Wahrer Glaube, Agnostizismus und Logik der theologischen Argumentation [1 ed.] 9783428515363, 9783428115365

Ota Weinberger versucht, die logische Analyse für die theologische Argumentation nutzbar zu machen und Forderungen für e

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Wahrer Glaube, Agnostizismus und Logik der theologischen Argumentation [1 ed.]
 9783428515363, 9783428115365

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 34

OTA WEINBERGER

Wahrer Glaube, Agnostizismus und Logik der theologischen Argumentation

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Ota Weinberger

Wahrer Glaube, Agnostizismus und Logik der theologischen Argumentation

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 34

Wahrer Glaube, Agnostizismus und Logik der theologischen Argumentation

Von

Ota Weinberger

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-11536-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Ich danke meinen Freunden Prof. DDr. Werner Krawietz, Dr. h.c. mult. und Prof. Dr. Peter Strasser für viele Anregungen zur Gestaltung dieses Buches. (Für die resultierenden Darlegungen bin ich allein verantwortlich.) Zu besonderem Dank bin ich Frau Hofrat Dr. Dorothea Mayer-Maly verpflichtet, die die Druckvorlage mit großer Sorgfalt erstellt hat. Der Steiermärkischen Landesregierung danke ich für die finanzielle Förderung der Arbeit an diesem Buch. Im März 2004

Ota Weinberger

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Wie kann die logische Analyse zum theologischen Denken und Argumentieren beitragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1 Theorie des Glaubensoperators 1. Das Wissenssystem und seine Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die Komplexität des modernen Wissenssystems . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Epistemische Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Das Problem der Objektivierung von Wissenssätzen . . . . . . . . . .

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5. Der Glaubensoperator: Sinn und Kraft des Glaubenssatzes . . .

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Kapitel 2 Das Theodizee-Problem 1. Charakteristik des Problems: Grundelemente der Problemsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Versuch einer Typologie des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

3. Was sind mögliche Welten? Wie kann das Mögliche definiert und vom Unmöglichen unterschieden werden? . . . . . . . . . . . . . . . .

43

4. Wie kann eine Präferenz zwischen alternativen Welten begründet werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8

Inhaltsverzeichnis

5. Das Theodizee-Problem in der Sicht einer formal-finalistischen Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

(1) Existiert Böses in der Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

(2) Die Bindung der Möglichkeit und Unmöglichkeit an Strukturrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(3) Die Unterscheidung der Wertsysteme des Individuums, von Gruppen und eines Schöpfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

6. Höhere Begründung des Bösen – Böses zum Besten der Geschöpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 3 Moralische Kausalität 1. Gut und Böse als Glückseligkeit des Handelns und als analytische Sollenswahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

2. Quellen und normativer Kern religiöser Lehren . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Reichweite der kausal-moralischen Bindung von Wertprädikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(1) Moralisches und religiöses Handeln als Handeln unter Ungewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

(2) Handeln als natürliche / moralische Reaktion . . . . . . . . . . . . . .

59

Kapitel 4 Agnostizismus 1. Der Begriff des weltanschaulichen Agnostizismus . . . . . . . . . . . . .

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2. Der pragmatische Vorteil des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Welt der Glaubenspluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

4. Reflexive Selbstzweifel – „Was darf ich hoffen?“ ohne sacrificium intellectus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Kapitel 5 Moral der Brücken 1. Vorüberlegung: Vom höchsten Ziel der Humanität . . . . . . . . . . . .

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2. Polarisierung der Werteeinstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Mögliche Wege zur Friedensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Aktuelle Situation und Hindernisse einer Friedensordnung . . .

69

(1) Overkill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(2) Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

(3) Bevölkerungsexplosion und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(4) Wachsende Umweltproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(5) Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(6) Postulat der offenen Gesellschaft – gesellschaftliche Diskursplattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(7) Weltethos oder Clash of Civilizations? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(8) Elemente der Brückenmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 6 Weltethos und Universalmoral versus Wahnideen, Terrorismus und Massenverfolgungen 1. Menschlicher Wahn und Heiliger Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Information, Determinismus und Freiheit des Handelns . . . . . .

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3. Orientierungssystem menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Entstehung und Entwicklung von Wahnideen und Massenverfolgungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Vernichtungswahn und Heilsvorstellungen von Gut und Böse

89

6. Institutionelle, ideologische und organisatorische Voraussetzungen von Massenwahn und Massenverfolgungen . . . . . . . . . . . .

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10

Inhaltsverzeichnis

7. Religiosität in lebenspraktischer und philosophischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 8. Religion und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (1) Gottes-, Dämonen- und Teufelsglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 (2) Individuelle, persönliche und gemeinschaftliche Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 (3) Entwicklungs- und Lernfähigkeit von Religion . . . . . . . . . . . . 113

Einleitung: Wie kann die logische Analyse zum theologischen Denken und Argumentieren beitragen? Die Probleme der Religion kann man von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten: (a) als philosophisches Problem, wenn man fragt, welche Momente der Conditio humana religionsphilosophische Überlegungen nahelegen; (b) als soziologisches Problem, wenn man die gesellschaftliche Rolle der Religionen und der Religionsgemeinschaften ins Auge faßt; (c) man fragt nach den Quellen religiöser Überzeugungen, nach den metaphysischen, historischen, rationalen und außerrationalen Gründen des religiösen Denkens; (d) man untersucht die logische Struktur der theologischen Argumentation sowie die erkenntnistheoretische Basis der Argumente (diesen Problemkreis kann man schlagwortartig mit dem Namen „Logik der Religion“ bezeichnen); (e) in unserer Zeit erscheint es mir besonders wichtig, die Relationen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und religiösem Glauben zu erörtern; (f) jede religiöse Lehre steht vor der Problematik der Anpassung der Glaubenslehre an die aktuelle Lebenssituation; diese unterliegt der Entwicklung, daher wird die Frage aktuell, ob sich das Leben nach vorgefaßten Vorstellungen gestalten soll, oder die Glaubensüberzeugungen sich den derzeitigen Bedingungen anpassen müssen (hier sind die Wurzeln des

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Einleitung

Streits zwischen rückschauendem Fundamentalismus und suchenden Reformkonzeptionen); (g) soweit die Religionen als Offenbarungslehren auftreten, kommt man nicht umhin, Hermeneutik zu betreiben: die Offenbarung ist eine Art von Mitteilung, die uns daher zwingt, Deutungsanalysen zu betreiben; (h) Religionsgemeinschaften sind nicht nur geistige Lebensgemeinschaften, sondern auch soziale und Machtorganisationen; es gibt hier Bereiche der Machtkämpfe und unter der Voraussetzung der Pluralität und des Nebeneinanders der Religionsgemeinschaften erhebt sich die Frage, wie diese friedliche, aber dennoch diskursive Koexistenz organisiert werden kann; (j) die aktuelle Realität des Zwistes zwischen den religiösen (und anderen ideologischen) Gemeinschaften und deren oft aggressives oder terroristisches Auftreten, zwingt uns, die hier auftretenden bedrohlichen Strukturen ins Auge zu fassen. Die vorliegenden Betrachtungen werden die Problematik des theologischen Argumentierens nicht in ihrer Gesamtheit behandeln, sondern sich auf folgende vordringliche Fragen beschränken: Nach einer allgemeinen Betrachtung in dieser Einleitung über den philosophischen Charakter der Religionsproblematik werde ich einige Fragen der Logik der Religion behandeln, und zwar: 1. den Charakter des epistemischen Funktors „Ich glaube, daß . . .“, 2. werde ich das Problem der Theodizee vom Standpunkt einer modernen Entscheidungs- und Handlungstheorie in ein neues Licht rücken, und schließlich 3. werde ich auf die Gefahren hinweisen, die ideologische Wahntheorien implizieren, wenn sie gewisse organisierte Formen annehmen; sie werden zur Basis von Massenverfolgungen und bedrohlichem Terrorismus.

Einleitung

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4. In einem Anhang werde ich die Idee einer Moral der Brükken skizzieren, welche den interkulturellen Diskurs und die Kooperation zwischen verschiedenen Gemeinschaften fordert. 5. Es wird der tiefgreifende Meinungskonflikt zwischen der Hans Küngschen Idee des Weltethos und Huntingtons Theorie des Aufeinanderprallens der Zivilisationen eingehend erörtert werden.

Religion als philosophisches Problem Fragen, welche dem religiösen Denken zugrundeliegen, sind m.A.n. echte philosophische Probleme, und zwar in zwei unterschiedlichen Dimensionen: 1. als metaphysisch-ontologische Frage, ob die Welt, die Gesamtheit des Daseienden projektartig ist, d. h. Ergebnis einer intentionalen Schöpfung; 2. als Problem, wie unser Verhalten und Handeln orientiert und begründet werden kann, da die uns leitenden Informationen weder als Tatsachenorientierung noch als wertender Standpunkt rational hinreichend begründet sind. Ad 1: Die religiöse Weltanschauung tendiert dazu, die Realität als Ergebnis einer Schöpfungsintention anzusehen. In den Religionslehren wird dies im wesentlichen auf zweierlei Arten begründet, einerseits durch Hinweis auf die höhere Harmonie zwischen ganz verschiedenen Einzelstrukturen, die im Ganzen das Bild eines funktionalen (zweckmäßigen) Zusammenspiels liefern, andererseits durch Erzählungen, die über Zeichen und Wunder referieren. Die moderne Wissenschaft erklärt die oft komplex anmutenden funktionalen Zusammenhänge als Anpassung im darwinistischen Sinne, also durch einen genetischen Prozeß, der aus Mutationen und Überleben des Passenden konstituiert ist. Zeichen und Wunder, durch die der Schöpfer den Menschen auf sich aufmerksam machen würde, haben in einem rational

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Einleitung

wissenschaftlichen Weltbild keinen Platz. Wenn man annehmen würde, daß im Einzelfall das Verhalten der Dinge und Systeme durch spezifischen Ratschluß als Zeichen, als ein das Dasein Gottes kenntlich machendes Wunder, anzusehen ist, dann hört die Welt auf, als gesetzmäßig geregeltes System erfaßbar zu sein. Auch wenn das Universum Schöpfung ist, kann es als gesetzstrukturiertes System verstanden werden, und nicht als Menge von wunderartigen Einzelentscheidungen. Die Vorstellung, daß der Schöpfer durch Zeichen und Wunder (Sondermaßnahmen im Einzelfall) die Menschen auf sich aufmerksam macht, ist mit einem wissenschaftlichen Weltbild unverträglich. Schöpferglaube ist an und für sich mit darwinistischen Explikationen durchaus verträglich, denn die zufällige Mutation und die Bewährung als Entwicklungsprinzip, können als Wege der Fortentwicklung eingeführt worden sein. Nur echte Wunder als motivierende Zeichen für den Menschen sind für wissenschaftlich denkende Menschen auszuschließen. Unerklärliches oder bisher Unerklärtes gibt es natürlich auch im wissenschaftlichen Weltbild (mit Schöpferglaube ebenso wie in atheistischer Konzeption). Fragen wir uns aber ganz allgemein, ob die Welt, das Universum im weitesten Sinne, als Projekt, d. h. im wesentlichen als intentionsgelenkte Schöpfung, aufgefaßt werden kann, soll oder muß. Gibt es durch Beobachtung oder Erfahrung belegbare Gründe, durch die diese Frage beantwortet werden kann? Da Intentionen, welche das Projekt definieren, mit Mitteln realisiert werden, die als Wirkungen kausaler Gesetze erscheinen, gibt es keine gültige Begründung – weder für die These, die Welt und das Geschehen sei Projekt, d. h. intendiert und geschaffen, noch für die These, das Geschehen sei einfach da, ohne als sinnvoll intendiertes Projekt gelten zu können. Die

Einleitung

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Überlegung läuft auf einen echten Agnostizismus hinaus, denn weder die Bejahung noch die Verneinung der Frage ist durch Erfahrung begründbar. Man könnte vielleicht nach dem Prinzip „principia non sunt multiplicanda praeter necessitatem“ einen guten Grund gegen die Schöpfungshypothese anführen. Genauso stark scheint mir aber die mögliche Gegenbegründung zu sein, daß die Auffassung des Universums als Projekt den Weg dafür freimacht, die Realität als sinnvolles Gebilde zu deuten. Das Universum als in transzendenter Weise sinnvoll anzusehen, ist eine auch mit dem wissenschaftlichen Denken verträgliche Einstellung. Ad 2: Wir handeln immer unterinformiert: unser Wissen reicht in beiden wesentlichen Richtungen nicht dazu aus, die Adäquatheit unseres Handelns mit Gewißheit zu begründen. Die sachliche Basis unseres Entscheidens bietet keine volle Gewißheit dafür, daß die Entscheidung optimal ist. Die Handlungssituation kennen wir nur in Grundzügen und haben keine Gewißheit, daß wir alle wesentlichen Momente kennen und bei unserer Entscheidung berücksichtigen. Die kausalen Relationen, auf die sich die Bestimmung der Mittel zu gegebenen Zwecken und der Aufbau von Handlungsprogrammen stützen, sind meist Wahrscheinlichkeitserkenntnisse. Wenn ich ein Mittel zu gegebenem Zweck aufgrund einer Wahrscheinlichkeitsrelation wähle, mag dies die optimale Entscheidung sein, es ist aber nicht sicher, daß die entsprechende Handlung zum angestrebten Ergebnis führt; es ist auch möglich, daß der unwahrscheinliche Effekt eintritt. Wir realisieren Zwecke und wählen Mittel aufgrund von Präferenzen und Normen. Die Kriterien des Wählens gehören zwei verschiedenen Kategorien an: sie sind subjektive Utilitätskriterien oder sie sind moralische Wertmaßstäbe. Die Utilitätskriterien sind teils erfahrungsgestützt, teils Sache von voraussetzenden Annahmen darüber, was angenehm und profitabel sein wird. Ob dies tatsächlich so sein wird, bleibt oft zweifelhaft. Wir haben moralische Überzeugungen, ob sie tat-

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sächlich das moralische Optimum in einem irgendwie objektiven Sinne darstellen, bleibt eine offene Frage. Die Selbstreflexion überzeugt mich von den engen Grenzen meines Wirkens. Dies betrifft sowohl die Möglichkeiten meiner Zwecktätigkeit aus Motiven meines Strebens nach subjektivem Nutzen als auch mein moralisches Streben. Gefühlsregungen der Machtlosigkeit steigen manchmal bei jedem auf. Außerdem gibt es eine harte Grenze meines personalen Wirkens. Das Bewußtsein des unvermeidlichen Todes ist nicht nur Grenze, sondern auch memento „Nutze den Tag“, und zwar in beiden Richtungen, zum Ausbau des Erlebens im Sinne von Freude und Lust, als auch im Feld des moralischen Wirkens. Wie versteht man seinen zukünftigen Tod? Man kann sein eigenes Nicht-Sein erlebnismäßig nicht erfassen. Ein sog. Leben nach dem Tod ist noch weniger erfaßbar. Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Sein über den Tod hinaus zu konzipieren: als diffuses Sein oder als personales Sein. Ersteres bringt keine klaren Implikationen; für personales Dasein nach dem Tod – ohne körperliches Substrat, das diese personalen Funktionen erfüllen sollte, gibt es keine empirische Grundlage und keine erklärenden Vorstellungen. Hier gibt es auf die Kantsche Frage „Was darf ich hoffen?“ (sc. vernünftiger Weise) keine überzeugende Antwort. Es ist kaum bestreitbar, daß die Welt, die Lebensbedingungen und die moralischen Aufgaben sich mit der Zeit ändern. Jedes Weltbild und jedes ideologische System – also auch jedes Glaubenssystem – stehen also vor der Frage, wie die zeitgemäße Transformation, d. h. die Anpassung an die aktuelle Entwicklung der Realität erklärt und durchgeführt werden soll. Hier liegt die Wurzel einer tiefgreifenden Spaltung in der Art und Weise des theologischen Denkens: eine Möglichkeit ist, die Theologie als ewiges Suchen zu verstehen, die zusammen mit dem wissenschaftlichen Fortschritt wächst und sich transformiert, oder eine fundamentalistische Konzeption, die alle neuen und aktuellen Probleme durch die Forderung „zurück

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zu den Wurzeln“ und mit Festhalten an den Traditionen zu beantworten sucht. Die suchende Einstellung erfordert Mut, geistige Offenheit und die Entschlossenheit, mit Ungewißheiten zu leben. Die fundamentalistische Einstellung hat keinen Grund, auf die „Unfehlbarkeit“ der Tradition zu bauen. Die historischen Erfahrungen zeigen, daß die religiösen – ebenso wie andere ideologische Systeme – oft verheerende Wahnideen entwickelt haben, so daß zurück zu den Fundamenten und der Tradition bei kritischer Betrachtungsweise keineswegs plausibel erscheinen lässt, dass der Fundamentalismus den richtigen Weg durch das Heute garantiert. In der Abwägung zwischen dem suchenden und dem fundamentalistischen Standpunkt ist in der heutigen Situation noch eine Frage entscheidend. Es bestehen in der Welt eine Menge verschiedener Weltanschauungssysteme und religiöser Lehren, zwischen denen tiefgreifende Meinungsdivergenzen bestehen. Bei strikt fundamentalistischer Auffassung ist ein Diskurs der Systeme, ein Aufbau von Verständigungsbrücken, kaum realisierbar. Nur wer reflexive Zweifel und ein suchendes Bewußtsein entwickelt, wird auf echte Diskurse eingehen und vom Diskurs auch einen echten Vorteil für sein eigenes Denken und Verstehen erwarten können. Selbstdenker kann man nur dann sein, wenn man auch zweifelt und sich als Suchender fühlt. In der Tat kommen im theologischen Denken rationale und irrationale (außerrationale) Elemente zusammen. Die bekannte These „Philosophia ancilla theologiae“ kann in zweierlei Weise gedeutet werden, als Forderung der Unterordnung des philosophischen unter das theologische Denken, oder als Erkenntnis, daß philosophisches Denken ein unabdingbares Instrument der theologischen Argumentation ist. Die Wissenssysteme – die Naturwissenschaften ebenso wie die philosophische Ontologie – machen eine Fortentwicklung 2 Weinberger

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durch, die aber durchaus nicht als geordnetes, sozusagen eindimensionales stetiges Wachstum in Erscheinung tritt. Die Entwicklung des theologischen Denkens, neue Denkansätze für die Behandlung religionsphilosophischer Fragen resultieren m.A.n. weitgehend aus dem Diskurs zwischen Theologie und naturwissenschaftlichen sowie philosophischen Wissenssystemen. Die Beziehung des Glaubens zu den aktuellen Wissenschaften ist für die Theologie immer wichtig. Die modernen Wissenschaften sind kein einheitliches System, sondern eine Pluralität von Ansätzen, und die wissenschaftlichen Theorien erlauben oft unterschiedliche Interpretationen. Es gibt nicht die Wissenschaft, sondern es besteht eine Pluralität unterschiedlicher wissenschaftlicher Meinungen. Auch in den Wissenschaften gilt das Prinzip des Suchens; die Wissenschaften bieten keine endgültigen Wahrheiten an. Ich glaube, die Theologie sollte ein harmonisches Weltbild anstreben, teils durch Harmonisierung der Glaubenskonzeptionen mit den Wissenschaften, teils durch Bereichsabgrenzung zwischen Glauben und Wissen. Aber nicht als doppelte Wahrheit, sondern als Betrachtung in unterschiedlicher Perspektive. Beachtenswert erscheint es mir, daß die Wissenschaften oft die ideellen Instrumente für die Entfaltung, ggf. für die Rekonstruktion des theologischen Denkens anbieten. Meine Betrachtungen über das Theodizee-Problem in Kapitel 2 sind ein Beispiel für die These, daß theologische Probleme in neuerer wissenschaftlicher Sicht, d. h. aufgrund veränderter wissenschaftlicher Theorien, plausibler behandelt werden können als es bisher üblich war. M.A.n. sind aber Grenzen der religionsphilosophischen Postulate zu setzen. Die Idee einer Glaubenspflicht, d. h. die immanente Forderung, glauben zu sollen oder zu müssen, ist mir fremd. Auch ein „Credo quia absurdum est“ empfinde ich als

Einleitung

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befremdlich. Drückt dieser Satz eine Begründung für das Glauben aus oder besagt er beinahe das Gegenteil: „Ich halte an meinem Glauben fest, obwohl er nicht begründbar ist; mein Glauben ist also eine rational nicht gestützte Haltung.“ Die Interpretation, daß die Absurdität eines Glaubensinhalts dessen Begründung ausmacht, ist völlig unverstehbar. Ein so fundierter Glaube wäre keine akzeptable Antwort auf die Kantsche Frage „Was darf ich (ohne sacrificium intellectus) hoffen?“ Die Deutung des Satzes im Sinne, daß das Glauben keine begründete Einstellung, sondern ein Effekt über alle Vernunftsgründe hinaus ist, ist wohl möglich, doch erscheint mir persönlich eine solche Einstellung nicht sehr attraktiv. Wenigstens ein Lebensvorteil, ein pragmatischer Sinn, sollte als Stütze des Glaubens in Betracht gezogen werden. Glauben sollte als berechtigt erscheinen, wenn nicht direkt in den Grenzen der Vernunft, dann wenigstens neben der Vernunft und ohne diese gröblich zu verletzen. Erwähnenswert erscheint mir Kants Kriterium für die Interpretation von Glaubensquellen: Eine Deutung von Glaubensquellen, die Standpunkte ergeben würde, die geltenden Moralprinzipien widersprechen würde, ist abzulehnen. Für Kant war dieser Grundsatz ein eindeutiges Prinzip, da er das Moralprinzip für eindeutig hielt. Wenn man aber einsieht, daß man Verschiedenes als allgemeine Maxime der Moral wollen kann, dann verliert diese Deutungsregel ihre strikte Eindeutigkeit. Aber auch in relativistischer Konzeption wird man eine Deutung der Glaubensquellen, welche der akzeptierten Moral widersprechen, nicht gutheißen. Die gesellschaftliche Realität, daß heute fast überall verschiedene Religionsgemeinschaften nebeneinander stehen, wirft die Frage auf, wie deren Kontakte aussehen sollen. Es bestehen meist de facto Konkurrenz-, Kooperations- und / oder leider oft auch Feindbeziehungen. Ich glaube, daß vor allem zwei Ziele anzustreben sind: Friede und womöglich suchender Diskurs. Friede wird realistisch wohl am ehesten un2*

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Einleitung

ter dem Ideal des Weltethos Chancen haben. Auch strikte Abgrenzung wäre unter Umständen möglich, denn Nichtbeachtung und Kontaktlosigkeit kann auch eine Form des Friedens sein. In der heutigen vieldimensional vernetzten Welt ist aber die Isolation als Weg des Friedens kaum möglich. Mir erscheint er auch nicht sympathisch: Achtung und gegenseitiges Wohlwollen wächst eher durch Kontakte denn durch Isolation. Beachtenswert erscheint mir aber ein differenzierendes Moment. Die Beziehungen zwischen Gruppen oder einzelnen Menschen sind unterschiedlicher Art, und daher in verschiedenem Maße abhängig von konsentierter Lebensform. Handelspartner können ganz verschiedene religiöse Riten verfolgen. Bei Ehepartnern ist schon eine gewisse Anpassung oder ein expliziter modus vivendi unerläßlich. Im allgemeinen tragen diskursive Beziehungen zum friedlichen Verständnis und zur gegenseitigen Achtung bei. In der Praxis besteht das Problem oft darin, daß bei vielen, insbesonders bei fundamentalistisch orientierten Menschen, keine echte Diskursbereitschaft da ist. Interreligiöse Toleranz setzt die Auswirkung philosophischer Aufklärung voraus, die mehr oder weniger vom dogmatischen Glauben zu einer eher suchenden Einstellung führt. Das Suchen einer Gesprächsbasis zwischen den Religionen und Kirchen hat – trotz aller Widerstände – auch schon Früchte getragen. Die wichtigsten sind die ökumenische Bewegung der chirstlichen Kirchen – obwohl es manchmal zweifelhaft wird, ob eher gleichberechtigte Toleranz oder Machterweiterung angestrebt wird1 –, der jüdisch-christliche Dialog und das Hans Küngsche Projekt „Weltethos“. Schon der übliche Terminus „Toleranz“ zeigt, daß die Postulate der ideellen Freiheiten nicht aus der Idee des gleichberechtigten Suchens, sondern aus geforderter Duldung entstan1

Vgl. manche problematische Formulierungen in „Dominus Jesus“.

