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German Pages 256 [280] Year 2016
Alfons Auer
Autonome Moral und christlicher Glaube Mit dem Nachtrag zur Rezeption der Autonomievorstellung in der katholisch-theologischen Ethik von 1984 und mit einem einleitenden Essay von Dietmar Mieth
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Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74189-2 eBook (epub): 978-3-534-74190-8
Meinen Freunden in dankbarer Verbundenheit
Für das Mitlesen der Korrekturen bin ich meinen Mitarbeitern, den Herren Hubert Bour und Siegfried Pirker, sehr verpfl ichtet.
Inhaltsverzeichnis
Dietmar Mieth: Moralische Autonomie – Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung nach Alfons Auer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel Weltethos als das Ja zur Wirklichkeit I. Bestimmung des Sittlichen (im Sinne des Weltethos) . . . . . . . 1. Das Sittliche als das Ja zur Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . a) Die These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bewertung der These . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Dimension der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Anspruch der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begründung des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stufen der Erkenntnis und Anerkenntnis des Anspruchs Sozial auferlegte Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Personal bejahte Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Christlich integrierte Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der Dreistufigkeit des Sittlichen . . . . . . . . 4. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rationalität des Sittlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Autonomie des Sittlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Realistik des Sittlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Rationalität der Wirklichkeit als Grund des Sittlichen . . . . 1. Die Rationalität der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ihre Vorgegebenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ihre Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ihre Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die normative Artikulierung der Rationalität der Wirklichkeit a) Humanwissenschaftliche Grundlegung . . . . . . . . . . . b) Anthropologische Integrierung . . . . . . . . . . . . . . . .
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32 33 33 35 35 36 39 44 7
c) Ethische Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung sittlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktion sittlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46 48 53
2. Kapitel Weltethos in der Heiligen Schrift I. Weltethos im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Dekalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das vorgefundene Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die religiöse Integrierung des vorgefundenen Ethos 2. Das prophetische Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Ethos der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erfahrungsweisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Religiöse Integrierung der Erfahrungsweisheit . . .
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55 55 56 62 68 72 72 76
II. Weltethos im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die sittlichen Forderungen Jesu . . . . . . . . . . . . . . a) Ausklammerung der sozialen Strukturprogrammatik b) Herkömmlichkeit der sittlichen Weisungen Jesu . . . Einfache ethische Weisungen . . . . . . . . . . . . . . Hochethische Weisungen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Neuheit des von Jesus verkündeten Ethos . . . . . Der neue Sinnhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das neue Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die paulinische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Weltethische Weisungen – Herkunft und Stellenwert . Herkunft der weltethischen Weisungen . . . . . . . . Stellenwert der weltethischen Weisungen . . . . . . . b) Das christliche Proprium des Weltethos . . . . . . . . Heil und Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christliche Motivation des Ethos . . . . . . . . . . . .
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79 79 80 83 83 85 92 92 95 103 103 105 111 114 114 118
Exkurs: Modelle aus der Geschichte der Moraltheologie . . . . . . . . . 123
3. Kapitel Weltethos in der lehramtlichen Praxis und in der moraltheologischen Refl exion I. Die bisherige Position des Lehramts und der Moraltheologie 1. Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
