswissenschaftlicher Perspektive liegen bislang kaum Forschungen zum Thema vor.1 Dieser Beitrag hat das Ziel, das Be1 Ausnahmen bilden z.B. Albanese, Catherine: »The Aura of Wellness. Subtle Energy Healing and New Age Religion«, in: Religion and American Culture. A Journal of Interpretation 10/1 (2000), S. 29–55; Koch, Anne/Meissner, Karin: »Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen und religionsgeschichtlichen Kontext. Zwei exemplarische Falldarstellungen«, in: Arndt Büssing/Niko Kohls (Hg.), Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit, Berlin/Heidelberg: Springer 2011, S. 145–165; Leland, Kurt: Rainbow Body. A History of the Western Chakra System from Blavatsky to Bren-
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griffsfeld »Energie« und die soziologische und rechtliche Verortung der Akteurinnen und Akteure in Österreich zu umreißen. Danach wird eine Systematisierung der zahlreichen energetischen Systeme und Methoden vorgestellt und schließlich werden inhaltliche Dimensionen der Energiearbeit sowie aus Sicht der Praktizierenden wirksame Heilungsfaktoren herausgearbeitet. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht, wie in obigem Beispiel, auf der energetischen Beeinflussung von Räumen, sondern auf der Praxis des Handauflegens. Der Begriff »Energie« ist vielschichtig und wird in unterschiedlichen Sprachspielen verwendet, wie zum Beispiel als Rechengröße in der Physik, als sinnlich wahrnehmbares Phänomen von Wärme, Licht etc., oder als Kategorie der Selbstwahrnehmung, etwa als Gefühl von Kraft und »Energiegeladenheit«. Unter Energiearbeitern und Energiearbeiterinnen, wie teilweise auch in der Alltagssprache, wird zwischen diesen Sprachkulturen nicht klar unterschieden bzw. angenommen, dass es im Grunde nur eine das gesamte Universum durchdringende Energie gibt, die sich in verschiedenen Formen manifestiert. Unter Energiearbeit werden Praktiken verstanden, die sich auf diese Energie beziehen und das Wohlbefinden, die persönliche Entwicklung und die Gesundheit des Menschen und anderer Lebewesen positiv beeinflussen sollen. Der Begriff Energie lässt also sowohl lebensweltliche wie auch esoterisch-spirituelle und naturwissenschaftliche Konnotationen zu und wird mitunter gerade als Mittler zwischen diesen Bereichen und anderen Gegensätzen wie Geist und Materie, Menschlichem und Göttlichem etc. gesehen. Aus Sicht heutiger Praktizierender verweisen Begriffe wie Qi, Prana, Aura, Mana, Human Energy-Consciousness, Quantenmatrix u.a. auf eben dieses universale Prinzip und somit auf dieselbe Realität. Eine ähnliche Funktion erfüllten Konzepte wie der animalische Magnetismus (Franz Anton Mesmer, 1734–1815), Nervensaft, Nervengeist oder Lebenskraft (vitalistische Mittlerstoffe), das Od (Karl von Reichenbach, 1788–1869) oder die Orgon-Energie (Wilhelm Reich, 1897–1957). Im Selbstverständnis heutiger an Energiearbeit interessierter Menschen wird das Energiekonzept oft mit alten asiatischen Traditionen, neuen naturwissenschaftlichen Theorien und der eigenen unmittelbaren Erfahrung in Verbindung gebracht bzw. legitimiert.2 Die genannten europäischen und US-amerikanischen Entwicklungen der letzten 200 Jahre stellen wichtige ideengeschichtliche Bezugspunkte dar, sind für das rezente Selbstbild aber kaum von Bedeutung.
nan, Lake Worth: Ibis Press 2016; Endler, Johannes: Energiearbeit. Grundlagen und Erscheinungsweisen einer Interventionsform des holistischen Milieus, Unveröffentlichte Masterarbeit, Wien: o.V. 2016. 2 Vgl. Hammer, Olav: Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age, Leiden: Brill 2001.
Energiearbeit als Beruf im holistischen Milieu | 53
Energiearbeit wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von Personen aus dem Feld, Buchverlagen und den Sozial- und Kulturwissenschaften als Teil des sogenannten New Age3 bzw. der Esoterikkultur verstanden. Gegenwärtige Energetiker und Energetikerinnen identifizieren sich kaum mehr mit der ursprünglichen Ideologie der New-Age-»Bewegung« bzw. mit dieser Bezeichnung. Ich verorte sie im Kontext des holistischen Milieus,4 einem Begriff für die Gesamtheit der heutigen alternativen therapeutischen Aktivitäten und die sozialen Kreise, in denen diese ausgeübt werden. Holistische Verfahren nehmen von ihrem Selbstverständnis her den »ganzen Menschen« in den Blick, wobei neben bio-psycho-sozialen Aspekten auch spirituelle Gesichtspunkte relevant sein können. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht lassen sich diese Praktiken der Komplementärheilkunde bzw. den Mind-Body-Interventionen zurechnen. Dem Ansatz von Markus Hero5 u.a. folgend haben sich die institutionellen religiösen Strukturen insbesondere seit den 1960er Jahren stark gewandelt und können heute im für uns relevanten Segment als marktförmig beschrieben werden. Dabei werden spirituelle Dienstleistungen vor allem von Einzelunternehmern und -unternehmerinnen interessierten Kunden angeboten. Dies geschieht nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Herausbildung einer therapeutischen Kultur im Laufe des 20. Jahrhunderts und einer damit verbundenen Praxis der Selbsterkenntnis und der Forderung nach Optimierung des modernen Selbst. Seit 1995 gibt es eine eigene Berufsgruppenvertretung der Energetiker bei der Wirtschaftskammer Österreich, welche Standesregeln artikuliert und um Professionalisierungsmaßnahmen bemüht ist. Umfasst werden die Berufsbilder Humanenergetik, Tierenergetik und Lebensraum Consulting. 2017 hatten etwa 18.000 Personen ein freies Gewerbe als Energetiker angemeldet. Diese Zahl wird noch eindrucksvoller, wenn man sie den etwa 14.000 praktizierenden Allgemeinmedizinern gegenüberstellt.6 Energetiker ist kein gesetzlich reglementierter Beruf, 3 Wichtige Analysen dieses Phänomens stammen z.B. von Bochinger, Christoph: ›New Age‹ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 1994; Hanegraaff, Wouter J.: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thougt, Leiden: Brill 1997. 4 Vgl. Heelas, Paul/Woodhead, Linda: The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spirituality, Malden: Blackwell Publishing 2005; Höllinger, Franz/Tripold, Thomas: Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur, Bielefeld: transcript 2012. 5 Hero, Markus: Die neuen Formen des religiösen Lebens. Eine institutionentheoretische Analyse neuer Religiosität, Würzburg: Ergon 2010. 6 Vgl. Rieger, Lisa: »Energetiker und Esoteriker. Die Suche nach der ›Geldader‹«, in: kuriert.at (https://kurier.at/chronik/oesterreich/energetiker-und-esoteriker-die-suche-
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und Praktizierende müssen darauf achten, nicht mit anderen Berufsgruppen und den für diese reservierten Rechten in Konflikt zu geraten. Sie dürfen Krankheiten weder diagnostizieren noch behandeln, nicht von Heilung, sondern lediglich von Verbesserung des Wohlbefindens sprechen und generell nicht behaupten, es handle sich um naturwissenschaftlich anerkannte Verfahren. Dennoch gibt es Bemühungen, Energiearbeit mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Auf der anderen Seite wird auch der spirituelle Aspekt in der Öffentlichkeit nur vorsichtig dargestellt. Ein Grund dafür liegt darin, dass in den Methodenkatalog der Wirtschaftskammer keine Methoden aufgenommen werden, die vom Gesetzgeber oder der Rechtsprechung dem Bereich der Religion zugerechnet werden, was zum Beispiel bei Reiki der Fall ist (aus religionswissenschaftlicher Sicht ist die Entscheidung für den Ausschluss von Reiki und die Aufnahme vieler anderer Methoden schwer nachvollziehbar). Man kann in diesem Zusammenhang feststellen, dass in vielen Büchern und energetischen Ratgebern vor allem aus den 1980er und 1990er Jahren eine große Synthese aus Wissenschaft und Religion zu bilden versucht wird. Konzepte und Begriffe von heutigen Energiearbeitern und Energiearbeiterinnen, die sich als Player im Gesundheitsfeld begreifen, sind im Vergleich dazu vorsichtiger und nüchterner. Die meisten Internetseiten, Ausbildungsangebote und vor allem die offiziellen Seiten der Wirtschaftskammer sprechen lediglich von gesteigertem Wohlbefinden, von »Wellness«. Der synkretistische Umgang mit Praktiken und Konzepten durch die Anbieter stellt die Regel dar, daher ist an das Vorhaben einer Systematisierung mit Vorsicht heranzugehen. Zudem muss zuerst festgelegt werden, unter welchen Gesichtspunkten die einzelnen »Schulen« verglichen werden sollen. Einen ersten Einblick in die Vielfalt der Energiearbeit ermöglicht der Methodenkatalog der Wirtschaftskammer Österreich, welcher aber einige relevante Richtungen nicht enthält. Anne Koch beschreibt ein Dutzend Kategorisierungen von spirituellen Heilmethoden, die in den letzten Jahren unter verschiedenen Gesichtspunkten von Wissenschaftlern und Anwendern erstellt wurden.7 Sie bezieht sich nicht ausschließlich auf Energiearbeit, was ihr untersuchtes Feld einerseits vergrößert, andererseits jedoch einschränkt, da auch feinstoffliche Energiekonzepte ohne offensichtlich spirituellen Bezug vorhanden sind. Spirituelles Heilen wurde laut Koch zum Beispiel auf Grund von – tatsächlichen oder imaginierten – historischen Traditionen eingeteilt. Typologische Kategorisierungen hingegen können darauf beruhen, welches Medium als wirksam erachtet wird (Licht, Energie, Quanten, übernatürliche Wesen); nach-der-geldader/400010775 vom 22.2.2019); Orf.at: »Zahl der Ärzte – und Pensionierungen – steigt« (http://orf.at/stories/2367457/ vom 22.2.2019). 7 Koch, Anne: »Alternative Healing as Magical Self Care«, in: Numen 62 (2015), S. 431–459.
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wie die HeilerInnen zu dem wurden, was sie sind (durch Initiation, Training oder Berufung); ob Heilung eine von mehreren Aktivitäten innerhalb einer Gemeinschaft ist oder nicht; oder ob die Heilung den Einzelnen, die Menschheit, die Natur oder den ganzen Kosmos betreffen soll. Markus Binder und Barbara Wolf-Braun unterteilen Heiler in Allrounder und Spezialisten, Professionelle und Ehrenamtliche, Heiler mit und ohne Nähe zu anderen Gesundheitsberufen und Heiler mit und ohne Einbindung in eine Organisation.8 Nach Koch sind diese Systematisierungen recht willkürlich und spiegeln eher die Selbstwahrnehmung des Feldes wieder, als historische, soziologische und religionsästhetische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Koch schlägt abschließend vor, eine Unterscheidung danach zu treffen, ob die Person weiß, dass sie geheilt werden soll bzw. eine Heilung erwartet, oder nicht – eine Unterscheidung also, die in der Placeboforschung geläufig ist und in religionspsychologischen Studien fruchtbar gemacht werden kann. Auf Basis der genannten Zugänge und durch Recherche über das relevante Angebot in Wiener Esoterik-Buchhandlungen, im Internet sowie durch Gespräche mit Personen aus dem Feld wird nun eine eigene Systematisierung vorgestellt (vgl. Tabelle 1). In einem ersten Schritt wird unterschieden zwischen Energiearbeit im engeren Sinn (positive Beeinflussung von Gesundheit und Wohlbefinden durch Energie als zentraler Referenzpunkt) und Energiearbeit im weiteren Sinn (das Energiekonzept ist eine von mehreren Hintergrundannahmen, Energiearbeit ist eine Praktik unter mehreren). In einem zweiten Schritt wird unterschieden nach dem jeweiligen Setting, nach dem Kontext bzw. der sozialen Situation, in der die jeweiligen Praktiken in der Regel stattfinden. Die Energiearbeit im engeren Sinn erfolgt im Rahmen einer klientenförmigen Beziehung zwischen Experten und Hilfesuchenden. Diese findet typischerweise über eine oder mehrere Sitzungen im Zweiersetting in einem Privatraum oder in einem Seminarzentrum statt. In einem dritten Schritt, der nur für die Energiearbeit im engeren Sinn durchgeführt wird, unterscheide ich Methoden, in denen materielle Objekte wichtig sind, von solchen, in welchen vor allem den Händen der Heilerinnen und Heiler große Bedeutung zukommt. Schließlich werden in einem vierten Schritt einzelne konkrete »Schulen« bzw. Bündel von Praktiken und Überzeugungen zusammengefasst. Auf dieser Ebene handelt es sich nicht um eine taxonomische Klassifikation, sondern um eine Gliederung nach »Familienähnlichkeiten«. Die einzelnen Gruppen teilen ähnliche Ursprünge, Überzeugungen, Techniken, Semantiken und Schwerpunkte, und das System ist offen für Erweiterungen und Modifikationen. 8 Binder, Markus/Wolf-Braun, Barbara: »Geistheilung in Deutschland. Teil I: Ergebnisse einer Umfrage zum Selbstverständnis und zur Arbeitsweise Geistiger Heiler und Heilerinnen in Deutschland«, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 37 (1995), S. 145–177.
Chiropraktik) beeinflusste Systeme, z.B. Kinesiologie (Touch for Health, Physioenergetik etc.), Cranio Sacral, eher »grobstofflich«: verschiedene Massagen, Rolfing, Breuß- und Dorn-Methode
Einflüssen, z.B. Brennan Healing Science, Therapeutic Touch, Pranic Healing, Quanten- und Matrixenergetik, Aura und Chakra Arbeit, einige körperorientierte Psychotherapien, Energetische Psychotherapie (Klopf akupressur/FT)
Jyutsu (Strömen), Wai Qi, eher »grobstofflich«, z.B. Shiatsu, Akupunktur
bensweltlich nicht
vertrauten Medien,
z.B. Bioresonanz,
Magnetfelder,
Tachyonen und
Quantengeräte
In Bewegung, oft in der Gruppe
z.B. Qi Gong, Tai Chi, Yoga, Pilates, div.
Kampfsportarten, div. Formen von Aus-
druckstanz
bzw. sinnlich anspre-
chenden Medien, z.B.
Edelsteine, Blüten-
essenzen, Düfte und
Aromen, Farben und
Licht, Musik
Ausgleich von Räumen
z.B. Radiästhesie,
Pendeln, Feng Shui
Tabelle 1
Manualtherapie (Osteopathie,
Milieus mit psychotherapeutischen
z.B. Reiki, Jin Shin
Systeme mit le-
weltlich vertrauten
Spontanes Setting z.B. Handauflegen bei einem verletzten Kind als spontane, empathische Berührung
Rituell in spirituellen Gruppen z.B. schamanische, neopagane oder magische Rituale, z.T. charismatische Heilungsgottesdienste
Energiearbeit im weiteren Sinn
Von der medizinischen
Systeme des westlichen spirituellen
Asiatische Systeme,
Paraphysikalische
Vermittlung des angenommenen Heilfaktors durch Gesten, Worte, Imaginationen
(Auch als Eigenbehandlung oder bei Tieren möglich)
Systeme mit lebens-
durch Objekte
Vermittlung des Heilfaktors
Im Rahmen einer BehandlerIn – KlientIn-Beziehung
Energiearbeit im engeren Sinn
bei denen ein leiblich wahrnehmbares Energiefeld postuliert wird
Energiearbeit: Praktiken zur Steigerung von Wohlbefinden und Gesundheit,
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Im Sinne des Hypnotherapeuten Burckhard Peter gehen viele psychotherapeutische und psychosomatische Therapien davon aus, dass wichtige therapeutische Faktoren das heilende Potential der Beziehung von TherapeutIn und PatientIn transzendieren.9 Peters Ansatz kann auch für das Verständnis der Energiearbeit fruchtbar gemacht werden. Dieses therapeutische Tertium gilt als die Quelle von Gesundheit und Wohlbefinden und wird als nicht völlig kontrollierbar angesehen. Wenn Heilung geschehen soll, muss die Dyade von Therapeut und Patient mit dem Tertium in Kontakt treten, damit dieses seine therapeutische Kraft entfalten kann. Das geschieht im Rahmen des Heilungsrituals, bei dem das Tertium durch vermittelnde Medien präsent wird.10 In der rituellen Beziehung von Therapeut und Patient dienen Worte, Gesten und Berührungen sowie bestimmte Gegenstände als Transmitter für das angenommene Heilungsprinzip. Hinsichtlich der oben getroffenen Systematisierung wird das Tertium (zum Beispiel die heilende Energie) bei der Energiearbeit im engeren Sinn einerseits durch Gebärden, Worte und Imaginationen, andererseits durch verschiedene »Ritualgegenstände« vergegenwärtigt. Die Art und Weise, wie das Tertium und seine Vermittlung in der jeweiligen Therapierichtung verstanden werden, bestimmt die Rolle anderer Akteure im Heilungsprozess und das Verständnis des Geschehens im Ganzen. Dieses Konzept erlaubt es, die innere Struktur therapeutischer Systeme zu untersuchen, ohne dabei deren Wahrheitsansprüche zu bewerten. Bei energetischen Behandlungen durch Handauflegen, die nun thematisiert werden sollen, liegt der Klient/die Klientin nach einem einleitenden Gespräch meist bekleidet auf einem Massagetisch oder Ähnlichem, während der/die Praktizierende danebensteht und die Hände auf oder über dem Körper des/der Liegenden bewegt. Es kann dazu entspannende Musik gespielt, gesprochen oder geschwiegen werden. Nach eigener Beschreibung erheben die Praktizierenden oftmals zunächst den energetischen Zustand, führen dann die eigentliche Behandlung durch und stellen abschließend eingetretene Veränderungen fest. Beide Beteiligte, Behandelnde/r und KlientIn, können dabei teils intensive körperliche und emotionale Empfindungen haben. In unterschiedlichem Ausmaß wird die derzeitige 9 Peter, Burckhard: »Ericksonsche Hypnotherapie und die Neukonstruktion des ›therapeutischen Tertiums‹«, in: Psychotherapie 5/1 (2000), S. 6–21; Ders.: »Therapeutisches Tertium und hypnotische Rituale«, in: Ders./Dirk Revenstorf (Hg.), Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin. Manual für die Praxis, Heidelberg: Springer 2009, S. 69–77. 10 Vgl. Baier, Karl: »The Therapeutic Mediologies of Animal Magnetism«, in: Ehler Voss/ Daniel Barber (Hg.), Mediality on Trial. Testing and Contesting Trance and other Media Techniques (Okkulte Moderne, Bd. 2), Berlin u.a.: De Gruyter Oldenbourg (in Vorbereitung).
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Lebenssituation der KlientInnen thematisiert und mit den Erfahrungen während der Behandlung in Verbindung gebracht. Als grundlegende Quelle von Gesundheit – als therapeutisches Tertium – wird Energie bzw. deren harmonisches Fließen im Menschen und zwischen dem Menschen und seiner Welt angenommen. Sie ist in der energetischen Ontologie das letzte Prinzip der Wirklichkeit. Da es nur ein Urprinzip gibt, ist letztlich alles mit allem verbunden und alle Phänomene sind Manifestationen der einen Urenergie, allerdings in verschiedener »Schwingungsfrequenz«. Laut der Bundesberufsgruppe der Humanenergetiker existiert jedes Lebewesen und jedes System auf drei Ebenen.11 Auf der ersten Ebene sind die »Prinzipien und Baupläne« sowie das »Individuelle Höhere Selbst« des Menschen mit all seinen Potentialen und Fähigkeiten angesiedelt. Die zweite ist die energetische oder feinstoffliche Ebene. »Die materielle Ebene ist die dichteste Form der Erscheinung von Lebewesen und entspricht unserer ›Alltagsrealität‹. […] Die Behandlungen auf dieser Ebene sind größtenteils anderen Berufsgruppen vorbehalten.« Auf der energetischen Ebene können »HumanenergetikerInnen mit [ihren] gewerblichen Methoden laut Methodenkatalog Menschen dabei unterstützen, Energieblockaden zu lösen und sich wieder in Balance zu bringen.« Dabei werden verschiedene Formen einer feinstofflichen Anatomie angenommen und zum Teil weitere graduelle Stufen zwischen materiellen und geistigen Aspekten herausgegriffen. Verbreitet ist etwa die Vorstellung von mehreren Auraschichten, welche den Menschen umgeben und durchdringen, von sieben Chakras als an der senkrechten Körperachse orientierten Energiezentren oder von durch den Körper fließenden Energiebahnen (Nadis oder Meridiane). Die Teile dieses Energiekörpers werden oft mit bestimmten Organen, psychischen Funktionen und Persönlichkeitstypen in Verbindung gebracht. Störungen und besondere Ausprägungen in der energetischen Anatomie werden so in »ganzheitlicher« Weise bestimmten Arten des Selbst- und Weltbezugs zugeordnet. Die in der Literatur detailliert und zum Teil widersprüchlich beschriebenen Aspekte des menschlichen Energiefeldes werden von den Praktizierenden in unterschiedlicher Intensität und Differenziertheit wahrgenommen. Oft wird von somatischen Empfindungen in den Handflächen berichtet, wie Hitze und Kühle oder Gefühle von Ziehen, Kribbeln, Pulsieren, Fülle oder Verstopfung. Der Behandlungsprozess kann neben den Praktizierenden von weiteren Instanzen hilfreich begleitet werden, welche außerhalb des Alltagsbewusstseins der Beteiligten liegen. In Systemen wie Reiki wird hier besonders auf die Weisheit der Energie als eigentlicher Heilquelle vertraut. Die Behandelnden verstehen sich als Kanal, durch den die Energie strömt und ohne willentliche Anstrengung »dorthin 11 Humangenetik.at: »Drei Ebenen im Fokus« (https://www.humanenergetiker.co.at/berufs bild/3-ebenen-modell/, 1.5.2018).
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geht, wo sie gebraucht wird«. Bei anderen Richtungen spielen außergewöhnliche Bewusstseinszustände der Behandelnden, seltener der Klienten und Klientinnen, eine Rolle. Dazu zählen visuelle Wahrnehmungen des Energiefeldes, intuitive Einsichten, Präkognitionen, Informationen über frühere Leben und insbesondere der Kontakt zu geistigen Wesen, welche die Behandlung unterstützen und manchmal Einblicke in die Struktur des Kosmos gewähren. Diese Wahrnehmungen sind in der Selbstbeschreibung oft an der Grenze zwischen (innerer) Intuition und (äußeren) Mächten angesiedelt bzw. wird diese Unterscheidung durchbrochen. Das ist möglich, indem die dualistische Konzeption von objektiver Realität und subjektiver Erfahrung nicht anerkannt wird und somit die Trennung zwischen Realität und Imagination verschwindet: »Whatever I experience is real«.12 Energetiker und Energetikerinnen verbinden Gesundheit oft mit Balance bzw. mit dem harmonischen Mitschwingen mit den Gesetzen der Natur. Krankheit wird als Symptom einer gestörten Ordnung verstanden, welches dem Menschen als Signal dienen kann, dass er sich nicht gemäß den verborgenen Lebensgesetzen verhält. Probleme können so als Partner und Lehrer gesehen werden, als Mittel zur Selbsterkenntnis. Einige Autorinnen und Autoren verknüpfen dies mit dem Narrativ der Lebensaufgabe und einer Wiedergeburtslehre: »[D]ie zur Inkarnation bereite Seele [berät] ihren Lebensplan mit ihren geistigen Führern. Die Seele befindet mit ihren Führern darüber, welche Aufgaben für ihr Wachstum zu erfüllen sind, mit welchem Karma sie sich auseinanderzusetzen hat und welche negativen Glaubensinhalte durch Erfahrung zu verwandeln sind. Dies stellt die persönliche Aufgabe einer Person für ihr Leben dar«.13 Andere energetische Verfahren, wie etwa kinesiologische Methoden, zielen hingegen eher auf eine Steigerung der Vitalität und Leistungsfähigkeit in Beruf und Freizeit ab. Aus Sicht der Praktizierenden sind mehrere Faktoren am Heilungsprozess beteiligt. In der energetischen Ratgeberliteratur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass nur der leidende Mensch selbst eine positive Veränderung bewirken kann, indem er/sie seinen/ihren Selbstheilungskräften vertraut und diese von innen wirken lässt. Behandelnde werden als Begleiter und Begleiterinnen auf dem Weg gesehen, die selbst schwierige Situationen gemeistert haben und als Role-Models dienen. Die Beziehung zwischen KlientInnen und Behandelnden wird oft als außergewöhnliche spirituelle Verbindung beschrieben.14 Die persönlichen Fähig12 W. J. Hanegraaff: New Age Religion, S. 227. 13 Brennan, Barbara: Licht-Arbeit. Heilen mit Energiefeldern, München: Goldmann 1998, S. 120. 14 Vgl. Stöckigt, Barbara u.a.: »Healing Relationships. A Qualitative Study of Healers and Their Clients in Germany«, in: Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine (2015), 8 Seiten (https://doi.org/10.1155/2015/145154, 5.5.2019).
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keiten der Behandler, die innere Zentrierung und Stabilität, sowie Empathie und der Wunsch zu heilen werden als zentral für einen gelungenen Prozess betrachtet.15 Energie kann als ordnende und wohlwollende apersonale Macht erscheinen, dazu können hilfreiche Instanzen jenseits des Alltagsbewusstseins wie geistige Führer, die Intuition, das höhere Selbst oder die Weisheit des Körpers oder des Unbewussten auftreten. Diese werden oft als Teil des individuellen Menschen und zugleich jenseits von Raum und Zeit und identisch mit dem »Ganzen« verstanden. Klienten sollen dabei unterstützt werden, heilsame Vorgänge zuzulassen und positive »energetische« bzw. somatisch-psychologische Empfindungen zu erleben. Symptome und schwierige Lebenssituationen können leiblich erfahren, besprochen und in einen von Praktizierenden und KlientInnen geteilten Sinn-Kosmos integriert werden. Neben dieser spirituell-psychologischen Sichtweise sind unter Energetikern und Energetikerinnen auch quasi-physikalische Ansätze verbreitet. Demnach handelt es sich bei einer energetischen Behandlung um ein Verfahren, welches rein »natürlichen« Gesetzen folgt und, so die Hoffnung, in Zukunft auch von der etablierten Naturwissenschaft anerkannt werden wird. Dieses Changieren zwischen sprachlichen Codes und verschiedenen Wissenskulturen, das in ähnlicher Weise etwa beim Mesmerismus des 19. Jahrhundert zu beobachten ist, trägt wohl zu der prekären berufspolitischen Stellung der Energetiker ebenso bei wie zu deren anhaltender Popularität.
15 Vgl. Levin, Jeff: »Energy Healers. Who They Are and What They Do«, in: Explore. The Journal of Science and Healing 7 (2011), S. 13–26, hier S. 22.
Einstellung zu Medizinsystemen im alternativreligiösen Feld in der Deutschschweiz: Zwei Fallbeispiele zum exklusiven Gebrauch von Alternativmedizin Hélène Coste
1. EINLEITUNG Komplementärmedizinische Behandlungsangebote werden in der Regel nicht an Stelle von konventionellen Angeboten genutzt, sondern tatsächlich komplementär – zusätzlich zur konventionellen Behandlung. Dies zeigt sich jedenfalls bei schwerwiegenderen Erkrankungen.1 In diesem Beitrag sollen zwei Fallbeispiele diskutiert werden, in denen sich die Interviewten für einen exklusiven Gebrauch alternativer Heilmethoden zur Behandlung von Krankheiten entschieden haben. Wie wird dieser exklusive Gebrauch begründet und welche Rolle spielt das Weltbild, das, wie sich zeigen wird, in beiden Fällen der alternativen Religiosität zugehört? Eine Besonderheit im Schweizerischen Gesundheitssystem ist die Verschränkung des alternativ-medizinischen und akademischen Systems, die sich nicht zuletzt durch politische und wirtschaftliche Faktoren erklären lässt. Die obligatorische Krankenversicherung (»Grundversicherung«) übernimmt seit einer nationalen Abstimmung (Mai 2009) eine begrenzte Zahl von alternativ-medizinischen Behandlungen. Drei der vier größten Schweizer Parteien empfahlen die Abstimmung zur Annahme;2 diese (Quasi-)Einigkeit lässt sich als gewichtiges Indiz für 1 Vgl. Wolf, Ursula u.a.: »Use of Complementary Medicine in Switzerland«, in: Forschende Komplementärmedizin 13 (2006) Suppl. 2, S. 4–6. 2 Vgl. Beobachter vom 22.04.09 (https://www.beobachter.ch/burger-verwaltung/abstimmung-alternativmedizin, 25.04.18). Allerdings gab es auch vereinzelt SVP-Vertre-
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die Akzeptanz des komplementär-medizinischen Ansatzes zur Behandlung und Heilung von Krankheiten deuten. Die Angebote werden sowohl vom akademischen Medizinsystem3 als auch von Anbietenden des alternativ-medizinischen Systems außerhalb des akademischen Medizinsystems bereitgestellt. Die religiöse Landschaft in der zeitgenössischen Schweiz stellt sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen der Neuzeit ähnlich dar wie in anderen säkularisierten, differenzierten europäischen Gesellschaften: Die am stärksten wachsende Gruppe ist diejenige der Konfessionslosen – vor allem auf Kosten der Evangelisch-reformierten, während die Mitgliederzahlen des Katholizismus aufgrund von Migrationsbewegungen beinahe stabil bleiben.4 Eine relevante Gruppe stellen mit schätzungsweise 13,4% die »Alternativ-religiösen« dar, welche sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirchen finden.5 Die beiden in diesem Text vorgestellten Fallbeispiele lassen sich dem Subtypus »Kundinnen« zuordnen, zu dem laut Stolz/Schneuwly Purdie ca. 2–3% der Schweizer Bevölkerung zählen.6 Dieses Milieu ist gekennzeichnet durch holistische und esoterische Glaubensansichten und Praktiken, »Erfahrung« wird höher gewichtet als Glaube und Wissen.7 Die Betreffenden interessieren sich unter anderem für esoterische Lektüre, Techniken der Wahrsagerei, geistige Heilung und
terInnen, die als BefürworterInnen auftragen; so beispielsweise Alex Kuprecht (SVP, Schwyz) vgl. Tagesanzeiger vom 23.12.2010 (https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/ standard/Weshalb-sich-ein-SVPStaenderat-fuer-KuegeliMedizin-stark-macht/story/22396613, 25.04.18). 3 So liest man beispielsweise in der Broschüre »Das Leukämie-, Lymphom- und Myelomzentrum stellt sich vor« des Universitätsspitals Zürich, dass zusätzlich und bei Bedarf die Unterstützung durch KollegInnen der Komplementärmedizin bei der Behandlung hinzugezogen wird (vgl. http://www.haematologie-onkologie.usz.ch/unser_angebot/Seiten/default.aspx, 25.04.18). 4 Vgl. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/religionen.html, 25.04.18. 5 Vgl. Stolz, Jörg/Könemann, Judith/Schneuwly Purdie, Mallory/Englberger, Thomas/ Krüggeler, Michael (Hg.): Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens, Zürich: TVZ 2014. 6 Vgl. Stolz, Jörg/Schneuwly Purdie, Mallory: »Vier Gestalten des (Un-)Glaubens«, in: Dies. u.a., Religion und Spiritualität (2014), S. 65–78, hier S. 71–74. 7 Vgl. Lüddeckens, Dorothea: »Alternative Heilverfahren als Religionshybride«, in: Peter Berger/Klaus Hock/Thomas Klie (Hg.), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 107–120; J. Stolz u.a.: Religion und Spiritualität.
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andere alternative Heilungstechniken, Atem- und Bewegungstechniken.8 Typisch sind Synkretismus, im Sinne des Aufgreifens von Einflüssen unterschiedlicher Herkunft, »Naturverbundenheit«9 und Ablehnung von als reduktionistisch angesehenen Dichotomien. Die Natur wird zum Beispiel oft als beseelt wahrgenommen,10 »natürliche« Stoffe gegenüber »künstlich« hergestellten vorgezogen. Alternativ-religiöse »glauben, erfahren und praktizieren« alleine:11 »Das Individuum ist die einzige Autorität, wenn es darum geht, ob etwas ›stimmt‹ oder ›wirksam ist‹«.12 Dementsprechend werden der eigene Körper und das eigene Fühlen in Entscheidungsfindungsprozessen im Zweifelsfall höher gewichtet als externe Normen und Vorschriften. Auch wird alles, was die eigene Autorität in Frage stellt oder herausfordert, als übergriffig erlebt: »Aufgrund dieser ›Ich-Bezogenheit‹ wird alles, was das Individuum einschränken könnte, kritisch betrachtet«.13 Hubert Knoblauch bezeichnet dies als Subjektivierung von Religion und meint damit die Verlagerung von religiösen Themen in das Subjekt und damit einhergehend die zunehmende Relevanz des Selbst und seiner subjektiven Erfahrungen. Diese Verschiebung korrespondiert mit der Beobachtung, dass Glaubens-
8 Vgl. Ebd. 9 Im Feld zeitgenössischer alternativer Religiosität werden Bezüge zu verschiedensten Traditionen und Strömungen hergestellt, die sich mit dem Anspruch auf »Naturverbundenheit« fassen lassen: So werden beispielsweise der weibliche Körper und seine biologischen Gegebenheiten mit einer spirituellen Komponente kombiniert, um politischen Anliegen noch mehr Gewicht zu verleihen oder bestimmte durch den jahreszeitlichen Kalender begründete Feste werden gefeiert (vgl. Pesonen, Heikki/Utriainen, Terhi: »Finnish Women Sacralizing Nature«, in: Terhi Utriainen/Päivi Salmesvuori (Hg.), Finnish Women Making Religion. Between Ancestors and Angels, New York: Palgrave Macmillan 2014, S. 197–215, hier S. 198). 10 Vgl. J. Stolz u.a.: Religion und Spiritualität, S. 71. 11 J. Stolz/M. Schneuwly Purdie: Vier Gestalten, S. 105. Personen, die ihren individuellen Erfahrungen mehr Bedeutung beimessen als empirischen Daten und daraus für ihr Leben Kohärenz und Bedeutung ableiten, beschreibt auch Danièle Hervieu-Léger in ihrer Typologie der verschiedenen Möglichkeiten der Glaubensvalidation. Sie nennt dieses idealtypische Vorgehen »Autovalidation« (vgl. Hervieu-Léger, Danièle: Pilger und Konvertiten. Religion in Bewegung, Würzburg: Ergon 2004, S. 84). 12 Stolz, Jörg/Englberger, Thomas: »Kirchen, Freikirchen und alternativ-spirituelle Anbieter«, in: Stolz u.a., Religion und Spiritualität (2014), S. 127–149, hier S. 148. 13 Stolz, Jörg/Englberger, Thomas: »Werte und Wertewandel«, in: Stolz u.a., Religion und Spiritualität (2014), S. 115–126, hier S. 119.
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systeme nicht mehr einfach so akzeptiert, sondern von Individuen selbst hervorgebracht werden.14 Das erhobene Datenmaterial, dem die in diesem Beitrag vorgestellte Analyse zu Grunde liegt, stammt aus zwei mit qualitativen Methoden erhobenen Interviews. Die beiden Interviewten, Arlette und Patrizia, sind weiblich, zwischen 40 und 50 Jahre alt und (zum Zeitpunkt des Interviews) alleinstehend. Arlette ist alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Patrizia war zum Zeitpunkt des Interviews arbeitslos, nachdem ihr nach 25 Jahren in derselben Firma die Stelle gekündigt worden war. Patrizia arbeitet als Selbstständige und bietet in ihrer Freizeit handwerkliche Kurse wie Spinnen und Stricken an.15
2. ADRESSIERUNG VON KRANKHEIT UND HEILUNG 2.1 Keine Komplementarität #47:21# »[…] Und dann, wenn ich etwas gebrochen habe, einen Unfall habe, dann gehe in die Human-, ich meine zum herkömmlichen Mediziner, weil da sind die absolut spitze. Und wenn ich sonst etwas habe, etwas das langsam gekommen ist, dann gehe ich zu einem Alternativ-Arzt. […]« Arlette16
Arlette beschreibt hier ihr Vorgehen bei einem medizinischen Problem: Bei Unfällen oder bei Problemen »mechanischer«, das heißt, orthopädischer Ursache sucht sie einen »herkömmlichen Mediziner« auf. Bei einer »langsam« auftretenden Erkrankung entscheidet sie sich für eine Alternative. Arlettes Sozialisation als medizinische Praxisassistentin prägt ihre Argumentation, sie beurteilt die Angemessenheit einer Behandlung unter anderem aufgrund ihrer eigenen Diagnosen. Deutlich wird im Interview auch, dass sie sich sowohl im Diskursfeld der alternativ-medizinischen als auch der akademischen Medizin bewegt, so zum Beispiel wenn sie erläutert, dass sie entgegen ihrer persönlichen Skepsis gegenüber dem Impfen ihren eigenen Kindern dennoch rät, ihre Enkel zu 14 Vgl. Knoblauch, Hubert: »Die Sichtbarkeit der unsichtbaren Religion«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR) 5 (1997), S. 179–202, hier S. 180. 15 Zur Einschätzung der Relevanz von Einzelfallstudien vgl. Borchardt, Andreas/Göthlich, Stephan E.: »Erkenntnisgewinnung durch Fallstudien«, in: Sönke Albers/Daniel Klapper/Udo Konradt/Achim Walter/Joachim Wolf (Hg.), Methodik der empirischen Forschung, Wiesbaden: Gabler 2009, S. 33–48. 16 Um der Anonymität und dem Lesevergnügen Rechnung zu tragen, haben die Interviewpartnerinnen ihre Pseudonyme selbst gewählt.
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impfen.17 Die Kompetenz, die Qualität oder Wirksamkeit einer Behandlung beurteilen zu können, »traut« sich Arlette auf Grund ihrer Ausbildung zu. Ihre Sozialisation als medizinische Praxisassistentin ist für sie selbst von großer Relevanz und spielt in ihrer Entscheidungsfindung eine Rolle. Wie sie beschreibt, stehen ihre Zugehörigkeit zu einem alternativ-religiösen Milieu und ihre berufliche Erstausbildung in einer gewissen Spannung zueinander. Ihre Ausbildung erlaube es ihr, besser abschätzen zu können, was bei Erkrankungen für Folgen entstehen können: #43:54# »Dadurch, dass ich das gelernt habe und einfach ein bisschen mehr weiß, dann wird es schwierig […], weil du halt weißt, was passieren kann«.
Ihren Status als medizinische Fachkraft macht sie auch dafür verantwortlich, dass sie sich gegenüber dem Personal der »herkömmlichen Medizin« durchzusetzen weiß, wie sie an mehreren Stellen im Interview betont. Bei chronischen Erkrankungen oder Erkrankungen unklarer Ursache konsultiert Arlette einen »Alternativ-Arzt« – eine Entscheidung, die nicht »komplementär«, sondern exklusiv getroffen wird. Behandlungen werden von Arlette nicht kombiniert, sondern ausschließlich gewählt. Sie stellt damit umso mehr einen Sonderfall dar, als die von ihr als »langsam kommende(n)« identifizierten Krankheiten lebensbedrohliche Krebserkrankungen einschließen und gerade diese in der Regel von den Betroffenen komplementär und nicht exklusiv alternativ behandelt werden.18 Während des Interviews werden wir unterbrochen von einem vorbeikommenden Freund von Arlette, der erzählt, er sei jetzt ein »Testkandidat« und »sie« (die Ärzte) würden ihm nun ein »Testmedikament durchlassen«. Arlettes Rückfrage, ob es sich um das gleiche handle, wovon er ihr schon beim letzten Besuch erzählt habe, verneint er. Es sei ein neues Medikament, das noch teurer sei und 3500 Schweizer Franken pro Woche kosten würde. Er gibt zu verstehen, dass sich ihm die »Logik« dieser Behandlung nicht erschließe. Kaum sind wir wieder zu zweit,
17 #43:54# »Hätte ich Arztgehilfin nicht gelernt, ich wüsste nicht einmal, ob ich meine Kinder geimpft hätte, ganz ehrlich gesagt. Dadurch, dass ich das gelernt habe und einfach ein bisschen mehr weiß, dann wird es schwierig […], weil du halt weißt, was passieren kann, wenn nicht. […] und wenn mich meine Kinder fragen würden, würde ich sicher sagen, bis die Kinder ein Jahr alt sind, sicher nicht impfen und dann muss man schauen.« 18 Vgl. Pawluch, Dorothy/Cain, Roy/Gillett, James: »Lay Constructions of HIV and Complementary Therapy Use«, in: Social Science & Medicine 51 (2000), S. 251–264.
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erläutert Arlette mir gegenüber, sie habe dieselbe Erkrankung und signalisiert, dass sie seinen Umgang mit der Behandlung kritisch betrachtet. #17:30# »[…], weil das, was er gehabt hat, das habe ich 100 % – ich habe es nie abgeklärt bei einem Arzt. Aber ich habe genau die gleichen Zeichen gehabt, so geschwollene Hände, die Knöchel hast Du nicht mehr gesehen […]. Aber ich habe kein Kortison genommen und bin dann zu einem Naturheilarzt und darum sage ich, Du hast immer eine Wahl. Und wenn ich gewartet hätte, wäre ich vielleicht auch so weit gekommen, vielleicht, ich denke schon.« Arlette
Im Interview argumentiert sie immer wieder mit einem Verständnis und dem entsprechenden Vokabular im Hinblick auf Krankheit und Behandlungsmethoden, das nicht aus dem Alltagssprachgebrauch, sondern von ihrer medizinischen Sozialisation stammt. Umso größer erscheint die Diskrepanz zu ihren Entscheidungen und Beurteilungen, die aufgrund und im Rahmen ihres alternativ-religiösen Weltbildes getroffen werden. Auch Patrizia differenziert zwischen dem akademischen und dem alternativmedizinischen System und entscheidet sich exklusiv für Letzteres. Konkret bedeutet das nebst verschiedenen Behandlungsmethoden durch Dritte, wie Kranio-Sakral-Therapie oder Heilung durch Lichtwesen, die Lektüre und Anwendung von Selbsthilfeliteratur. Patrizias Differenzierung zwischen den Systemen wird deutlich über ihre Schilderung der psychischen Erkrankung ihrer Mutter, bei der die konventionelle medizinische Behandlung nicht »funktioniert« habe. Im Gegensatz zu Arlette argumentiert Patrizia hier biographisch und nicht über eine medizinische »Diagnose«: #05:00# »[…] viele Krankheiten haben eine Bedeutung […] und ich habe irgendwo gedacht, also vorauszusetzen ist, dass meine Mutter ja manisch-depressiv war und dann in sehr vielen Kliniken war, und ich habe wie der Teufel das Weihwasser die Psychologen gemieden und habe aber schon gemerkt, dass das was hier abgeht ungesund ist und, dass ich eigentlich Unterstützung bräuchte und dachte, ja genau, hier ist sie, das kann ich selbst, da wurstelt mir keiner rein, da pfuscht mir auch keiner hinein […].« Patrizia
In der Einschätzung ihrer Situation hält Patrizia zwar fest, dass sie Hilfe von Dritten – sie nennt hier Psychologen – gebraucht hätte, diese Hilfe von »außen« qualifiziert sie allerdings als »wursteln« und »pfuschen«. Die negative Bewertung der Arbeit von Psychologen und Psychologinnen und ihre eigene biographische Reflexion erlauben entsprechende Rückschlüsse auf ihre Beurteilung einer Behandlung, wie sie im Rahmen der akademischen Medizin vorgesehen wäre. Die im Zitat genannte Unterstützung findet Patrizia in Selbsthilfe-Literatur. Ähnlich
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wie beim ersten Zitat wird von der Interview-Partnerin im Krankheitsfall ein Vorgehen beschrieben, das nicht dem verbreiteten,19 nämlich einer Kombination von Behandlungen aus dem akademisch-medizinischen und alternativ-medizinischen Spektrum, entspricht. In beiden Zitaten nehmen die Interviewten eine klare Abgrenzung zur akademischen Medizin vor, deren Therapien ihrer Überzeugung nach entweder nur für bestimmte Krankheitsbilder geeignet sind oder rundheraus als »Pfuscherei« abgelehnt werden. 2.2 Krankheit als sinnhaft Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Thematisierung von Krankheit als bedeutungsvoll. Für Patrizia ist Krankheit kein Zufall, sie misst ihr Bedeutung zu: »[V]iele Krankheiten haben eine Bedeutung«. Psychologische (oder psychiatrische) Unterstützung wird allerdings nicht als positive Ressource im Umgang mit der »Bedeutung« einer Krankheit gesehen. Sie formuliert als Erklärung für die Lektüre der Selbsthilfebücher: #07:00# »Und das habe ich wirklich durchgelesen, von vorne bis hinten und ich habe auch gehofft irgendwie, dass das irgendwie ein wenig Sinn macht, und weil ich dann ja Migräne und eben Panikattacken gehabt habe, und das wollte ich eigentlich verstehen.« Patrizia
Der »Sinn« ihrer Erkrankung bzw. Beschwerden ergibt sich für Patrizia aus ihrer familiären Vorgeschichte und ihrer Persönlichkeit, die von ihr entsprechend interpretiert werden. Arlette bezieht in ihren Überlegungen eine vorgeburtliche Existenz mit ein: #45:17# »[…] Es kann ja sein, dass du dir vorgenommen hast, als Seele, du hast dir ja gewisse Dinge vorgenommen, um sie auf dieser Welt zu durchleben.«
Arlette deutet hier eine im alternativ-religiösen Feld weit verbreitete Vorstellung von Reinkarnation und der Seele als Entscheidungsträgerin für Vorkommnisse im Leben einer Person an. In einer solchen Vorstellung »sucht« sich eine Seele einen bestimmten Körper aus, um dann ein vorgegebenes oder eben »vorgenommenes« Leben zu durchlaufen. In der Einschätzung der beiden Interviewpartnerinnen lässt die Einordnung einer Krankheit in ein das eigene Leben übergreifende Narrativ keine akademisch-medizinischen Behandlungen zu: Diese wirken aus ihrer Sicht bloß akut oder nur lokal begrenzt. 19 Vgl. U. Wolf: Use of Complementary Medicine.
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Sowohl im Zitat von Patrizia als auch im Zitat von Arlette wird deutlich, dass die Behandlung einer Krankheit »mehr« ist als nur eine »bloße« Symptombehandlung. Für dieses »Mehr« bräuchte man eine alternativ-medizinische Behandlung, die den Menschen als »Ganzes« und nicht als »bloße« Ansammlung von Symptomen einer Krankheit behandelt. 2.3 Relevanz von Eigenverantwortung Der dritte für das Forschungsfeld wesentliche Aspekt ist die persönliche Verantwortung und Initiative, die von beiden Interviewten stark hervorgehoben wird: #05:00# »das kann ich selbst, da wurstelt mir keiner rein, da pfuscht mir auch keiner hinein […].« Patrizia
Patrizia entscheidet, dass sie sich selbst mit Hilfe von Literatur über Selbstheilungskräfte von ihren Panikattacken und ihrer Migräne heilen kann. Dies wird im oben bereits aufgeführten Zitat an der Stelle »ja genau, hier ist sie [die Unterstützung], das kann ich selbst« und an anderer Stelle »und habe natürlich immer gedacht, nein, das kriege ich selbst hin« (07:07) sehr deutlich.20 Patrizia grenzt sich hier ab von der Behandlung durch andere und betont ihre eigene Kompetenz – »das kann ich selbst«. Sie nimmt nicht nur keine fremde Unterstützung an, sondern erarbeitet sich das notwendige Wissen für die Selbsthilfe eigenständig über Literatur. Fremde Hilfe wird als »wursteln« und »pfuschen« gekennzeichnet und als übergriffig in den eigenen Bereich (»rein«, »hinein«) identifiziert. Arlette wiederum thematisiert Gesundheit oder Gesund-Sein als eine Frage des Gesund-Sein-Wollens: #45:17# »[…] Es gibt Menschen, die wollen nicht gesundwerden, das gibt es auch. Da kannst du mit einem noch so super-guten Homöopathen oder mit einem anderen sehr guten Naturheilarzt nichts ausrichten, wenn du das nicht willst, dann willst du das nicht. […] Und dann? Was willst du dann ausrichten? Es wäre vielleicht besser du gehst dann zum Arzt […].« Arlette
Arlette beschreibt im Interview, dass es Menschen gibt, die sich diesem Gesund-Sein-Wollen verschließen; ihnen sei nicht klar, dass sie eine persönliche Verantwortung für ihre Gesundheit haben. Solchen Personen empfiehlt Arlette die akademische Medizin. Ihrer Meinung nach sind Menschen dort von der Verant20 Die Interviewpartnerin zeigte bei dieser Bemerkung auf Selbsthilfe-Bücher von Louise Hay.
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wortung dispensiert, selbst zu entscheiden. Sie sind passive Empfängerinnen und Empfänger von Behandlungen und Medikamenten. Folgendes Zitat verdeutlicht diese Interpretation Arlettes’, in dem sie sich zunächst kritisch über sich selbst äußert: #26:55# »Als es mir nicht gut ging, dann war das Außen schuld. Und ich musste wie ein bisschen dazu kommen, dass man eigentlich selbst verantwortlich ist, dass es einem gut geht.« Arlette
»Eigenverantwortung«, das wird in diesem Zitat nochmals sehr deutlich, ist für Arlette ein zentrales Element, wenn es darum geht, zu entscheiden ob man einen alternativ-medizinischen oder akademisch-medizinischen Behandlungsweg für eine Krankheit einschlägt. Auch die beschriebene Episode mit dem vorbeikommenden Freund in der Interviewsituation mit Arlette lässt diesen Schluss zu. Man habe »immer eine Wahl«, meint Arlette. Dieser Umgang mit dem eigenen Körper und der Anspruch auf die Deutungshoheit darüber, wie eine Behandlung von Krankheit oder eine Erhaltung von Gesundheit erreicht werden kann, ist, wie in der Einleitung bereits erwähnt, ein weiteres Merkmal des alternativ-religiösen Feldes. Wie lässt sich die in diesem Abschnitt skizzierte ausschließliche Wahl für alternativ-medizinische Behandlungen nun theoretisch einordnen bzw. erklären? 2.4 Doppelte Marginalisierung Patrizia und Arlette sind mit ihrer Weltanschauung und ihrer sozialen Stellung einer doppelten Marginalisierung ausgesetzt. Ersteres betrifft die Ebene ihres Bezugsrahmens. Das in den Interviews zu Tage tretende Weltbild und die angesprochenen Themen gestatten es, die beiden Interviewpartnerinnen der »westlichen Esoterik«21 zuzuordnen. Dieser Bezugsrahmen wird nicht nur von der etablierten Wissenschaft, sondern auch von der breiteren Gesellschaft »abgelehnt«. Hanegraaff bezeichnet diese Abgrenzung als »established« vs. »contested« knowledge,
21 Diese religionswissenschaftliche Meta-Kategorie erlaubt es, sehr heterogene Phänomene zu fassen. Siehe z.B.: Granholm, Kennet: »The Sociology of Esotericism«, in: Peter B. Clarke (Hg.), The Oxford Handbook of the Sociology of Religion, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 783–800, hier S. 785; in Anlehnung an Antoine Faivre: »Questions of Terminology Proper to the Study of Esoteric Currents in Modern and Contemporary Europe«, in: Dies./Wouter J. Hanegraaff (Hg.), Western Esotericism and the Science of Religion, Leuven: Peeters 1998, S. 1–10.
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bei der es sich um das Verhältnis von sogenanntem »esoterischen« in Abgrenzung zu etabliertem, standardisiertem Wissen handelt.22 Mit Blick auf die Frage nach der sozialen Stellung beschreiben Stolz und Schneuwly Purdie die Personen, die sie dem alternativ-religiösen Feld zuordnen, als häufig geschiedene Frauen mittleren Alters, die ihre Ausbildung nicht in eine berufliche Karriere umwandeln konnten.23 Die AutorInnen beziehen sich hier auf einen soziologischen Artikel aus dem Jahr 1998.24 Es ist fraglich, ob eine beinahe 20 Jahre alte Publikation, mit der die Einordnung der beruflichen Laufbahnen der InterviewpartnerInnen als »nicht erfolgreich« untermauert werden soll, noch zur Erklärung der aktuellen Situation herangezogen werden kann. In der Folge von gesellschaftlichen Prozessen, wie der Individualisierung, haben sich Biographien entstandardisiert und Lebensläufe sind häufiger durch Brüche gekennzeichnet.25 Die Aussage über beruflichen »Erfolg« erscheint daher obsolet und lässt den Schluss zu, dass die AutorInnen hier eine eher normative Einschätzung treffen, die zudem nicht deckungsgleich mit der Selbsteinschätzung der befragten Personen sein dürfte. Trotzdem sind die sozio-ökonomischen Umstände, die hier angedeutet werden, ein Hinweis auf die gesellschaftliche Marginalisierung, der Angehörige dieses Feldes ausgesetzt sind. Das alternativ-religiöse Feld sieht sich zudem der Kritik der »Ich-Bezogenheit« ausgesetzt, die als problematisch für die breitere Gesellschaft erachtet wird.26 Die Praxis von alternativ-religiösen oder alternativ-medizinischen Techniken erlaubt es den vornehmlich weiblichen Konsumierenden, ihre als »traditionell feminin« wahrgenommenen Fähigkeiten zu nutzen. Durch die Ökonomisierung solcher Angebote entsteht eine Aufwertung und Legitimierung derselben und der Anbietenden.27 Die Ablehnung der Komplementarität der beiden Medizinsysteme, die Betonung der Sinnhaftigkeit einer Krankheit und die Eigenverantwortung können als eine Reaktion oder eine Strategie gewertet werden, die typisch für das 22 Vgl. Hanegraaff, Wouter J.: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge: Cambridge University Press 2013. 23 Vgl. J. Stolz u.a.: Religion und Spiritualität, S. 91. 24 Vgl. Benthaus-Apel, Friederike: »Religion und Lebensstil. Zur Analyse pluraler Religionsformen aus soziologischer Sicht«, in: Kristian Fechtner u.a. (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart: Kohlhammer 1998, S. 102–122. 25 Vgl. Knoblauch, Hubert: »Individualisierung, Privatisierung und Subjektivierung«, in: Detlef Pollack u.a. (Hg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 329–346. 26 Vgl. Sointu, Eva/Woodhead, Linda: »Spirituality, Gender, and Expressive Selfhood«, in: Journal for the Scientific Study of Religion 47 (2008), S. 259–276, hier S. 272. 27 Vgl. ebd., S. 269ff.