Einleitung

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den sind. Ich bin der Meinung, wir können den Terminus beibehalten, müssen ihm aber eine Deutung geben, welche diskursive Gleichberechtigung voraussetzt. Auch im Bereich des religiösen Glaubens ist die offene Gesellschaft anzustreben wie im ganzen Bereich des Sozialen und Politischen. Für die Glaubensgemeinschaften bedeutet dies Schranken, kein freies Pleinpouvoir für die Normsetzung. Gleiche Freiheit für Religionsgemeinschaften ist nur möglich, wenn Kirche und Staat organisatorisch getrennt sind. Die Kirchen haben natürlich ein Mitspracherecht in öffentlichen Angelegenheiten – als Diskurspartner, nicht als lenkende Organe. Wenn man den Glauben als Ausdruck der Persönlichkeit versteht, wird man ein hohes Maß an Subjektivität der Glaubensüberzeugung zulassen und nicht strikt dogmatisch festlegen, was pflichtgemäßer Glaubensinhalt ist. [Ein Beispiel: Muß man als Christ auch an den Teufel glauben, an die unbefleckte Empfängnis oder genügt es, die Lehre Jesu zu akzeptieren?] Es sind historische Tatsachen, daß die Kirchen ihre bedeutendsten religionsphilosophischen Denker verfolgt oder gar ausgeschlossen haben (z. B. die Juden Spinoza). Die aktuelle Realität der Religionsgemeinschaften ist vom Ideal der offenen Gesellschaft noch weit entfernt. Vier Grundelemente scheinen mir für die offene Gesellschaft im Bereich des Glaubens und der Glaubensgemeinschaft essentiell: 1. Die schon erwähnte Trennung von Kirche und Staat. 2. Die innere Toleranz, welche ein hohes Maß an subjektiver Meinungsfreiheit für alle Mitglieder der Religonsgemeinschaft anerkennt, weil Glauben eine Einstellung und Leistung der Persönlichkeit sein soll. 3. Äußere Toleranz, d. h. Anerkennung der prinzipiellen Gleichberechtigung verschiedener Glaubensgemeinschaf-

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Einleitung

ten. Hier müssen Grenzen gelten: Freiheit des Austritts bzw. Übertritts zu einer anderen Glaubensgemeinschaft ohne gravierende Folgen. Freiheit des Kontakts mit Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften. Freie Gestaltung persönlicher Beziehungen zwischen Mitgliedern verschiedener Religionen: Möglichkeit und freie Gestaltung interreligiöser Ehen. 4. Diskursive Offenheit und die Existenz von Plattformen des interreligiösen Meinungsstreits. – Ich weiß natürlich, daß ein solches Postulat mannigfache Probleme mit sich bringt. Das wichtigste ist das Problem der Mission. Es ist natürlich, daß bei vielen der Wunsch entsteht, den Heilsgedanken der eigenen Religion zu verbreiten. Gewalt in jeder Form sollte hier ausgeschlossen sein. Es gibt aber auch indirekte Machtauswirkungen, oft in Verbindung mit staatlicher Politik. Wo und wie ist die Grenze des Zulässigen zu ziehen? Es ist leicht, gegen die Verbreitung der Religion mit Feuer und Schwert zu plädieren, aber schwierig zu bestimmen, was noch zulässige politische und ökonomische Ingerenzen sind, durch die de facto Mission betrieben werden kann. Für die moderne Welt ist es ganz entscheidend, daß jede religiöse Weltanschauung mit den modernen Wissenschaften in mannigfaltigen Kontakten steht, und zwar sowohl in der Erklärung der Welt, des Universums, als auch im Feld der Moral und der gebilligten Lebensformen. Stehen wir vor einer doppelten Wahrheit, der Wahrheit des wissenschaftlichen Weltbildes und jener des Glaubens, oder handelt es sich um zwei verschiedene Betrachtungsweisen der Welt, die nebeneinander stehen, sich gegenseitig nichts zu sagen haben, daher aber auch weder zusammenstimmen und in Konflikt geraten können? Eine schizophrene Sicht, die Wissenschaft und religiöses Denken als strikt getrennte Dualität betrachtet, ist kaum über-

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zeugend. M.A.n. ist im Gegenteil die Wissenschaft eine ständige Herausforderung für die Theologie, der sie auch den Argumentationshorizont für die hermeneutischen Überlegungen bietet. Es geht darum, im Rahmen der Vernunft und unter Rücksicht auf den heutigen Kenntnisstand die theologischen Grundfragen zu explizieren, das „Was darf ich hoffen?“ im Kontakt mit den Wissenschaften und ihren Problemen zu erörtern, ggf. zu beantworten. Das heißt: Ich meine, ohne Wissenschaft und Philosophie gibt es keine ersprießliche Theologie. Daher auch die Fragestellung dieser Abhandlung: Was kann die logische Analyse zum theologischen Denken und Argumentieren beitragen? Es geht im wesentlichen um drei Grundfragen: (a) um die Struktur der logischen Bindungen und logischen Operationen, die der theologischen Argumentation zugrunde liegen, (b) um die Charakteristik der Argumente, ihre rationale – eventuell auch empirische – oder / und außerrationale Basis, dabei vor allem um die Charakteristik jener grundlegenden Sätze, die als Sätze des Glaubens in die theologische Argumentation eintreten, (c) um die methodologische Behandlung gewisser Grundprobleme der Theologie – z. B. des Theodizee-Problems oder des Begriffs der Erbsünde – und deren befriedigende Lösung ohne sacrificium intellectus. Es ist mir neben dem berühmten Buch „Logik der Religion“ von J. M. Bochen´ski keine einschlägige Literatur bekannt, welche sich ausführlich mit der theologischen Argumentation vom logischen und methodologischen Standpunkt aus befaßt. Bochen´ski als tiefer Kenner der Logik und ihrer Geschichte auf der einen Seite und Berufstheologe auf der anderen ist für die Aufgabe, über die Logik der Religion zu schreiben, prädestiniert. Der Autor ist der Meinung, daß die Sprache der Reli-

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Einleitung

gion wie alles menschliche Sprechen und Denken den Gesetzen und Regeln der Logik unterliege. Daneben stellt sich die Frage der spezifischen Semantik der Religionssprache und das Problem der Begründung religiöser Sätze. Bochen´ski analysiert die verschiedenen Zutrittsweisen zur Beziehung von Religion und Logik. Er beachtet auch die außerrationalen Momente des theologischen Argumentierens und die Frage, wie Offenbarung und Autorität in das religiöse Denken und Argumentieren eingreifen. Ich beabsichtige nicht, in dieser Abhandlung das gesamte Feld der semantischen, logischen und methodologischen Problematik des theologischen Argumentierens zu behandeln. Ich konzentriere mich auf einige wenige essentielle Grundprobleme: 1. auf die Analyse des epistemischen Operators „ich glaube . . .“ (sc. im religiösen Sinne) und seine Rolle als Argument im theologischen Diskurs; 2. auf das leidige Theodizee-Problem, das mir im Geiste meiner Entscheidungs- und Handlungstheorie in neuem Licht erscheint; 3. auf das Problem der moralischen Kausalität; 4. auf die mit Glaubensüberzeugungen eng verbundenen Gefahren von gesellschaftlichen Wahnideen und deren Organisationen (diese Gefahren finden u. a. auch in den Terrororganisationen ihren Ausdruck, die ohne ideologischen Hintergrund, ohne Wahnglauben, kaum denkbar sind). 5. Ich werde – sozusagen um einen positiven Ausweg zu skizzieren – über die Moral der Brücken (und Diskurse) zwischen Menschen und zwischen divergenten ideologischen Gemeinschaften nachsinnen.

Kapitel 1

Theorie des Glaubensoperators 1. Das Wissenssystem und seine Dynamik Den Begriff des Wissenssystems möchte ich hier rein strukturell betrachten, das heißt: nicht-psychologistisch, also unabhängig davon, ob eine Person, ein Kollektiv oder eine andere beliebige Institution als Träger des Wissens auftritt. Es erscheint prima facie plausibel, daß das Wissenssystem im wesentlichen als Konjunktion (oder Juxtaposition) einer Menge von wahren – oder im Augenblick wenigstens für wahr gehaltenen – Behauptungen anzusehen ist. Es ist ferner eine offensichtliche Erfahrungstatsache, daß Wissenssysteme einer Entwicklung unterliegen: sie wachsen nicht nur, sondern unterliegen auch Transformationen, Korrekturen von Einzelheiten und Umgestaltungen durch Veränderungen der theoretischen Konstruktionen. Es besteht die Aufgabe, eine solche Konzeption des Wissenssystems zu erstellen, welche die Komplexität des modernen Wissenssystems und dessen Dynamik zu explizieren gestattet. Dies führt in erster Linie dazu, daß wir die Annahme aufgeben, ein Wissenssystem sei als einfache Konjunktion wahrer Behauptungen aufzufassen. Das Wissenssystem umfaßt vielmehr Behauptungen verschiedener Natur. Die das Wissenssystem bildenden Behauptungen sind verschieden je nach den Quellen (Gründen) der Thesen und je nach der Gewißheit des Wissens. Das Wissenssystem umfaßt alle logischen Wahrheiten (Tautologien), doch sind diese keine Orientierungsmittel in der realen Welt. Es kommen die semantisch begründeten Thesen

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Kap. 1: Theorie des Glaubensoperators

hinzu, vor allem die formalen Eigenschaften der Relationen. Beispiel: wenn a größer ist als b, b größer als c, dann ist a größer als c. Solche Thesen sind analytisch wahr, wahr gemäß der Begriffsapparatur, mit der wir die Realität erfassen. Sie sind in der Sprache verankert und bestimmen – solange sie fixiert sind – unser Denken über die Realität. Die Unterschiedlichkeit der Elemente unseres Wissens kann durch epistemische Operatoren ausgedrückt werden. Sie drücken einerseits die Verschiedenheit der Quellen der Wissenselemente aus und andererseits den Gewißheitsgrad der Thesen. Die Kritik und eventuelle Revision der Elemente des Wissens hängt in erster Linie von der gnoseologischen Charakteristik der Thesen ab. Die logischen Thesen sind Instrumente zur Bearbeitung von Erfahrungsdaten. Sie können auch problematisiert und eventuell umgestaltet werden. Es können unterschiedliche Systeme entwickelt werden, z. B. mehrwertige Logiken, und es kann eine Semantik entwickelt werden, welche neben Aussagesätzen Kategorien praktischer Sätze einführt. Es können Systeme des praktischen (d. h. handlungsbezogenen) Denkens dargestellt werden. Dies ist für die Konstitution des Handlungsbegriffes und die Darstellung der entscheidungs- und handlungsbestimmenden Operationen erforderlich. Das Wissenssystem als ideelles Konstrukt, wird so aufgefaßt, daß neben den akzeptierten Thesen des Systems auch alle logischen Konsequenzen der Wissenselemente zum Wissenssystem gehören. Für das aktuelle Wissen einer gewissen Person gilt dies nicht. Eine Person muß sich dessen nicht bewußt sein, welche logische Konsequenzen aus dem folgen, was sie weiß. Das Wissenssytem unterliegt Veränderungen verschiedener Art. Es wächst durch neue Erfahrungen, verändert sich aber auch durch Korrekturen aufgrund neuer Erfahrungsdaten oder / und aufgrund von Umgestaltungen theoretischer Konstruktionen.

3. Epistemische Operatoren

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2. Die Komplexität des modernen Wissenssystems Das Wissenssystem als modernes Weltbild ist in vielfacher Hinsicht komplex. Es besteht aus unterschiedlichen Systemen, die unter verschiedenen Voraussetzungen und mit verschiedenen Methoden einander überdeckende Sachgebiete behandeln. Vgl. die Theorien des Raumes: euklidische / nicht-euklidische Geometrien, die analytische Methode der Geometrie, oder verschiedene Zutrittsweisen zur Psychologie oder die grundlegend unterschiedlichen Konzeptionen der Sozialwissenschaften. Diese Komplexität ist aber nicht willkürlich, sondern durch Differenziertheit der Betrachtungsweisen und Problemfelder verstehbar: sie ist sozusagen geordnet. Die Dynamik der Wissenssysteme ist schwer in genereller Perspektive zu bestimmen. Neben neu gewonnenen Erfahrungsdaten spielen kritische Prüfung, Konstruktionen und Rekonstruktionen eine wesentliche Rolle.

3. Epistemische Operatoren Epistemische Operatoren drücken das Ergebnis von Reflexionen über den Charakter des Wissens aus, das als Argument des Operators gesetzt wird. Im wesentlichen kommen zwei verschiedene Typen dieser Operatoren in Frage: Operatoren, die den gnoseologischen Charakter des Wissensinhalts ausdrücken, und Operatoren, die den Gewißheitsgrad des Inhalts bestimmen. Die gnoseologischen Operatoren charakterisieren den Inhalte als logische Erkenntnis, als analytisch, als Erfahrungssatz oder als Annahme. Durch diese Charakteristik wird eine unterschiedliche Überprüfungs- und Anwendungsweise des Wissensinhalts bestimmt. Annahmen sind an und für sich keine Wissenselemente; sie bieten keine Tatsacheninformation an, stellen aber die Basis für Möglichkeitsanalysen dar. Und die Orientierung des Men-

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Kap. 1: Theorie des Glaubensoperators

schen als eines handlungsfähigen Wesens benötigt auch Wissen über Mögliches, d. h. über das, was sein kann unter der Annahme gewisser Bedingungen, unabhängig davon, ob diese Bedingungen tatsächlich bestehen (bzw. realisiert) werden. Um Möglichkeiten analysieren zu können, muß man logisch und empirisch erkannte Bindungen (Notwendigkeiten) kennen. Es geht also auch darum, Wissen über Kausalbeziehungen strikter oder / und stochastischer Natur zu kennen. Wissenssysteme überschreiten die Feststellungen dessen, was war, was ist und was sein wird. Sie sprechen auch über Möglichkeiten, die nie realisiert werden. Die Reflexion über Wissensinhalte führt auch zu Erkenntnissen über Gewißheitsgrade des Wissensinhalts. Die Erkenntnis, in welchem Grade ein Wissensinhalt gewiß ist, steht oft in Relation zum epistemischen Typus des Inhalts. Logische und analytische Thesen sind als unbezweifelbar gewiß anzusehen, solange es zu keiner Transformation des logischen bzw. des begrifflichen Systems kommt. Die Gewißheitsfrage stellt sich hauptsächlich im Bereich der empirischen Erkenntnisse. Sie betrifft sowohl Einzeldaten (vgl. das Problem der Protokollsätze) als auch allgemeine Regeln über das Verhalten von Gegenständen und Systemen. Die Beurteilung der Gewißheit tritt einerseits als intuitive Überzeugung auf (man meint, keinen Zweifel oder mehr oder weniger Zweifel zu hegen) oder der Gewißheitsgrad wird unter gewissen Bedingungen meßbar, z. B. bei Überlegungen über den Konfirmationsgrad. Besonderheiten sind mit dem Begriff des axiomatischen Systems verbunden. Es wird eine Klasse von Sätzen (die Axiome) vorausgesetzt, die untereinander widerspruchsfrei sowie von einander unabhängig sind, und es sind Transformationsregeln gegeben, wie aus gültigen Prämissen gültige Sätze abgeleitet werden können. Die Geltung der Sätze des Axio-

4. Das Problem der Objektivierung von Wissenssätzen

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mensystems werden als feststehend angesehen. Ob das System eine adäquate Beschreibung eines realen Bereichs bedeutet, ist immer Gegenstand der empirischen Prüfung. Es muß geprüft werden, ob die Axiome Tatsachen des Bereichs beschreiben und ob die Folgerungen auch tatsachengetreu bleiben. 4. Das Problem der Objektivierung von Wissenssätzen Interessant ist die Frage, ob aus dem Satz „S (ein Wissenssubjekt) weiß, daß p“, der Satz „p“ abgeleitet (begründet) werden kann. Mit anderen Worten: Ist die Objektivierung der Wissensaussage möglich?1 Wissensaussagen können als Selbstreflexion des Wissenssystems über einen Satz des Wissenssystems aufgefaßt werden oder als Feststellung eines anderen Systems über das Wissen eines betrachteten Wissenssystems. Im Falle der Selbstreflexion kann man das, was man zu wissen meint – „p“ – nach Kriterien beurteilen, welche die These als wohlbegründet erscheinen läßt. Ist „p“ ein logisch gültiger Satz, dann bietet er keine Tatsacheninformation an, und eine Objektivierung steht nicht zur Diskussion. Ist „p“ analytisch, d. h. durch Sprachregeln bestimmt – wie z. B. die formalen Eigenschaften von Relationen (z. B. „Die Relation ‘größer‘ ist asymmetrisch.“) –, besteht auch kein Problem der Objektivierung, solange man das Sprachsystem nicht in Frage stellt. Ist „p“ aber eine Erfahrungserkenntnis, dann wird man der Meinung, daß p der Fall ist, Wissensqualität zusprechen, wenn die Erkenntniskriterien des Systems erfüllt sind. Dieses Wissen bleibt systemgebundenes Wissen-Meinen („meinen zu wissen“ im Sinne der Kriterien des Wissenssystems). Zur Begründung der Objektivierung von „p“ im Sinne einer system1 Vgl. O. Weinberger, Wissensaussage und die Unmöglichkeit ihrer Objektivierung, Grazer philosophische Studien, Vol. 1 – 1975, S. 101 – 120.

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Kap. 1: Theorie des Glaubensoperators

unabhängigen objektiven Wahrheit von „p“ besteht keine Basis. Auch das Wissen als Selbstreflexion im Wissenssystem bleibt höchstens beim wohlerwogenen „Meinen zu wissen“. Auch die Betrachtung des Wissens vom Standpunkt eines anderen Wissenssystems fundiert keine Objektivierung. Wenn ein Wissenssystem über einen Träger S eines anderen Wissenssystems des Subjektes S1 behauptet „S weiß, daß p“, so wird es diese Behauptung nur dann gelten lassen, wenn „p“ nach Wissen des beurteilenden Systems wahr ist. Diese Bedingung des Meinens zu wissen des Subjektes S1 bildet aber wieder keine Basis für die Objektivierung von p aus der Behauptung „S weiß, daß p“, denn das Kriterium für die These, daß S nicht nur p meint und zu wissen meint, sondern damit auch die Wahrheit trifft, ist Wissen-Meinen im beurteilenden System, und daher keine Basis für eine systemunabhängige Objektivierung der Behauptung „p“.

5. Der Glaubensoperator: Sinn und Kraft des Glaubenssatzes Das Verbum „glauben“ ist in der Umgangssprache mehrdeutig. Es wird in unterschiedlichen Satzgefügen verwendet: „etwas glauben“ (ungefähr im Sinne von „vermuten“, „mutmaßen“, „meinen“, . . . ), „jemandem glauben“ (ungefähr im Sinne „den Mitteilungen einer gewissen Person Glauben schenken“, „vertrauen auf die Wahrheit ihrer Mitteilungen“). Überlegungen über die Varietät der Bedeutung dieses Verbums lasse ich bei Seite. Ich analysiere hier nur, was es heißt zu glauben im Sinne von religiösem Glauben des Einzelnen oder einer Religionsgemeinschaft. Glauben in diesem Sinne kann als besonderer epistemischer Operator aufgefaßt werden. Es geht nun darum, den Sinn und die argumentative Kraft von Glaubenssätzen zu bestimmen.

5. Der Glaubensoperator: Sinn und Kraft des Glaubenssatzes

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Von zwei Gesichtspunkten aus kann diese Problematik in Angriff genommen werden: 1. Man kann die Frage stellen: Unter welchen Umständen kann man Glaubenssätze ohne sacrificium intellectus als solche akzeptieren? Die berühmte Kantsche Formel, mit der er das religiöse Denken charakterisiert, verstehe ich in diesem Sinne: „Was darf ich glauben, und daher hoffen, ohne das vernünftige Denken aufzugeben?“ 2. Man kann die argumentative Kraft von Glaubenssätzen untersuchen. Sind sie selbst von solcher Art, daß gilt: „contra propositionem fidei non valet argumentum“, wie J. M. Bochen´ski in seiner „Logik der Religion“ meint (S. 75), oder steht man immer vor dem Problem der Glaubbarkeit der Glaubensthesen, ggf. vor dem Problem der Akzeptabilität der Interpretation der Glaubensthese. Gerade hermeneutische Überlegungen zwingen uns, Glaubenssätze als Mitteilungen im Horizont des Wissens der jeweiligen Zeit zu konzipieren. Das impliziert nicht nur die Zulässigkeit, sondern auch die Notwendigkeit der hermeneutischen Kritik. Man muß dann auch die argumentative Kraft der Glaubenssätze für die Behandlung theoretischer und praktischer Probleme prüfen. Für den modernen Menschen stellt sich – sobald er das Glaubensproblem ins Auge faßt – die Frage der Beziehung zwischen Wissen und Wissenschaft auf der einen Seite und Glaubenssätzen auf der anderen. Eine mögliche Antwort ist die Theorie der doppelten Wahrheit. Das Nebeneinanderbestehen zweier „Wahrheiten“ je nach der Quelle und Begründungsweise – . . . secundum rationem oder secundum fidem – ist für einen modernen Denker nicht akzeptabel. Eher schon die Meinung, daß es um Wahrheiten verschiedener Bereiche gehe. Doch auch diese Auffassung löst das wesentliche Problem nicht, nämlich das Problem des Platzes des Glaubens im (oder neben dem) wissenschaftlichen Weltbild. In die ganz falsche Richtung gehen m.A.n. Auffassungen vom Typus „Credo quia absurdum“. Irrationalität ist kein Argument für „glauben“, sondern nur die Erkenntnis der Grenzen möglichen Wissens kann dem Glauben einen Platz einräumen.

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Kap. 1: Theorie des Glaubensoperators

Der Glaube findet seine Stütze nicht mehr in Gottesbeweisen, die nach der Aufklärung jede Überzeugungskraft verloren haben, sondern man diskutiert die abstraktere Frage, ob die Welt, das reale Sein, das Ergebnis eines Projekts, also Effekt einer Schöpfungsintention ist.2 Diese Frage betrifft den Glauben im kirchlichen Sinne ebenso wie das Glauben in philosophischer Sicht. Wenn wir das Geschehen in der Welt – sei es im Bereich des Lebens oder anderer Entwicklungen – betrachten, dann läßt sich an den Prozessen nicht erkennen, ob sie intentional gesteuert sind oder nicht. Wenn ein Subjekt eine Absicht hat, realisiert sie diese durch Einsatz von Mitteln bzw. von Handlungsprogrammen, die ursächliche Bindungen nutzen. Wenn nun Prozesse vor sich gehen, können wir sie beobachten – z. B. das Auftreten von Mutationen und die tatsächliche Selektion aufgrund von Lebensvorteilen, welche gewisse Mutationen bieten, feststellen, wir haben aber keine empirische Grundlage für die Entscheidung, ob der Prozeß „Mutation – Selektion“ intentional veranstaltet ist oder nur de facto besteht und Entwicklungseffekte hervorbringt. Es geht also um durch die Situationsanalyse begründete Unentscheidbarkeit, ob die Welt und das beobachtbare Geschehen Projekt ist oder als Geschehen ohne Intention und Lenkung vor sich geht. Ob es angemessen ist, diese Unentscheidbarkeit als Agnostizismus zu bezeichnen, bleibt offen. Es ist etwas mehr als ein bloßes „Ich weiß nicht“; es besagt auch, daß durch Erfahrung nicht entschieden werden kann, ob der Prozeß intentional gesetzt ist; und ob es andere hinreichende Gründe für die eine oder andere Meinung gibt, bleibt Sache der metaphysischen Konstruktion. 2 Vgl. J. Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 19752; ferner: C. Weinberger, Evolution und Ethologie, Wissenschaftstheoretische Analysen, Wien / New York 1983, S. 124 f.

5. Der Glaubensoperator: Sinn und Kraft des Glaubenssatzes

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Die meisten Glaubenssätze sind konkreteren Inhalts. Z. B. daß ein gewisser Mann Prophet Gottes ist. Die Glaubenssätze werden von den Theologen meist als unbedingt wahr angesehen und als gültig im Komplex, als Gesamtheit. Manche sehen darin eine Verwandtschaft mit Axiomensystemen. Ich halte dies für unangemessen: Axiome und Thesen des Axiomensystems haben ihre „Wahrheit“ nur relativ zum axiomatischen System; ob ein solches System eine vorschwebende Realitätssphäre adäquat beschreibt, bleibt der Prüfung anheim gestellt. Ein solches Infragestellen der Glaubenssätze würden die Theologen nicht akzeptieren. Für einen unvoreingenommenen (bzw. weltlichen) Betrachter bleibt es weitgehend problematisch, ob der Komplex von Glaubenssätzen als Gesamtheit akzeptiert werden muß. Wenn man an Gott (einen Schöpfer) glaubt, muß man auch an Teufel und Engel glauben? Das scheint irrational, höchstens als Akzeptanz aufgrund von Autorität begründbar, und daher ein kaum akzeptables sacrificium intellectus. Jedermann steht vor der Frage, wie Glaubenssätze im Horizont des aktuellen Lebens gedeutet und eventuell adaptiert werden können oder sollen. Der Fundamentalismus entflieht keineswegs dieser Problematik, sondern er antwortet rückschauend auf die Ursprungszeit. Es scheint mir zweifelhaft, ob dies ein rational akzeptabler Standpunkt ist. Er ist auch pragmatisch inadäquat, denn die Weltsicht und das Sollen müssen sich den aktuellen Gegebenheiten anpassen. Deutung in historisch variablen Horizonten ist wohl unvermeidlich. Strittig bleibt, ob – oder inwieweit – Glaubenssätze wörtlich oder eher metaphorisch zu verstehen sind. Und ob alle Thesen des Glaubens als Gesamtheit zusammen akzeptiert (geglaubt) werden müssen. Für philosophische Selbstdenker ist es inakzeptabel, Glauben als unteilbare Ganzheit anzusehen. Bei religiösem Glauben und ähnlichen Systemen besteht immer das Problem, daß der Glauben als ganz persönliche Lei3 Weinberger

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Kap. 1: Theorie des Glaubensoperators

stung des Einzelnen verstanden wird, aber gleichzeitig die Gemeinschaft ein gemeinsames Konzept darstellen will, welches – bildlich gesprochen – als geistiges Band wirken soll. Das Problem der inneren Toleranz stellt sich also mit Notwendigkeit in allen religionsartigen Glaubensgemeinschaften. Es kommt daher gerade bei den geistig aktivsten, sozusagen den „Selbstdenkern“ unter den Angehörigen der Gemeinschaft, zu Konflikten mit den leitenden Institutionen der Gemeinschaft. Schlagwortartig kann man sagen: Glauben wird eher als Wissen denn als Suchen dargestellt. Wenn der philosophische Betrachter diese Tatsache beobachtet, erscheint ihm die Vorgangsweise, Glauben als Wissen zu behandeln, im Widerspruch mit der faktischen Conditio humana. Ich bin der Meinung, daß das Toleranzproblem zwischen den Religionen schon in der Frage der inneren Toleranz seine Wurzeln hat. Wie und was man glaubt, wird zur Wahrheitserkenntnis umgedeutet und daher als Glaubenspflicht statt als Sinn-Suche hingestellt. Da Glaubenssätze Mitteilungen sind, besteht immer das Problem der Deutung, und dies ist den religiösen Denkern nach der Aufklärung auch bewußt. Eine interessante Richtlinie für das Deuten religiöser Thesen hat Kant postuliert. Die Deutung von Glaubenssätzen, soweit ihnen eine handlungsbestimmende Rolle zukommt, darf nicht dem Sittengesetz widersprechen. Wenn man wie Kant eine eindeutige Bestimmbarkeit der Moral voraussetzt, dann ist es plausibel, daß die richtige Deutung der Glaubenssätze nicht dem Sittengesetz widersprechen darf. Wenn man jedoch den kategorischen Imperativ nicht als eindeutig bestimmend ansieht – weil man Verschiedenes als allgemeine sittliche Maxime wünschen kann –, dann bleibt von dieser Deutungsregel nur übrig, daß man bei der Deutung handlungsrelevanter Glaubenssätze auf die prinzipielle Akzeptabilität des geglaubten Sollens achten muß. Die Situation wird hier aber kompliziert: der Deutende wird nicht nur dazu geführt, den Glau-

5. Der Glaubensoperator: Sinn und Kraft des Glaubenssatzes

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benssatz als moralische Richtlinie zu sehen, sondern er wird durch sein Deuten in gewissem Sinne zum Richter darüber, was als moralisch gut oder als böse gewertet werden soll. Rationaler Umgang mit Glaubenssätzen ist nicht nur passive Aufnahme von Glaubensmitteilungen, sondern immer auch kritische Arbeit am Glaubensinhalt: d. h. ein Suchen. Glaubensinhalte sind – vor allem in den Buchreligionen – im wesentlichen von dreierlei Art: (a) Sie sind Berichte über historisches Geschehen, also vornehmlich narrativ, wenn auch meist in theologischer Deutung. (b) Sie referieren über menschliche Verhaltensweisen, die als Muster und Maßstab herangezogen werden. Sie sind zwar Erzählung, aber in der Funktion eines wertungsbestimmenden Paradigmas. (c) Sie sind Gebote oder Verbote – wie z. B. die Zehn Gebote. Die Inhalte der ersten Gruppe sollte man ähnlich wie andere historische Daten der Bestätigung oder kritischen Zurechtrükkung unterziehen, denn hier geht es um unmittelbaren Kontakt zwischen Glauben und Tatsachenwissen. Wenn Handlungsweisen als Muster herangezogen werden, geht es weniger um die historische Wahrheit als um die Bestimmung der Lebensform und des Vorbilds. Es fragt sich natürlich, inwieweit diese Vorbilder zeitlose Geltung haben oder dem Heute anzupassen sind. Bei Geboten (Verboten) ist der Imperativcharakter klar, dennoch gibt es Interpretations- und Gewichtungsprobleme. Das Akzeptieren von Glaubenssätzen ist in hohem Maße von Autoritätsverhältnissen bestimmt. Diese Autoritäten sind je nach Umständen mehr oder weniger institutionalisiert: in den Personen von Propheten, heiligen Schriften, Priesterhierarchien oder anerkannten Schriftgelehrten. Soziologisch betrachtet, ist die Wirksamkeit von Autoritäten für das Glauben, 3*

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Kap. 1: Theorie des Glaubensoperators

also für die Akzeptanz von Glaubenssätzen, ein unbestreitbares Faktum. Inwieweit dies mit dem Ideal des Selbstdenkers und der kritischen Deutung, resp. kritischen Prüfung, verträglich ist, bleibt eine offene Frage. Der kritische Denker wird auch gegenüber Autoritäten Zweifel und prüfende Reflexion zulassen. Auch von Autoritäten wird man plausible Begründungen erwarten. Gerade dann, wenn man das Glaubenssystem als Basis moralischer Wertung einsetzt, wird das historische Faktum der oft verheerenden Folgen kirchlicher Stellungnahmen und Maßnahmen manifest. So sehr soziale und andere Standpunkte der Religionsgemeinschaften oft wichtige Beiträge zur aktuellen Politik liefern, sollte man auch vor negativen Auswirkungen, die von geistiger Intoleranz über Aufforderungen zum heiligen Krieg und zu Terroraktionen reichen, auf der Hut sein. Der Inhalt des Glaubens ist eine pragmatisch bedeutende Kraft, die ganz Wesentliches zur Humanität beiträgt. Religiöser Glaube ist vielleicht die stärkste Quelle jener Kräfte, die das enge Utilitätsdenken sprengen und zur Humanisierung der Welt beitragen können. Dies gilt aber m.A.n. nur dann, wenn wir uns darüber im klaren sind, daß Glaubenssätze dem kritischen Diskurs unterliegen und nicht antimoralische Konsequenzen implizieren dürfen. Es scheint mir sinnvoll, den Glaubenssätzen gegenüber eine moralisch prüfende Haltung einzunehmen, und nicht in den religiösen Geboten das Alpha und Omega der Moral zu sehen. Man sollte ferner folgendes Problem nicht außer acht lassen: Religiöse Gebote sind von unterschiedlichem Charakter: sie bestimmen Lebensformen, rituale Akte oder sozial-moralisch Relevantes. Es gibt hier einerseits den Standpunkt, daß jedes Gebot gleichermaßen relevant ist und daß es daher gleich wichtig ist, das sie alle erfüllt werden, andererseits gibt es nach meinem Dafürhalten gute Gründe, den Geboten differenzierend Gewicht zu geben.