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II. Die Infragestellung der bisherigen Position des Lehramts und der Moraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auslösung der theologischen Reflexion . . . . . . . . . . . 2. Vertiefte theologische Interpretation des Verhältnisses von Kirche und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dualität der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dualität der Ordnung (Weltliche und kirchliche Zuständigkeit) . . . . . . . . . . . . c) Dialog als Weg der Wahrheitsfindung . . . . . . . . . . . . . 3. Theologische Bewertung des Säkularisierungsprozesses . . . . a) Theologische Aufwertung der „Zeichen der Zeit“ . . . . . . b) Säkularisierung als „Zeichen der Zeit“ . . . . . . . . . . . . . c) Säkularisierung des Sittlichen als „Zeichen der Zeit“ . . . . . 4. Die Realität der modernen Profanität als geistiger Ort heutiger moraltheologischer Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einige Refl exionen über die Zuständigkeit des Lehramts und der Moraltheologie bei der Statuierung weltethischer Weisungen . . . 1. Die Autonomie des Sittlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das christliche Proprium des Sittlichen . . . . . . . . . . . . . a) Das christliche Proprium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das christliche Proprium und die Autonomie des Sittlichen 3. Die Funktionen des kirchlichen Lehramts und der Moraltheologie bei der Statuierung weltethischer Weisungen . a) Grundlegende Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Die integrierende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die stimulierende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die kritisierende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 145 149 149 150 152 153 153 154 155 157
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
Nachtrag Die umstrittene Rezeption der Autonomie-Vorstellung in der katholisch-theologischen Ethik Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Das Problem der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Allgemeine Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Zum Problem der Rezeption der Autonomie-Vorstellung . . . . 209 II. Heutige „autonome Moral im christlichen Kontext“ . . . . . . . . . 212 9
III. Der rezeptionsgeschichtliche Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbstverständliche Voraussetzung in der biblischen und moraltheologischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Radikalisierung der Autonomie-Vorstellung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die theologische Ratifizierung der Autonomie-Vorstellung
. . 215 . . 215 . . 220 . . 223
IV. Kritik an der Rezeption der Autonomie-Vorstellung . . . . . . . 1. Die theologische Rezeption der Autonomie-Vorstellung stelle einen „Akt semantischer Politik“ dar . . . . . . . . . . . . . . 2. Frühere Versuche einer theologischen Rezeption der Autonomie-Vorstellung seien theologiegeschichtlich in die Isolation geraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die gegenwärtige theologisch-ethische Rezeption der Autonomie-Vorstellung sei durch einen defizitären Theoriestatus gekennzeichnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rezeption der Autonomie-Vorstellung impliziere einen allzu individualistischen Ansatz . . . . . . . . . . . . . 5. Die Rezeption der Autonomie-Vorstellung bedeute eine Anbiederung an die Modernität . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Rezeption der Autonomie-Vorstellung gefährde die Identität der theologischen Ethik . . . . . . . . . . . . . .
. 225 . 226
. 227
. 228 . 229 . 231 . 232
V. Desiderate zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Rezeption der Autonomie-Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
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Moralische Autonomie – Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung nach Alfons Auer1 Dietmar Mieth
„Mit der Rationalität des Sittlichen ist seine Autonomie gegeben. Wenn man die Authentizität der ontologischen und der axiologischen Ebene und zugleich deren Unterschiedlichkeit betrachtet, kann man auch als Theologe ohne jede Gefahr des Missverständnisses von der Autonomie des Sittlichen sprechen. […] Der eigentliche Sinn und der unmittelbare Gebrauchswert der Formel von der Autonomen Moral“ liege darin, „sichtbar zu machen“, dass „die radikalen metaphysischen und religiösen Entscheidungen noch nicht“ in die Ermittlung des sittlich Guten und Richtigen eingeschlossen sein müssen (S. 29 f.). Alfons Auer formuliert dies, indem er Philosophen und Theologen aus der Entstehungszeit seines Buches als Zeugen für diese Einsicht anführt. Autonomie ist also kein Wort für eine „Letztbegründung“ der Moral, auch keine „Metaphysik der Sitten“ (Kant), sondern ein Wort für zureichende Begründung der Moral im Sinne eines „Weltethos“ aus geschichtlichen menschlichen Einsichten. Alles geschieht „auf dem Wege der Erfahrung und ihrer vernünftigen Auswertung, also in autonomer Weise“ (S. 67). Dies gelte auch für die 1 Im Folgenden greife ich an bestimmten Stellen auf Darstellungen zurück, in denen ich die Person und das Werk Alfons Auers bereits gewürdigt habe: Alfons Auer (1915 –2005), in: Konrad Hilpert (Hrsg.), Christliche Ethik im Portrait. Leben und Werk bedeutender Moraltheologen, Freiburg i. Br. 2012, 791–816. Ich danke dem Herausgeber und dem Verlag Herder für das Einverständnis. Ebenso danke ich dem Exodus-Verlag Luzern, in dem ich „Das Proprium der christlichen Ethik“ (mit Monika Bobbert, 2015) verfasste, für die Überlassung der Parallelen S. 171–183. – In Klammern gesetzte Seitenangaben im Text dieser Einführung beziehen sich auf Alfons Auers „Autonome Moral und christlicher Glaube“ in der hier vorliegenden Neuauflage.