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alternativ-religiöse Feld ist.28 Die beobachtete Emphase auf Selbstständigkeit und Eigenverantwortung kann man als Subversion der traditionell durch die Gesellschaft zugewiesenen Rollen der Interviewten deuten.29 Die Nutzung von alternativ-medizinischen und alternativ-religiösen Angeboten wird von den Interviewten als eine Erfahrung der Selbstermächtigung und Kontrolle empfunden.30 Die Erfahrung der Selbstermächtigung stellen Sointu und Woodhead in einen Zusammenhang mit einem breiteren gesellschaftlichen Prozess, der einen aktiven, ermächtigten und verantwortungsvollen ›Klienten-Typus‹ hervorbringt. Dieser Typus lehnt die passive Kranken-Rolle ab und wählt seine Behandlungen aktiv und selbst aus. Typisch ist auch die Wahrnehmung der Interviewten, dass sie »ganzheitlicher« behandelt würden als von der akademischen Medizin oder von institutionalisierteren Formen von Religion.31 Die in diesem Beitrag exemplarisch herausgearbeitete ausschließliche Wahl alternativ-medizinischer Behandlungen lässt sich folglich als eine Reaktion auf die doppelte Marginalisierung deuten.
3. ZUSAMMENFASSUNG Sich im Falle eines gesundheitlichen Problems für einen rein alternativ-medizinischen oder alternativ-religiösen Weg zu entscheiden – das tun gemäß der quantitativen Untersuchung von Stolz und anderen32 nur eine kleine Zahl von Personen. Zwei diesem Feld zuordenbare Fallbeispiele wurden in diesem Beitrag vorgestellt. Als zentrale Motive erweisen sich die »Sinnhaftigkeit von Krankheit«, die »ausschließliche Wahl komplementär-medizinischer Behandlungen« und die »Relevanz von Eigenverantwortung«. Die Personen der Fallbeispiele sind sozial und in ihrer Weltanschauung marginalisiert. Diese Ausgangslange bietet eine mögliche Erklärung für das Vorgehen im Krankheits-Fall: Es findet eine Umdeutung der eigenen Situation und Lage statt, wodurch es zur Möglichkeit der Selbst-Ermächtigung kommt. Diese Motive finden sich eingebettet in den breiteren, gesellschaftlichen Prozess der Individualisierung, dem das Individuum in der Spätmoderne ausgesetzt ist.33 Wie in der Analyse gezeigt werden konnte, stehen dabei Selbstbestimmung und Deutungshoheit über den eigenen Körper und seine Gesundheit im Zentrum. 28 Vgl. ebd., S. 263. 29 Vgl. ebd., S. 270. 30 Vgl. ebd., S. 262. 31 Vgl. ebd., S. 263. 32 Vgl. J. Stolz u.a.: Religion und Spiritualität. 33 Vgl. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
Geistheilung auf den »Märkten des Besonderen« – Eine Fallanalyse Martin Tulaszewski
»Heute bin ich ein Vermittler zwischen altem Wissen und neuem Wissen. Also alten Traditionen, das altes Wissen verkörpert. Das ist oft, was ich mache.«
In welchem Spannungsfeld sich alternativmedizinische Anbieter mittlerweile bewegen, soll das folgende Fallbeispiel eines Geistheilers in Mecklenburg-Vorpommern veranschaulichen. Die Überschneidungen zwischen Religion, Heilkunde und Medizin werden hierbei plastisch. Die Besonderheit dieses Fallbeispiels1 besteht darin, dass der Interviewpartner zu einem der ›Pioniere‹ alternativmedizinischer Praktiken in den neuen Bundesländern zählt. Seine Erzählung ist geprägt von einem ›aufklärerischen‹ Idealismus, alternativmedizinische Praktiken und holistische Konzeptionen in Ostdeutschland zu etablieren, aber auch von den Erfahrungen der damit verbundenen Schwierigkeiten. So sieht sich dieser Akteur mit der Notwendigkeit konfrontiert, seine eigene Position innerhalb seiner Arbeit immer wieder neu auszuhandeln, wie auch im Gespräch selbst immer wieder deutlich wurde. Dieser Aushandlungsprozess zeigt sich zum einen darin, dass der erwähnte Idealismus geschmeidig genug ist, um sich marktförmig anzupassen und so beispielsweise das Selbstverständnis eines selbständig als Heiler tätigen Akteurs mit der Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Schulmedizinern in Einklang zu bringen. Aushandlungsprozesse finden sich auch im Umgang mit ökonomischen Fragen wieder, wenn etwa über künftige Bezahlmodelle nachgedacht wird, bei denen die alltägliche situative Dienstleistungspraxis mit der Aura eines spirituellen Meisters verbunden werden kann. Zum anderen zielt der Aushandlungsprozess darauf ab, traditionelle religiöse Kontextualisierungen in neue, institutionell 1 Das Interview führte Martin Tulaszewski im März 2017. Es hat eine Gesamtlänge von knapp 90 Minuten.
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unverdächtige Deutungsrahmen zu transferieren, ohne dass innerhalb dieser Neuverortungen eine latent transzendentale Rückbindung der angebotenen Dienstleistungen aufgegeben werden müsste. Die ausgewählten und kommentierten Sequenzen aus dem Interview verdeutlichen die Schnittmengen aus den Bereichen Religion und Medizin in ihrer zeitgenössischen Dynamik. Sie dokumentieren die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz alternativmedizinischer Praktiken, weisen aber gleichzeitig auf eine mögliche Stagnation eines klassisch abgrenzbaren Feldes hin, sollte die Integration der Angebote einerseits in konventionelle Medizin, andererseits in die Freizeit- und Tourismusbranchen fortschreiten. Herr Swoboda2 ist in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und beschreibt sich selbst als jemanden, der seit seiner Jugendzeit ›auf der Suche‹ war. Schon früh experimentiert er damit, sehr unterschiedliche Angebote wahrzunehmen, die in alternativmedizinische Kontexten eingebettet sind. Nach einer handwerklichen Lehre bricht er mit Anfang 20 in die noch ganz neuen Bundesländer auf. Nach Stationen in der sächsischen Provinz und in Berlin landet er schließlich Anfang der 2010er Jahre in Mecklenburg-Vorpommern und betreibt dort gemeinsam mit anderen ein Heilkundezentrum. Herr Swoboda bietet neben Massagen, Meditationen und Paarberatungen auch Heilbehandlungen wie »Energetisches Heilen« und »Heilung durch den Geist« an.
1. T ERRA INCOGNITA – WAHLHEIMAT OSTDEUTSCHLAND »Und dann mit 20, ungefähr, ähm, ›n bisschen drüber, glaub‹ ich, kam dann die Wende. Und ich wollte entweder in den Osten, in den wilden Osten, weil den wilden Westen gab’s nicht mehr, oder nach Kalifornien irgendwo und das machen, was ich jetzt tue. Und an dem Tag, wo ich mir überlegt hab’, so, äh, überlegt hab’, ›Jetzt geh’ ich!‹, da kam ein Anruf von jemanden im Osten und der hat mich eingeladen. […] Das Anknüpfen war extrem schwer, weil keiner wusste, was das [alternative Heilungsangebote; MT] sein sollte. So. Das Anknüpfen war sehr leicht, weil die Menschen generell viel offener waren. Die waren nicht so festgelegt. Der Westen war nicht nicht-offen gegenüber diesen Sachen. Aber schon so routiniert. Und diese Routine macht manchmal so ’ne Pause in der Entwicklung, ne?! Im Osten hatte ich das Gefühl, die wollen wissen und wollen sich weiterentwickeln. Die wissen nichts darüber. Das ist ’ne Knochenarbeit, die ich da mir zugemutet hab’. Weil ich musste immer wieder von vorne anfangen. Ja. Im Westen, wenn man da sagt ›Geistiges Heilen‹, da weiß schon ein Großteil der Bevölkerung was damit anzufangen. Das war im Osten nicht. Es hatte also beides. Es war menschlich einfach, weil ich mag diese Offenheit von Menschen. Ge2 Namen und biographische Daten wurden anonymisiert.
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rade dass sie nicht viel wissen davon und nicht immer sagen: ›Jaja, kenn’ wir alles schon.‹ Und so. ›Jaja, ich hab’ da auch’n fünften Grad Chakra-Lesen und Prana-Heilung und so. Hab’ ich mal zwischendurch gemacht, zwischen meinen Farbtherapien und so‹. Ne. So hört man das dann da. Das war so satt. Und –. Also war es einerseits, und ist es auch noch, eine sehr schwere Arbeit, weil man immer neu anfangen muss. Das geht eben nicht von heute auf morgen. Und andererseits ist es menschlich eine sehr schöne, leichte Arbeit. Weil wenn diese Menschen dann anfangen zu verstehen, wie das ist. Das ist so ein tolles Erlebnis.«
Herr Swoboda hatte während seiner Jugendzeit zahlreiche Aus- und Weiterbildungsangebote innerhalb des Spektrums der alternativen Heilkunde wahrgenommen und mit Anfang 20 das notwendige Rüstzeug zusammengetragen, um nun selbst als ein Anbieter in Erscheinung zu treten. Der glückliche Umstand der Wiedervereinigung faltete ihm einen bis dato durch alternative Medizin weitestgehend unberührten Landstrich innerhalb Mitteleuropas auf. Vom vorgezeichneten Schritt in das subkulturell schillernde Kalifornien nahm er Abstand und stellte sich stattdessen der Herausforderung Ostdeutschland. Herr Swoboda begriff sich in seiner Rolle als Avantgardist3 »ganzheitlich orientierter Systeme«, die auch Konzeptionen von Biohöfen umfassten, und sah sich dabei als Gegenpol zu jenen Akteuren, die Anfang der 1990er Jahre durch die neuen Bundesländer zogen, um in erster Linie schnelle und profitable Geschäfte abzuschließen. »Und ich wollte auch diese Verantwortung übernehmen. Weil ich wusste, nach den Immobilienmaklern und Versicherungsvertretern, die jetzt das Land verwüstet haben, jetzt sind wir hier!«
Auf seinen vielen Stationen zwischen Erzgebirge und Ostseeküste begegnete er zwar neugierigen und offenen Menschen, musste jedoch immer wieder von neuem damit beginnen, die seiner Arbeit zugrundeliegenden Vorstellungen sowie die daraus erwachsenen Angebote und Dienstleistungen zu erklären, da es wenige Anknüpfungspunkte dafür gab. Alternative Konzeptionen in Abgrenzung zu beispielsweise gängigen religiösen Stereotypen aufzuzeigen, funktionierte nicht, da ein der Indifferenz gewichenes, verschüttetes kulturelles Gedächtnis religiös konnotierter Grundkonzepte und Symbole4 nicht mehr aufzurufen war. Einen wesentlichen Teil seiner Arbeit widmete er deshalb zunächst der Herausgabe mehrerer
3 Vgl. M. Tulaszewski: Alternative Heilungsangebote, im vorliegenden Band. 4 Solche »Übersetzungsleistungen« bzw. Deutungen von außeralltäglichen Erlebnissen als spirituelle Erfahrungen, begegneten auch bei anderen Interviewpartnern, die sich als Anbieter auf diesem Markt bewegen.
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Magazine, die als Quartalsschriften erschienen und ihm als Aufklärungsmedien dienten. Mittlerweile ist er in einer mecklenburgischen Stadt ansässig. Seine Arbeit als Zeitschriftenherausgeber hat er eingestellt, da persönliche Öffentlichkeitsarbeit seiner Meinung nach heute über soziale Medien erfolgt. Das aufklärerische Anliegen selbst hat aufgrund der mittlerweile auch massenmedialen Aufbereitung alternativmedizinischer Praktiken in Fernsehsendungen und Magazinen an Bedeutung verloren. Das avantgardistische Momentum ist Herrn Swoboda aber über die Jahre nicht verlorengegangen – es hat sich lediglich je nach Zielgruppen diversifiziert. Neben seiner Tätigkeit als Heiler bietet er Seminare und Kurse für Schulmediziner an, um diese für sogenannte »sanfte Methoden« innerhalb ihrer Therapiepläne zu sensibilisieren.
2. SELBSTBEZEICHNUNG/SELBSTBILD Zum Verständnis der Stellung von ›Heilern‹ ist Folgendes vorauszuschicken: Anbieter im alternativmedizinischen Bereich – sofern sie keine ausgebildeten Ärzte oder Heilpraktiker sind – dürfen in Deutschland laut »Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung«, dem sogenannten Heilpraktikergesetz, sich zwar als Heiler bezeichnen, sind aber rechtlich dazu verpflichtet, ein Heilungsversprechen konsequent auszuschließen.5 Deshalb finden sich auf der Homepage und auf den Flyern von Herrn Swoboda lediglich die beruflichen Selbstbezeichnungen »Coach« und »Lehrer«, unter denen er seine vielfältigen Dienstleistungen im alternativmedizinischen Bereich anbietet. Herr Swobodas Selbstverständnis ist eingebettet in ein besonderes, von ihm vertretenes arbeitsteiliges Gesellschaftsverständnis, in dem bestimmte ›natürliche‹ Fähigkeiten zu ableitbaren Funktionen innerhalb einer Gesellschaft führen. Er bemüht dafür ein Bild aus dem Tierreich und versucht anhand der Analogie eines Ameisenhaufens auch die Tätigkeit eines Heilers zu verdeutlichen. »Mein Bild ist gerne so ein Ameisenhaufen. Ja, da gibt’s eben Ameisen mit so dicken Beißzangen und die haben meist die Aufgabe, was Sinnvolles damit zu machen. Die räumen 5 Herr Swoboda ist Mitglied des Dachverbands Geistiges Heilen e.V. Der Verein empfiehlt in seinem Verhaltenskodex Folgendes: »Niemals verspreche ich Heilung oder auch nur Linderung. Durch die Einhaltung dieser Regel schützt sich der Heiler vor allem vor rechtlichen Konsequenzen, die sich aus der derzeitigen Gesetzeslage in Deutschland, Österreich und den meisten Schweizer Kantonen ergeben.« (https://www. dgh-ev.de/ueber-den-dgh-ev/regelwerke/ethik-kodex.html, 11.02.2019).
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Sachen weg, gucken böse, wenn andere Völker rein wollen und so. Und viel mehr haben die nicht zu tun. Und dann gibt’s eben die Arbeiter. Die machen komplexe Aufgaben. Und dann gibt’s eben hier bei uns Menschen auch so eine Art Waldarbeiter, so In-Ordnung-Bringer. […] Der Heiler versucht Dinge in Ordnung zu bringen.«
Auf eine menschliche Gesellschaft übertragen, sind die ›Arbeiter‹ des Ameisengemeinwesens innerhalb der verschiedenen Berufsgruppen vertreten, die sich für eine Verbesserung der Lebensumstände einsetzen. »Meiner Meinung nach zählt ein guter Tischler oder Koch auch dazu.« Es geht zunächst darum, defizitäre Strukturen und Umstände zu erfassen, um dann an deren Überwindung zu arbeiten. Entscheidend ist, dass dieser Tätigkeit eine Form von Erkenntnis vorausgeht: die Wahrnehmung einer Umwelt, die in Unordnung geraden ist. Aus der daraus gewonnenen Einsicht, dass der moderne Mensch angesichts einer sich im rasanten Wandel befindlichen Gesellschaft generell überfordert ist, ist Herrn Swobodas Kernkompetenz erwachsen: »Interviewer: Ich hab’ eine Frage zu Ihrem Beruf oder Berufsfeld. Wie würden Sie sich denn selbst bezeichnen? Swoboda: Immer anders. Interviewer: Heute? Swoboda: Heute bin ich ein Vermittler zwischen altem Wissen und neuem Wissen. Also alten Traditionen, das altes Wissen verkörpert. Das ist oft, was ich mache. Und ein Brückenbauer zwischen dem [den alten Traditionen; MT] und dem neuen wissenschaftlichen Menschen.«
Herr Swoboda erfährt und versteht sich in seiner Arbeit häufig als ein Wissensvermittler, gewissermaßen als ein ›Komplementär‹. Das Wissen um, über die und innerhalb der »alten Traditionen« ist ihm bekannt und zugänglich,6 und er kann es mit gängigen gegenwärtigen »wissenschaftlichen« anthropologischen Annahmen in Übereinstimmung bringen. Das zeichnet seine Arbeit aus. Diese komplementäre Maklerleistung bindet er zurück an etwas Ursprüngliches – an etwas, auf das der moderne Mensch aufgrund seiner vielfältigen, an Oberflächlichkeiten 6 Die Einbettung der eigenen Heilerpersönlichkeit in »alte Traditionen« bedeutet aber auch eine nach außen abzielende authentizitätsgenerierende Selbstverortung. Vgl. D. Lüddeckens: Imagined Origin, sowie M. Tulastzewski: Alternative Heilungsangebote, im vorliegenden Band.
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orientierten Aktivitäten nicht mehr ohne Weiteres zugreifen kann. Hier formuliert Herr Swoboda eine Kritik an der Moderne auf Basis seiner Werteebene, indem er moniert, dass ganz selbstverständliche Dinge im Begriff sind, der Rationalisierung und Ökonomisierung des gesamten Lebens zum Opfer zu fallen. Seine Aufgabe besteht nun darin, eine Art Scharnierfunktion wahrzunehmen – zwischen »Ursprünglichem« und Moderne sowie zwischen dem überlasteten Subjekt und dem Ganzen des Lebens – und dem symptomatisch überforderten Menschen Möglichkeiten der alternativen Heilung und Entspannung aufzuzeigen.
3. DIE AUSLOTUNG DES RELIGIÖSEN Herr Swoboda legt seiner Arbeit ein normatives, von empathischen Grundgedanken durchwebtes Wertesystem zugrunde: »Es gibt aber Gesetze, an die müssen wir uns halten. Die sind wichtig. Und für die hab’ ich mich interessiert. Und die gehören nicht in Religion. Also Güte, Mitgefühl, Nächstenliebe sind keine religiösen Werte für mich. Das ist menschlich –, menschliche Werte. […] Also Religion ist einfach ’ne Strukturierung von ganz guten Ansätzen. Wenn wir die allerdings falsch verstehen oder sogar noch meinen, jetzt sind wir besonders, dann ist es richtig gefährlich. Mir wär’s lieber, wenn sie nicht da wären. Ganz sicher. Weil so, wie wir’s jetzt verstehen, haben wir unheimlich viel Schaden damit angerichtet. Damit mein’ ich nicht nur Inquisition und, ähm, politische Systeme, Wissenschaft unterdrücken, ja. Ja, diese Besserwissereien von Religion, die haben … Also Religion ist nicht – Also wenn das nicht mit Liebe passiert, äh, gefährlich. Mit Liebe ist alles gut.«
Wie sich die Gesetzmäßigkeiten etabliert haben, woher diese stammen und wie diese »Gesetze« letztendlich durchgesetzt werden, vertieft er nicht. Das primäre Anliegen besteht vielmehr – in Anknüpfung an seine Vorstellungen von Ursprünglichkeit (ausgedrückt durch die Chiffre »alte Tradition«) – darin, den absoluten Standpunkt einer fast schon transzendent anmutenden Gesetzmäßigkeit einzunehmen, der ihm ermöglicht, die postulierten Werte aus institutionalisierten religiösen Kontexten herauszulösen, um ein intrinsisch-individuelles Zugriffsrecht7 darauf zu erhalten. Diese Werte finden ihre letztgültige Begründung dann im Menschen selbst. Der emanzipative Schritt einer Herauslösung aus religiösen Kontexten geht nicht mit der grundsätzlichen Verurteilung von religiösen Gruppen einher. Herrn Swoboda sieht seine Kritik an Religion erst dort bestätigt, wo diese sich 7 Vgl. dazu auch Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp 2011.
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organisiert und exklusive Ansprüche formuliert. Für ihn ist das aber letztendlich unerheblich, da die anthropologischen Grundelemente in Form seines Wertesystems aus der vermeintlich religiös institutionalisierten Exklusivität herausgelöst wurden und nun auch dem Subjekt zur freien Verfügung stehen. Die allgemeine Ablehnung von Religion (»Mir wär’s lieber, wenn sie nicht da wären.«) liegt unter anderem auch in seinen als ungerecht empfundenen Erfahrungen begründet, die er in den 1990er Jahren gemacht hatte. »Auch aus unserer Zeitschrift wurden von den Sektenbeauftragten die ganzen Adressen rausgesucht und dann kamen die alle – durch unser Mitwirken – kamen die alle in eine Liste von religiösen, ideologischen Gemeinschaften.«
Laut Herrn Swoboda hatte die Aufnahme in das Verzeichnis für Sekten- und Weltanschauungsfragen für einen Bekannten, der Vorträge organisierte, zur Folge, dass er keine Kredite mehr für seine Firma bewilligt bekam und schließlich sein Unternehmen aufgeben musste. Als Herausgeber der Zeitschrift fühlte sich Herr Swoboda dafür verantwortlich, und da es keinen direkten Kontakt zwischen dem Vorträge organisierenden Bekannten und der Weltanschauungsstelle gegeben hatte, versuchte er deshalb, in dieser Sache zu intervenieren – wenngleich ohne Erfolg. »Und dann nimmt sich eine große religiöse Gemeinschaft heraus, über jemanden zu urteilen, den sie gar nicht kennen. Was soll das denn? […] Irgendwie ist das ja Inquisition.«
Kurzerhand ernannte er sich selbst zum ›Sektenbeauftragten‹: »Ich bin dann selber Sektenbeauftragter geworden. […] Der erste und einzige freie. An keine Organisation gebunden. […] Hab das in der Zeitschrift geschrieben. Ihr habt jetzt einen Neutralen.«
Sein Anliegen bestand darin, Gruppen der neuen religiösen Bewegungen so objektiv und wertfrei wie möglich zu beschreiben. Unvoreingenommenheit ist für seine Arbeit selbst eine elementare Voraussetzung und spielt in der Behandlung seiner Klienten eine wichtige Rolle. Dadurch unterscheidet sich Herr Swoboda deutlich von den Vertretern einer evidenzbasierten medizinischen Behandlung. Er beschreibt fehlende medizinische Kenntnisse sogar als eine für seinen Therapieansatz methodische Notwendigkeit. Eine schulmedizinische Sicht auf Krankheitsbilder verstelle für ihn mitunter den Blick auf wirkungsvolle Heilungsansätze.
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»Aber für das, was ich sonst so mache, ist es sehr, sehr, sehr, sehr wichtig, das eigene Urteil zur Seite zu legen, ne!? Religiös würde man sagen, ›mit leeren Händen zu kommen‹ und nicht so viel zu wissen.«
Ein verlässliches Behandlungsinstrument ist für ihn der »Heilige Geist«: »Interviewer: An wen wenden Sie sich bei wichtigen, auf Ihre Tätigkeit bezogene Entscheidungen? Swoboda: Ernsthaft? Interviewer: Mmh. Swoboda: An den ›Heiligen Geist‹. Interviewer: Okay. Swoboda: Das ist Intuition. Intuition ist die genaue Übersetzung von ›Heiliger Geist‹.«
Seine handlungsleitende Intuition abstrahiert Herr Swoboda mit der Kategorie ›Heiliger Geist‹ und führt damit überraschend ein Kernelement christlichen Glaubens ein. Der ›Heilige Geist‹ als Abstraktionsfläche passt sich stimmig in ein von ihm codiertes Weltbild ein, das mit einer persönlichen Gottheit nicht mehr in Übereinstimmung gebracht werden kann. In Form einer schwer definierbaren wirkungsmächtigen Kraft als Projektionsfläche für ein autoritatives göttliches Handeln bietet die Chiffre ›Heiliger Geist‹ – Intuition jedoch nützliche Anbindungen. Der so funktionalisierte ›Heilige Geist‹ bietet ausreichend spirituelle Deutungsoffenheit, die sich Herr Swoboda für die Präsentation seiner Arbeit zunutze machen kann.
4. DIE HEILBEHANDLUNG Die von Herrn Swoboda vorgehaltene Angebotspalette reicht von Klangschalentherapien über Massagen bis hin zu Meditationskursen und energetischen Heilbehandlungen. Ein grundlegender Aspekt seiner Arbeit ist, den ›Kern des Menschseins‹ bei seinen Klienten wieder freizulegen, der durch die zahlreichen Einflüsse und Aktivitäten überlagert und somit nicht mehr spürbar und geltungsfähig sei. Herr Swoboda beschreibt diesen Vorgang mit einem Bild aus der Handwerkstätigkeit:
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»Ich habe ganz toll die letzten zwei Nächte eine Treppe abgeschliffen. Zwölf Stunden, dreizehn Stunden durch, ohne Pause. Nur zwei Glas Wasser getrunken zwischendurch. Ansonsten immer nur geschliffen und lackiert dann hinterher. Und das ist aber so ein ähnlicher Prozess. Das war vorher eine Dachbodentreppe. Die sah schäbig, gefährlich und dunkel aus. Und jetzt ist es so richtig wie ’ne –. Ja, ist so ein Schätzchen in der Wohnung geworden, ne?! Ist so richtig was Tolles. Und das ist auch ein Heilungsprozess. Es war vorher schon so und ich habe nur die Oberfläche weggenommen. Ich habe nichts verändert, eigentlich so. Die Struktur nicht –. Es ist immer noch die Treppe, die alte. Ja. Aber ich habe das Überflüssige weggemacht. Und so ist das beim Menschen auch. Die sind eigentlich in Ordnung, so wie sie sind.«
Von dieser Prämisse ausgehend, ist Herrn Swobodas Verständnis von Krankheit weniger auf Symptome fokussiert. Es geht ihm darum, den Menschen wieder in eine ursprüngliche Verfassung zu versetzen. Wichtiges Element dabei ist die Nutzung der Selbstheilungskräfte im ursprünglichen Zustand, die – wenn im Gleichgewicht – auch präventiv für einen guten Gesundheitszustand sorgen. Seine Aufgabe und Arbeit besteht deshalb im Wesentlichen darin, mittels verschiedener therapeutischer Ansätze die Aktivierung der Selbstheilungskräfte bei seinen Klienten anzuregen. Ein Beispiel: »Swoboda: ›Sag mal, was machst Du denn? Wie geht’s Dir denn?‹ Sagt sie, ja, sie hat nach dem Essen immer Schmerzen. So. Ich sag: ›Warum?‹ ›Ja. Die Ärzte finden nicht raus was es ist. Ich weiß nicht.‹ Ne!? […] ›Ja sag mal, wollen wir mal ein Experiment machen?‹ ›Ja!‹ Und dann, hab’ ich einfach die Hand aufgelegt, auf die Magengegend. Ich glaub’, ich hätte auch die Hand halten können. Wäre egal gewesen. Ähm. Oder vielleicht war es für sie wichtig, dass ich dann die Hand auf den Magen leg’. Keine Ahnung. Und was dann passiert ist –: Der Mensch glaubt daran, dass er Heilen kann. Einen Moment nach zwölf Jahren Internisten, Gastroenterologen, so. Auf einmal sieht er wieder Licht und denkt, jetzt kann’s klappen. Das ist eine ganz wichtige Geschichte. Und ich glaub’ auch, dass es klappen kann. Hab’ ich schon oft genug erlebt, ne!? Und dann treffen sich also zwei so Gläubige, dass was jetzt irgendwie gut werden kann, und komischerweise wird’s dann gut. Interviewer: Und Sie helfen den Leuten, die Selbstheilungskräfte zu aktivieren? Swoboda: Genau. So sehe ich das auch. Das ist nicht nur eine Ausrede, juristisch. So muss man es juristisch sagen, ne!? Man hilft die Selbstheilungskräfte stärken. Sondern das ist tatsächlich so. Weil Selbstheilungskräfte aktivieren machen Mediziner ja auch. Und alle Heiler oder therapeutischen Berufe würden zugeben müssen, dass wir noch nicht mal in der Lage sind, einen blauen Fleck wegzumachen. […] Das ist der Punkt dabei. Bei diesen ganzen Heilsachen. Und es gibt ’ne Menge Hokuspokus dabei. Also. Den nenn’ ich aber
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lieber Placebo-Effekte. Aber nicht abwertend, sondern sehr –. Also Placebo heißt: ›Es möge helfen.‹ Und das wäre mir so lieb, wenn das besser erforscht würde und in die Medizin mit reinkommt. Bis jetzt wurde es immer so: ›Naja, das scheint Placebo-Effekt, dann tun wir’s weg.‹ Und jetzt in den letzten fünf, sechs Jahren oder so, erleb’ ich immer mehr, dass Menschen sich dafür interessieren, wie’s denn funktioniert. Heiler wissen das. Die arbeiten ganz viel damit. Die sagen: ›Heile, heile Segen; drei Tage Regen; drei Tage Sonnenschein; dein Knie soll wieder ganz sein.‹ Oder so ähnlich, ne!? Und wir haben so eine Veranlagung, dann daran zu glauben und dann wird das so.«
Herr Swoboda versucht in seiner Arbeit erst gar nicht, physische Ursachen und Zusammenhänge für bestimmte Krankheitssymptome näher in Betracht zu ziehen. Möglicherweise liegt das auch darin begründet, dass viele seiner Klienten schulmedizinisch als austherapiert gelten (»Die haben schon handfest Krebs im Endstadium.«) oder aufgrund ergebnisloser fachärztlicher Diagnosen ratlos mit ihren gesundheitlichen Beschwerden zurückbleiben. Medizinische Ursachenforschung ist für Herrn Swoboda irrelevant. Eine erfolgreiche Behandlung liegt für Herrn Swoboda in einem überzeugenden performativen Akt begründet, den er selbst als »Placebo« bezeichnet. Dieses »Placebo« passt der Heiler der jeweiligen Situation an. Es kann ein Spruch oder auch eine Berührung sein. Oder auch beides. Die durch das performative Placebo erzielte Wirkung ist dann der von ihm so benannte Placebo-Effekt. Der Klient beginnt durch die rituell-performativ aufgeführte Behandlung wieder Vertrauen in seine menschlichen Selbstheilungskräfte zu finden, er glaubt an seine Heilung, und die Krankheitssymptome kommen zum Erliegen. Für Herrn Swoboda ist es letztlich entscheidend, durch seine Arbeit und Fähigkeiten im Klienten die feste Überzeugung zu wecken, dass der »innere Arzt«8 tatsächliche Heilung bewirken kann.
5. DER GELDWERT ALS OPFERGABE Die Preisfindung innerhalb des Heilungsmarktes stellt sich als ständiger Aushandlungsprozess dar. Da es keine Vergütungstabellen oder konkrete Honorarempfehlungen gibt, muss der Anbieter auch unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebenssituation des Klienten häufig individuelle Vergütungen festlegen. Innerhalb der Anbieterszene selbst ist es durchaus üblich, dass Vergütungen mittels einer Art Tauschhandel erfolgen: 8 Hoheisel, Karl: »Religiöse und profane Formen nichtmedizinischen Heilens«, in: Ders./ Hans-Joachim Klimkeit (Hg.), Heil und Heilung in den Religionen, Wiesbaden: Harrassowitz 1995, S. 167–184, hier S. 184.
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»Ich weiß, dass Andere das anders machen, die tauschen oft aus. Die sagen also: ›Ich komm’ zu Dir in die Behandlung.‹ Und lassen sich dann irgendwelche Migränegeschichten behandeln. ›Und dafür kann ich bei Dir dann ayurvedische Kochkurse machen‹, oder so.«9
Das kommt allerdings für Herrn Swoboda nicht in Betracht, auch deshalb, weil er sich gar nicht mehr mit dem berufsständischen Bild eines ›Heilers‹ identifiziert und für sich und seine Arbeit einen anderen, individuellen Weg eingeschlagen hat. Die Kontakte zu anderen Heilern sind auch zu selten und unverbindlich geworden. Hinsichtlich der Bezahlung durch seine Kundschaft sieht er die Schwierigkeit der materiellen Möglichkeiten seiner Klienten und dass daraus resultierende Problem, Festpreise durchzusetzen. Da er auch ökonomisch schwächeren Klienten10 helfen möchte, spielt er mit dem Gedanken, ein alttestamentlich basiertes Flatratemodell als ›faires‹ Bezahlsystem einzuführen: »Kennen Sie das mit dem Zehnten? […] Sie geben das Geld, in das noch was sie gut finden. Und so. Ich find’ dass total klasse. Schon überlegt, ob ich das als Bezahlungsform einführe, ne!? Und sag: ›Okay. Wenn Du das machst, dann begleite ich Dich und bekomm zehn Prozent von dem, was Du an Einnahmen hast.‹ Das ist auch gerecht, ne!? Wenn hier manche zu einer Behandlung kommen, für die ist hundert oder fünfzig Euro die Stunde, ist einfach viel. […] Und natürlich wissen die, die können sowieso jederzeit kommen. Also, das geht mir nicht um Geld. Und, aber für so jemanden, der eine eigene Firma hat, sind fünfzig Euro so, dass er skeptisch fragt: ›Sag mal, kommst Du damit überhaupt zurecht? Kann ich mir gar nicht vorstellen.‹ Und zehn Prozent wären eigentlich nicht schlecht. […] Deswegen ist der zehnte Teil so interessant.«
Das Prinzip von monetärer Wertschätzung einer Behandlung ist für ihn ein wesentliches Kriterium und seiner Meinung nach auch wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Therapie. »Und wenn Leute zu einem Heiler kommen, wollen die heilen. Dann wollen die auch irgendwas für ihr Geld haben. Wenn die beim Arzt sind, tun sie eine Chipkarte irgendwo rein und denken: ›Hoffentlich komm’ ich hier heil wieder raus!‹ So, ne!? […] Das Opfer. Ja. Dieses Opfern gab es in allen Traditionen. Das gehört auch keinen Religionen. Ja. Das ist wichtig für uns, dass wir für etwas geben. Wenn wir es nicht geben, dann haben wir latent das Gefühl, wir können auch nichts nehmen. Nur ganz wenige Leute können das. Die –. Das sind nicht viele. Die sagen: ›Ich hab’ nicht viel, aber ich nehm’ alles!‹ Und die meisten 9 Dieser interne Tauschhandel wurde auch in einem anderen Interview bestätigt. Dort fand der Austausch innerhalb eines lokalen Mikronetzwerks im ländlichen Raum statt. 10 Beispielsweise tragen manche Klienten für ihn als Gegenleistung Flyer aus.
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Menschen haben da so eine Bremse. Und sagen: ›Ja, gut. Ich bin doch nur Kassenpatient. Was soll ich jetzt erwarten.‹«
Herr Swoboda führt die Kategorie des Opfers ein. Für ihn entspricht das Opfer einer Gabe, die den Menschen in die Möglichkeit versetzt, nun selbstbewusst Erwartungen zu formulieren, Gegenleistungen einzufordern und eben auch in Souveränität Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Gabenfunktion11 ist ihm ein wichtiges Instrument, um seine Klienten aus einem vergleichsweise passiven und hierarchischen Arzt-Patienten-Verhältnis zu lösen, den Klienten zur aktiven Mitarbeit zu animieren und dadurch die Nutzung der Selbstheilungskräfte zu stimulieren. Doch der idealisierte Aspekt des Opfers bzw. der Gabe zur Einbeziehung des Klienten in einen aktiven Heilungsprozess mündet nicht wirklich in eine ergiebige wirtschaftliche Bilanz. Im Vergleich zum schulmedizinischen Behandlungsmodell sieht sich Herr Swoboda trotz seiner – laut eigener Aussage – erfolgreichen Behandlungsmethoden sehr benachteiligt. Die schulmedizinisch verordneten kostenintensiven Therapien betrachtet er mit großer Skepsis. Aber er sieht auch die ökonomische Attraktivität seriell angelegter Behandlungspläne für seine Klienten. Um nachhaltiger wirtschaften zu können, bleiben ihm deshalb langfristig nur zwei Möglichkeiten: Entweder, er wandelt sein Geschäftsmodell, indem er seine Dienstleistungen in Gestalt eines kurativ längerfristigen Heilungsprozesses anbietet – oder es wird ihm zukünftig die gesetzliche Möglichkeit eingeräumt, Spontanheilungen gegenüber den Krankenkassen abrechnungspflichtig geltend zu machen und in Abwägung der konventionellen Behandlungs- und Folgekosten eine prozentual angepasste Summe dafür zu erhalten. Allerdings unterliefe dieser Vergütungsvorschlag durch die Krankenkassen seine Forderung nach der elementaren Zahlungsbereitschaft des Klienten – Stichwort: Opfer/Gabe –, die ja gerade erst die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung schaffen soll. »Ich ändere das langsam, durch den Einfluss von den Ärzten. Beim Arzt kommt man hin und dann sagen die: ›Ja, jetzt machen Sie erstmal eine Serie. Jetzt kommen Sie mal zehnmal.‹ Da habe ich zu den ersten gesagt: ›Das sagt ihr denen? Das ist ja Wahnsinn! Und was machen die dann?‹ ›Ja, dann komm’ die zehnmal.‹ ›Wie jetzt?‹ Das lerne ich so langsam. Also zu sagen, es muss nicht von heute auf morgen immer Spontanheilung sein, manchmal ist es auch ein Prozess. Aber nehmen wir mal an, die haben dann hundert Euro bezahlt – oder zweihundert, oder auch dreihundert – aus eigener Tasche. Dafür haben die eine Sache weg, die sie zwanzig Jahre hatten, wo mit Schmerzmedikamenten, mit Arbeitsausfall, ähm, 11 Vgl. dazu auch Hoffmann, Veronika/Link-Wieczorek, Ulrike/Mandry, Christof (Hg.): Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, Freiburg: Verlag Karl Alber 2016.
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und die Verwandtschaft belästigen damit. Das ist doch richtig teuer. Wieso kann da nicht ein Umdenken –. Die wissen das auch. Also ich kenne ja Krankenkassenleute inzwischen. Die wissen auch, dass das so ist. Aber es gibt keine gesetzliche Grundlage, dass das dann übernommen wird. Ich würde ja auch auf Erfolgsbasis arbeiten, ne!?«
6. A LTERNATIVE HEILKUNDE – GEGENWÄRTIG UND ZUKÜNFTIG »Was noch ganz wichtig ist für die Arbeit, warum die so stattfinden kann, ist die gesellschaftliche Struktur. Weil ich leb’ auf jeden Fall –. Also diese Typen, auch die Biobauern, die kommen nur, wenn es einigermaßen Wohlstand gibt. Ansonsten haben wir keine Zeit für so einen Scheiß. Da beschäftigen wir uns nicht mit. Da haben wir mit Lebenserhaltung, mit Überleben und so zu tun. Dieser ganze Bereich wächst mit wirtschaftlichem Wohlstand. […] Also dieser ganze Bereich lebt, und ich auch, davon, dass es der Gesellschaft, also jetzt hier Deutschland oder Mecklenburg-Vorpommern, relativ gut geht. Sonst könnten wir, glaube ich, mindestens die Hälfte der Leute einpacken. Ja.«
Herr Swoboda verknüpft die Inanspruchnahme alternativmedizinischer Angebote mit relativem gesellschaftlichen Wohlstand. Er relativiert zwar nicht die Sinnhaftigkeit dieser Angebote, unterstreicht jedoch die privatwirtschaftliche Dimension und hebt hervor, dass die Wahrnehmung dieser Angebote – abgesehen von der Behandlung konkreter Krankheitsbilder – einer Bedürfnisbefriedigung entspricht, die das maslow’sche Bedürfnismodell als »Selbstverwirklichung« beschreibt, die erst realisierbar wird, wenn »Sicherheit« vorhanden ist und »physiologische Bedürfnisse« gestillt sind.12 »Ich glaube, es wird nicht weiter wachsen dieser Bereich. Sondern er wird sich integrieren in den Mainstream. Hatte angefangen mit – das sehe ich sehr, uh, so bissel unguten Gefühl – in diesen Wellnessbereich rein. So. Da wird so ein bisschen durchgeweicht und durchgewaschen. Und dann macht man Entspannung, damit man auch wieder besser funktionieren kann auf der Arbeit. Oder höher, erfolgreicher ist. Dafür sind diese Methoden eigentlich gar nicht gedacht. So nutzt man das. Andererseits gibt’s mehr entspannte Leute. Ist doch
12 Vgl. Scheffer, David/Heckhausen, Heinz: »Eigenschaftstheorien der Motivation«, in: Jutta Heckhausen/Heinz Heckhausen (Hg.), Motivation und Handeln, Berlin: Springer 2018, S. 43–72, hier S. 65f.
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auch schön. Ich habe da inzwischen nichts mehr gegen. Aber am Anfang war mir das unangenehm.«
Den Höhepunkt der Inanspruchnahme alternativmedizinischer Angebote sieht er schon erreicht, und er vermutet, dass sich der privatwirtschaftliche Sektor der Alternativmedizin künftig in andere Kontexte integrieren könnte – womöglich als ernstzunehmendes komplementäres Element innerhalb der konventionellen Schulmedizin. Diese Entwicklung hat er auch selbst vollzogen. Neben Fortbildungen für Mediziner bietet er innerhalb seines Heilzentrums Seminarreisen und Kurse in Kooperation mit Allgemeinmedizinern an. Kritischer betrachtet er die Einbettung alternativmedizinischer Angebote in den Wellnessmarkt und die lediglich funktionalisierte Anwendung. Für Herrn Swoboda war im Grunde eine Kontextualisierung der alternativen Angebote in »Ganzheitlichkeitsvorstellungen«13 selbstverständlich. Doch er hat sich mittlerweile an die situative Dienstleistungspraxis angepasst. Diese Entwicklung spiegelt sich auch innerhalb der neuen religiösen Bewegungen seit den 1980er Jahren wider. Die sogenannten Hippie- und Jugendreligionen hatten als utopistisches gesellschaftliches Gegenmodell einen umfassenden Aussteiger- und Kommunencharakter, begannen aber auf Druck eines Pluralisierungsschubes14 in dem Feld, ihre institutionellen Einbettungsformen zugunsten eines temporär beschränkten partizipativen Modus im Sinne einer Dienstleistung – und ohne eine Form von Mitgliedschaft – anzupassen.
7. RESÜMEE Herr Swobodas beruflicher Werdegang bildet die Entwicklungen in dem hochdynamischen Feld der Alternativmedizin ab. Hochdynamisch deshalb, da sich die Anbieter alternativmedizinischer Angebote in einer ökonomischen Wettbewerbssituation befinden, einem immensen Innovationsdruck unterliegen und somit permanent neue Angebote synthetisieren. Dies spiegelt sich auch in Herrn Swobodas Suche nach markierenden Termini für seinen Arbeitsbereich wider, wenn aus
13 Hero, Markus: »Von der Kommune zum Kommerz? Zur institutionellen Genese zeitgenössischer Spiritualität«, in: Ruth E. Mohrmann (Hg.), Alternative Spiritualität heute, Münster: Waxmann 2010, S. 35–53, hier S. 42. 14 Vgl. ebd. Hero begründet dies mit der zunehmenden Etablierung eines alternativreligiösen Lebensstils, der ein »religiöses Unternehmertum« bedingt, welches nun offenere und flexiblerer Organisationsformen in freier Wählbarkeit und relativer Unverbindlichkeit ermöglicht.
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»esoterischen Angeboten« »Alternative Heilmethoden« und später »Komplementäre Medizin« wird. »Das war früher dieser ganze Schmuddelbereich. Alternative Heilmethoden. Ja. Ich weiß noch, wie das darum ging, einen Begriff zu finden, der nicht ›Alternative Medizin‹ war. Was wir da nehmen. Und dann hab’ ich mich irgendwann entschieden für dieses ›Komplementäre Medizin‹.«
Obwohl durch den Wandel der eigenen Arbeits- und Angebotsbezeichnung Anknüpfungen an schulmedizinische Behandlungen durchaus erleichtert werden, verlieren seine Angebote jedoch nicht ihren eigentlichen Kern und Schwerpunkt. Nämlich ihre sinnstiftende Substanz, die deutlich über evidenzbasierende Medizinzugänge hinausgeht. »Die Esoterik beschäftigt sich eigentlich nur mit einer Frage: Wer bin ich? Ja. Was ist das hier in mir? Was ist das Leben? Und so. Eigentlich nur: Wer bin ich? Und woher komm’ ich? Und das ist mir sehr sympathisch. […] Ja. Deswegen ist dieses Wort schön. Ich mag das. Ich mag das nur nicht so, weil es ist so noch verschmutzter als Heiler.«
Er bemüht sich zwar, vermeintlich vorbelastete und negativ konnotierte Begriffe durch andere zu ersetzen15 und somit Akzeptanz und neue Verbindungen zu anderen Teilfeldern wie beispielsweise zu interessierten Schulmedizinern zu knüpfen, die Kopplung von Heilung und Heil ist in den Angeboten jedoch immer mitzudenken. Eine sinnstiftende Dimension ist für Herrn Swoboda auch weiterhin substantieller Teil seiner Angebote. Im Grunde ist es der sprichwörtlich alte Wein in neuen Schläuchen. Alternativmedizinische Anbieter wie Herr Swoboda bewegen sich in einem Feld, das in den letzten 30 Jahren kontinuierlichen Veränderungsprozessen unterworfen war.16 In den 1990er Jahren agierte er dem Typus nach als ein »spirituel15 Dies ist auch bei anderen Interviewpartnern der Fall, die darüber nachdenken, innerhalb der Laden- und Praxisaufschrift das Wort ›esoterisch‹ durch ›ganzheitlich‹ zu ersetzen. Dies geschieht jedoch in dem Bewusstsein, dass durch den Austausch der Begriffe für den Anbieter selbst lediglich eine Synonymisierung stattfindet, die jedoch eine seriösere Außenwirkung hat, da »esoterisch« von der vermeintlichen Kundschaft als zu religiös aufgeladen wahrgenommen wird. 16 Vgl. Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2009, 232f.; Hero, Markus: Die neuen Formen des religiösen Lebens. Eine institutionentheoretische Analyse neuer Religiosität, Würzburg: Ergon 2010, S. 35f.
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ler Wanderer«17 und befand sich als Initiator innerhalb der neuen Bundesländer anfangs noch in direkter Auseinandersetzung mit etablierten religiösen Akteuren und Institutionen. Dies wandelte sich jedoch mit der Verschiebung des persönlichen Fokus auf den Bereich der Heilung. Damit einher ging eine gesellschaftliche Akzeptanz alternativmedizinischer Heilungsangebote und seine selbstgewählte Demission als esoterischer Zeitschriftenherausgeber. Die aktuellen Herausforderungen bestehen für Herrn Swoboda darin, Produkte und Prozeduren zu entwickeln, um mit den Heilungsangeboten anderer Anbieter auf einem »Markt des Besonderen«18 erfolgreich in Konkurrenz zu treten und sich weitere Arbeitsfelder zu erschließen – beispielsweise in Kooperation mit Schulmedizinern.
17 Bochinger, Christoph/Engelbrecht, Martin/Gebhardt, Winfried: Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 145f. 18 Vgl. M. Tulaszewski: Alternative Heilungsangebote, im vorliegenden Band.
II. Heil und Heilung: transzendenzoffene Ganzheitlichkeit und religiös imprägnierter Zusammenhalt
Horizonte des religiösen Feldes: Gesundheit und Zusammenhalt Jens A. Forkel
Gesundheit und Gesellschaft sind Begriffe der Moderne. Beide Semantiken sind mit dem verbunden, was Gegenstand der soziologischen Beobachtung ist: die Entwicklung der Gesellschaften in ihrer politischen Gestalt. Die Entstehung des heute in Deutschland als Gesundheitswissenschaften firmierenden wissenschaftlichen Paradigmas entstammt der Prägung als Public Health, wie sie sich seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelt und im frühen 20. Jahrhundert etabliert hat.1 Die Öffentlichkeit der Gesundheit in Deutschland, die in der Sozialverantwortung des Staates als öffentliches Gesundheitswesen institutionalisiert wurde, wurzelt so in der sozialen Frage nach der Prekarität der Arbeiterfamilien im Zeitalter der Industrialisierung. Im gleichen Maße, wie die Entdeckung der Arbeitskraft als Ware (Marx) für einen Arbeitsmarkt der Industrialisierung und damit einer national übergreifenden Wirtschaftsethik, aber national verantworteten und regulierten Unternehmensethik wird, stellt die sukzessive Rationalisierung auch den Körper in den Mittelpunkt eines kollektiven Interesses.2 Die Selbstverständlichkeit der Natur wurde »in dem Maße, in dem die Menschen von ihr unabhängig wurden 1 Die London School of Hygiene and Tropical Medicine (gegr. 1899/1924) waren ebenso wie die Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health (gegr. 1916) erste Institutionalisierungen in der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens im Zeichen einer Professionalisierung und Rationalisierung der Sorge um die Menschen. 2 »Um an die linearen Zeitstrukturen der übergroßen und rauchenden Körpermaschinen ankoppelbar zu sein, wurde, so beschrieben es Norbert Elias [Über den Prozess der Zivilisation] und Michel Foucault [Überwachen und Strafen], der humane Körper zivilisiert und diszipliniert, die Struktur des Begehrens, so lehrt uns die Psychoanalyse, entsprechend modifiziert und der Mensch durch religiöse Systeme weltanschaulich vorbereitet.« Klein, Gabriele: »Soziologie des Körpers«, in: Georg Kneer/Markus Schroer
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[…] so zum Problem: Krankheit und Tod, Naturkatastrophen usw. wurden nicht mehr einfach nur hingenommen, sondern als Sinnproblem erfahren.«3 Die private Verantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit wurde mit dem naturwissenschaftlichen Verständnis der aufkommenden medizinischen Versorgung gewissermaßen mit der Individuation des Ichs im Übergang zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaften aus anderen sozialen Feldern wie dem der Religion herausgelöst und als Gesundheitssystem etabliert.4 Gesundheit und Gesellschaft stehen daher immer im Konflikt einer körperlichen Selbstbestimmung gegen die unterschiedlichen Ansprüche der Gesellschaft auf den und am Körper.5 Gesundheit als Teil einer bürgerlichen Öffentlichkeit steht damit – neben der hippokratischen Verantwortung des Arztes gegenüber seinem Patienten6 – in einem Aushandlungsmodus der gesellschaftlichen Entwicklung, der die Herausbildung eines staatlichen Risikomanagements im Zuge der Industrialisierung von Nationalstaaten mittels staatlicher Versorgungs- und Kontrollinstitutionen über-
(Hg.), Handbuch Spezielle Soziologien, Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 457–473, hier S. 458. 3 Reuter, Astrid: »Praxeologie. Struktur und Handeln (Pierre Bourdieu)«, in: Detlef Pollack et al. (Hg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden: Springer VS 2017, 171– 202, hier S. 8. 4 Zacharias Gottlieb Huszty Edler von Rassynya (1754–1803), der als Arzt in Preßburg praktizierte, verknüpfte diese ›Polizei‹ im Jahre 1786 mit der merkantilistischen Bevölkerungspolitik: »Der Zwek der medizinischen Polizeiwissenschaft wird durch den Hauptgrundsatz der Staatswirthschaft, die Bevölkerung, bestimmt: mit welchem die Erhaltung der Gesundheit und des Lebens der Unterthanen unzertrennlich verbunden ist.« Zit. nach Stollberg, Gunnar: »Aspekte einer Geschichte von Public-Health-Konzeptionen in Deutschland«, in: Doris Schaeffer/Martin Moers/Rolf Rosenbrock (Hg.), Public Health und Pflege – Zwei neue gesundheitswissenschaftliche Disziplinen, Berlin: Ed. Stigma 1994, S. 29–42, hier S. 30. 5 Man denke hier nicht zuletzt an den rezenten Diskurs um die Entscheidungs-, Zustimmungs- oder Widerspruchslösung der gesetzlichen Regelungen der Organspende in Deutschland und in Europa. Die Frage nach einer politischen Intervention auf der Grundlage einer Sozialmedizin (Rudolf Virchow, geb. 1821, Salomon Neumann, geb. 1819) gegen eine marktliberale Hinnahme gesundheitlicher Risiken (Max von Pettenkofer geb. 1818, Alois Geigel, geb. 1829) führte erst zu Beginn des 20. Jahrhundert zu einer Umdeutung einer ›hygienischen Kultur‹ hin zur ›Sozialhygiene‹ (Alfred Grothjan, geb. 1869) als eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für Politik. 6 Vgl. Eijk, Philip van der: »Geschichte der Medizin: Gesundheit – Eigenverantwortung oder Schicksal?«, in: Deutsches Ärzteblatt 108/44 (2011), A 2330–2332.