5. Der Glaubensoperator: Sinn und Kraft des Glaubenssatzes

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Vom logisch-formalen Standpunkt aus ist jedes Gebot gleichermaßen bindend und die Verletzung des Sollens Grund für Sanktionen (= Unrechtsfolgen). In moraltheoretischen und theologischen Betrachtungen gibt es aber gute Gründe dafür, Gebote (bzw. Verbote) zu gewichten. Speisegesetze oder rein rituale Gebote mit Lug und Trug oder sozialer Ungerechtigkeit in die gleiche Relevanzebene zu setzen, erscheint inakzeptabel. Die Gewichtung des Sollens nach unterschiedlicher Wichtigkeit ist auch von praktischer Bedeutung. In Konfliktfällen ist die Gewichtung entscheidend. Und niemand kann nur Gutes tun; bei der Verfolgung von Zielen lassen sich negative Konsequenzen niemals ganz ausschließen. Der handelnde Mensch ist vor eine Kasuistik der verschieden wichtigen Gebote gestellt, denn der Rigorismus, alles gleichermaßen zu erfüllen, stößt an pragmatische Grenzen umsomehr als unser Entscheiden im Spannungsfeld von Utilitätsüberlegungen und moralischen Geboten vor sich geht. Das System der Glaubenssätze ist ein entscheidender Faktor unseres Handelns und unserer Lebensform. Er sollte aber relativiert gesehen werden, erstens in der Perspektive der kritischen Deutung, zweitens vom moralischen Standpunkt aus diskursiv geprüft werden und drittens oft nur in metaphorischem Sinn verstanden werden.

Kapitel 2

Das Theodizee-Problem 1. Charakteristik des Problems: Grundelemente der Problemsituation Gott wird von den Theologen nicht nur als formaler Schöpfer gesehen, sondern auch durch spezifische – ihm und nur ihm – zukommende Attribute charakterisiert. Er ist allmächtig, allwissend, allgütig. Diese Eigenschaften kennen wir nicht empirisch, d. h. wir sind mit keinen Objekten zusammengetroffen, welche diese Eigenschaften aufweisen. Diese Attribute sind als Maxima der entsprechenden Eigenschaften definiert, die in unserer Erfahrungswelt nur in partieller Ausprägung auftreten. Als universelle Maximalattribute scheinen sie uns durchaus verstehbar und wohldefiniert zu sein. Diese drei Attribute ergänzen sich und es besteht kein ideeller oder sachlicher Konflikt zwischen ihnen. Es ist kein begrifflicher Grund ersichtlich, warum Gott nicht diese Eigenschaften gleichzeitig haben sollte. Das Theodizee-Problem entspringt dem tatsächlichen – oder vielleicht nur vermeintlichen – Konflikt zwischen der vorausgesetzten Allmacht und Allgüte Gottes und der Erfahrungsrealität der Existenz des Bösen in der Welt. Mit dem Begriff des Bösen ist hier jede Form des Bösen – Schmerz, Leid, moralisch böser Wille und böse Tat – gemeint. Das Theodizee-Problem kann also in folgender Weise definiert werden: Wie verträgt sich die Tatsache des Bösen in der Welt mit den Grundeigenschaften des Schöpfers, allmächtig, allwissend und allgütig zu sein? Müßte nicht ein allgütiger

1. Charakteristik des Problems

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und allmächtiger Schöpfer so eine Welt erschaffen haben, in der das Böse keinen Platz hätte? Hier liegt die berühmte Leibnizsche Antwort vor, die zwar die Existenz des Bösen in der Welt nicht leugnet, aber die Meinung vertritt, die Welt sei die beste aller möglichen Welten. Um eine klare Einsicht in die schwierige Theodizee-Problematik zu gewinnen, müssen wir vorerst folgende Fragen erörtern: (a) die Typologie des Bösen, (b) die Frage, was sind mögliche Welten? Wie kann das Mögliche definiert und vom Unmöglichen unterschieden werden? (c) Wie kann die Präferenz zwischen verschiedenen alternativen Welten begründet werden? Erst dann kann man die Frage stellen, wie sich das Theodizee-Problem auf der Basis einer formal-finalistischen Entscheidungs- und Handlungstheorie darstellt. Das Theodizee-Problem stellt sich nicht in jeder religiösen Weltanschauung, z. B. nicht im Buddhismus. Traditionell wird eine gewisse Erklärung durch die Lehre vom Sündenfall und der Erbsünde gegeben, die jedoch philosophisch betrachtet keine befriedigende Lösung darstellt. Der Sündenfall müßte auch in der Anlage des Menschen verankert gewesen sein und daher für Gott vorhersehbar und ihm daher zur Verantwortung zurechenbar sein. Die Idee der Erbsünde ist im Grunde paradox, denn sie schreibt dem Menschen Schuld zu, ohne daß er schuldhaft hätte entscheiden können. Mit der modernen Konzeption der Moral, die auf der Idee autonomer Subjekte aufgebaut ist, ist ererbte Sünde und Strafe für fremdes Verhalten, nämlich für das Verhalten vorangehender Generationen, inakzeptabel.

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Kap. 2: Das Theodizee-Problem

Moderne Theologen werden in der Sündenfallerzählung und der Erbsünde kaum eine befriedigende Antwort auf das Theodizee-Problem erblicken.

2. Versuch einer Typologie des Bösen Lebewesen fristen ihr Dasein in einer polarisierten Welt: manches zieht sie an, weil sie es als lebensfördernd ansehen, anderes stößt sie ab, weil es als gefährdend oder als Verschlechterung ihres Daseins empfunden wird. Das mag eine zu idealistische Deutung sein, aber die Polarität des Kontaktes der Lebewesen mit der Realität, die Reaktion, welche zwischen Anziehung und Abstoßung verläuft, ist nicht zu leugnen. Alle Entscheidungen und Verhaltensweisen des Menschen sind durch diese Polarität geprägt. Es gibt also – bildlich gesagt – Positives und Negatives in unserem Leben. Dieses Negative kann aber nicht einfach mit dem Bösen gleichgesetzt werden. Es sind subtilere Analysen erforderlich. Ein Element des Bösen könnte der Schmerz sein. Ist Schmerz etwas prinzipiell Böses? Nein, Schmerz ist auch ein wichtiges, das Leben schützendes Warnsignal. Schmerz ist in gewissen Situationen auch ein Element des genußvollen Erlebens. Auch der Eros kann mit Schmerz verbunden sein. Mit dem Begriff des Schmerzes ist primär eine körperliche Reaktion oder Empfindung gemeint. Man spricht aber auch von seelischem Schmerz und meint damit negatives psychisches Erleben, Trauer, Leid, Kummer, soweit dieses Erleben als hemmend oder bedrohend für die „gesunden“ Lebensfunktionen betrachtet wird. Leid ist die Bezeichnung für Erlebnisse, die negativ gewertet werden. Leid kann seinen Grund in unserem eigenen Tun oder Lassen haben oder von außen auf uns zukommen. Es ist – so scheint es mir – immer eine Form des Bösen.

2. Versuch einer Typologie des Bösen

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Das Ergebnis unseres Tuns oder Lassens entspricht nicht immer unserer Intention. Das, was in guter Absicht unternommen wurde, kann de facto böse Folgen haben. Diese Tatsache hat Implikationen für die Frage der moralischen Verantwortung. Der Wertung unterliegt primär das Intendierte, doch wird auch Bedacht auf mögliche Abweichung von dem beabsichtigten Erfolg eingefordert. Wo die Grenze des akzeptablen Risikos der Deviation von der Absicht liegt, bleibt eine offene Wertungsfrage. Die Möglichkeit, daß die Ergebnisse unserer Bemühungen von den erwarteten Folgen abweichen können, ist unvermeidlich. Ich glaube aber nicht, daß darin der Kern des Bösen zu suchen ist. Die Möglichkeit der Abweichung des Handlungsergebnisses vom intendierten Effekt ist durch die Tatsache begründet, daß unsere handlungsbestimmenden Informationen zur vollkommenen Absicherung des Handlungserfolges in der Regel nicht ausreichen. Oft handeln wir auf Grund von Wahrscheinlichkeiten. Dabei bleibt immer auch die Möglichkeit bestehen, daß das weniger Wahrscheinliche eintritt. Die Unsicherheit des Erfolges unserer Handlungen gehört zur Conditio humana. Ein wesentliches Moment des Bösen ist das moralisch Böse, dessen Existenz kaum bezweifelt werden kann. Die Lüge, die Fehlinformation um sich Vorteile gegenüber anderen Menschen zu verschaffen, gibt es. Betrug und täuschende Propaganda gehören zu dieser Kategorie des menschlichen Verhaltens. Als moralisch verwerflich kann man die Verletzung moralischer Gebote ansehen, mag sie mit Absicht oder aus Unachtsamkeit geschehen. Die Beachtung moralischer Gebote kommt manchmal mit unserem Streben nach Nutzen in Konflikt. Absoluter Vorrang des Moralischen kann zwar gefordert werden, im praktischen Leben wird jedoch oft ein Kompromiß akzeptiert: des Nutzens wegen wird ein Stück Moral ge-

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Kap. 2: Das Theodizee-Problem

opfert. Wie weit dies geht, hängt von der persönlichen Moralität des Akteurs ab. Unser Handeln führt zu Bösem nicht nur aus Unmoral. Es gehört zur Tragik des menschlichen Daseins, daß auch in guter Absicht Böses zustande kommen kann. Es gibt Böses, das als Kompensation oder Wiedergutmachung begründet ist. Dieses kompensierende Böse tritt in zwei verschiedenen Formen auf: als Buße oder als Strafe. Buße kann als Versuch angesehen werden, Fehlverhalten autonom zu kompensieren. Die Strafe ist Unrechtsfolge in zweierlei Funktion: rückblickend der Wiedergutmachung wegen, und für die Zukunft, um verhindernd zu motivieren. Das für den Akteur Unerwünschte, also das in gewissem Sinne Böse, hat also unter Umständen eine positive, förderliche Funktion. Im Spiel der Handlungsmotivation hat das Negative, die Mangelsituation eine umstrittene Rolle. Im Sinne Schopenhauers ist der Mensch gerade dadurch motiviert, daß er Mangelsituationen zu überwinden sucht. Das, was durch unser Handeln erreicht werden kann, ist die Überwindung der Mangelsituationen, d. h. das Erreichen des Zustands der Bedürfnislosigkeit im Nirvana ist das Optimum des Erreichbaren. Diese Werteskala der Handlungsmotivation führt zu einem gewissen Lebenspessimismus: Bedürfnislosigkeit ist das Beste, was erreicht werden kann. Positivwertiges Erleben über die Bewältigung der Mangelsituationen hinaus gibt es im Rahmen dieses Motivationskonzepts nicht. Es erscheint mir durchaus als realistisch, eine andere Konzeption der Werteskala zu akzeptieren, nämlich eine Skala des positivwertigen und negativwertigen Erlebens. Dann ist Wunschlosigkeit nicht das Optimum, sondern es besteht ein Streben nach positiven Werten.

3. Was sind mögliche Welten?

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Das praktische Leben ist aber nicht ein geradliniges Streben nach den positiven Werten, sondern ein komplexes Suchen und Streben. Es werden positive Werte gesucht; sie sind nicht a priori fixiert. Der positiven Werte wegen werden Mühen und Aufwand akzeptiert. Positive Erfolge ohne Aufwand gibt es nicht. Negatives kann also nicht ganz vermieden werden, wenigstens soweit es Mittel für das Erreichen positiver Werte ist. Dies ist aber keine Begründung der Unvermeidlichkeit des Bösen als solchem. Es ist kaum zu bezweifeln, daß Böses nicht nur als nötiger Aufwand für Gutes existiert. Es kann also die Leibnizsche Frage gestellt werden: Ist die Welt – trotz des unbestreitbaren Bösen in ihr – die beste der möglichen Welten? Ist das Böse trotz der Allgüte und Allmacht Gottes eine Notwendigkeit und nicht ein Widerspruch gegenüber der Zuschreibung der Prädikate Allwissenheit, Allmacht, Allgüte an den Schöpfer?

3. Was sind mögliche Welten? Wie kann das Mögliche definiert und vom Unmöglichen unterschieden werden? Die Frage „Was ist möglich?“ kann in zweierlei Weise verstanden werden. Erstens statisch im Sinne „Was sind mögliche Welten?“, zweitens dynamisch im Sinne „Was kann von einer gegebenen Situation aus erreicht werden?“ Mögliche Welten sind solche Zustände, die durch eine konsistente (d. h. widerspruchsfreie) Konjunktion dargestellt werden können. Das Problem besteht dann nur in der Frage, welche Prädikate zur Beschreibung herangezogen werden. Es sind einerseits Eigenschaften und Relationen, die durch Erfahrung exemplifiziert sind, andererseits Konstrukte, welche der theoretischen Konzeption entspringen. Bei diesen wird eine operationalisierbare Methode anzugeben sein, wie die Erfüllung

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Kap. 2: Das Theodizee-Problem

dieser Konstruktbegriffe getestet werden kann. Z. B. die Behauptung „Dieses Wasserglas ist spröde“ kann Element der Vermutung sein, wenn Bedingungen statuiert sind, wie diese Behauptung getestet werden kann. Es muß durch Erfahrung belegbar sein, daß Gegenstände dieser Art bei Stoß oder Fall mit großer Wahrscheinlichkeit zerbrechen. Das Mögliche im dynamischen Sinn ist abhängig von kausalen Beziehungen. Dies kann strikte oder wahrscheinliche Ursächlichkeit sein. Das Wissen über Mögliches, die Fähigkeit, zwischen dem, was möglich, und dem, was unmöglich ist, zu unterscheiden, transzendiert die positive Beschreibung der aktuellen Wirklichkeit, d. h. des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschehens. Für das handlungsbestimmende Denken ist die Betrachtung über Mögliches – und die Erkenntnis des Unmöglichen – unerläßlich. Die Handlungsentscheidung ist ein Wählen zwischen Möglichkeiten. Wenn wir uns entscheiden, a, nicht aber b zu tun, müssen wir die wahrscheinlichen Folgen von a und von b vor Augen haben, sie werten und uns für die höhergewerteten Konsequenzen entscheiden. Das handlungsbezogene Denken hat es mit Possibilitäten zu tun und kann sich nicht auf das Feld existierender Tatsachen beschränken. Beide Typen von Möglichkeiten – Möglichkeit als mögliche Welten ebenso wie Möglichkeit als das von einer Ausgangsposition Erreichbare – sind abhängig von Strukturerkenntnissen der Realität. Es geht nicht nur um Beschreibungen, sondern um Struktur- und kausale Bindungserkenntnisse. Gerade die Tatsache, daß das Wissen Grundlage des Wählens, des Entscheidens und Handelns ist, schließt es aus, das Wissenssystem als bloße Summe von Erfahrungsdaten anzusehen (dies bezeichnet Popper als „Kübeltheorie“); das Wissenssystem ist vielmehr auf Orientierung in der Welt ausgerichtet, was das Erfassen von notwendigen Bindungen zwischen Erscheinungen bzw. Vorgängen in der Welt umfaßt und alternative Möglichkeiten der Verhaltenstrajektorie zu denken gestattet. Es

4. Präferenz zwischen alternativen Welten?

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gilt das Primat der Praxis im erkenntnistheoretischen Sinne: die Erkenntnis wird als mögliches Instrument des Entscheidens und Handelns aufgebaut. 4. Wie kann eine Präferenz zwischen alternativen Welten begründet werden? Handlungsfähige Subjekte werten mögliche Verhaltensalternativen und deren erwartete Folgen und entscheiden sich nach dem Ergebnis dieser Wertungen für eine Handlungsweise. Diese Akte des Entscheidens existieren, mögen sie rationalanalytisch oder eher gewohnheitsmäßig bestimmt sein. Es geht nun aber darum, die rationale Struktur der Wertung alternativer Welten, zwischen denen der Handelnde entscheidet, zu charakterisieren. Man kann davon ausgehen, daß der Handelnde gewisse Ziele verfolgt und Zustände der Welt – d. h. mögliche Welten wertet. De facto sind die Ziele und Wertmaßstäbe dem Akteur nicht immer explizit und klar bewußt. Das rationale Modell nimmt dies aber zum Zweck der Analyse an. Der Akteur verfolgt eine Menge von Zielen, denen er verschiedenes Gewicht zuschreibt und die auch mit unterschiedlichen zeitlichen Koordinaten auftreten. Bei der Wertung der Handlungsalternativen treten meist nebeneinander verschiedene Kriterien in Erscheinung, nach denen der erwartete Handlungseffekt ebenso wie der Aufwand beurteilt werden. In der Tat kann die Handlungsüberlegung nur Teilmomente in Erwägung ziehen. Das Tun und Lassen der Handlungssubjekte – seien es Einzelpersonen, Kollektive oder andere institutionelle Handlungsträger –, agieren zu einem großen Teil gewohnheitsgemäß, d. h. nach etablierten Schemen, die allerdings ihre teleologische Struktur in sich tragen und die auch gegebenenfalls umgestaltet werden; daneben werden neue Ziele gesetzt und Programme (Mittel) zu deren Realisierung er-

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Kap. 2: Das Theodizee-Problem

dacht und gewertet. Der vorschwebende Zielzustand erfordert einen gewissen Aufwand (Arbeit, den Einsatz von Mitteln) und hat in der Regel auch Nebenwirkungen, die mit ins Kalkül genommen werden müssen. Die rationale Handlungsentscheidung strebt nach Maximierung (Optimierung) der Zielbefriedigung und nach der Minimierung des Aufwandes; die Abwägung zwischen möglichen Handlungsalternativen erfolgt unter Berücksichtigung der zu erwartenden Nebenwirkungen, die selbst mehr oder weniger erwünscht oder unerwünscht sein können. Die tatsächlichen Analysen, welche den Handlungsentscheidungen zu Grunde liegen, sind keine strikten Optimierungen, sondern nur Annäherungen, da der Akteur immer nur partielle Informationen zur Verfügung hat. Er hat kein vollständiges Bild aller Handlungsmöglichkeiten, kennt nur einen Ausschnitt der möglichen Mittel und die Folgen ihres Einsatzes nur mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit. Auch disponiert er nicht über klare Vorstellungen über alle – eventuell sehr entfernten – Nebenwirkungen. Trotz aller Unsicherheiten, mit denen wir leben müssen, ist die rationale und wertende Analyse die Basis eines vernünftigen Lebens. Abschließend möchte ich noch auf einen Unsicherheitsfaktor aufmerksam machen. Die Wertung in der Entscheidungsüberlegung ist zwar durch Vorerfahrungen gestützt, sie ist aber prinzipiell vorausgesetzte Wertung. Die späteren faktischen Werterlebnisse müssen sich mit den erwarteten nicht immer vollkommen decken.

5. Das Theodizee-Problem in formal-finalistischer Handlungstheorie

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5. Das Theodizee-Problem in der Sicht einer formal-finalistischen Handlungstheorie (1) Existiert Böses in der Welt?

Obwohl die Bestimmung des Guten und Bösen in der Welt von den akzeptierten Maßstäben, die weitgehend strittig sind, abhängt, kann kaum daran gezweifelt werden, daß in der Realität Böses existiert, und zwar nach allen sinnvollen Maßstäben. (a) Es gibt Schmerz in verschiedenen Bereichen, und zwar sicherlich oft auch dort, wo er nicht als Warnzeichen eine positive Funktion hat. (b) Unsere Lebenserfahrung zeigt Leid als häufiges Schicksal des Menschen; es mag verschuldet oder unverschuldet sein. Not, Aussichtslosigkeit der Lebensposition oder quälende Krankheit und Verluste, die schwer zu tragen sind, gehören zu unserem Leben. (c) Wer hat es nicht erlebt, daß seine gut gemeinte Handlung ganz ins Negative umgeschlagen ist? Auch gute Absicht führt manchmal zum bösen Ende. Es gibt zweifellos auch Böses ohne Absicht und Verschulden des Akteurs. (d) Auch die moralischen Maßstäbe mögen umstritten sein. Aber nach allen als sinnvoll erscheinenden Moralprinzipien tritt moralisch Böses auf. Es geht nicht nur um Ungewißheit über das moralisch Richtige, sondern auch unter der Voraussetzung der Geltung oder Akzeptanz gewisser Prinzipien kommt es nicht immer zur Erfüllung des entsprechenden Sollens. Das (moralisch) Gute zu kennen, bedeutet nicht es zu erfüllen. Die subjektive Utilität resultiert manchmal gerade aus der Verletzung der moralischen Pflicht. Und es ist unleugbar, daß Menschen oft Vorteile suchen unter Mißachtung dessen, was sie als moralisch anerkennen. (Vgl. Kants Begriff der ungeselligen Geselligkeit.) Oft wird auch aus Schwäche oder Unachtsamkeit gesündigt.

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Kap. 2: Das Theodizee-Problem

Ein breites Feld moralischer Probleme liegt im Bereich der Informationsverzeichnung. Dieses Problem, beim Tausch durch Täuschung Sondervorteile zu erlangen, nimmt in der heutigen Informationsgesellschaft neue Dimensionen an. Die Idee der demokratischen Willensentscheidung im politischen Leben wird unterlaufen durch Propaganda. Die Menschen äußern zwar ihren Willen, doch der wird oft tendenziös vorgeformt durch systematische Propaganda, oft mit problematischer Tendenz. Die Informationsgesellschaft öffnet Möglichkeiten moralisch problematischer Einwirkungen. Die modernen Informationsstrukturen erweitern zwar das Blickfeld, sie eröffnen aber auch unter Umständen neue Wege des Bösen.

(2) Die Bindung der Möglichkeit und Unmöglichkeit an Strukturrahmen

Ich habe zwei Bereiche der Möglichkeitserwägungen unterschieden: mögliche Welten und Erreichbarkeit von Dingen oder Zuständen ausgehend von einer Ausgangsposition. Die Feststellung, was möglich und was unmöglich ist, ist in beiden Fällen von Strukturrahmen abhängig. Mögliche Welten sind Sachverhaltskonstellationen, die durch die als relevant gesetzten Prädikate bestimmt sind und durch das logische Postulat der Konsistenz (Widerspruchsfreiheit): eine Konjunktion (oder Juxtaposition) von Aussagen über die Welt stellt eine mögliche Welt genau dann dar, wenn in der Beschreibung keine Behauptung Fx zugleich mit ihrer Negation – Fx enthalten ist. Die Möglichkeit, von einer Ausgangssituation einen gewissen Zustand zu erreichen, hängt vom Repertoir der möglichen Maßnahmen und ihrer gesetzmäßigen Folgen ab. Die Festlegung des Strukturrahmens – der relevanten Prädikate oder der Gesetzmäßigkeiten – ist im Rahmen der Natur-

5. Das Theodizee-Problem in formal-finalistischer Handlungstheorie

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erkenntnis ein Ergebnis der Erfahrung, eine Kombination von Mutmaßung und Verifikation. Wenn man die Idee der Möglichkeiten als Grenze der Schöpfung setzt, wird die Sache aber problematisch. Es bleibt das Postulat der logischen Konsistenz jeder möglichen Welt (also auch jeder Welt, die der Schöpfer hervorbringen konnte) bestehen. Aber es ist denkbar, daß andere Prädikate und Relationen sowie andere kausale Bindungen hätten geschaffen werden können als jene, die wir aus der Erfahrung kennen.