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Genese dieses Ethos in der Bibel (vgl. S. 55 –122), schließe aber nicht aus, dass es tiefere Einsichten und Verankerungen gebe, die sich freilich nicht an die Stelle der Überbietung zureichender Begründungen drängen dürften, weil sie damit ihre „Zuständigkeit“ (S. 160) gleichsam an falscher Stelle einbringen und damit ihre „Authentizität“ überfordern würden. In Alfons Auers Buch geht es um die richtige Zuordnung der Instanzen. Damit bewegt er sich in der Tradition des sogenannten Naturrechtes. „Habent sua fata libelli“ – „Bücher haben ihre eigene Geschichte“, sagt Thomas Mann im Rückblick auf die ihm selbst nicht immer angenehme Rezeption seiner Romane. Wenn man Büchern nachgeht, die eine Geschichte haben 2, dann stößt man oft auf Höhen und Tiefen und zudem auf eine „geflügelte“ Eigenständigkeit ihrer Projektworte, die nicht immer durch den genauen Inhalt gedeckt ist. Das Buch „Autonome Moral und christlicher Glaube“ des Tübinger theologischen Ethikers Alfons Auer (1971, hier in der 2. Auflage von 1984) hat so eine eigene Geschichte.3 Ich beschreibe in meiner Einführung zunächst, nach einem Blick auf den Lebenslauf des Autors, diese Geschichte der Entstehung des Buches und seiner These, an der ich selbst kontinuierlich teilnahm. Im zweiten Teil gehe ich auf das Buch im Kontext der sogenannten naturrechtlichen Tradition und der geschichtlichen Sicht der Moralgenese, die Auer von dieser Tradition unterscheidet, ein. Im vierten Teil verfolge ich die inhaltlichen Thesen des Buches. Im fünften Teil kommentiere ich die Reaktionen auf das Buch. Anschließend versuche ich zu zeigen, inwiefern das Buch nicht nur eine historische Wende der Theologischen Ethik / Moraltheologie markiert, sondern inwiefern seine noch nicht eingelösten Anregungen weiter gehen. Die 2 An einem zentralen Buch der Moraltheologie, das – mutatis mutandis – durch die Jahrhunderte wirkt, hat dies in vorzüglicher Weise Bernard McGinn gezeigt: Thomas Aquinas’s Summa theologiae, A Biography (Lives of Great Religious Books), Princeton / Oxford 2014. 3 Düsseldorf, zuerst 1971, 2. erweiterte Auflage 1984; der Textwortlaut der vorliegenden Neuauflage ist identisch mit dem der erweiterten Auflage von 1984. – Vgl. auch meinen weitläufigeren Beitrag zu diesem Thema: Anthropologie und Ethik, in: M. Graf u. a. (Hrsg.), „Was ist der Mensch?“ Theologische Anthropologie im interdisziplinären Kontext. Wolfgang Lienemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2004, 351–367. Zu Auer vgl. insbesondere: H. Hirschi, Moralbegründung und christlicher Sinnhorizont. Eine Auseinandersetzung mit Alfons Auers moraltheologischem Konzept, Freiburg i. Br. – Freiburg / Schw. 1992.
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heutige Diskussion über die Bedeutung der „Genealogie“ für die Ethik kann hier einen Anschluss geben.4 Aber es geht auch um die hier anschließende „Narrative Ethik“, um Moral und religiöse Erfahrung, sowie um integrierende Methoden in der Lösung heutiger konkreter moralischer Probleme.