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wachte.7 Im Diskurs um die Aufgaben und Pflichten dieser Institutionen des wohlfahrtsstaatlichen Verständnisses nach der europäischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wird deutlich, dass – anders als die Kernbegriffe Demokratie, Nationalstaat oder Kapitalismus – die Semantik um den ›guten Staat‹ auf keinen Gründungsmythos zurückgreifen kann.8 Selbstverständlich ist die Subsidiarität einer gerechten regionalen Teilhabe auch grundgesetzlich umrissen (zum Beispiel Art. 72 GG). Ungleichheiten werden damit aber lediglich angeglichen, also explizit als Grund und ›Motor‹ der marktorientierten Vergesellschaftung zugelassen. So ist es nicht verwunderlich, dass Public Health in Deutschland erst mit den Krisen der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland zu ersten wissenschaftlichen Institutionalisierungen findet und bis heute – nun als New Public Health9 – um Anerkennung als transdisziplinäre Reflexions- und empirische Wissenschaft ringt.10 Gegenwärtig wird Public Health/Gesundheitswissenschaften wie folgt definiert: »Public Health umfasst die Gesamtheit aller sozialen, politischen und organisatorischen Anstrengungen, die auf die Verbesserung der gesundheitlichen Lage, Verminderung von Erkrankungs- und Sterbewahrscheinlichkeiten sowie Steigerung der Lebenserwartung von Gruppen oder ganzen Bevölkerungen zielen.«11
7 Dabei sollte der Demokratisierungsprozess der Entwicklung eines Systems der Krankenversorgung für alle Staatsuntertanen nicht aus den Augen verloren werden. Allein die Herausbildung einer auch (national)-ökonomisch begründeten Notwendigkeit der Wiederherstellung der Arbeitskraft führte zu einer klassenunabhängigen Verantwortung des Arztes gegenüber dem Patienten. Anders wäre beispielsweise der berühmte Beginn der Herzchirurgie am 9. September 1896, als Ludwig Rehn in Frankfurt die Herzstichverletzung des 22-jährigen Gärtnergesellen Wilhelm Justus in Frankfurt mit einer direkten Naht verschloss, vielleicht durch Standesdünkel ausgefallen (vgl. Schmid, Christof/ Schmitto, Jan D./Scheld, Hans H.: Herztransplantation in Deutschland: Ein geschichtlicher Überblick, Berlin/Heidelberg: Steinkopff 2003). 8 Vgl. Lessenich, Stephan: »Wohlfahrtsstaat«, in: Nina Baur/Hermann Korte/Martina Löw/Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologie, Wiesbaden: Springer VS 2008, S. 483–498. 9 Vgl. Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich/Razum, Oliver (Hg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim: Juventa 2012, S. 31. 10 Vgl. Flügel, Axel: Public Health und Geschichte. Historischer Kontext, politische und soziale Implikationen der öffentlichen Gesundheitspflege im 19. Jahrhundert, Weinheim: Juventa 2017. 11 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Redaktionsgruppe: Stephan Blümel/ Peter Frankowiak/Lotte Kaba-Schönstein/Guido Nöcker/Martina Plaumann/Alf Trojan
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Der Diskurs um die Bestimmung dieser Wissenschaften als Gesundheitswissenschaften umreißt das Bestreben, Gesundheit und Krankheit in einem sozial- und geisteswissenschaftlichen Herangehen weiter zu fassen und als Teil der gesellschaftlichen Differenzierung verfügbar zu halten. Das belastete und bis heute belastende Erbe der deutschen Praxis der Gesundheitssorge, die als Sozialhygiene im 19. Jahrhundert begann und im nationalsozialistischen Deutschland als Rassenhygiene endete, hat den kollektiven Zugang zu Fragen der öffentlichen Gesundheit nach 1945 in Westdeutschland weitestgehend desavouiert. »Vier Jahrzehnte hatte es gedauert, bis die Bundesrepublik gesundheitspolitisch aus dem Schatten, den die nationalsozialistischen Verbrechen auf den Sektor der öffentlichen Gesundheitspflege geworfen hatten, hinaustreten konnten und mit der Etablierung eines weit ausdifferenzierten Lehr- und Forschungssektors auch im Public-Health-Bereich ein eigenständiges bundesdeutsches Profil entwickelte«.12 Lange Zeit wurde daher eine individualisierte Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit gepflegt, die der Profession der Ärzteschaft und der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Sichtweise Absolution erteilte.13 Erst mit den Erfolgen der ›Krankheitswissenschaften‹ wird die Paradoxie des wohlfahrtsstaatlichen Versprechens deutlich, Wachstum und Wohlstand miteinander zu verkoppeln. »Obwohl oder gerade weil die akuten Krankheiten zurückgedrängt wurden, ist der Gesundheitszustand der Bevölkerung heute nicht zufriedenstellend. Obwohl oder gerade weil wir ein gutes und teures medizinisches Versorgungssystem und einen hohen Lebensstandard haben, treten neuartige Gesundheitsrisiken auf, die Forschung und Praxis vor kaum bewältigbare und bezahlbare Herausforderungen stellen.«14 Nach der Entmystifizierung vieler Krankheiten stand nun die »Entmystifizierung der Gesundheit«15 auf der Agenda. Die körperlichen, seelischen, sozialen und ökologi(Leitung): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden, E-Book 2018, S. 550. 12 Ellerbrock, Dagmar: »Die Etablierung von Public Health in der BRD«, in: Gesundheit Berlin-Brandenburg (Hg.), Online-Dokumentation des 16. Kongresses Armut und Gesundheit, Berlin: o.V. 2011, S. 7 (http://www.armut-und-gesundheit.de/uploads/tx_gbbkongressarchiv/Ellerbrock__Dagmar_Gesundheitsberufe_11-03-10.pdf, 27.03.2019). 13 Vgl. Franke, Alexa: Modelle von Gesundheit und Krankheit, Bern: Huber 2008. 14 Hurrelmann, Klaus: »Die Gesundheitswissenschaft tritt neben die Krankheitswissenschaft. Ein eigener Weg für die konzeptionelle Umsetzung von Public Health in Deutschland?« in: Gerhard Polak (Hg.), Das Handbuch Public Health. Theorie und Praxis. Die wichtigsten Public-Health-Ausbildungsstätte, Wien: Springer 1999, S. 201–204, hier S. 201f. 15 Vgl. Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit; hrsg. v. Alexa Franke, Tübingen: dgvt-Verlag 1997.
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schen Faktoren zur Gesunderhaltung als Krankheitsvermeidung rückten mehr und mehr in den Mittelpunkt. Die Rufe nach Eigenverantwortung und Selbstsorge, die wachsende Zahl der Institutionen und Programme der Gesundheitsförderung, das Präventionsgesetz (2015) spiegeln die Effekte der Liberalisierungen und deren sozialpolitische Umdeutungen in postindustriellen Gesellschaften. Im vereinfacht dichotomen Verhältnis von Pathogenese und Salutogenese kann mit der zunehmenden Privatisierung gesellschaftlicher Risiken16 die Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses17 exemplarisch nachvollzogen werden.
1. D IFFUSIONEN UND GRENZEN GESUNDHEITSFÖRDERLICHER UND RELIGIÖSER ARBEIT Dieses Spannungsfeld ist für die Fragestellung: ›Was heilt?‹ insofern interessant, als diese Frage sogleich mit einer Gegenfrage erweitert werden muss: Was erhält gesund? Denn die klare Abgrenzung zwischen den Institutionalisierungen des Systems der Krankenbehandlung, das sich mit dem Code krank vs. gesund legitimierte, kann in der zunehmenden Diffusion zu anderen lebensbezogenen Semantiken nicht mehr aufrechterhalten werden.18 »Im Rahmen der Hypostasierung der eigenen Funktion weitete dieses ›Medizinsystem‹ über Inklusions- und Diffusionsprozesse seinen Kompetenzbereich immer weiter aus […]. Eine Transformation des Gesundheitscodes von krank vs. gesund auf lebensförderlich vs. lebenshinderlich wurde erforderlich, um das erweiterte Aufgabenspektrum des sich in weite gesellschaftliche Bereiche spreizenden Gesundheitssystems abdecken zu können.«19 Man muss sich daher fragen, inwieweit diese Überschneidungen als gemeinsame Abgrenzungskommunikationen verschiedener Systeme – um bei der systemtheoretischen Sichtweise zu bleiben – nicht vielleicht schon in der Unverfügbarkeit eines konstituierenden Codes im Medizinsystem begründet ist, und welche Kon16 Vgl. Castel, Robert: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg: Hamburger Ed. 2005. 17 Vgl. Habermas, Jürgen: »Jenseits des Nationalstaates? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung«, in: Ulrich Beck (Hg.), Politik der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 65–90, hier S. 68. 18 So eine systemtheoretische Herangehensweise an die Ausdifferenzierung des Medizinsystems und dessen Wandel durch Jost Bauch; Bauch, Jost: Gesundheit als System. Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Weinheim: Juventa 1996. 19 J. Bauch: Gesundheit als System, S. 163.
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sequenzen für einen mit Postismen verkleidenden gesellschaftlichen Übergang das hat.20 Die im ›Gesundheitswesen‹ operierenden symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (Luhmann) sind immer schon besetzt und erschweren die Betrachtung als System. Die naturwissenschaftlich-biomedizinische Sichtweise der Medizin mit dem Code wahr vs. falsch kann evident und wirkungsvoll auf den menschlichen Körper einwirken, aber eben nicht umfassend den Bezug zum menschlichen Leben begründen. Vor allem mit der Unausweichlichkeit des Todes und den damit verbundenen Sinnsystemen – vor allem der Religionen – wird dies deutlich, wenn Heil und Heilung auch etymologisch auf etwas Vollständiges verweisen. Wie diese Überschneidungen verhandelt werden, kann gegenwärtig zum Beispiel an der Herausbildung einer spiritual care aus der Krankenhausseelsorge und der Hospizbewegung abgelesen werden.21 Es stellt sich hier die Frage, ob diese Bestandteil eines erweiterten Dienstleistungsspektrums oder eine ›neue ärztliche Disziplin‹ sein soll.22 Kurzum, wenn einst die Gebundenheit des partikularen Eigenwillens an den Universalwillen noch eine Definition des Guten als Religion mit der höchsten »Entschiedenheit für das Rechte ohne Wahl«23 ermöglichte, und diese von der Kritik der Religion als »Voraussetzung aller Kritik«24 zu einer radikalen Pluralität25 der ›Postmoderne‹ gebrochen und beschleunigt wurde, »dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.«26 Demnach gilt es aktuell, die kritische Theorie von der 20 Vgl. hierzu beispielsweise Arenhövel, Mark: »Über das Befriedungspotential der Religion in den ›postsäkularen Gesellschaften‹«, in: Manfred Brocker/Mathias Hildebrandt (Hg.), Friedensstiftende Religionen? Religion und die Deeskalation politischer Konflikte, Wiesbaden: Springer VS 2008, S. 158–178. 21 Vgl. Nauer, Doris: Spiritual Care statt Seelsorge?, Stuttgart: Kohlhammer 2015. 22 Eine akademische Institutionalisierung ist bereits erfolgt. Der Jesuit Eckhard Frick, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiater und Psychoanalytiker, wurde im Sommer 2010 als erster Professor für medizinische Disziplin »Spiritual Care« am Lehrstuhl für Palliativ-Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität in München berufen. 23 Schelling, Friedrich W. J.: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Bd. 7, S. 391; zit. n. Berg, Robert Jan: Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 284. 24 Marx, Karl: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 1., Berlin (Ost): Dietz 1976, S. 378–391, hier S. 378. 25 Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Berlin: Akademie Verlag 1986, S. 4. 26 Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 13.
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Negation des Bestehenden zu befreien und eine kritische Soziodizee der Weltanverwandlung zu erreichen.27 Die Verknüpfung von Heil und Heilung beleuchtet in dieser Skizze einiger religions- und gesundheitswissenschaftlicher Zugänge Gleichursächlichkeiten in der gesellschaftlichen Differenzierung mit der Dauerpräsenz des Religiösen in der Herausbildung je eigener Felder, die paradox aufeinander bezogen sind. Für die hier interessierende Fragestellung eignet sich jedoch ein systemtheoretischer Zugang mit einer horizontalen und funktionalen Analyse der Abgrenzung einzelner Teilsysteme zunächst nur zur Beobachtung der rezenten Diffusion der Funktionssysteme. Will man auf die vertikalen sozialen Gliederungen und Mobilitäten eingehen, will man den Bezug zu sozialen Ungleichheiten auch territorial analysieren, ist man auf ein theoretisches Repertoire angewiesen, welches diese Aspekte in den Mittelpunkt stellt. In einem Verständnis, dass es sich bei den Theorien von »Bourdieu und Luhmann um eine soziologische Doppelbeobachtung der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ nach ihrer Kontingenzerfahrung«28 handelt, können die Folgen und Ausprägungen dieser Hybridisierungen religiösen und alltäglichen Handelns in ländlich peripheren Räumen der Gegenwart anhand der Praxeologie und Religionssoziologie Pierre Bourdieus methodologisch genauer erfasst werden.
2. HEILSANBIETER UND HEILER So ist mit der säkularen ›Umwertung aller Werte‹ (Nietzsche) und der Durchsetzung einer kapitalistischen Wirtschaftsform mit der Ausdifferenzierung demokratischer Institutionen nicht nur eine Herauslösung von Leib und Seele aus einem schicksalhaften, wenn nicht dämonologischen Verständnis des leiblichen Versagens zu konstatieren. Feldausprägungen sind in dieser Sichtweise mit Strukturierungen verbunden, die Machtakkumulation und Verfügbarkeiten auf die Beteiligten des Feldes in Form von sozialen Positionen übertragen, die über Professionalisierung manifestiert werden. Wenn eine religiöse [und medizinische] 27 Vgl. Peters, Christian Helge; Schulz, Peter (Hg.): Resonanzen und Dissonanzen. Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion, Bielefeld: transcript 2017. Zur Soziodizee als Verschleierung der Macht siehe Bourdieu, Pierre: Der Staatsadel, Konstanz: UVK 2004. 28 Fischer, Joachim: »Bourdieu und Luhmann: Soziologische Doppelbeobachtung der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ nach ihrer Kontingenzerfahrung«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Teilbd. 1 und 2, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2006, S. 2850–2858, hier S. 2850.
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Selbstversorgung obsolet geworden ist, muss zwischen Spezialisten und Laien unterschieden werden. Die Professionalisierungen der Heilsanbieter als Priester, Propheten und Zauberer unterscheiden sich im religiösen Feld, wie Bourdieu von Max Weber übernimmt,29 in ihrem Grad der Institutionalisierung dann nur noch relational als beständiges Ringen um Positionen.30 »Die von Bourdieu herausgestellten urwüchsigen Interessen wie Gesundheit, Glück, langes Leben, Wohlstand sind daher nicht spezifisch religiös, werden jedoch durch religiöse Praktiken bedient.«31 In diesem Sinne nehmen die Häresien der Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens heute eine Konkurrenzposition ein, welche auch die Legitimität des Anspruches der professionalisierten Spezialisten bedrohen, die sich institutionell zunehmend als Teil eines Unternehmens der Gesundheitswirtschaft erfahren.32 Die Rationalität des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses wird heute gegen ein Kalkül der Betriebswirtschaftlichkeit gestellt und damit die ärztliche Bestimmungsmacht auch im medizinischen Feld gefährdet. Wie Max Webers Propheten erheben komplementär- und heilkundliche Verfahren entgegen der rationalen und laborwissenschaftlich evaluierten medizinischen Handlung Anspruch 29 Vgl. Bourdieu, Pierre: »Mit Weber gegen Weber. Pierre Bourdieu im Gespräch«, in: Ders. (Hg.), Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz: UVK 2000, S. 111–129. 30 Vgl. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 31 Wienold, Hanns/Schäfer, Franka: »Glauben-Machen. Elemente und Perspektiven einer soziologischen Analyse religiöser Praxis nach Pierre Bourdieu«, in: Ann Daniel/Franka Schäfer/Frank Hillebrandt/Hanns Wienold (Hg.), Doing modernity – doing Religion, Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 61–112, hier S. 70. 32 Die gesundheitspolitischen Weichenstellungen zur Umstellung des Abrechnungssystems im Gesundheitssystem auf Fallpauschalen und die Folgen werden seit 2003 als Abrücken der Gesundheitsversorgung im Sinne eines Gemeinwohles viel diskutiert. Die Anforderungen an die Ärzte im Krankenhaus erweitern sich damit um eine betriebswirtschaftliche Sichtweise, die sich auch an der Nachfrage nach Aufbaustudiengängen für Ärztinnen und Ärzte zeigt. So wird beispielsweise an der Hochschule Neubrandenburg in Kooperation mit dem Krankenhausbetreiber Vivantes – Netzwerk für Gesundheit GmbH seit 2012 ein MBA-Aufbaustudiengang Krankenhausmanagement angeboten; vgl. hierzu die Publikation der Abschlussarbeiten im Spannungsfeld von Medizin und Ökonomie in: Claßen, Gabriele/Kugler, Joachim/Neumann, Willi/Sachs Ilsabe (Hg.): Perspektiven im Krankenhausmanagement. Masterthesen im Studiengang Management im Gesundheitswesen, Hochschulschriftenreihe K, Band 3, Neubrandenburg: Hochschule Neubrandenburg 2018.
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auf eine eigene Rationalität im Heilsgeschehen.33 Es ist der Rostocker Tagung mit dem hier vorliegenden Band zu verdanken, diese Prozesse transdisziplinär in den Fokus gerückt zu haben. Vielleicht wird hier, wie in der Formel der Religionshybride bereits angelegt, auf eine im Jahre 1987 erfahrene Disposition des Religiösen reagiert: »Uns wurde die Neubestimmung der Kompetenzen innerhalb des religiösen Feldes beschrieben, und zwar als Folge der veränderten Grenzen zwischen dem religiösen Feld und den anderen Feldern, insbesondere dem medizinischen.«34 Die Monopole schwinden. Die Auflösung des Religiösen als ›Monopol auf Heilung der Seelen‹ beschreibt der Zeitgenosse Bourdieu als gebrochen und diffundierend, »zumindest auf der Ebene der bürgerlichen Klientel.«35 Mediziner werden so »Teil des neuen Feldes von Auseinandersetzungen um die symbolische Manipulation des Verhaltens im Privatleben und die Orientierung der Weltsicht, und alle setzen in ihrer Praktik konkurrierende antagonistische Definitionen von Gesundheit, der Heilung, der Kur von Leib und Seele um.«36 Sie sind Professionelle »einer Form des magischen Handelns, die mittels Wörtern, die zum Körper sprechen, ihn ›berühren‹, ›treffen‹ können«.37 In dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird heute die Professionalität des Arztes in einer mehr und mehr marktliberal ausgerichteten Gesundheitspolitik zu einem – und dennoch weiterhin elementarsten und erfolgreichsten – Heilangebot unter anderen.
3. T ERRITORIALE GESUNDHEITLICHE UNGLEICHHEIT In einem solchen Verständnis ist zu hinterfragen, inwieweit das Ausgreifen des religiösen Feldes auf andere Felder und vice versa als Hybridisierungen zu erfassen sind und dies für die auf Veränderungen und ›Innovationen‹ zielenden Aufgaben der Gesundheitsförderung fruchtbar zu machen ist. Das vor allem, wenn diese auf »eine in diesem Sinne ›hybride‹ Kultur religionsaffiner, religionsäquivalenter oder explizit religiöser Gemeinschaften unterhalb der Schwelle nicht nur kirchlicher, sondern generell religiöser Institutionalisierung im Sinne fortgeschritten verfes33 Vgl. Lüddeckens, Dorothea: »Alternative Heilverfahren als Religionshybride«, in: Peter A. Berger/Klaus Hock/Thomas Klie (Hg.), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 107–120. 34 Bourdieu, Pierre: Religion. Schriften zur Religionssoziologie 5, herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Eggers, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 244. 35 Ebd., S. 246. 36 Ebd. 37 Ebd.
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tigter oder gar etablierter Struktur- und Organisationsformen«38 bezogen werden. In diesem Sinne zeigen sich gerade für den ländlich peripheren Raum Nordostdeutschland säkulare Träger, die den genius loci entzauberter und verfallender Orte für ein zivilgesellschaftliches Engagement wieder aufgreifen, Gutshäuser und Kirchen wiederaufbauen, Traditionen des immateriellen Erbes wiederbeleben und dabei an eine Gemeindeverantwortung appellieren. Diese neue Kulturverantwortung kann auch als eine Reaktion auf eine seit Jahren konstatierte soziale Ungleichheit gesehen werden, die territoriale Unterschiede in der Lebensqualität und den Lebenschancen in Deutschland zulässt. Eine solche strukturelle Ungleichheit wurde vor einigen Jahren unter dem Begriff einer ›territorialen Ungleichheit‹ zusammengefasst.39 Darüber hinaus korrespondieren in diesem Zusammenhang die epidemiologischen Befunde, nach denen der Gradient einer zunehmenden Gesundheitsbelastung nicht nur entsprechend dem sozioökomischen Status des Einzelnen (generalisierbar in Klassen/Schichten/Milieus), sondern auch zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen ländlich geprägten und Agglomerationsräumen verläuft.40 »Auch in einem reichen Land wie Deutschland, das zudem über gut ausgebaute soziale Sicherungs- und Versorgungssysteme verfügt, sind die Lebensbedingungen und sozialen Teilhabechancen sehr ungleich verteilt.«41 Unter dem Leitmotiv eines in die Krise geratenen
38 Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas: »Religionsybride – Zur Einführung«, in: Dies., Religionshybride (2013), S. 7–46, hier S. 9. 39 Vgl. Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a M.: Campus Verlag 2004 S. 42f.; Keim, Klaus-Dieter: »Peripherisierung ländlicher Räume«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37 (2006), S. 3–7; Neu, Claudia: »Territoriale Ungleichheit – eine Erkundung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37 (2006), S. 8–15; Barlösius, Eva/Neu, Claudia (Hg.): Peripherisierung – eine neue Form sozialer Ungleichheit? Materialien 21 der IAG »Landinnovationen«, Berlin: o.V. 2008. 40 »Ausgedrückt in Jahren ist die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Kreisen mit hoher und niedriger Deprivation im Beobachtungszeitraum [1998/2000 – 2011/2013] bei den Frauen von 1,4 auf 1,7 Jahre angestiegen. Bei den Männern nahm diese Differenz von 2,6 auf 3,0 Jahre zu.« Kroll, Lars Eric/Schumann, Maria/Hoebel, Jens/Lampert, Thomas: »Regionale Unterschiede in der Gesundheit – Entwicklung eines sozioökonomischen Deprivationsindex für Deutschland«, in: Journal of Health Monitoring 2/2 (2012), S. 110. 41 Lampert, Thomas/Koch-Gromus, Uwe: »Soziale Ungleichheit und Gesundheit«, in: Bundesgesundheitsblatt 59 (2016), S. 151–152, hier S. 151; vgl. Forkel, Jens A./Grimm, Maureen/Elkeles, Thomas: Lebensqualität und Erinnerung in dörflichen Gemeinschaften (LETHE), Neubrandenburg: Hochschule Neubrandenburg 2017, S. 57–62.
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verwaltungs- und staatsrechtlichen Begriffes Daseinsvorsorge42 wird Ungleichheit – noch dazu territoriale Ungleichheit – mit dem soziologischen Prozessbegriff der Peripherisierung erfasst, als ob man die Wahl hätte, sich für die eine oder andere Sichtweise zu entscheiden: Peripherisierung und Modernisierung als Antipoden der Wachstumsgesellschaft.43 In der Entwicklung des Begriffes Daseinsvorsorge spiegeln sich nicht nur in der Wortfindung, die allein schon einen Vergleich mit anderen Ländern erschwert, die Fährnisse der deutschen Geschichte – und das nicht zuletzt wegen der auffälligen Semantik von Dasein und Sorge, zentrale Begriffe in Martin Heideggers Philosophie.44 Hier determiniert Sorge das Dasein des Menschen – sie macht ihm sein Dasein erst bewusst. Regionale Ungleichverteilungen von Lebenschancen und deren gesundheitlichen Effekte müssen mehr und mehr in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit im Sinne einer bevölkerungsbezogenen Gesundheitssicherung (Public Health) gebracht werden. Denn wir wissen: diesen Entwicklungen wird ein progressiver Charakter bescheinigt. Alterung, Bildungs- und Geschlechtersegregation zeitigen für ländlich-periphere Räume in Deutschland damit neben den negativen Bildern 42 In der deutschen Verfassungs- und Verwaltungslehre hat von den späten 1920er bis in die 1970 Jahre der Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff Daseinsvorsorge als »sozialwissenschaftlich inspirierte Legitimationstheorie« von Herrschaft in der Industriegesellschaft (Kersten) entfaltet. Forsthoff, Schüler Carl Schmitts, war bis Mitte der 30er Jahre, ebenso wie der oben Genannte glühender Nationalsozialist und Autor des Buches »Der totale Staat« (1934). 43 Vgl. E. Barlösius/C. Neu: Peripherisierung. 44 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006. Selbstverständlich sind mit diesem Wortspiel nur Andeutungen an die Fundamentalontologie Heideggers gemeint, die auf weitere Ausführungen zur Parallelität der historischen Semantik des Staates einerseits und des existenzialistischen Seinsverständnisses an dieser Stelle verzichten müssen – zumal die gegenwärtigen Einsichten in Heideggers eigene Beziehung zum totalen Staat auf einer immer wieder diskutierten Verantwortungsethik der Philosophie selbst beruhten. Vgl. Trawny, Peter: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2016, S. 13. Es ist Forsthoff, der im Anschluss an Karl Jaspers den Begriff in die staats- und verwaltungsrechtliche Diskussion eingebracht hatte und er ist auch derjenige, der 1938 in einer Dokumentensammlung zur ›deutschen Geschichte‹ Heideggers Antrittsrede als Rektor der Freiburger Universität neben ein antisemitisches Plakat (Zwölf Thesen. Wider den undeutschen Geist) stellte, dessen Verbotsversuch durch Heideggers Vorgänger Wilhelm von Möllendorf, den Rektorposten überhaupt erst ›vakant‹ machte (vgl. Faye, Emmanuel: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935, Berlin: Matthes und Seitz 2009).
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von sterbenden Dörfern, Abwanderung und Versteppung auch jenes einer vergleichsweise ungesunden Wohnlage. »In einer Gesellschaft, die sich auf Solidarität und Chancengerechtigkeit beruft, ist der Erfolg von bevölkerungsbezogenen Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit auch daran zu messen, inwieweit alle angesprochenen Bevölkerungsgruppen erreicht werden und im besten Fall ein Beitrag zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit geleistet wird.«45 Gerade in den Reformen der Kranken- und Sozialversicherung und der Veränderung der Arbeitsmarktpolitik mit den Gesetzen zur Reform des Arbeitsmarktes (Hartz-Gesetze) im Rahmen der Agenda 2010 seit dem Jahre 2003, reagierte die staatliche Wohlfahrtsfinanzierung auf die Veränderungen im europäisierten und globalisierten Arbeitsmarkt. Diese stellten den Einzelnen (wieder) in die Pflicht, die Risiken der kapitalistischen Vergesellschaftung aus eigener Kraft zu bewältigen. Gleichzeitig wurde jedoch die Grundlage des ›Produktions-Konsumptions-Zyklus‹ in weiten Teilen Ostdeutschlands durch die treuhänderische Verwaltung des ehemaligen Volkseigentums, Produktivitätsdifferenzen und die geringe Konkurrenzfähigkeit auf den europäischen Märkten infrage gestellt. Vor allem für die ländlichen Räume, mit einer geringen Bevölkerungsdichte und einer vergleichsweise geringen Industrialisierungsrate im Nordosten Deutschlands, führte das zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen in den LPG-Nachfolgebetrieben und ließ die Beschäftigung im primären Sektor auf ein Zehntel der DDR-Verhältnisse sinken.46 Die Menschen und Arbeitnehmer verblieben damit in einem regionalen Vakuum, aus dem nur eine hohe Flexibilisierung des Lebensentwurfes teilweise heraushelfen konnte. Die Frage nach der Gesundheit muss damit in diesen Regionen lauten: Können dörfliche Vergemeinschaftungen soziale, kulturelle und wirtschaftliche Resilienzfaktoren bieten, die ökonomische und soziale Risiken der Peripherisierung ›strukturschwacher Gebiete‹ auszugleichen imstande sind? Der Zusammenhalt in der Gemeinde, der als eine geradezu notwendige Folge der hohen sozialen Dichte – und Kontrolle – im Dorf erscheinen kann, ist entsprechend dieser Analysen eine fragile soziale Konstruktion, die von Voraussetzungen abhängig ist, die nicht nur im Dorf selbst geschaffen werden. Die Gemeinde ist wie alle Sozialstrukturen der Moderne von Machtsphären politischer, kultureller und wirtschaftlicher Felder durchdrungen. Dabei sind diese nicht territorial an den Ort gebunden, sondern den Funktionszusammenhängen der Gesellschaft überantwortet. »Der Kapitalismus
45 T. Lampert/U. Koch-Gromus: Soziale Ungleichheit, S. 151. 46 Vgl. Land, Rainer: »Popular Culture im Ost-West-Vergleich – Von der LPG zur AgrarFabrik. Ein Literaturbericht«, in: Berliner Debatte INITIAL 11 5/6 (2000), S. 204–218, hier S. 216.
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nistet auch in der kleinsten Gemeinde, Säkularisierung und Individualisierung schleifen auch die Dorfkirchen und die Bauernfamilien.«47
4. LETHE: LEBENSQUALITÄT UND ERINNERUNG In diesem Problemfeld wurde an der Hochschule Neubrandenburg von 2013–2017 das Forschungsprojekt Lebensqualität und Erinnerung traditionell historischen Erbes in dörflichen Gemeinschaften (LETHE) entwickelt, das als Grundlagenarbeit für ein Modell zur Verbesserung der Selbstwirksamkeit die Lebenslagen älterer und alter Menschen in kleineren und kleinsten Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern angelegt war.48 Im Mittelpunkt stand dabei die Verbindung von lokalen, regionalpolitischen und Akteuren der Gesundheitsförderung in einer kulturhistorischen Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte einzelner Dörfer und deren Einwohner. Die damit verbundenen Faktoren zur Verstärkung der sozialen Kohärenz im sozialen Netzwerk und der systematischen Öffnung für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Daseinsvorsorge wurden als Modell eines gesundheitlichen und soziokulturellen Empowerments konzipiert und für die weitere Implementierung in der kommunalen Planung aufbereitet. Damit wurde ein Beitrag sowohl zu einem zentralen Problem der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen (Erreichbarkeit) als auch zur Klärung der gesundheitswissenschaftlichen Fragestellung der self-efficacy in sozialen Netzwerken geleistet. Wie sich gezeigt hat, ermöglichte dieser Zugang auf Gemeindeebene in Hinsicht auf die Gesundheitsförderung einen Wandel in zwei Dimensionen. Einerseits war mit der im Idealfall erreichten Verbesserung der Unterstützungs- und Wertschätzungsstrukturen in den Gemeinden während und in Anschluss an die Aktivierung LETHE ein Übertragungsprozess des symbolisierten kulturellen Kapitals auch auf die individuelle Kompetenzerweiterung zu erwarten. Auf dieser Ebene konnten durch den Gewinn an Kohärenzsinn,49 den Zuwachs in der Ge-
47 Willisch, Andreas: »Die Zukunft des Dorfes. Produktionszonen und periphere Menschen«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2008, S. 577–591, hier S. 577. 48 Vgl. J. Forkel/M. Grimm/T. Elkeles: Lebensqualität. 49 Vgl. Eriksson, Monica/Lindstrom J. Bengt: »Antonovsky’s sense of coherence scale and the relation with health: a systematic review«, in: Epidemiology and Community Health 60 (2006), S. 376–38; A. Antonovsky: Salutogenese.
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sundheitskompetenz50 und die frühzeitigere Inanspruchnahme von Hilfen Effekte für die Gesundheit und Lebensqualität auf der Individualebene in peripheren Wohnlagen erwartet werden. Die Intervention LETHE zielte jedoch nicht direkt auf die Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention im Gemeindesetting. Vielmehr werden mit dem Modell primär Strukturveränderungen intendiert, die Öffnungsprozesse in Gang zu setzen imstande sind, an die solche Maßnahmen anschließen können. So können andererseits mit der Stärkung des kommunalen Gemeinsinnes die Faktoren und dynamischen Wechselwirkungen im Sinne des ›Gesundheits-Krankheits-Kontinuums‹ auf kollektives Handeln unter Kontrolle der Habitus-Feld-Dimensionen übertragen werden.51 In diesem Verständnis stehen dann die Bezüge des Gesundheitsverhaltens in den Verhältnissen des Settings in einem beständigen kommunikativen Aushandlungsprozess, der über akkumuliertes kulturelles Kapital Übertragungen in das soziale und das Gesundheitshandeln ermöglicht. Die grundlegende Frage, die sich hinsichtlich der Lebensqualität in ländlichen Räumen in Nordostdeutschland stellte, war nicht primär eine nach den Möglichkeiten der Verbesserung der infrastrukturell marginalisierten Regionen, sondern die Frage nach der hohen Abhängigkeit von institutionalisierten Hilfestrukturen und die bekundete progressive Abschwächung der sozialen Kohärenz in der Nachwendezeit. Es musste ein Ansatz gefunden werden, der die bekanntermaßen kritischen ökonomischen und im interregionalen Vergleich homogenen Bedingungen vor Ort mit der konstatierten territorialen Ungleichheit auf einer intermediären Ebene zu untersuchen vermag. Angesichts der Reminiszenzen, Nostalgien und Beschönigungen der Vergangenheit in vorangegangen qualitativen Erhebungen im Untersuchungsgebiet52 lag eine Herangehensweise nahe, die diese Gemeinschaftsfiktionen und ihre Funktionen und Grenzen in den Blick nehmen konnte. 50 Vgl. Abel, Thomas/Sommerhalder, Kathrin: »Gesundheitskompetenz/Health Literacy. Das Konzept und seine Operationalisierung«, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 58/9 (2015), S. 923–929. 51 Das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wird von Antonovsky als HEDE-Kontinuum bezeichnet, welches sich aus dem Wortspiel mit der Silbe ›ease‹ (engl. erleichtern) des Wortes Disease (engl. Krankheit) die Bezeichnung von Gesunderhaltung »health-ease« (Gesundheit) und Krankheit »dis-ease« (Ent-Gesundung) ergibt; vgl. Antonovsky, Aaron: Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well, San Francisco: Josey Bass Publishers 1987; vgl. A. Franke: Modelle, S. 160. 52 Elkeles, Thomas/Beck, David/Beetz, Stephan/Forkel, Jens A./Hinz, Enrica/Nebelung, Christine: Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden (Landgesundheitsstudie – LGS): Abschlussbericht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Neubrandenburg: Hochschule Neubrandenburg 2010.
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So wurde unter der Grundannahme, dass die Feldausprägungen des sozialen und ökonomischen Kapitals in den sozialen Feldern des Dorfes nicht wesentlich differieren, eine Analyse zum kulturellen Kapital in ausgewählten Untersuchungsgemeinden konzipiert. Im Zugang zu den ausgewählten neun Gemeinden im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (Mecklenburg-Vorpommern) über die Bürgermeister und Gemeindenachmittage wurden Kontakte zu älteren Einwohnern (60+) geknüpft und 49 biographische Interviews zu den Erinnerungen an die Geschichte des Dorfes und an das Gemeindeleben geführt. Im Mittelpunkt standen das eigene Erleben in der Gemeinschaft und der Bezug der Eigengeschichte der Befragten auf die Dorfentwicklung. In den unterschiedlichen Gewichtungen der Lebensphasen und in den Altersübergangserzählungen wurde deutlich, dass in der Bilanz der narrativen Aufwertung des eigenen Lebens im biographischen Erzählen eine lokale Abwertung durch das Lebens- und Wohnumfeld entgegenstand, die nicht selten alltagspraktisch internalisiert war. Die Region und der Dorfzusammenhalt werden als defizitär erlebt – sei es im Rückblick auf die Rückständigkeit der ostelbischen Gutswirtschaft bis 1945 oder im Zuge der Peripherisierungen der Nachwendezeit, die das kollektive LPG-Leben beendeten. Vom beschönigenden Glück des bäuerlichen Landlebens ist oftmals nur noch die Natur geblieben.53 Dementsprechend war es ein Ziel des Projektes LETHE, aus der Arbeit in den Gemeinden und mit Bezug auf die Wertschätzung des Lebensraums Dorf eine öffentliche Aufmerksamkeit wiederherzustellen und damit auch die Lebensarbeitsleistung der Menschen in den Gemeinden sichtbar zu machen. Den Anreiz für eine aktive Beteiligung stellte eine gemeinsame überregionale Ausstellung zur Geschichte des dörflichen Lebens. Gemeinsam mit dem Regionalmuseum Neubrandenburg wurde nach Durchführung von sogenannten Geschichtswerkstätten in allen neun Untersuchungsgemeinden eine beachtete Wander-Ausstellung mit dem Titel Gut und Boden. Erinnern und Vergessen in dörflichen Gemeinschaften entworfen und gezeigt.54
53 Vgl. Forkel, Jens A./Grimm, Maureen: »Die Emotionalisierung durch Landschaft oder das Glück in der Natur. Lebenserfahrungen älterer Dorfbewohner in Mecklenburg-Vorpommern«, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 37 (2014), S. 251–266. 54 Die Wanderausstellung Gut und Boden. Erinnern und Vergessen in dörflichen Gemeinschaften wurde vom 4. Juni bis zum 31. Oktober im Regionalmuseum Neubrandenburg und auf der Burg Klempenow ausgestellt; Forkel, Jens A./Grimm, Maureen/Elkeles, Thomas: Gut und Boden. Erinnern und Vergessen in dörflichen Gemeinschaften. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Neubrandenburg: Hochschule Neubrandenburg 2016.
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Wie jedoch deutlich wurde, ist die longue durée (Braudel) der verschiedenen Herrschaftsformen von der Feudalherrschaft bis in den Frühkapitalismus im ländlichen ostdeutschen Zusammenhang kaum noch biographisch nachvollziehbar. Die, um auf den Zeitebenen Braudels zu bleiben, moyenne durée der Migrationsbewegungen und die Überprägung der Sozialstruktur durch die Bodenreform 1945, die (Zwangs-)Kollektivierung 1962 und die realsozialistische Vergesellschaftung in der ›Konsensdiktatur‹55 hinterließen eine familienbezogene Erinnerungsstruktur, deren Erzählort oftmals nicht mehr unmittelbar mit dem Dorf in Verbindung stehen muss. Die alten Erzähler vor Ort kommen auch durch die Abwanderungen aus dem Dorf kaum noch zum Erzählen für die Kinder und Enkel. Gleichwohl gibt es ein reiches Wissen um die Vergangenheit, das auf die Familie, die Nachbarn und die alten Familien im Dorf bezogen ist. Das Vergangene des Gemeinschaftlichen wird mit der Familie oder den Kollegen in Verbindung gebracht, nicht mit der Dorfgeschichte. Das ist in einer grundlegenden Veränderung des Kohärenzgefühls begründet, die durch die gesellschaftlichen Umbrüche der Nachwendezeit erklärt werden kann. Immer mehr verbleibt die jeweilige Gegenwart als soziales Defizit der Generation, deren Sozialisation, Gemeinschaftsdefinitionen und sozialen Netzwerke immer auch anderen Prinzipien des Sozialen unterworfen waren. Durch die völkische Umdeutung des Gemeinschaftlichen in der NS-Zeitzeugenschaft unserer Befragten wurde darüber hinaus der Konstitutionswillen eines »kollektiven Gedächtnisses«56 desavouiert – von der habituellen Praxis und Institutionalisierung als »kulturelles Gedächtnis«57 ganz zu schweigen.
55 Wie auch immer man zu diesem Oxymoron in der Begriffsgeschichte der Aufarbeitung der DDR-Geschichte stehen mag, vereinheitlicht es doch eine Einsicht in politische Dynamisierung des Sozialen in der DDR mit einer diskursorientierten Semantik der Verständigung mit dem Vergangenen. Vgl. Sabrow, Martin: »Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive«, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 83–118; Rehberg, Karl-Siegbert: »›Konsensdiktatur‹. Zu Wandlungen der DDR-(Kultur-)Politik in der Honecker-Ära«, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Essbach, München: Fink 2004, 139–164. 56 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Fischer 1991. 57 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2007; Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek: Rowohlt 1995.
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Die ›fließende Lücke‹58 (the floating gap) zwischen diesen Formen des Gedächtnisses wird auch damit und gerade in strukturschwachen Regionen mit demographischen Effekten immer wieder spürbar. Die Fragestellung, die aus diesen Erkenntnissen des dörflichen Lebensraumes in Bezug auf ein gesundheitsförderliches Lebensumfeld angesichts der territorialen Ungleichheit zu ziehen war, lag in einer Neubewertung der Indikatoren für die Elemente einer integrierten Gesundheitsförderung. Oft wird hinsichtlich des Rückzugs der Institutionen der Daseinsvorsorge die zivilgesellschaftliche Verantwortung in den Vordergrund gerückt. Aus diesem circulus virtuosus von Risiko und Sorge ist jedoch bei näherer Betrachtung kaum auszubrechen, wenn man die Reproduktionsbedingungen einer kollektiven Arbeit am kulturellen Kapital nicht wieder mehr in den Fokus der Modelle der Gesundheitsförderung rückt. Denn obwohl im effizienzbestimmten Säkularisat der Gesundheitsprofession auch der höchste medizinische Gesundheitsgewinn im Krankheitsfall zu erwarten ist, sind die sozialen Dimensionen von Gesundheit nicht in einer Soziodizee transzendent, sondern werden diskursiv reproduziert. Erst mit der Wiederherstellung einer kulturell integrierten Öffentlichkeit auf lokaler Ebene kann das öffentliche Interesse an der Gesundheit und damit deren mögliche Verbesserung auf neue Anreize und Kohärenzsinn hoffen.
58 Vgl. Vansina, Jan: Oral Tradition as History, Madison: University of Wisconsin Press 1985, S. 23f.
Religionssensible Behandlungen: Einbeziehung oder Ausschluss spiritueller Methoden? Michael Utsch
1. S TIEFKIND RELIGIONSPSYCHOLOGIE –
GLAUBE ALS RESSOURCE
Zwei Gründerväter der amerikanischen Psychologie, William James und Stanley Hall, waren sehr an religionspsychologischen Fragen interessiert; sie forschten und publizierten schon am Anfang des 20. Jahrhunderts darüber. Eine institutionelle Verankerung erhielt die Religionspsychologie, als im Jahr 1946 von einem Jesuiten die »American Catholic Psychological Association« mit dem Ziel gegründet wurde, Katholiken mit der Psychologie vertraut zu machen und eine Psychologie aus katholischer Weltsicht zu entwickeln. Später schloss sich dieser Verein dem Fachverband der amerikanischen Psychologen an (APA, »American Psychological Association«). Heute trägt diese Fachgruppe als »Division 36« den Namen »Society for the Psychology of Religion and Spirituality« und hat mittlerweile über 2.000 Mitglieder.1 Die Fachgruppe gibt einen kostenlosen Newsletter und die Mitgliedszeitschrift »Psychology of Religion and Spirituality« heraus und ist mit religionspsychologischen Symposien an den halbjährlichen APA-Kongressen beteiligt. Neben der Mitgliederzeitschrift erscheint seit 2013 vierteljährlich das Journal »Spirituality in Clinical Practice«. Die Fachzeitschrift will spirituell orientierte und religionssensible Psychotherapien fördern. Ein Schwerpunkt liegt auf spirituell orientierten Interventionen in Psychotherapie, Beratung und Coaching. Derartige Ansätze gibt es auch in Europa. Von der Marmara-Universität in 1 Vgl. American Psychiatric Association: »Division 36«, www.apadivisions.org/division-36, 21.02.2019.
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Istanbul wird seit dem Jahr 2016 die Zeitschrift »Spiritual Psychology and Counseling« halbjährlich in englischer Sprache mit ähnlicher Zielsetzung, aber primär islamischer Perspektive herausgegeben.2 Was aus deutscher Sicht in einer eher säkularen Perspektive verwundern mag: Systematische Meta-Studien verweisen mit empirischer Evidenz auf die Wirksamkeit religionsangepasster Therapiemethoden hin. Religiös-spirituelle Interventionen können offensichtlich bei bestimmten Störungen durchaus nachweisbare Effekte erzielen. Eine methodisch strenge Auswertung von 11 Studien kommt zu dem Schluss, dass Psychotherapie mit integrierter Religiosität bei der Behandlung von Depressionen und Angststörungen mindestens so wirksam ist wie säkulare Formen der gleichen Psychotherapie.3 Eine aktuelle Meta-Studie, in der 97 Einzelstudien ausgewertet wurden, weist auf eine bessere Wirksamkeit von Behandlungen hin, wenn bei gläubigen Patienten ihre Religion oder Spiritualität mit einbezogen wird.4 Auch in Deutschland, wo religiöser Glaube in Fachkreisen früher eher pathologisiert wurde, kann Spiritualität inzwischen als eine Ressource angesehen werden.5 Um die Wirksamkeit spirituell orientierter Psychotherapien besser zu verstehen, werden zurzeit in einem dreijährigen Forschungsprojekt weltweit Therapeuten untersucht, die spiritualitätsintegrierende Behandlungen durchführen. Das Ziel des Projektes besteht darin, spiritualitätsangepasste Therapien in das Zentrum der Gesundheitsversorgung zu integrieren.6 2 Vgl. http://spiritualpc.net/, 21.02.2019. 3 Vgl. Anderson, Naomi/Heywood-Everett, Suzanne/Siddiqi, Najma/Wright, Judy/Meredith, Jodi/McMillan, Dean: »Faith-adapted psychological therapies for depression and anxiety: Systematic review and meta-analysis«, in: Journal of Affective Disorders 176 (2015), S. 183–196. 4 Vgl. Captari, Laura E./Hook, Joshua N./Hoyt, William/Davis, Don E./McElroy-Heltzel, Stacey E./Worthington, Everett L.: »Integrating clients’ religion and spirituality within psychotherapy: A comprehensive meta-analysis«, in: Journal of Clinical Psychology 74 (2018), S. 1938–1951. 5 Vgl. Utsch, Michael: »Spiritualität als Ressource«, in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 48/4 (2016), S. 863–873; Zwingmann, Christian/Hodapp, Bastian: »Religiosität/Spiritualität und psychische Gesundheit: Zentrale Ergebnisse einer Metaanalyse über Studien aus dem deutschsprachigen Raum«, in: Spiritual Care 7/1 (2018), S. 69–80. 6 Vgl. Richards, P. Scott/Sanders, Peter W./Lea, Troy/McBridge, Jason A./Allen, G.E. Kawika: »Bringing Spiritually Oriented Psychotherapies Into the Health Care Mainstream: A Call for a Worldwide Collaboration«, in: Spirituality in Clinical Practice 2/3, (2015), S. 169–179.
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Im Kontext religiöser Lebensdeutungen bedeutet Gesundheit sowohl Geschenk als auch Verpflichtung. Einerseits weiß sich der Gläubige abhängig von der Schöpfer- und der Erhalterkraft Gottes, dem alles Gute entspringt. Krankheiten wird mit erwartungsvollen Bittgebeten begegnet: »Hilf Christus, du allein bist unser Arzt!«, lautete ein Gebetsruf der frühen Christen.7 Christus Medicus – auch in anderen Religionen und Weltanschauungen wird die Heilkraft des Vertrauens und Glaubens hervorgehoben. Der folgende Beitrag behandelt deshalb zunächst allgemein das Gesundheitsangebot der Religionen. Andererseits kann aus hoffnungsvollem Vertrauen auch ein Anspruchsdenken entstehen oder ein religiöser Erwartungsdruck aufgebaut werden. Eine verkürzte »Wellness-Theologie« ist mit einem Zwang zur Gesundheit verknüpft, nach der ›richtig‹ Glaubende ein Recht und Anspruch auf Gesundheit haben. Um sich dem Diktat medizinischer Optimierungsmodelle zu entziehen, hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Markt komplementärer und alternativer Gesundheitsangebote gebildet, der nicht nur körperliche Gesundheit, sondern seelische Ganzheit ins Auge fasst. Der dritte Abschnitt beschreibt diesen Weltanschauungskampf zwischen Schul- und Komplementärmedizin. Schließlich wird diskutiert, unter welchen Voraussetzungen spirituelle Methoden in eine fachliche Behandlung mit einbezogen werden können.
2. R ELIGIÖS-CHRISTLICHE GESUNDHEITSANGEBOTE Lange bevor die Medizin sich der spirituellen Dimension des Krankseins zugewandt hat, haben die Kirchen auf die heilenden Wirkungen von Gottesdiensten, Sakramenten und kirchlicher Gemeinschaft gesetzt. In Großbritannien gibt es seit über 100 Jahren eine Heilungsbewegung in den Kirchen, die den Heilungsauftrag Jesu sehr ernst nimmt. In der anglikanischen Tradition existiert seit jeher ein intensiver Dialog zwischen Medizinern und Theologen. Im anglo-katholischen Bereich entstanden Geschwisterschaften des Heilungsdienstes, seit 1915 etwa die ›St. Raphael-Gilde‹.8 In den USA wurde 1932 der ›Lukas-Orden‹ gegründet.9 Er verfolgt das Ziel, Gesundheitsfachkräfte und Krankenhausseelsorger zu einer ordensähnlichen Gebets- und Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen. Es ging ihm um die Wiederbelebung des urchristlichen Heilungsauftrags der Kirche, den sie durch Fürbitte für die Kranken und die biblische Handauflegung in enger Zu7 Vgl. Gollwitzer-Voll, Woty: Christus Medicus – Heilung als Mysterium, Paderborn: Schöningh 2007. 8 Vgl. www.guild-of-st-raphael.org.uk, 21.02.2019. 9 Vgl. www.orderofstluke.org, 21.02.2019.
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sammenarbeit mit Psychiatern, Ärzten und Psychologen pflegten. Noch heute ist die Vereinigung in den USA mit über 7.500 Mitgliedern aktiv. Der starke gesellschaftliche Trend zu Gesundheitsoptimierung und Wellness hat die Kirchen weiterhin beschäftigt und angeregt, eigene Initiativen auf den Weg zu bringen. Die Anglikanische Kirche von England beauftragte eine Kommission von Experten aus Theologie, Kirche, Gemeinden und Medizin, eine Dokumentation zum Heilungsauftrag und -dienst der Kirchen zu erstellen, die im Jahr 2000 unter dem Titel »A time to heal« veröffentlicht wurde.10 Neben theologischen Grundlagen der Heilung werden dort zahlreiche Möglichkeiten und Praktiken kirchlicher Heilungsdienste in Gottesdiensten, Ritualen und Gebeten dargestellt. Diese umfassende ökumenische Studie wurde auch in Deutschland aufmerksam rezipiert und ihre Impulse aufgegriffen.11 Aus ärztlicher Sicht erfordern hochreligiöse Patienten eine besondere Sensibilität. Häufig wenden sie sich wegen ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber vermeintlich religionsfeindlichen Therapeuten zunächst an den Leiter ihrer religiösen Gemeinschaft, um dort Hilfe zu holen.12 Deshalb hat die American Psychiatric Association eine »Mental Health and Faith Community Partnership« ins Leben gerufen und eine Arbeitsgruppe eingesetzt.13 Diese hat für die Leiter und Seelsorger religiöser Gemeinschaften einen Ratgeber verfasst, wie angemessen mit psychischen Erkrankungen umzugehen ist. Ein neues Handbuch vermittelt auch in deutscher Sprache psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge und stellt damit eine hilfreiche Brücke für die bessere Zusammenarbeit zwischen pastoraler und psychologischer Begleitung zur Verfügung.14 Die Zusammenarbeit von ärztlicher und pastoraler Betreuung verläuft häufig nicht so reibungslos, wie es aus Patientensicht wünschenswert wäre. Zu unter10 Vgl. Church of England/House of Bishops of the General Synod (Hg.): A Time to Heal. A Report for the House of Bishops on the Healing Ministry, London: Church House Publ. 2001. 11 Vgl. Köller, Reinhard/Schiffner, Georg (Hg.): Christliche Heilkunde – Zugänge, Ahnatal: Fornacon 2011. 12 Vgl. Stephan, Valeska/Utsch, Michael: »Der Einfluss von Religiosität auf die Bereitschaft, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen«, in: Spiritual Care 6/1 (2017), S. 57–68; Balci-Sentürk, Emine/Freund, Henning: »Zum Imam oder zum Psychotherapeuten? Das Hilfesuchverhalten von Personen muslimischen Glaubens in psychosozialen Krisen«, in: Spiritual Care 7/1 (2018), S. 45–56. 13 Vgl. American Psychiatric Association: »Mental Health. A Guide for Faith Leaders«, www.psychiatry.org/faith, 16.6.2016. 14 Vgl. Sautermeister, Jochen/Skuban, Tobias (Hg.): Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Freiburg: Herder 2018.
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schiedliche Menschenbilder, Gesundheitsideale, Behandlungsmethoden, fachliche Rivalitäten und Ausbildungstraditionen stoßen hier aufeinander. Zahlreiche Initiativen versuchen inzwischen, Brücken zwischen Medizin und Theologie zu bauen und die Krankenversorgung in interdisziplinärer Kollegialität zu optimieren. Allerdings sind Kompetenzstreitigkeiten um die angemessene spirituelle Begleitung zwischen pastoraler und ärztlicher »Spiritual Care« längst noch nicht geklärt.15 In Deutschland wurde in der Berliner Landeskirche Pionierarbeit geleistet, indem sie die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Seelsorge förderte und unterstützte. Im Jahr 1925 rief Dr. Carl Gunther Schweitzer, damals Direktor im Zentralausschuss für Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche und zugleich Leiter der »Apologetischen Centrale« in Berlin, mit einigen anderen Theologen und Medizinern die Arbeitsgemeinschaft »Arzt und Seelsorger« ins Leben. Schon damals waren sich die Initiatoren darüber einig, dass »beide, Mediziner und Theologen, infolge langer Gewöhnung vielfach nur noch die eigene, aber nicht auch die Sprache des anderen verstehen. So wird es auf beiden Seiten der Geduld und der Einführung bedürfen, ehe wir uns miteinander verständigen«.16 Bis 1932, als die Berliner Arbeitsgemeinschaft ein Opfer des Nationalsozialismus wurde, fanden gut besuchte Begegnungstagungen statt. 25 Hefte einer gleichnamigen Schriftenreihe belegen die regen Aktivitäten an Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Tagungen dieser Initiative. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete Wilhelm Bitter die »Stuttgarter Gemeinschaft Arzt und Seelsorger« mit ähnlicher Zielsetzung, die vielbeachtete Tagungen durchführte.17 Seit einiger Zeit gibt es in Berlin wieder eine Arbeitsgemeinschaft von Ärzten, Religionswissenschaftlern und Geistlichen verschiedener Religionen, die an dieser Schnittstelle arbeiten.18 Nach dem Krieg wurde die Berliner Arbeitsgemeinschaft von Medizinern und Theologen bis 1961 weitergeführt. Allerdings stellte der Berliner Pfarrer Ernst Jahn (1965) im Rückblick gravierende Unterschiede in der Herausforderung für die Seelsorgearbeit zwischen der Vor- und der Nachkriegszeit fest: »Die Leitge15 Vgl. Nauer, Doris: Spiritual Care statt Seelsorge?, Stuttgart: Kohlhammer 2015. 16 Jahn, Ernst: Geschichte und Problematik der Arbeit. 40 Jahre Berliner Arbeitsgemeinschaft Arzt und Seelsorger. (= Berliner Hefte zur Förderung der evangelischen Krankenseelsorge, Bd. 18), Berlin: Evangelisches Konsistorium Berlin-Brandenburg, Generalkonvent für Krankenseelsorge 1965, S. 20. 17 Vgl. Bitter, Wilhelm (Hg.): Psychotherapie und religiöse Erfahrung, Stuttgart: Klett 1965. 18 Vgl. Mönter, Norbert (Hg.): Seelische Erkrankung, Sinndeutung und Religion, Bonn: Psychiatrie-Verl. 2007; Mönter, Norbert/Heinz, Andreas/Utsch, Michael (Hg.): Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie. Basiswissen und Praxis-Erfahrungen, Stuttgart: Kohlhammer 2019.