(3) Die Unterscheidung der Wertesysteme des Individuums, von Gruppen und eines Schöpfers

Nach Auffassung der formal-finalistischen Theorie hat das Werten und das auf die Wertung sowie Präferenzen gestützte Entscheiden eine gewisse rationale Struktur, in der jedoch unterschiedliche Wertestandards und unterschiedliche Präferenzen zur Geltung kommen können. Was der Einzelne in welchem Maße für wertvoll hält, wie er relativ wertet, d. h. Präferenzen setzt, unterscheidet sich von den Wertungen der Gruppe bzw. der Institution, der er angehört. In der Regel beachtet die gemeinschaftliche Wertung die Präferenzen der Mitglieder der Gemeinschaft, aber nicht immer und nicht immer in vollem Ausmaß. Der Einzelne schätzt z. B. die Arbeitszeitverkürzung, die Institution des Betriebes aber eher die Verlängerung. Die Beziehung der Wertungen und Präferenzen der Gruppe oder Institution und der Werteinstellungen ihrer Mitglieder ist meist normativ reguliert: die moralische Einstellung der Individuen berücksichtigt deren Rolle in der Gemeinschaft, und die gemeinschaftliche Wertung strebt auch Zufriedenheit, d. h. Optimierung der Bedürfnisbefriedigung, ihrer Mitglieder an. Wie die Beziehungen zwischen individueller und gemeinschaftlicher Wertung gestaltet sind, hängt hauptsächlich von 4 Weinberger

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Kap. 2: Das Theodizee-Problem

zwei Momenten ab: von der Gegenstandssphäre, um die es geht, und der politischen Auffassung (vgl. die Gegenüberstellung von liberalistischem Individualismus und kollektivistischen Einstellungen). In der modernen Gesellschaft wird die Wertung, welche gesellschaftlichen Entscheidungen und der gesellschaftlichen Lenkung zugrunde gelegt wird, oft Experten oder Expertenteams überantwortet: Prüfungen von Studenten, Beurteilung von Projekten u.ä. Die Experten wissen Bescheid über die Sachverhalte, über die möglichen bzw. wahrscheinlichen Folgen möglicher Handlungen, ebenso wie über die Wertung der Ergebnisse und Folgen. (Die Kluft zwischen erwartetem Wertergebnis und faktischem Nutzen soll durch die Erfahrung der Experten überwunden werden.) Da die Experten verschieden orientiert sein können, gibt es auch in Expertenteams oft wesentlichen Meinungsstreit. Wie steht es nun aber mit der Ziel- und Präferenzorientierung eines Schöpfers in Relation zur Wertung der Menschen? Es ist offensichtlich, daß die Wertungen von der Warte des Schöpfers nicht identisch sein müssen mit den eigenen Wertungen der Einzelnen, der Gruppen oder der Institutionen. Auch wenn vorausgesetzt werden darf, daß ein allgütiger Gott das Beste für die Geschöpfe wünscht, folgt aber daraus nicht, daß der Schöpfer das, was die Geschöpfe wünschen, als das für sie Beste ansieht. Es ist also logisch durchaus nicht so, daß alles das, was der Mensch als erwünscht erachtet, auch gemäß göttlicher Wertung das Beste für die Geschöpfe ist (sein muß). Es kann also sehr wohl gute Gründe geben, daß auch in der besten der möglichen Welten einiges auftritt, was die Geschöpfe selbst als Böses empfinden, was aber höherer Wertung nach – d. h. im Sinne des Schöpfers – auch für die Menschen Gutes, und nicht Böses darstellt. Es ist also theoretisch eine Basis gegeben, daß es denkbar ist, daß trotz der Existenz des Bösen die Welt, wie sie tatsächlich ist, die bestmögliche ist, weil das, was den Menschen in

6. Höhere Begründung des Bösen – Böses zum Besten der Geschöpfe

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deren subjektiver Perspektive als Böses erscheint, für sie nach höherer Einsicht besser ist, als wenn dieses subjektiv als Böses Empfundene nicht da wäre.

6. Höhere Begründung des Bösen – Böses zum Besten der Geschöpfe Vollkommene und letzte Einsicht in die Wertungsweise des Schöpfers ist uns nicht gegeben. Dennoch versuchen einige Autoren in theologischen und philosophischen Betrachtungen Gründe aufzufinden, die das Böse in der Welt (nämlich nach menschlichem Dafürhalten) als von höherem Standpunkt als gerechtfertigt und als verträglich mit der vorausgesetzten Allmacht und Allgüte des Schöpfers darzustellen. Das wesentliche Moment, welches als Grund der Unvermeidbarkeit des Bösen, und zwar zu Gunsten des Menschen angegeben wird, ist die Konstitution des Menschen als eines handelnden Wesens. Leben – und insbesondere Leben in Verbindung mit Handlungsfähigkeit – ist positives und negatives Werten sowie Vorziehen. Dies zeigt sich in der Reaktionsweise aller Lebewesen: es gibt hier die Reaktion der Anziehung und die Reaktion des Meidens und Abstoßens. Wenn wir Menschen in den Genuß des sogenannten freien Willens kommen sollen, dann müsse man im Feld von „gut“ und „böse“ entscheiden. Und da der freie Wille die essentielle Eigenschaft ist, welche die menschliche Würde konstituiert, sei die Existenz des Bösen notwendige Vorbedingung der menschlichen Fähigkeit zu handeln und des freien Willens. Obwohl es nicht möglich ist, in die Wertung des Schöpfers einzudringen und menschliche Maßstäbe für das im höheren Sinne für die Geschöpfe Optimale anzuwenden, scheint die Argumentation, daß nur unter Voraussetzung der Existenz des Bösen freies Wollen möglich sei, nicht überzeugend. Präferenzen, und damit auch das zur Handlung führende Wählen, muß 4*

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Kap. 2: Das Theodizee-Problem

nicht zwischen „gut“ und „böse“ stattfinden, es kann auch zwischen „gut“ und „besser“, „schlecht“ und „schlechter“ stattfinden. Handeln und sogenannte Handlungsfreiheit ist also nicht an die Existenz des Bösen gebunden. Die Rechtfertigung der Existenz des Bösen stützt sich vor allem auf das freie Handeln, welches informationsgeleitetes Wählen ist. Es setzt das Präferieren voraus, nicht aber – wie ich schon gezeigt habe – die Existenz von Leid, Unmoral und anderen Formen des Bösen. Die Existenz des Bösen ist nicht Vorbedingung der freien Handlung und hierdurch der Würde des Menschen, aber das Bewußtsein von der Existenz des Bösen hat institutionelle Konsequenzen. Es gibt Institutionen zur Bekämpfung des Bösen und zum Schutz gegen das Böse. Wir unterstützen Menschen, von denen wir moralisches Verhalten erwarten können. Es besteht kein ursächlicher Automatismus, daß gutes Verhalten subjektives Glück bringt, verwerfliches Verhalten immer für den Handelnden nachteilig ist, aber es gibt gesellschaftliche Institutionen, die moralisches Verhalten honorieren.

Kapitel 3

Moralische Kausalität Das Handeln ist ein Bewirken von Ereignissen oder Zuständen nach Maßgabe der Zielsetzungen und unter Ausnützung der Kenntnis kausaler Zusammenhänge. Wer Hunger hat, wird Nahrung suchen oder zubereiten. Die praktische (d. h. handlungsrelative) Einstellung kommt hier einzig und allein in der Setzung der Ziele und in den Präferenzen bei der Auswahl möglicher Mittel bzw. Handlungsprogramme zur Geltung. Was als Mittel oder Handlungsprogramm in Frage kommt, ist durch Kausalrelationen bestimmt. Die Präferenzen, welche die Auswahl der Mittel und Wege aus der Klasse der möglichen Vorgangsweisen bestimmen, sind Effektivität des Mitteleinsatzes, Gewißheit oder Unsicherheit des Erfolges und / oder Aufwand, der mit der Beschaffung der Mittel verbunden ist. Wenn man moralische, religiöse oder rechtliche Gesichtspunkte mit ins Spiel bringt, tritt eine ganz andere Dimension ins Blickfeld: die Beurteilung der Handlungen in ihrer Auswirkung auf das Leben des Akteurs und ggf. der Gesellschaft.

1. Gut und Böse als Glückseligkeit des Handelns und als analytische Sollenswahrheiten Für die praktische Beurteilung gilt: Man soll das Gute tun, das Böse unterlassen. Dieser selbstverständliche Grundsatz ist gleichsam eine analytische Sollenswahrheit, die uns jedoch nicht sehr weit bringt. Unser Handeln als Gesamtheit ist nicht nur moralisch, religiös und rechtlich determiniert, wir streben auch Nutzen (Zweckerfüllung) an, der (die) außermoralisch

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Kap. 3: Moralische Kausalität

motiviert ist. Der Effekt des Handelns ist nicht nur Gegenstand der moralischen Wertung, nicht nur Anlaß für ein moralisches Placet oder ein moralisches Non-Placet. Immanuel Kant hat dies klar erkannt und durch seinen Begriff des höchsten Guts zum Ausdruck gebracht; neben dem moralisch vollkommenen Willen wird Glückseligkeit gesucht und gefordert. Glückseligkeit (oder moderner gesagt: ein adäquat erfülltes Leben) als Würdigkeit glücklich zu sein, ist durch Moralität allein nicht gewährleistet. Das höchste Gut – die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit mit faktischer Glückseligkeit – ist für Kant ein Wunschtraum, keine aktuelle Realität, wie er klar verstanden hat. Als „moralische Welt“ bezeichnet Kant die Welt sofern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß ist. Die moralische Welt wird bloß als intellegible Welt gedacht, weil hierbei von allen Zwecken sowie Hindernissen der Moralität abstrahiert wird. Es gilt das moralische Gebot „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“. Die „notwendige Verknüpfung der Hoffnung glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die Vernunft nicht erkannt werden, . . . sondern darf nur gehofft werden.“ Für Kant besteht das Ideal des höchsten Guts in dem Verhältnis zwischen Sittlichkeit – als Würdigkeit glücklich zu sein – und der tatsächlichen Glückseligkeit. Das Ideal des höchsten Guts ist also für Kant eine Hoffnung, ein metaphysischer Traum.1 Das religionsphilosophische Denken bewegt sich – wie ich meine – weitgehend in Überlegungen, welche die Glückseligkeitseffekte des Handelns und der Moral betreffen. Ich bezeichne diese Sichtweise als „moralische Kausalität“; sie sucht religiöse Grundsätze durch Hinweis auf Glückseligkeitseffekte zu begründen, nahezulegen und zu verkünden. 1 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Methodenlehre. II. Hauptst. II. Abschn., Philosophische Bibliothek, Bd. 37, Leipzig 19069.

1. Gut und Böse als Glückseligkeit des Handelns

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Die moralische Kausalität geht in zwei Richtungen. Einerseits tritt sie als Begründung auf, warum man die Regeln der Moral akzeptieren und sich nach ihnen richten soll, andererseits wird eine Art von Glückseligkeit als Folge moralischen Verhaltens versprochen. Die ganze Atmosphäre der Verkündung der Zehn Gebote Gottes im Alten Testament ist keine kalte Befehlssituation, sondern Verheißung, Versprechen, daß dies der gute Weg, der Weg zum Glück und zur guten Gesellschaft sei. Stellenweise wird dies explizit gesagt „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ . . . „damit du lange lebest und es dir gut geht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“ Ähnliches gilt von der Bergpredigt Jesu. „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ . . . „Selig, die nur der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Auch die Bergpredigt bedient sich verheißender Motivierung für die Prinzipien der Moral und verspricht moralische Effizienz am Weg zur Glückseligkeit. Auch das für das Christentum so essentielle Gebot der Feindesliebe kann nicht nur als Sache des Großmuts und der Menschlichkeit verstanden werden, sondern ist auch effektive Lebensstrategie. Es ist oft ein Weg der Verständigung und erhöht die Chancen auf positive Koexistenz der Menschen in der Gesellschaft. Dem religiösen Denken ist es eigen, mit moralischer Kausalität zu rechnen. Moralisches Wohlverhalten impliziere – so glaubt oder hofft man – Glückseligkeit. Ist das berechtigt? Sicherlich nicht unmittelbar und empirisch belegt; als notwendige Folge des moralischen Verhaltens ist Glückseligkeit nicht belegbar. Es gibt aber auch reale Chancen auf positive Effekte moralischen Verhaltens. Moralische Verläßlichkeit und moralisches Vertrauen eröffnen konstruktive und allseits vorteilhafte Beziehungen. Aber einen Mechanismus, durch den moralisches Verhalten zum Glückse-

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Kap. 3: Moralische Kausalität

ligkeitseffekt führe, gibt es nicht. [Die Vorstellung der Belohnung im Jenseits nach dem Tod, mag manche religiöse Denker befriedigen, mir sagt es kaum etwas.] Sinnvoll erscheint die sozialpolitische Maxime, man solle Menschen, die moralisches Verhalten an den Tag legen und auch für die Zukunft versprechen, in ihren Bestrebungen unterstützen. Die positiven Effekte der Moralität treten nicht automatisch (rein kausal bedingt) auf, sondern sind Postulate für die gesellschaftlichen Reaktionen. Persönlich ist es für mich ein Desiderat, meine subjektiven Zielsetzungen, meine persönliche Utilität, in Übereinstimmung mit dem sozialen Nutzen zu halten. Als Grundtendenz ist dies sicher sinnvoll; ob dies im einzelnen immer erreichbar ist, weiß ich nicht.

2. Quellen und normativer Kern religiöser Lehren Die Quellen der religiösen Lehren haben unterschiedlichen Charakter; sie sind oft Berichte über Verhaltensweisen der Religionsschöpfer oder Heiliger. Der allgemeine normative Kern muß analytisch herausgeschält werden. Sie sind oft Metaphern, die gedeutet werden müssen. Der Inhalt religiösen Denkens und der Religionsmoral ist immer ein Ergebnis hermeneutischer Rekonstruktion. Theologie als Wissenschaft hat also ihren Platz und ihre unverzichtbare Rolle in der Religion und in der Kirche. Sie wird in Zusammenhang stehen mit der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie: die Wissenschaft ist Gehilfin, aber nicht untergeordnete Dienerin der Theologie. Als Beleg für die Tatsache, daß für die religiöse Konzeption die Deutung des ideologischen Sinns entscheidend ist, möchte ich folgendes Beispiel anführen. Das jüdische Gebot der strikten Trennung von Milchigem und Fleischigem beruht bekanntlich auf dem Verbot, „das Zicklein in der Milch seiner

3. Reichweite der kausal-moralischen Bindung von Wertprädikationen

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Mutter zu kochen“. Nun scheint mir aber eine ganz andere Deutung möglich, ja vielleicht sogar naheliegend. Das Verbot könnte sich dagegen richten, ganz junge Tiere, die noch von ihrer Mutter gesäugt werden, zu töten und zu verspeisen. Im Geiste moderner Tierschutzideen wäre diese Deutung vernünftig. Die jüdische Tradition hat andere Wege beschritten. Ein Braten mit Rahmsauce erscheint mir nicht unrein oder unhygienisch zu sein. Religiöser Kult ist oft – aber durchaus nicht immer – rational und pragmatisch begründet. Es gibt ewige Probleme der Theologie (ebenso wie der Wissenschaften und der Philosophie), aber keine zeitlosen (= ewig gültige) Antworten.

3. Reichweite der kausal-moralischen Bindung von Wertprädikationen Die kausalen Bindungen, die wir in der Natur und Gesellschaft feststellen, sind Regelmäßigkeiten, die zwischen Bedingungen und deren Folgen bestehen. Sowohl die ursächlichen Bedingungen als auch die Folgen sind durch Beschreibungen charakterisiert. Hierbei kommen Prädikate zur Anwendung, welche durch Erfahrung exemplifiziert sind oder – wenn sie begriffliche Konstrukte sind – durch Operationen wenigstens indirekt operationalisierbar sind. Diese sachliche Determiniertheit ist bei der moralischen Kausalität nicht in gleicher Weise gegeben. Z. B.: „Wenn ein Kupferdraht um n Grad erhitzt wird, dehnt er sich um den Faktor f aus“; der Satz beschreibt eine kausale Relation. Anders bei moralischer Kausalität. „Ehre deinen Vater und deine Mutter, dann wird es dir wohlergehen.“ Die Belohnung der Pflichterfüllung wird rahmenhaft angegeben, und ebenso ist die Folge der Pflichtverletzung eine durch rahmenhafte Wertprädikation festgesetzte Folge, aber keine echte – operationalisierbare – Sachbeschrei-

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Kap. 3: Moralische Kausalität

bung der Reaktion auf die Pflichterfüllung resp. auf die Pflichtverletzung. Der Hinweis auf moralische Kausalität pflegt bei religiösen Menschen mit globaler Angst vor den Folgen der Pflichtverletzung verbunden zu sein. Diese Folgen sind nicht als natürliche Folgen auf Grund von Ursächlichkeit konzipiert, sondern als unspezifizierte Strafe, als Verlust von Chancen auf dem Weg zur Glückseligkeit.

(1) Moralisches und religiöses Handeln als Handeln unter Ungewißheit

Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist es wichtig, die realen, tatsächlich bestehenden Beziehungen zwischen der moralischen Charakteristik des Entscheidens und Handelns auf der einen Seite und der Erfolgschancen sowie des Glückseligkeiteffekts auf der andern zu prüfen. Unsere Entscheidung, wie wir handeln, ist immer von einer Ungewißheit begleitet, ob die Handlung zum Guten oder Schlechten führen wird. Auch die gute Absicht kann unter Umständen schlimme Folgen haben. Mit dieser Ungewißheit muß man leben. Das gute Gewissen oder der religiöse Glaube können uns trotz der Ungewißheiten eine ruhigere Hand bei unserem Tun und Lassen geben. Der gläubige Mensch hat einen gewissen pragmatischen Vorteil: der Glaube kann uns helfen, die Ungewißheiten unseres Handelns und Entscheidens leichter ertragen zu können, denn der Gläubige kann davon ausgehen, daß sein Handeln trotz mangelnder Gewißheiten durch höheren Ratschluß auf den objektiv richtigen Weg geführt wird. Dies sind subjektive psychische Reaktionen, die da sind – unabhängig vom Wahrheitsgehalt des Glaubens. Es gibt aber auch verheerende Folgen von Glaubensüberzeugungen. Der Glaube an Teufel, Hexen und Zauberer hat Praktiken der Teufelsaustreibungen und Scheiterhaufen für

3. Reichweite der kausal-moralischen Bindung von Wertprädikationen

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Hexen und Zauberer mit sich gebracht, also zu den beschämendsten Folgen religiösen Wahns geführt. Auch in der aktuellen Politik führt der Glaube an Gottes politisches Versprechen und das Handeln im Namen Gottes zu seiner Ehre sowie zur Verbreitung des Glaubens, zur Verhinderung praktikabler und friedlicher Lösungen. – Glaubenskriege – sei der Glaube religiöser oder anderer ideologischer Art – sind die grausamsten.

(2) Handeln als natürliche / moralische Reaktion

Es gibt auch sozusagen „natürliche“ Reaktionen moralischer Natur. Die wichtigsten sind: Gegenseitigkeit und Retorsion. Wem ich moralisch vertraue, wer mir Gutes tut, mir entgegenkommt, dem werde ich ein Gleiches tun, sozusagen als natürliche Reaktion, nicht erst als Folge eines normativen Gebots, das lauten würde „Was man dir Gutes tut, das zahle dem Wohltäter in ähnlicher Weise zurück.“ Die Gebote der Gegenseitigkeit und entsprechende Verträge sind gewissermaßen Folgen der natürlichen Reaktionsweise der Gegenseitigkeit. Die konkrete Gestaltung der Gegenseitigkeit kann sehr verschieden sein: es kann um tatsächliche gleiche oder gleichwertige Leistungen gehen oder auch nur um die Bereitschaft, nötigenfalls eine derartige Leistung dem Wohltäter gegenüber zu erbringen. Auch moralisch negatives Verhalten wird natürlicherweise beantwortet, im wesentlichen durch Isolation oder Retorsion. Menschen, von denen wir auf Grund unserer Erfahrung moralwidriges Verhalten erwarten, gehen wir aus dem Weg. Wir meiden Kontakte. Dies geht natürlich nur dann, wenn keine solchen gesellschaftlichen Bindungen vorhanden sind, die Kontakte unvermeidlich machen. Von seinem Ehepartner oder Kompagnon kann man sich nicht wirklich isolieren. Eine andere, in der Regel weniger friedliche Reaktionsweise auf moralisch ungutes Verhalten sind verschiedene Formen

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Kap. 3: Moralische Kausalität

der Retorsion. Das sind im wesentlichen Maßnahmen, welche unser Gegenüber motivieren oder zwingen sollen, den moralischen Postulaten uns gegenüber Genüge zu tun. Wer mein Vertrauen mißbraucht, dem werde ich keine vertraulichen Informationen mehr geben. Mit dem werde ich auch möglichst nicht kooperieren. Wo aber gesellschaftliche Bindungen bestehen – wie bei Kindern und Eltern, Eheleuten, beruflichen Partnern – kann durch Isolation allein keine Lösung gefunden werden. Man versucht es meist mit Gegenmaßnahmen. Sie werden angedroht, dienen als Warnung oder sie wirken als Retorsion. In Konfliktsituationen treten meist unterschiedliche Wertungen des Verhaltens bei den Konfliktparteien auf. Die Gesellschaft greift hier oft zu Schiedsrichtern oder unbeteiligten Verhandlungshelfern, Mediatoren. In irgendeiner Weise schafft jede Gesellschaft Institutionen, die auf die moralische Qualität des Verhaltens der Mitglieder der Gesellschaft reagieren. In Hochkulturen sind es subtil organisierte Einrichtungen ganz verschiedener Art: Beschwerdestellen, Gerichte, Verwaltungsbehörden, Beratungsstellen usw. Die institutionalisierte Hilfe betrifft teils persönliche Lebensberatung, teils Konfliktlösungsinstanzen. Im Zusammenhang mit der moralischen Kausalität möchte ich noch auf das Problem der moralischen Konflikte aufmerksam machen. Manche vertreten zwar die Meinung, moralische Pflichten könnten nie untereinander in Konflikt geraten, weil moralische Pflichten ein konsistentes System seien. Ich glaube, dies ist eine unrealistische Meinung. Es gibt Situationen des Pflichtenkonflikts, die verschiedene Quellen haben können. Sie können schuldhaft entstehen, z. B. wenn ich ein Bild zwei verschiedenen Käufern A und B verkaufe, habe ich die inkompatiblen Pflichten, es A und B zu liefern. Es müssen normative Regeln festgesetzt werden, welche die Lösung der Konflikte zu bestimmen erlauben.

3. Reichweite der kausal-moralischen Bindung von Wertprädikationen

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Nach den gängigen Regeln der Normenlogik sind im Prinzip alle Pflichten gleich stark bindend. Dann ist eine Lösung der eventuellen Konflikte auf logischem Wege nicht erreichbar. Es scheint mir aber sinnvoll und zweckmäßig, unterschiedliche Gewichtung der Pflichten anzuerkennen. (Z. B. kann man m.A.n. Speisevorschriften – wie das jüdische Gebot, Fleischiges und Milchiges zu trennen, nicht gleich werten wie das Verbot zu morden oder zu lügen.) Im Universum verschieden gewichteter moralicher Pflichten lassen sich viele moralische Konflikte rational lösen.

Kapitel 4

Agnostizismus 1. Der Begriff des weltanschaulichen Agnostizismus Vieles wissen wir nicht; viele Erfahrungen bleiben unerklärt – oder die Erklärungen, die wir geben können, sind Zweifeln ausgesetzt. Das entspricht der menschlichen Lebenssituation und bedeutet noch lange nicht die Feststellung eines weltanschaulichen Agnostizismus. Der Agnostizismus ist eine negative bzw. skeptische Antwort auf die Frage, ob die Welt und das Geschehen in ihr ein sinnvolles Projekt, eine Schöpfung ist, anders gesagt, ob es göttlichen Ursprungs ist. Eines scheint mir für einen modernen Denker inakzeptabel: echte Wunder als Zeichen vorauszusetzen, durch die der Allmächtige sich präsentieren würde, d. h. uns zeigt, daß die Welt Projekt ist, daß die Welt intentionale Schöpfung ist nach Plan und höherem Ratschluß. Wenn die Welt (im weitesten Sinne des Wortes: also das Universum) intentionale Schöpfung ist, dann verhält sie sich nach immanenten Regeln. Was wir beobachten, was tatsächlich vor sich geht, ist durch immanente Gesetze bestimmt, und was wir beobachten, deuten wir als Auswirkung dieser Gesetze. Das Universum mag Projekt sein, doch zeigt es dies nicht an. Dieser Zug der Conditio humana ist die Quelle des weltanschaulichen Agnostizismus, der die Möglichkeit, daß das Geschehen Projekt ist, offen läßt, aber keineswegs beweisen kann. Es bleibt hier also ein „ignorabimus“ bestehen.

4. Reflexive Selbstzweifel

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2. Der pragmatische Vorteil des Glaubens Wer echt glaubt, hat einen pragmatischen Lebensvorteil: er vertraut darauf, daß alles – auch das, was ihm im Augenblick wider den Sinn ist – einem höheren Ratschluß gemäß gut ist. Der echte Glaube bildet eine Basis für eine ruhige (zuversichtliche) Hand. Dies ist ein Effekt des echten Glaubens, aber keine sachliche Begründung des Glaubens.

3. Die Welt der Glaubenspluralität Wir leben in einer Welt der Glaubenspluralität Die Glaubenssysteme sind ganz verschieden sowohl dem Glaubensinhalt nach als auch den Werteinstellungen nach als auch danach, was als moralisch gut betrachtet wird. Die Organisation der Kirchen als Träger des Glaubens sind verschieden ebenso wie die postulierten Vorgangsweisen. Es geht um ideelle Differenzen, aber auch um Macht und Konkurrenzkämpfe. Mission, Überzeugungskämpfe – vom Diskurs bis zum heiligen Krieg reicht die Methodenvielfalt. Können Wege des Diskurses gefunden werden? (Versuchte Hinweise im Kapitel 5)

4. Reflexive Selbstzweifel – „Was darf ich hoffen?“ ohne sacrificium intellectus Es besteht in breiten Schichten die Tendenz, den angestammten Glauben (den Glauben unserer Väter) als Überzeugung und Lebensform zu akzeptieren und anderen Glaubensmeinungen fremd oder gar mit Befremden entgegenzutreten. Der frei Reflektierende wird anders reagieren: er wird auch reflexive Zweifel aufkommen lassen. Auch andere Sichtweisen werden interessant und diskutabel. Die Sicherheit „wir haben die einzig richtige Antwort“ schwindet; man gelangt zum

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Kap. 4: Agnostizismus

„Was darf ich hoffen – in der Position des Suchens auch in Glaubensfragen“ – und ohne sacrificium intellectus? Gewißheit beruhigt – Zweifel vertiefen das geistige Leben, auch in Fragen des Glaubens.

Kapitel 5

Moral der Brücken 1. Vorüberlegungen: Vom höchsten Ziel der Humanität Werten, Entscheiden und Handeln ist nur dann möglich, wenn man von gewissen Zielen, Wertmaßstäben resp. Präferenzen ausgeht. Jede Begründung, die im praktischen Kontext geleistet wird, beruht auf derartigen Grundvoraussetzungen. Was kann als allgemeines Grundpostulat der Humanität vorausgesetzt werden? Ich glaube, nur die Idee des Friedens kann diese Rolle innehaben. Eine funktionierende Friedensordnung ist unser immanentes Ziel. Es gibt zwar Auffassungen, welche gegen diese Meinung zu sprechen scheinen, nämlich die Heraklitische Lehre, daß der Krieg (oder der Kampf) der Vater aller Dinge und ihr König sei. Die Dinge seien im Fluß und die Dynamik des Seins und des Geschehens entspringe dem Widerstreit in der Realität, was im dialektischen Mechanismus von These-Antithese-Synthese zum Ausdruck komme. Die dynamische Konzeption der Realität, der Hinweis auf die schöpferische Rolle der Konflikte und Kämpfe sowie die Annahme, es wirke in allem ein dialektischer Mechanismus, steht dem Postulat einer universellen Friedensordnung eigentlich nicht im Weg. Die konfliktgeladenen Prozesse, ja auch die Vorgänge des sog. dialektischen Dreitakts – wenn sie überhaupt als Methode der Erklärung von Bewegung und Veränderung in der Welt geeignet sind – kann man doch wohl als System ansehen, das Ordnung schafft und einen geregelten Ablauf des Geschehens sicherstellt. 5 Weinberger

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Kap. 5: Moral der Brücken

Die Idee der Friedensordnung, die wir als humanes Ziel an die Spitze stellen, setzt nicht absolut innere Harmonie voraus, sondern nur Regeln für harmonisierende konfliktüberwindende Vorgangsweisen. In diesem Sinne kann auch ein Vertreter Hegelscher oder marxistischer Dialektik die Idee der Friedensordnung als höchstes Ziel akzeptieren. Es gibt prinzipiell zwei entgegengesetzte Methoden des Friedens: (a) Isolation oder (b) Wege der Brücken zum gegenseitigen Verständnis und zur Kooperation. Es mag sein, daß die Isolation der Einzelnen oder von Gruppen in der heutigen Welt oft illusorisch erscheint. Als theoretische Möglichkeit des Friedens sollte aber die Trennung und Abschottung nicht außer acht gelassen werden. Wenn jemand keine Kontakte pflegt, kommt es auch zu keinen Konflikten. Die Lebenssituation in Isolation mag unbefriedigend sein, und oft ist sie in der heutigen Welt wegen der verbindenden Umstände nicht realisierbar, doch muß man sehen, daß Isolation manchmal ein Weg des Friedens sein kann. Der wichtigste Weg zur Friedensordnung ist jener, der gegenseitiges Verstehen fördert – hauptsächlich durch rationale Diskurse. Brücken des Verstehens und eine Praxis nützlicher Kooperationen bilden den Hauptstrom der Entwicklung einer umfassenden Friedensordnung.

2. Polarisierung der Werteeinstellungen Alle Lebewesen nehmen die Realität nicht nur als Tatsache wahr, sondern gleichzeitig mit einer wertenden Note, d. h. polarisiert auf der Achse von Anziehung, Neutralität und Abstoßung. Dies ist im Prinzip gleichermaßen bei niederen Lebewesen, bei verschiedenen Zivilisationen sowie in Hochkulturen der Fall. Mit der rationalen Kultur wird nur die Trennung zwischen bloßer Deskription und Wertereaktion bewußt erfaßt. Aber auch in Wahlprozessen der Menschen in Hochkul-

3. Mögliche Wege zur Friedensordnung

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turen wird die entscheidende Komponente der Werteinstellung oft erst ex post explizit durch Deutung erkannt. Wenn wir die wertende Einstellung rational analysieren, können wir feststellen, daß teils eine unmittelbare Werteinstellung vorliegt, teils aber eine Werteinstellung erst als Resultante aus Wertungen nach verschiedenen Kriterien zustande kommt. Es gibt Dinge, Ereignisse oder Tatsachen, die uns gleichzeitig anziehen (aus gewissen Gründen) und abstoßen (aus gewissen anderen Gründen). Ich weiß z. B., daß mir eine Birne schmeckt, aber ich weiß auch, daß sie mir Beschwerden verursacht. Wenn wir einen rational analytischen Standpunkt einnehmen, dann wird eine Resultante aus den verschiedenen Wertungskriterien gebildet. Zusammenfassend kann man sagen: Ob global oder aus analytischer Überlegung eine Stellungnahme zustande kommt, ist im Einzelfall verschieden, doch ist jedenfalls eine polarisierte Einstellung zu Tatsachen (oder als möglich betrachteten Tatsachen) vorhanden und eine wesentliche Basis des Wählens und Handelns. Es ist charakteristisch für die philosophischen Bemühungen, die Elemente unserer Werteinstellung explizit zu untersuchen; es wäre aber unkritisch, würde man annehmen, daß in der rationalistischen Werteauffassung keine unmittelbaren globalen Stellungnahmen zur Geltung kommen. Das Leben schwankt zwischen unmittelbarer Intuition und sachlich rationaler Analyse. 3. Mögliche Wege zur Friedensordnung Es gibt im wesentlichen drei verschiedene Wege zu einer Friedensordnung. Wenn zwei Gemeinschaften von einander völlig isoliert leben, bestehen zwischen ihnen keine Konflikte. Es ist nur eine offene Frage, ob völlige Trennung praktisch rea5*

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Kap. 5: Moral der Brücken

lisierbar ist. Es scheint eher so zu sein, daß Kontakte und daher auch gewisse Interessenbeziehungen praktisch unvermeidlich sind. Bei räumlicher Nähe kann strikte Isolation nicht realisiert werden. Es gibt immer den Blick über die Grenzen und strikte Trennung wird dann nur Desiderat oder Methode der Konfliktvermeidung, nicht aber eine reine Tatsache sein. Die zweite Möglichkeit kann man als Kooperationsmodell bezeichnen. Kooperation kann sehr verschieden gestaltet sein. Es kann um gemeinsame Maßnahmen zu gemeinsamen Nutzen gehen oder um einen friedenschaffenden Modus vivendi. Die Kooperationsform kann prinzipiell äqual oder aber hierarchisch konzipiert sein. Bei jeder Kooperation zu gemeinsamen Ntuzen gibt es eine Verteilungsproblematik, die geregelt sein muß, wenn die Kooperation friedlich verlaufen soll. Kooperative Modelle sind nur solange lebensfähig so lange sie den Partner tatsächlich Nutzen und friedliche Koexistenz bieten. Die dritte Möglichkeit ist die universelle völkerrechtliche Ordnung. Eine Idee, zu der es verschiedene Anläufe gibt, aber auch etliche Grundprobleme der Realisation. Die Friedensordnung betrifft Relationen zwischen Staaten ebenso wie zwischen Gruppen oder Ethnien im Staat. Man kann zwar ideell das System der Friedensordnung als Zentrum konstruieren, das die Staaten ermächtigt, d. h. mit Kompetenzen für gewisse Räume ausstattet, doch ist dieses Modell im Konflikt mit den Machtkonstellationen, denn die faktische Macht liegt bei den Staaten, welche in diesem Modell als bloß sekundär Ermächtigte auftreten. Realistischer ist daher das Modell, welches die Weltordnung als System auffaßt, das durch Kontrakt gebildet ist. Auch in dieser Konzeption bleibt das Problem bestehen, daß Macht bei den Staaten liegt, und zwar in sehr ungleicher Verteilung. Hierbei ist Macht sowohl als militärische Macht als auch als wirtschaftliche Kapazität gemeint.

4. Aktuelle Situation und Hindernisse einer Friedensordnung

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Es geht darum, das Gewicht des Völkerrechts gegenüber den eventuell übermächtigen Einzelstaaten zur Geltung zu bringen. Eine zentrale militärische und ökonomische Macht als Träger des Völkerrechts steht hierzu nicht zur Verfügung und ist auch kaum ein sinnvolles weltpolitisches Ziel. Wo ist der Weg? In erster Linie scheint mir eine Menge ideologischer Arbeit erforderlich: der Aufbau einer neuen politischen Moral, deren wesentlicher Teil die Moral der Brükken ist.

4. Aktuelle Situation und Hindernisse einer Friedensordnung

Lang und gravierend ist die Liste der aktuellen Lebensumstände, welche eine Friedensordnung schwierig, aber umso nötiger machen. Ich möchte die wichtigsten Momente kurz erwähnen. (1) Overkill. Die Menschen verfügen über ein Waffenarsenal, das – wenn es unbeschränkt eingesetzt würde – das menschliche Leben ausrotten könnte. Es geht um drei Waffentypen, die ABC-Waffen: Atomwaffen, biologische Waffen und chemische Waffen. Es gibt zweifellos bedrohliche Bestände dieser Waffen in regulären Armeen, und die Forschung und Entwicklung werden weiter betrieben. (2) Terrorismus. Es bestehen in der Welt Terrororganisationen, die über beachtliche Mittel verfügen und vielerorts aktivierbare Schläfer umfassen. Die Möglichkeit, daß Terrororganisationen Zugang zu Massenvernichtungswaffen haben könnten, ist nicht auszuschließen. (3) Bevölkerungsexplosion und Migration. Die Weltbevölkerung wächst und Migrationsströme erlangen unbeherrschbare

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Kap. 5: Moral der Brücken

Ausmaße. Infektionskrankheiten – insbesondere Aids – bedrohen die Lebensfähigkeit ganzer Gemeinschaften. Es handelt sich offensichtlich um schwierige Rahmenbedingungen für eine Friedensordnung. Einige dieser Umstände mögen Naturgegebenheiten sein, andere sind offensichtlich Produkte gesellschaftlicher Entwicklungen. Migrationsströme z. B. werden oft durch Herrschaftsstrukturen hervorgerufen. (4) Wachsende Umweltproblematik. Die Ökonomen meinten einst, es gebe frei verfügbare Güter, die nicht Bestandteile des Marktes sind, die jeder nach Bedarf nutzen kann (z. B. die Luft). Heute sehen wir klar, daß hier Grenzen vorliegen, sowohl was den Zutritt zu diesen Gütern betrifft als auch, was die Beeinflussung der Umwelt durch die Folgen unserer Aktivitäten anlangt. Wir sind uns heute dessen bewußt, daß die sog. Umweltproblematik – auch wenn sie oft weit entfernt zu sein scheint – für das Leben künftiger Generationen entscheidend ist. Vorsorge ist notwendig, doch oft schwer durchsetzbar, denn aktuelle Nutzenüberlegungen lassen diese Momente als wirtschaftliche Behinderungen erscheinen. Unter einem anderen Schlagwort wird aber doch immer öfter auf Sekundärmomente Rücksicht genommen: Es wird Nachhaltigkeit gefordert. Nachhaltigkeit ist nicht nur eine Frage der Zeitperspektive – es geht um Nutzen über zukünftige Zeitintervalle, sondern auch ein Problem der Nebenfolgen, also um Momente, die zur Umweltproblematik Bezug haben. (5) Globalisierung. Für unsere Zeit ist die Globalisierung ein unbestreitbarer Wesenszug. Sie ist vielgestaltig: Technologie und Produktion tendieren offensichtlich zur universellen Vermassung; die Machtverteilung, insbesondere auf ökonomischer Grundlage, tendiert zu staatenübergreifenden Konstellationen. Auch im Bereich der Werthaltungen und Lebensformen gibt es globale Tendenzen. Doch machen sich hier auch

4. Aktuelle Situation und Hindernisse einer Friedensordnung

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gegenläufige Bestrebungen, die Bestrebungen spezifische Wert- und Kulturformen zu pflegen, geltend. (6) Postulat der offenen Gesellschaft – gesellschaftliche Diskursplattformen. Eine fortschrittliche Gesellschaft braucht offene – jedermann zugängliche – Diskursplattformen. Dieses Postulat scheint ganz einleuchtend, dennoch gibt es hier schwierige Probleme. Es geht in der Regel nicht um die Feststellung strikter Tatsachen, sondern um Deutung und Wertung. Mitteilungen sind in der Regel keine wertfreien Konstatierungen, sondern auch Gelegenheiten für Indoktrination und ideologische Einflußnahme. Die Herrschaft über Informationsquellen ist die vierte Gewalt in der modernen Gesellschaft. Der Umfang und die Zugänglichkeit von Informationen ist ungeheuer angewachsen. Dies garantiert aber noch keineswegs echte Offenheit. Es gibt auch in der Welt der sog. Informationsgesellschaft tendenziöse Verheimlichung (z. B. der Erkenntnis, daß Nikotin ein Gewöhnungs- und Suchtgift ist). Im Feld der Politik ist bedeutungsvoll, daß man die Motive von Maßnahmen täuschend angeben kann. Nur kritische Diskurse können hier einigermaßen als Korrektive wirken. In der modernen Informationsgesellschaft, in der eine schier grenzenlose Flut von Informationen vorliegt und auch zum großen Teil zugänglich ist, erlangt das Problem der Selektion eine entscheidende Bedeutung. Es geht darum, wesentliche Informationen zu bekommen. Darüber ist man sich einig. Doch, was wesentlich ist, ist kein Eigenschaftsattribut, sondern eine relative Charakteristik in Relation zur praktischen Situation und zur Interessenlage. Für den Akteur ist etwas anderes wesentlich als für den Propagandisten oder Reklame-Macher. Der Akteur benötigt gewisse Situationsinformationen, die einen Rahmen seiner Handlungsüberlegung bilden. Zur Auswahl der Mittel und Handlungsprogramme sind Kausalerkenntnisse, d. h. wohl verifiziertes Wissen über mögliche

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Kap. 5: Moral der Brücken

(wahrscheinliche) Folgen möglicher Akte wesentlich. Und ein rationaler Mechanismus des Präferenzdenkens muß da sein, damit Handlungsentscheidungen gefällt werden können.1 (7) Weltethos oder Clash of Civilizations? Vergleichende Forschung über Religionen und ihre Organisationsformen, die Kirchen, ist in verschiedener Hinsicht belehrend. Motiv mag u. a. die Erkenntnis sein, daß Frieden in der Welt nur dann zustande kommen kann, wenn Verständigung und Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften herrscht. Bei aller Verschiedenheit scheint es doch Parallelen zwischen den verschiedenen Lehren zu geben. Der Schutz des Lebens in der Gemeinschaft, Solidarität in der Gruppe, Hilfe für Menschen wird als Gottesdienst verstanden. Der katholische Theologe Hans Küng wurde zum wichtigsten Vorkämpfer für die Idee des Weltethos, das nicht nur die verschiedenen Religionssysteme verbinde, sondern auch den wesentlichen Kern weltlicher Moralsysteme bilde.2 Eine große Idee, die m.A.n. eine unrealistische Fiktion bleibt, soweit sie Weltethos als Tatsache hinstellt, denn die Religionssysteme waren – wenigstens zu gewissen Zeiten ihres Wirkens – Kampfsysteme, die vom Freund-Feind-Denken beherrscht waren – weit mehr als vom gemeinsamen universellen Friedensethos. Die Idee des Weltethos ist aber ein wichtiges Programm, wenn sie als Grundpostulat des religiösen und moralischen Denkens konzipiert wird. Die Idee des Weltethos kann als Maßstab für die Praxis religiöser und ideologischer System gelten: diese Systeme werden inakzeptabel, wenn sie gegen den Geist des Weltethos verstoßen. Huntington3 stellte die Diagnose auf, daß der Konflikt und das Aufeinanderprallen der Wertesysteme verschiedener Zivi1 Dieses Präferenzdenken kann sich auf Utilitätsanalysen oder auf teleologische Untersuchungen stützen. Über deren Verhältnis siehe: O. Weinberger, Theorie der Utilität, Rechtstheorie 3, 2003, S. 195 – 206. 2 H. Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München / Zürich 1997.

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lisationen den Lauf der Geschichte und die aktuellen Lebensprobleme bestimme. Die Theorie des Weltethos und die Geschichtsphilosophie des Aufeinanderprallens der Wertesysteme verschiedener Zivilisationen scheinen konträre und prinzipiell unversöhnliche Konzeptionen zu sein. Küng hat in folgenden Punkten Recht: 1. Es wird keinen Frieden zwischen den Zivilisationen geben ohne einen Frieden zwischen den Religionen. 2. Es wird keinen Frieden zwischen den Religionen geben ohne einen Dialog zwischen den Religionen. 3. Es muß einen Grundkonsens bezüglich verbindlicher Werte und Maßstäbe zustandekommen, der von allen Religionen und von Nichtgläubigen mitgetragen werden kann. Weltethos ist ein sinnvolles Wunschpostulat, aber weit davon entfernt, eine aktuelle Realität zu beschreiben. Kirchen und andere ideologische Gemeinschaften sind Machtinstitutionen, die ihren Zusammenhalt oft durch Feindbild-Argumentationen stärken oder sich als Herrschaftsinstrumente politischer Institutionen einsetzen lassen. Weltethos ist kein starres System, sondern ein moralisch-politisches Projekt. Gerade dort, wo man glaubt, den absolut geltenden Maßstab von gut und böse zu haben, wird man intolerant und ggf. unfähig, andere Meinungen zu diskutieren. Wenn man seine Ansprüche auf Gottes Zusagen stützt, führt dies nicht zur Kompromißbereitschaft und zur Rücksicht auf Rechte der anderen.

3 S. P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrthundert, 2. Aufl., München / Wien 1998 (Orig. „The Clash of Civilizations“, 1996). Vgl. auch Huntington, Sonderheft „Konvergenz oder Konfrontation“, hrsg. W. Krawietz, G. Riecher, K. Vedderer, Rechtstheorie 29. Bd., 1998, H. 3 / 4.

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Kap. 5: Moral der Brücken

Huntingtons Beobachtung, daß die reale Weltpolitik oft vom Aufeinanderprallen inkompatibler Wertesysteme bestimmt wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Ist also das tatsächliche politische Geschehen kein Feld der Verbreitung eines Weltethos, sondern ein Feld des Kampfes streitender Wertesysteme? Die Stellung der Frau in der Gesellschaft und in der Familie ist in verschiedenen Systemen fundamental unterschiedlich. Es gibt Systeme der prinzipiellen Gleichwertigkeit, Systeme der femininen Vorherrschaft, ebenso wie jene der vollkommenen Unterordnung oder wenigstens des Ausschlusses jedweder Entscheidungskompetenz („Tacet mulier in ecclesia“). Gibt es hier Lösungen, Methoden des wohlbegründeten Entscheidens? Jedwede Moral bedeutet ein Transzendieren des subjektiven Utilitätsdenkens. Nach Carl Schmitt beruht das Politische auf der Tendenz, das Freundliche (Vorteilhafte) zu stärken und das Feindliche zu schwächen. Dies scheint auf den ersten Blick hin klar zu sein. Wenn man aber bedenkt, daß sich im Verlauf der Zeit die Utilität der vom Freund-Feind-Denken bestimmten Maßnahmen ändert, kommt ggf. eine andere Bilanz zustande. [Wenn man z. B. die Taliban als Kampfhilfe gegen die SSR aufrüstet, kann zum Schluß eine ganz andere – sehr feindliche – Konstellation zustande kommen.] (8) Elemente der Brückenmoral. Moral bedeutet immer die Berücksichtigung allgemeiner Interessen, welche den Eigennutzen des Subjekts überschreiten. Maßstab des moralisch Richtigen sind die Interessen der Gruppe, der man angehört. Die Moral der Brücken verläßt die Überzeugung, daß wir einen sicheren Maßstab des Richtigen haben und führt einen Diskurs über das moralisch Richtige ein. (a) Man versucht, verschiedene Werteinstellungen zu verstehen; hierbei werden Werterfahrungen empirisch geprüft. Das, was als wünschenswert vorgestellt wird, muß – wenn realisiert – nicht in gleicher Weise erlebt werden. Die in einer

4. Aktuelle Situation und Hindernisse einer Friedensordnung

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Zivilisation akzeptierten Wertestandards hängen oft von metaphysischen oder von religiösen Glaubenskonstruktionen ab. (b) Man sucht Methoden, wie ein rationaler Diskurs realisiert werden kann. Da die Argumentation im Diskurs immer von Grundannahmen abhängt, besteht hier das Problem, wie bei Verschiedenheit der Grundsätze und Präferenzen rational begründend argumentiert werden kann. Es gibt, trotz der Divergenzen in den Werteinstellungen, gemeinsame Elemente eines Weltethos, die in der diskursiven Analyse herausgearbeitet werden können. Es ist eine Gewichtung der Werte erforderlich, denn nur auf dieser Basis kann eine moralische Resultante gewonnen werden. Vorschriften des Ritus – z. B. Speisegesetzen – wird man geringere Relevanz zuschreiben als echten Postulaten der Moral. Hier geht es um einen wesentlichen Schritt von der fundamentalistischen Absolutheit zur suchenden Optimierungsmoral. Nicht nur Toleranz gegenüber anderen Werthaltungen ist gefordert, sondern auch kritische Selbstreflexion gegenüber unserer angestammten Werteinstellung. (c) Unter Kooperation verstehen wir das geregelte Zusammenwirken verschiedener Subjekte. Kooperation kann der effektiven Verfolgung gemeinsamer Ziele dienen. Auch Konkurrenzverhalten ist eine Art von Kooperation und durch Verhaltensregeln gebunden. Kooperationsbeziehungen entstehen durch ausdrückliche Übereinkunft oder gewohnheitsmäßig. Inwieweit ist Kooperation verschiedener Subjekte von der Übereinstimmung ihrer Wertungssysteme abhängig? Weite Bereiche der Kooperation – z. B. Zusammenarbeit an einer Aufgabe oder Handelsbeziehungen – können trotz divergenter Werteinstellungen gut funktionieren. Bei anderen – sozusagen persönlicheren Kooperationen – persönliche Partnerschaften, Familienbeziehungen – können sehr divergente Werteinstellungen zu Schwierigkeiten führen. Es kann auch hier ein verschiedenes Maß an Toleranz geben.

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Kap. 5: Moral der Brücken

Wichtig ist die Erkenntnis, daß erfolgreiche Kooperationen wesentlich zur Pazifizierung der Gesellschaft beitragen. Partner bekämpft man nicht, weil man die Vorteile der Kooperation nutzen will.

Kapitel 6

Weltethos und Universalmoral versus Wahnideen, Terrorismus und Massenverfolgungen 1. Menschlicher Wahn und Heiliger Krieg Nichts auf der Welt erschüttert den, der an Humanität, Solidarität und Nächstenliebe glaubt, mehr als ein Blick auf die historischen Phänomene von Autodafé, Holocaust und Genozid. Wie ist es möglich – müssen wir uns fragen –, daß der Mensch seinem Mitmenschen nicht als verständnisvoller Bruder, sondern oft als gehässiger Wolf entgegentritt, und daß die Einstellung des Hasses und der Destruktion zu einer verheerenden Massenerscheinung heranwachsen kann, obwohl wir von Natur aus Gemeinschaftswesen sind, die ein Solidaritätsbewußtsein entwickeln, und obwohl sich jeder von uns als vernünftiges moralisches Subjekt versteht? Fühlt nicht jedermann in seiner Brust die Tendenz zur christlichen Nächstenliebe? Haben wir nicht das Bedürfnis und ein tief eingewurzeltes Streben, unseren Mitmenschen zu verstehen? Ich möchte versuchen, diese zwiespältige Haltung des Menschen: Sehnsucht nach Verstehen und Verständigung, Solidaritätssinn und Humanitätstendenzen auf der einen Seite, fanatischer Wahn, Haß, kollektiver Wahn und Vernichtungswille auf der anderen, zu erklären. Wie ist die Möglichkeit des destruktiven Massenwahns in der menschlichen Natur angelegt? Wie werden solche Wahnvorstellungen bzw. Wahntheorien zu gesellschaftlichen Massenerscheinungen, die in den Mitmenschen das verkörperte Böse sehen und unter diesen Pseudotheorien den Menschen

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Kap. 6: Weltethos und Universalmoral versus Wahnideen

als den vermeintlichen Träger des Bösen in systematischer und rohester Weise vernichten? Darf man voraussetzen, daß nur das primitive Denken früherer Kulturepochen jener Boden war, auf dem Wahnideen und kollektiver Haß verbunden mit Massenverfolgungen sprießen konnten? Leider zeigt uns die Geschichte der Neuzeit, daß diese Annahme ganz falsch wäre. Das deutsche Volk, der Träger des Nazismus und des großen Holocausts, war eines der kulturell und geistig am höchsten entwickelten Völker der Erde. Einer der größten Philosophen und Theologen, Thomas von Aquin, sowie bedeutende moralische Führer der Menschheit, Martin Luther und Johannes Calvin, glaubten an Hexen und Dämonen, und ihre Autorität trug zur Verbreitung des Hexenwahns nicht unwesentlich bei. Angesehene und gelehrte Theologen – Jakob Sprenger und Heinrich Institoris – haben den Hexenhammer verfaßt. Ein Papst – Innozenz VIII. – hat 1484 die Hexenbulle „Summis desiderantes“ erlassen. Und dies war nicht die einzige päpstliche Aufforderung zur physischen Ausrottung von Ketzern, Hexen und Juden. Auch der „wissenschaftliche Sozialismus“ hat unter Stalin – aber nicht nur unter diesem Diktator – Millionen Menschen ums Leben gebracht. Die Theorie, der gemäß destruktiver Wahn mit all seinen Folgen in geistiger Primitivität wurzelt und in einer Welt der technischen und geistigen Hochkultur unmöglich sei, ist zweifellos ganz falsch. Kultur, Wissenschaft, Technik und moderne Technologie bilden keinen Schutzwall gegen haßerfülltes Denken und Vernichtung unter dem Banner von Wahnidealen, ebensowenig wie die Religion der Nächstenliebe dem Aufflammen von Scheiterhaufen unter dem Namen „Autodafé“ (= „Glaubensakt“) im Wege stand. Gerade die Tatsache, daß die Phänomene des Wahns nicht Sache der kulturellen und geistigen Primitivität sind, führt zu meiner Angst vor dem menschlichen Wahn. Die Sache ist sehr ernst; sie wird mit wachsender technischer und organisatorischer Kapazität der Menschheit nur

1. Menschlicher Wahn und Heiliger Krieg

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noch gefährlicher. Heiliger Krieg kann auch Atomkrieg werden; atomare Abschreckung könnte sich mit der Idee der endgültigen Vernichtung des Bösen verbinden und das Overkill ins Rollen bringen. Absolute Glaubenssätze religiöser oder weltlicher Art könnten das freie Denken und das Streben nach freien und gerechten Lebensformen in entscheidender Weise behindern. Ich habe Angst vor dem Wahn gleichermaßen in religiösem wie in wissenschaftlichem Gewand; ich glaube aber auch an die menschliche Vernunft. Sie kann die Wurzeln und Quellen des Wahns aufdecken, oder vorsichtiger gesagt: sie kann versuchen, aufgrund anthropologischer Analysen eine Erklärung des destruktiven Wahns zu geben. Vielleicht lassen sich dann auch Wege aufzeigen, wie gegen diesen Wahn und seine gesellschaftlichen Folgen angekämpft werden kann. Schon bei einer ersten Betrachtung zeigt sich, daß der destruktive Wahn immer ein gewisses gedankliches Gerüst hat, daß er auf einem Komplex von Meinungen aufgebaut ist, die blind geglaubt werden, obwohl sie bei kritischer Betrachtung gerade sehr problematisch erscheinen. Diese Wahntheorien führen gerade dann zur Verheerung, wenn der Wahn organisierte Formen annimmt, wenn ein eigenartiges Zusammenspiel zwischen persönlichen Meinungen und gesellschaftlichen Strukturen, die ideologisch fixiert sind, zustande kommt. Wie das im einzelnen funktioniert, wird näher zu prüfen sein. Man kann geschichtlich-wertende Fragen stellen, wie z. B.: „Wer ist schuld am nazistischen Holocaust? Hitler? Gobineau? Schönerer? Lueger? Rosenberg?“ oder „Wer ist schuld an der Häretiker-, Hexen- und Zaubererverfolgung? Die Theologen, der Papst und die Hierarchie, die Inquisitoren oder die Folterknechte und die weltliche Gerichtsbarkeit mit ihrem Irrglauben, daß das Geständnis – auch unter Folter – die Königin der Beweise sei?“ Solche Fragen interessieren mich hier nicht, und ich will mich in keiner Weise mit dem Problem der historischen Schuldzuweisung befassen; ich will

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Kap. 6: Weltethos und Universalmoral versus Wahnideen

vielmehr die Bedingungen und Strukturen dieser tragischen Erscheinungen der Menschheitsgeschichte analysieren. Jedenfalls ist das Zusammenspiel verschiedener Faktoren – von den geistigen Urhebern, den Schreibtischtätern, der ideologischen Organisation bis zu den letzten exekutierenden Knechten – erforderlich, damit das Ganze funktionieren kann. Niemand ist meines Erachtens frei von Schuld und Verantwortung, weder die geistigen Väter am Schreibtisch noch die Agitatoren am Rednerpult noch die „pflichtgetreuen“ Schergen. In meinen Analysen geht es natürlich auch nicht um solche problematischen Schlagworte wie „Vergangenheitsbewältigung“; aber auch die Verniedlichung der Ketzer- und Hexenverfolgungen muß vermieden werden. Für meine Betrachtungsperspektive bietet die Geschichte nur eine Sammlung von Fallbeispielen aus einer offenen Klasse von Möglichkeiten. Ich habe eher zukünftige Gefahren im Sinn als den Wunsch, Richter über die Vergangenheit zu sein.