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danken der einstigen Gemeinschaft entstanden in der apologetischen Zentrale, und sie waren deshalb auch apologetisch bestimmt. Es ging in erster Linie um die Abwehr einer materialistischen Auffassung der Menschenseele und um die Hinkehr zu einem christlichen Menschenbild«.19 Nach dem Krieg sei jedoch mit dem Aufkommen der Dialektischen Theologie ein neuer Ausgangspunkt geschaffen worden. Man versuchte hier nicht, das christliche Menschenbild apologetisch zu stützen, sondern sie ging von der Voraussetzung aus, dass jede menschliche Existenz Gott unterstehe. Zudem hat sich das weltanschauliche Klima der Seelenforschung verändert. Jahn weist hier neben anderem auf die »Medizin der Person« von Paul Tournier hin, der in seinem Modell Raum für – zeitgenössisch ausgedrückt – die spirituelle Dimension lässt. In der Tat fand der Schweizer Arzt Paul Tournier in der Technik der Psychoanalyse eine Unterstützung für den christlichen Glauben, die mit ihren Methoden der Glaubensumsetzung nützlich sein könne. Aufgrund seiner großen ärztlichen und seelsorgerischen Erfahrung kam er zu der Einsicht, dass es im geistlichen Leben viele Ereignisse gebe, »die Menschen Gott zuschreiben, während sie doch durch die Funktionen des Unbewussten bestimmt werden«.20 Mithilfe der Psychoanalyse sei es vielmehr möglich, die persönlichen psychologischen Motive aufzudecken, die einen Menschen in Wirklichkeit beherrschten und »das völlige Gegenteil eines Rufes des Geistes sind«.21 Tournier zählt zu den Schweizer Pionieren einer Integration von Psychotherapie und Seelsorge. In reger Vortragstätigkeit und durch viele Bücher begründete er eine personale Ganzheitsmedizin, die den persönlichen Glauben des Patienten und des Arztes mit einbezieht. Sein Ansatz wird bis heute durch internationale Jahrestagungen und eine wissenschaftliche Zeitschrift fortgeführt.22 Aus heutiger Sicht sind derartige Ansätze einer christlich-ganzheitlichen Heilkunde wie die »Medizin der Person« eines Paul Tournier eine Randerscheinung geblieben. Viel stärker als auf die christliche Lehre vom Menschen beziehen sich gegenwärtig populäre Gesundheitsansätze entweder auf esoterische (»Geistheilung«) oder auf buddhistische (»Achtsamkeit«) Leitbilder. Vor allem Ansätze buddhistischer Psychologie ziehen seit einigen Jahren hohe Aufmerksamkeit auf sich. Unter Therapeuten wird der Buddhismus geschätzt, weil er den weit verbreiteten narzisstischen Störungen etwas entgegensetzen kann. Das buddhistische Geistestraining stellt Möglichkeiten zur Überwindung von ungesunden Selbstkonzeptionen zur Verfügung, durch die egoistische Motive unwichtiger werden 19 E. Jahn: Geschichte und Problematik, S. 24. 20 Tournier, Paul: Technik und Glaube, Tübingen: Furche-Verl. 1947, S. 57. 21 Ebd., S. 56. 22 Vgl. www.medecinedelapersonne.org, 21.02.2019; www.ijpcm.org, 21.02.2019.
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und das Selbst-Mitgefühl wachsen kann. Mittlerweile ist eine zweite Welle der Buddhismus-Rezeption in der Psychotherapie zu beobachten. Während die erste Welle in den 1990er Jahren insbesondere die Achtsamkeitspraxis mit ihren therapeutischen Möglichkeiten in den Mittelpunkt stellte, richtet sich das Interesse der gegenwärtigen zweiten Welle stärker auf die verändernde Kraft des Mitgefühls und der Entwicklung von Weisheit.23 Von einer islamischen Psychologie ist im deutschen Sprachraum bisher wenig zu finden, obwohl die muslimische Seelenkonzeption zahlreiche psychologische Implikationen mitführt und die muslimische Glaubenspraxis therapeutische Ziele verfolgt. Aber auch hier gibt es neue Ansätze.24 Als ein Hauptproblem erweist sich, dass viele praktizierende Muslime Vorbehalte gegenüber psychologischen Behandlungen haben, weil sie befürchten, ihr Glaube könnte dadurch Schaden nehmen.25 Die doppelte apologetische Herausforderung, die die Berliner Arbeitsgemeinschaft »Arzt und Seelsorger« verfolgte, hat sich bis heute nicht verändert. Alle »spirituellen« Gesundheitsangebote eint die Sorge um die Seele in einer technikdominierten »Apparatemedizin«. Und bei aller Euphorie über die empirisch belegten Gesundheitseffekte positiver Religiosität und Spiritualität darf jedoch auch ihr Negativ- oder Missbrauchspotenzial nicht vergessen werden. Glaube ist zugleich Ressource und Risiko, könnte man zugespitzt formulieren. Darüber hinaus unterscheiden sich die Annahmen und Praktiken des Glaubens stark voneinander. Es darf nicht übersehen werden, wie unterschiedlich etwa buddhistische, esoterische, humanistische und christliche Sterbebegleitung praktiziert wird. Die apologetische Perspektive ist auch deshalb wichtig, weil die Beantwortung existenzieller Grundsatzfragen, die ja in jedem Gespräch zwischen Medizin und Theologie berührt werden, eine weltanschauliche Position voraussetzt. Für einen gelingenden Dialog ist die Reflexion und Offenlegung des eigenen Stand23 Vgl. Anderssen-Reuster, Ulrike/Meibert, Petra/Meck, Sabine (Hg.): Psychotherapie und buddhistisches Geistestraining. Methoden einer achtsamen Bewusstseinskultur, Stuttgart: Schattauer 2013. 24 Vgl. Kaplick, Paul M./Rüschoff, Ibrahim: »Islam und Psychologie in Großbritannien, den USA und Deutschland«, in: Wege zum Menschen 70/1 (2018), S. 78–88; Rüschoff, Ibrahim/Kaplick, Paul M. (Hg.): Islam und Psychologie: Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis, Münster: Waxmann 2018. 25 Vgl. Stephan, Valeska/Utsch, Michael: »Der Einfluss von Religiosität auf die Bereitschaft, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen«, in: Spiritual Care 6/1 (2017), S. 57–68; Balci-Sentürk, Emine/Freund, Henning: »Zum Imam oder zum Psychotherapeuten? Das Hilfesuchverhalten von Personen muslimischen Glaubens in psychosozialen Krisen«, in: Spiritual Care 7/1 (2018), S. 45–56.
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punkts unabdingbar. Wird dieser Schritt kritischer Reflexion übergangen, kann eine medizinische Behandlungsmaßnahme durch ein weltanschauliches System vereinnahmt werden.
3. Z UM WELTANSCHAUUNGSKAMPF ZWISCHEN SCHUL- UND KOMPLEMENTÄRMEDIZIN Der anhaltende Boom der Alternativmedizin ist nicht neu. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts gab es in Deutschland mehr nicht-ärztliche Naturheiler als Ärzte. Dieser Trend hat in den letzten Jahren weiter zugenommen, weil immer mehr Schulmediziner ergänzend andere Verfahren anbieten. Nach Angaben der Gesundheitsberichterstattung soll sich in den vergangenen zehn Jahren die Anzahl der Ärzte, die als Zusatzbezeichnung »Homöopathie« oder »Naturheilkunde« führen, fast verdoppelt haben. Für das weite Feld der Alternativmedizin gibt es unterschiedliche Bezeichnungen: Volks-, Erfahrungs- oder traditionelle Medizin, holistische oder Ganzheitsmedizin, unkonventionelle Heilweisen oder Komplementärmedizin. Alternativmedizinische Verfahren stellen im Grunde die Wiege der wissenschaftlichen Medizin dar. Denn bevor sich die akademische Schulmedizin in der Mitte des 19. Jahrhunderts konstituierte, gab es ein weites Spektrum von Heilern, im dem sich Quacksalber und Scharlatane mit erfahrungskundigen Apothekern und geschickten Chirurgen bunt mischten. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation steigt die Zahl der Nutzer von Angeboten alternativer Medizin und Naturheilkunde in den westlichen Industrienationen stetig an. So haben 70 Prozent der Kanadier, 49 Prozent der Franzosen und 42 Prozent der US-Amerikaner schon mindestens einmal im Leben Erfahrungen mit alternativen Heilungsmethoden gemacht.26 Nach einer Allensbach-Umfrage halten 76 Prozent der Deutschen die Alternativmedizin für wirksam, auch wenn man ihre Effekte wissenschaftlich nicht erklären könne.27 Kinesiologie, Elektroakupunktur, Bach-Blütentherapie oder Heiledelsteine – die Verfahren sind vielfältig und vermischen wissenschaftliche Erkenntnisse mit esoterischen oder asiatischen Weisheiten.28 26 Vgl. Marstedt, Gerd/Moebus, Susanne: Inanspruchnahme alternativer Methoden in der Medizin, Berlin: Robert-Koch-Inst. 2002. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. Hero, Markus: »Der Markt für spirituelles Heilen«, in: Hendrick Berth/Friedrich Balck/Constantin Klein (Hg.), Gesundheit, Religion, Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze, Weinheim: Juventa 2011, S. 149–162.
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Soziologen bezeichnen dieses Feld alternativer Bildung und Gesundheitsvorsorge als »holistisches Milieu«.29 Damit beschreiben sie die wachsende Nachfrage von Menschen, die umfassend alternativ-therapeutisch und spirituell beraten, behandelt und geheilt werden wollen. Nach einer repräsentativen Befragung in Österreich haben 56 Prozent der Befragten mindestens eine Erfahrung mit einer ganzheitlichen Praxis, 27 Prozent mit drei oder mehr Praktiken. Das Feld dieser Pilotstudie über das »holistische Milieu« wurde bewusst weit abgesteckt und reichte von Yoga und Meditation über Homöopathie, Familienaufstellung und Akupunktur bis hin zu Reiki, Astrologie und Schamanismus. In einem aktuellen Fachbuch über Rituale in der Psychotherapie werden vier Hauptströmungen für spirituelle Heilmethoden vorgestellt, die mittlerweile herkömmliche psychotherapeutische Ansätze ergänzen: schamanische, buddhistische, Quantenheilungs- und hawaiianische Heilrituale.30 Das Interesse an alternativer, spiritueller Lebenshilfe ist ungebrochen groß: Ein Drittel des Buchhandels-Umsatzes in der Kategorie »Ratgeber« fällt in die Kategorie »Gesundheit – Spiritualität – Lebenshilfe«.31 Buddhistische Mönche, westliche Satsang-Meister, Expertinnen feinstofflicher Energien und hellsichtige Medien leiten zwischen zwei Buchdeckeln mit konkreten Tipps zur Alltagsbewältigung an. Nüchterne Zahlen der »Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus)«32 bestätigen den Trend zum Irrationalen. Mehr als die Hälfte der Befragten ist aufgeschlossen gegenüber Anthroposophie und Theosophie, jeder vierte Befragte ist offen gegenüber Wunder- und Geistheilern, und 40 Prozent äußern Sympathie für Astrologie oder New Age. Auch ReligionswissenschaftlerInnen beobachten auf dem florierenden Markt spiritueller Gesundheitsangebote eine weit verbreitete Suche nach Sinn und existentieller Orientierung.33
29 Vgl. Höllinger, Franz/Tripold, Thomas: Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur, Bielefeld: Transcript 2012. 30 Vgl. Brentrup, Martin/Kupitz, Gaby: Rituale und Spiritualität in der Psychotherapie, Göttingen: Vandenheock & Ruprecht 2015. 31 Vgl. Conrad, Ruth/Kipke Roland (Hg.): Selbstformung. Beiträge zur Aufklärung einer menschlichen Praxis, Münster: mentis 2015, S. 102. 32 Vgl. https://www.gesis.org/allbus/inhalte-suche/studienprofile-1980-bis-2016/2012, 21.02.2019. 33 Vgl. Lüddenkens, Dorothea/Walthert, Rafael (Hg.): Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel, Bielefeld: Transcript 2010; Klinkhammer, Gritt/Tolksdorf, Eva (Hg.): Somatisierung des Religiösen. Empirische Studien zum rezenten Heilungs- und Therapiemarkt, Bremen: Universität Bremen 2015.
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In der Alternativmedizin wird behauptet, durch die Seele den Körper heilen zu können. Als (häufig allzu simples) Störungs- und Behandlungsmodell wird dabei folgende Annahme zugrunde gelegt: Von Natur aus sind Körper und Seele gesund, aber die Umwelt bzw. die Erziehung haben Schäden verursacht. Bestimmte Psychotechniken oder weltanschauliche Heilriten sollen nun dem Anwender Einstellungen und Haltungen vermitteln bzw. den Körper so beeinflussen, dass sich vorhandene »Blockaden« auflösen und die Selbstheilungskräfte der Seele und des Körpers aktiviert werden. Alternative Heilverfahren gründen auf einer bestimmten Weltanschauung. Kommt ein derartiges Verfahren zur Anwendung, so werden auch seine Werte, Ideale und seine Ethik mit übermittelt. Zugespitzt könnte man sagen: In der Weltanschauung ist das Wirkprinzip eines alternativen Heilverfahrens verborgen. In der Regel widersprechen die Weltbilder der Alternativmedizin dem wissenschaftlichen Weltbild der Moderne. Diesen vormodernen Weltbildern entnehmen die Heilpraktiker vertrauensvoll ein Wissen, das gesunde Lebensführung vermittelt und (Selbst-)Heilungsprozesse in Gang setzen soll. Der seit Jahrzehnten leidenschaftlich ausgefochtene Kampf zwischen einer wissenschaftlichen »Apparatemedizin« und einer alternativen »Ganzheitsmedizin« offenbart die Grenzen einer einseitigen Sicht- und Vorgehensweise: hier immer mehr Spezialwissen und Detailinformationen, aber auch beängstigende Nebenwirkungen und der Verlust menschlicher Würde, dort erstaunliche Heilerfolge, aber auch schwammige Begrifflichkeiten und keine überprüfbaren Wirksamkeitsnachweise.34 Dennoch spricht vieles dafür, dass Weltanschauungen und Lebensdeutungen ein Heilungspotential enthalten. Die »Kraft der Wirklichkeitsdeutung« kann natürlich auch zu eigenen Zwecken missbraucht werden – die Medizingeschichte ist voll von Beispielen, in denen Quacksalber und Kurpfuscher in einer krankheitsbedingten Notlage als skrupellose Geschäftemacher zur Stelle waren und Hilfsbedürftigkeit und Gutgläubigkeit schamlos ausnutzten. Bis heute lässt sich mit vollmundigen Gesundheitsversprechen viel Geld verdienen. An der Schnittstelle von wissenschaftlich begründeten Heilverfahren und weltanschaulichen Heilsversprechen erhält das zugrundeliegende Weltbild eine zentrale Funktion. Gerade bei alternativen Heilverfahren ist es ratsam, die weltanschaulichen Hintergründe genauer anzuschauen und zu prüfen, ob sie mit dem eigenen Weltbild übereinstimmen. Wenn Heilung von der Übernahme dieses Weltbildes abhängig gemacht wird, sollte es der eigenen Anschauung entsprechen. Neuere Studien zur Wirksamkeitsforschung der Alternativmedizin weisen 34 Vgl. Hoefert, Hans-Wolfgang/Uehleke, Bernhard: Komplementäre Heilverfahren im Gesundheitswesen, Bern: Huber 2009.
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unmissverständlich darauf hin, dass dem gemeinsamen Weltbild von Therapeut und Patient ein enormes Heilungspotential zukommt, das zu nutzen sich lohnt. Es ist sehr zu begrüßen, in der akademischen Ausbildung die vernachlässigten kulturellen Aspekte der Heilkunde zu schulen, die sprechende Medizin zu stärken und damit dem Machbarkeitsdenken der Apparatemedizin zu trotzen. Medizin als eine anthropologische Disziplin zu begreifen, wie es den Initiatoren dieses Studienganges vorschwebt, ist zukunftsweisend. Anregende Brückenschläge zwischen Psychosomatik und Anthropologie liegen bereits vor.35 Aufgrund der esoterischen Schwerpunkte wird jedoch auf dem alternativen Gesundheitsmarkt häufig ein einseitiges Menschenbild vermittelt, dass nur eine bestimmte Klientel anspricht. Ein stärker kultursensibles Vorgehen würde auf die »Weltbildkongruenz« zwischen Behandler und Klient achten und diese wichtige Dimension als einen salutogenen Faktor mit einbeziehen.36 Eine weltanschauliche Glaubensüberzeugung enthält als allgemeiner Wirkfaktor ein häufig übersehenes Heilungspotential. Deshalb eröffnet ein gemeinsames Weltbild von Therapeut und Patient Heilwirkungen, die weit über die Möglichkeiten der Schulmedizin hinausgehen können. Um diese Ressource zu nutzen, sind die Reflexion und Mitteilung des Weltbildes seitens der Behandelnden sowie eine religiös-spirituelle Anamnese beim Patienten unverzichtbar. In der Religionspsychologie hat sich in den letzten Jahren ein Forschungsschwerpunkt »Religion und Gesundheit« herausgebildet, weil die Forscher immer häufiger erkannten, dass eine positive Spiritualität sich förderlich auf die Krankheitsbewältigung auswirkt und der Gesundheitsprophylaxe dient. Neuere amerikanische Studien weisen darauf hin, dass sich bestimmte Glaubenshaltungen heilsam sowohl auf körperliche Krankheiten, psychische Störungen als auch seelische Erkrankungen auswirken. Religiöse Heilweisen sind die Vorläufer der heutigen Medizin und Psychotherapie. Unsere Kulturen verfügen über einen reichen Erfahrungsschatz an religiöser Heilkunde – in den Naturreligionen, buddhistischen Versenkungsmethoden und der chinesischen Medizin, im Christentum und der Naturheilkunde. Spätestens seitdem der Kardiologe Herbert Benson 1988 die erste Mind-Body-Klinik 35 Vgl. Beck, Matthias: Seele und Krankheit. Psychosomatische Medizin und theologische Anthropologie, Paderborn: Schöningh 2000; Frick, Eckhard: Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium, Stuttgart: Kohlhammer 2009; Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart: Kohlhammer 52016. 36 Vgl. Jeserich, Florian: »Spirituelle/religiöse Weltanschauungen als Herausforderung für unser Gesundheitswesen«, in: Raymond Becker u.a. (Hg.), ›Neue‹ Wege in der Medizin. Alternativmedizin – Fluch oder Segen?, Heidelberg: Winter 2010, S. 203–228.
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in den USA gründete, interessiert sich auch hierzulande die Schulmedizin für komplementärmedizinische Angebote: Akupunktur wird erfolgreich zur Schmerzbekämpfung eingesetzt, Yoga zur Stressreduktion, und immer öfter finden Homöopathika zur Eigenbehandlung leichter Erkrankungen dankbare Nutzer. Dabei versteht sich die moderne Mind-Body-Medizin ausdrücklich nicht als Alternative zur konventionellen Medizin, sondern als ihre Ergänzung. Forscher erhoffen sich dadurch ein besseres, ganzheitliches Verständnis von Erkrankungs- und Heilungsprozessen. Glaube und Heilung, Spiritualität und Psychotherapie waren bis in das 17. Jahrhundert untrennbar miteinander verknüpft. Schon im Altertum waren die Heiler Angehörige der Priesterklasse. Im Mittelalter wurde der Arztberuf von der Geistlichkeit ausgeübt. Mönche gründeten die ersten Hospitäler, und Diakonissen prägten über Jahrhunderte das Leitbild für Diakonie und Pflege. Früher wurden religiöse Übungen und Rituale wie Opfer, Anbetung oder Beichte gezielt zu physischen und psychischen Heilzwecken eingesetzt. Heute untersuchen Psychologen genauer die therapeutischen Wirkungen von Ritualen und überlegen, wie sie verantwortlich in einer Behandlung eingesetzt werden können.37 Der Heidelberger Mediziner und Psychologe Rolf Verres geht davon aus, dass in Momenten tiefer Resonanz zwischen Arzt und Patient Prozesse in Gang gesetzt werden können, die er vorsichtig mit »Tiefendimension der Heilkunde« umschreibt.38 In der Resonanz als Bezogenheit der Menschen aufeinander sieht Verres einen vernachlässigten Wirkfaktor einer »Medizin mit Seele«. In diesem Ansatz werden Vertrauen, Liebe und Dankbarkeit als wesentliche Bestandteile einer gesundheitsförderlichen Arzt-Patient-Beziehung benannt und beschrieben. Mit Recht wird deshalb immer häufiger angemahnt, bei einer ganzheitlichen Heilbehandlung des Menschen neben den biopsychosozialen Bedingungen seine spirituellen Bedürfnisse nicht zu übergehen. Nachdem der Schatz religiöser Heilkunde lange Zeit vergessen schien, wird er gegenwärtig wiederentdeckt. Psychologen erkunden mit staatlichen Forschungsgeldern die befreiende Wirkung des Verzeihens, die stabilisierenden Funktionen der Dankbarkeit, die Widerstandskraft von Hoffnung und Vertrauen. Auf der Suche nach tragenden Werten und weltanschaulicher Orientierung hat das kulturelle Erbe der Weltreligionen das Interesse der Gesundheitsforscher geweckt. Religionsvergleichende Untersuchungen haben dabei ergeben, dass die großen Weltre37 Vgl. Straube, Eckart R.: Heilsamer Zauber. Psychologie eines neuen Trends, Heidelberg: Elsevier, Spektrum, Akad. Verl. 2005; Esch, Tobias: Der Selbstheilungscode. Die Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit, München: Goldmann 2018. 38 Vgl. Verres, Rolf: Was uns gesund macht. Ganzheitliche Heilkunde statt seelenloser Medizin, Freiburg: Herder 2005.
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ligionen folgende sechs Kerntugenden beinhalten: Weisheit/Wissen, Mut, Liebe/ Humanität, Gerechtigkeit, Mäßigung, Spiritualität/Transzendenz. Weil das therapeutische Potential dieser Haltungen offensichtlich ist, fragen auch Psychotherapeuten vermehrt nach Wegen, diese Einstellungen zu vermitteln und therapeutisch zu nutzen. Der Forschungsansatz der Positiven Psychologie bietet hier anregende Querverbindungen, indem die Zusammenhänge zwischen Lebenszufriedenheit und Lebenssinn bzw. Spiritualität untersucht werden.39 Techniken zur Förderung zwischenmenschlicher Tugenden wie Mitgefühl, Vergebung und Dankbarkeit und die Nutzung kontemplativer Methoden werden inzwischen intensiv beforscht.40
4. E INBEZIEHUNG ODER AUSSCHLUSS SPIRITUELLER INTERVENTIONEN? Die Einbeziehung kultureller, also auch religiöser Ressourcen in eine Behandlung ist insbesondere bei muslimischen Migranten von hoher Relevanz.41 Dafür ist ein offener Umgang mit religiösen und spirituellen Themen in der Psychotherapie nötig. Manche Experten empfehlen sogar den Einsatz von spirituellen und religiösen Interventionen unter Einhaltung der berufsethischen Grundsätze.42 Österreich geht hier einen anderen Weg. Aufgrund zahlreicher Patienten, die wegen übergriffigen Verhaltens ihrer behandelnden Therapeuten beim Berufsverband Beschwerde einlegten, hat das österreichische Bundesministerium für Gesundheit im Sommer 2014 eine »Richtlinie für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Frage der Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden« erlassen.43 Dort wird bestritten, dass »religiös, spirituell oder esoterisch begründete Handlungen zu einer umfassenden und stringenten psychotherapeutischen Methode, die eine geplante Krankenbehandlung ermöglicht, gehö39 Vgl. Fischer, Perter/Asal, Kathrin/Krueger, Joachim: »Sozialpsychologie der menschlichen Existenz. Positive Psychologie und Psychologie der Religion«, in: Dies., Sozialpsychologie für Bachelor, Berlin: Springer 2013, S. 153–172. 40 Vgl. Meinlschmidt, Gunther/Tegethoff, Marion: »Psychotherapie: Quo vadis?«, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 85 (2017), S. 479–494. 41 Vgl. Kizilhan, Jan Ilhan: »Religion, Kultur und Psychotherapie bei muslimischen Migranten«, in: Psychotherapeut 60/5 (2015), S. 426–432. 42 Vgl. M. Brentrup u.a.: Rituale und Spiritualität. 43 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (Hg.): »Richtlinie für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Frage der Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden«, http://forum.sfu.ac.at/download/file. Php?id=1187, 21.02.2019.
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ren können«.44 Mit diesem Verbot soll die psychotherapeutische Beziehung unter Wahrung der Berufsethik und der Stärkung der Psychotherapie als eine wissenschaftlich fundierte Krankenbehandlung unter besonderen Schutz gestellt werden. So wichtig der Schutz der therapeutischen Beziehung ist: Das rigide Verbot trägt der aktuellen Forschungslage nicht Rechnung und übergeht die Ressource »Religiosität und Spiritualität« bei manchen Patienten.45 Vorsichtiger und fundierter äußert sich der Religionspsychologe: Religion und Spiritualität können Teil des Problems oder Teil der Lösung sein.46 Ein differenziertes Positionspapier wurde von einer Arbeitsgruppe der psychiatrischen Fachgesellschaft DGPPN erarbeitet.47 Die Stellungnahme geht von der Realität unserer multikulturellen Gesellschaft aus. Durch die Flüchtlingswelle steht Europa derzeit vor der großen Herausforderung, die Integration unterschiedlicher kultureller Prägungen und Weltbilder – insbesondere zwischen einer religiösen und säkularen Weltdeutung – zu bewältigen. Der konstruktive Dialog zwischen religiösen und säkularen Lebensformen ist dabei für eine pluralistische Gesellschaft zukunftsweisend. Hier sind kultur- und religionssensible Ärzte und Psychotherapeuten gefragt, vorhandene religiöse oder spirituelle Ressourcen der Patienten zur Verarbeitung ihrer Krisenerfahrungen oder Traumatisierungen zu aktivieren und in die Behandlung einzubeziehen. Religiöse Überzeugungen prägen besonders das Erleben von Krankheit, Gesundheit und Therapie tief religiöser Patienten. Eine kultursensible Berücksichtigung des vorhandenen Wertesystems kann die psychotherapeutische Behandlung fördern und das Arbeitsbündnis stärken. Patienten mit psychischen Erkrankungen dürfen von ihrem Arzt oder Psychotherapeuten eine ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Lebenssituation einschließlich der existenziellen, spirituellen und religiösen Dimension erwarten, ohne Angst haben zu müssen, einem Guru auf den Leim zu gehen. Gläubige Hoffnung und Vertrauen können aber leicht missbraucht werden. Auch das ist ein Grund dafür, dass in weiten Kreisen der Psychologie und Psychotherapie des 20. Jahrhunderts religiöser Glaube pauschal pathologisiert wurde. Die in früheren Jahren vorherrschende Religionskritik und ihre Pathologisierung
44 Ebd., S. 7. 45 Vgl. Utsch, Michael »Spiritualität als Ressource«, in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 48/4 (2016), S. 863–873. 46 Vgl. Roser, Traugott/Frick, Eckhard: »Im Gespräch mit Kenneth I. Pargament«, in: Spiritual Care 3/3 (2014), S. 72–78. 47 Vgl. Utsch, Michael u.a.: »Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie«, in: Spiritual Care 6/1 (2017), S. 141–146.
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sind heute nicht mehr angemessen. Allerdings sollte die kritische Haltung nicht undifferenziert durch eine Idealisierung dieses Feldes ersetzt werden. Deshalb erinnert die Stellungnahme der DGPPN die Psychotherapeuten an ihre Berufsethik, mit der sie sich verpflichtet haben, innerhalb des Methodenspektrums ihrer Profession tätig zu sein. Dies schließt religiöse oder spirituelle Interventionen eindeutig aus. Darin sieht die Kommission keinen Mangel, sondern eine sinnvolle und notwendige Selbstbeschränkung. Dabei muss trotzdem sichergestellt werden, dass die Spiritualität des Patienten in der Therapie einen angemessenen Raum finden kann. Der Behandler sollte auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug seines Patienten. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen einerseits und Seelsorge und spirituelle Führung andererseits sollten unterschieden werden und getrennt bleiben. Eine Zusammenarbeit im Interesse des Patienten mit Seelsorgern kann aber in vielen Fällen sinnvoll sein. Ein wichtiges Fazit der Stellungnahme lautet, dass die Behandler im klinischen Alltag erkennen, ob der Glaube bei einer psychischen Erkrankung Teil des Krankheitsbildes ist oder sich als Ressource in die Behandlungsstrategie einbinden lässt. Die Fachgesellschaft hat insgesamt zehn Empfehlungen formuliert, die zum Beispiel die Neutralität, die professionellen Grenzen oder das Diversity Management und die Passung in der therapeutischen Beziehung betreffen. In einem neuen »Fallbuch Spiritualität« wurde anhand von 20 Patientenvignetten mit jeweils einem Kommentar anschaulich verdeutlicht, wie der Glaube ein Teil der Störung oder ein Teil der Lösung sein kann.48 Erst jetzt beginnt die Wissenschaft in Deutschland, sich ernsthaft mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Hier haben die Fachverbände und Ausbildungsin stitute einige Lücken zu schließen. Bei aller Neugier für veränderte Bewusstseinszustände und spirituelle Rituale ist an der kritischen Realitätsprüfung als einer zentralen Errungenschaft der Psychologie festzuhalten, hinter die nicht zurückgegangen werden sollte. Offen für neue, auch spirituelle Erfahrungen und Weltdeutungen zu bleiben und diese mit psychologischer Hilfe besser erklären und verstehen zu können, ist angesichts der verbreiteten Sinnsuche nötig und wichtig. Es dient der psychotherapeutischen Qualität, sich auf ihre fachlichen Kernkompetenzen zu beschränken und spirituellen Deutungen des Seelenlebens anderen Professionen zu überlassen.
48 Vgl. Frick, Eckhard/Stotz-Ingenlath, Gabriele/Ohls, Isgard/Utsch, Michael (Hg.): Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018.
Religion und Heilung. Eine christlich-theologische Perspektive1 Gregor Etzelmüller
1. C HRISTLICHE RELIGION UND HEILUNG IN GESCHICHTE UND GEGENWART Im Christentum gehören religiöse Verkündigung und die Zuwendung zu den Kranken von Anfang an zusammen. Das zeigt sich schon daran, dass neben der Reich-Gottes-Verkündigung auch die Heilungen für die Lebenspraxis des irdischen Jesus zentral sind.1»So wie die Gottesherrschaft im Zentrum der Verkündi1 Die Einladung, zum vorliegenden Band einen Beitrag beizusteuern, gibt mir die Gelegenheit, meine in den letzten Jahren auf diesem Themenfeld gewonnenen Erkenntnisse erneut kritisch zu durchdenken und in revidierter Form zur Diskussion zu stellen. Zum Thema bin ich eher beiläufig gekommen, als ich meine damalige Kollegin Annette Weissenrieder fragte, was ihre historischen Arbeiten zu den lukanischen Heilungserzählungen für die systematische Theologie bedeuten. Bis dahin hatte ich in der Christologie, wie es die meisten Dogmatiker tun (vgl. dazu kritisch Thiede, Werner: »Heilungswunder in der Sicht neuerer Dogmatik. Ein Beitrag zur Vorsehungslehre und Pneumatologie«, in: ZThK 100 (2003), S. 90–117), die Erzählungen von den Heilungen Jesu weithin ignoriert. Durch unser gemeinsames interdisziplinäres Nachdenken eröffneten sich neue Erkenntnisfelder, insbesondere auch Gesprächsmöglichkeiten mit der Medizin und den Religionswissenschaften. Im Folgenden greife ich auf Arbeiten von mir zurück (vgl. Etzelmüller, Gregor: »Christus, Heiler und Arzt. Zur systematisch-theologischen Bedeutung der neutestamentlichen Überlieferungen von den Krankenheilungen Jesu«, in: Günter Thomas/Andreas Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus, Leipzig: Evang. Verl.-Anst. 2007, S. 319–337; Etzelmüller, Gregor/Weissenrieder, Annette: »Christlicher Glaube und Medizin – Stationen einer Beziehung. Christian beliefs and medicine: stations of a relationship«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 132
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gung Jesu steht, bilden Heilungen und Exorzismen ein Zentrum seines Wirkens.«2 Dass das frühe Christentum die antike Welt missioniert hat, ist nach dem Urteil des Kirchengeschichtlers Adolf von Harnack (1851–1930) sogar darin begründet, dass die frühe Kirche »Heilung versprach und brachte, dass sie in dieser Eigenschaft alle anderen Religionen und Culte überstrahlte […]. Nicht nur setzte sie dem erträumten Äskulap den wirklichen Jesus gegenüber, sondern sie gestaltete sich selbst als die ›Religion der Heilung‹ […] bewusst aus, und sie sah auch in der thatkräftigen Sorge für die leiblich Kranken eine ihrer wichtigsten Pflichten.«3 Die Zusammengehörigkeit von Religion und Krankenbehandlung prägt die mittelalterliche Spitalbewegung ebenso wie die Reformation. Explizit bezeichnet Calvin die medizinische Heilkunde als eine Gabe des Geistes Gottes (Inst. II, 2, 15). Die Genfer Kirchenordnung von 1561 ordnet an, dass »für die Armen im
(2007), S. 2747–2753; Etzelmüller, Gregor: »Christentum als Religion der Heilung. Zur Verhältnisbestimmung von moderner Theologie und Krankenbehandlung«, in: Günter Thomas/Isolde Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 448–464; Etzelmüller, Gregor: »Der kranke Mensch als Thema christlicher Anthropologie. Die Herausforderung der Theologie durch die anthropologische Medizin Viktor von Weizsäckers«, in: ZEE 53 (2009), S. 163–176; ders./Weissenrieder, Annette: »Christentum und Medizin. Welche Kopplungen sind lebensförderlich?«, in: Dies. (Hg.), Religion und Krankheit, Darmstadt: WBG 2010, S. 11–34; ders.: »Leib, Seele, Umwelt. Die interdisziplinäre Anthropologie Viktor von Weizsäckers und ihr Verhältnis zur paulinischen Anthropologie«, in: Thiemo Breyer/Gregor Etzelmüller/Thomas Fuchs/Grit Schwarzkopf (Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie. Leib, Geist, Kultur, Heidelberg: Winter 2013, S. 287–313; Etzelmüller, Gregor/Weissenrieder, Annette: »Religion and Illness. An Introduction«, in: Dies. (Hg.), Religion and Illness, Eugene/Or.: Cascade Books 2016, S. 1–11; dies.: »Illness and Healing in Christian Traditions«, in: Dies., Religion and Illness (2016), S. 263–305) und führe das dort Dargelegte weiter aus. 2 Theißen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 32001, S. 256; »Als apokalyptischer Wundercharismatiker steht Jesus singulär in der Religionsgeschichte. Er verbindet zwei geistige Welten, die vorher nie in dieser Weise verbunden worden sind: die apokalyptische Erwartung universaler Heilszukunft und die episodale Verwirklichung gegenwärtigen Wunderheils […]. Die Gegenwart wird so im Kleinen zu einer Zeit des Heils – entgegen einem apokalyptischen Pessimismus, der in der Gegenwart nur die große Krise sieht, in der die neue Welt in Schmerzen geboren wird.« Vgl. ebd., S. 279. 3 von Harnack, Adolf: Medicinisches aus der Ältesten Kirchengeschichte, Leipzig: Hinrich 1892, S. 96.
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Spital wie für die Bedürftigen in der Stadt ein Arzt und ein Wundarzt« angestellt werden sollen.4 Calvin will dabei die Kranken nicht einfach den Ärzten überlassen, sondern plädiert für eine enge Kopplung von Religion und Krankenbehandlung. Zum einen sollen die Pfarrer regelmäßig »dem Spital einen Besuch abstatten, um zu sehen, ob alles gut imstand ist«.5 Dieses Interesse der Religion an einer bestmöglichen Krankenbehandlung führt letztlich in Genf zur Gründung einer medizinischen Fakultät. Zum anderen sollen die Pfarrer sich in der Seelsorge insbesondere der Kranken annehmen, da diese »zuvörderst die Dienste unsers geistlichen Amtes beanspruchen«.6 Mit dieser Zuwendung zu den Kranken verändert sich auch ihre Wahrnehmung: »Gott hat bisweilen nicht die Absicht, wenn er den Menschen Leid auferlegt, sie für ihre Sünden zu bestrafen. Wenn daher die Ursache der Leiden verborgen ist, müssen wir unsere Neugier zähmen, um nicht Gott Unrecht zu tun und gegen die Brüder lieblos zu sein.«7 Starkes diakonisches Engagement, Kopplung mit der wissenschaftlichen Medizin, seelsorgerliche Zuwendung und Durchbrechung der religiösen Doktrin von der Krankheit als Strafe – diese vier Merkmale prägen seit der Reformation die evangelische Tradition. Auch das moderne Christentum in der Vielfalt seiner unterschiedlichen Gestaltungen ist insbesondere dort gewachsen, wo es sich als Religion der Heilung ausgebildet hat. Die christliche Mission des 19. Jahrhunderts war insbesondere deshalb so erfolgreich, weil sie die christliche Verkündigung mit Bildungsangeboten einerseits und ärztlicher Fürsorge andererseits verknüpfte. Auch das rapide Wachstum der Pfingstbewegung im 20. Jahrhundert dürfte nicht zuletzt in ihrer Praxis des geistlichen Heilens und einer geistlichen Gesundheitsvorsorge begrün-
4 »Les Ordonnances ecclésiastiques de 1561/Die Kirchenordnung von 1561«, in: Eberhard Busch u.a. (Hg.), Calvin-Studienausgabe, Bd. 2, Neukirchen: Neukirchener Verl. 1997, S. 238–279, hier S. 259, 14ff.; vgl. Weerda, Jan R.: »Kirche und Diakonie in der Theologie Calvins [1959]«, in: Ders., Nach Gottes Wort reformierte Kirche. Beiträge zu ihrer Geschichte und ihrem Recht, München: Kaiser 1964, S. 118–131. 5 Les Ordonnances ecclésiastiques de 1561, S. 259, 12f. 6 Vgl. Calvins Brief an Viret, Oktober 1542, in: Guilielmus Baum/Eduardus Cunitz/ Eduardus Reuss (Hg.), Ionannis Calvini Opera quae supersunt ominia, Braunschweig: Schwetschke 1873, S. 457–460, hier S. 457. 7 Calvin, Johannes: Auslegung des Johannes-Evangeliums, übers. v. M. Trebesius und H. Chr. Petersen, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Neukirchen: Neukirchener Verl. 1964, S. 241.
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det sein. Darauf verweisen Studien zum Wachstum der Pfingstbewegung in Indien, China und Brasilien gleichermaßen.8 Doch auch im Blick auf die volkskirchliche Situation in Deutschland lässt sich mit Harnack die These vertreten, dass die Kraft und Zukunft der Kirche darin liege, dass sie sich der seelisch und leiblich Leidenden annehme.9 So erwarten über 80 % der Mitglieder der Evangelischen Kirchen in Deutschland, dass sich ihre Kirche um »Alte, Kranke und Behinderte« kümmern solle. Kein anderes Tätigkeitsfeld – auch nicht das der Kasualien – erreicht einen vergleichbaren Zustimmungswert.10 Dieser Erwartung an das diakonische Engagement der Kirche entspricht auch die religiöse Praxis der Mitglieder: Befragt auf die Inhalte ihrer persönlichen Gebete findet die Aussage: »In schwierigen Situationen bete ich, dass Gott mir hilft« die höchste Zustimmung (71 %/69 %).11 Auch Kirchenmitglieder beten also vornehmlich in schwierigen Situationen wie eigener Erkrankung. Bei einer Studie mit Brustkrebspatientinnen in einer deutschen Kleinstadt gaben 81 % der Frauen an, dass ihr Glaube in der Situation der Krankheit für sie von hoher Bedeutung sei.12 Das heißt: Für fast alle Frauen, die einer Kirche angehören, spielt der Glaube im Krankheitsprozess eine bedeutende Rolle. Es sind also nicht nur die regelmäßigen 8 Vgl. Chesnut, R. Andrew: Born again in Brazil. The Pentecostal Boom and the Pathogens of Poverty, New Brunswick/London: Rutgers University Press 1997, S. 167: »Pentecostalism thrives among the poor of Brazil and much of Latin America because it offers healing to those suffering from the illnesses of poverty.«; Werner, Dietrich/ Grundmann, Christoffer: »Einführung«, in: Evangelisches Missionswerk (Hg.), Heilung in Mission und Ökumene. Impulse zum interkulturellen Dialog über Heilung und ihre kirchliche Praxis, Hamburg: o.V. 2001, S. 5–7, hier S. 5: »In einigen Regionen Chinas hat sich die Zahl der Christen in den letzten Jahren verfünffacht, was nach übereinstimmender Meinung von Fachleuten hauptsächlich auf Heilungserfahrungen zurückzuführen ist.«; Bergunder, Michael: »Wunderheilung und Exorzismus. Die südindische Pfingstbewegung im Kontext des populären Hinduismus«, in: Evangelisches Missionswerk, Heilung in Mission und Ökumene (2001), S. 102–116. 9 Vgl. A. Harnack: Medicinisches, S. 111: »Auch heute noch beruht die Kraft und Zukunft der Kirche darauf, dass sie sich der seelisch und leiblich Leidenden annimmt«. 10 Vgl. Huber, Wolfgang/Friedrich, Johannes/Steinacker, Peter (Hg.): Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 457. 11 Vgl. ebd., S. 464. 12 Vgl. Murken, Sebastian/Müller, Claudia: »›Gott hat mich so ausgestattet, dass ich den Weg gehen kann‹. Religiöse Verarbeitungsstile nach der Diagnose Brustkrebs«, in: Lebendiges Zeugnis 62 (2007), S. 115–128, hier S. 120.
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Kirchgängerinnen, sondern auch die Fernstehenden und Distanzierten, die in einer Krisensituation wie Krankheit bewusst ihre Religion, ihren Glauben aktivieren. Dieser Sachverhalt ist dabei nicht nur theologisch und religionswissenschaftlich von Interesse, sondern sollte auch von Medizinern wahrgenommen werden. »Research in the field indicates that spirituality and religion are seen as a core aspect of life, and patients want physicians to adress issues of spirituality in the context of medical care. A public survey done in 1996 by USA Weekend showed that 63 % of patients believe doctors should ask about spirituality issues, but only 10 % have actually been asked.«13 Gerade auch medizinische Studien legen dabei einen positiven Einfluss von Religiosität auf Heilungsprozesse nahe. In einer Auswertung von etwa 1.200 klinischen Studien kommen Harold G. Koenig u.a. zu dem Ergebnis: »Religious beliefs and practices rooted within established religious traditions were found to be consistently associated with better health and predicted better health over time.«14 Die Palliativmedizin und die Palliativpflege versuchen diese spirituellen Ressourcen für den Umgang mit den Leiden des Patienten fruchtbar zu machen, da die Medizin zwar in der Lage ist, die somatischen Schmerzsymptome zu stillen, nicht aber das Leiden.15 Für den Münchner Neurologen und Palliativmediziner Gian Borasio gehört deshalb »eine Grundkompetenz in Spiritual Care zum unverzicht-
13 Kliewer, Stephen: »Allowing spirituality into the healing process«, in: Journal of Family Practice 53 (2004), S. 616–624, hier S. 623. 14 Koenig, Harold George u.a.: Handbook of Religion and Health, Oxford: Oxford Univ. Press 2001, S. 591; vgl. Zwingmann, Christian u.a.: »Positive and Negative Religious Coping in German Breast Cancer Patients«, in: Journal of Behavioral Medicine 29 (2006), S. 533–547; Thomas, Christine u.a.: »Einfluss verschiedener Dimensionen von Religiosität auf die Schwere und den Verlauf der Depression im Alter«, in: Etzelmüller/ Weissenrieder, Religion und Krankheit (2010), S. 283–291; Taheri-Kharameh, Zahra u.a.: »Negative Religious Coping, Positive Religious Coping, and Quality of Life Among Hemodialysis Patients«, in: Nephro-Uroloy Monthly 8 (2016), e38009; Zamanian, Hadi u.a.: »Religious Coping and Quality of Life in Women with Breast Cancer«, in: Asian Pac J Cancer Prev. 16 (2015), S. 7721–7725.
Im Rahmen dieser Studien wird beständig und konstant ebenso beobachtet, dass Menschen, die ihre Krankheit als Strafe Gottes deuten, ihren Heilungsverlauf dadurch in der Regel negativ beeinflussen.
15 Führer, Monika/Sommerauer, Claudia/Roser, Traugott: »Kinderheilkunde. Spirituelle Begleitung sterbender Kinder und ihrer Familien«, in: Eckhard Frick/Traugott Roser (Hg.), Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen, Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 136–153, hier S. 147.
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baren Bestandteil der Grundkompetenz aller in der (Palliativ)-Medizin Tätigen«.16 Damit reflektiert die Medizin auf die Grenzen ihres Berufswissens, das durch andere Formen des Wissens oder der Weisheit ergänzt werden muss. 1.1 E xkurs: Spiritual Care als Herausforderung der modernen Medizin Die entscheidende Frage scheint mir dabei zu sein, inwiefern die geforderte Grundkompetenz in Spiritual Care auch das medizinische Berufswissen tangiert bzw. verändert. Einer der Begründer der Psychosomatik, der Heidelberger Neurologe Viktor von Weizsäcker, hat diese Frage bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts reflektiert. Weizsäcker vertrat die Meinung, dass »die Medizin sich nicht durch theologische Ergänzung helfen lassen kann, sondern daß sie sich selbst helfen muß, indem sie selbst sich allmählich wandelt.«17 Nach Weizsäcker sollte man die Medizin nicht, wenn es um letzte Fragen geht, um Spiritual Care erweitern, sondern die letzten Fragen selbst mit in die ärztliche Wissenschaft aufnehmen. Die Medizin habe es mit der Bestimmung des Menschen zu tun, wobei sie wissen müsse, »daß der Mensch doch eine andere Bestimmung hat, als nur gesund zu sein«.18 Weizsäcker differenziert, wie das von Theologen immer wieder gefordert wird, zwischen Gesundheit und Heil. Der Mensch hat eine andere Bestimmung, als nur gesund zu sein. Gerade deshalb aber kann das Ziel der Therapie nach Weizsäcker nicht einfach darin bestehen, jemanden gesund zu machen. Die Therapie muss vielmehr auf die Bestimmung des Menschen bezogen werden. Das wird in der Palliativmedizin im Angesicht des Todes, den die Medizin nicht überwinden kann, besonders deutlich. Die Medizin kann dem Patienten nur helfen, mit seinem eigenen Tod umzugehen. Nach Weizsäcker begegnet in jeder Krankheit etwas Unheilbares. Auch »jede leichte, scheinbar restlos ausheilende Wunde oder Krankheit hinterlässt eine Narbe, eine Disposition oder wenigstens eine nur in der Seele wahrnehmbare Spur unserer Verletzlichkeit«.19 Wenn aber jede Krankheit »eine Seite der Heilbarkeit und eine Seite der Unheilbarkeit« hat, dann kann der ärztliche Beruf nicht allein von der Aufgabe der Heilung her verstanden werden, sondern muss auf die Bestimmung des Menschen, die Gesundheit und Krankheit transzendiert, bezogen werden. Deshalb bestimmt Weizsäcker als Aufgabe 16 Borasio, Gian Domenico: »Spiritualität in Palliativmedizin/Palliative Care«, in: Frick/ Roser, Spiritualität und Medizin (2009), S. 109–115, hier S. 113. 17 von Weizsäcker, Viktor: »Von den seelischen Ursachen der Krankheit«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 399–417, hier S. 399. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 411.
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des ärztlichen Handelns, »einem Menschen auf dem Wege zu seiner letzten Bestimmung Dienste zu leisten«.20 Der Arzt habe deshalb im Gespräch mit dem Patienten dessen Krankheit zu begreifen. Dabei sensibilisiert Weizsäcker dafür, dass der Mensch seine Abhängigkeit vom Leibe, die er in der Krankheit erfährt, auch als Gabe erfahren könne. Weizsäcker differenziert zwei Formen, in denen sich in Krankheitsverläufen Leistungskraft und Weisheit des Leibes erkennen lassen. Zum einen könne die Wandlung eines seelischen Konfliktes in eine körperliche Krankheit zur Genesung des ganzen Menschen beitragen. Der Mensch »flieht aus einer unerträglichen Situation unbewusst in die Krankheit«, ersetzt »den seelischen Konflikt durch eine körperliche Unterwerfung […] und der Körper leistet ihm den Dienst – weiterzuleben, zu genesen und neu anzufangen«.21 Zum anderen könne durch die Krankheit eine Bewusstseinsentwicklung angestoßen werden. Krankheit könne einem Menschen zu Bewusstsein bringen, dass er sein Leben verfehle. Sie könne als »Anerbietung eines Wissens um die Wahrheit« erfahren werden.22 Eben deshalb fordert Weizsäcker eine veränderte Einstellung zur Krankheit in der Medizin: »Die alte Einstellung ›Weg damit‹ muß ersetzt werden durch ein ›Ja, aber nicht so‹. Ja zu dem, was der Körper sagen will, und das aber nicht so zu dem, wie er es sagt, in der stellvertretenden Form der Krankheit nämlich«.23 Die alte Einstellung zur Krankheit, die auf die Beseitigung eines Defektes ziele, könne die Chance der Krankheit als Krise verspielen.
2. E INE ORIENTIERENDE ERINNERUNG AN DIE PRAXIS DES URCHRISTENTUMS Indem das Urchristentum sich als »Religion der Heilung« (Adolf von Harnack) ausbildete, war es genötigt, sich zum einen zur religiösen Deutung von Krankheit als Strafe Gottes, zum anderen zur rationalen Medizin der Antike ins Verhältnis zu setzen. 20 Ebd., S. 406. 21 Ebd., S. 409. 22 von Weizsäcker, Viktor: »Der Arzt und der Kranke«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 9–66, hier S. 65. 23 Ders.: »Das Problem des Menschen in der Medizin. ›Versuch einer neuen Medizin‹«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 366–371, hier S. 369f.; vgl. ders.: »Der kranke Mensch. Eine Einführung in die Medizinische Anthropologie«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 311–641, hier S. 318f.
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2.1 K rankheit ist keine Strafe Gottes für die Sünden des Kranken Zunächst fällt dabei auf, dass ebenso wie die antike rationale Medizin auch das Urchristentum die religiöse Deutung von Krankheit als Strafe Gottes ablehnt. Obwohl die sogenannte rationale Medizin der Antike ihrem Selbstverständnis nach (man vgl. den Hippokratischen Eid) durchaus religiös fundiert ist,24 distanziert sie sich entschieden von der religiösen Deutung der Krankheit als Strafe, indem sie eine Gottheit als Krankheitsverursacher ablehnt. Im Blick auf die epileptischen Phänomene heißt es in der dem Corpus Hippocraticum zugehörigen Schrift »Über die heilige Krankheit« eröffnend: »Um nichts halte ich die Krankheit für göttlicher als die anderen Krankheiten oder für heiliger, sondern sie hat eine natürliche Ursache wie die übrigen Krankheiten.«25 Wie in dieser Schrift aus dem Umfeld des Hippokrates wird aber auch im Neuen Testament ein Verständnis von Krankheit als göttlicher Strafe für individuelle Verfehlungen abgelehnt. Das Johannesevangelium erzählt, wie Jesus und seine Jünger einem Blindgeborenen begegnen. »Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern« (Joh 9, 2f.). Explizit wird hier ein möglicher Kausalzusammenhang zwischen Sünde und Krankheit bestritten. Diese Einsicht hat in der Neuzeit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wieder zur Geltung gebracht. Gegenüber der von der altprotestantischen Orthodoxie und dem Pietismus vertretenen religiösen Deutung von Krankheit als Folge von Schuld26 betont Schleiermacher in seiner Glaubenslehre: »Keineswegs […] darf man des Einzelnen Uebel auf seine Sünde als auf ihre Ursache beziehn«.27 Christus selbst habe nämlich gelehrt – Schleiermacher verweist auf Joh 9, 3 und Lk 24 Vgl. dazu Tieleman, Teun: »Religion and therapy in Galen«, in: Etzelmüller/Weissenrieder, Religion und Krankheit (2010), S. 83–95. 25 CH MorbSacr 1,1; vgl. dazu A. Weissenrieder/G. Etzelmüller: Christentum und Medizin, S. 14f. 26 Vgl. Holtz, Sabine: »Die Unsicherheit des Lebens. Zum Verständnis von Krankheit und Tod in den Predigten der lutherischen Orthodoxie«, in: Hartmut Lehmann/AnnetteCharlott Trepp (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 135–157; Ernst, Katharina: Krankheit und Heilung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Kohlhammer 2003. 27 So der Leitsatz zu § 77 der zweiten Auflage von Schleiermachers Glaubenslehre (Schleiermacher, Friedrich D. E.: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der
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13, 5 –, »daß natürliche Uebel […] gar nicht mit der Sünde des Einzelnen, sofern man diese isolieren kann, so in Verbindung stehen, daß diese nach jenen gemessen werden dürfte.«28 Entsprechend formuliert Karl Barth im Blick auf menschliche Krankheiten: »Die so naheliegende und in anderem Zusammenhang gewiß zu respektierende Wahrheit, daß das den Menschen beschwerende Übel etwas mit Strafe zu tun hat, daß ›der Tod der Sünde Sold ist‹ (Röm. 6, 23), ist in dieser Sache unsichtbar«.29 Nach Barth zeigen gerade die Heilungen Jesu, dass Gott ganz auf Seiten der Kranken und damit gegen die Krankheit steht, dass er kein Gott ist, der sich in der Krankheit als strafender Gott verhüllt. Wenn wir in Jesus Christus Gott selbst erkennen, dann verdeutlicht die Heilungspraxis Jesu: »Gott will das nicht, was den Menschen plagt, quält, stört und zerstört«.30 Diese Erkenntnis nötigt zum Abschied von einer Vorstellung, die die Theologie des 20. Jahrhunderts, aber auch viele Formen persönlicher Frömmigkeit geprägt hat: nämlich der Konzeption Gottes als der alles bestimmenden Wirklichkeit. Gerade die Krankenheilungen Jesu zeigen, dass nicht alles, was auf dieser Welt geschieht, dem Willen Gottes entspricht. Barth, als einer der wenigen Theologen, die in ihrer Dogmatik das Themenfeld »Krankheit« bearbeitet haben – und zwar im Dialog mit der Medizin, konkret mit dem Heidelberger Internisten Richard Siebeck –, hat interessanterweise gerade dort, wo er sich mit Krankheit auseinandersetzt, diese Konsequenz gezogen und sich von der Vorstellung Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit verabschiedet: Dass Jesus Christus im Kampf gegen die Krankheit eindeutig auf Seiten des Kranken und damit gegen die Krankheit steht, verdeutlicht, dass Gott als Schöpfer und Erlöser »eine von ihm verschiedene Wirklichkeit [liebt]: die von ihm abhängig, aber nicht nur seine Widerspiegelung, nicht der Inbegriff seiner Kräfte und Gedanken ist«.31 Theologie und medizinische Anthropologie kommen hier in der Erkenntnis überein, »daß etwas nicht sein soll, was doch ist«.32 evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage [1830/31], Teilband 1, hg. von R. Schäfer, KGA I/13.1, Berlin/New York: De Gruyter 2003, S. 479). 28 Ebd., § 77, S. 481. 29 Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik IV/2, Zollikon-Zürich: Evang. Verl. 21964, § 64, S. 247. 30 Ebd., § 64, S. 249. 31 Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik III/4, Zollikon-Zürich: Evang. Verl. 1951, § 55, S. 415; vgl. ders.: KD IV/2, § 64, S. 257: »Jesu Handeln, in ihm erkennbar Gott selbst und sein Reich, ist Schutz und Trutz gegen die den Menschen knechtende Gewalt des Verderbens […] in allen ihren Gestalten«. 32 Vgl. V. von Weizsäcker: Der Arzt und der Kranke, S. 45.