2. Information, Determinismus und Freiheit des Handelns Wir erleben uns als Subjekte, die frei sind, zu handeln, wie wir wollen. Ich weiß, daß ich, wenn ich will, meinen rechten Arm heben kann, daß ich ihn aber auch, wenn ich mich anders entschließe, herabhängen lassen kann. Mit einer Kurzformel kann man sagen: Wir erleben Handlungsfreiheit. Handlungen sind ein Typus von Vorgängen. Nach dem Kausalprinzip erfassen wir Vorgänge als verursacht. Einen Zustand eines Dinges (oder eines Systems) oder die Abfolge von Zuständen des Dinges (des Systems) verstehen wir als Folge von vorangegangenen Ereignissen und Umständen nach gewissen Gesetzmäßigkeiten (die unserer Erkenntnis nicht immer zugänglich sind). Wir müssen daher fragen: Ist die Handlungsfreiheit, wie wir sie erleben, mit dem Kausalprinzip, nach

2. Information, Determinismus und Freiheit des Handelns

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dem wir die Ereignisse und Vorgänge in der Welt erfassen, verträglich? Kann die Handlung eines Akteurs als realer Vorgang in der Welt anders erklärt werden als durch ursächliche Bindungen an vorangehende Ereignisse und Umstände? In unserer Reflexion über die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten bestand unsere Handlungsfreiheit gerade darin, daß wir davon überzeugt waren, so handeln zu können, wie wir handeln wollen. Man muß nun weiter fragen: Kann ich auch so wollen, wie ich will? Könnte ich auch anders wollen, als ich will? Kann ich den Inhalt meines Willens wählen? Oder ist mein Wollen durch äußere sowie innere Umstände bestimmt, die meiner Kontrolle nicht unterliegen? Dem Kenner der Philosophie ist klar, daß hier Fragen angeschnitten werden, die den Streit zwischen Indeterminismus und Determinismus betreffen. In diesem Meinungsstreit wird immer wieder die Frage erörtert, ob „Schuld“ und „Verantwortung“ überhaupt sinnvolle Begriffe wären, wenn keine Handlungsfreiheit bestehen würde: Wenn ich nicht frei wählen kann, was ich will und was ich tue oder lasse, wie kann ich dann für mein Handeln verantwortlich sein? Wie könnte man mir dann Schuld oder Verdienst zurechnen? Manche Denker postulieren gerade deswegen die Existenz der Handlungsfreiheit, weil sonst – wie sie meinen – von Schuld und Verantwortung nicht sinnvoll gesprochen werden könnte. Ausgehend vom Begriff der Information, und gestützt auf die Erkenntnis, daß Informationen eine besondere Art von Tatsachen sind, die sich von anderen Gegenständen und Ereignissen unterscheiden, obwohl sie nur mittels gegenständlicher Zeichen dargestellt werden können, möchte ich versuchen, eine einfache und plausible Antwort auf diese Grundproblematik der Philosophie zu geben. Gleichzeitig wird der Handlungsbegriff und seine Beziehung zur Handlungsfreiheit eine akzeptable Deutung erhalten.

6 Weinberger

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Kap. 6: Weltethos und Universalmoral versus Wahnideen

Der Begriff der Handlung ist nur dann sinnvoll, wenn dem Handelnden Handlungsspielräume zur Verfügung stehen. Ein noch so komplizierter und noch so detailliert beschriebener Ablauf von Zuständen eines Subjekts stellt noch keine Handlung dar. Nur dann, wenn irgendwann im Verhalten des Menschen eine solche Situation auftritt, daß zwei oder mehrere Möglichkeiten der Fortsetzung des Verhaltensablaufes bestehen, kann sinnvoll von einer Handlung gesprochen werden. Ich bin ein Handlungssubjekt, ich kann handeln, wenn es möglich ist, daß ich mich in irgendeinem Augenblick nach dem jetzigen Zeitpunkt t0 in der Weise A oder aber in einer anderen Weise B verhalte. Es ist z. B. möglich, daß ich meinen Arm im nächsten Augenblick heben werde, und es ist auch möglich, daß ich ihn nicht heben werde. Es ist möglich, daß ich weiter sitzen bleibe; es ist aber auch möglich, daß ich aufstehen werde. Hat der Mensch tatsächlich diese alternativen Möglichkeiten, oder lebt er nur in der täuschenden Vorstellung, daß ihm Handlungsspielräume offenstehen? Es ist nicht nur eine Selbsttäuschung, sondern eine Erfahrungstatsache, daß wir uns aufgrund eines Informationsprozesses, der in eine Entscheidung ausmündet, verschieden verhalten können. Wie läßt sich das beweisen? Unsere erlebte Vorstellung, daß wir nach Belieben A oder aber B tun können, genügt für den Beweis nicht. Es wäre ja durchaus denkbar, daß wir meinen, nach unserem Belieben frei zu wählen, daß aber in Wirklichkeit der Ablauf unserer Entscheidungen durch Umstände determiniert ist, die nicht in unser Bewußtsein gelangen. Der Beweis der Existenz von Handlungsspielräumen, d. h. der Existenz von Handlungsfreiheit, verläuft anders. Die Frage muß anders gestellt werden, nämlich: Gibt es Stellen (sogenannte Knoten der Verhaltenstrajektorie), an denen das Verhalten in einem nachfolgenden Augenblick nachweisbar von Informationen – gegebenenfalls von einem Informationsverarbeitungsprozeß, der dem Subjekt zuzurechnen ist – abhängt? Daß es solche Stellen gibt, wissen wir mit Sicherheit und können es durch Versuche belegen.

2. Information, Determinismus und Freiheit des Handelns

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Die Existenz von Handlungsspielräumen bedeutet nicht, daß das Geschehen in der Welt indeterminiert ist, daß der Mensch wie eine erste Ursache seine Handlung setzt, sondern bloß, daß das Verhalten des Handelnden durch Informationen bestimmt ist, und zwar durch mehr oder weniger bewußte Prozesse der Informationsverarbeitung. Wissen und Denken, die Fähigkeit, Stellung zu nehmen und zu wählen und danach unser Verhalten einzurichten, sind die Basis unserer Freiheit. Diese Freiheit ist nicht nur ein Privileg der Gattung Mensch; sie charakterisiert vielmehr unsere Lebenssituation, aus der wir nicht ausbrechen können. Wir sind zur Freiheit geboren und müssen als handelnde, d. h. wählende Wesen leben. Wir können nicht zu der Lebensweise niederer Organismen zurückkehren, uns nur von Instinkten und einfachen erbkoordinierten Verhaltensweisen und Mustern bewegen lassen. Wir müssen über unser Handeln nachdenken, wir müssen wertend Stellung nehmen, wir müssen aufgrund unseres Wissens wählen und entscheiden. Wir können allerdings mehr oder weniger systematisch und überlegt handeln, wir können eine mehr oder weniger breite Orientierung in der Welt erlangen, und ein größeres oder kleineres Wissenssystem unserer Entscheidungserwägung – und damit dem Handeln – zugrunde legen. Wir können eher blindlings oder eher sorgsam analysierend und abwägend unsere Dezisionen treffen, aber wir können nicht aufhören, handelnde Wesen zu sein. Wir sind nicht nur frei, weil wir frei sein wollen, sondern wir sind mit Freiheit ausgestattet, so wie wir als Menschen mit aufrechtem Gang ausgestattet sind. Darin liegt die Größe und Würde des Menschseins, denn nur handlungsfähige Wesen kennen Moral und Verantwortung. Da der Mensch nicht nach fixierten Mechanismen handelt und lebt, die in seinem Wesen biologisch endgültig vorgegeben sind, kann er sein Leben, seine Normen und Wertmaßstäbe entwickeln und sie je nach Umständen modifizieren. 6*

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Kap. 6: Weltethos und Universalmoral versus Wahnideen

Diese Freiheit ist nicht nur eine Charakteristik der Lebenssituation des Individuums, sondern auch eine Eigenschaft menschlicher Gemeinschaften. Wir schaffen Institutionen sowie die dazugehörende Vorstellungswelt und das System der Werteinstellungen. Ein und dieselbe Freiheit, das Leben zu gestalten und Wertprinzipien zu setzen, ist auch die Basis der Möglichkeit, individuellen und kollektiven Wahnvorstellungen zu unterliegen. Geboren zur Freiheit heißt: geboren zur Moral; keine paradiesische Unschuld und Automatik des wahrscheinlich richtigen Weges, sondern Verantwortung, Pflicht und Entscheidungszwang; daher auch Würde und Sorge; aber auch: Offenheit für Entartungen, die Möglichkeit, unter dem Einfluß von Vorstellungen zu handeln, die einem unkritischen Wahn entspringen.

3. Orientierungssystem menschlichen Handelns Die zeitgenössischen Erklärungen der Lebensphänomene beruhen auf dem Begriff der Information. Die Erbanlagen, die die Entwicklung des Organismus bestimmen, sind im Zellkern gespeicherte Informationen. Instinktverhalten wird als System von Informationen konzipiert, das im Genom gespeichert ist. Das Verhalten des instinktgelenkten Organismus wird einerseits aus innerer Aktivität in den erbbestimmten Formen, andererseits durch äußere Auslösemechanismen gemäß dem ererbten Programm realisiert. Bei höheren Lebewesen wächst die Plastizität der Verhaltensweisen und der Umfang der Bestimmung des Verhaltens durch Erfahrung und Erlerntes. Die Bedeutung des durch Erfahrung, Nachahmung und Lernen geformten Informationssystems nimmt im Verhältnis zu den ererbten Verhaltensmustern zu. Beim Menschen ist die Verhaltensdetermination durch Instinkte – d. h. relativ stabile ererbte Verhaltensmechanismen –

3. Orientierungssystem menschlichen Handelns

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gegenüber anderen verhaltensbestimmenden Faktoren wesentlich zurückgedrängt, wenn auch keineswegs ausgeschaltet. Ein komplexes Wissenssystem und Institutionen werden zu unabdingbaren Elementen der Verhaltens- und Handlungsbestimmung. Der Mensch schafft seine Lebensformen. Er entwickelt Informationssysteme – Wissens- und Präferenzsysteme –, er erarbeitet Programme zur Lösung von Aufgaben (Arbeitstechniken), er erlernt Fertigkeiten und etabliert relativ stabile Institutionen. Biologisch gegeben sind auch beim Menschen die Grundstrukturen: die prinzipiell aktive Einstellung, eine gewisse Struktur der Grundbedürfnisse und Lebenstendenzen, sowie die Tatsache, daß der Mensch ein gemeinschaftsorientiertes Wesen (ein Zoon politikon im Sinne von Aristoteles) ist. Wenn man die Conditio humana mit ihren Höhen und Tiefen, mit ihrer Größe und ihren Entartungen, verstehen will, muß man vor allem dem menschlichen Orientierungssystem nähere Aufmerksamkeit schenken. Das Orientierungssystem dient dem menschlichen Handeln, der zwischenmenschlichen Interaktion und der Konstitution von Institutionen. Es muß daher in handlungstheoretischer Perspektive betrachtet werden. Aus handlungstheoretischen Gründen können wir das Orientierungssystem als komplexes Informationssystem ansehen, das aus zwei Teilen besteht, deren Bedeutung und pragmatische Funktion verschieden ist: 1. aus dem System der Tatsacheninformationen (Wissenssystem) und 2. aus dem System der praktischen (stellungnehmenden) Informationen. Das Wissenssystem umfaßt: (a) Informationen über die Situation und Umgebung des Handelnden und über das Feld, in dem die Handlung vollzogen werden soll; (b) Kausalwissen; (c) technologisches Wissen (Kenntnis von Programmen, die zur Bewältigung gewisser Aufgaben dienen können); (d) die Kenntnis von Institutionen und der durch sie gegebenen Handlungsrahmen (Handlungsmöglichkeiten).

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Kap. 6: Weltethos und Universalmoral versus Wahnideen

Das Orientierungssystem jedes Handlungssubjektes ebenso wie jeder Körperschaft oder jedes Systems gemeinschaftlichen Handelns muß neben Tatsacheninformation ein System praktischer Informationen enthalten. Der handlungsbestimmende Informationsprozeß erfordert nämlich Stellungnahmen zu bestehenden und möglichen Tatsachen, die in rationalisierter Form durch praktische Informationen (praktische Sätze) dargestellt werden. Handeln ist immer ein Wählen (Entscheiden) zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten; und dies ist ohne stellungnehmende Akte bzw. stellungnehmende Informationen nicht denkbar. Die praktischen Informationen drükken Zwecke, Normen, Wertungskriterien und Präferenzen aus. Sie haben im handlungsbestimmenden Informationsprozeß die Rolle von Auswahlkriterien bzw. Auswahlfunktionen des Entscheidens. Das System der praktischen Informationen, das dem Individuum zugeordnet ist, ist in seiner primären Grundlage Ausdruck der biologischen Tendenzen und der immanenten Strebenseinstellung des Menschen, gleichzeitig aber auch Folge der anerzogenen, der erlernten und der akzeptierten Wünsche. Analog müssen wir auch Gemeinschaften oder Körperschaften als Handlungsträgern, wenn wir sie und ihr Handeln verstehen wollen, ein System von Zwecken, Tendenzen und Präferenzen zuordnen. Soziologisch betrachtet hat die Gemeinschaft oder Körperschaft ein Eigenleben, das Bestandteil der entsprechenden Institution ist. Der Institution kommt gesellschaftliches Dasein zu; und sie ist gegenüber den praktischen Einstellungen der Mitglieder relativ selbständig (obwohl natürlich gewisse komplexe Beziehungen zwischen den Leitideen und Zwecken der Institution und den Einstellungen der an der Institution beteiligten Personen bestehen). Auf drei Eigenschaften des Orientierungssystems, die beide Teile betreffen, möchte ich noch besonders aufmerksam machen.

3. Orientierungssystem menschlichen Handelns

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Erstens: Der Mensch arbeitet unentwegt an beiden Teilen des Orientierungssystems. Wir suchen Erkenntnisse, prüfen unser Wissenssystem, um es zu verbessern und um es auf einem zeitgemäßen Stand zu erhalten. Wir arbeiten aber auch an unseren Wertvorstellungen und praktischen Einstellungen; wir fragen uns immer wieder, ob wir das Richtige tun, ob wir eine vernünftige Lebenseinstellung haben und realisieren, ob wir unsere Mitmenschen und die Institutionen unserer Gesellschaft adäquat werten. Zweitens: Es verläuft immer und auf verschiedenen Ebenen ein Prozeß der gegenseitigen Beeinflussung der Informationssysteme des Individuums, seiner Mitmenschen und der Gemeinschaften. Das Wissen des Einzelnen ist kein rein persönliches Erfahrungs- und Denkprodukt, sondern in hohem Maße ein individuell geformter Extrakt aus einem gemeinschaftlichen Erkenntnissystem, das selbst eine soziale Summation individueller Erkenntnisleistungen ist. Ähnlich ist die Situation im Bereich der praktischen Informationen. Es bestehen dialektische Beziehungen zwischen persönlichem Ethos, dem Wünschen, Werten und Wollen des Einzelnen, und den gemeinschaftlichen Systemen des Sollens und Wertens sowie mit den korrelierenden gesellschaftlichen Institutionen. Drittens: Die einzelnen Elemente des Orientierungssystems sind in verschiedenem Grade gewiß. Ungewißheit betrifft sowohl das Wissenssystem als auch die praktischen Einstellungen. Der Wunsch, sicher orientiert zu sein, ist für den Handelnden von großer Bedeutung. Die reale Lebenssituation bietet uns eine solche Sicherheit nur partiell. Im alltäglichen Leben meditieren wir relativ wenig über die Frage der Gewißheit unserer Erkenntnis und verdrängen Zweifel in bezug auf die Richtigkeit unserer Lebenseinstellungen, Werturteile und Zielsetzungen. Schnell, und oft vorschnell, deuten wir das Handeln unserer Mitmenschen und deren Handlungsmotive in einer solchen Weise, als wären dies sichere Erkennt-

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nisse, vor allem dann, wenn wir fixierte allgemeine Vorstellungen über gewisse Menschen oder Situationen haben. Für die Wissenschaft, das philosophische und moraltheoretische Denken, sind Reflexionen über die Gewißheit aller Elemente unseres Orientierungssystems ganz wesentlich. Der kritische Denker ist vorsichtig: er zweifelt an Prima-facie-Gewißheiten, ja auch an seinen eigenen theoretischen und praktischen Überzeugungen (bzw. Voraussetzungen). Er sucht aber immer auch Wege, die Gewißheit seiner Thesen und die Adäquatheit seiner praktischen Einstellungen zu erhöhen.

4. Entstehung und Entwicklung von Wahnideen und Massenverfolgungen Ich gehe von der Hypothese aus, daß die Entstehung und Entwicklung von Wahntheorien, die ganze Gesellschaften erfassen und zu Massenverfolgungen führen, an gewisse Bedingungen gebunden sind, die einerseits im geistigen Bereich und andererseits im Bereich der gesellschaftlichen Strukturen angesiedelt sind. Die geistigen Voraussetzungen sind notwendige Bedingungen für die Herausbildung von Machtstrukturen, durch die Massenverfolgungen in die Tat umgesetzt werden. Die geistigen Umstände allein können höchstens zu sozialen Aufspaltungen, zu gewissen Diskriminierungen oder zu gesellschaftlichen Isolierungen gewisser Individuen führen. Sie sind latente Gefahren, die nur dann, wenn die entsprechenden Machtstrukturen da sind oder aufgebaut werden, in massive Verfolgungen und Menschenvernichtung ausarten. Sicherlich gibt es andererseits auch Auswirkungen von Machtstrukturen auf die in der Gesellschaft produzierten Vorstellungen, Meinungen und Lebenseinstellungen – kurz: auf die gesellschaftlich wirksamen Ideologien.

5. Vernichtungswahn und Heilsvorstellungen von Gut und Böse

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Markant ist die Tatsache, daß jede Verfolgung und jeder Holocaust im Namen gewisser Ideale, also unter dem Banner des Kampfes für das Gute stehen. Ich meine, daß der Mensch im Prinzip nach dem Guten strebt, und daher nur unter der Vorstellung von Idealen fähig ist, Greueltaten zu vollbringen. Wenn der Mensch fixe Wahnideale im Auge hat, dann wird aber seine Roheit unter Umständen grenzenlos.

5. Vernichtungswahn und Heilsvorstellungen von Gut und Böse Absolutes Wissen: Wer davon überzeugt ist, die Wahrheit in der Tasche zu haben, und wer meint, mit absoluter Gewißheit zu wissen, was gut und richtig ist, kann jedes Mittel zur Realisierung seiner Vorstellungen akzeptieren. Wenn ich davon felsenfest überzeugt wäre, daß die Erschießung meines besten Freundes die notwendige und hinreichende Bedingung für das Heil der Welt, sowie für das Ende der Not und der Kriege in der Welt wäre, hätte ich dann nicht die Pflicht, ihn zu erschießen? Das scheint mir recht plausibel; aber nur ein Wahnsinniger kann solche Überzeugungen entwickeln. Eine wesentliche Vorbedingung des Vernichtungswahns ist die absolute Überzeugung, die Ablehnung jedes Zweifels. Vor allem absolute Gewißheit in metaphysischen Grundfragen: in Fragen der Religion, der Weltanschauung und der Moral. Und dies sind meines Erachtens gerade jene Bereiche, wo Zweifeln und suchende Überlegungen nicht nur gerechtfertigt sind, sondern auch der menschlichen Lebenssituation entsprechen und für die Formung einer gediegenen moralischen Persönlichkeit notwendig sind. Monistisches Ideal – monistische Heilsvorstellungen. Mit der Voraussetzung, absolutes Wissen zu haben (oder der Forderung, suchendem Zweifel durch bedingungslosen Glauben

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zu begegnen), pflegt eine monistische Heilskonzeption verbunden zu sein, nämlich die Vorstellung, daß ein einziges fundamentales Postulat zu erfüllen sei, wodurch das Heil mehr oder weniger automatisch sichergestellt sei: Der Klassenkampf muß ausgefochten werden, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und freie Entfaltung der Persönlichkeit werden dadurch allen nachfolgenden Generationen zuteil werden. – Freier Markt und alle ökonomischen und moralischen Probleme werden gelöst sein. – Gewisse religiöse Glaubensakte sind das Essentielle des Weges zur heilen Welt und die Garantie, daß dieser Weg erfolgreich sein wird. Ich bin der Meinung, daß das Postulat der Nächstenliebe nicht diesen Charakter hat, trotz seiner zentralen Stellung in religionsphilosophischen und ethischen Betrachtungen. Es wird zwar als oberstes Prinzip konzipiert, aber mit dem Bewußtsein, daß es nur als richtungsbestimmender Grundsatz für alle Überlegungen vom moralischen Standpunkt aus fungiert, daß jedoch bei allen Wertentscheidungen zusätzliche Erwägungen und Argumente erforderlich sind. 6. Institutionelle, ideologische und organisatorische Voraussetzungen von Massenwahn und Massenverfolgungen Zu den geistigen Strukturen, die für die Herausbildung von Massenwahn entscheidend sind, ist auch die Auffassung zu zählen, daß geistig-ideologische Führung – oft in gestufter Konzeption und verbunden mit einem institutionalisierten Apparat – ein System von Auffassungen und Meinungen in authentischer Weise erarbeitet, das von jedermann akzeptiert wird und akzeptiert werden soll. Es kann sicherlich die Tatsache nicht in Abrede gestellt werden, daß gesellschaftliche Kooperation und die Arbeit von Meinungsbildungsinstitutionen erforderlich sind. Diese soziologische Tatsache hat aber mit dem Akzeptieren authentischer ideologischer Instanzen nichts

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zu tun, denn: 1. die in demokratischen Systemen bestehenden geistigen Institutionen sind pluralistisch konzipiert; 2. sie sollten prinzipiell anti-hierarchisch funktionieren; 3. sie haben keinerlei verbindliche Autorität und wirken nur durch die Kraft der vorgetragenen Argumente; jedermann kann die Meinung prüfen, akzeptieren oder verwerfen. Dem Standpunkt der geistigen Unterwerfung und der Akzeptanz ideologischer Hierarchien kann man in freier Abwandlung Kantscher Ideen1 das Postulat des Selbstdenkertums und der Selbstverantwortung für Meinungen, Werteinstellungen und Zielsetzungen jedes Einzelnen entgegensetzen. ,Selbstdenker‘ wird hierbei nicht als wissenschaftliche Qualifikation oder Expertentum verstanden, denn es geht dabei nicht darum, daß man alles, was man meint, oder alles, wofür man eintritt, selbst erarbeitet oder begründet hat. Es geht hier vielmehr um eine Frage der menschlichen Würde und um eine gesellschaftspolitische Charakteristik der demokratischen Lebensform: jeder hat das Recht und ist dazu aufgerufen, seine Meinung und Einstellung zu bilden (soweit er dazu fähig ist). Die Verherrlichung der unerschütterlichen Überzeugungen. Sowohl in religiösen als auch in manchen weltlichen Systemen gilt es als höchste Tugend, unerschütterliche Überzeugungen zu haben, an absolute Autoritäten zu glauben, in deren Worten letzte Wahrheiten und Maßstäbe des Guten und Richtigen objektiv dargestellt sind. Diese Systeme fordern überdies, daß das entsprechende Lehrgebäude als Ganzes, und nicht nur als Grundstruktur, sondern in allen einzelnen wesentlichen Thesen akzeptiert und unerschütterlich geglaubt werde. Es ist gar kein so entscheidender Unterschied, ob diese Autorität als der große weltliche Lehrer (wie Marx, Stalin, Mao) oder als Träger eines kirchlichen Lehramts (Augustinus, Thomas, ein Papst oder Khomeini) angesehen wird: immer wird Überzeugungsgehorsam und Unerschütterlichkeit des Glaubens gefordert. 1

I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784).

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Meines Erachtens steht diese Forderung selbst in Konflikt mit der menschlichen Würde, mit der tatsächlichen Conditio humana, die uns – jedes Individuum – verpflichtet, ein moralisch autonomer Selbstdenker zu sein. Wenn wir solche Systeme im historischen Rückblick oder von einer anderen geistigen, kulturellen oder religiösen Position aus betrachten, dann können wir aus der Erfahrung recht wenig für die universelle Unfehlbarkeit der Autoritäten anführen: Gerade die Vorstellung, die zu den grauenvollen Verfolgungen und Massenvernichtungen geführt haben, wurden oft von höchsten Autoritäten als jene Ansichten festgesetzt, an die man hatte unerschütterlich glauben sollen. Die tatsächliche Struktur des menschlichen Wissens und unserer Wertüberzeugungen läßt jede Verherrlichung der absolut starren Überzeugungen als verfehlt erscheinen; und pragmatisch betrachtet, sind Forderungen nach unerschütterlichen Überzeugungen (manchmal auch ,Glauben‘ genannt) die psycho-soziale Basis der Entstehung von Wahntheorien. Die Realität der Ungewißheit des Wissens und der Fehlbarkeit des Wertens und Handelns führen zu einem Ethos des Suchens, zum Mut des Zweifelns. Blinder Glaube und Überzeugungen, die als unrevidierbar und unkritisierbar akzeptiert werden, führen in eine Geisteswelt der Intoleranz und Unmenschlichkeit, und gegebenenfalls auch zu Vorstellungen, die in einen Holocaust ausmünden können. Die Theorie des Bösen. Jede Moraltheorie (und daher notwendigerweise jede Religion, die ja neben einer ontologischen Metaphysik immer auch eine Morallehre enthält) befaßt sich mit der Frage von ,gut‘ und ,böse‘. Die Probleme von ,gut‘ und ,böse‘ liegen in verschiedenen Ebenen: 1. Ist ,gut‘ / ,böse‘ eine Charakteristik von Handlungsweisen, die vom moralischen Standpunkt aus beurteilt werden sollen, oder sind das Gute und das Böse einander gegenübergestellte moralische Entitäten? 2. Stehen einander gegenüber das Prinzip des Guten (bei Kant die Handlung nach

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dem Gesetz, das durch den kategorischen Imperativ expliziert ist) und das Prinzip des Bösen (das Handeln nach einem Prinzip des Bösen2, das aber bei Kant nicht ausdrücklich definiert wird), oder stehen wir immer vor einer moralischen Wertungsfrage, welche Verhaltensweise als gut zu realisieren oder als böse zu meiden ist? 3. Sind das Gute und das Böse Charakteristiken der Welt oder der Mächte der Welt (Gott – Teufel), oder sind sie wertende Stellungnahmen, die als moralische Auswahlkriterien in der Handlungsüberlegung auftreten? 4. Läßt sich prinzipiell für alle Situationen, alle Relationen und alle Zeiten bestimmen, was das Gute, und was das Böse ist? Und hätte eine solche Bestimmung den Charakter einer objektiven Erkenntnis? Im Rahmen dieser Untersuchung ist es nicht möglich und auch nicht erforderlich, die Gesamtheit der Probleme von ,gut‘ und ,böse‘ zu erörtern. Nur eine Frage ist hier wichtig: Sind das Gute und das Böse an und für sich bestehende Entitäten, für die man sich entscheiden kann? Ich halte eine solche Konzeption für eine ganz verfehlte und gefährliche Hypostasierung. ,Gut‘ und ,böse‘ sind Werteigenschaften, und nichts anderes. Gute und weniger gute (bzw. in verschiedenem Maße böse) Tendenzen mögen in unserer Brust bestehen und sich mehr oder weniger in unseren Entscheidungen und Handlungen durchsetzen. Es gibt wohl keinen Menschen, der restlos gut oder der restlos böse handelt. Wenn wir bildlich sprechen wollen, können wir sagen, daß bei niemandem nur das Gute oder nur das Böse herrscht: es besteht vielmehr ein moralischer Kampf zwischen verschiedenen Tendenzen in unserer Seele. Weniger bildhaft ausgedrückt bedeutet dies: wir entscheiden darüber, wie wir uns verhalten, unter der Konkurrenz von subjektiven Utilitätsüberlegungen und moralischen Werten. Die Utilitätsüberlegungen können zwar mit moralischen Werten in Konflikt geraten, sie müssen aber keineswegs 2

I. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1783 / 94).

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moralisch bedenklich sein. Utilität und Moral zu harmonisieren, ist eine wünschenswerte Bestrebung. Mit der Hypostasierung von ,gut‘ und ,böse‘ geht häufig die ganz unsachliche Vorstellung Hand in Hand, daß wir uns im Prinzip und im gesamten Feld unseres Handelns für das Gute oder für das Böse entscheiden, gegebenenfalls daß wir von dem einen oder aber von dem anderen beherrscht werden. In der Weltanschauung, die zu rigoristischem Wahn führt, faßt man gewisse Menschen als Inkarnation des Bösen auf, als vom Bösen besessen, als auf das Böse gerichtet kraft eines Willensaktes. So etwas gibt es in Wirklichkeit nicht, sondern wir stehen täglich und stündlich in einem Entscheidungskampf, in dem wir ,gut‘ und ,böse‘ als Eigenschaft von Verhaltensarten (Möglichkeiten des tatsächlichen Tuns oder Lassens) bestimmen und in dem wir eine Resultante aus moralischen und Utilitätstendenzen schaffen. Der Überzeugung, daß gewisse Menschen (Juden, Häretiker, Hexen, Kapitalisten, . . . ) Inkarnationen des Bösen seien, folgt der Wunsch sowie die Forderung der Vernichtung der Träger des Bösen auf den Fuß. Es gibt keine unchristlichere Auffassung; statt zu verstehen, zu lieben, zu bessern und zu reformieren, das Vernichten und Morden von Brüdern, weil Menschen dem Wahn unterliegen, 1. daß gewisse Menschen Träger des Bösen seien, und 2. weil sie meinen, durch Vernichtung dieser Menschen könne das Böse, Mindere, Verwerfliche ein für allemal aus der Welt geschafft werden. Ich würde über solche Auffassungen ihrer evidenten Dummheit wegen lachen, wären sie nicht der Hintergrund des Vernichtungswahns. Innere und äußere Intoleranz. Für Menschen, die eine demokratische Erziehung genossen haben und gewohnt sind, demokratisch zu denken, ist Intoleranz fast unverständlich; sie erscheint ihnen als eine Art von Beschränktheit und eine Folge

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mangelnden kritischen und verstehenden Ausblicks. Wenn man jedoch versucht, sich in das Denken jener Menschen einzufühlen, die unerschütterlich meinen, objektives Wissen über die essentiellen Dinge und über ,gut‘ und ,böse‘ zu besitzen, dann kann man verstehen, daß sie nicht tolerant sein können: man kann doch nicht die Unwahrheit als gleichberechtigte Alternative zur Wahrheit tolerieren; ebensowenig wie man Alternativen zum einzig objektiv Guten zulassen kann. Toleranz beginnt daher mit einer selbstkritischen und suchenden kognitiven und moralischen Einstellung. In weltanschaulichen Systemen, die eine gedankliche Plattform für Vernichtungswahn und Verfolgungen bilden, pflegt zweierlei Intoleranz aufzutreten: (1) innere Intoleranz gegenüber den eigenen Anhängern, (2) Intoleranz gegenüber Außenstehenden, d. h. gegenüber Individuen oder Gruppen, die nicht der eigenen Überzeugungs- oder Glaubensgemeinschaft angehören. Die innere Intoleranz äußert sich im Unerschütterlichkeitspostulat genauso wie in der Forderung, alle Thesen des Systems in ihrer Gesamtheit zu akzeptieren. Ein kritischer Denker ist sich dagegen der verschiedenen Gewißheitsgrade der Thesen bewußt; er rezipiert weltanschauliche Konzeptionen nicht global, sondern mit differenzierender Zustimmung. Sowohl die rezipierten als die selbstproduzierten Auffassungen betrachtet er als revidierbar. Keinesfalls verdammt er den Meinungsgegner, sondern er versucht, ihn zur Diskussion und zum gemeinsamen Suchen herauszufordern. Äußere Intoleranz entspringt gewöhnlich gleichzeitig verschiedenen Motiven: (a) dem Wunsch, seine Überzeugungen zu verbreiten (wer hätte diesen Wunsch nicht, ist doch unser Forschen und Philosophieren immer beides: ein persönliches und ein gemeinschaftliches Anliegen);

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(b) dem Versuch, eine Lebensform zu institutionalisieren; (c) Machtbestrebungen verschiedener Art. Äußere Intoleranz ist einerseits eine aggressive Einstellung gegenüber anderen Gruppen oder einzelnen Andersdenkenden, andererseits Ausdruck eines expansiven Machtstrebens, also eine Einstellung, die mit demokratischen Auffassungen prinzipiell unverträglich ist. Die äußere Intoleranz ist wohl zu unterscheiden von dem Bestreben, den Diskurs mit anderen Meinungen zu suchen, und von dem Versuch, Andersdenkende zu überzeugen. Diskussionsfreudige Menschen wollen zwar Überzeugungen wecken, immer aber auch aus dem Meinungsstreit für den Ausbau der eigenen Meinung Gewinn ziehen. Toleranz ist die fundamentale Forderung, die demokratische Systeme als Bedingung der Akzeptabilität von Überzeugungen und Glaubensgemeinschaften aufstellen. Die Freiheit solcher Gemeinschaften muß jedes demokratische System gewährleisten, aber nicht als Freibrief für die Unterdrückung anderer Meinungssysteme. Toleranz ist die Bedingung der Überzeugungsfreiheit. Meinungs-, Gewissens- und Glaubensfreiheit ist gebunden an das Postulat der inneren und äußeren Toleranz, die jede Überzeugungsgemeinschaft einhalten muß. In der Perspektive der Überzeugungssysteme geht es um die Toleranzforderung; gesamtgesellschaftlich gesehen geht es aber nicht um Toleranz – d. h. um die Duldung anderer Überzeugungssysteme neben einem herrschenden System –, sondern um rechtliche, gesellschaftliche und moralische Gleichstellung verschiedener Überzeugungssysteme. Hier nur von ,Toleranz‘ zu sprechen, bedeutet eigentlich eine implizite Diskriminierung; es geht um gleiches Recht für verschiedene Gemeinschaften. Angesichts der Tatsache, daß weder die historische Entwicklung noch die aktuelle politische Realität der Überzeugungs-

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systeme von Toleranz beherrscht wird, ist es angemessen, einige allgemeine Gedanken zu dieser Frage vorzulegen. Unter welchen Bedingungen können verschiedene Überzeugungsoder Glaubenssysteme friedlich koexistieren und zur allgemeinen kulturellen Entwicklung der Gesellschaft beitragen? (aa) Es muß die prinzipielle Gleichstellung verschiedener Überzeugungsgemeinschaften garantiert sein. (bb) Die Überzeugungsgemeinschaften müssen innere und äußere Toleranz pflegen. Diese Toleranz impliziert auch, daß den Mitgliedern der Gemeinschaft ein Austritt aus der Gemeinschaft ohne sozial untragbare Folgen ermöglicht wird. (cc) Es muß eine funktionale Trennung zwischen dem staatlichen Machtapparat auf der einen Seite und den Überzeugungsgemeinschaften (z. B. Kirchen, politischen Parteien) nicht nur de iure, sondern auch de facto bestehen. (dd) Bezüglich der Methoden der Verbreitung von Überzeugungssystemen oder der Mission von Religionen bestehen gewisse Beschränkungen; jedenfalls ist absolute Gewaltfreiheit zu fordern. Ich bin aber nicht sicher, ob nicht weitere einschränkende Bedingungen statuiert werden sollten. (ee) Die Rahmenbedingungen für den geistigen Kampf um die Verbreitung von Überzeugungssystemen und für religiöse Mission müssen in gleicher Weise auch für die Gegner des Systems bestehen. Ich gehe von der These aus, daß Massenverfolgungen durch ein Zusammenspiel von Auffassungen (Ideologien) und gesellschaftlichen Organisationen sowie Machtstrukturen (Institutionen) ermöglicht werden, und unter gewissen Bedingungen dann tatsächlich entstehen. Die Wahntheorien gehen zwar oft in gewisser Weise auf mehr oder weniger individuelle geistige Quellen zurück, sie bilden sich aber zu echten Wahntheorien mit gesellschaftlicher Relevanz nur dann heraus, wenn sie mit institutionalisierten 7 Weinberger

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Organisationen verwachsen, die den Thesen eine spezifische – meist eine den ursprünglichen Sinn und die primäre Funktion transformierende – Interpretation geben und für die Massenverbreitung sorgen. Ein dogmatischer Marxismus konnte sich z. B. nicht in rein akademischer Diskussion herausbilden, sondern nur auf der Basis institutionalisierter Apparate, die dann im Stalinismus allerdings auch versuchen, das höhere Geistesleben und die Universitäten zu beherrschen. Analoge Strukturen finden wir auch in Religionsgemeinschaften und Kirchen, die oft das suchende Denken – inklusive Theologie – in unifizierende Zwangsjacken drängen, und eine einzige Meinung und einen einzigen Standpunkt mit verbalen, aber auch mit Zwangsmitteln durchzusetzen suchen. Ich würde nun gerne ein allgemein gültiges Bild der gesellschaftlichen Organisationen und Machtstrukturen skizzieren, die überall auftreten, wo Verfolgung und Vernichtung zum gesellschaftlichen Massenphänomen werden, denn ein solches universelles Strukturbild hätte im wesentlichen auch Geltung für mögliche zukünftige Entwicklungen: es würde eine wichtige Leitlinie für die Prävention darstellen. Leider läßt sich eine solche universell gültige Strukturbeschreibung nicht angeben. Das Feld der möglichen Strukturen ist in verschiedenen Richtungen offen, so daß eine Gesamtschau über die Möglichkeiten nicht durchführbar ist. Gewisse Züge der Institutionen können in einem Kontext in ganz unbedenklicher Weise wirken, unter anderen Umständen, bei anderer Verwendung der Möglichkeiten des institutionellen Rahmens aber zu inhumanen und destruktiven Entwicklungen führen. Ich kann mir daher nur eine viel bescheidenere Aufgabe stellen, nämlich die wichtigsten funktionalen Elemente herauszuheben, die Tendenzen zum Vernichtungswahn und zur Menschenvernichtung wecken. Die ideologische Organisation. Im Dienste einer Idee (einer Weltanschauung, eines Glaubenssystems) wird eine Organisation aufgebaut, oder eine schon bestehende Organisation wird

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auf diese Aufgabe hin orientiert. Zum Unterschied von anderen Institutionen (wie z. B. einer Aktiengesellschaft, einem Kommunalbetrieb, einem Sportverein) besteht hier die Leitidee3 nicht nur als Kristallisationszentrum der Institution, als Bestimmung des zu schöpfenden Werkes, sondern als Dogma, nicht nur als eine weiter zu entwickelnde und zu läuternde Idee, sondern als absoluter Maßstab, der – im Falle der Entartung – zu Destruktion von allem, was im Wege steht, aufruft. Die organisierte Dogmatisierung. Diese Institutionen sind geistig nicht offen, auch dann nicht, wenn sie sich selbst als offenes System deklarieren (wie z. B. der Marxismus); das heißt: sie sind auf gewisse Grundthesen festgelegt, die sie als Richtigkeitsmaßstab verwenden, und die keiner weiteren Prüfung unterzogen werden. Was ich damit meine, läßt sich vielleicht am besten an einem markanten Charakterzug der dogmaabhängigen Denkweise illustrieren: Wenn wir marxistische Arbeiten z. B. über philosophische, moralische, soziologische, ökonomische oder juristische Fragen lesen, fällt uns auf, daß die Autoren vor allem zu beweisen suchen, wie die marxistische Antwort auf die Problemstellung lauten muß, oder sie legen wenigstens breit dar, daß ihre Antwort als marxistisch, wenn nicht als die einzig richtige marxistische Antwort auf die gegebene Frage gelten muß. Daß dies auf dem Boden anderer dogmatischer Systeme nicht wesentlich anders ist, wird dem Leser wohl schon aufgefallen sein. Auf eine Kurzformel gebracht kann man diese Funktion als „Unsachlichkeit der Dogmatisierung“ bezeichnen. Der Propagandastab. In verschieden ausgestalteter Form entsteht oft ein Stab von Personen, die professionell oder halbprofessionell der Propagierung der Idee dienen. Dieser Stab pflegt hierarchisch aufgebaut zu sein, aber anders als freie 3 Über die Rolle von Leitideen für die Konstitution von Institutionen, siehe: M. Hauriou, Die Theorie der Institution und der Gründung, in: R. Schnur (Hrsg.), Die Theorie der Institution, Berlin 1965, S. 27 – 66 (franz. Original 1925); O. Weinberger, Recht, Institution und Rechtspolitik, Stuttgart 1987.

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Arbeits- und Forschungsstätten, nämlich mit geistiger Subordination. Gegenüber der Masse der Bevölkerung erlangt der Stab eine weitreichende Sonderstellung: er wird zur sozialen und geistigen Elite, die in gewisser Weise unanfechtbar gemacht wird, so daß sie nicht von außen und nicht von unten, sondern nur von der übergeordneten Hierarchie kritisiert werden kann. Dies hat zur Folge, daß auch ganz abwegige Thesen oder Interpretationen von Glaubenssätzen ebenso wie gegebenenfalls Aufforderungen zu inhumanen Verfolgungen unter solchen institutionellen Rahmenbedingungen kaum kritisierbar sind, und vom Einzelnen nur mit Gefahr für die persönliche Sicherheit und die Lebensposition abgelehnt werden können. (Kämpfer gegen Hexenverfolgungen oder gegen nazistische Konzentrationslager waren selbst Verfolgungen ausgesetzt.) Erfolg und sozialer Aufstieg in dieser Hierarchie wird weniger durch Niveau und mehr durch dogmatische Treue und propagandistische Fähigkeiten bestimmt. Die Mitglieder dieses Stabes sind dazu gedrängt, sich nicht nur als überzeugte Anhänger des ideologischen Systems, sondern auch als treue Gefolgsmänner der Mächtigen zu profilieren, denn Tüchtige (Macher) sind erwünscht, nicht aber Selbstdenker. Emotionalisierung der eigenen Auffassung und moralische Stigmatisierung der Gegner. Es wird durch die Institution die emotionale Färbung der Überzeugung so weit wie möglich gestärkt, und Gegenmeinungen werden mit einem moralischen Negativstigma versehen. Der Andersdenkende wird zur Negativperson, zum Träger des Bösen gemacht. Innere Disziplinierung in ideologischen Organisationen. Die ideologischen Institutionen wirken durch verschiedene Mechanismen auf die innere Disziplinierung der Mitglieder ein und hemmen die kritische Selbstreflexion der eigenen Anhänger. Verschiedenartige Mechanismen können hier wirksam werden: Einrichtungen, die die persönliche Karriere von der orthodoxen Meinung abhängig machen; die Notwendigkeit der Angehörigen der Gesinnungsgemeinschaft, sich als brave

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Gefolgsleute zu präsentieren; eine einseitige Dotationspolitik; Zensur oder ein Index librorum prohibitorum, u.ä. Als Außenstehender wundert man sich, daß solche Mittel ohne Scham angewendet werden, obwohl sie eigentlich ein Zweifeln an der Überzeugungskraft der eigenen Argumente anzeigen. Imagepflege zur Kompensation von Greueltaten. Es werden taktische Mittel eingesetzt, die dazu dienen sollen, das moralische Image zu halten, trotz des Bewußtseins breiter Schichten, daß in Wirklichkeit Greueltaten verübt werden. Im stalinistischen System ist es die Rollenteilung zwischen Partei und Staatsapparat, die so konstruiert ist, daß die Partei jedenfalls (relativ und scheinbar) rein bleibt. Ähnliches finden wir in unseren Ländern bei den Hexenverfolgungen; die Kirche befleckt sich nicht mit dem Blut der Opfer, zwingt aber den Staat dazu, dies zu tun, und sie tritt sogar für die Verschärfung der Folter ein (z. B. durch den Rat, daß hier das Verbot, die Folterung zu wiederholen, unter dem lügnerischen Namen der Unterbrechung der Folter „legal“ untergebracht werden könne). Die Möglichkeiten der Imagepflege trotz tiefster Entartung sind schier unerschöpflich. Hierher gehört wohl auch die Geheimhaltung oder teilweise Geheimhaltung der Gewaltmaßnahmen.4 Überzeugungssystem und Macht. Die dem Überzeugungssystem dienenden Apparate müssen in der Gesellschaft große Macht erlangt haben, wenn sie zu massiven Vernichtungsschlägen ausholen. Diese Übermächtigkeit hat in der Regel verschiedene Standbeine: (i) ideologische Herrschaft, wenn es gelingt, weite Kreise widerstandslos zu überzeugen; (ii) Macht, die aus der Organisiertheit folgt; sie ist vor allem relativ zu den Opponenten wirksam, ökonomische Macht, die aus relativ großen Ressourcen resultiert oder aus der Unterstüt4 Ein gutes Beispiel sind die nazistischen Konzentrationslager. Fast niemand wußte alles (Zahlen, Daten, Einzelheiten über die Organisation oder Informationen über die konkreten Lebensbedingungen der Häftlinge), aber jeder wußte etwas, nämlich gerade soviel, daß die Lager als abschreckende Drohung wirkten.

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zung ökonomisch mächtiger Förderer; Informationsmacht in Form der einseitigen Beherrschung der Massenmedien und Kommunikationsmittel. Im demokratischen System sind Grenzen der Macht der ideologischen Organisationen notwendig. 7. Religiosität in lebenspraktischer und philosophischer Perspektive Handlungstheoretische Untersuchungen zeigen uns, daß wir uns in einem Raum bewegen, den wir nur teilweise kennen, und daß wir unsere Handlungsentscheidungen zwar aufgrund von Wissen treffen, daß aber dieses Wissen niemals dazu ausreicht, eine volle Begründung der Entscheidung zu liefern. Wir kennen nicht alle möglichen Handlungsalternativen, ebensowenig wie die Gesamtheit der Folgen jeder einzelnen Alternative. Unsere Erkenntnisse sind ungenau, und das aus der Erfahrung abgeleitete Wissen gilt in der Regel nur als mehr oder weniger wahrscheinliche Information. Wir entscheiden und handeln daher unterinformiert, das heißt: ohne ein solches Wissen, das die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Handlungsweise sicherstellen würde. Mit diesen Ungewißheiten müssen wir leben. Wenn wir über unsere Situation und unser Handeln kritisch reflektieren, bringen wir uns diese Tatsache auch zum Bewußtsein. Nicht nur Philosophen, sondern jeder Kulturmensch denkt über unsere Stellung in der Welt nach. Aus dieser Reflexion geht hervor, daß unser Leben eingebettet ist in ein Feld von Rahmenbedingungen, die teils, aber nur teils, unserer Verfügung unterstehen. Eine Teil dieser Rahmenbedingungen bilden die gesellschaftlichen Institutionen, die größtenteils in einem historischen Prozeß gewachsen sind. Die institutionalisierten Rahmenbedingungen sind nur partiell und nur selten in kurzer Frist modifizierbar. Ein anderer Teil der Rahmenbedingungen unseres Lebens entzieht sich vollends unserer Verfügung: die

7. Religiosität in lebenspraktischer und philosophischer Perspektive

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Grundzüge der biologisch gegebenen Erbinformation sowie des individuellen Charakters (der zwar modifiziert werden kann, als eine der Determinanten aber niemals verschwindet), das persönliche Schicksal, und vor allem: Leiden und Tod. Wir wissen zwar mit Sicherheit, daß es für uns Unverfügbares gibt, sowohl für jede Einzelperson als auch für menschliche Gemeinschaften und für die Menschheit als Ganzes, doch wissen wir nicht, wo die Grenze zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem verläuft. Der Tod ist unabwendbar, und das gleiche gilt im Prinzip vom Leid, doch sind viele entsetzliche Fälle des Leids – nämlich jene, die durch menschliches Handeln erzeugt werden, wie z. B. Massenverfolgungen und Genozid – durchaus vermeidbar. Unser Nichtwissen und die Grenzen unseres Könnens werfen die grundlegende Frage des Glaubens auf. Können wir glauben – oder dürfen wir hoffen (wie Kant sagen würde5) –, daß das, was für uns unverfügbar ist, aber dennoch den wesentlichen Rahmen unseres Daseins darstellt, einem Weltplan entspricht, dem wir uns nicht nur fügen, weil er uns vorgegeben ist, sondern den wir auch akzeptieren, weil wir ihn als Ergebnis eines höheren und sinnvollen Ratschlusses ansehen, und zwar auch dann, wenn er uns Leid beschert. Diese Lebenseinstellung, das Akzeptieren der Weltordnung, dieses Lebensgefühl der Zustimmung zum Unverfügbaren (hierzu gehört auch der Charakter der eigenen Person) kann man als Basis der Religiosität im philosophischen Sinne ansehen. Wie der Glaube im einzelnen konzipiert wird, ob eher personalistisch oder eher pantheistisch, ist meines Erachtens von sekundärer Bedeutung. Die Religiosität ruft eine andere Haltung, eine andere Gefühlseinstellung, so etwas wie Geborgenheitsgefühle und Gelassenheit hervor. Man weiß, daß man zwar handelt, und hier5 Kant charakterisiert bei der Bestimmung des Feldes der Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung die Religion durch die Frage „Was darf ich hoffen?“ (I. Kant, Logik, Leipzig 1920 3, S. 27).

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bei gewisse Zwecke verfolgt und Werte realisieren will, man weiß aber auch, daß das Ergebnis unseres Tuns und Lassens durch Momente bestimmt wird, die nicht im Bereich unserer Disposition stehen. „L’homme propose et Dieu dispose“ ist vielleicht der adäquate Ausdruck dieses Lebensgefühls. Die religiöse Lebenseinstellung setzt sich in gewisser Weise immer auch mit der Frage des Todes auseinander. Diese Frage hat wenigstens zwei Aspekte: erstens der Tod als Grenze des möglichen Handelns, und zweitens die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Religiosität ermöglicht uns, die bestehende, aber uns unbekannte Grenze des Lebens und unserer Lebenspläne mit Gelassenheit zu akzeptieren, denn bei dieser Einstellung betrachten wir unsere Person bloß als ein Element des Lebensstroms und des Geschehens in der Welt, deren Rolle eben begrenzt ist. Auf die zweite Frage wird jeder eine andere Antwort geben. Wenn man vom „Leben nach dem Tod“ spricht, bedeutet der Begriff „Leben“ keineswegs dasselbe, wie wenn man diesen Ausdruck auf das Diesseits bezieht. In diesem Kontext bedeutet „Leben“ also nicht ein System psychischer und physischer Prozesse, die mit dem diesseitigen personalen Dasein verknüpft sind. Es gibt keinen Metabolismus im jenseitigen Leben, keine Interaktion zwischen Körper und Psyche, die für das Leben im Diesseits charakteristisch ist. Offen ist vor allem die Frage des Weiterbestehens der Personalität, die als solche eine von den materiellen Prozessen losgelöste Entität sein müßte. Dies können wir nicht näher erklären; wir können uns aber auch unser personales Nichtsein nicht vorstellen. Für mich sind diese Fragen ein Feld des Ignoramus und wahrscheinlich auch des Ignorabimus. Nach dem Tod ein anderes als das personale Weiterbestehen im Geiste pantheistischer Konzeptionen vorauszusetzen, oder der Reinkarnationsglaube sind ebenfalls mögliche Ansichten. Eine Entscheidung zwischen diesen Möglichkeiten kann kaum begründet werden; es

7. Religiosität in lebenspraktischer und philosophischer Perspektive

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ist daher angemessen, in diesem Bereich von „hoffen dürfen“ zu sprechen. Der kritische Denker wird zwar den pragmatischen Wert der religiösen Lebenseinstellung anerkennen, er wird sich aber auch fragen, ob man die Welt vernünftigerweise so auffassen kann. Ist es zulässig, vorauszusetzen, daß der Welt ein Projekt6, ein Weltplan zugrunde liegt? Ist es sinnvoll und ohne Sacrificium intellectus möglich, die Welt und das gesamte Geschehen als Schöpfung anzusehen, also als etwas, was einem höheren Willen entspringt, und was daher in einer Weise sinnvoll ist, die das menschliche Verständnis transzendiert? Ich behaupte, daß dies sehr wohl möglich ist und daß es keine empirische Methode gibt, zu entscheiden, ob hinter der Welt ein Projekt steht oder nicht. Durch Feststellung von Zuständen und Verhaltensabläufen allein kann prinzipiell niemals entschieden werden, ob diese Zustände und Vorgänge durch bloße Naturursachen oder durch willentlich gesetzte Akte hervorgerufen sind.7 Die These, daß der Kosmos aufgrund eines Projekts besteht, kann nicht erkannt, aber auch nicht widerlegt werden. Evolutionstheoretische Explikationen, einschließlich die Prinzipien des Darwinismus, ändern an dieser Erkenntnissituation nichts. Evolutionsmechanismen können problemlos als Elemente des Projekts und als Mittel und Wege seiner Verwirklichung gedeutet werden. Die Idee einer Evolution ist mit der Idee der Schöpfung der Welt durchaus verträglich; auch die Erzählung der Schöpfungsgeschichte in der Bibel kann 6 Vgl. J. Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1975 (franz. Original 1970), S. 36 f. 7 Siehe N. Hartmann, Teleologisches Denken, Berlin 1951, S. 19: „Hier aber liegt gerade die erste Merkwürdigkeit in der Gegebenheitsweise zeitlicher Vorgänge: es ist einem Ablauf rein als solchem niemals anzusehen, ob er kausal oder final determiniert ist. Und da in aller Finaldetermination das Kausalverhältnis schon mit vorausgesetzt ist – denn im Realprozeß bringen auch die Mittel den Zweck kausal hervor –, so muß man richtiger sagen: es ist einem Ablauf als solchem nicht anzusehen, ob er bloß kausal oder auch final determiniert ist.“

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meines Erachtens als bildhafter Abriß einer Evolution gedeutet werden. Der Glaube an Wunder ist aber mit einer philosophischen Konzeption der Religiosität unverträglich. Die Vorstellung eines Projekts, das in der Welt zum Ausdruck kommt (mit anderen Worten: die Idee der Schöpfung) impliziert in keiner Weise die Existenz von Wundern. Bildlich kann man das Problem so darstellen: Wenn Gott die Welt nach seinem Plan erschaffen hat, so muß nicht vorausgesetzt werden, daß sie so mangelhaft funktioniert, daß immer wieder regelnde Eingriffe (Wunder) zur Lenkung der Welt nötig werden. Es muß auch nicht vorausgesetzt werden, daß Gott seinen ursprünglichen Plan immer wieder ändert und die Änderungen durch Wunder durchführt. Sicherlich gilt, daß wir vieles nicht verstehen und nicht erklären können, daß uns – in Relation zu unserem Wissensstand – so manches als Wunder erscheint; vorauszusetzen, daß das, was wir nicht angemessen erklären können, ein Wunder sei, ist ganz unbegründet, und es verdirbt die Grundlagen der wissenschaftlichen Forschung.