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Es gibt, wenn ich recht sehe, eigentlich nur zwei Stellen im Neuen Testament, die das Missverständnis von Krankheit als einer Strafe Gottes für individuelle Vergehen nahelegen könnten: zum einen die Erzählung von der Heilung eines Gelähmten (Mk 2, 1–12), zum anderen die paulinische Deutung der in Korinth vermehrt auftretenden Krankheiten und Sterbefälle. Die Erzählung in Mk 2 verdeutlicht meines Erachtens aber genau das Gegenteil: Es ist nicht die Vergebung der Sünden, die dazu führt, dass der Gelähmte aufsteht und wieder gehen kann. Damit es dazu kommen kann, ist vielmehr ein zweiter Sprechakt notwendig. Erst auf den expliziten Befehl Jesu hin: »Steh auf, nimm deine Bahre und geh nach Hause!«, steht der Geheilte auf, nimmt sein Bett und geht. Man könnte zwar eine mögliche Urform der Erzählung rekonstruieren: »Und als Jesus ihren Glauben sah, spricht er zu dem Gelähmten: Kind, deine Sünden sind vergeben! Ich sage dir, steh auf, nehme dein Bett und geh in dein Haus! Und er stand auf, nahm sogleich das Bett und ging vor allen hinaus, sodass alle außer sich gerieten und Gott verherrlichten und sagten: ›Niemals haben wir so etwas gesehen!‹«.33 Doch die vorliegende Fassung erzählt so gerade nicht, sie verdeutlicht vielmehr die Differenz zwischen Vergebung und Heilung, zwischen Heil und Heilung. Indem Jesus sich anmaßt, was nur Gott zusteht, nämlich Sünden zu vergeben, werden zwei Deutungen seiner Person möglich: Entweder er ist ein Gotteslästerer oder er ist Gott von Gott, »Gottes Sohn«, wie es am Ende des Evangeliums heißt (Mk 15, 39; vgl. 1, 1f.). Da das Markusevangelium die letztere Deutung plausibel machen möchte, erzählt es in der Perikope von der Heilung des Gelähmten, dass Jesus sowohl Sünden vergibt als auch heilt. Wer in Jesus Christus Gottes Sohn erkennt, der erkennt dadurch die Identität des Handelns Jesu mit demjenigen des Gottes Israels, der im Psalter gepriesen wird als ein Gott, »der all deine Schuld vergibt und all deine Krankheiten heilt« (Ps 103, 3).34
33 Dass dies die ursprüngliche Fassung der Erzählung war, wird in der Exegese durchaus vertreten (vgl. dazu Zimmermann, Ruben: »Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1–12«, in: Günter Thomas/Isolde Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 227–246, hier S. 239). Zimmermann nennt als Vertreter einer solchen Position Rudolf Pesch, Eduard Schweitzer, Walter Grundmann und Hans-Joachim Klauck (vgl. ebd., S. 239 FN 37). 34 Zimmermann deutet anders: Nach ihm greift Jesus hier die allgemein geteilte Vorstellung auf, um sie durch sein Tun zu widerlegen. »Besonders die leiblichen und sozialen Negativ-Folgen der Deutungskonstruktion von Krankheit als Sünde werden durchbrochen und mit der persönlichen Hinwendung Jesu zu den Kranken kontrastiert. Die Provokation, die Jesu Worte und Taten hierbei gerade auch bei den frommen Kreisen
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Im 1. Korintherbrief erklärt Paulus das erhöhte Auftreten von Krankheiten in der Gemeinde mit den Missständen beim Herrenmahl: »Darum sind auch viele Schwache und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen!« (1. Kor 11, 30).35 Soll heißen: Ein psycho-sozialer Konflikt wirkt sich bis ins Somatische hinein aus – und es ist die (in Korinth verkannte) Weisheit des Leibes, die darauf aufmerksam macht, dass etwas in der Gemeinde nicht in Ordnung ist. Paulus verdeutlicht also den Korinthern, was auch die Krankheiten in der Gemeinde zum Ausdruck bringen wollen. Wie ein Arzt ist Paulus der Hermeneut, der dem Kranken erschließt, was die Krankheit ihm sagen will. Es kommt darauf an, in der Situation der Krankheit, die von Paulus als eine der Krisis bezeichnet wird, die richtende Wahrheit zu ergreifen. Nach Paulus macht der Leib in seinen – psychischen und physischen – Krankheiten darauf aufmerksam, dass in der Gemeinde Leben verfehlt wird. Paulus kritisiert die Gemeinde dafür, dass sie das Abendmahl nicht recht feiert. Anstatt ein gemeinschaftliches Mahl zu feiern, bei dem jeder satt wird, würde man das, was man selbst mitgebracht hat, auch selbst verzehren. Deshalb seien die einen betrunken, während die anderen hungern müssten. Die in der Gemeinde scheinbar vermehrt auftauchenden Krankheiten deutet Paulus als Folge dieser verfehlten Abendmahlspraxis. Interessanterweise formuliert Paulus nicht: Wer so isst, der wird von Gott gerichtet werden, sondern: der isst sich selbst zum Gericht. Die Kranken werden nicht von Gott gestraft. Paulus mutet den Korinthern vielmehr die Einsicht zu: In Krankheiten könne zum Ausdruck kommen, dass etwas (in mir, in meiner Umgebung, zwischen mir und meiner Umgebung) nicht stimmt, nicht stimmig ist. Diese Interpretation leuchtet insbesondere dann ein, wenn man bedenkt, dass die von Paulus hier benutzten Krankheitsbegriffe ἀσϑενέια und ἄρρωστοι in der paganen Umwelt vor allem in diätetischen Zusammenhängen begegnen. Liest man Paulus in diesem Zusammenhang, dann lässt sich sagen: Der Leib zeigt eine hohe Sensibilität für lebensabträgliche Formen sozialen Zusammenlebens. Dabei ist von Bedeutung, dass nicht nur (und nicht einmalig vorrangig) die eigentlichen Übeltäter erkranken. Denn die »Unwürdigen sind ja […] offenkundig ausgelöst haben, sollte auch in gegenwärtigen Diskurszusammenhängen wieder neu zur Geltung kommen.« (Ebd, S. 246.). 35 Vgl. zum Folgenden A. Weissenrieder/G. Etzelmüller: Christentum und Medizin, S. 25f.; ausführlich Weissenrieder, Annette: »›Darum sind viele körperlich und seelisch Kranke unter euch‹ (1 Kor 11,29ff.). Die korinthischen Überlegungen zum Abendmahl im Spiegel antiker Diätetik und der Patristik«, in: Judith Hartenstein u.a. (Hg.), ›Eine gewöhnliche und harmlose Speise‹? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008, S. 239–268.
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sehr munter physisch am Leben geblieben«,36 ansonsten müsste Paulus sie nicht ermahnen. Die Leiber reagieren also unterschiedlich auf die Missstände in der Gemeinde. Es gibt manche, die leiden mehr als andere – aber in ihrem Leiden zeigt sich die Wahrheit, dass eine ganze Gemeinschaft das Leben verfehlt. Dass nach Paulus die Missstände in Korinth sich in Krankheiten Ausdruck verschaffen, zeigt, dass für Paulus der Leib eine sozio-psycho-somatische Einheit darstellt. Als soma psychikon, so beschreibt Paulus den gegenwärtigen Menschen (1. Kor 15, 44), kann der Mensch dergestalt unter seiner Umwelt leiden, dass sich dieses Leiden somatisch ausdrückt. Auch die uns heute völlig fremd gewordene dämonologische Deutung von Krankheit lehrt keineswegs, dass der Kranke seine Krankheit aufgrund eigener Sünde erleidet. Die dämonologische Deutung von Krankheit im Neuen Testament37 will den Menschen vielmehr von der Verantwortung für seine eigene Krankheit entlasten.38 Der Kranke muss sich seine Krankheit nicht als Folge eigener Schuld zurechnen, sondern ist als ein Mensch wahrzunehmen, der einem sinn36 Bornkamm, Günter: »Herrenmahl und Kirche bei Paulus«, in: Ders., Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze. Bd. II, München: Kaiser 1959, S. 138–176, hier S. 170. 37 Die dämonologische Deutung von Krankheit spielt im Neuen Testament eine bedeutende Rolle (vgl. dazu K. Barth: KD IV/2, § 64, S. 252f.). In Apg 10, 38 kann sogar das ganze Wirken Jesu mit den Worten zusammengefasst werden: »Er zog umher und tat Gutes und heilte alle, die vom Teufel unterdrückt wurden, weil Gott mit ihm war.« Entsprechend berichten auch die Jünger, die Jesus zu heilen ausgesandt hatte, bei ihrer Rückkehr: »Selbst die Dämonen, Herr, sind uns durch deinen Namen untertan« (Lk 10, 17). Dabei wurden nicht nur psychische, sondern auch physische Krankheiten auf Dämonen zurückgeführt (vgl. Mt 12, 22f.; Lk 13, 10f.). Während Markus und Matthäus »Krankheit und Besessenheit als unterschiedliche Phänomene wahrnehmen, beschreibt das Lukasevangelium in der Mehrzahl der Wortüberlieferungen und in allen Erzählungen den Vorgang der Heilung von Besessenheit ebenso wie den von Krankheiten mit therapeuein« (Weissenrieder, Annette: »Dämonen«, in: entwurf 3 (2003), S. 14f., hier S. 14.). 38 Annette Weissenrieder hat mich in diesem Kontext auf die Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus, die an hohem Fieber erkrankt war (Lk 4, 39), aufmerksam gemacht. Damit Jesus das Fieber ansprechen kann, stellt Lukas das Fieber als Dämon und damit als ansprechbare Person dar. So unterscheidet er zwischen der Person der Kranken und der Krankheit, die als eigenständige Macht die Kranke gleichsam von außen überfällt. Gerade dadurch wird die Kranke von der religiösen Verantwortung für ihre Krankheit befreit. So ergibt sich der paradoxe Sachverhalt, dass die Einführung eines Dämons der Entdämonisierung der Krankheit dient.
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losen Angriff von außen ausgesetzt und erlegen ist. Insofern zeigt die dämonologische Deutung von Krankheit eine große Nähe zur Deutung von Krankheiten im Rahmen der modernen Medizin etwa als Überschwemmung durch Mikroorganismen.39 In unserer gegenwärtigen kulturellen Situation, in der, wie Susan Sontag eindrücklich gezeigt hat, »die Sitte, Krebs nicht als eine bloße Krankheit zu behandeln, sondern als einen dämonischen Feind, […] Krebs nicht nur zu einer tödlichen Krankheit, sondern auch zu einer schändlichen« gemacht hat,40 verbietet sich die dämonologische Deutung aus theologischen Gründen. Denn heute würde diese Deutung »zu einer Stigmatisierung von Kranken führen, die den Heilungen Jesu genau zuwiderlaufen würde. Werden Kranke dämonisiert, wie zum Beispiel Aidskranke, dann werden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen und zum sozialen Tode verdammt.«41 2.2 U nterschiedliche Verhältnisbestimmungen zur rationalen Medizin sind im Christentum möglich Weil das Urchristentum der religiösen Deutung von Krankheit widersprach, konnte sich das frühe Christentum auf vielfältige Weise zur rationalen Medizin der Antike in ein positives Verhältnis setzen. Das Lukasevangelium zeichnet Jesus nach dem Ideal des hellenistischen Arztes, vielfach wirkten die Bischöfe in der alten Kirche zugleich als Ärzte. Die Hallenser Neutestamentlerin Annette Weissenrieder hat die lukanischen Heilungsgeschichten im Kontext der antiken rationalen Medizin interpretiert und dabei gezeigt, dass der Autor des Lukasevangeliums über detaillierte Kenntnisse der antiken rationalen Medizin verfügte.42 So korrigiert Lukas etwa in der Er39 Vgl. Oeming, Manfred: »Art. Krankheit«, in: Michael Fieger/Jutta Krispenz/Jörg Lanckau (Hg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt: WBG 2013, S. 290–294, hier S. 294. 40 Sontag, Susan: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, Frankfurt a. M.: Fischer 2003, S. 51, 60. Sontag meint, dass »der Schritt von der Dämonisierung der Krankheit zur Schuldzuweisung an den Patienten zwangsläufig [sei], gleichgültig, ob der Patient als Opfer gedacht wird oder nicht. Ein Opfer suggeriert Unschuld, Unschuld aber suggeriert, nach der unerbittlichen Logik derartiger relationaler Begriffe, Schuld.« Ebd., S. 84. 41 Moltmann, Jürgen: Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München: Kaiser 1989, S. 130. 42 Vgl. Weissenrieder, Annette: Images of Illness in the Gospel of Luke. Insights of Ancient Medical Texts, Tübingen: Mohr Siebeck 2003.
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zählung von der Heilung des Jungen mit den epileptischen Phänomenen (Lk 9, 37–43) die, im Licht der antiken Medizin betrachtet, medizinisch nicht kohärente Schilderung des MkEv (Mk 9, 14–29). Die antike Medizin kennt zwei verschiedene Formen »epileptischer Phänomene«. Die eine Form geht mit einem auffälligen Anfall mit Zähneknirschen etc. einher, für die andere Form ist Erstarrung symptomatisch. Während im MkEv beide Modelle nebeneinander erwähnt werden, was vor dem Hintergrund antiker Medizin nicht plausibel ist, verzichtet das LkEv auf Symptome, die von einer Erstarrung des Jungen berichten und beschränkt sich auf einen durch Phlegma verursachten Anfall.43 Jesus wird dementsprechend nicht als Exorzist, sondern als Arzt präsentiert. Anders als in seiner markinischen Vorlage, in deren Zentrum ein Exorzismus steht, spricht Lukas bewusst von einem ärztlichen Handeln: vom Heilen (Lk 9, 42).44 Vielleicht mag man sagen: Dem Arzt Lukas hat sich Jesus als Arzt imponiert.45 Zumindest stellt sich der lukanische Jesus in seiner Antrittspredigt als Arzt vor: »Und er sagte zu ihnen: Gewiss werdet ihr mir jetzt das Sprichwort entgegenhalten: Arzt, heile dich selbst!« (Lk 4, 23). Dieser exegetische Befund ist christentumstheoretisch von großer Bedeutung: Das Christentum ist von Anfang an durch das Ringen darum gekennzeichnet, wie man sich als Religion zur rationalen Medizin verhält. Im Blick auf die Erzählung 43 Ebd., S. 363; vgl. S. 274–282. 44 Vgl. A. Weissenrieder/G. Etzelmüller: Christentum und Medizin, S. 16f.: Interessant ist, dass Lukas, der die epileptischen Phänomene im Rahmen der antiken rationalen Medizin versteht und die Heilung derselben der Medizin zuschreibt, dennoch einen Dämon erwähnt: »Jesus aber bedrohte den unreinen Geist (pneuma akarthaton) und sorgte für den Knaben« (Lk 9, 42). Eine Interpretation dieses Verses muss sich immer der Doppeldeutigkeit des Begriffes pneuma bewusst bleiben: So kann der unreine Geist sowohl auf eine dämonische Krankheitsinterpretation verweisen, als auch im Sinne der rationalen Medizin als unreine Luft verstanden werden (CH MorbSacr 4,6). Folgt man aber der Deutung des unreinen Geistes als eines Dämons, stellt sich die Frage, warum Lukas überhaupt einen Dämon erwähnt. Einen Hinweis gibt die Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus, die an hohem Fieber erkrankt war (Lk 4, 39). Wie oben (s. FN 38) gezeigt, zielt die Erwähnung des Dämons in der lukanischen Erzählung von der Heilung des epileptischen Knaben darauf, die Ursache der Krankheit nicht im Kranken und dessen vermeintlichen Sünden zu suchen, sondern als fremd verursacht verstehen zu können. 45 Vgl. von Harnack, Adolf: Lukas der Arzt. Der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament I, Leipzig: Hinrichs 1906. Schon die altkirchliche Überlieferung hat den Verfasser des dritten Evangeliums mit Lukas, dem Arzt, identifiziert (Kol 4, 14).
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von der Heilung des Knaben mit den epileptischen Phänomenen (Mk 9, 14–29; Lk 9, 37–43) kann man sagen: Dem Exorzisten, dem Gebetsheilkünstler, in Mk 9 steht in Lk 9 Jesus, der Arzt, gegenüber. Entsprechend dieser unterschiedlichen Wahrnehmung und Darstellung Jesu gab es schon in der Alten Kirche das Nebeneinander von Ärzten, die sich an der antiken rationalen Medizin orientierten, und Exorzisten.46 Diese unterschiedlichen Optionen, sich als Religion der Heilung auszugestalten, prägen aber das Christentum und den Protestantismus bis auf den heutigen Tag. Eine Theologie, die im lukanischen Sinne Christus als Arzt versteht, kann unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die (moderne) Ausdifferenzierung von Religion und Krankenbehandlung bejahen – und zugleich ein starkes Interesse an den Entwicklungen der Medizin behalten, weil sie die medizinische Krankenbehandlung als eine Form des heilenden Handelns Gottes versteht. Indem die Theologie nicht mehr beansprucht, die Herkunft der natürlichen Übel wie Krankheit metaphysisch zu klären, sondern schlicht als natürliche Folge der Endlichkeit des Menschen versteht, werden Krankheiten einerseits konsequent zum Gegenstand wissenschaftlicher medizinischer Forschung. Die Erfahrung von Krankheit wird zu einem permanenten Impuls, »die den menschlichen Bestrebungen entgegentretenden Aeußerungen natürlicher Kräfte […] in noch höherem Grade der Herrschaft des Menschen zu unterwerfen.«47 Wie Jesus an dem Blindgeborenen aus Joh 9 »seine eigenthümliche Wunderkraft« demonstriert,48 so solle die Menschheit an den natürlichen Übeln in immer höherem Grade ihre Fähigkeit zur Naturbeherrschung demonstrieren. Andererseits schärft die Auflösung des behaupteten Zusammenhanges von Sünde und Krankheit den Blick für die sozialen Übel, sowohl die gesellschaftliche Produktion von Krankheit als auch die Missachtung der Kranken, ihre Desintegration und Exklusion. Schon die alttestamentlichen Psalmen bringen klagend zum Ausdruck, dass Krankheit oftmals als ein sozial isolierendes Geschehen erfahren wird. Aus Nachbarn werden Fremde und aus Freunden Feinde. So klagt etwa der kranke Hiob: »Es bleiben aus, die nah sind, und meine Bekannten vergessen mich. 46 Nach Harnack hat es in der Alten Kirche sowohl Ärzte (vgl. ebd., S. 1–14, S. 108; vgl. Brennecke, Hanns Chr.: »Heilen und Heilung in der Alten Kirche«, in: Martin Evang/ Helmut Merklein/Michael Wolter (Hg.), Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag, Berlin/New York: De Gruyter 1997, S. 23–45, hier S. 36f.) als auch Exorzisten (vgl. von Harnack 1906, S. 75.) gegeben. Verfügten die Ärzte über eine medizinische Bildung, so seien die »Exorzisten gewöhnlich ungebildete Leute« gewesen (vgl. ebd., S. 88, Anm. 4). 47 F. Schleiermacher: Der Christliche Glaube, § 75, S. 474. 48 Ebd., § 76, S. 478.
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[…] Alle meine Freunde verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt.« (Hi 19, 14.19). Es ist beschämend, dass diese altorientalischen Klagen auch heute noch Kranken und Sterbenden aus dem Herzen sprechen. Weil Krankheit nie nur ein natürliches, sondern immer auch ein soziales Übel ist, muss konsequent nach jenem Anteil an der Krankheit, der seinen Ursprung im menschlichen Handeln hat, gefragt und dann alles zu dessen Minimierung getan werden. »Der Wille zur Gesundheit eines Jeden muß also auch die Gestalt des Willens zur Besserung, zur Hebung, vielleicht zur radikalen Umgestaltung der allgemeinen Lebensbedingungen Aller – wenn es nicht anders geht: des Willens zu einer ganz neuen, ganz anderen, bessere Lebensbedingungen für Alle garantierenden Gesellschaftsordnung – annehmen. Wo die Einen krank werden müssen, da können auch die Anderen nicht mit gutem Gewissen gesund sein wollen.«49 Meines Erachtens lässt sich diese protestantische Tradition als Resonanz des lukanischen Modells einer Kopplung von Religion und wissenschaftlich begründeter Medizin lesen. Wie aber dem LkEv im neutestamentlichen Kanon die Wundertraditionen des MkEv und der Apg gegenüberstehen, so sind die reformatorischen Kirchen heute durch die Pfingstbewegung herausgefordert, deren Gemeinden sich selbst als Quelle der Heilung anbieten und ein gegen Krankheiten immunisierendes Netzwerk aufzubauen versuchen. »Prayer for divine healing is perhaps the most universal characteristic of the many varieties of Pentecostalism and perhaps the main reason for its growth in the developing world.«50 Dass die Heilungen in der Pfingstbewegung nachhaltig Wirkung zeigen, dürfte zum einen dadurch zu erklären sein, dass die Geheilten in eine Gemeinschaft wechselseitiger Unterstützung integriert werden,51 zum anderen mit Max Webers Hinweis auf die Rationalisierung der Lebensführung, die sich einstellt, wenn Gläubige ihr ganzes Leben als Preis für ihre Heilung Christus überantworten und an die Stelle privater Vergnügungen den Aufbau sozialer Netzwerke, die Erbauung der Gemeinde Christi, setzen. »In the ideological and comportmental realms, believers further restore and preserve their health through a Manichean worldview and an ascetic moral code. […] Put into practice, Pentecostal dualism becomes a strict moral code that requires converts to renounce their earthly vices. Men in particular must exit the carnal drama of the street and take up roles in the spiritual theaters of home and church. In abjuring vice, men abandon some of the main behavior associated with the male prestige complex«.52 49 Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik III/4, § 55, S. 413. 50 Anderson, Allan: An Introduction to Pentecostalism. Global Charismatic Christianity, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2004, S. 30. 51 Vgl. R. A. Chesnut: Born again, S. 92–107. 52 Ebd., S. 170; vgl. S. 108–125.
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Warum es aber überhaupt im Kontext der Religion Heilungen gibt, ist der rationalen Vernunft des Westens nur schwer zu erschließen. Der Heidelberger Ethnologe William S. Sax führt die Heilkräfte von Ritualen vor allem auf Stressreduktion, die Bearbeitung sozialer Konflikte und Vertrauensbildung zurück.53 Möglicherweise kann man davon ausgehen, dass die Heilrituale die Randbedingungen eines Systems, etwa der Familie, aber auch des Körpers, so verändern,54 dass sich diese Veränderung bis hin ins Soziale und Körperliche auswirkt: »Recent research on the physiological effects of meditation, behavior therapies, biofeedback, and placebos suggest a number of different ways by which indigenous therapies may effect biologically-based diseases. In that the epidemiological web causing and sustaining physiological diseases not infrequently includes major psychosocial factors, indigenous healing may at times work to effect such diseases by altering those factors.«55 Auch die in der Pfingstbewegung begegnende Form der Kopplung von Religion und Krankenbehandlung lässt sich im Resonanzfeld neutestamentlicher Überlieferungen begreifen. Versteht man Jesus im Anschluss an das MkEv als religiösen Heiler bzw. Exorzisten, wird man in seiner Nachfolge der Ausdifferenzierung von Religion und Krankenbehandlung eher skeptisch gegenüberstehen56 und angesichts der Folgen dieser Ausdifferenzierung in der sogenannten Mehrheitswelt die Krankenbehandlung wieder ganz in die Religion zurücknehmen. »In a situation where secular society provides adequate health care only for those with 53 Sax, William S.: »Heilen Rituale?«, in: Axel Michaels (Hg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg: Winter 2007, S. 213–235, hier S. 227ff. 54 Vgl. Sax, William S.: »Healing Rituals. A critical performative approach«, in: Anthropology and Medicine 11 (2004), S. 293–306, hier S. 302: »the power of public rituals lies in the fact that they are the chief site where both collective and individual identities are created, reiterated, and transformed.« 55 Kleinman, Arthur/Sung, Lilias H.: »Why do indigenious practitioners succesfully heal?«, in: Social Science and Medicine 13B (1979), S. 7–26, hier S. 24. 56 So plädiert etwa Bernd Kollmann, der in seinem Buch Jesus und die Christen als Wundertäter die schamanenhafte Portraitierung Jesu im Markusevangelium herausstellt (vgl. Kollmann, Bernd: Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 289f.), für eine vorsichtige Öffnung der christlichen Religion für Magie und Schamanismus: »Von dem Vorurteil befreit, zwangsläufig degenerierte Form von Religion oder Aberglaube zu sein, können Magie und Schamanismus mit ihrem ganzheitlich orientierten Welt- und Menschenbild in Rückbesinnung auf die Heilungswunder bei Jesus und den frühen Christen befruchtend auf die seelsorgerlich-therapeutische Praxis wirken« (ebd., S. 380).
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the means to purchase it, the economically disenfranchised frequently turn to the only available source of healing: the divine.« 57 Insbesondere dort, wo das System der Krankenbehandlung derart monetarisiert ist, dass es diejenigen, die als finanziell nur gering potente Kunden wahrgenommen werden, auch medizinisch abschreibt, wird sich die Religion als Quelle auch leiblicher Heilung anbieten und ein gegen die Krankheiten immunisierendes Netzwerk aufzubauen versuchen. Soll heißen: Von seinen Anfängen her ist nicht eine bestimmte Form der Kopplung von Religion und Krankenbehandlung für das Christentum charakteristisch, sondern der Diskurs über die Frage, wie man sich als Religion zur rationalen Medizin verhält. Wo das erkannt wird, wo man die unterschiedlichen Umgangsweisen mit Krankheit etwa in der Pfingstbewegung einerseits, in den reformatorischen Kirchen andererseits als verschiedene Weisen der Schriftlektüre und damit der Wahrnehmung Jesu rekonstruiert, kann man wechselseitig auch in der fremden Form eine Gestalt der Nachfolge Jesu erkennen. Auf dieser Basis erscheinen dann auch wechselseitige Lernprozesse zwischen den Konfessionen möglich. Die reformatorischen Kirchen werden gegenüber der Pfingstbewegung für die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe und medizinischer Heilkunst werben. Dabei muss sich dieses Werben, um nicht als zynisch wahrgenommen zu werden, mit dem Einsatz für eine Medizin verbinden, die auch den wirtschaftlich Exkludierten zugänglich ist. Denn wie sich der irdische Jesus als Arzt insbesondere den Armen zugewandt hat, so wurde Jesus dort, wo man ihn in der Alten Kirche als Arzt verstand, besonders als Arzt der Armen verkündigt. Entsprechend haben die christlichen Krankenhäuser anders als die Asklepiosheiligtümer, an denen zu kuren nicht billig war, die Kranken unabhängig von Stand und Vermögen aufgenommen.58 Umgekehrt könnten die reformatorischen Kirchen von der Pfingstbewegung lernen, ihre eigenen Heilkräfte, insbesondere die des Gebetes, wahrzunehmen. Konkret könnte das bedeuten, gegenüber der alleinigen Konzentration auf das seelsorgerliche Individualgespräch die Bedeutung von Gemeinschaft und Gebet in der Krankenhausseelsorge stärker zu gewichten. Dabei könnte auch der Salbung mit Öl eine besondere Bedeutung zukommen. Diese greift ein zentrales Motiv aus den Überlieferungen von den Krankenheilungen Jesu auf: die Berührung des Kranken. Angesichts der isolierenden Kraft der Krankheit, die oftmals zur Stigmatisierung der Kranken führt, nimmt die Berührung der Krankheit bereits einen Teil ihrer Macht. Das wird deutlich, wenn Jesus Aussätzige (Mk 1, 41), Menschen mit Fieber (Mk 1, 31) und Menschen in Todesnähe (Mk 5, 39–41) berührt und er sich berühren lässt von einer Frau, die 57 R. A. Chesnut: Born again, S. 179. 58 Vgl. H. C. Brennecke: Heilen und Heilung, S. 32–43; B. Kollmann: Jesus, S. 362ff.
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blutflüssig ist (Mk 5, 27–34), von einer anderen, die ihre Umwelt für eine Sünderin hält (Lk 7, 39), schließlich: von allen Kranken (Mt 14, 35f.). Im Blick auf die Krankensalbung lassen sich bereits wechselseitige ökumenische Lernprozesse wahrnehmen.59 Herausgefordert durch die Heilungspraxis der Pfingstbewegung und im Anschluss an die Wiederentdeckung der zwischenzeitlich zur Letzten Ölung deformierten Krankensalbung durch das Zweite Vatikanische Konzil erarbeiteten die amerikanischen und kanadischen Lutheraner 1982 eine Ordnung »Laying on of Hands and Anointing the Sick«.60 Die Ölung wird hier als eine kirchliche Handlung verstanden, die den Kranken nicht auf seinen bevorstehenden Tod, sondern seine Gesundheit hin anspricht.61 Das Aufbrechen der klassischen Face-to-Face-Situation der Krankenhausseelsorge durch die Einführung liturgischer Formen sollte zu einer Gottesdienstgemeinschaft von Kranken und Gesunden führen. Dabei kommt alles darauf an, dass die Gesunden nicht nur durch die eine Pfarrerin repräsentiert werden – man also von einer one-to-one- auf eine one-to-many-Form umstellt –, sondern in den Gottesdiensten der Krankenhäuser Menschen präsent sind, die außerhalb der Krankenhäuser leben und arbeiten.62
59 Vgl. dazu Jordahn, Ottfried: »Erneuerung der Feier der Krankensegnung und Krankensalbung in ökumenischer Perspektive«, in: Dorothea Sattler/Gunther Wenz (Hg.), Sakramente ökumenisch feiern. Vorüberlegungen für die Erfüllung einer Hoffnung. Für Theodor Schneider, Mainz: Matthias-Grünewald-Verl. 2005, S. 445–466; Ernsting, Heike: Salbungsgottesdienste in der Volkskirche. Krankheit und Heilung als Thema der Liturgie, Leipzig: Evang. Verl.-Anst. 2012. 60 Lutheran Church in America (Hg.): Occasional Services. A Companion to Lutheran Book of Worship, Minneapolis/Philadelphia: The Board of Publ. of the United Lutheran Church in America 1982, S. 99–102. 61 Entsprechend differenziert die in der Nachfolge der nordamerikanischen Ordnung von 1982 stehende Agende der VELKD von 1994 bei der Krankensegnung mit Salbung deren Vollzug bei Kranken und bei Sterbenden; vgl. Kirchenleitung der VELKD (Hg.): Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. 3, Die Amtshandlungen, Teil 4 Dienst an Kranken, Hannover: Luther. Verlagshaus 1994, S. 87–102. 62 Dass dieses Ziel keineswegs illusionär ist, belegen u.a. Erfahrungen aus der Krankenhausseelsorge in der bayrischen Kleinstadt Günzburg, wo zu den regelmäßig angebotenen Krankensegnungsgottesdiensten meistens auch »einige Gemeindeglieder von außerhalb« des Krankenhauses kommen (vgl. Bayer, Hans-Helmut/Bayer-Stude, Kathrin: »Liturgien des Segnens im Krankenhaus«, in: Helmut Herberg (Hg.), Segen erfahren. Ein praktisches Begleitbuch für die Seelsorge im Krankenhaus, München: ClaudiusVerl. 2000, S. 101–129, hier S. 114.
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In einer solchen Gemeinschaft, im gemeinsamen Gebet, der Salbung als einer die Isolation des Kranken durchbrechenden Berührung, aber auch im Wirken der medizinischen Heilkunst können Menschen erfahren, dass Gott seine Schöpfung nicht einfach ihren eigenen Gefährdungen überlässt, sondern Menschen aus diesen Gefährdungen errettet und an seiner rettenden Auseinandersetzung mit der sinnlosen Zerstörungskraft der von ihm geschaffenen Welt beteiligt.
3. G EGENWÄRTIGE HERAUSFORDERUNGEN VON MEDIZIN UND THEOLOGIE Der medizinische Kampf gegen die Krankheit wird von Kranken oftmals als Kampf gegen die Kranken wahrgenommen. Die moderne Medizin hat sodann, gerade weil sie so erfolgreich war, dazu beigetragen, dass »das Gesundheitsverlangen latent religiöse Züge annimmt« und »jede Beeinträchtigung des Wohlbefindens als […] Einschränkung sinnhaften Lebens und somit ausschließlich negativ bewertet wird«.63 Schließlich droht der Kampf gegen die Krankheit mit den neuen Möglichkeiten zunächst der Apparate und dann der Biomedizin Patientenautonomie und Menschenwürde auszuhebeln. Auf den ersten Punkt hat Susan Sontag mit ihrem Essay »Illness as Metaphor« 1988 eindrucksvoll aufmerksam gemacht. Selbst an Krebs erkrankt, erlebte sie, wie die Diagnose Krebs die Kranken gesellschaftlich stigmatisiert. »Kriegsmetaphern bewirken die Stigmatisierung bestimmter Krankheiten, damit aber die Stigmatisierung der an ihnen Erkrankten«.64 Eben deshalb plädiert Sontag für eine konsequente »Entmythisierung«:65 So solle man etwa »Krebs einfach als Krankheit betrachten lernen – eine ernste Krankheit, aber eben eine Krankheit, weder Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne ›Bedeutung‹.«66 Eine theologische Möglichkeit zu einer solchen Entmythisierung tut sich auf, wenn man nach der Bedeutung der dämonologischen Deutung von Krankheit im Neuen Testament für die Theologie als ganze fragt: Wer diese Deutung ernst nimmt, muss eingestehen, dass sich in dieser Welt vieles ereignet, was Gott nicht will. Gegenüber der verzeichnenden Rede von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit muss also die Eigenmächtigkeit der Geschöpfe und die aus ihr resultierende Gefährdung der Schöpfung in den Blick genommen werden. Diese Ei63 Körtner, Ulrich H. J.: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 201. 64 S. Sontag: Krankheit als Metapher, S. 84. 65 Ebd., S. 11. 66 Ebd., S. 86.
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genmächtigkeit ist aber als solche keineswegs dämonisch, sondern Teil der guten Schöpfung Gottes. Indem – wie der priesterschriftliche Schöpfungsbericht zeigt – der Schöpfer seinen Geschöpfen an seiner schöpferischen Macht Anteil gibt,67 setzt er seine Schöpfung zugleich der Gefahr geschöpflicher »Selbstgefährdung und Selbstzerstörung« 68 aus. Krankheiten, die oftmals nur als eine ins eigene Leben einbrechende sinnlose Zerstörungskraft verstanden werden können, lassen sich so als Folge der Eigenmächtigkeit der Geschöpfe verstehen. Denn dass der Schöpfung Freiheit eingeräumt ist, sich selbst zu entwickeln, heißt eben auch, dass dieselben »biochemischen Prozesse, die die Evolution voranbringen, indem sie durch Zellmutationen neue Lebensformen hervorbringen, […] auch dazu führen [können], dass andere Zellen in einer anderen Weise mutieren und bösartig wuchern«.69 Krankheiten sind deshalb nicht im Kontext der Dämonologie, sondern der Schöpfungslehre zu verstehen – als Krankheiten ohne Bedeutung, ohne Sinn, als Folgen naturaler Prozesse, die eben nicht wie ein mechanisches Uhrwerk verlaufen, sondern denen die Freiheit gegeben ist, ihre eigenen Möglichkeiten auszuprobieren, und die eben deshalb auch lebensabträgliche Formen annehmen können. Wie aber der Schöpfer nicht gleichgültig ist gegenüber den lebensförderlichen und lebensabträglichen Formen seiner Schöpfung, sondern stets darin begriffen ist, »die Einheit von Leben und Tod zugunsten des Lebens« zu gestalten,70 so ist auch den Geschöpfen, indem Gott ihnen Anteil an seiner schöpferischen Macht gibt, der Auftrag verliehen, an der lebensförderlichen Gestaltung der Einheit von Leben und Tod mitzuwirken. Da Leben sich aber immer als gemeinschaftliches Leben vollzieht, darf der Kampf gegen die Krankheit niemals als Kampf gegen die Kranken, sondern nur mit ihnen zusammen geführt werden. »Gerade im Kampf gegen die Krankheit wird nicht Absonderung, sondern nur Gemeinschaft das letzte menschliche Wort sein können.«71 67 Vgl. dazu Welker, Michael: Schöpfung und Wirklichkeit, Neukirchen: Neukirchener Verl. 1995, S. 21–23. 68 Ders.: »Der erhaltende, rettende und erhebende Gott. Zu einer biblisch orientierten Trinitätslehre«, in: Ders./Miroslav Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität. Jürgen Moltmann zum 80. Geburtstag, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 34–52, hier S. 37. 69 Polkinghorne, John/Welker, Michael: An den lebendigen Gott glauben. Ein Gespräch, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, S. 39. 70 Die Formulierung ist übernommen von Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr Siebeck 61992, S. 434. 71 K. Barth: KD III/4, § 55, S. 413.
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Der propagierte Kampf gegen die Krankheit hat (zweitens) dazu beigetragen, dass alle Formen menschlicher Lebenseinschränkung nur mehr als zu überwindende angesehen werden und nicht länger »als eine zum Glück komplementäre Dimension gesunden Lebens«.72 Demgegenüber muss, damit der Kampf gegen die Krankheit human bleibt, im Blick auf menschliche Lebenseinschränkungen zwischen Krankheit und Nicht-Krankheit unterschieden werden. Unter Nicht-Krankheit verstehe ich dabei mit Richard Smith »a human process or problem that some have defined as a medical condition but where people may have better outcomes if the problem or process was not defined in that way«.73 Als Beispiele für Nicht-Krankheiten nennt Smith nicht nur Tränensäcke oder Haarausfall, sondern auch das Altern und die Menopause. Die Unterscheidung von Krankheit, die es zu überwinden gilt, und Nicht-Krankheit als Ausdruck der guten Endlichkeit des Menschen bewahrt die Einsicht, dass der Kampf gegen die Krankheit nur human bleibt, wenn nicht versucht wird, den Menschen um den Preis seiner Endlichkeit zu heilen.74 Das heißt konkret: Wenn alle Lebenskräfte durch den Kampf gegen die Krankheit absorbiert werden, wenn der Kampf gegen die Krankheit zur alles bestimmenden Lebenswirklichkeit wird, wird die Gesundheit zu einem Götzen, der Lebensmöglichkeiten raubt. Gerade der sterbende Mensch soll die ihm verbleibenden Lebensmöglichkeiten nicht nur in den Kampf gegen die Krankheit investieren, sondern auch auf anderen Lebensfeldern verwirklichen. Umgekehrt hat jede Ergebung in den Tod der Klage Raum zu geben: der Klage und Anklage gegen den Skandal des abrupten Endes gelebter Beziehungen. Die Schwierigkeit, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren, zeigt sich, wenn Patienten oder deren Angehörige auch noch am Ende eines langen Lebens geradezu einfordern, unter Einsatz aller medizinischen Möglichkeiten diesem Leben noch weitere Zeit zu verschaffen, oder wenn Kinder eines Patienten äußern: »Das ist nicht mehr meine Mutter! Das ist nicht mehr mein Vater!« Zu einem endlichen Leben gehören Licht- und Schattenseiten, gehört auch die Abnahme von Lebens- und Geisteskraft. Eine Person ist deshalb nicht nur die, als die sie auf der Lichtseite des Lebens erscheint, sondern sie ist die Einheit der Licht- und Schattenseite ihrer Existenz. Wenn es zum menschlichen Leben als endlichem Leben gehört, dass dieses durch Prozesse der Zunahme und Abnahme von Lebenskraft gekennzeichnet ist, 72 U. H. J. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 229. 73 Smith, Richard: »In search of ›non-disease‹« in: BMJ 324 (2002), S. 883–885, hier S. 885; vgl. dazu auch Körtner, Ulrich H. J.: »Mit Krankheit leben. Der Krankheitsbegriff in der medizinethischen Diskussion«, in: ThLZ 130 (2005), S. 1273–1290, hier S. 1285. 74 Vgl. dazu Körtner, Ulrich H. J.: »Dimensionen von Heil und Heilung«, in: Ethik Med 8 (1996), S. 27–42, hier S. 39.
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stellt sich die Frage, ob auch Demenz als eine Verfasstheit des menschlichen Lebens, in die der Mensch, je älter er wird, umso sicherer eingeht, als ein Grunddatum menschlicher Existenz verstanden werden sollte. Gewiss: Die unter dem Oberbegriff Demenz zusammengefassten Krankheiten sind einerseits Krankheiten, an deren Überwindung die Medizin mit Nachdruck arbeiten soll. Aber die Demenz ist andererseits auch ein Phänomen, an dem etwas zutiefst Menschliches offenbar wird: nämlich, dass zum Menschen auch der Verlust körperlicher und kognitiver Fähigkeiten gehört. Wir sollten deshalb nicht nur fragen, wie wir Demenz überwinden können, sondern ebenso, wie wir die Demenz bestehen können. Welche Lebensmöglichkeiten müssen wir Demenzkranken schaffen, damit sie ihre Demenz in Würde bestehen können? Die Unterscheidung zwischen dem zu bekämpfenden und den aus freier Einsicht zu akzeptierenden Einschränkungen des Lebens, zwischen Krankheit und Nicht-Krankheit kann immer nur im Kontext der Biographie eines individuellen Menschen, eines konkreten Kranken vollzogen werden. Eben deshalb ist das Gespräch zwischen Ärztinnen und Ärzten einerseits und Seelsorgerinnen und Seelsorgern andererseits notwendig. Denn Mediziner und Seelsorger haben an unterschiedlichen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Hoffnungen und Ängsten der Patienten Anteil. Themen, die eine Patientin im Gespräch mit ihrer Ärztin nicht bespricht, werden möglicherweise im Seelsorgegespräch virulent. Ein Seelsorger kommt zu einer Patientin, die gegenüber Ärzten und Schwestern immer wieder über ihre Schmerzen klagt. Auch das Seelsorgegespräch dreht sich im Kreis um die Schmerzen herum. Da wagt der Seelsorger eine knappe Intervention: »Und die Schmerzen – das ist das Schlimmste?« Die Patientin fängt zu weinen an – und sagt: Nein, das Schlimmste ist, dass meine Kinder hier in der Stadt wohnen und mich bisher kein einziges Mal besucht haben. Von diesem Moment an ist von den Schmerzen nicht mehr die Rede. Dass die Frau zu ihrer eigentlichen Not nicht mehr schweigt, gibt der Frau in ihrem Leiden eine Würde, die sie auch anderes ertragen lässt.75 Entsprechend kann im Seelsorgegespräch auch der Wunsch thematisiert werden, eine weitere Operation nicht durchzuführen. Um einer Behandlung willen, die sich wirklich am konkreten individuellen Menschen als Einzelfall orientiert, wäre es deshalb wünschenswert, Seelsorgerinnen und Seelsorger in ärztliche Entscheidungsprozesse institutionell einzubinden. Dazu ermutigende Erfahrungen gibt es durchaus. Bereits 1980 wurde auf Initiative des Neurologen Dieter Janz am Charlottenburger Klinikum der FU eine 75 Die Falldarstellung ist übernommen aus Eibach, Ulrich, »Beihilfe zur Selbsttötung? Eine ethische und seelsorgerliche Beurteilung«, in: Deutsches Pfarrerblatt 112 (2012), S. 15–19.
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Pfarrerin als klinische Theologin angestellt. In der Festschrift für Dieter Janz hat die Neurologin Mechthilde Kütemeyer dargestellt, wie die Präsenz der Theologin den Klinikablauf positiv beeinflusst und verändert hat: »Aus ihren Begleitungen brachte die Theologin vielfältige Schätze mit, Aufschlüsse über das Befinden, die Befürchtungen, Wünsche, Bedürfnisse der Patienten, Erinnerungsstücke aus ihrem Leben. Musste ein Patient, bewusstlos, sprachunfähig, auf die Intensivstation verlegt werden, wusste sie den dortigen Mitarbeitern Einzelheiten zur Person und Eigenarten zu berichten, zu seinen Todeswünschen oder Lebensimpulsen, sodass die Betreuer nicht einen ›Fall‹, sondern ein Individuum behandeln konnten.«76 Der moderne Kampf gegen die Krankheit steht dagegen (drittens) in der Gefahr, die Krankheit als körperlichen Defekt von der Person des Kranken mit ihrer individuellen Geschichte zu lösen.77 Behandelt wird dann nicht eine Person, sondern ein Fall. Ermöglicht wird eine solche Therapie durch die moderne und in der Moderne extrem erfolgreiche Unterscheidung zwischen Körper und Seele, die René Descartes (1596–1650) auf den Begriff gebracht hat. Descartes unterschied zwischen einer res extensa und einer res cogitans, also einer ausgedehnten und einer denkenden Wirklichkeit. Die ausgedehnte Wirklichkeit, also die Wirklichkeit von Körpern, zu der auch unsere Körper gehören, lässt sich nach Descartes letztlich rein mechanistisch beschreiben. In seiner Beschreibung des menschlichen Körpers will Descartes »die ganze Maschine unser Körpers« auf eine solche Weise erklären, »dass wir nicht mehr Anlass zu der Annahme haben, dass es unsere Seele ist, welche in ihr die Bewegung hervorruft, […] als Anlass anzunehmen, dass es in einer Uhr eine Seele gibt, welche die Stunden anzeigt.«78 76 Kütemeyer, Mechthild: »Neurologie und Psychosomatik. Erinnerung an die Janz’sche Klinik«, in: Rainer M. Jacobi/Peter C. Clausen/Peter Wolf (Hg.), Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie. Festschrift für Dieter Janz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 191–214, hier S. 196. 77 Demgegenüber hat schon Barth darauf hingewiesen, dass es in jeder Krankheit immer um den ganzen Menschen gehe, »um die Geschichte seines Lebens, um seine eigene Geschichte und so um ihn selbst«; K. Barth: KD III/4, § 55, S. 408. Konsequent versteht Barth deshalb auch Gesundheit stets als die Gesundheit eines einzelnen bestimmten Menschen: Denn Gesundheit als Kraft zum Menschsein realisiert sich immer in der Kraft zur Fortsetzung der je eigenen »Geschichte in ihrer Einheit und Ganzheit« (ebd.). Entsprechend sei jeder Kranke ein »Einzelfall […], ein Jeder ein neuer Fall, in welchem die [medizinische] Wissenschaft und ihre Kunstregeln eine besondere neue Gestalt annehmen müssen«, ebd., S. 411. 78 Descartes, René: »Beschreibung des menschlichen Körpers«, in: Ders., Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648), Heidelberg: Schneider 1969, S. 137–190, hier S. 141.
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Leibliche Prozesse sind demnach seelenlose Prozesse und deshalb wie alle körperlichen Prozesse mechanistisch zu beschreiben. Folgerichtig erschließt sich einer solchen Sichtweise der Körper nur noch als »Gliedermaschine«;79 er hat keinen Anteil mehr an der Subjektivität. Damit ist der Grund gelegt für eine im neuzeitlichen Sinne naturwissenschaftliche Physiologie. Die Maschine wird zum Modell, nach dem auch Lebendiges verstanden wird, die Krankheit dadurch zum physiologischen Defekt, den man von der Person losgelöst behandeln kann. Diese Wahrnehmung des Menschen ist im 20. Jahrhundert beständig problematisiert worden: in Deutschland von der Philosophischen Anthropologie, in Amerika vom Pragmatismus, in Frankreich von der Phänomenologie, in den letzten Jahren (auch innerhalb der Naturwissenschaften) von der embodied cognitive science und der Philosophie der Verkörperung.80 Die Unterscheidung zwischen Körper und Subjektivität ist immer eine sekundäre, primär ist die Einheit. Auch der physiologische Körper ist immer der Körper einer bestimmten Person. Die Konsequenzen aus dieser Sicht für das Verständnis der Krankheit haben psychosomatische und anthropologische Medizin gezogen: Die Krankheit lässt sich nicht lösen von der Person, die sie hat. Jede Krankheit hat deshalb eine spezifische Gestalt, die nach einer spezifischen Behandlung verlangt. Eben deshalb aber ist der kranke Mensch so in die Therapie einzubeziehen, dass er oder sie, soweit wie möglich, aus eigener Kraft an seiner Heilung mitarbeitet. Der kranke Mensch darf nicht ausschließlich als Objekt der Therapie verstanden, sondern muss als Subjekt des Heilungsprozesses gewürdigt werden.81 Was im Kampf gegen die Krankheit jeweils konkret zu tun ist, das erschließt sich nur im Gespräch mit dem Kranken – bzw. im Kontext seiner Biographie. Wie aber Krankheit eine je individuelle Gestalt hat, so ist auch Gesundheit keine neutrale Größe, die man objektiv bestimmen könnte. Gesundheit ist die 79 Descartes, René: Meditationen (1641), Hamburg: Meiner 2009, S. 5. 80 Zur Einführung vgl. Gregor Etzelmüller/Thomas Fuchs/Christian Tewes (Hg.): Verkörperung. Eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin: De Gruyter 2017; Etzelmüller, Gregor: »Verkörperung«, in: Gerd Jüttemann (Hg.), Entwicklungen der Menschheit. Humanwissenschaften in der Perspektive der Integration, Lengerich: Pabst Science Publ. 2014, S. 265–273; Fingerhut, Joerg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 9–102. 81 Vgl. Schneider-Flume, Gunda: Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 94–96. Sie betont zu Recht: »Notwendige Abhängigkeit von Medikamenten sowohl wie von Apparaten ist nur erträglich, wenn der Kranke unter der Anleitung des Arztes seinen Willen zur Gesundheit aktiv im Kampf gegen die Krankheit einsetzen kann.« Ebd., S. 96.
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Möglichkeit, sein Leben auf eine diesem Leben angemessene Art und Weise fortzusetzen. Meines Erachtens sind an dieser Stelle Paul Tillichs Ausführungen zum Lebensbegriff in seiner Systematischen Theologie weiterführend: Nach Tillich vollzieht sich das Leben in einem »Prozeß des Aus-sich-Herausgehens und Zu-sich-Zurückkehrens«.82 In diesem Prozess begegnet der Mensch unzähligen Möglichkeiten. Er kann ihnen nachgehen und sich so als lebendig erweisen, freilich mit der Gefahr, sich in der Fülle der Möglichkeiten selbst zu verlieren. Eben deshalb muss er, um mit sich selbst identisch zu bleiben, viele Möglichkeiten ausschlagen. Gesundheit als Erfüllung der wesentlichen Möglichkeiten eines Menschen verlange deshalb »das Opfer des Möglichen für das Wirkliche und des Wirklichen für das Mögliche«.83 Genau das verdeutlichen auch die Erzählungen von den Krankenheilungen Jesu. In vielen Erzählungen wird die Heilung mit einem Gebot Jesu verbunden bzw. der zukünftige Lebenswandel der Geheilten skizziert. In Mk 2 schickt Jesus den Geheilten heim (vgl. 2, 12), in Mk 5 wird dem geheilten Gerasener die Verkündigung bei den Seinen aufgetragen (vgl. 5, 18–20). In Mk 10 ergreift Bar timäus seine Gesundheit, indem er Jesus nachfolgt. Gesundheit hat demnach für jeden dieser Geheilten eine besondere Gestalt.84 Soll heißen: Demjenigen, dem die Nachfolge versagt wird und den Jesus nach Hause schickt, wird das Opfer einer Möglichkeit zugunsten seiner Lebenswirklichkeit zugemutet; derjenige, der in die Nachfolge eintritt, opfert die Wirklichkeit zugunsten einer neuen Möglichkeit. Dieses Opfer kann aber angemessen nur im Horizont letzter Lebensorientierung vollzogen werden. Die Frage, was Gesundheit jeweils konkret bedeutet, berührt sich deshalb mit der anderen nach der letzten Bestimmung des Menschen. Heil und Heilung sind zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Genau darauf verweisen Patienten, die, wenn sie das Krankenhaus als vermeintlich geheilt verlassen, fragen: »Was soll ich denn nun tun, um wirklich gesund zu werden?«.85 82 Tillich, Paul: Systematische Theologie, Bd. 3, Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1966, S. 47. 83 Ebd., S. 57. 84 Die nicht–beliebige Verwertbarkeit von Gesundheit bringt besonders markant das Johannesevangelium zum Ausdruck, wenn Jesus in Joh 5 zu dem Geheilten vom Teich Bethesda sagt: »Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nichts Schlimmeres widerfahre!« (5, 14). Dabei darf das Schlimmere nicht als schlimmere Krankheit, die härter als 38 Jahre Siechtum ist, verstanden werden, sondern als die bewusste Verfehlung des Lebens. 85 Vgl. von Weizsäcker, Viktor: »Fälle und Probleme. Anthropologische Vorlesungen in der Medizinischen Klinik. II.–XL.: Vorstellungen«, in: Ders., Gesammelte Schriften,
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Insofern gehören Heilung und Lebensorientierung nicht nur im Urchristentum, sondern auch in der Gegenwart zusammen.
Bd. 9, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, 20–271, hier S. 222. Weizsäcker kommentiert: Diese Patientinnen und Patienten »geben nicht zu, daß sie nun gesund sind, und damit haben sie ganz recht.«.
III. Religion und alternative Heilungsangebote: konzeptuelle und theoretische Spannungsbögen
»Imagined Origin«: Ayurveda, Reiki und Traditionelle Chinesische Medizin Dorothea Lüddeckens
»Sie suchen nach authentischer chinesischer Kräutertherapie, Akupunktur, Akupressur, Moxabehandlungen oder Schröpfung? – Hier sind Sie richtig! Die JIN FENG-Praxis der TCM in Stralsund steht für langjährige Kompetenz aus jahrtausendealter Tradition. Sie wurde als erste Praxis im deutschsprachigen Raum etabliert, die authentische Chinesische Kaiser-Medizin […] der Wu-Familie […] nach den alten Traditionen von Großmeister Wu Gong Jue anzuwenden und nach diesen Regeln zu praktizieren.«1
Asiatische Herkunft und »jahrtausendealte« Tradition – mit beiden Merkmalen wird auf dieser Stralsunder Webseite Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) angeboten. So wie hier ist das in dieser Kombination von Herkunft und Alter oft auch auf anderen Webseiten von Angeboten für »asiatische« Heilverfahren zu finden. Der folgende Beitrag möchte für das damit kommunizierte Selbstverständnis – zu welchem, wie wir sehen werden, auch noch eine ›spirituelle‹ Semantik gehört – den Begriff der imagined origin vorschlagen. Dabei wird anhand von Webseiten für Angebote von Ayurveda, Reiki und TCM aus Mecklenburg-Vorpommern exemplarisch gezeigt,2 wie sich diese imagined origin konkret gestaltet. Komplementäre und alternative Heilverfahren (CAM) sind zunehmend Forschungsgegenstand verschiedener Disziplinen, darunter auch der Religionswissenschaft.3 Auch im Feld selbst besteht der Eindruck, dass zum Beispiel die »Nach1 https://tcm-praxis-jin-feng.de/, 22.2.2018. 2 Als Quellen dienten Webseiten von Ayurveda, Reiki und TCM-Anbietenden aus Greifswald, Rostock, Schwerin, Stralsund und Neubrandenburg, die im Zeitraum von April 2017 bis Mai 2018 aufgerufen wurden. 3 Vgl. Koch, Anne: »Alternative Healing as Magical Self-Care in Alternative Modernity«, in: Numen 62/4 (2015), S. 431–459; dies.: »Ayurveda – Zur Attraktivität eines
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frage nach Ayurveda […] kontinuierlich« steigt und ein »Ende dieser Entwicklung […] vorerst nicht abzusehen« ist,4 wie das deutsche Ärzteblatt schreibt. Ähnliches scheint auch für die Traditionelle Chinesische Medizin und Reiki zu gelten.5 Heilverfahren, die aus Asien stammen bzw. mit asiatischen Kulturen verbunden werden, gewinnen in Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern an Relevanz. Quantitative Untersuchungen lassen vermuten, dass in vielen westlichen Ländern bis ungefähr zur Jahrtausendwende die Zahlen im Hinblick auf die Anwendung von Alternativ- und Komplementärmedizin (CAM) generell zugenommen haben und seitdem zumindest mehr oder weniger konstant bleiben.6
alternativen Heilsystems«, in: Verena Wetzstein (Hg.), Was macht uns gesund? Heilung zwischen Medizin und Spiritualität, Freiburg: Katholische Akademie Freiburg 2006, S. 57–75; dies.: »Spiritualisierung eines Heilwissens im lokalen religiösen Feld? Zur Formierung deutscher Ayurveden«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 13 (2005), S. 21–44; dies.: »Wie Medizin und Heilsein wieder verwischen. Ethische Plausibilisierungsmuster des Ayurveda im Westen«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52/2 (2006), S. 169–182; dies./Binder, Stefan: »Holistic Medicine between Religion and Science. A Secularist Construction of Spiritual Healing in Medical Literature«, in: Journal of Religion in Europe 6/1 (2013), S. 1–34. 4 »Ayurveda – Traditionelle Indische Medizin: Mehr als ein Wellnesstrend«, https:// www.aerzteblatt.de/archiv/145838/Ayurveda-Traditionelle-Indische-Medizin-Mehrals-ein-Wellnesstrend, 23.3.2018. 5 Für die Inanspruchnahme von Reiki gibt es bislang für Deutschland, soweit mir bekannt ist, keine statistischen Daten. TCM wurde in Deutschland laut einer Statista-Umfrage (2016) von 8% schon einmal »ausprobiert«, regelmäßig genutzt von 2%. Zur Nutzung von Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) nach Altersgruppen 2016: https:// de.statista.com/statistik/daten/studie/630909/umfrage/umfrage-zur-nutzung-von-traditioneller-chinesischer-medizin-tcm-nach-altersgruppen/, 30.4.2018. 6 Vgl. Hunt, Kenneth J. u.a.: »Complementary and Alternative Medicine Use in England. Results from a National Survey«, in: International Journal of Clinical Practice 64/11 (2010), S. 1496–1502, hier S. 1501. Statistische Daten in diesem Bereich sind vor allem für Vergleiche insofern problematisch, als in die Studien jeweils unterschiedliche Verfahren unter dem Label »CAM« einbezogen werden. Siehe für Deutschland aus komplementärmedizinischer Sicht zur »Lage der Komplementärmedizin in Deutschland«: Marstedt, Gerd/Moebus, Susanne: »Inanspruchnahme alternativer Methoden in der Medizin«, in: Robert Koch Institut, Statistisches Bundesamt (Hg.), Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 9; Albrecht, Henning: »Lage der Komplementärmedizin in Deutschland«,
https://www.carstens-stiftung.de/artikel/zur-lage-der-komplementaer
medizin-in-deutschland.html, 19.5.2018.
»Imagined Origin«: Ayurveda, Reiki und Traditionelle Chinesische Medizin | 157
Zudem ist in den vergangenen Jahrzehnten auch eine wachsende Institutionalisierung vor allem auf dem zweiten Gesundheitsmarkt und bedingt ebenfalls auf dem ersten zu beobachten. Dies betrifft Verbands- und Ausbildungsstrukturen,7 sowie langsam, wenn auch zum Teil mit Rückschlägen, die rechtliche und ökonomische Verankerung in öffentlichen Gesundheitssystemen.8 Ein Beispiel für die Institutionalisierung der Ausbildung auf dem zweiten Gesundheitsmarkt sind die Paracelsus-Schulen, auf die von vielen Anbietenden in Greifswald, Rostock und Stettin als Ausbildungsort verwiesen wird.9
1. IMAGINED ORIGIN Es gibt zahlreiche kultur- und sozialwissenschaftliche Studien zur Akzeptanz von CAM, zu den mit diesen Heilverfahren verbundenen Erwartungen, ihrer Verbindung mit religiösen Traditionen und Konzepten sowie ihrer marktwirtschaftlichen Einbettung.10 Das kommunizierte Selbstverständnis dieser Verfahren, insbesondere sofern sie sich als ›asiatische‹ Verfahren verstehen, ist bislang kaum in den Blick gekommen. Dieses kommunizierte Selbstverständnis ist in auffälliger Weise bestimmt von drei Komponenten: asiatische Herkunft, hohes Alter und spirituelle Semantik. In Anlehnung an Andersons Konzept der imagined community11 soll dieses kommunizierte Selbstverständnis asiatischer Heilverfahren, jedenfalls sofern sie in westlichen Kontexten rezipiert werden,12 im Folgenden als eine imagined origin verstanden werden: Es ist eine ›Herkunft‹, insofern davon ausgegangen wird, dass die heute anzutreffenden Verfahren und die mit ihnen verbundenen Anthropolo7 Für TCM gibt es erste Ausbildungsstrukturen für MedizinerInnen an Universitäten, so z.B. am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. 8 Für die Schweiz vgl. H. Coste: Einstellung zum Medizinsystem, im vorliegenden Band. 9 So z.B. die ausgebildete Reiki Meisterin und TCM anbietende Martina Zimmermann: http://www.lichtwege-greifswald.de/Ueber-mich, 14.5.2018. Siehe auch Kalkowski, Peter/Paul, Gerd: Professionalisierungstendenzen in Berufen der Wellness-Branche, Göttingen: o.V. 2011, S. 255. 10 Vgl. Hero, Markus: »Der Markt für spirituelles Heilen«, in: Constantin Klein/Hendrik Berth/Friedrich Black (Hg.), Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze, Weinheim: Juventa 2011, S. 149–161. 11 Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation, Berlin: Ullstein 1998. 12 Entsprechende Beobachtungen finden sich allerdings auch in asiatischen Kontexten, siehe z.B. Langford, Jean: Fluent Bodies. Ayurvedic Remedies for Postcolonial Imbalance, Durham/London: Duke University Press 2002.
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gien bzw. ihre spezifischen Verständnisse von Krankheit und Gesundheit, die als gültige Erkenntnisse aufgefasst werden, aus den betreffenden historischen, geographischen und kulturellen Räumen stammen. Diese Herkunft ist »vorgestellt«,13 insofern die Relevanz dieser Herkunft weniger in einer historischen Datenlage begründet ist, die wissenschaftlich über die jeweils angenommenen langen Zeiträume hinweg zurückverfolgt werden könnte, als vielmehr in mehr oder weniger (un)bestimmten Assoziationen, die mit dieser Herkunft verbunden werden.14 Sie ist »begrenzt«,15 insofern sie geographisch und kulturell in Abgrenzung zu anderen Räumen und Kulturen bestimmt wird. Es ist eine asiatische bzw. indische (Ayurveda), japanische (Reiki) oder chinesische (TCM) Herkunft, die von einer europäischen unterschieden wird. Anderson versteht die Nation als »souverän«, da »ihr Begriff in einer Zeit geboren wurde, als Aufklärung und Revolution die Legitimität der als von Gottes Gnaden gedachten hierarchischdynastischen [sic] Reiche zerstörten.«16 Im Hinblick auf die genannten Heilverfahren könnte man fragen, ob sie ebenfalls als ›souverän‹ verstanden werden können: In einem gesellschaftlichen Kontext, in welchem die Naturwissenschaft und »Schulmedizin«17 bzw. Biomedizin die Autorität für die Deutung des menschlichen Körpers sowie Krankheit und Gesundheit 13 B. Anderson: Erfindung der Nation, S. 14f. 14 Siehe z.B. für Ayurveda: Reddy, Sita: »Asian Medicine in America. The Ayurvedic Case«, in: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science, Vol 583, Issue 1 (2002), S. 97–121; J. Langford: Fluent bodies; Reiki: Stein, Justin: »Global Flows of Universal Energy? Aquatic Metaphors, Network Theory, and Modeling Reiki's Development and Circulation in North America«, in: Jørn Borup/Marianne Qvortrup Fibiger (Hg.), Eastspirit. Transnational Spirituality and Religious Circulation in East and West, Leiden: Brill 2017, S. 36–60; TCM: Unschuld, Paul U.: Medicine in China. A history of ideas (Comparative studies of health systems and medical care), 25th anniversary ed., Berkeley: University of California Press 2010; Scheid, Volker: »Remodeling the Arsenal of Chinese Medicine. Shared Pasts, Alternative Futures«, in: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 583 (2002), S. 136–159; Hsu, Elisabeth: »The History of Chinese Medicine in the People’s Republic of China and Its Globalization«, in: East Asian Science, Technology and Society 2/4 (2008), S. 465–484. 15 B. Anderson: Erfindung der Nation, S. 15. 16 Ebd. 17 »Schulmedizin« ist eine häufig abwertend verwendete Fremdbezeichnung. Die damit gemeinten Akteure verwenden selbst eher die Bezeichnungen »wissenschaftlich orientierte« oder »wissenschaftlich begründete Medizin«. Um eine normative Wertung zu vermeiden, wird im Folgenden dem angloamerikanischen Sprachgebrauch gefolgt und der Terminus Biomedizin (»biomedicine«) verwendet.
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beansprucht, wird mit der Herkunft der betreffenden Verfahren eine demgegenüber unabhängige, eigenständige Wissensstruktur postuliert. Diese wiederum impliziert Anschlussfähigkeit zur ›Spiritualität‹ im Gegensatz zu der sich materialistischen Wissensstrukturen unterordnenden (und sich auf diese beschränkenden) naturwissenschaftlichen ›Biomedizin‹. 1.1 Historische und geographische Herkunft In der Regel wird bereits im ersten Satz, der das entsprechende Heilverfahren vorstellt, auf dessen Alter und seine geographische Herkunft verwiesen: »Reiki ist eine sehr alte Heilkunst, die in Japan im 19. Jh von Dr. Mikao Usui, einem christlichen Mönch, wieder entdeckt wurde.«18 »Traditionelle Chinesische Medizin ist jene Heilkunde, die sich in China seit mehr als 2000 Jahren entwickelt hat.« 19 »Die wohl älteste Wissenschaft der Menschheit, die sich […] mit dem Sinn unseres gesamten als auch unseres individuellen Daseins befasst, sind die Jahrtausende alten VEDEN, und ein ganz besonderer Wissenschaftszweig hierunter ist die Gesundheits- und Heilkunde AYURVEDA.«20
Der Verweis auf das Alter der betreffenden Verfahren ist offensichtlich relevant, ebenso wie die asiatische Herkunft, die auf vielen Webseiten, wie auch in vielen der dort abgebildeten Praxisräume, durch entsprechende Marker – wie das YingYang-Zeichen, 21 Ginkoblätter, 22 japanische oder chinesische Schriftzeichen23 – visualisiert wird. Die Hinweise auf diese spezifische Herkunft sind in einigen Fällen ergänzt durch Hinweise auf die universelle Anwendung und Geltung der betreffenden Verfahren. Damit werden diese zwar mit einem spezifischen kulturellen Hintergrund 18 http://www.picasso-greifswald.de/reiki.php, 22.2.2018. 19 https://www.tcmcentrum.de/, 22.2.2018. 20 http://ayurveda.listemann.de/, 22.2.2018. 21 Dies findet sich besonders bei TCM-Angeboten: so z.B.: https://www.gesundheitspunkt-hst.de/, 19.4.2018; https://www.naturheilpraxis-stralsund.de/, 19.4.2018; http:// www.indao.de/tcm.html, 14.5.2018. 22 Vgl. http://www.ayurvedapraxis-rostock.de/cms/, 19.4.2018. 23 Vgl. http://reiki.sabine-flatau.de/, 19.4.2018; http://www.heilpraktiker-torsten-galke.de/ index.php/traditionelle-chinesische-medizin-tcm, 19.4.2018.
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ausgewiesen, zugleich wird aber eine mögliche, damit einhergehende Relativierung verneint: So hat sich gemäß dem TCM-Centrum Rostock TCM »in China […] entwickelt« und ist »die traditionelle Medizin mit dem größten Verbreitungsgebiet«. Besonders »die Akupunktur wird heute weltweit praktiziert«, heißt es. 24 Ayurveda, schreibt Jörg Listemann aus Rostock, »entspringt dem indischen Kulturkreis, ist jedoch uneingeschränkt auf der ganzen Welt anwendbar.« 25
Die Kommunikation einer ›asiatischen‹ Herkunft steht im Kontext eines Orientalismus, wie er zum Beispiel auch für indische Ayurveda-Angebote26 und TCM27 beobachtet werden kann. Das ›hohe Alter‹ sowie der Ursprung in ›Asien‹ bilden Gegensätze zur ›westlichen‹, ›modernen‹ Biomedizin. Diese wiederum kommuniziert tatsächlich ›Modernität‹; so wirbt das Rostocker Klinikum mit einer »Versorgung, die auf den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht« sowie mit »modernste[n] Diagnose- und Therapieverfahren« 28 arbeitet, und das Helios-Hanseklinikum in Stralsund wirbt mit »moderner Medizin, moderner Technik und Empathie.«29 Und während bei der Bildästhetik der CAM-Angebote Natur-
24 https://www.tcmcentrum.de/, 20.2.2018; vgl. auch https://www.sinus-greifswald.de/ wellness-und-entspannung/fontis-ihr-wellnesspoint/, 3.5.2018. 25 http://ayurveda.listemann.de/ueber-ayurveda/, 18.4.2018. 26 Vgl. J. Langford: Fluent Bodies, S. 17; Islam, Nazrul: »New Age Orientalism. Ayurvedic ›Wellness and Spa Culture‹«, in: Health Sociology Review 12 (2012), S. 220–231; Bode, Maarten: »Assembling Cyavanaprāsh, Ayurveda’s Best-Selling Medicine«, in: Anthropology & Medicine 22/1 (2015), S. 1–11. 27 Vgl. Kavoussi, Ben: »The untold story of acupuncture«, in: Focus on Alternative and Complementary Therapies 14/4 (2009), S. 276–286, hier S. 281f. »[…] it certainly seems that Said’s argument directly applies to oriental medicine, for it fosters and promotes many of the unexamined assumptions about Eastern reactions to health and disease« (ebd., S. 281). 28 http://www.kliniksued-rostock.de/, 24.2.2018. Die Universitätsklinik in Greifswald verweist zwar auf ein hohes Alter ihrer Institution (https://www2.medizin.uni-greifswald.de/index.php?id=14, 24.2.2018), im Hinblick auf die Praxis findet sich aber die Beschreibung »innovativ«, während das Adjektiv »interdisziplinär« auf die Zusammenarbeit von SpezialistInnen verweist. 29 https://www.helios-gesundheit.de/kliniken/stralsund/unser-angebot/, 24.2.2018. Das Dietrich Bonhoeffer Klinikum in Neubrandenburg führt auf seiner Webseite zunächst
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abbildungen vorherrschen, finden sich auf den Webseiten der Kliniken in Rostock, Schwerin und Greifswald moderne Gebäudekomplexe 30 und Apparate. 31 Neben dem hohen Alter und der asiatischen Herkunft gehört eine »Semantik der Spiritualität« zur imagined origin von Ayurveda, Reiki und TCM. Der Zusammenhang zwischen diesen drei Aspekten wird meist nicht explizit in den Selbstdarstellungen kommuniziert. Deutlich wird er jedoch in der implizit vorhandenen Konstellation des Gegensatzes: Asiatische Heilverfahren mit einer alten Tradition (und Spiritualität) gegenüber der westlichen, modernen Schulmedizin (ohne Spiritualität). 32 1.2 Semantik der ›Spiritualität‹ Bei allen Differenzen zwischen Ayurveda, Reiki und TCM, auch innerhalb der einzelnen Verfahren, bei denen sich diverse Varianten ausgebildet haben, findet sich in ihrer Kommunikation eine Semantik, die sie mit anderen unter CAM gefassten Heilverfahren teilen.33 Diese deckt bzw. überschneidet sich mit der Semantik gegenwärtiger alternativer Religiosität bzw. ›Spiritualität‹. Letztere wiederum steht religionsgeschichtlich im Kontext der alternativ-religiösen Bewegungen der Theosophie, des Spiritismus, des New Age und der Esoterik, die alle von der Rezeption asiatischer Traditionen geprägt sind. Die Rezeption und Entwicklung von neuen religiösen Bewegungen und Gemeinschaften ab den 1970er Jahren ging zudem oft mit der Rezeption von Heilverfahren und einer kritischen Perspekti-
ein Bibelzitat auf (http://dbknb.de/, 14.4.2018), wirbt jedoch auch mit »modernste[r] medizintechnische[r] Ausstattung« (http://dbknb.de/ueber-uns, 14.4.2018). 30 So z.B.: http://dbknb.de/, 14.5.2018. 31 So z.B.: http://www2.medizin.uni-greifswald.de/hno/klinik/, 14.5.2018; http://www. bdh-klinik-greifswald.de/bdh-klinik-greifswald/index.php, 14.5.2018; https://www. helios-gesundheit.de/kliniken/schwerin/, 14.5.2018. 32 Vgl. z.B. »Die VEDEN im Allgemeinen und auch AYURVEDA im Speziellen haben sich im Gegensatz zu unseren heutigen ›modernen‹ Wissenschaften tatsächlich nicht durch Beobachtungen und Erfahrungen sowie auch nicht durch Thesen und Experimente entwickelt – sie sind der Menschheit ausschließlich auf transzendentalem Wege von der höchsten Wahrheit, die wir auch als ›Gott‹ bezeichnen, offenbart worden.« (http:// ayurveda.listemann.de/, 3.5.2018). 33 Vgl. Andritzky, Walter: »Religiöse Glaubensmuster und Verhaltensweisen. Ihre Relevanz für Psychotherapie und Gesundheitsverhalten«, in: Psychotherapie 4/1 (1999), S. 5–20. Vgl. zu Ayurveda insbesondere: A. Koch: Medizin und Heilsein.
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ve auf die ›westliche‹ Gegenwart einher,34 bis hin zum Selbstbewusstsein einer ›counter-culture‹. Die sich vor allem in den USA entwickelnden alternativen Heilverfahren selbst waren maßgeblich vom New Age beeinflusst.35 Die mit der Kommunikation der entsprechenden Heilverfahren einhergehende ›Orientalisierung‹36 bietet ebenfalls einen Anschluss zur ›Spiritualität‹ und kann als Teil einer ›global counter-culture‹ gesehen werden.37 Entsprechendes lässt sich auch für Reiki38 und TCM39 feststellen. In einigen Fällen wird von den Anbietenden unmittelbar auf die ›spirituellen‹ Aspekte und Kompetenzen ihrer Heilverfahren verwiesen: »Als spiritueller Weg (Reiki-Do) kann Reiki helfen, den Weg zu sich zu finden und zu gehen.« 40 »[…] Unter all diesen Gesichtspunkten bekommt im AYURVEDA der Begriff ›Heilung‹ eine völlig andere Bedeutung, bei der die Aufmerksamkeit weniger auf die Bearbeitung körperlicher Symptome als vielmehr auf die Wiedererfahrung des eigenen spirituellen Kerns gerichtet ist.«41
Typisch in dem Feld von CAM und zeitgenössischer ›Spiritualität‹ ist der Anspruch, ›holistisch‹ bzw. ›ganzheitlich‹ zu denken und zu handeln.42 Der Begriff 34 Vgl. Beckford, James A.: »Holistic Imaginery and Ethics in New Religious and Healing Movements«, in: Social Compass XXXI/2–3 (1984), S. 259–272, hier S. 261; B. Kavoussi: Untold Story, S. 280f. 35 Vgl. z.B. für Ayurveda: S. Reddy: Asian Medicine, S. 99–101; zur religionsgeschichtlichen Einordnung und der Beziehung Reikis zu Religion siehe Stein, Justin: »Usui Reiki Ryōhō, Reiki, and the Discursive Space of Spiritual Healing in Twentieth Century Japan«, http://nirc.nanzan-u.ac.jp/en/files/2017/02/Justin-Stein-Nanzan-Seminar-2015. pdf, 15.5.18. 36 Vgl. im Hinblick auf eine Orientalisierung J. Langford: Fluent Bodies, S. 265. 37 Vgl. M. Bode: Assembling Cyavanaprāsh«; Zimmermann, Francis: »Gentle Purge. The Flower Power of Ayurveda«, in: Charles Miller Leslie/Allan Young (Hg.), Paths to Asian Medical Knowledge, Berkeley: University of California Press 1992, S. 209–223. 38 Vgl. J. Stein: Usui Reiki Ryōhō. 39 Vgl. B. Kavoussi: Untold Story. 40 https://www.naturheilpraxis-stralsund.de/reiki/, 22.2.2018; vgl. auch http://www.indao. de/reiki.html, 3.5.2018. 41 http://ayurveda.listemann.de/, 3.5.2018. 42 Vgl. Stolz, Jörg/Könemann, Judith/Schneuwly Purdie, Mallory: »Religiosität in der modernen Welt. Bedingungen, Konstruktionen und sozialer Wandel«, herausgegeben vom
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der Ganzheitlichkeit postuliert dabei die Wahrnehmung einer Einheit von Körper/Sinnen, Geist bzw. Intellekt, emotionalem Erleben und gegebenenfalls auch neben den physischen und psychischen Aspekten des Menschen eine angenommene transzendente Ebene. So lautet der Untertitel der Webseite der Praxis »Reiki & Shiatsu« von Sabine Flatau aus Rostock: »Japanische Heilkunst für Körper, Geist und Seele«,43 und Dr. med. Uwe Kehnscherper beschreibt seine orthopädische Praxis, in der er ayurvedische Behandlungen anbietet, als ›ganzheitlich‹ mit einem »besondere[n] Augenmerk« auf einer »ganzheitlichen, umfassenden Beratung und Betreuung«.44 Der Begriff der Ganzheitlichkeit fungiert dabei als Gegenbegriff zu einer (jedenfalls vermeintlich) gegenwärtig vorherrschenden Sicht auf den Menschen, die, von Naturwissenschaften und Technik geprägt, als defizitär und mechanistisch bewertet wird.45 Diese Sicht wiederum wird mit dem ›Westen‹ assoziiert. So stellt Kavoussi zu Veröffentlichungen zu TCM fest: »[…] most publications also alleged that Eastern healing arts have crucial characteristics directly and unequivocally opposite to the West, such as holism […]«.46
Ähnlich wird auch mit dem Verweis auf die Herstellung von ›Harmonie‹, ›Ordnung‹ und ›Balance‹47 eine Gegenperspektive zur als in Un-Ordnung und Disharmonie gesehenen modernen Welt und ihrer BewohnerInnen sowie die Möglichkeit einer ›Rückkehr‹ in die Harmonie impliziert.48 »Viele von uns sind bereits aus ihrem natürlichen Gleichgewicht geraten«,49 wird festgestellt – und Abhilfe versprochen:
Observatoire des religions en Suisse, Lausanne: ORS 2011, S. 9f., http://www.snf.ch/ SiteCollectionDocuments/nfp/nfp58/NFP58_Schlussbericht__Stolz.pdf, 15.05.2018. 43 http://reiki.sabine-flatau.de/, 18.4.2018. 44 http://www.ayurvedapraxis-rostock.de/cms/, 18.04.2018; https://www.naturheilpraxisorlowsky.de/ntherap.html, 4.5.2018. 45 Vgl. Harrington, Anne: Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek: Rowohlt. 2002. 46 B. Kavoussi: Untold Story, S. 281. 47 »In der ganzheitlichen Medizin ist die Balance Brennpunkt aller Bemühungen, so natürlich auch in Ihrer Naturheilpraxis Yin & Yang.« (https://www.naturheilpraxis-stralsund.de/, 19.4.2018). 48 Vgl. auch http://lichtblick-rostock.com/Naturheilverfahren/ayurveda-kur/, 20.2.2018. 49 http://www.vitalconcept-rostock.de/, 3.5.2018.
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»Reiki (sprich: Reekie) ist eine japanische Energieheilungsmethode, die mit Hilfe ausgleichender [sic] Techniken für Harmonie und Entspannung sorgen kann.«50
Die den alternativen Verfahren zugeschriebenen Eigenschaften ›natürlich‹51 und ›sanft‹ 52 bilden in diesem Zusammenhang ›heilkundliche‹ Gegenbegriffe zu einer von Mechanik und Technik bestimmten, wenn nicht sogar menschenfeindlichen, unnatürlich und gewaltsam vorgestellten Schulmedizin: »[…] die chinesische Nadel-Therapie [TCM/Akupunktur] ist eine sanfte und wirkungsvolle Alternative zur Schulmedizin.« 53
Zugleich ist diese Semantik ein Ausdruck orientalistischer Projektion. So schreibt Langford im Hinblick auf Indien: »Thus North Americans seek out the wild savagery of a virtual South America via shamanism and the gentle introversion of a virtual India via yoga and Ayurveda. If such images of indigenous practices were recruited by colonialism to establish the orderliness of reason as against the disorderliness of superstition and recruited by the academy to establish the orderliness of healing as against the disorderliness of disease, they are now, through medical tourism, being recruited by European and North American popular culture to establish the orderliness of holism as against the disorderliness of systemic imbalance.«54
Mit dem Verweis auf ›Selbstheilungskräfte‹ liegt der Fokus auf der Autonomie des Individuums, das aus sich heraus zur Heilung findet und andere AkteurInnen oder auch Mittel allenfalls als Unterstützende benötigt:
50 https://www.naturheilpraxis-stralsund.de/reiki/, 22.2.2018. 51 »Sie [Reiki] ist eine vollständige natürliche Heilmethode […]« (http://www.dreiklangvitalpraxis.de/reiki.html, 3.5.2018). 52 »Ayurveda berührt immer sanft und mit natürlichen Mitteln.« (http://www.ayurvedaschwerin.com/, letzter Zugriff: 3.5.2018). Langford schreibt, es seien KonsumentInnen »who seek out Indian medicine for its presumed gentleness and nonviolence.« (Langford, Jean: Curing Consumerism: Pancakarma in a Tourist Economy. Modern Ayurveda Workshop, Cambridge: o.V. 2003, S. 3). Siehe auch F. Zimmermann: Gentle Purge. 53 http://www.susannekreft.de/chinesische-medizin.html, 3.5.2018. 54 J. Langford: Fluent Bodies, S. 265.
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»[…] Ihnen (wird) genau die Energie zur Verfügung gestellt, derer Sie bedürfen, um sich selbst zu heilen. Es geht in erster Linie darum, Ihre Selbstheilungskräfte anzuregen.«55
Damit sind sowohl Autonomie, Relevanz und Kompetenz des von Krankheit betroffen Individuums angesprochen, als auch wiederum das Gegenbild zu einer Schulmedizin, der vorgeworfen wird, dem kranken Individuum Kompetenz abzusprechen und es zum passiven Opfer seiner Erkrankung zu machen. Hier zeigt sich eine deutliche Kongruenz zum Feld alternativer Religiosität, wo ebenfalls das Individuum, seine Entscheidungen und seine Entwicklung 56 betont werden.57 Eine wichtige Rolle spielt, sowohl im Feld alternativer Heilverfahren als auch im Feld alternativer Religiosität bzw. ›Spiritualität‹, der Energiebegriff. Dieser wird zwar im Anschluss an die Naturwissenschaften verwendet, aber auf anthropologische Konzepte bezogen, die über physikalische Zusammenhänge hinausgehen. ›Energie‹ kann übertragen werden – vom Kosmos auf das Individuum, vom Behandelnden auf den/die Behandelte(n), ohne und mit unmittelbarem Kontakt – und bleibt nicht auf physikalische, messbare Werte beschränkt. Behandelnde können ›Energieblockaden‹ lösen oder auch zu ›mehr Energie‹ verhelfen. Vor allem bei Reiki und TCM ist der Energiebegriff von großer Bedeutung: »Reiki ist eine aus Japan stammende Methode der Energie-Heilung und bedeutet ›Universelle Lebensenergie‹«.58 »Akupunktur […] dient der Weiterleitung der Energie (Qi) in unserem Körper.«59
55 https://www.licht-wege.de/angebote/, 3.5.2018; vgl. auch: »Der Ayurveda betrachtet Gesundheit als einen Prozess, der aktiv von jedem selbst gestaltet werden kann. Dazu optimieren wir Ihre Lebensbereiche gemeinsam.« (http://ayur-balance.de/ayurveda/index.html, 3.5.2018); »Reiki ist eine stille Art zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte des Körpers.« (http://www.indao.de/reiki.html, 3.5.2018). 56 Vgl. z.B.: »Reiki aktiviert die Selbstheilungskräfte des Menschen und unterstützt die persönliche Entwicklung.« (http://fenster-der-seele.de/88/reiki, 3.5.2018); »Bastian Wittig, ärztlich zertifizierter Ayurveda Therapeut und Ausbilder, vereint ganzheitliche Medizin mit persönlichem Wachstum. Lass dich von ihm auf eine neue Ebene bringen […]« (https://www.ayurveda-campus.de/, 3.5.2018). 57 Vgl. Lüddeckens, Dorothea/Walthert, Rafael: »Fluide Religion. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen, Bielefeld: Transcript 2010, S. 9–17. 58 http://www.lichtwege-greifswald.de/Reiki, 22.2.2018. 59 http://lichtblick-rostock.com/Naturheilverfahren/akupunktur/, 20.2.2018.
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Während Alter und geographische Herkunft in dieser Weise gerade nicht von der Schulmedizin beansprucht werden, findet sich die Semantik von Ganzheitlichkeit zum Teil auch in schulmedizinischen Selbstbeschreibungen, wie umgekehrt Hinweise auf die ›Wissenschaftlichkeit‹ von Ayurveda, Reiki und TCM: Wo man vom positiven Image der jeweils anderen Seite profitieren will, werden auch die Topoi dieser Seite entsprechend aufgegriffen.
2. CONCLUSIO Im Vorangegangenen ist deutlich geworden, dass Anbietende von Ayurveda, Reiki und TCM ihre Heilverfahren über eine imagined origin vorstellen. Diese, gekennzeichnet durch hohes Alter, asiatische Herkunft und Anschlussfähigkeit an das Feld der ›Spiritualität‹, wird als wesentliches Charakteristikum und Qualitätsmerkmal kommuniziert. 60 Auffallend sind hier die ähnlichen Narrative, die sich im Bereich der Semantik mit dem Feld alternativer Religiosität bzw. ›Spiritualität‹ überschneiden. Der imagined origin, mit der sich die spezifische Kommunikation von Heilverfahren wie Ayurveda, Reiki und TCM in den hier exemplarisch aufgezeigten Fällen aus Mecklenburg-Vorpommern fassen lässt, liegt eine »invented tradition« (Hobsbawn 1983) im Hinblick auf die betreffenden Verfahren zugrunde.61 Sie geht jedoch darüber hinaus, indem hier Alter, Herkunft und ›Spiritualität‹ miteinander verbunden im Kontext eines positiven Gegenbildes zur westlichen (problematischen) Moderne auftreten. So kann das entsprechende Heilangebot als Heilmittel für durch diese Moderne hervorgerufene Schäden kommuniziert werden, wie auch als komplementäres Angebot zu einer als westlich und modern verstandenen Schulmedizin. Dabei wird die imagined origin nicht etwa zu einem
60 Legitimation und Wertzuweisung über ›Alter‹ kann sich auch in anderen Bereichen finden, wie zum Beispiel im Recht: ›Altes Recht ist gutes Recht‹. »Die Unvordenklichkeit der Ursprünge von Recht, von Bräuchen und Riten ist der Grund für ihre Autorität und Verbindlichkeit«, schreibt Martin Lang im Hinblick auf die Rechtsauffassung in der germanischen Welt und der mesopotamischen Kultur (Martin, Lang: »u4-ba, ina ūmī ullûti, inūmīšu – In illo tempore. Zur Begründung und Legitimation von Recht aus dem Mythos«, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 12 (2006), S. 17–28, hier S. 17). 61 Darauf konnte in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden; siehe hierzu z.B.: Hohmann, Sophie: »National Identity and Invented Tradition. The Rehabilitation of Traditional Medicine in Post-Soviet Uzbekistan«, in: The China and Eurasia Forum Quarterly 8 (2010), S. 129–148.
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Label für antiquierte Qualität, sondern vielmehr zum Garanten für einen angemessenen und erfolgversprechenden Umgang mit der Moderne. »In unserer schnelllebigen, hektischen Zeit ist es schwierig, einen gesunden Lebensstil zu führen. Mentaler und emotionaler Stress lösen toxische Prozesse im Körper aus, die oft zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Eine Pancha-Karma-Kur reinigt Ihren Körper und Geist, stärkt Ihr Immunsystem und vitalisiert auf ungeahnte Weise.«62
Die Annahme, die in einem weiteren Schritt mit empirischen Daten für den deutschen Gesundheitsmarkt genauer belegt werden müsste, liegt nahe, dass diese imagined origin asiatischer Heilverfahren, einschließlich der mit ihr verbundenen ›Spiritualität‹, auch für die positive Akzeptanz der Anwendenden eine entscheidende Rolle spielt oder spielen kann.
62 http://lichtblick-rostock.com/Naturheilverfahren/ayurveda-kur/, 20.2.2018; vgl. z.B. auch: »In einer von Stress und Hektik geprägten Zeit mit ihren psychosomatischen Begleiterscheinungen können wir aus dem reichen und tiefen Erfahrungsschatz dieser Weisheit schöpfen, um ein Leben im gesunden Gleichgewicht zu führen, unsere Mitte wiederzufinden und den Herausforderungen des Lebens mit Gelassenheit und Freude zu begegnen.« (http://www.ayurveda-naturheilpraxis-rostock.de/seite/163082/ayurveda.html, 3.5.2018).
Religion und komplementäre/alternative Medizin zwischen Heil und Heilung: eine interdisziplinäre Betrachtung zweier verflochtener sozialer Systeme Jürgen Dollmann
1. HEIL UND HEILUNG Die Themen Heilung und Heil1 stehen in religionswissenschaftlichen Kontexten in einem engen Zusammenhang, da Heilung in unterschiedlichen religiösen und spirituellen Traditionen stets als in naher Beziehung zum Heil stehend wahrgenommen werden kann.2 Dabei sind Gesundheit wie Krankheit nicht nur als körperliche und geistige Tatsachen, sondern auch als gesellschaftliche Konstrukte aufzufassen.3 Somit muss das Verhältnis von Religion und Medizin von historischen und soziokulturellen Vorstellungen abhängig gesehen werden. Gesellschaftliche Vorstellungen prägen also auch die Ansichten über die Ursachen und Therapien von Krankheiten. In den modernen Gesellschaften sorgte sich im Allgemeinen die
1 Heil soll in diesem Beitrag heuristisch als die Suche nach einer – entweder ursprünglichen, im mystisch-ekstatischen Erlebnis auch gegenwärtigen, oder zukünftig vergegenwärtigten – Ganzheit verstanden werden (vgl. Auffarth, Christoph: »Heil/Leid«, in: Ders. u.a. (Hg.), Wörterbuch der Religionen, Stuttgart: Kröner 2006, S. 203–205). 2 Vgl. Futterknecht, Veronika: »Einleitung«, in: Dies. u.a. (Hg.), Heilung in den Religionen. Religiöse, spirituelle und leibliche Dimensionen, Wien/Münster: Lit-Verl. 2013, S. 9–24, hier S. 23f. 3 Vgl. Prohl, Inken: »Krankheit/Gesundheit«, in: Christoph Auffarth u.a. (Hg.), Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, Bd. 2, Stuttgart: Metzler 2005, S. 246–252, hier S. 246f.
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Religion eher um das Heil, die Medizin um die Heilung.4 Dies erfolgte in einem Ausdifferenzierungsprozess, der in Europa um die Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen hat und der als »Medikalisierung«5 bezeichnet werden kann. Im Rahmen dieser Ausdifferenzierung kam es zur Orientierung der Medizin an den Naturwissenschaften, mit entsprechender akademischer Ausbildung und Professionalisierung des Ärztestandes. Es wurde so nach den physiologischen Ursachen von Krankheiten gesucht; die Frage nach metaphysischen Ursachen trat eher in den Hintergrund. Der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme Religion und Medizin steht jedoch in jüngster Zeit wieder eine »Entdifferenzierung«6 entgegen: Neue religiöse Bewegungen – überwiegend im westlich-amerikanischen Kontext, aber auch in Japan – interpretieren Krankheiten unter religiösen Aspekten. Unter dem Einfluss der charismatischen Bewegungen entwickeln sich damit auch neue Heilverfahren, und Krankheiten werden »unter dem Gesichtspunkt somatischer Heilung religiös behandelt.«7 Auch in der römisch-katholischen, der evangelischen und der anglikanischen Kirche werden zunehmend alte, rituelle Formen der Krankenbehandlung eingesetzt. Auf der medizinischen Seite zeigt sich jedoch ebenfalls die genannte Entdifferenzierung: Die akademische Medizin orientiert sich zwar an den Naturwissenschaften, im Bereich der nichtakademischen Heilverfahren (in der Literatur häufig als Complementary and Alternative Medicine, CAM, bezeichnet) zeigen sich reziprok Affinitäten zur Religion oder auch zu einer Religiosität, welche sich selbst als Spiritualität8 auffasst.9 Ein typisches Beispiel ist der aus dem indischen Subkontinent stammende Ayurveda, welchem eine Jahrtausende alte Geschichte im Zusammenhang mit hinduistischen Traditionen zugeschrieben wird.
2. NEUE PHÄNOMENOLOGISCHE ANSÄTZE Da im Folgenden unter anderem phänomenologische Aspekte als Argumente eine Rolle spielen, muss an dieser Stelle, um Missverständnisse zu vermeiden, eine klare Abgrenzung von religionsphänomenologischen Methoden oder Positionen 4 Vgl. Lüddeckens, Dorothea: »Religion und Medizin in der europäischen Moderne«, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin: De Gruyter 2012, S. 283–297, hier S. 283ff. 5 Ebd., S. 283. 6 Ebd., S. 288. 7 Ebd., S. 290. 8 Der Begriff Spiritualität wird unter 5.1. näher differenziert. 9 Vgl. D. Lüddeckens: Religion und Medizin, S. 290.
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betont werden. Die zahlreichen Gründe hierfür aufzuzählen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; drei wesentliche Punkte seien nur angedeutet: Die Religionsphänomenologen – stellvertretend seien Gerardus van der Leeuw, Rudolph Otto und Mircea Eliade genannt – argumentierten ahistorisch und weithin essentialistisch; dies ist kulturwissenschaftlich obsolet. Der Hauptgrund der Ablehnung religionsphänomenologischer Argumentation, welcher auch für das Verständnis des vorliegenden Beitrags von Bedeutung ist, liegt jedoch noch auf einem anderen Aspekt: Gerardus van der Leeuw, der sich auf Edmund Husserl, den Begründer der Phänomenologie, berief, betonte die Notwendigkeit, die religiösen Phänomene in das eigene Leben des Forschers einzuschalten.10 Insofern weicht er selbst eklatant von Husserl ab, welcher mit der sogenannten Epoché die Ausschaltung aller vorgefassten Theorien oder Glaubenssätze des Phänomenologen forderte.11 Die Phänomenologie als philosophische Disziplin beschäftigt sich mit der Frage, wie die vielfältigen Erscheinungen der Außenwelt, unabhängig davon, ob sie als profan/säkular oder religiös interpretiert werden,12 in unser Bewusstsein dringen. Im Vordergrund steht dabei die notwendige, auf ein Phänomen gerichtete, Intentionalität des Akteurs und der Aspekt, dass die wahrgenommenen Phänomene als ein Ich-Erlebnis empfunden werden. Die Wahrnehmung zu analysieren, in der ein religiöser Akteur die Außenwelt erlebt, kann jedoch religionswissenschaftlich nicht an der Sehrinde oder dem für das Gehör mitverantwortlichen Temporallappen des Gehirns enden. Wir kommen nicht umhin, die damit verbundenen Emotionen und Assoziationen des Akteurs mit einzubeziehen. ReligionswissenschaftlerInnen selbst sollten sich dagegen als möglichst etische, außenstehende Beobachter positionieren, wobei sie jedoch die eigene soziokulturelle Positionalität berücksichtigen und ggf. auch kritisch reflektieren können müssen. Kurz gesagt: Wir dürfen als ReligionswissenschaftlerInnen phänomenologische Aspekte religiöser Akteure nicht ignorieren. Die Intentionalität, die Art und Weise der Perzeption13 der Außenwelt, verbunden mit allen Emotionen, und das Ich-Erleben 10 Vgl. Leeuw, Gerardus van der: Phänomenologie der Religion, Tübingen: Mohr 1933, S. 638. 11 Vgl. Diemer, Alwin: »Phänomenologie«, in: Ders./Ivo Frenzel (Hg.), Philosophie, Frankfurt a.M.: Fischer 1970, S. 240–251, hier S. 240ff. 12 Religionswissenschaftlich darf betont werden, dass die Trennung säkular versus religiös eine Konstruktion darstellt. Im Alltag der Akteure sind die Grenzen häufig fließend oder evtl. auch nicht existent. 13 Perzeption soll hier im Sinne von Wahrnehmung und Empfindung aufzufassen sein. Dies deckt sich mit dem Begriff percetion bei Maurice Merleau-Ponty und dessen Rezeption bei Thomas J. Csordas, wie aus dem Folgenden hervorgeht. Deswegen bleibt der Begriff unübersetzt.
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können kulturwissenschaftlich als Konstruktion erster Ordnung14 in qualitativer Forschung empirisch erfasst werden.
3. D AS VERHÄLTNIS VON RELIGIONSÄSTHETIK UND MATERIAL RELIGION Eine grundlegende Arbeit, welche den Begriff der Ästhetik in der Religionswissenschaft etablierte, stammt von Hubert Cancik und Hubert Mohr.15 Der Begriff der Ästhetik wird – in Abgrenzung zu der von Hegel geprägten Begriffsbildung – nicht auf die idealistische Reduktion von Schönheit und Kunst bezogen,16 sondern im Sinne des griechischen Begriffs aísthēsis (Wahrnehmung, Empfindung) verstanden: Religionsästhetik soll das auf den Körper wirkende sinnlich Wahrnehmbare beschreiben und theoretisch durchdringen,17 wodurch im Sinne von Karl Rosenkranz auch eine »Ästhetik des Häßlichen«18 integriert wird. Der Begriff Religionsästhetik wird aber genau deswegen kontrovers beurteilt, da im allgemeinen Sprachgebrauch die Rezeption im Sinne Hegels überwiegt.19 Unter anderem dadurch kommt es in der Religionswissenschaft zunehmend zur Fokussierung auf die Auslöser der sinnlichen Wahrnehmung, also auf die Materialität, wobei der Begriff Materialität hier sehr weit gefasst wird:20 Nicht nur religiöse Objekte fallen darunter, sondern auch alle Verkörperungen wie Handlungen und Rituale sowie die damit verbundenen Räume. Letztendlich lässt sich im Ansatz der material religion alles erfassen, was eine Vermittlung von Außenweltereignissen zur Folge hat, da ja auch Texte oder Worte nur über physikalische Medien in das Bewusstsein des Akteurs eindringen. Aus dem Gesagten ergibt sich jedoch, dass die Materialität einerseits und die Perzeption dieser Materialität, welche primär immer über sinnliche Eindrücke erfolgt und in der Religionsästhetik analysiert wird, andererseits zwei Seiten einer Medaille sind, die zudem – und das soll im 14 Vgl. Knoblauch, Hubert: Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft, Paderborn: Schöningh 2003, S. 32f. 15 Vgl. Cancik, Hubert/Mohr, Hubert: »Religionsästhetik«, in: Hubert Cancik u.a. (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4: Kultbild – Rolle, Stuttgart: Kohlhammer 1988, S. 121–156. 16 Vgl. ebd., S. 129. 17 Vgl. ebd., S. 121f. 18 Ebd., S. 131. 19 Vgl. Prohl, Inken: »Materiale Religion«, in: Stausberg, Religionswissenschaft (2012), S. 379–392, hier S. 384. 20 Vgl. ebd. S. 379ff.
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Folgenden thematisiert werden – ontologisch über die menschliche Leiblichkeit eine Einheit bilden.21 Birgit Meyer betont die notwendige Fokussierung der Religionswissenschaft sowohl auf die Materialität als auch auf Ästhetik im Sinne der griechisch-aristotelischen aísthēsis.22 Meyer prägte für dieses gesamte Setting der Materialität den Begriff der »sensational forms«.23 Diese »forms« sind zunächst die relativ fixierten, organisierten Strukturen, welche dem religiösen Akteur Zugang zu einem angenommenen Transzendenten ermöglichen.24 Die »sensations« werden letztendlich weit über interpretative oder symbolische Ansätze hinaus verkörpert empfunden bzw. wahrgenommen und lösen Affekte und Emotionen aus.
4. D IE RELIGIÖSE KÖRPERREZEPTION IN BEZUG AUF HEIL UND HEILUNG 4.1 Thomas J. Csordas’ Embodiment-Paradigma als Zugang Die Zunahme von religiösen oder auch als spirituell interpretierten Heilverfahren wurde oben schon thematisiert. Inzwischen sind entsprechende Debatten und Fachstudien auch innerhalb der konventionellen Medizin und der Psychologie zu finden und betreffen nicht nur den CAM-Sektor.25 Aus religionswissenschaftlicher 21 Die Analyse der Perzeption kann weiter differenziert werden, indem die kognitive Interpretation der Materialität als Zeichen semiotisch in den Blick genommen wird. Zur dieser materialsemiotischen Analyse darf auf die Arbeit von Okropiridze und Prohl verwiesen werden. Vgl. Okropiridze, Dimitry/Prohl, Inken: »Von der Sinnlichkeit zu Sitzen – Zazen als materialsemiotische Praxis«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 70 (2018) 3, Leiden: Brill, S. 254–275, hier S. 260. 22 Vgl. Meyer, Birgit: »Religious Sensations. Why Media, Aesthetics and Power Matter in the Study of Contemporary Religion«, in: ResearchGate, Amsterdam: Faculteit der Sociale Wetenschapen 2006, S. 18f. (https://www.researchgate.net/profile/Birgit_Meyer2/ publication/241889837_Religious_Sensations_Why_Media_Aesthetics_and_Power_ Matter_in_the_Study_of_Contemporary_Religion/links/5411fb5d0cf2788c4b3551a6/ Religious-Sensations-Why-Media-Aesthetics-and-Power-Matter-in-the-Study-of-Contemporary-Religion.pdf, 11.11.2017). 23 Ebd., S. 20. 24 Vgl. ebd., S. 9. 25 Vgl. Klinikhammer, Grit/Tolksdorf, Eva: »Einleitung. Fragestellung im Horizont der ›Somatisierung des Religiösen‹«, in: Dies. (Hg.), Somatisierung des Religiösen. Empirische Studien zum rezenten religiösen Heilungs- und Therapiemarkt, Bremen: Universität Bremen 2015, S. 3–11, hier S. 3.
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Perspektive bemängeln die Herausgeberinnen eines Sammelbandes zum Thema der Somatisierung des Religiösen in ihrer einleitenden Sichtung des Feldes vor allem Folgendes: Aus der aktuellen Forschung zu diesem Thema gehe nicht hervor, dass die rezente Verbindung von Religion und säkularem Gesundheitssektor ein neues Verständnis von Körper, Religion und Gesundheit erfordere.26 Obwohl in der wissenschaftlichen Literatur von einem body turn gesprochen werde, sei das von Thomas J. Csordas entwickelte Embodiment-Paradigma in der Religionswissenschaft bislang zu wenig gewürdigt worden. Zwar habe der Körper durchaus in den letzten Jahren sowohl in der Sozial-, als auch in der Kultur- und in der Religionswissenschaft vermehrt Aufmerksamkeit erfahren, aber weniger bezüglich der religiösen Körperrezeption im Bereich von Heilung. 4.2 C sordas´ phänomenologischer Ansatz in der Rezeption von Merleau-Ponty Csordas will unter seinem Paradigma eine konsistente, methodologische Perspektive verstehen, durch welche schon vorhandene Daten im Feld von »Kultur und Selbst«27 neu analysiert, aber auch neue Forschungsfragen ermöglicht werden könnten. Von Maurice Merleau-Ponty, der die Perzeption in den Vordergrund stellt, übernimmt er dessen phänomenologischen Ansatz, weiterhin rekurriert er auf Pierre Bourdieus Praxistheorie, wie unter 4.3 näher erläutert. Sein daraus entwickeltes Embodiment-Paradigma dient ihm sodann als hermeneutischer Zugang zu eigenen Forschungen im Bereich von religiöser Heilung bei charismatischen Christen in den USA. Merleau-Ponty kritisiert die von der Physiologie postulierte Bahn der Wahrnehmung von einem Empfänger (zum Beispiel der Netzhaut) über einen bestimmten Übermittler zu einer spezialisierten Empfangsstation.28 Die daraus abgeleitete, eine objektive Realität voraussetzende »Konstanzhypothese«29 gerate aber in Konflikt mit den Gegebenheiten. Als Beispiel führt er optische Täuschungen an. Csordas betont deswegen, dass – Merleau-Ponty entsprechend – unsere Erfahrung bei der Perzeption beginne und nicht bei den Objekten. Merleau-Ponty »wants to step backward from the objective and start with the body in the world«.30 Der Ausgangspunkt sei also der Leib und dessen Perzeption in all 26 Vgl. ebd., S. 3ff. 27 Csordas, Thomas J.: »Embodiment as a Paradigm for Anthropology«, in: Ethos 18/1 (1990), S. 5–47, hier S. 5. 28 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966, S. 26. 29 Ebd. 30 T. J. Csordas: Embodiment, S. 9.
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ihrer Indeterminiertheit. Die Perzeption ende dann schließlich im Objekt als ein sekundäres Produkt unseres reflektierenden Denkens. Somit sei die Subjekt-Objekt-Trennung ein analytischer Akt. Dieser Gedankengang ist für die folgende Argumentation wichtig, um Verwirrung zu vermeiden: Wenn im weiteren Verlauf die Begriffe Subjekt und Objekt auftauchen, dann sind sie diesem sekundären, analytischen Denken zuzuordnen. Im Vordergrund der Argumentation steht hier, dass eine Subjekt-Objekt-Grenze in der Perzeption nicht existiert. Dieses Konzept, dass die Objekte eher das Endresultat der Perzeption seien als eine der Perzeption gegebene empirische Tatsache, nennt Csordas mit Merleau-Ponty »das Präobjektive«.31 Auf der Ebene der Perzeption selbst sei es jedoch auch nicht berechtigt, von einer Körper-Geist-Trennung auszugehen:32 Der Körper sei integraler Teil des perzipierenden Subjektes, nach Merleau-Ponty stehe er in einem »Setting zur Welt«.33 Somit werde auch die Körper-Geist-Grenze unscharf. Bezüglich des Begriffs Körper besteht jedoch ein begriffliches Problem: Merleau-Ponty benutzt im französischen Original zwar das Wort corps,34 häufig jedoch auch corps propre35 oder corps phénoménal36. Im Deutschen dürften die beiden letzteren Begriffe dem Wort Leib im Sinn von lebendigem Körper entsprechen. Eine phänomenologische Differenzierung von »Leib« und »Körper« nimmt auch Helmuth Plessner vor.37 Wenn man der Leib-Körper-Unterscheidung gerecht werden wolle, müsse man sich dieses epistemologischen Problems bewusst sein:38
31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 36. 33 Merleau-Pontys ins Englische übersetzte »setting in relation to the world« wird in deutschen Übersetzungen − wie auch in der hier vorliegenden von Rudolf Böhm − oft als »Zur-Welt-sein [sic!]« (M. Merleau-Ponty: Phänomenologie, S. 104) bezeichnet. 34 Vgl. beispielsweise Merleau-Ponty, Maurice: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, S. 35. 35 Vgl. ebd., S. 59. 36 Vgl. ebd., S. 123. 37 Vgl. Krüger, Hans-Peter: »Helmuth Plessner. Leben, Werk und Wirkung«, in: Eike Bohlken/Christian Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2009, S. 63–68, hier S. 66. 38 Vgl. Ots, Thomas: »The silenced body − the expressive Leib. On the dialectic of mind and life in Chinese cathartic healing«, in: Thomas J. Csordas (Hg.), Embodiment and experience. The existential ground of culture and self, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 116–138, hier S. 116f.