8. Religion und Moral Religiöses Denken bezieht sich immer auch auf Probleme der Moral. Die metaphysisch-ontologische Frage wird verbunden mit Überlegungen über ,gut‘ und ,böse‘, über Recht und Unrecht. Die Religionssysteme fixieren entweder ein System von Sollregeln oder / und Grundprinzipien (wie das Prinzip der Nächstenliebe), nach denen das Richtige in Zusammenhang mit anderen Gedanken gefunden werden kann. Für den Standpunkt der philosophischen Religiosität sind die konkreten Gebote Kulturgegebenheiten, die soweit anerkannt werden, als sie der aktuellen Lebenssituation entsprechen. Das Prinzip der Nächstenliebe zusammen mit dem menschlichen

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Solidaritätsbewußtsein halte ich für die Basis der Moral. Meines Erachtens muß es aber nicht als gedankliche Konsequenz der Religiosität aufgefaßt werden. Moral ist nicht nur auf religiöser Basis möglich. In der modernen Moraltheorie spielt der unparteiische (objektive) wohlwollende Betrachter eine wesentliche Rolle. Relationen zwischen den Menschen sind vom Standpunkt eines solchen sozusagen objektiven Schiedsrichters zu analysieren. Subjektive Interessensperspektiven werden mittels dieses Denkmodells aus der moralischen Überlegung ausgeschaltet, ebenso wie Fragen des Beweises, wie und aus welchen Motiven wer tatsächlich gehandelt hat. Im religiösen Rahmen, besonders beim Glauben an einen personalen Gott, kann der innere moralische Diskurs, der in der Ethik als Gesichtspunkt des verstehenden und allgemein wohlwollenden objektiven Beobachters konzipiert wird, als gedachter Dialog mit Gott dargestellt werden. In dieser Weise gelangt man auf religiöser Basis zu einem Modell der objektivierten Moralbetrachtung. Insoweit sieht der Philosoph eine ganz enge Beziehung zwischen Religion und Moral. Inakzeptabel erscheint mir aber die Meinung (sie wird de facto von gar nicht wenigen vertreten, obwohl sie nur selten explizit behauptet wird), daß Moral nur auf der Basis von Religion möglich sei. Diese Meinung hat verschiedene Quellen. Man setzt z. B. voraus, daß der Mensch nur seinen persönlichen Vorteil sucht und nur durch den Glauben an jenseitige Strafen, die ihm drohen, davon abgehalten werden kann, mit allen Mitteln – auch den unmoralischen – seine egoistischen Ziele zu verfolgen. Abgesehen davon, daß dies meines Erachtens schlechte Psychologie ist, verliert eine solche Handlung, die nur aus Angst vor Strafe durchgeführt wird, den eigentlichen Charakter der moralischen Tat. Wird die religiöse Motivation so aufgefaßt, daß nicht Angst vor jenseitiger Strafe das Motiv des moralischen Verhaltens ist, sondern Treue zum Sittengesetz der Religion, dann fällt dieser Einwand weg, dann

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kann religiöser Glaube eine Basis des moralischen Standpunkts sein. In der Praxis stellt sich dann allerdings oft die Frage, ob man einzelne Gebote, wie Speisegebote, Vorschriften des Ritus u.ä. als moralische Gebote ansehen soll oder eher bloß als Regeln, die zwar eine Lebensform konstituieren, die aber in manchen ihrer Elemente moralisch indifferent sind. Im religiösen Denken verschwimmt oft die Grenze zwischen echten moralischen Geboten und Vorschriften, die die religiöse Lebensform bestimmen, ohne im echten Sinne moralisch relevant zu sein. Ein anderer Grund für die These, daß Moral nur auf religiöser Basis möglich sei, ist die Vorstellung, daß in uns ein Hang zum Bösen bestehe, der nur durch Erziehung, religiöse Akte oder Drohung mit Strafen im Diesseits oder Jenseits ausgeschaltet werden könne. Nicht nur der Mensch, sondern auch alle Gemeinschaftswesen handeln nicht nur im Eigeninteresse. Der Einzelne strebt nicht nur nach egoistischem Genuß. Wir fühlen und leiden mit anderen. Solidarität ist uns sozusagen ein inneres Bedürfnis. Handeln, das egoistische Ziele transzendiert, gehört in gewisser Weise zu unserer biologisch gegebenen Anlage und ist nicht nur ein Ergebnis von Erziehung und Disziplinierung. Ich sehe keinen Grund, primäre Sündhaftigkeit des Menschen vorauszusetzen, und soweit der Mensch seinen individuellen Vorteil im Konflikt mit der Moral verfolgt, entsteht ein Spannungsfeld zwischen engem Egoismus auf der einen Seite und Gemeinschaftlichkeit und Moral auf der anderen. Für das Entscheiden in diesem Feld kann Religion eine nicht unwesentliche Rolle spielen, doch ist dies sicherlich nicht der einzige Weg zum moralischen Leben. Auch andere individuelle sowie gesellschaftliche Faktoren prägen unsere moralische Lebenseinstellung. Moral kann daher genauso gut auf dem Boden anderer Überzeugungssysteme aufbauen. Daß Religion und die Befolgung der Gebote einer Religionsgemeinschaft keine hinreichende Bedingung von Moral ist, belegt die Geschichte der Religionskriege und der religiös mo-

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tivierten Verfolgungen (und welche Religionsgemeinschaft weist in ihrer Geschichte keinen solchen Makel auf?). Die von Religionshierarchien gesetzten Gebote garantieren durchaus nicht, daß uns von ihnen der Weg des moralisch guten Lebens verläßlich vorgezeichnet wird. Vor allem in gewissen Perioden der Entwicklung der christlichen Religionen – aber nicht nur in diesen – herrschte die Vorstellung, daß das Körperliche und das Sinnliche mit dem Bösen, dem Verwerflichen und dem Niedrigen in einem Wesenszusammenhang stehe. Askese und Verdrängung von Sinneslust, Keuschheit und Liebesabstinenz wurden als entscheidende sittliche Gebote gesetzt. Steht das Körperlich-Sinnliche und die menschliche Zärtlichkeit wirklich im Gegensatz zum Geistigen und zum Moralischen? Hat die Schöpfung wirklich die Sphäre der Gefühle, des Eros, der Erotik und der Sexualität nur als Versuchung und als Bereich des Verwerflichen dem Menschen vorgelegt? Ich kann diese Auffassung nicht nachvollziehen. Das, womit die Natur oder Gott (sei er pantheistisch oder personal verstanden) uns ausgestattet hat, muß der religiöse Mensch nach meinem Verständnis akzeptieren. Wir sind Körper und Geist; nur eine Moral, die beides akzeptiert als die uns von Natur (und Gott) gegebene Ausstattung, erscheint mir akzeptabel. Allerdings besteht die nicht leichte Aufgabe, beide Elemente des menschlichen Lebens in sozial adäquater Weise ausgewogen zu gestalten. Die Beziehung zwischen dem Gefühlsleben, der Sexualität und der geistigen Kultur wird unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen unterschiedlich sein. Der absolute Nachdruck auf Askese und die Verteufelung der Sinneslust und Sexualität hat wenigstens in zwei Richtungen schlimme Folgen: 1. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit von den entscheidenden und lebenswichtigen Moralproblemen ab, nämlich vom Problem der Nächstenliebe, der menschlichen Solidarität und der Gerechtigkeit. 2. Sie erzeugt psychisch und

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psychosozial kranke Persönlichkeiten, sowie Verdrängungen, die sich oft in asozialem Verhalten und Aggressivität äußern.

(1) Gottes-, Dämonen- und Teufelsglaube

Die philosophische Religiosität hat ein Naheverhältnis zum Monotheismus, denn mit polytheistischen Konzeptionen sind solche Gedanken wie die oben dargelegten kaum verträglich. Es ist eine Tatsache, daß auch erklärtermaßen monotheistische Religionen Glaubenselemente enthalten, die nicht ganz der Idee des Monotheismus entsprechen; ich meinen den Glauben an gute und böse Geister, bzw. Dämonen, und Teufel. Meinem Verständnis nach liegen zwischen Religiosität (nicht nur im philosophischen, sondern auch im kirchlichen Sinne) und Gottesglauben auf der einen Seite, und Dämonenund Teufelsglaube auf der anderen ganze Welten. Für einen Denker unserer Zeit, für eine Welt nach der Aufklärung, die Wissenschaft und philosophische Kritik gelernt hat, ist ein Glaube an Dämonen und Teufel inakzeptabel. Der Dämonen- und Teufelsglaube ist nicht nur philosophisch problematisch, er birgt auch eine reale Gefahr in sich, in der gesellschaftlichen Praxis in furchtbarer Weise wirksam zu werden. Wenn Dämonen und Teufel existieren, dann haben sie offenbar irgendwelche Funktionen in dieser Welt. Dann kann man mit ihnen irgendwie Kontakt aufnehmen, sie bitten, sich ihnen verschreiben u.ä. Dann ist es auch unter Umständen sinnvoll, Teufel auszutreiben oder ähnliche Praktiken zu vollziehen. Dann ist auch Schadenszauber möglich. Dann kann man auch wieder versucht sein, die durch solche Lehren plausibel werdenden Teufelspakte durch Ausrottung von Verdächtigen zu bekämpfen. Solange der Dämonen- und Teufelsglaube nicht ausdrücklich abgelehnt wird, bleiben die geistigen Wurzeln der Hexen- und Zaubererverfolgung bestehen.

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Diese Überlegungen stehen ausschließlich auf philosophischer und soziologischer Plattform. Ich fühle mich keineswegs kompetent, das Problem theologisch zu analysieren. Ich darf aber auf die hochinteressante Arbeit von Johannes B. Bauer „Abschied von Hexenwahn und Teufelsglaube. Die Hexenverfolgung aus der Sicht der heutigen Kirche“8 hinweisen. Jedenfalls ist dem Autor zuzustimmen, daß der Teufelsglaube kein Instrument ist, das Böse in der Welt (verwerfliches Handeln des Menschen oder von menschlichem Handeln unabhängiges Übel in der Welt) zu erklären. Der Moralphilosoph wird es auch für äußerst bedenklich finden, menschliche Schuld vom handelnden Menschen abzuwälzen. Verbrechen zu exkulpieren, indem man sie nicht dem Täter, sondern dem Teufel zurechnet. (2) Individuelle, persönliche und gemeinschaftliche Religiosität

Es ergäbe ein verzeichnetes Bild, würde man das Wesen der Religion nur im Bereich der individuellen und persönlichen 8 J. B. Bauer, Abschied von Hexenwahn und Teufelsglauben. Die Hexenverfolgungen aus der Sicht der heutigen Kirche, in: H. Valentinitsch (Hrsg.), Hexen und Zauberer. Die großen Verfolgungen – ein europäisches Phänomen in der Steiermark, Graz 1987, S. 207 – 412. Beachtenswert ist ein Zitat von H. Haag, das der Autor anführt: „Der Teufel ist ein bequemes Alibi für alle menschlichen Untaten, bis heute. Er liefert sogar die willkommene Erklärung (und Entschuldigung?) für die Gaskammern von Auschwitz. In einer am 26. 9. 1976 in Altötting gehaltenen Predigt erklärte der damalige Bischof von Regensburg: ,Wenn es den Bösen nicht gibt, dann steckt das Böse ganz im Menschen. Dann ist der Mensch allein verantwortlich für die abgrundtiefe Bosheit, Gemeinheit und Grausamkeit. Dann ist er allein schuldig an den Morden im Archipel Gulag und an den Gaskammern von Auschwitz, an den unmenschlichen Folterungen und Qualen. Dann aber entsteht die Frage: Kann Gott den Menschen als ein solches Scheusal erschaffen haben? Nein, das kann Gott nicht, denn er ist Güte und Liebe. Wenn es keinen Teufel gibt, dann gibt es auch keinen Gott.’ Dabei scheint der Bischof für einen Augenblick vergessen zu haben, daß nach einmütiger Lehre der Theologen der Teufel nur das vermag, was Gott ihm ausdrücklich erlaubt. Also hat Gott dem Teufel erlaubt, Auschwitz anzurichten, und somit fällt schließlich doch alles auf Gott zurück, den man mit dem Teufel entlasten wollte. Der Teufelsglaube führt von einer Schwierigkeit in die andere. Vor allem ist er untauglich, das Böse in der Welt zu erklären.“ (S. 411)

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Religiosität sehen. Religion ist auch ein Gemeinschaftsphänomen. Genauer gesagt, Religion hat ausgeprägte persönliche Züge; sie ist Sache der persönlichen Glaubenseinstellung und des Herzens des Individuums, aber gleichzeitig ist sie Gemeinschaftserlebnis und gemeinschaftliches Tun. Analoges gilt mutatis mutandis auch für andere Überzeugungsgemeinschaften. Mit dieser Tatsache ist eine ganze Reihe von Folgen verbunden; es treten Symbole in Erscheinung, ebenso wie Rituale und Kult. Es wird gemeinschaftlich gefeiert, und es wird über Fragen, die ihrem philosophischen Sinn nach persönlich und individuell sind, in der Gemeinschaft geredet. Es werden Organisationen aufgebaut, die wie alle Institutionen eine Eigendynamik entfalten. Die philosophische Problematik der Religiosität wird gewissermaßen umgemünzt in eine bildhafte Darstellung und ein System markanter, und daher oft vereinfachender Thesen. Tendenzen zur Dogmatisierung zeigen sich immer. Damit muß man rechnen. Religion ist für Menschen verschiedener Schichten und von verschiedenem geistigen Niveau da. Für das gesellschaftliche Massenphänomen der Religion ist eine gewisse Institutionalisierung und eine Vereinfachung der Probleme unerläßlich. Bedeutet dies, daß Religion notwendigerweise dogmatisch sein muß? Unter welchen Bedingungen kann diese Tendenz zur Dogmatisierung vermieden oder wenigstens eingeschränkt werden? Auch die Religionsgemeinschaften können – und sollten meines Erachtens – das Bewußtsein haben und verbreiten, daß uns absolutes Wissen nicht gegeben ist, sondern daß wir die Wahrheit und das moralisch Gute suchen. Das sollte zum Ethos der Religion gehören, denn dies entspricht unserer Stellung in der Welt. Wer glaubt, durch Ausschließen von Zweifeln stärkere Religiosität zu schaffen, irrt: das Bewußtsein des ständigen Suchens hat mehr Tiefenwirkung als überspannter

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Dogmatismus. Dies gilt gleichermaßen für die Metaphysik der Religion wie für den Bereich der Moral. Die Mitglieder der großen Religionsgemeinschaften sind oft kulturell und geistig sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Es ist kaum denkbar, daß sie in Glaubensfragen, wenn sie sich überhaupt ernstlich Gedanken machen, wirklich gleicher Meinung sind. Es ist daher notwendig, wenn man die Individualität und Würde der Menschen achten will, relativ weite Spielräume der Meinungen in der Gemeinschaft zuzulassen. Wichtig erscheint es mir, daß diese Gemeinschaften in einer demokratischen Welt als offen konstituiert werden: nicht als Geheimlehren. Offen auch in der personalen Beziehung des Ein- und Austritts, und im offenen geistigen Kontakt mit anderen Gemeinschaften. Hierfür ist neben äußerer höchste innere Toleranz eine notwendige Vorbedingung. Dies bedeutet keineswegs eine Schwächung oder Einschränkung der eigenen Überzeugungen. Trotz der Tendenz zur Dogmatisierung, die ein Folge der Gemeinschaftlichkeit ist, sollte das Bewußtsein bestehen bleiben, daß Überzeugungen nur dann lebendig sind, wenn sie auch Zweifel kennen. In der praktischen Sphäre können Grundwerteinstellungen vertreten werden, und doch kann man weltoffen und adaptiv sein: es gibt einen reformbereiten Konservativismus.

(3) Entwicklungs- und Lernfähigkeit von Religion

Wenn man über diese wichtige Frage nachdenkt, kann man von zwei Thesen ausgehen, an denen man kaum zweifeln kann: 1. Die äußeren ebenso wie die institutionellen Bedingungen unseres Lebens ändern sich im Laufe der Geschichte wesentlich. Unser Wissen wächst und wandelt sich. Die Technik entwickelt sich und bietet ein verändertes Feld von Handlungsmöglichkeiten an. 2. Das Weltbild und die Lebenseinstel8 Weinberger

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lungen sind funktional abhängig von den sich ändernden Faktoren: von der Entwicklung der Wissenschaft und Technik und von dem Zustand der gesellschaftlichen Institutionen. Die religiösen Vorstellungen als Bestandteil des Weltbildes und der praktischen Einstellung des Menschen sind mit den realen Veränderungen konfrontiert. Wie reagiert die Religion (als System metaphysischer und praktischer Konzeptionen) und wie reagieren Religionsgemeinschaften (als Organisationen) auf diese Situation? De facto ändert sich die Religion. Es gibt eine Geistesgeschichte der Religionen, die nicht nur eine historische Sukzession verschiedener Religionssysteme feststellt, sondern die auch in den einzelnen Systemen modifizierte Entwicklungen verfolgt. Ein Religionssystem, das sich gar nicht den aktuellen Realitäten anpassen würde, wäre in Gefahr, weltfremd zu werden. Die Situation ist aber in der Tat gar nicht so einfach. Die Religion will selbst die Lebensform gestalten; oft will sie sogar die erste Basis sein, auf der das persönliche und das gesellschaftliche Leben aufgebaut werden soll. In Verbindung mit der Idee der Offenbarung, aus der zu folgen scheint, daß diese religiösen Inhalte fixe Gegebenheiten sind, kann Zweifel über die Veränderbarkeit und adaptive Lernfähigkeit der Religion entstehen. Ein Beleg für die Notwendigkeit des Lernens der Religionssysteme ist die Existenz der Theologie, die in gewisser Form in jeder Religionsgemeinschaft existiert. Ihre Aufgabe ist ein aktuelles Religionsverständnis zu schaffen; sie diskutiert Grundlagenprobleme und sucht Einstellungen zu Fragen der Zeit zu finden. Ihre Aufgabe beschränkt sich nicht darauf, nur die Thesen des Religionssystems zu verbreiten. (Analoges gilt von anderen ideologischen Systemen). Theologen sind de facto immer damit befaßt, die Lehre weiterzuentwickeln und – meist ohne dies einzugestehen – zu verändern. Eine Lehre ohne gedankliche Dynamik gibt es nicht, unter anderem auch aus hermeneutischen Gründen. Es ist nun die Frage, in wel-

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chem Geist Interpretation und Fortentwicklung durchgeführt werden, ob rein historisierend und rückblickend oder mit Offenheit für neues Gedankengut und mit Sinn für die zeitgenössische Wissenschaft und die aktuelle Lebenssituation. Die religiösen Inhalte – auch die in der Offenbarung verankerten – müssen als Kommunikate verstanden werden, die folgende zwei Eigenschaften haben: a) Sie sind so rahmenhaft, daß sie für das sich verändernde Leben anwendbar sind (natürlich unter der Voraussetzung einer zeitgemäßen Interpretation). b) Sie sind nur sinnvoll auf der Basis eines hermeneutischen Horizonts und aufgrund eines Deutungsprozesses. Dieser Horizont ist unser aktuelles Wissen und die moralische Überzeugung unserer Zeit. Weder die Voraussetzung, daß religiöse Quellen ihren versteinerten Sinn haben, noch die Annahme, daß die Kette der in der geschichtlichen Entwicklung auftretenden Deutungen nur extrapoliert werden sollte, sind vernünftige Auffassungen. Man muß den Mut haben, Irrwege explizit abzulehnen und zeitgemäße Konzeptionen zu suchen. Für die Deutung von Glaubensquellen scheint mir folgender Grundsatz von Bedeutung: Jede Interpretation, die Glaubensthesen unmoralischen oder inhumanen Sinn zuschreibt, ist zu verwerfen. Dies sollte wenigstens vom internen Standpunkt aus gelten, denn für den, der sich zum Religionssystem bekennt, ist es gleichzeitig ein Moralkodex. Ein Betrachter, der zu der Überzeugung gelangt, daß eine humane und moralische Interpretation eines Glaubenssatzes nicht möglich ist, müßte dafür eintreten, daß dieser Glaubenssatz aufgegeben werde – oder er müßte überhaupt (wenn es um eine ganz grundsätzliche Frage geht) die Glaubensgemeinschaft verlassen. Die religiösen Thesen müssen vernünftigerweise so gedeutet werden, daß sie rahmenhaften Charakter haben, denn nur dann werden sie den Erfordernissen der Zeit gemäß adaptier8*

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bar. Man muß nämlich voraussetzen, daß sie zweckmäßig und pragmatisch brauchbar sein sollen, und dies sind sie nur dann, wenn sie elastisch und aktualisierbar sind. Es entsteht hier – so scheint mir – folgendes Problem: Sind die Deutungen, wie sie den Bedürfnissen und dem Geist der Zeit sowie der kulturellen Situation der Menschen entsprechend dargestellt wurden, auch für die Zukunft bindend? Oder ist es adäquater, manche früheren Deutungen und Konzeptionen in einer veränderten geistigen Welt fallenzulassen? Meines Erachtens ist nur die aktuelle Adäquatheit der Auffassung entscheidend. Allerdings ist auch die historische Kette des Lernens beachtenswert. Dabei ist aber zu bedenken, daß falsche Konzeptionen entstehen können. Und dann gibt es nur einen Ausweg: den Mut und die Kraft zu haben, die Meinungsänderung ausdrücklich durchzuführen. Es ist kein prinzipieller Vorwurf gegenüber der Theologie, wenn wir feststellen, daß sie zweifellos auch zur Entfaltung von Wahnideen beigetragen hat – z. B. durch die Dämonologie – und zu jeder Zeit in Gefahr steht, die gesunde Entwicklung gesellschaftlicher Ideen zu hemmen. Auch die Gesellschaftswissenschaften haben es nicht immer verstanden, richtig zu sehen und gesellschaftlich tragfähige Programme zu entwickeln. Auch die Natur- und Gesellschaftswissenschaften kennen solche Irrwege (vgl. Sozialdarwinismus, und die stalinistischen Wissenschaften, wie z. B. die Lehre Lysenkos, der Kampf gegen die moderne Logik sowie gegen die Kybernetik und last but not least die Verhinderung der Entwicklung ökonomischer Theorien), und auch sie haben sehr negative Folgen gehabt. In der Regel führt die Theologie aber, wenn sie sich frei entfalten kann, zum geistigen Fortschritt. Historische Betrachtungen über die Irrwege der Theologie und deren traurige Folgen führen zu der Forderung, auch Theologie als freie und suchende Auseinandersetzung zu gestalten und nicht vorauszu-

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setzen, daß eine institutionalisierte Elite ein Patent auf Wahrheitsfindung besitze. Ich weiß natürlich, daß diese Meinung mit Unfehlbarkeitsdogmen nur schwer verträglich ist. Unfehlbarkeit ist aber überhaupt mit der Conditio humana unverträglich. Und historische Tatsachen, wie jene des Hexenwahns, lassen den Glauben an Unfehlbarkeit der Priesterschaft kaum zu. Suchende Religiosität ist meines Erachtens der dogmatischen auch moralisch vorzuziehen. Wenn man an die Grausamkeiten der menschlichen Geschichte denkt – Kriege, Verfolgungen, Folter und Scheiterhaufen –, dann kann man leicht zu einem sehr pessimistischen Menschenbild gelangen: der Mensch zeigt sich als die furchtbarste Bestie der Welt. Dieses Bild ist aber nicht ganz richtig. Gerade die Tatsache, daß Verfolgungen und Greuel meist durch gewisse – wenn auch zweifelhafte – Ideale begründet werden, zeigt auch den prinzipiellen Wunsch des Menschen, Gutes zu schaffen und seine Grundtendenz zum Moralischen. Im Kampf gegen Greuel sind zwei Momente entscheidend: 1. Unsere Freiheit bedeutet Handeln nach den Vorstellungen, die wir uns gebildet haben. Und Vorstellungen können Irrglaube und Wahn sein. Wo der Wahn beginnt, ist nicht immer ganz klar. Daraus folgt, daß der Kampf gegen Dogmatismus ein moralisches Grundpostulat ist. Zweifeln und Suchen als Lebenseinstellung muß nicht nur propagiert, sondern auch institutionell sichergestellt werden. 2. Neben den Idealen tritt bei der Entstehung der Greuel eine Organisation ins Spiel, die meistens von unersättlichem Machtdurst angetrieben wird. Für Ideale und im Geist des Machtstrebens ist kein Weg und kein Mittel zu unmenschlich, als daß sie der Mensch nicht akzeptieren würde. Daher muß dem dogmatischen Absolutheitsstreben der ideologischen Organisationen, ebenso wie deren Machtstreben entgegengetreten werden.