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»[…] the term Körper views the person as a vessel/container to be filled with the spirit or the soul. […] Leib has no semantic equivalent in modern English and its meaning is therefore difficult to render in translation.«39
Die Benutzung des Wortes embodiment impliziere somit, dass etwas anderes vom body Besitz ergreife. Dieses Andere könne die Kultur oder der Geist sein. Somit würde der Begriff embodiment die Subjekt-Objekt-Dichotomie von Körper und Geist eher aufrechterhalten als zu ihrer Überwindung beizutragen. Der Leib verweise außerdem auf eine dem body verborgene Dimension, nämlich dessen Individualität. Die genannte epistemologische Problematik der Begrifflichkeit vom englischen body und dem deutschen Leib/Körper muss beim Verständnis von Csordasʼ embodiment berücksichtigt werden, vor allem, nachdem Otsʼ Artikel von Csordas herausgegeben wurde. Bei body im Sinne von Csordas (oder auch bei embodiment) sollte somit immer die Leiblichkeit mit dem Bezug nicht nur zum Lebendigen an sich, sondern auch zu Gefühl, Emotion oder Erlebnis − und damit zu einem prozessualen Akt − mitreflektiert werden.40 Dieser Aspekt entspricht auch dem oben definierten Verständnis von Perzeption bei Merleau-Ponty.41 Merleau-Ponty betont nun, dass jede Perzeption in einem bestimmten Umwelt-Setting vorliege, und damit kommt der kulturelle und soziale Aspekt in seine Theorie.42 Somit definiert sich die Kultur in dieser Wechselwirkung von leiblicher Perzeption und Umweltsetting von Anfang an als verkörpert.43 4.3 C sordas´ Rezeption der Habitus-Feld-Theorie Pierre Bourdieus Analog zu Merleau-Pontys Bemühen, die Subjekt-Objekt-Dichotomie über die Perzeption des Leibes zu überwinden, versuche Bourdieu, die Dualität von Pra-
39 Ebd. (Herv. i. Original) 40 Vgl. ebd., S. 117. 41 Aktuelle empirische Befunde aus der Kognitionswissenschaft stützen den Ansatz von Merleau-Ponty, Perzeption als prozessualen Akt in Verflechtung mit der Umwelt zu sehen: Exemplarisch sei auf die »sensomotorischen Kontingenzen« (OʼRegan, Kevin J./ Noë, Alva: »Ein sensomotorischer Ansatz des Sehens und des visuellen Bewusstseins«, in: Joerg Fingerhut u.a. (Hg.), Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 328–378, hier S. 328) verwiesen, welche eine mit Handlung verflochtene Wahrnehmung der Welt experimentell belegen. 42 Vgl. T. J. Csordas: Embodiment, S. 9f. 43 Vgl. ebd., S. 37.
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xis und Struktur aufzuheben.44 Dies gelinge ihm über den Habitus. Embodiment erweise sich als das methodologische Prinzip, auf das sich somit beide berufen: Bourdieus Ziel sei, vom opus operatum, also den beobachtbaren sozialen Tatsachen, zur Analyse des modus operandi, also dem Prozess des sozialen Lebens, zu gelangen.45 Das Konzept des Habitus habe schon Marcel Mauss in seiner Arbeit zu den »Techniken des Körpers« eingeführt.46 Der Körper sei sowohl das Originalobjekt, an dem sich die Kultur konstituiere, als auch gleichzeitig das Originalwerkzeug, mit dem diese Konstitution bewerkstelligt werde. Bourdieu geht über Maussʼ Habitus-Konzept hinaus: Psychologisch werde das soziale Umfeld, das eine Summe von möglichen Dispositionen zu Handlungen zulasse, im Habitus internalisiert, der im Sinne von Bourdieu aber nicht zufällig oder unsystematisch aus den Handlungsmöglichkeiten wähle. Ein System von untrennbaren kognitiven und evaluativen Strukturen organisiere die Vorstellungen einer Welt in Abstimmung mit den objektiven Strukturen des determinierenden sozialen Umfeldes. Dies sei Bourdieus Prinzip des sozial informierten Körpers mit all seinen Vorlieben und Abneigungen, Zwängen und Abweisungen, mit allen Sinnen. Hier seien nicht nur die traditionellen fünf Sinne gemeint, sondern unter anderem auch – zu verstehen als psychologisch internalisierte Inhalte der Verhaltensumgebung – die Sinne für Notwendigkeit und Pflicht, für Schönheit, für einen allgemeinen Menschenverstand, für das Heilige, für Humor sowie für Absurdität, für Moral und so weiter. Der Ort von Bourdieus Habitus (oder sozial informiertem Körper) stelle die Verbindung dar zwischen einerseits den objektiven Lebensbedingungen und andererseits all den mit diesen Bedingungen kompatiblen Bestrebungen und Praktiken. Es seien nicht objektive Bedingungen, welche eine Praktik erzeugen, genauso wenig wie Praktiken objektive Bedingungen determinierten. Der Habitus habe somit eine universale Vermittlungsfunktion in zwei Weisen: Im Verhältnis zu den objektiven Strukturen stelle er das Prinzip der Praxisgenerierung dar, im Verhältnis zum gesamten Repertoire der möglichen sozialen Praktiken das Prinzip der (kompatiblen) Einigung. 4.4 D ie leibliche Konstruktion von Wirklichkeit über die perzeptive Synthese Wie oben erläutert, beginnt gemäß Merleau-Ponty die Erfahrung der Außenwelt mit der Perzeption und endet beim Objekt. Damit wird ein isoliertes, intellektuel-
44 Vgl. ebd., S. 8ff. 45 Vgl. ebd., S. 10. 46 Vgl. ebd., S. 11ff.
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les Erfassen eines äußeren Objektes von Merleau-Ponty abgelehnt.47 Aber in der Perzeption erscheine das Objekt »real«: »[…] es ist gegeben in der unendlichen Summe einer nicht definierbaren Reihe von Perspektiven. In jeder dieser Perspektiven ist das Objekt gegeben, aber in keiner der Perspektiven erschöpfend.«48
Der nicht sichtbare Teil eines Objektes könne von einem anderen Standort sichtbar werden. Der nicht sichtbare Teil einer Lampe könne antizipiert werden, weil man ihn betasten könne. Diese zur Vervollständigung notwendige »perzeptive Synthese«49 der Objekte werde durch das Subjekt durchgeführt. »Dieses Subjekt, von seinem spezifischen Gesichtspunkt aus, ist mein Leib als der Bereich von Perzeption und Praxis«.50 Es darf betont werden, dass Merleau-Ponty von der perzeptiven Synthese spricht. Es handelt sich also nicht um eine mentale, analytische Synthese. Und da die Dualität vom synthetisierenden Subjekt einerseits und dem zu vervollständigenden Objekt andererseits eine methodologisch-analytische Dualität ist, ergibt sich kein Widerspruch, wenn der präobjektive Leib mit koextensivem Habitus als nicht-dualistisch entwickelt wurde. Csordas zufolge habe die neu überdachte Subjekt-Objekt-Analyse nun auch Implikationen für das Konzept einer wissenschaftlich geforderten Objektivität. Objektivität könne angeblich durch Abstraktionsprozesse erreicht werden. Es sei aber gleichermaßen falsch, eine objektivistische »view from nowhere« zu suchen wie eine subjektivistische »inner experience« zu privilegieren.51 Gemäß Merleau-Ponty sei Objektivität eine Sicht von überall, von allen Positionen, die der Körper einnehmen
47 Merleau-Ponty, Maurice: »The Primacy of Perception«, in: James M. Edie (Hg.), The Primacy of Perception: And Other Essays on Phenomenological Psychology, the Philosophy of Art, History and Politics, Evanston: Northwestern University Press 1964, S. 12–42, hier S. 12.
Die folgenden Zitate sind Merleau-Pontys The Primacy of Perception entnommen, auf die sich Csordas in diesem Zusammenhang bezieht. Diese englische Übersetzung des französischen Originals unterliegt auch dem Body- beziehungsweise Leib/Körper-Verständnisproblem, wie oben erläutert. Die beiden zusammenhängenden folgenden Zitate aus The Primacy of Perception werden vom Verfasser aus diesem Grund ins Deutsche übersetzt.
48 Ebd., S. 15. 49 Ebd., S. 16. 50 Ebd. 51 T. J. Csordas: Embodiment, S. 38.
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könne, diese objektive Realität sei somit jedoch indeterminiert:52 Der Begriff der Indeterminiertheit spielt eine Rolle sowohl in Bezug zur Perzeption wie auch zur Praxis, beide Ausgangstheorien sähen als Resultat der Auflösung der genannten Dualitäten die Indeterminiertheit als ein essenzielles Prinzip menschlichen Lebens. Bei Merleau-Ponty sei es die »Indeterminiertheit der Perzeption«.53 Sie sei transzendent, die Verkörpertheit könne die Indeterminiertheit nicht übersteigen, aber sie fordere immer mehr ein, als man ergreifen könne.54 Bourdieu sehe die »Indeterminiertheit der Praxis«:55 Niemand habe eine bewusste Kontrolle über den gesamten, möglichen modus operandi. Die Entfaltung der menschlichen Aktionen übersteige immer die bewussten Intentionen. Im Bereich der von Csordas untersuchten charismatischen Heilungen läge beispielsweise ein Setting vor, in dem die religiöse Praxis das Präobjektive nutze, um innerhalb dieser Indeterminiertheit neue »heilige Objektivierungen«56 zu erzeugen: Csordas beschreibt im Rahmen von Dämonen-Austreibungen bei charismatischen Christen körperliche Akte wie zum Beispiel einen Schrei, ein Aushusten oder Erbrechen, welche im Sinne einer Selbst-Objektivierung die Verkörperung einer Vorstellung, ein »embodied image«,57 darstellten. Diese Vorstellung wird als Austreten des Dämons interpretiert und erlebt, als Zeichen induziere dieser Ausdruck dann eine Bedeutung nach außen: die Befreiung der vormals vom Geist kontrollierten Person. Weiterhin werde der Habitus genutzt, um zuvor konstituierte Dispositionen zu transformieren: Das Präobjektive sei kulturell vorgeprägt:58 Im nordamerikanischen Kontext von Gesundheit sei das Problem von Selbstkontrolle und Befreiung von äußerem oder inneren Druck ein durchgängiges Thema. Es lägen also kulturelle Determinierungen vor, welche zu Dispositionen im Habitus führten. Da die daraus folgenden Verhaltensweisen und Reaktionen nicht auf der Bewusstseinsebene ablaufen, komme es unvermeidlich zu Fehldeutungen, und die Verursachung werde im Falle der erlebten Dämonenaustreibung vom religiösen Akteur Gott anstelle dem sozial informierten Körper zugeschrieben.59
52 Vgl. ebd., S. 38f. 53 Ebd., S. 39. 54 Vgl. ebd., S. 38f. 55 Ebd., S. 39. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 16. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. ebd., S. 23.
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5. C AM-ANGEBOTE UND DAS POSTULAT DER GANZHEITLICHKEIT 5.1 G anzheitlichkeit und der Zusammenhang zu Spiritualität/ Religiosität Nicht nur eine orientierende Internet-Recherche zur Selbstdarstellung von CAM-Anbietern sondern auch eine große Zahl von wissenschaftlichen Studien zeigen auf, dass diese Therapieangebote sich häufig unter dem Begriff Ganzheitsmedizin labeln.60 Diese CAM-Angebote und die entsprechende Rezeption könnten als Gegenbewegung zu der Fragmentierung des Patienten in der rezenten evidenzbasierten Medizin gesehen werden, aber eine solche monokausale Erklärung dieses Phänomens greife zu kurz. Jeserich weist darauf hin, dass CAM nicht als homogenes Gebilde behandelt werden könnte, wie auch die evidenzbasierte Medizin61 keinen einheitlichen Komplex darstelle. Dennoch sei diese Zweiteilung von heuristischem Wert,62 und so soll dies auch im vorliegenden Beitrag verstanden werden. Die komplexe Ideengeschichte einer ganzheitlich orientierten Medizin darzustellen, welche sich bis auf Erasmus von Rotterdam zurückführen ließe, ist für unsere Ausführungen hier nicht von Bedeutung.63 In Deutschland wurde eine Ganzheitslehre in der Weimarer Republik und später in der Zeit des Nationalsozialismus gefördert, in der Natur wurde Ganzheit, Gesundheit und Ordnung gesehen.64 Weltweite Aufmerksamkeit erfuhr die Ganzheitsmedizin jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Verbindung einer Holistic-Health Bewegung in den USA mit der New-Age-Bewegung.65 Ein Autor, welcher von 60 Vgl. Jeserich, Florian: »Spirituelle/religiöse Weltanschauungen als Herausforderung für unser Gesundheitswesen. Am Beispiel der Homöopathie«, in: Raymond Becker u.a. (Hg.), ›Neue‹ Wege in der Medizin. Alternativmedizin – Fluch oder Segen?, Heidelberg: Winter 2010, S. 203–227, hier S. 204f. 61 Der Autor schreibt in diesem Zusammenhang von der »Wissenschaftsmedizin« (ebd., S. 210). 62 Vgl. ebd., S. 210. 63 In seinem Werk Econium Artis Medicae formuliert Erasmus im 15. Jahrhundert: »Der Arzt trägt nicht nur für den Körper Sorge, der der wertlosere Teil des Menschen ist, sondern für den ganzen Menschen […]«. (Erasmus von Rotterdam: Encomium Artis Medicae. Lateinisch/Deutsch. Lob der Heilkunst, hrsg., übers. und mit einer Einf. von Klaus Bergdolt, Heidelberg: Manutius-Verl. 2008, S. 39.) 64 Vgl. Jäckle, Renate: Gegen den Mythos Ganzheitliche Medizin, Hamburg: KonkretLiteratur-Verlag 1985, S. 93. 65 Vgl. F. Jeserich: Weltanschauungen, S. 206.
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der New-Age-Bewegung häufig zur wissenschaftlichen Legitimation zitiert wird, ist der Physiker Fritjof Capra. Im Jahr 1985 veröffentlichte ein deutscher Arzt ein Buch zu Ganzheitlicher Medizin,66 zu welchem Capra das Vorwort schrieb. Dieser sieht einen Zusammenhang eines neuen »ganzheitlichen Weltbild[es]«67 zur spirituellen Erfahrung und verbindet sowohl ein ökologisches Bewusstsein als auch die ganzheitliche Gesundheitsbetrachtung mit Spiritualität.68 In diesem Zusammenhang liegen viele Studien vor, welche… »[…] Weltanschauung allgemein bzw. Spiritualität/Religiosität als eine besondere Form der Weltanschauung als das zentrale Motiv für die Inanspruchnahme von CAM festgestellt haben.«69
Der Zusammenhang und die Grenzziehung zwischen Spiritualität und Religiosität werden in einer unübersehbar großen Menge von Literatur thematisiert. Die angelsächsische und französische Ideengeschichte von Spiritualität,70 die teils postulierte Abgrenzung von Spiritualität zu Religion71 oder die Annahme einer Transformation von Religion in Richtung zu einer »populären Spiritualität«72 zu diskutieren, kann nicht Anspruch dieses Beitrags sein, die folgenden Aspekte der Spiritualität, wie von Hubert Knoblauch herausgearbeitet, sind hier jedoch von Bedeutung:73 Es bestehe eine Distanz zum Dogmatischen, Spiritualität sei »zutiefst subjektivistisch«.74 Weiterhin werde Spiritualität mit Ganzheitlichkeit ver66 Vgl. Milz, Helmut: Ganzheitliche Medizin. Neue Wege zur Gesundheit, Königsstein: Athenäum 1985. 67 Ebd., S. 9. 68 Vgl. ebd., S. 10f. 69 F. Jeserich: Weltanschauungen, S. 210. 70 Vgl. Bochinger, Christoph: ›New Age‹ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995, S. 377. 71 Vgl. Heelas, Paul/Woodhead, Linda: The Spiritual Revolution. Why religion is giving way to spirituality, Malden: Blackwell Publishing 2005, S. 5. 72 Vgl. Knoblauch, Hubert: »Vom New Age zur populären Spiritualität«, in: Dorothea Lüddeckens/Rafael Walthert (Hg.), Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen, Bielefeld: Transcript 2010, S. 1f. (Korrekturfassung: https://www.as.tu-berlin.de/fileadmin/i62_astypo3/HK_ Buchartikel/HK2010-New_Age_und_populaere_Spiritualitaet.pdf, 04.02.2018) 73 Knoblauch, Hubert: »Soziologie der Spiritualität«, in: Karl Baier (Hg.), Handbuch Spiritualität. Zugänge, Traditionen, interreligiöse Prozesse, Darmstadt: WBG 2006, S. 91–111., S. 106ff. 74 Ebd., S. 106.
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bunden, indem alle Lebensbereiche wie zum Beispiel Psyche, Gesundheit und Körper, aber auch Beziehungen oder Politik mit einbezogen werden.75 Nach Knoblauch stellt die Alternative Medizin geradezu ein »Einfallstor«76 des Spirituellen dar, was mit der oben thematisierten ganzheitlichen Selbstverortung der CAM-Methoden korreliert. Hier wird der Ansatz von Knoblauch vertreten, wonach die rezente Spiritualität als eine Transformation von Religion zu betrachten ist, die weder in Opposition zu institutionalisierter Religion, noch als randständig oder alternativ angesehen werden muss. Der Komplex Spiritualität/Religiosität soll als Arbeitsbegriff heuristisch zusammen betrachtet werden. 5.2 G anzheitlichkeit und die phänomenologische Perzeption von CAM Im Folgenden wird als exemplarisch für CAM-Methoden Ayurveda in den Blick genommen. Ayurveda betrachtet Körper, Geist und Seele als Einheit. Wie Jean Langford feststellt, ist der Körper im ayurvedischen Denken fluide und durchlässig.77 Er stünde in ständiger Wechselwirkung sowohl mit der sozialen als auch der natürlichen Umwelt. Der Patient werde somit als Teil des ihn einschließenden sozialen, klimatischen und kosmischen Feldes betrachtet. Krankheit im ayurvedischen Sinn sei als individuelles und situatives Ungleichgewicht zu betrachten – im Gegensatz zu den ICD-definierten Entitäten der Schulmedizin.78 Und während diese generell Körper, Person und Krankheit als Objekte betrachte, würden Körper, Person und Krankheit im Ayurveda als »Prozess« und als ein »Beziehungsmuster« gesehen.79 Das oben dargestellte Embodiment-Paradigma stellt den Leib und dessen Perzeption in all seiner Indeterminiertheit in den Vordergrund der Wirklichkeitswahrnehmung. Da nicht unendlich viele Perspektiven auf die Welt vor unendlichen Erfahrungs- und Wissenshorizonten eingenommen werden können, komme es zur leiblichen – also präobjektiven, präreflektiven – perzeptiven Synthese, welche eine scheinbar reale Wirklichkeit erst konstituiert. Die Indeterminiertheit wird zu einer Ganzheit synthetisiert und diese Synthese wiederum ist kulturell vorgeprägt. Aus dem oben Gesagten ergibt sich auch die Anschlussfähig75 Hier darf auf die Korrelation zur heuristischen Definition von Heil (vgl. Fußnote 1) verwiesen werden. 76 H. Knoblauch: New Age, S. 21. 77 Vgl. Langford, Jean M.: Fluent Bodies. Ayurvedic Remedies for Postcolonial Imbalance, Durham/London: Duke University Press 2002, S. 11. 78 Die Krankheitsklassifikation ICD (International Classification of Diseases) wurde von der Weltgesundheitsorganisation initiiert. 79 J. M. Langford: Fluent Bodies, S. 11.
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keit von CAM-Methoden an Spiritualität als ein ganzheitliches Weltbild, was auch empirisch fassbar ist. Aus den Untersuchungen von Kessler et al. in Deutschland geht hervor, dass 72,9 % der Befragten Ayurveda mit Spiritualität verbanden.80 Auch bei eigener Hospitation in einer deutschen Ayurvedaklinik konnte explizit die Verbindung der ganzheitlichen Behandlung mit zahlreichen spirituellen Angeboten dokumentiert werden.81 Zur Materialität und den sensational forms kann aus der Hospitation auf der visuellen Ebene zunächst unter anderem die Darstellung der vierarmigen, vedischen Gottheit der Ärzte, Dhanvantari, in Behandlungsräumen angeführt werden, ebenso Mandala-Darstellungen in Gängen oder Patientenzimmern. Ayurveda räumt dem sinnlichen Erleben breiten Raum ein. Bei der Anamnese zum Beispiel wird nach dem subjektiven Erleben von Kälte und Wärme oder den Vorlieben und Abneigungen der Geschmacksrichtungen gefragt. Genauso wichtig ist dann in der Therapie der Geschmack der individuell zusammengestellten Speisen, die bei den Mahlzeiten in einer bestimmten Reihenfolge alle Geschmacksrichtungen enthalten sollen. Der Speisesaal ist somit auch Teil der sensational forms, Gespräche sollten dabei vermieden werden, es herrscht große Stille. Eine zentrale Rolle bei Therapien spielt der taktile Sinn: Eine simultane Ganzkörpermassage, durchgeführt von zwei Therapeuten in koordinierter Bewegung unter Verwendung von geklärter Butter kann eine Dauer von 60 Minuten haben. Ebenso erstreckt sich ein Stirnöl-Guss, durchgeführt unter manueller Bewegung der über der Stirn des Patienten aufgehängten Ölschale durch den Therapeuten, über 30 Minuten. Über die teils mit Kräutern versetzten, duftenden Öle sollen gemäß des ayurvedischen Denkens Gifte ausgeleitet werden. Das körperliche Erleben von therapeutischem Abführen – ebenso gedacht zur Ausleitung von Giften – ist demgegenüber aus nachvollziehbaren Gründen eine sensorisch anders geartete Situation. Hier kann der Ansatz von Csordas zur Analyse helfen. Die Perzeption ist zwar präobjektiv, aber kulturell vorgeprägt. Die soziokulturellen Einflüsse führen zu einem geteilten Habitus der Beteiligten, was ihnen jedoch nicht bewusst sein muss. Auf die Ayurveda-Situation bezogen kann als soziokultureller Einfluss die dominante Rolle der Schulmedizin mit all ihren Erfolgen, aber auch der Zuschreibung von mangelnder Ganzheitlichkeit angesehen werden, was die Nachfrage nach CAM-Methoden erklären kann. Als kulturell beeinflussend im Westen können ebenso die über Medien objektivierten Zuschreibungen zum Beispiel an Ayurveda angesehen werden 80 Vgl. Kessler, Christian u.a.: »Ayurveda. Between Religion, Spirituality, and Medicine«, in: Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine (2013), S. 1–11, hier S. 7 (https://www.hindawi.com/journals/ecam/2013/952432/, 22.02.2019). 81 Der Verfasser führte eine Feldstudie in einer deutschen Ayurvedaklinik durch. Auf Anfrage können die Ergebnisse zur Verfügung gestellt werden.
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– unter anderem die Ganzheitlichkeit und die Wiederherstellung eines körperlichen und mentalen Gleichgewichtes. Wenn Krankheit im Denken von Ayurveda nun aber nicht in einer ICD-definierten Entität, sondern in einem Ungleichgewicht der Konstitution zu suchen ist, kann dieses Ungleichgewicht nun nicht in der Weise objektiviert werden wie ein messbarer Blutdruck oder Blutzuckerwert, eine Lungenentzündung im Röntgenbild oder die Darstellung eines Gallensteines in der Sonographie. Die leiblich erfahrbare Manifestation der Toxine, welche für das Ungleichgewicht verantwortlich sind, wäre im Embodiment-Paradigma dann zum Beispiel das Abführen von Giften in den Ausleitungstherapien. Ursachen des kulturell postulierten Ungleichgewichts werden im Ausleiten von Giften manifest und damit selbst-objektiviert, die Elimination kann als Heilungsprozess zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes er-lebt werden. Dieses präobjektive Erleben wird dann noch durch den medizinischen Spezialisten und die entsprechende spezifische Literatur ergänzt, wodurch die Indeterminiertheiten auch intellektuell mit der entsprechenden jeweiligen Theorie zu einer Ganzheit synthetisiert werden.
6. ABSCHLIESSENDE BETRACHTUNG In diesem Beitrag wurde die aktuelle Entdifferenzierung von Medizin und Religion als Reaktion auf die Defragmentierung des Patienten in der evidenzbasierten Medizin analysiert, weiterhin konnte historisch der Einfluss der New-Age-Bewegung nachgezeichnet werden. Auf der medizinischen Seite zeigt sich empirisch eine vermehrte Inanspruchnahme von CAM-Angeboten, welche häufig religiöse oder spirituelle Zuschreibungen erfahren und sich ganzheitlich labeln. Ein seitens der Rezipienten postulierter Zusammenhang von sogenannter ganzheitlicher Medizin und Spiritualität kann empirisch ebenfalls über qualitative Forschung nachgewiesen werden. Insofern zeigt sich die genannte Entdifferenzierung auch als eine (Neu-)Verschmelzung von Heil und Heilung. Das Embodiment-Paradigma von Csordas als Analyseinstrument lieferte einen Erkenntniszugewinn in der Betrachtung westlicher Rezeption von CAM-Angeboten, oben exemplarisch im Ayurveda demonstriert. Die Aufhebung der Dualitäten von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, sozialem Feld und Praxis wurde von Csordas über die Rezeption von Maurice Merleau-Ponty und Pierre Bourdieu plausibilisiert, welche beide den Leib bzw. den mit dem Leib koextensiven Habitus als locus dieser Aufhebungen im Zentrum haben. Aus diesen Analysen ergibt sich auch ein spezieller religionswissenschaftlicher Aspekt, den Jürgen Mohn folgendermaßen charakterisiert hat: Kann eine disparate, unübersichtliche Gesellschaft religiöse Orientierung oder Sinnstiftung eventuell nicht mehr liefern, müsse der Körper zum »Medium von Ganzheitser-
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fahrungen« werden.82 Die Attraktivität zum Beispiel von fernöstlich inspirierten Körpertechniken wie Achtsamkeit oder Yoga, aber genauso die Zunahme spezieller Diäten wie zum Beispiel der lactovegetarischen Ernährung, können unter diesem Gesichtspunkt weiter analysiert werden: Sie binden offensichtlich die individuelle Lebensweise an ein ganzheitliches ökologisches Weltbild. Weitere Forschungen in diesem Zusammenhang sind zu erwarten. Ein Desiderat speziell im Zusammenhang mit diesem Beitrag wären empirische, qualitative Forschungen darüber, inwieweit innerhalb der diversen CAM-Methoden eine »Ganzheitswahrnehmung« der Rezipienten ebenso wie die Zuschreibung von Spiritualität unter dem Ansatz der sensational forms und von Csordas´ Embodiment-Paradigma weiter ausdifferenziert werden könnten.
82 Vgl. Mohn, Jürgen: »Körperkonzepte in der Religionswissenschaft und der Religionsgeschichte«, in: Christina aus der Au/David Plüss (Hg.), Körper – Kulte. Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften, Zürich: TVZ 2007, S. 47–73, hier S. 68ff.
Alternative Heilungsangebote in MecklenburgVorpommern – Feldtypologische Überlegungen zur Konstitution eines »Marktes des Besonderen« Martin Tulaszewski
1. HISTORISIERUNG/LOKALE EINBETTUNG Sogenannte ›alternativmedizinische Verfahren‹ haben seit Beginn der 1990er Jahre im nordöstlichsten Land der Bundesrepublik, in Mecklenburg-Vorpommern, einen großen Zuwachs erfahren. Dieser Befund ist zunächst nicht weiter überraschend, da in vorgelagerten Zeiträumen keine vergleichbaren Entwicklungen möglich waren. Dies hing zum einen mit der restriktiven DDR-Gesundheitspolitik zusammen. Zum anderen durchdrangen Einflüsse oder Impulse der ›New-Age-Bewegung‹ seit Beginn der 1970er Jahre nicht ernstlich den Eisernen Vorhang.1 In der DDR selbst gerieten die praktizierten alternativen Heil- und Diagnoseverfah-
1 Die im Lebensstil ausgedrückte Skepsis der ›Ost-Hippies‹ gegenüber der DDR-Gesellschaftsordnung, mündete rasch in politischer Repression durch die Staatsorgane. Und so war der Weg in die Bürgerrechtsbewegung der politischen Opposition vorgezeichnet. Im Gegensatz zum westdeutschen Pendant, das mit anderen Möglichkeiten des Zusammenlebens experimentieren konnte. Das Interesse an esoterischen Themen war bei den ›Ost-Hippies‹ nicht sonderlich ausgeprägt, auch wenn es einen zentralen Anlaufpunkt im polnischen Kloster Częstochowa gab, in dem sich u.a. auch Hare-Krishna-Anhänger aufhielten. Menzel, Rebecca: »Wittstock vs. Woodstock. Hippies Ost und Hippies West«, in: Michael Rauhut/Thomas Kochan (Hg.), Bye Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2013, S. 536–555, hier S. 548.
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ren,2 darunter auch traditionelle volksmedizinische Behandlungen – die jedoch keinerlei Kontinuität zu den zeitgenössischen alternativen Heilangeboten aufweisen –, Mitte der 1950er Jahre unter erheblichen staatlichen Druck, da sie im Widerspruch zu den Grundsätzen des dialektischen Materialismus standen. Volksmedizinischen Praktiken, insbesondere innerhalb der Landbevölkerung verbreitet und nun unter dem diffamierenden Schlagwort der ›Kurpfuscherei‹ gebrandmarkt, sollte in einer vierjährigen Wanderausstellung »Aberglaube, Kurpfuscherei und Gesundheit« aktiv entgegengewirkt werden.3 Unter quantitativen Gesichtspunkten betrachtet, entsprang die Ausstellung keineswegs einem übertriebenen und schattenboxenden Funktionärsaktivismus. Denn die »magische Krankheitsbehandlung« war in der Zwischenkriegszeit in Mecklenburg eine noch sehr lebendige Praxis. Dass zeigt Gerhard Staak in seiner 1930 an der Universität Rostock eingereichten Promotionsschrift, für die er zwischen 1920 und 1927 empirische Erhebungen durchgeführt hatte. »Jede kleine Siedlung besitzt wenigstens eine, jedes größere Dorf mehrere solcher Persönlichkeiten. In den Landstädten befindet sich in den ärmeren Vierteln fast in jeder Straße ein Kundiger. In Rostock konnte ich bisher etwa 20 Persönlichkeiten feststellen, deren magische Heilkunst allgemein bekannt ist.«4 Staak betont auch immer wieder die Auskunftsfreude der Kinder in den Dörfern, ihre Kenntnis und die eigene Anwendung der »magischen Krankheitsbehandlungen«, etwa bei Nasenbluten. »Die Kinder sind meist auch sehr gut darüber unterrichtet, an welche Personen man sich in diesen oder jenen
2 Im Wesentlichen waren dies Homöopathie, Heilpraktik, Akupunktur, später auch als ›Neuraltherapie‹ bezeichnet, und Yoga. Vgl. auch Anton, Andreas: Das Paranormale im Sozialismus. Zum Umgang mit heterodoxen Wissensbeständen, Erfahrungen und Praktiken in der DDR, Berlin: Logos 2018; Tietke, Mathias: Yoga in der DDR. Geächtet, Geduldet, Gefördert, Kiel: Ludwig 2014; Nierade, Anne: Homöopathie in der DDR. Die Geschichte der Homöopathie in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR 1945 bis 1989, Essen: KVC-Verlag 2012. 3 Konzipiert wurde die Wanderausstellung (1959–1963) durch das Deutsche HygieneMuseum Dresden, das als Zentralinstitut für gesundheitliche Aufklärung direkt dem Gesundheitsministerium der DDR unterstand. Dargestellt wurde ›Kurpfuscherei‹ auf Schautafeln in »leicht verständlicher Form [der] Erscheinungen, Auswirkungen und Gefahren des Aberglaubens, der Astrologie, diagnostischer und therapeutischer Verfahren wie der Augendiagnose, des Pendelns, der Radiästhesie und des Wünschelrutengehens.« A. Nierade: Homöopathie, S. 64f. 4 Staak, Gerhard: Beiträge zur magischen Krankheitsbehandlung. Die magische Krankheitsbehandlung in der Gegenwart in Mecklenburg, Rostock: Winterberg 1930, S. 16.
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Krankheitsfällen mit der besten Aussicht auf Erfolg zu wenden hat.«5 Staaks Beobachtungen stehen zudem in Einklang mit den Erhebungen des ›Atlas der deutschen Volkskunde‹,6 wonach volksmedizinische Behandlungen in Form des sogenannten ›Besprechens‹ im westlichen Mecklenburg flächendeckend verbreitet und alltagspraktisch fest verankert waren. Dabei werden unter ›Besprechen‹ eine Vielzahl lokal unterschiedlich ausgeprägter Praktiken subsumiert, die unter Zuhilfenahme zugehöriger – aber nicht zwangsläufig notwendiger – Zaubersprüche durch einen Spezialisten im Krankheitsfalle einer Person oder auch eines Tieres zur Anwendung kommen können.7 Die Erhebungen des Atlas wurden von Wiegelmann und Schubert zwar explizit für den nordwestdeutschen Raum ausgewertet.8 Dabei ist aber eine deutliche West-Ost-Staffelung erkennbar: Je weiter östlich man blickte, desto zahlreicher und ausführlicher waren die Berichte der befragten Atlas-Gewährsleute.9 Die Studie lässt somit auch Rückschlüsse auf Vorpommern 5 Das Wissen um diese Form der volksmedizinischen Praktiken, war demzufolge in Mecklenburg auch noch an diese Generation tradiert worden. Ebd., S. 15. 6 Der »Atlas der deutschen Volkskunde« bezeichnet eine flächendeckende Erhebung im Deutschen Reich und im deutschsprachigen Raum zwischen 1930 und 1935. In Fragebögen mit 243 Hauptfragen zu unterschiedlichsten Themen, wurden ca. 20.000 Gewährspersonen aus den unterschiedlichen Regionen um Auskunft gebeten. Frage 185 bezieht sich auf das ›Besprechen‹ von schon bestehenden Krankheiten und ist in weitere sieben Unterfragen gegliedert. Die Praxis ist dabei ebenso vielschichtig, wie auch die unterschiedlichsten regionalen Benennungen dieser Praxis. Der Begriff des »Besprechens« muss allerdings in den 1930er Jahren als Bezeichnung für diese Behandlungen geläufig gewesen sein, da die Gewährspersonen auf die Frage Antworten geben konnten. Vgl. Schubert, Beate/Wiegelmann, Günter: »Regionale Unterschiede beim Besprechen von Krankheiten im frühen 20. Jahrhundert«, in: Günter Wiegelmann (Hg.), Volksmedizin in Nordwestdeutschland: Heilmagnetismus – ›Besprechen‹ – Erfahrungsheilkunde, Münster: Waxmann 1994, S. 171–253. 7 Vgl. Schulz, Monika: »›Gottes blutt ist ausgeflossen/das behütet mich vor allen bösen geschossen‹. Zur Systematik archaischer (magischer) Konzepte im Kontext von Heil und Heilung«, in: Michael Simon (Hg.), Auf der Suche nach Heil und Heilung. Religiöse Aspekte der medikalen Alltagskultur, Dresden: Thelem 2001, S. 15–36. 8 Wiegelmann und Schuberts Auswertungen der ›Besprechungs-Fragebögen‹ sind ungefähr in den Staatsgrenzen der alten Bundesrepublik zu lokalisieren. Eine Auswertung des Atlas-Materials bezüglich der norddeutschen Gebiete der ehemaligen DDR hat bislang nicht stattgefunden. 9 »Während im Durchschnitt aus gut 12 Prozent der befragten Orte Nordwestdeutschlands zusätzliche Berichte über Heilhandlungen und Besprechungsformeln vorliegen, konnten in Ostholstein und im westlichen Mecklenburg (Kartenfeld 41) fast 20 Prozent
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zu, wo sich die Landschaft volkstümlicher Heilpraxis sicherlich ähnlich darstellte. Auch dreißig Jahre später waren volksmedizinische Praktiken noch signifikant. Eine von 1960 bis 1966 durchgeführte Vergleichsstudie des Hygieneinstituts der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald zum Thema »Reste der Kurpfuschertätigkeit« kam zu dem Ergebnis, dass volksmedizinische Praktiken im Bezirk Rostock noch immer Bestand hatten. In Greifswald wurde die Tätigkeit von 42 »Kurpfuschern« nachgewiesen und im vorpommerschen Kreis Grimmen gab es 23 »Kurpfuscher« und zwei homöopathische Heilpraktiker. Somit kam in der Stadt Greifswald auf 1800 Einwohner ein praktizierender »Kurpfuscher«, im Kreis Grimmen sogar einer auf 1600 Einwohner.10 In der Region Mecklenburg-Vorpommern hatte sich also die »Zaubermedizin« noch länger als an anderen Orten halten können. Für Schubert/Wiegelmann stellte – bedingt durch die Modernisierungsprozesse des Lebens – die Zwischenkriegszeit eine allgemeine Zäsur für derlei Praktiken dar.11 Die Volksmedizin befand sich allgemein in rascher Auflösung, wurde nicht weitertradiert und verschwand mit der älteren Generation. Bedingt durch die agrarische Prägung des Landstrichs konnte eine flächendeckende medizinische Versorgung der Bevölkerung jedoch nicht sichergestellt werden, und somit ist es wiederum nicht verwunderlich, dass sich noch in den 1960er Jahren eine hohe Anzahl an praktizierenden »Kurpfuschern« nachweisen ließ.12 Gegen(19,1 Prozent) der Bearbeiter derartige Berichte aufschreiben, und in den anderen östlichen Regionen waren die Anteile fast ebenso hoch. […] Die Texte aus dem Kartenfeld 41 enthalten eine große Fülle von differenzierten Informationen, die für diese Zeit des 20. Jahrhunderts erstaunlich ist. Durchweg wird eine Anzahl verschiedener Krankheiten und ein reiches Repertoire an Sprüchen und Heilhandlungen notiert. Die Berichte geben ein anschauliches Bild davon, welchen Rang diese Heilpraxis damals in der Bevölkerung noch hatte und daß es sich ehemals um ein recht kompliziertes Heilsystem handelte. Zudem fällt auf, daß dort nicht nur die sonst üblichen kleineren Beschwerden (wie Warzen) behandelt wurden, sondern auch schwere Verletzungen und Erkrankungen wie verrenkte Hand, Auszehrung oder Mundfäule. Viehkrankheiten wurden ebenfalls besprochen.« B. Schubert/G. Wiegelmann: Besprechen von Krankheiten, S. 190. 10 A. Nierade: Homöopathie, S. 65. 11 B. Schubert/G. Wiegelmann: Besprechen von Krankheiten, S. 174. 12 So kam um 1900 z.B. im vergleichbaren »Hintervorpommern ein Landarzt auf 26.000 Einwohner, im Münsterland auf 3000«. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd.1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München: Beck 1990, S. 152. | Diese Unterversorgungssituation konnte auch bis zum Ende der DDR nicht gelöst werden. »Im Jahr 1987 wurde der Ärztemangel an der Universität Greifswald als ein ›kaum zu lösendes Problem‹ bezeichnet. Im Bezirk Neubrandenburg waren nur 8 der 14 Kreise ›mit einem hauptamtlichen Nervenarzt besetzt‹.« Erices, Rainer/Gumz, Antje: »DDR-
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wärtig ist diese Form des volksmedizinischen Heilers13 im Feld nicht mehr feststellbar und es bleibt zu vermuten, dass die Praktiken mit dem Tode des jeweiligen Heilers ebenfalls erloschen sind.14 Alternativmedizinische Angebote und Strukturen, wie wir sie heute kennen und wie sie uns in Mecklenburg-Vorpommern begegnen, begannen sich deshalb erst nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren auszubilden. Rekurse und Kontinuitäten innerhalb der heutigen Angebote zu den eingangs geschilderten lokalen volksmedizinischen Praktiken bestehen nicht mehr und lassen sich allenfalls noch in Versatzstücken und sporadisch in manchen ländlichen Gebieten aufspüren.15 Gesundheitswesen. Die Versorgungslage war überaus kritisch«, in: Deutsches Ärzteblatt (2014); 111(9): A-348/B-302/C-289. Mirko Uhlig greift eine psychotherapeutische Unterversorgungssituation diskutierend in seiner Studie zum gegenwärtigen Alltagsschamanismus in der Eifel auf, und fragt nach den kompensatorischen Elementen, die daraus resultieren können. Uhlig, Mirko: Schamanische Sinnentwürfe. Empirische Annäherungen an eine alternative Kulturtechnik in der Eifel der Gegenwart, Münster: Waxmann 2016, S. 498f. 13 Im Beitrag wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts. 14 »Zweifel an ihrer [der magischen Krankheitsbehandlung] Bedeutung sind durchaus nicht selten. Sie begegnen besonders in den Kreisen der jüngeren Generation, die sich auf ihre Aufgeklärtheit etwas zugute tun.« G. Staak: Magische Krankheitsbehandlung, S. 17. 15 Auf die Frage nach der Akzeptanz seiner Angebote in einer vorpommerschen Dorfgemeinschaft, antwortete ein Geistheiler: »Wir sind mit dem Auto vorgefahren, haben uns das Haus hier angeschaut und da kam eine aus dem Ort und hat gesagt: ›Ah, sind Sie der Heiler? Wir haben gehört, der Heiler zieht her.‹ Und da hab’ ich gesagt: ›Okay. Ja!‹ (lacht) Und dann waren wir hergezogen und dann hat es auch einen Monat gedauert. Dann kam sie mit Hexenschuss und konnte nicht mehr. Und dann hat sie gesagt, ich soll das jetzt mal wegmachen. Und ich war total baff. Und dann hab’ ich gesagt: ›Okay.‹ Dann hab’ ich die Hand aufgelegt und dann hat sie sich nach zehn Sekunden lächelnd umgedreht, hat mich umarmt und hat gesagt: ›Super!‹ Und hat sich gebückt, hat ihre Tasche aufgehoben und ist gegangen. Und nach ’ner Woche hab’ ich ihren Sohn gefragt, wie’s denn seiner Mutter geht, der ging’s doch so schlecht. ›Wieso? Die hast Du doch geheilt!‹ Und dann war auch wieder im Ort rum: ›Der Heiler lebt hier. Du kannst hingehen, wenn Du irgendwas hast und der macht’s Dir weg.‹ So. Also das ist ja eigentlich das ganze Gegenteil von Angst vor irgendwie Sekte oder so. Es gibt auf der anderen Seite ’ne alte Tradition des Besprechens und Heilens hier. Und wenn das rum ist, sagen die Leute: ›Naja, ist halt so. Ein Heiler mehr. Schön, dass der hier vor Ort ist.‹ Oder so. Ist auch okay.«
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2. A LTERNATIVE HEILUNGSANGEBOTE IN MECKLENBURG-VORPOMMERN – AUSGANGSPUNKT Insbesondere Anbieter aus den alten Bundesländern traten zu Beginn der 1990er Jahre als betriebsame Pioniere in Mecklenburg-Vorpommern in Erscheinung. Die allmählich anwachsende Anbieterszene konstituierte nun einen neuen und eigenen Markt, der nach bestimmten Vorstellungen interagiert und gegenwärtig als etabliert betrachtet werden kann. Innerhalb der unterschiedlichsten Heilungsangebote dieses alternativ- bzw. komplementärmedizinischen Feldes16 ist übergreifend eine
Der Geistheiler selbst verortet sich selbst nicht in der Tradition der lokalen ›Besprecher‹, ist aber flexibel genug, der Frau aus dem Dorf die notwendige Suggestionsfläche eines überlieferten und wohl geläufigen Heilerverständnisses zu bieten. Ein aus Mecklenburg stammender Reiki-Anbieter kennt wiederum die lokalen Heiltraditionen auch aus der eigenen Familiengeschichte, sieht aber keinerlei Notwendigkeit, genealogische Kompetenzen daraus abzuleiten. Im Gegenteil. Er grenzt sich davon ab:
»I:
Ja. Vielleicht ein ganz kurzer Exkurs, weil Sie sagten, der Großvater Ihrer Frau
war auch schon ein Heiler. Ähm. Und Ihre Frau, nehm’ ich mal an, ist auch ’ne gebürtige oder stämmige Mecklenburgerin?
H03: Ja, mmh.
I:
H03: Ja.
I:
H03: Ich hab’ ihn selber nicht mehr kennengelernt, muss man dazu sagen. Er ist ver-
Und der hat damals auch hier praktiziert als Heiler? Wie kann man sich das vorstellen?
storben schon vor, puhh, vor ’65 [1965] ungefähr. So und er hat im Grunde genommen auch ›Handauflegen‹ gekonnt, ja!? Aber er hat es aus seiner eigenen Lebensenergie genommen. Dass kann man daraus ableiten, dass er – wenn er am Tag zwei Mann geheilt hatte – war er fertig. Ja!? Und bei zwei Mann oder drei Mann dann sind die Kräfte am Tage vorbei gewesen. Ja!? Bei Reiki wissen wir ja insofern, äh, bin ich in der Lage am Tage Zehne zu heilen, ja!? Weil ich mich ja als reinen Kanal verstehe. Ja!? Und nicht als Akteur der Energie. Ne.« 16 Der für die Untersuchung angewandte Feldbegriff geht auf Pierre Bourdieus Entwürfe seiner Theorie sozialer Felder zurück. Bourdieu geht es dabei darum, die im Feld zu beobachtenden Handlungszusammenhänge (Macht, der Wert von Gütern, Regeln) zu bestimmen. Sein Feldbegriff ist dabei greifbar an Marktvorstellungen entwickelt. Vgl. Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A.: »Einleitung Kunsträume«, in: Dies. (Hg.), Räume zwischen Kunst und Religion. Sprechende Formen und religionshybride Praxis, Bielefeld: Transcript 2019, S. 9–18; Bourdieu, Pierre: »Die Auflösung des Religiösen«, in: Ders., Religion, Schriften Bd. 13, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011,
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mehr oder minder ausgeprägte Ablehnung eines rationalistischen, technisch-wissenschaftlichen Weltbildes feststellbar. Bei aller Vielfalt der Heilungsangebote konvergieren die vertretenen Anschauungen und Auffassungen letztlich in Vorstellungen von Ganzheitlichkeit als einem Zentralwert.17 Die vorgefundenen therapeutischen Praktiken sind deshalb nicht nur ein Heilungsangebot für ein bestimmtes körperliches Gebrechen. Das Gebrechen selbst gilt als lediglich symptomatisch und weist über ein rein somatisches Problem hinaus. Denn: Nachdrückliche körperliche Heilung bedingt ganzheitliches Heil. Ein sich konvex darstellendes therapeutisches Setting bietet nun ein Deutungs- und Erfahrungsgerüst, das eine »neue Form der Religiosität« ermöglicht, die sich in den von Charles Taylor beschriebenen modernen Identitätsbedürfnissen der Menschen wiederspiegelt: den Bedürfnissen nach Reflexivität, Authentizität und Expressivität, um das eigene, »höhere Selbst« zu entfalten.18 Das DFG-Projekt »Märkte des Besonderen« bewegt sich dem Namen nach im Spannungsfeld von Religion und Wirtschaft und deren Interdependenzen. Im Projektbereich »Heilung und Heil« wurden insbesondere Marktakteure in den Blick genommen, die Dienstleistungen im Bereich der sogenannten Alternativmedizin anbieten. Mittels Internetrecherche sowie dem Besuch von Esoterikmessen und überregionalen Vernetzungstreffen konnten für den lokal eingegrenzten Bereich Mecklenburg-Vorpommern über 300 Anbieter erhoben werden, die ein sehr heterogenes Feld im Bereich der »Heilung« abbildeten. Die Heilungsangebote erstreckten sich von niederschwelligen Angeboten, wie Yogakursen oder Qigong, über Therapien, die von Heilpraktikern/Homöopathen mit Zusatzqualifikation verantwortet werden, bis hin zu ayurvedischer Ernährungslehre. Es fanden sich aber auch zahlreiche energetisch arbeitende Akteure (Reiki, Prana), schamanische Ritualpraktiker sowie spiritualistisch aufgeladene Heilungsangebote, wie etwa von Engelmedien oder sogenannten Geistheilern.
S. 243–249; Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: »Feld«, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2009, S. 99–103; Holder, Patricia: »Markt«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu (2009), S. 179–185. 17 Vgl. Hero, Markus: Die neuen Formen des religiösen Lebens. Eine institutionentheoretische Analyse neuer Religiosität, Würzburg: Ergon 2010; Höllinger, Franz/Tripold, Thomas: Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur, Bielefeld: Transcript 2012; Stolz, Jörg u.a. (Hg.): Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft, Zürich: TVZ 2014. 18 Vgl. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.
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Das bisweilen diffus anmutende Feld der »Heilung« wurde insbesondere im Hinblick auf die marktförmige Organisation der Akteure untersucht. Im Rahmen der Marktanalyse mit Fokus auf den Akteuren wurden acht Interviews mit Einzelakteuren und zwei Gruppeninterviews bzw. -diskussionen durchgeführt. Doch zunächst soll in Kürze das Konzept der »Märkte des Besonderen« erläutert werden, um davon ausgehend Fragen nach dem Berufseinstieg, dessen Ausformung und Feldkonstitution, sowie die Inhalte der angebotenen Heilarbeit mit Zielrichtung auf Markt- sowie Netzwerkfragen zu erheben und strukturierend wiederzugeben.
3. »MÄRKTE DES BESONDEREN« Dieses auf den ersten Blick unscheinbare und ein vermeintliches Nischendasein fristende Segment beschäftigte den französischen Wirtschaftswissenschaftler Lucien Karpik. Karpik skizzierte seine Vorstellungen von einer Ökonomie des Einzigartigen und deren Marktmechanismen in seinem 2011 auf Deutsch erschienenem Buch »Mehr Wert«,19 das innerhalb des DFG-Projektes »Märkte des Besonderen« zur Stützung der leitenden Arbeitshypothese herangezogen wurde. Doch was versteht Karpik unter den sogenannten singulären, unvergleichlichen bzw. unvergleichbaren Produkten und einem »Markt des Besonderen« als solchem? Zunächst grenzt Karpik singuläre von standardisierten Produkten ab, deren maßgebliches Unterscheidungskriterium letzten Endes im Preis seinen Ausdruck finde. Diese singulären Güter bezeichnet er als »differenzierte Produkte«, deren Qualitätsmerkmale komplex, ungewiss und ungleichartig – und darum nicht in einem herkömmlichen Sinne vergleichbar sind.20 Da diese Produkte einzigartig sind, fragt Karpik danach, wie auf einem solchen Markt der potentielle Kunde überhaupt in die Lage versetzt werden kann, eine Kaufentscheidung zu treffen, obwohl die angebotenen Produkte oder Dienstleistungen intersubjektiv nicht nachvollziehbar taxiert werden können. Er ist den Wirkungsmechanismen dieser »differenzierten Produkte« auf der Spur, die jenseits des Preises andere soziale Mechanismen benötigen, und entwirft schließlich eine Theorie für diese »Märkte des Besonderen«. Dabei beschreibt er zunächst einmal die damit einhergehenden Schwierigkeiten für den potentiellen Kunden. Die Schwierigkeiten bestehen 19 Karpik, Lucien: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2011, S. 13. (Originalausgabe: Lʾéconomie des singularités, Paris: Gallimard 2007.) 20 Dazu zählt Karpik »Märkte für Kunstwerke, Haute-Cuisine-Produkte, Filme, Musikaufnahmen, Luxusgüter, Bücher, Reisen, bestimmte handgefertigte Artikel, freiberufliche Dienstleistungen und besondere Expertisen.« Ebd., S. 13.
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für Karpik gar nicht im Mehraufwand, Informationen über das Produkt oder die Dienstleistung einzuholen. Denn sind diese Informationen beschafft, geht es vielmehr darum, diese auch richtig zu interpretieren, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können – und das ist wiederum ein »irreduzibles Interpretationsproblem«.21 Der hier skizzierte Problemaufriss liegt den weiteren Überlegungen Karpiks zugrunde, nach denen dieses Interpretationsproblem zunächst mittels »Instanzen der Urteils- und Vertrauensbildung«22 zu bewältigen versucht wird. Zu guter Letzt bewegt sich auf diesem Markt nun auch noch eine neue, den Bedingungen angepasste Form des Kunden als ein wirtschaftswissenschaftlicher Homo singularis – abgegrenzt vom gängigen »Vernunftwesen«23 Homo oeconomicus. Karpik charakterisiert diesen neuen Typus wie folgt: »Bei seiner Suche nach singulären Produkten muss der Homo singularis die Entdeckung, Interpretation und Bewertung der Beurteilungen verschiedener Instanzen mit der Entdeckung, Interpretation und Bewertung dieser Produkte in Einklang bringen, manchmal auch mit der Entdeckung, Interpretation und Bewertung seines eigenen Geschmacks, und noch dazu mit einem begründeten Einsatz knapper Mittel.«24
Dieser komplizierten Gemengelage auf den »Märkten des Besonderen« stellt Karpik nun sieben ordnende »Koordinationsregime« entgegen, in denen jeweils bestimmte Beurteilungsinstanzen wirken. Er unterscheidet hierbei persönliche und unpersönliche Instanzenregime. Da es sich um ein dynamisches System handelt, sind diese allerdings nicht deutlich voneinander abgrenzbar. Karpik stellt sie deshalb als Modelle vor. Zu den unpersönlichen Regimen zählt er das Modell des Megaregimes (große Aktionsrahmen, Megalabels beispielsweise der Filmindustrie, die für gewisse Standards einstehen). Dem ähnelt ein Popularitätsregime (beispielsweise in Form von Bestseller- und Hitlisten), das Expertenmeinungsregime (gekennzeichnet beispielsweise durch Preisverleihungen, Kritiker – extern – und das heutige Qualitätsmanagement beispielsweise von Krankenhäusern, Universitäten – intern) und das Authentizitätsregime. Die ersten drei unpersönlichen Regime wiederum sind für das untersuchte Heil- und Heilungsfeld als 21 Kraemer, Klaus: »Lucien Karpik: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen«, in: Ders./Florian Brugger (Hg.), Schlüsselwerke der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 507–514, hier S. 508. 22 Unter Instanzen der Urteilsbildung fasst Karpik Kennzeichnungen, Bestenlisten/Rankings, Ratgeber, Reiseführer, Auszeichnungen, Expertenbewertungen, meinungsbildende Kritiker und persönliche Ratgeber. L. Karpik: Mehr Wert, S. 61f. 23 Ebd. S. 88. 24 Ebd.
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ordnende Marktkapazitäten auszuschließen, weil sie erst innerhalb größerer Industrien koordinierend zum Tragen kommen. Übertragbar für die Ordnung des untersuchten Feldes sind hingegen Karpiks persönliche Regime, die sich allesamt netzwerkbasiert und netzwerkförmig ausgestalten. Es handelt sich hierbei um das Beziehungsregime, in dem speziell personalisierte Dienstleistungen angeboten und nachgefragt werden, sowie ein Professionsregime, welches dem Beziehungsregime ähnelt, aber um professionelle Kontrollinstanzen ergänzt wird, die personalisierte Dienstleistungen regulieren können, wie es etwa auf Ärzte oder Anwälte zutrifft. Abgeschlossen werden die persönlichen Regime durch ein Unternehmensbeziehungsregime, das netzwerkförmige Kooperationen der Anbieter untereinander beschreibt. Innerhalb der Koordinationsregimemodelle wirken die Instanzen der Urteils- und Vertrauensbildung. Können wir diese Instanzen nun in ihrem jeweiligen Modell identifizieren, benennen und genauer beschreiben, gelingt es, die Wirkmechanismen zu benennen, mit denen die marktimmanenten Unsicherheiten reduziert werden und wodurch sich dieser Markt auch erst als ein Markt des Besonderen konstituieren kann. Übertragen wir die Theorieansätze Karpiks nun in das Projektfeld »Heil und Heilung«. Dafür müssen zunächst ein paar Feststellungen getroffen werden. Der Blick in das sogenannte alternative Heilungsfeld Mecklenburg-Vorpommerns zeigt, dass dieser Bereich kommerzialisiert ist. Das heißt: Innerhalb des Heilungsfeldes werden die vorgefundenen Angebote als zu vergütende Dienstleistungen generiert.25 Dies lässt wiederum den Schluss zu, dass diese angebotenen Dienstleistungen in einen bestimmten Markt eingebettet sind. Dieser Markt entspricht – aufgrund seiner Komplexität, Ungewissheit und Ungleichartigkeit der Angebote – einem Karpik’schen »Markt des Besonderen«, auf dem deren Qualitätsmerkmale durch die Klienten nicht intersubjektiv abgeschätzt werden können. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die Ausgestaltung und Wirkungsweise dieses Feldes nachzuzeichnen und zu untersuchen, wie das Vertrauen der Klienten in die Angebote durch die Marktteilnehmer generiert wird. In unserem Projekt wurde deshalb nach übergeordneten Mechanismen gefragt, die diesen besonderen Markt erkennbar strukturieren. Dafür wechselten wir von der ungewissen Kundenperspektive in die Perspektive der gewerblichen Anbieter. Die biographisch-narrativ geführten Interviews mit diesen wurden im Zuge der Interviewauswertung daraufhin untersucht, wie die Anbieter in diesem scheinbar unregulierten Markt sich positionie25 Das über die Formen der Bezahlung Offenheit besteht, zeigt auch das Fallbeispiel, wo beispielsweise über ein Bezahlmodell in Form einer Flatrate nachgedacht wird. Allerdings inhäriert dieses Flatratemodell eine religiöse Dimension, da es als alttestamentarischer »Zehnter« codiert wird. Vgl. M. Tulaszewski: Alternative Heilungsangebote, im vorliegenden Band.
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ren und behaupten, um daraus Schlussfolgerungen für die Beantwortung der Frage ziehen zu können, welchen Mechanismen dieser »Markt des Besonderen« folgt.
4. ALTERNATIVMEDIZIN ALS BERUFSEINSTIEG Innerhalb der biographisch-narrativen Interviews stellen die persönlichen Schilderungen des jeweiligen beruflichen Werdegangs ein wesentliches Moment dar. Deshalb wollen wir zunächst den Motivationen nachgehen, die letztendlich zu dem jeweiligen Entschluss führen, als Akteur im alternativmedizinischen Bereich aufzutreten. Karpik beschreibt hingegen nur das auf dem Markt vorzufindende Produkt und zugehörige Regularien. So spricht er auch in Zusammenhang mit personalisierten Dienstleistungen von einem Berufsethos.26 Jedoch vertieft er nicht weiter, aus welchen intrinsischen Motiven der Markteintritt eines Anbieters erfolgt und welche Stimuli und Umstände dafür zugrunde gelegt werden können. Für den Einstieg in einen alternativen Heilberuf stellen diese Motive jedoch ein wesentliches Faktum dar und lassen Rückschlüsse auf die spätere Ausformung des jeweiligen Heilungsangebot-Portfolios zu. Denn mit Blick auf die in den Interviews geäußerten Begründungen fällt auf, dass zwischen einem am eigenen Leib erfahrenen Heilungsprozess (oder auch einer einschneidenden biographischen Erschütterung) und der daraus resultierenden Berufsentscheidung – sowie der damit verbundenen Berufskonzeption – eine hohe Kohärenz besteht. Diese Kohärenz wird in den Selbstdeutungen der Interviewpartner als »Bestimmung« oder »Berufung« bezeichnet und auch so verstanden.27 Das sollen die folgenden Interviewausschnitte verdeutlichen: »Und das [die Arbeit als Buchhalterin] hat mich aber dann über die Jahre kaputt gemacht und ich stand kurz vorm Herzinfarkt. Irgendwann hab’ ich gedacht, irgendwann finden die dich hier und du bist tot. Und das wollte ich nicht. Und hab’ mich dann aus dem Unternehmen verabschiedet. Bin auf die Heilpraktikerschule. Und irgendwann durch Werbung, kam 26 »Das Berufsethos stellt in Tätigkeitsbereichen, in denen keine unmittelbaren technischen Kontrollhierarchien oder Disziplinargewalten vorhanden sind, eine verinnerlichte normative Instanz, eine in der Identität verankerte, an den Ansprüchen »guter« Qualität orientierte Verpflichtung dar. Es ist eine geschichtliche, moralisch-soziale, individuelle und kollektive Konstruktion, die für die berufsständische Organisation konstitutiv ist. Es ist nicht das alleinige Privileg der Professionen, hat aber für sie die größte Bedeutung, weil die Qualität der Tätigkeit bisher allein vom Praktiker abhängig war.« L. Karpik: Mehr Wert, S. 240. 27 Vgl. dazu auch P. Stähler: Was ist Heilung, im vorliegenden Band.
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mal Hypnose ins Haus geflattert. Und da habe ich gedacht: ›Kannste mal machen. Guck’ste dir mal an.‹ Und heute ist Hypnose mein Ding. Da brennt mein Herz für. Also das ist schon fast ’ne Berufung, ja. Ja. Ich mach’ das mit Leib und Seele.« (Hypnosetherapeutin)
Es sind nicht ausschließlich nur gesundheitliche Krisenzustände, die einen Wechsel aus einem klassischen Berufsfeld in die ›alternative Medizin‹ bedingen. Es ist mitunter auch die Suche nach einem neuen Betätigungsrahmen. Ostdeutsche Erwerbsbiographien, die mit der Wiedervereinigung Deutschlands abrupt endeten, mündeten in neue berufliche Vorstellungen und über Umwege und einschlägige Ausbildungen schließlich im Einstieg als Anbieter für ›alternative Medizin‹. »Und zwar, muss ich dazu sagen, von der Denkweise her war ich ein richtiger, echter Materialist. Logischerweise. DDR-Bürger – insofern nicht religiös aufgewachsen, muss ich dazu sagen. Ja!? Bin konfrontiert worden mit Edelsteinen von meiner Tochter und hatte ein Buch gelesen. Dann noch ein Buch und noch ein Buch. Und hatte dann die Kraft der Edelsteine, im Prinzip, wie sagt man, kennengelernt und auch angewendet. So. […] Und sie [seine Frau] wollte dann Reiki machen und dann hab’ ich gesagt: ›Moment. Jetzt guck’ ich mir erstmal an, was das ist.‹ Ein Satz hatte mich gereizt, der da lautete: ›Das könne jeder!‹ Und da hab’ ich gesagt: ›Pff. Ich als Materialist kann das nicht! Das kann ich mir nicht vorstellen.‹ Ne!? So. Also hab ich’s getan. Habe Reiki I gemacht. […] Und als ich dann Reiki II machte, also den zweiten Grad, ja, stellte ich fest, dass ich etwas mache, was ich nicht mehr erklären kann. Da wuchs dann meine Neugier, um zu sagen, wie weit geht es denn noch? […] So. Und auf diesem Wege habe ich mich immer weiter – wurde dann Reiki-Meister, ja!?« (Reikimeister)
Es bieten sich somit zwei Deutungsmuster desselben Typus einer Selbstbesinnung an. Zum Einstieg in die alternative Medizin kommt es durch Kontingenzerfahrungen, die zum einen durch persönliche gesundheitliche Schwierigkeiten ausgelöst werden – oder zum anderen auch einer generellen Neuorientierung geschuldet sind, die mit dem Zusammenbruch und Ende des herkömmlichen Gesellschaftssystems einhergeht und eine grundsätzliche Neuausrichtung erforderlich macht, um unter den neuen Bedingungen wirtschaftlich zu existieren. Im Unterschied zum oben beschriebenen Muster des Berufseinstiegs in den Bereich der alternativen Heilung sind in Mecklenburg-Vorpommern aber auch Akteure anzutreffen, die aufgrund der historischen Sondersituation in den 1990er Jahren aus den alten Bundesländern zugewandert waren und sich in der Region niedergelassen hatten.28 Im Unterschied zu den vorherigen Berufseinsteigern sind 28 Was die Intrinsik dieser westdeutschen Akteure vor den 1990er Jahren betrifft, ist für das Projekt von geringerer Relevanz und wurde deshalb nicht explizit erfragt. Lei-
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die Motivationstopoi bei diesen Akteuren, die einem gewachsenen alternativen Milieu der alten Bundesländer entstammen, anders gelagert. Sie waren bereits vor ihrer Ankunft in Mecklenburg-Vorpommern mit zahlreichen alternativmedizinischen Methoden und Praktiken vertraut. Diese von außen kommenden Akteure sahen die Wende als Möglichkeit, um auch in der ehemaligen DDR potenziellen InteressentInnen sinnstiftende Angebote anzudienen. Getragen wurden diese Akteure von einem avantgardistischen Selbstverständnis, nun auch in den neuen Bundesländern alternative Heilangebote bekannt zu machen und, bei allen anfänglichen Schwierigkeiten und Missverständnissen, diesen Markt neu zu erschließen. Dies verdeutlicht das Beispiel eines Geistheilers, der Anfang der 1990er Jahre in die neuen Bundesländer kam: »Also was mich interessiert, ist Menschen zu zeigen, wieder lebendig zu werden. Darum ging’s. Und – diese ganzheitlich orientierten Systeme, Denksysteme – dazu gehören auch die Biohöfe – in den Osten zu bringen, die fand’ ich unglaublich spannend. Und ich wollt’ auch diese Verantwortung übernehmen. Weil ich wusste, nach den Immobilienmaklern und Versicherungsvertretern, die jetzt das Land verwüstet haben, jetzt sind wir hier! So. Und was ist meine Aufgabe? Ja, es ist nicht geschäftemachen, sondern meine Aufgabe war jetzt, eine fundierte und gewachsene Sichtweise auf ganzheitliche Systeme und ihre Möglichkeiten und auch Grenzen da aufzuzeigen. […] [Es] war die erste ganzheitlich orientierte Zeitschrift in den neuen Bundesländern und Berlin.« (Geistheiler)
Diese Angebote trafen tatsächlich auf ein Vakuum, das durch neue sinnstiftende Angebote gefüllt werden konnte – oder aus dem heraus entsprechende Sinngebungen erwachsen konnten. Manche ›Alternative Heilungsangebote‹ entwickelten sich also auch erst schrittweise vor Ort und passten sich den Bedürfnissen ihrer Klienten an. So konnte beispielsweise aus einer Gründer- und Unternehmensberatung auch ein weiterreichendes sinnstiftendes Modell entwickelt werden. Dem folgenden Anbieter waren unterschiedliche Praktiken auch aus den alten Bundesländern bekannt. Jedoch entstanden erst in Mecklenburg-Vorpommern Seminarkonzeptionen und Heilungsangebote, die sich an den Bedürfnissen der Klienten orientierten und nicht auf die bloße Weitergabe und Anwendung bestimmter erlernter alternativer Heilpraktiken beschränkt waren. Es ging primär zunächst darum:
tend war die Frage nach der Marktkonstitution und deren Ausformung seit Beginn der 1990er Jahre. Die hier vorgestellten Akteure schilderten eine Form von Berufung und Feststellung einer Gabe, die sich schon in der Kinder- und Jugendzeit bemerkbar machte.
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»[…] nach der Wende Studenten, Doktoren oder auch andere Mitarbeiter zu schulen, um aus den Universitäten die Selbständigkeit zu befördern. Die in die Selbständigkeit zu bringen. Und da hatte ich die Soft-Skills – soziale Kompetenzen, eher in den Bereichen wie Führungstraining, Teamtraining, Coaching und Beratung. […] Die Entscheidung, dass das dann hier entstanden ist, war eben erstmal sehr nah gebunden an den Forschungsverbund. […] Die ganzen Studenten haben auch unsere alternativen Seminare besucht. Also es war nicht möglich im Forschungsprojekt unsere Themen wirklich anzubieten. Weil es ist limitiert gewesen auf Existenzgründersachen. Gemerkt haben wir allerdings, dass der Bedarf hoch ist nach anderen Fragen. Also die Studenten oder die Doktoren haben – neben ›Wie halt’ ich ’nen guten Vortrag?‹ – wollten die ganz andere Sachen wissen: ›Wie kann ich meine Kindheit aufarbeiten? Wie krieg’ ich meine Ehe auf die Reihe? Wie finde ich zu Gott?‹ Und solche Fragen, die kamen ständig auf. Ich durfte die aber immer nicht beantworten. Also in der Kaffeepause, so. Und dann haben wir gesagt, der Bedarf ist riesig. Also der Bedarf war groß. Aber eher vom Kundensog her. Sonst wären wir auch nicht auf die Idee gekommen, uns damit dann natürlich selbständig zu machen. Ja, auch viele Sinnfragen. Es waren zu der Zeit nach der Wende hier auch viele Leute, die Fragen gestellt haben danach: ›Was macht jetzt für mich noch Sinn?‹ Und: ›Wo geht mein Weg hin?‹ Auch mit den ganzen Existenzängsten, die dann damals auch aufplatzten und so. Also da gab es bei den Menschen persönlich so eine Suche. So eine Suche nach Antworten, wie man sein Leben jetzt gestalten kann. Damals war der Kundenbedarf da und wir haben darauf reagiert und hatten zufällig ’ne passende Vision.« (Geistheiler und Visionslehrer)
Diese beiden heilerischen Berufsbiographien unterscheiden sich fundamental von den vorherigen – insbesondere dadurch, dass sie nicht aus Krisensituationen heraus, sondern im Kontext einer Art Aufbruchsstimmung entstanden sind und von fast schon missionarischem Sendungsbewusstsein getragen sind. Die zugezogenen Heiler entstammten einem gewachsenen esoterischen Milieu der alten Bundesländer, erkannten aber das Potential und die Bedürfnisse einer sich im Umbruch befindlichen Gesellschaft.
5. DIE MECHANISMEN DES MARKTES Doch der Einstieg – oder besser gesagt: die Entscheidung, als Akteur auf dem Markt der Alternativmedizin mit einem entsprechenden Portfolio von Angeboten aufzutreten, sagt noch nichts darüber aus, welche Marktmechanismen dieses Feld strukturieren. Zunächst einmal geht es für Karpik darum, per Negativdefinition die speziellen Wirkungsweisen innerhalb des singulären Marktes zu identifizieren. Karpik spricht mit Blick auf die Besonderheit dieser Märkte von einer charakteristischen, diesen Märkten inhärenten Qualitätsunsicherheit. Aufgrund dieser
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inhärenten Qualitätsunsicherheit ist es mitunter schwierig, ein klassifizierendes System von Ursache und Wirkung festzustellen; Behandlungsergebnisse beispielsweise im Bereich der alternativen Heilungsmethoden sind oft erst nach einer längeren Zeitspanne und abhängig von Behandlungsintensität und -intervallen erkennbar, stehen aber auch im Zusammenhang mit der persönlichen Erwartung des Klienten während des Heilungsprozesses und deren konkreten Auswirkungen auf Wohlbefinden, Linderung oder völlige Gesundung. Für Karpik führen diese Faktoren u.a. zu den folgenden Konsequenzen29: 1. Der »Markt des Besonderen« wandelt den Austausch von Produkten zu einem Austausch von Prozessen. 2. Der »Markt des Besonderen« lässt sich nicht einfach durch umfassendere Informationen oder Kalkulation ausschalten. Anhand des Beispiels eines Reikimeisters kann man die Marktannahmen Lucien Karpiks im Feld der alternativen Heilung veranschaulichen: »Zum Beispiel – ich sage ganz einfach – meinen Parkinsonkranken [einem Klienten mit der schulmedizinischen Diagnose Parkinson] habe ich zuerst mit einer Seelenreinigung bearbeitet und dann mit ›Shamballa Universe‹30. Dieses Hochschwingende, wo ich nur seelische Aspekte behandelt habe. Ja!? Gut. Das waren 24 Behandlungen die er dort gemacht hat. Aber in der Endkonsequenz hat das zwei Monate gedauert – ja!? Und ich sage, dass ist ein Ausdruck, wenn ich eine Sektschale halten kann als Parkinsonkranker. Ja!? So. […] Es geht nicht darum zu heilen oder nicht zu heilen. Wie gesagt. So relativ geheilt, dass der Mann sehr zufrieden ist. Und wenn er zu seinem 76. Geburtstag mit seinen Gästen mit einer Sektschale anstößt. Ja, dann kann man sagen: Okay. Er hat schon ein bisschen was geheilt bekommen. Ne!?« (Reikimeister)
Für Karpik ist deshalb die zentrale Frage, wie der oder die »Märkte des Besonderen« sich konstruktiv konsolidieren. Denn die Problematik besteht seiner Meinung nach darin, dass die inhärente Qualitätsunsicherheit missbräuchlich zu Intransparenz und Opportunismus führen kann, sollte es keine Form der Kontrolle 29 L. Karpik: Mehr Wert, S. 22f. 30 Shamballah ist eine Weiterentwicklung innerhalb des Reiki. Es soll eine Synthese verschiedener Energiesysteme und deshalb auch in seiner professionellen Anwendung wesentlich wirksamer sein. Um in Shamballah ausgebildet zu werden, benötigt man allerdings einen Reikimeistergrad. Shamballah ist meines Wissens noch nicht weiter wissenschaftlich erforscht oder beschrieben worden. Diese Auskünfte beruhen deshalb auf den Aussagen meines Interviewpartners.
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oder Koordinierung geben. Damit dieser Markt überhaupt langfristig als Markt existieren kann, benötigt er Vertrauen: »Der konventionelle Markt beruht nur in einem Ausnahmefall auf Vertrauen: im Falle von Ungewissheit. Der Markt des Besonderen kommt ohne Vertrauen nicht aus. Wir müssen deshalb dieses Untersuchungsobjekt konstruieren, über dessen Wesen oder über dessen Formen und Ursachen keine intersubjektive Übereinkunft besteht, während sich alle über ihre Wirkungen einig sind: Angesichts von Ungewissheit sorgt Vertrauen für Vorhersehbarkeit und damit für die Möglichkeit eines kontinuierlichen Austauschs.«31
6. DIE MÖGLICHE KOORDINIERUNGSINSTANZ Doch wie bildet sich dieses Vertrauen in die angebotenen Produkte und Dienstleistungen? Welche möglichen übergeordneten Strukturen sind in der Lage, dieses Vertrauen herzustellen und zu gewährleisten? Karpik spricht diesbezüglich von sogenannten Koordinierungsinstanzen, die diese inhärente Qualitätsunsicherheit abmildern können sowie stabilisierende und ordnende Funktionen übernehmen. Es bedarf also solcher Koordinierungsinstanzen, die zwischen den Anbietern des »singulären Produkts« und den Konsumenten bzw. Klienten zur Entscheidungshilfe eingeschaltet sind. Doch wer stellt im Feld der »alternativen Heilung« solch eine mögliche und notwendige Koordinierungsinstanz dar? Unser Forschungsprojekt hatte es sich deshalb zu einer seiner ersten Aufgaben gemacht, das Feld mit Blick auf sogenannte Koordinierungsinstanzen zu überprüfen und mittels Netzwerkerhebungen diese von Karpik als so essentiell betrachteten Akteure innerhalb des Heilungsmarktes sichtbar zu machen. In Mecklenburg-Vorpommerns war aber kein übergeordneter Akteur zu identifizieren, der die Rolle einer Koordinierungsinstanz hätte ausfüllen können. Auf dem Markt der Heilungsangebote waren lediglich zwei überregional32 agierende Netzwerke in Form von Infoheftauslagen auszumachen. Es handelte sich um Plattformen in Gestalt gedruckter Informationsblätter, in denen interessierte Anbieter Werbetexte publizieren konnten. Beide Blätter hatten den Anspruch das gesamte Spektrum 31 L. Karpik: Mehr Wert, S. 75. 32 Innerhalb des Projektes wurden zwar Netzwerke auf lokaler Ebene sichtbar und auch erhoben. Allerdings grenzen sich diese Mikronetzwerke regional ab und beschränken sich in ihrer Verortung z.T. auf historisch gewachsene Entitäten und agieren nicht über diese Grenzen hinaus. Zu nennen wäre das aktive Netzwerk »Kräuter, Kunst und Himmelsaugen« im Lassaner Winkel. Dessen Akteure finden sich ausschließlich in der halbinselförmigen Gegend der vorpommerschen Kleinstadt Lassan.
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Mecklenburg-Vorpommerns abzubilden. De facto war aber hinsichtlich des Verteilungsgebiets eine deutliche geographische Trennlinie erkennbar: Es gliederte sich zum einen in Vorpommern und die Region in Richtung Nordbrandenburg, zum anderen in die touristisch attraktivere Küstenregion, die je von einem der beiden Infoblätter abgedeckt wurden. Bei den Annoncierungen der Anbebote gab es auch nur Überschneidungen bei einem einzigen Akteur, der in beiden Infoblättern inserierte. Die jeweiligen Initiatoren der Infoblätter stammten im Übrigen auch nicht ursprünglich aus Mecklenburg-Vorpommern. Diese Infoblätter bieten für den jeweiligen Anbieter eine Plattform, seine Dienstleistungen näher zu erläutern. Jedoch fallen sie als Koordinierungsinstanz für das Heilungsfeld in Mecklenburg-Vorpommern aus, da innerhalb der Redaktionen keinerlei qualitätssichernde Maßnahmen wie Reviews oder Rückfragen zur jeweiligen Seriosität der Angebote bestehen. »Interviewer: Haben Sie auch Standards? Also, wer kann bei Ihnen mit ins Heft? Gibt es da irgendwelche Qualitätsmerkmale? M: Also, wir haben jetzt hier die Themen Gesundheit, Bewusstsein, Nachhaltigkeit, wenn das in diese Richtung geht. Wir haben jetzt nicht irgendwelche Siegel, wo wir sagen: ›Also wir achten jetzt darauf, dass der und der das und das hat.‹ Das haben wir nicht. Es ist wirklich dieser eigene persönliche Entwicklungsweg, der einen dann in diese Richtung führt. Und das ist sehr unterschiedlich. […] Aber so ein Siegel oder, dass wir jetzt sagen: ›Das und das muss sein.‹ Haben wir –, das ist nicht da. […] Ich denke, das wäre auch schwer bei der Bandbreite.« (Herausgeberin)
Diese Haltung ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die kostenlos ausliegenden Hefte alles andere als wirtschaftliche Selbstläufer sind, die sich finanziell amortisieren. Denn trotz moderater Preise für die Inserate ist es im Anzeigengeschäft mitunter schwierig, Kunden zu gewinnen und zu halten. Fragen nach der Seriosität der jeweiligen Angebote stehen deshalb nicht unbedingt an erster Stelle. Der zugrundeliegende Gedanke, sich mittels dieser Plattformen auch auf Akteursebene untereinander zu vernetzen, ist innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns auch nicht sonderlich ausgeprägt, wie ein Interviewausschnitt belegt: »Und immer wenn wir sagen: ›Wow, lasst uns zusammenkommen! Wir würden uns gerne austauschen.‹ ›Ja. Das ist ’ne ganz, ganz tolle Idee!‹ Sag ich: ›Also ich schlag vor 23. September und 24.‹ ›Ach nee,‹ Und so. Ich krieg… Wir kriegen das nicht hin. Und für mich ist das echt… Ich find das ganz schlimm, dass sich das nicht vernetzt.« (Geistheiler und Visionslehrer)
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Das Erscheinen eines der beiden Infoblätter wurde schließlich 2016 nach drei Jahren wieder eingestellt. Der erste Eindruck von der Beschaffenheit des alternativen Heilungsfeldes hat sich durch die Interviews mit etablierten Akteuren bestätigt, die überdurchschnittlich häufig angaben, keinem Netzwerk anzugehören und auch keines zu benötigen. Hierin spiegelt sich jedoch keine vordergründige konfrontative Haltung innerhalb des Marktgeschehens gegenüber potentiellen Mitwettbewerbern wider. Vielmehr gibt es eine Form der ökonomischen Koexistenz, die dadurch gekennzeichnet ist, dass jeder Akteur im Feld ein anderes Portfolio an Heilmethoden und Heilpraktiken anbietet, die er beliebig miteinander kombinieren kann. Diese ausgeprägte Fähigkeit findet sich speziell bei etablierten Anbietern, die in der Lage sind, ihr Behandlungsspektrum interessant und methodisch breit aufzustellen und es sich leisten können, auf weitergehende Vernetzungen zu verzichten.
7. D IE FEHLENDE KOORDINIERUNGSINSTANZ – KOMPENSATIONSPRAKTIKEN Da innerhalb des Feldes keine Koordinierungsinstanz in Form eines übergeordneten Akteurs oder einer Institution identifiziert werden konnte, muss sich dieser Markt mittels anderer Faktoren regulieren. Wenn man die Koordinierungsinstanz innerhalb der »Märkte des Besonderen« als ein Ordnungsinstrument erster Ordnung bezeichnen möchte, treten jedoch bei genauerer Analyse dieses Marktes andere regulierende Faktoren hervor, die nicht einem zentralen Ordnungsregime zuzurechnen sind, sondern aus sich selbst heraus entstehen. Diese Faktoren könnte man als Instrumente zweiter Ordnung bezeichnen. Im Falle des »Marktes für alternative Heilmethoden und ‑praktiken« in Mecklenburg-Vorpommern konnten zwei wesentliche Aspekte bestimmt werden, die an Stelle einer Koordinierungsinstanz marktordnende Funktionen übernehmen. Es handelt sich dabei im Zusammenspiel zum einen um ein Authentizitätsregime und zum anderen um ein stetiges Weiterund Fortbildungsregime.
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8. DAS AUTHENTIZITÄTSREGIME 8.1 Vertrauen durch Authentizität Innerhalb des Projekt-Workshops33 hat Dorothea Lüddeckens in ihrem Beitrag sehr anschaulich und pointiert die Divergenz zwischen konventioneller und alternativer Medizin herausgearbeitet: Dem kettenrauchenden Herzchirurgen wird sich ein Patient problemlos anvertrauen, solange der Arzt im Ruf steht, in Dia gnostik und operativem Geschick sein Handwerk einwandfrei zu beherrschen. Der kettenrauchende Heilpraktiker wird, auch wenn ihm seine Qualifikationen Kompetenz und Zuverlässlichkeit bescheinigen, von einem Klienten hingegen als unseriös wahrgenommen, da er in einem schwer aufzulösenden Spannungsverhältnis zwischen ganzheitlichem Anspruch und Profession steht. Hier kommt wiederum der bereits erwähnte Berufungsgedanke zum Tragen. Der Imperativ einer inneren Berufung und Befähigung verlangt also eine persönliche Integrität, die über ein herkömmliches Berufsethos hinausreicht. Wie der Schulmediziner sein Privatleben ausgestaltet, wird bei der Wahl des Arztes lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Der Anbieter »alternativer Medizin« dagegen wird daran gemessen, ob er auch als Privatperson den Axiomen seiner Angebote entspricht. Charles Taylor formuliert es folgendermaßen: »Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst.«34 Die Trennung zwischen Beruf und Privatheit wird aufgehoben und verschwimmt, was nach wirtschaftswissenschaftlicher Terminologie einer ›personalisierten Dienstleistungsbeziehung‹ entspricht. Das Personalisierungsmodell »bezeichnet die Tätigkeitsform der ›Professionen‹, jener organisierten Berufsgruppen, in denen sich Fachwissen mit einer Berufsethik verbindet, die das Interesse des Kunden über das des Praktikers und die erbrachte Dienstleistung über das Gewinnstreben stellt.«35 Der Marktauftritt 33 Interdisziplinärer Workshop des DFG-Projektes »Märkte des Besonderen«: Was heilt – Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde, 13./14.Oktober 2017 an der Universität Rostock. 34 Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 39. 35 L. Karpik: Mehr Wert, S. 31. Karpik spezifiziert seine Annahmen des Authentizitätsregimes noch: »Die singulären Produkte des Authentizitätsregimes verbinden sich ganz allgemein mit dem Originalitätsmodell und, in den meisten Fällen, besonders mit dem künstlerischen Modell.« (Ebd., S. 163) Authentizität bezieht Karpik hierbei jedoch nur auf Namen, die fast schon gleichbedeutend sind mit bestimmten Dienstleistungen und
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als Anbieter ›alternativer Heilmethoden‹ steht also in enger Verknüpfung mit einem adaptierten Lebensstil, der in der Rezipientenperspektive dem Marktakteur Authentizität verleiht und somit für die potentiellen Klienten einen evaluativen Anhaltspunkt bietet. Die Authentizität des Anbieters generiert das Vertrauen in seine angebotene Dienstleistung. 8.2 Vertrauen durch Empfehlungen Dies geht einher mit einer ausgeprägten Empfehlungspraxis. Denn alle Bemühungen des Anbieters, Interesse an der Authentizität seiner selbst und somit auch seiner Angebote zu wecken, setzen zunächst voraus, dass der potentielle Klient überhaupt erst auf die Angebote aufmerksam wird. Herkömmliche Werbung spielt innerhalb des Feldes eine untergeordnete Rolle und ist, laut Angaben der Interviewpartner, weitestgehend wirkungslos und deshalb zu vernachlässigen. Der Anbieter ist darauf angewiesen, von einem vertrauenswürdigen Umfeld des potentiellen Klienten eine Empfehlung ausgesprochen zu bekommen. Innerhalb der Netzwerkerhebungen äußerten sich ausnahmslos alle Anbieter dahingehend, dass die Klienten in der Regel durch sogenannte »Mund-zu-Mund-Propaganda« auf sie aufmerksam würden.36 So etwas wie institutionelle Referenzsysteme gibt es nicht, weshalb die überwiegende Anzahl der Akteure eben auch vermerkte, keinerlei Netzwerkaktivitäten zu unterhalten. Mit Blick auf die Kundenakquise existiert allenfalls ein informeller Rekurs der Klienten selbst auf ein Netzwerk persönlicher Beziehungen (Freunde, Kollegen, Verwandte) sowie deren Auskünfte und Empfehlungen.37 Karpik beschreibt diese Form der Kundenakquise nur ganz knapp am Beispiel des Marktes der Psychoanalyse38 und kommt zu dem Ergebnis, dass im Rahmen solcher und ähnlich verfasster Märkte die Nutzung sozialer Beziehungen Produkten und so zu einem Label werden, die vom eigentlichen Innovator und Erfinder abgekoppelt sind. 36 Und ebenfalls gilt die eigene Homepage als wesentliches Marketingtool. Das Ganze folgt einem erkennbaren Muster in vier Schritten: Der potentielle Klient bekommt eine eindeutige Empfehlung (1), welche zu einer unabhängigen Recherche führt, in dem der potentielle Klient die Homepage besucht oder Flyer des Anbieters ansieht (2). Wird das Interesse gesteigert, nimmt der potentielle Klient Kontakt zum Anbieter auf und es findet ein Kennenlernen statt (3). Überzeugt ihn auch das, wird die in Aussicht gestellte Dienstleistung in Anspruch genommen (4). 37 Gewissermaßen eine »Reduktion von Komplexität«. Vgl. Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Konstanz/München: UVK 2014, S. 27f. 38 L. Karpik: Mehr Wert, S. 27f.
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nicht die Ausnahme, sondern die Regel sei. Die ausgesprochenen Empfehlungen überprüft der potentielle Klient aber dann selbständig anhand der Authentizität des Anbieters. Diese Wahrnehmung bestätigt auch Mirko Uhlig in seiner ethnologischen Studie zu schamanischen Sinnentwürfen, in welcher er Klienten beschreibt, die ihre Skepsis gegenüber dem Heilungsangebot zunächst durch die persönliche Empfehlung einer engen Bezugsperson zurückstellten, diese dann durch die vertrauensbildende »Wahrhaftigkeit« des Heilers überwanden und schließlich in eine Heilbehandlung einwilligten.39
9. DAS WEITER- UND FORTBILDUNGSREGIME »Und ansonsten merk’ ich so, ich bin einfach bereit Geld auszugeben für eigene Weiterbildung und lieber habe ich mal ein Kleid weniger im Schrank oder nicht den neusten Sessel im Zimmer, oder so. Also das ist für mich wichtig.« (Schamanin)
Während das Fehlen eines übergeordneten Referenznetzwerkes durch ein Authentizitätsregime der Anbieter kompensiert wird, tritt ein weiterer charakteristischer Aspekt innerhalb dieser Marktmechanismen hinzu. Neben einer oder mehreren Koordinierungsinstanzen fehlt ebenso ein marktstrukturierendes Regulierungsinstrument in Form eines übergeordneten Expertenwesens. Denn im Bereich der sogenannten Alternativmedizin handelt es sich, Heilpraktikerausbildungen ausgenommen, um einen weitestgehend nicht-regulierten Markt. Ein stetiges Weiterund Fortbildungsregime spiegelt deshalb zum einen die symptomatische Fluidität des alternativen Heilungsfeldes wider, zum anderen entwickelt sich daraus die Möglichkeit, der Intransparenz des Marktes durch Zertifizierungen entgegenzuwirken. Das Bestreben nach permanenter Weiterbildung innerhalb des Feldes ist dabei unter drei Gesichtspunkten zu betrachten. (1) Zum einen dienen die Weiter- und Fortbildungen natürlich dazu, berufliches Können zu attestieren. Zertifikate und Teilnahmebescheinigungen an Seminaren beglaubigen die erworbenen Qualifikationen. (2) Zudem ist die Weiter- und Fortbildung dabei von Nutzen, ein eigenes Anbieterportfolio zusammenzustellen, welches in Kombination der unterschiedlich erworbenen Kenntnisse und Techniken ein eigenes Anbieterprofil schafft. Häufig werden in diesem Zusammenhang niederschwellige Angebote wie beispielsweise Massagen oder Yogakurse mit anderen, spezifischeren Anwendungen und Techniken verknüpft. Die sich daraus ergebenen Konstellationen sind innerhalb des Feldes vielfältig.
39 M. Uhlig: Schamanische Sinnentwürfe, S. 506f.
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»So, und dann habe ich parallel zu meiner damaligen Tätigkeit angefangen Ausbildungen zu machen – alles was ich kriegen konnte! Atemarbeit, Bioenergetik, Massagetechniken, Tanz, psychotherapeutische Methoden, Beziehungsmuster anschauen, archetypische Verhaltensmuster, pränatale Zustande von Menschen, also was ist vor der Geburt, und so weiter. Mit sehr viel Interesse, aber auch einem Schuss Humor und immer, was ich nie verloren hab’, ist eine Skepsis auch gegen diese Sachen. […] Ich hab’ alles mitgemacht, was ich mi – , mehr machen konnte, und an mir selbst erfahren konnte, und das, was ich für mich selber rausgefunden habe, was hilfreich ist, das hab’ ich übernommen in meine Arbeit.« (Geistheiler)
Es bleibt ebenso festzuhalten, dass keiner der interviewten Akteure in der Lage wäre, mit monothematischen Angeboten seinen Lebensunterhalt im Heilungsbereich zu bestreiten. Vielmehr lässt sich unter Einbezug aller erworbenen Fähigkeiten ein profiliertes Portfolio erstellen, das in der Summe einem Alleinstellungsmerkmal entspricht, mit dem sich der Anbieter schließlich auf dem Markt bewähren muss. Das soll keinesfalls bedeuten, dass mit einer Festigung der Marktposition dieser Prozess abgeschlossen wäre.40 Der jeweilige Anbieter kann und muss vielmehr das ihm eigene Profil nun zielgerichteter ausbauen, anreichern und weiterentwickeln, und tritt schließlich womöglich auch selbst als Dozent oder Coach einer modifizierten Heilmethode in Erscheinung. Daraus ergibt sich der dritte Gesichtspunkt des Weiter- und Fortbildungsregimes – die Emergenz selbstreferentieller Tradierungsketten. Um die Leerstelle der fehlenden Koordinierungsinstanz zu füllen sowie Authentizität und Autorität der Angebote zu unterstreichen, ist es unerlässlich, sich in einen historischen Deutungsrahmen einzustellen. Verortet werden die angewandten Techniken in ihren Ursprüngen zumeist im historischen und geografischen Kontext Indiens und
40 Das Portfolio des jeweiligen Bricoleurs ist auch weiterhin deutungsoffen und variabel. Allerdings geschieht dies auf zwei Ebenen, die fließend ineinander übergehen und dann wiederum in die jeweilige Heilungspalette integriert werden. Modifizierungen können zum einen aufgrund von Klientenbedürfnissen oder anderen Marktanpassungen geschehen. Zum anderen spiegeln sich neugewonnene persönliche Überzeugungen und Erfahrungen des Anbieters selbst natürlich auch im Heilungsangebot wieder und unterstreichen die Authentizität des Anbieters. Vgl. F. Höllinger/T. Tripold: Ganzheitliches Leben, S. 176: »Seine eigene holistische Karriere als Weg zu begreifen, impliziert demnach eine lebenslange Aktivität. Damit ist auch die Fähigkeit einer aktiven interpretativen Arbeit gemeint, welche die holistischen Akteure aufbringen müssen […]. Der Begriff ›Bricolage‹ verweist hier gerade auf das aktivistische Moment, das jedem Sinnbasteln innewohnt, denn durch das freigesetzte kreative Handeln, werden von den Akteuren Strukturen verändert.«
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Ostasiens.41 Elementar ist hierbei die Referenz auf historische Quellen, die als autoritativ gelten, sowie auf ein daraus abgeleitetes Sukzessionsprinzip, was der Fundierung des Anspruchs auf Traditionsbezug Genüge tut. Im Feld lässt sich beobachten, dass dieser kulturell übergreifende Transfer von Traditionen nur einen groben Deutungsrahmen bieten kann, der in Kundenperspektive zwar mit positiven Attributionen aufgeladen und konnotiert ist (alt, ursprünglich, originär), den Anbietern aber letztlich noch nicht die notwendige Seriosität, Anerkennung und Legitimation verschafft.42 Der Überbau der zumeist fernöstlich gearteten Spiritualität, innerhalb der man sich bewegt und mit der man sich auch von der Schulmedizin abhebt, ist zwar für die Klienten als solcher deutlich identifizierbar. Allerdings wird zusätzlich die Berufung auf substanzielle Autoritäten notwendig, um nachhaltig eine Aura der Authentizität und Seriosität zu erzeugen. Fort- und Weiterbildungen sind gerade deshalb ein essentieller Bestandteil des Feldes, um fehlende Autorisierung zu kompensieren und gegenüber dem Kunden die Legitimation als Heiler glaubwürdig anzuzeigen. Der Aspekt der gegenseitigen Weiter- und Fortbildung ist deshalb für das Feld von großer Bedeutung, da sich ab einem gewissen Punkt diese Anhäufungen von Referenzen, die durchaus als Genealogien zu verstehen sind, verselbstständigen – er wird gewissermaßen zu einer Art Perpetuum mobile, indem man sich gegenseitig in den unterschiedlichen Techniken und Methoden fortbildet und nun beginnt, selbst neue Tradierungsketten auszubilden. Diese zirkuläre Rezeption und Adaption lässt selbstreferentielle Tradierungsketten an die Stelle von herkömmlichen Legitimationen aus teilweise geographisch fernen Regionen treten (wie etwa aus Fernost selbst oder deren unmittelbaren Tochterfilialen in Westeuropa und den USA). Solche Traditionsketten können nun wiederum das Feld konsolidieren und die Leerstelle der fehlenden Beurteilungsinstanzen ausfüllen. Auffallend dabei ist, dass an dieser Stelle ein Professionsnetzwerk wirksam wird. Die meisten befragten Akteure sind sich dessen in seiner Tragweite gar nicht 41 Dass diese aufgerufenen Traditionen in ihrer Stringenz einer genauen Überprüfung nicht standhalten können, spielt dabei eine unwesentliche Rolle. Ebenso die rezipierende Adaption in ein westliches Wertesystem. Vgl. dazu auch D. Lüddeckens: Imagined Origin, im vorliegenden Band. 42 Es findet sich auch ein Anbieter im Feld, der eine direkte Genealogie und Nachfolge/ Bevollmächtigung eines öffentlichkeitswirksamen indischen Meisters bekunden kann. Und dies stellt einen augenscheinlichen Wettbewerbsvorteil dar, da dieser Akteur ökonomisch sehr gefestigt erscheint. Jedoch muss man dazu sagen, dass dieses Heilungskonzept aufs engste mit der Persönlichkeit des sog. spirituellen Meisters selbst verbunden ist. (Es handelt sich dabei um Cedric Parkin, alias OM, der seit ca. zehn Jahren im Nordwesten Mecklenburgs in einem Gutshaus ein Heilzentrum betreibt.).
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bewusst und haben deshalb in den Interviews jegliche Formen von Netzwerkaktivitäten konsequent verneint und grundsätzlich ausschlossen.43 Das feldcharakteristische Weiter- und Fortbildungsregime bildet ein übergeordnetes Netzwerk, dessen Ausformung sich in der Praxis bewähren muss – und das, wenn es auf dem Markt funktioniert, sich durch die Weitergabe und zirkuläre Rekursivität seine eigene Legitimation schafft, die das Feld schließlich ordnet, wodurch eine Form von Koordinierungsinstanz entsteht.
10. ZUSAMMENFASSUNG Der alternativmedizinische Markt in Mecklenburg-Vorpommern, als ein »Markt des Besonderen« begann sich erst ab den 1990er Jahren auszubilden. Der Projektansatz, die überwiegend als Einzelunternehmen arbeitenden Anbieter netzwerktheoretisch abzubilden und daraus Schlussfolgerungen für konstituierende Marktmechanismen abzuleiten sowie mögliche Koordinierungsinstanzen – die für Lucien Karpik ein wesentliches und konstituierendes Element innerhalb eines »Marktes des Besonderen« darstellen – zu identifizieren, erwies sich als ein in der Praxis schwer gangbarer Weg. Denn innerhalb der Interviews stießen wir auf eine konsequente Netzwerknegation, und die Suche nach einer feldübergreifenden Koordinierungsinstanz brachte keine erkennbaren Ergebnisse. Dieser Zwischenbefund eröffnete nun ein neues Spannungsfeld von Authentizität, ›radikaler‹ Individualität und persönlichen Weiterqualifizierungen, innerhalb dessen Zusammenspiel die Akteure in der Lage sind, angesichts der Unübersichtlichkeit des Marktes das notwendige Vertrauen der potentiellen Klienten in die eigenen Angebote entstehen zu lassen und eine fehlende feldstrukturierende Koordinierungsinstanz adäquat zu substituieren. Geschuldet ist diese Selbstwahrnehmung der Akteure einem unterschwelligen Ideal von Individualität, aus dem deduziert wird, dass es sich bei den eigenen Angeboten um eine individualisierte Marktpraxis handele. Seinen Ausdruck findet dies darin, dass speziell die Anliegen und Bedürfnisse des Klienten in Wechselwirkung mit den Fähigkeiten des Anbieters reziprok – und somit subjektivistisch
43 Diese kategorische Verneinung war insbesondere bei einem Reikimeister sehr deutlich. Obwohl er wöchentlich Lehrgänge anbot, war er sich scheinbar um seine Wirkung als Lehrer und Ausbilder nicht bewusst. Sei es aus Unreflektiertheit oder, welches ein weiterer wichtiger Punkt innerhalb des Feldes ist, er schloss es rein pragmatisch aus rechtlichen Gründen so vehement aus, um in keinerlei Haftungsfragen etc. involviert zu werden, sollte doch einmal einer seiner Schüler ›verkehrt‹ praktizieren.
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– sublimiert werden.44 Die in unserem Projekt erhobene Selbstwahrnehmung der Akteure innerhalb des alternativmedizinischen Heilungsfeldes als autonome netzwerkunabhängige Anbieter ist in der Forschung auch anderweitig durch die Beobachtung bestätigt worden, dass sich im spirituellen Milieu ein »radikaler Individualismus«45 ausgebildet habe. Stef Aupers und Dick Houtman jedoch erheben gegen diese Feststellung Einwand: »Arguing that allegedly‚ ›diffuse beliefs‹ […] cannot and need not to be transmitted, Bruce’s failure to capture and satisfactorily theorize this ambiguity of the spiritual milieu’s ›individualism‹ causes him to overlook that people are socialized into compliance to the doctrine of self-spirituality.«46 In der Tat entwickelt sich diese Form von spirituell unterfütterten Heilungsangeboten innerhalb eines konkreten sozialen Rahmens. Das Framing dieses Marktes besteht aus einem Zusammenspiel von individuellen Selbstansprüchen und der zugehörigen Einbettung in tradierte Kontexte mittels unterschiedlicher Aus- und Fortbildungsnachweise, die dann in der Summe Legitimität, Authentizität und Vertrauen auf Seiten der potentiellen Klienten erzeugen sollen. Um den vorherrschenden Marktmechanismen des alternativen Heilungsmarktes auf den Grund zu gehen, sind sowohl die Ansätze inkorporierter Sozialform von Aupers/ Houtman, als auch von Bruce’s Individualismusthese zu berücksichtigen. Übertragen auf das marktwirtschaftliche Geschehen des Feldes spielen beide Ansätze in Kombination eine wesentliche Rolle. Aus welchen Quellen sich dieses speist, soll nun in einem ersten Versuch dargelegt werden: Die durch Steve Bruce attestierte Betonung des hohen Selbstindividualisierungsgrades der Akteure bricht sich mutmaßlich in der festzustellenden Netzwerknegation Bahn. Jedoch nehmen sich die Marktteilnehmer untereinander weniger als konkurrierende Mitbewerber wahr, sondern als Mitanbieter, die aufgrund der jeweiligen Portfolios, in Anlehnung an die jeweilige Anbieterpersönlichkeit (Stichwort: Authentizität), gar nicht miteinander verglichen werden können. Die jeweilige Praxis ist demnach zu individualisiert, als dass man sich tatsächlich vergleichen und somit auch sinnvoll vernetzen könne. Das bedeutet, dass es keine zentrale, systemimmanente Koordinierungsinstanz par excellence geben kann, 44 Während die Schulmedizin, so der Vorwurf, den Patienten und Menschen lediglich nach messbaren Parametern untersuche und entsprechende Therapien lediglich aus den zuvor erhobenen Ergebnissen/Fakten ableite. 45 Vgl. Bruce, Steve: God is Dead. Secularisation in the West, Oxford: Blackwell 2002, S. 83f. 46 Aupers, Stef/Houtman, Dick: »Beyond the Spiritual Supermarket. The social and public significance of New Age Spirituality«, in: Stef Aupers/Dick Houtman (Hg.), Religions of Modernity. Relocating the Sacred to the Self and the Digital, Leiden: Brill 2010, S. 135–160, hier S. 157.
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denn wie das eingangs angeführte Beispiel der Herausgeberin auf die Frage nach einer Art Qualitätskontrolle zeigt, ist dieses Feld seinem Selbstverständnis nach so konstruiert, dass ein feldformendes tautologisches Grundverständnis mitgedacht werden muss. Jedes Angebot auf dem Markt hat innerhalb des Feldes eine Berechtigung, einem »philosophia perennis-Common Sense« gleichkommend, und nach dem Anspruch der Anbieter sind somit mögliche Begutachtungsparameter unnötig, da grundsätzlich in allen Angeboten ein Ansatz zur Heilung zu finden sei. Das entspricht auch der Aussage dieser Herausgeberin, dass dieser Markt, entsprechend seiner Heterogenität, keine Normierungen innerhalb der angewandten Methoden durch eine übergeordnete Koordinierungsinstanz benötigt. Es herrscht ein akzeptierter Methodenmonismus vor, der in der Formel mündet: »Wer heilt, hat recht.« Ebenso auffällig ist, dass Begriffe wie ›religiös‹ und auch ›spirituell‹ negativ konnotiert sind. Die abermalige Negierung innerhalb des Feldes etwa ›religiös‹ zu sein oder ›spirituelle‹ Praktiken zur Anwendung zu bringen, ist einem Anspruch gewichen, der im Grunde das reflexive Moment von Transzendenz und Immanenz in der Formel »komplementär« aufzulösen beginnt. Zuschreibungen und Kategorisierungsversuche mit Begriffen aus dem Umfeld religiöser Semantiken wurden innerhalb der Interviews in der Regel konsequent abgeblockt. Dies mag zum einen darin begründet liegen, dass die Anbieter einen möglicherweise niederschwelligen Zugang für potentielle Klienten in einer der institutionalisierten Form der Religion entfremdeten Region ermöglichen wollen. Zum anderen geschieht dies, um die Zulässigkeit, vielleicht gar »Rationalität« der angebotenen Praktiken und Kompetenzen zu unterstreichen, die Tür hin zu einer empirischen Form von Krankheitsdeutung innerhalb des Feldes offen zu halten, und als Äquivalent zur Schulmedizin wahrgenommen zu werden. Das kann in der Außenperspektive aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich innerhalb der jeweiligen Angebotsportfolios spirituelle Praktiken finden, die vormals in traditionellen religiösen Systemen eingebettet waren. Im Übrigen wird auch das Wort Esoterik von den Anbietern mittlerweile als vorbelastet wahrgenommen. Als sinnvoller empfinden sie entsprechend ihrem Selbstverständnis deshalb das Wort ›ganzheitlich‹. Der Negativbefund, dass die im Karpikschen Sinne verstandene Koordinierungsinstanz als übergeordnetes Marktinstrument innerhalb des Heilungsfeldes nicht zum Tragen kommt, lässt somit auf Marktmechanismen schließen, die den marktordnenden zentralen Überbau anderweitig kompensieren. Zwar bewegen sich die angebotenen Dienstleistungen der Alternativmedizin in einem Marktrahmen. Die ökonomischen Mechanismen sind allerdings anders als auf üblichen Märkten konfiguriert – und bilden doch marktsteuernde und marktstrukturierende Elemente aus, die bei der Sondierung des Marktes durch potentielle Klienten zur Anwendung kommen. Die augenscheinliche Netzwerknegation ist der vermeintli-
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chen ›Unvergleichlichkeit‹ der angebotenen Dienstleistungen geschuldet. Nichtsdestotrotz ist ein Netzwerkcharakter feldkonstituierend. Es kann hierbei von einem genealogischen Netzwerk gesprochen werden, dessen selbstreferentielle Tradierungsketten das Feld aus sich selbst legitimieren – angereichert um die Gesichtspunkte Originalität und Individualität, die ihren Ausdruck im authentischen ›Naturell‹ des Anbieters finden. Das Feld der alternativen Heilungsangebote in Mecklenburg-Vorpommern konstituiert und legitimiert sich somit selbst.
Autorinnen und Autoren
Bernadett Bigalke, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig Hélène Coste, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich Jürgen Dollmann, Dr. med., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg Johannes Endler, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft Universität Wien Gregor Etzelmüller, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück Jens Forkel, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich »Gesundheit, Pflege, Management« der Hochschule Neubrandenburg Klaus Hock, Dr. theol., Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Thomas Klie, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Dorothea Lüddeckens, Dr. phil., Professorin für Religionswissenschaft am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich
216 | Was Heilung bringt
Paula Stähler, Dipl.Theol., Kollegiatin im DFG-Graduiertenkolleg »Deutungsmacht« der Universität Rostock Martin Tulaszewski, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Märkte des Besonderen. Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern« an der Universität Rostock Michael Utsch, Prof. h.c., Dr. rer. nat., Wissenschaftlicher Referent der Evang. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin
Religionswissenschaft Frederik Elwert, Martin Radermacher, Jens Schlamelcher (Hg.)
Handbuch Evangelikalismus 2017, 452 S., Hardcover, 3 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-3201-9 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3201-3
Bernhard Grümme
Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ›public turn‹ in der Religionspädagogik 2018, 254 S., kart., 29,99 € (DE), 978-3-8376-4227-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4227-2
Nicole Maria Bauer
Kabbala und religiöse Identität Eine religionswissenschaftliche Analyse des deutschsprachigen Kabbalah Centre 2017, 290 S., kart., 4 SW-Abbildungen, 3 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-3699-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3699-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Religionswissenschaft Serina Heinen
»Odin rules« Religion, Medien und Musik im Pagan Metal 2017, 244 S., kart., 7 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-3431-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3431-4
Antje Mickan, Thomas Klie, Peter A. Berger (Hg.)
Räume zwischen Kunst und Religion Sprechende Formen und religionshybride Praxis Januar 2019, 240 S., kart., 56 SW-Abbildungen, 6 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4672-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4672-0
Judith Stander-Dulisch
Glaubenskrisen, Neue Religionen und der Papst Religion in »Stern« und »Spiegel« von 1960 bis 2014 Januar 2019, 482 S., kart., 155 SW-Abbildungen, 10 Farbabbildungen 49,99 € (DE), 978-3-8376-4102-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4102-2
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