1. Alfons Auer – ein Oberschwabe und Tübinger Professor Alfons Auer wurde am 8. Februar 1915 geboren (wegen Schneebehinderung im Oberland erst registriert am 12.). Er gehörte zu einer großen Familie, die ihn sein Leben lang begleitete. Nach der Grundschule besuchte er das bischöfliche Konvikt in Ehingen, studierte dann in Tübingen Theologie und wurde 1939 in Rottenburg zum Priester geweiht. Als Vikar war er im Krieg in Stuttgart tätig, nach dem Krieg als Studentenseelsorger, Religionslehrer am Wildermuth-Gymnasium und als Doktorand in Tübingen (Promotion bei Theodor Steinbüchel über Franz Xaver Linsenmann). Während seiner Habilitation in Moraltheologie (über die Laienspiritualität des Erasmus von Rotterdam, 1954) war er Gründungsdirektor der Akademie der Diözese Rottenburg in Stuttgart-Hohenheim. Der erste Ruf führte ihn als Professor für Moraltheologie (die damals noch die Sozialethik enthielt) an die Universität Würzburg, wo er auch Dekan war (1963) und einen Ruf nach Bonn ablehnte. Sein Buch „Weltoffener Christ“ (1961), eine Laienspiritualität im Geiste Yves Congars, war damals in aller Munde und wurde in eine Reihe von Sprachen übersetzt. In Würzburg hielt er über die Theologie hinaus vielbeachtete und sprachlich geschliffene Vorlesungen, die von einer heilsgeschichtlichen Begründung moralischer Weisungen ausgingen. Im gleichen Jahr, in dem die Weiterführung seiner Laienspiritualität („Christsein im Beruf“) erschien, wechselte er an seine Heimatuniversität nach Tübingen. Inzwischen war er Mitglied der Päpstlichen Kommission über Familienplanung geworden. Die römische Erfahrung und die Begegnung mit den Tübinger Konzilstheologen (Küng und Ratzinger) wurden für Auer gerade in ihrer Spannung sehr wichtig. In den Jahren 1967 bis 1971 entstand die hier erneut präsentierte Schrift: „Autonome Moral und christlicher 4 Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 2011.
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Glaube“5. Seine „autonome Ethik“ hat er dann exemplarisch in seiner „Umweltethik“ (1985) angewandt.
2. Moraltheologie im Konfl ikt Der Name Alfons Auers ist mit der Erneuerung der Moraltheologie durch das Konzil verbunden. Er hat einen Kommentar zu einigen Kapiteln des Konzilsdokumentes „Gaudium et Spes“ geschrieben. Wie erwähnt gehörte er zu der päpstlichen Kommission, die Paul VI. einberief, um Fragen der Empfängnisregelung zu klären (1964 –1967). Diese Frage hatte der Papst durch das Konzil in „Gaudium et Spes“ zwar vorbehandeln, aber nicht endgültig beraten lassen. Der Papst hielt sich dann nicht an den Rat seiner Kommission. Mit der Enzyklika „Humanae Vitae“ (1968) übernahm er zwar das Mehrheitsvotum über die Unterscheidung von Ehesinn (Liebe) und Ehezweck (Zeugung), aber in der Frage des Verbotes „künstlicher“ Mittel folgte er einer kleinen Minderheit der moraltheologischen Experten, die sich u. a. auf die „Natur“ des Aktes bezogen. Für die Moraltheologen, die sich mit der Frage der Kontinuität, der Autorität und der zeitgemäßen Begründung kirchlicher Lehre intensiv auseinandergesetzt hatten, wurde dabei ein fundamentales Problem deutlich, dessen Behandlung in der Empfängnisregelung nur eine Art „pars pro toto“ darstellte: ein ausnahmsloses Verbot auf dem Gebiet sehr spezieller und oft kontextgebundener Normen. Die vom Lehramt 1968 vorgelegten Begründungen sollten nach dem Dokument umso mehr zählen, als an die Konstanz der kirchlichen Lehre und an die Ausstattung des Papstamtes mit dem Heiligen Geist erinnert wurde. Einige Begründungen wurden zunächst in „Familiaris Consortio“ (Johannes Paul II., 1981), später auch in „Veritatis Splendor“ (1993) angereichert und vertieft. Die „natürliche“ Beschränkung der Zeugungsoffenheit des Aktes sollte demnach aus der umfassenden personalen Achtung der Möglichkeit, Vater bzw. Mutter zu werden, erwachsen. Der Ausweg über das persönliche, irrtumsfähige, aber doch zu befolgende Gewissen, der von einigen Bischofskonferenzen (z. B. in der Königsteiner Erklärung der deutschen Bischofskonferenz) angeboten wurde, spielte in 5 1971, 2. Aufl. 1984, dazwischen wegen großer Nachfrage, aber verlegerischem Zögern ein privater Nachdruck für die Studierenden.
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der Folge nicht nur bei der Empfängnisregelung, sondern auch beim Sakramentenempfang der wiederverheirateten Geschiedenen und bei der Teilnahme einzelner Katholiken, z. B. in Mischehen, am Abendmahl in der evangelischen Kirche eine Rolle. Dieser Grundansatz fand bei den Theologen, die die Glaubensautorität des Lehramtes strikt und umfassend auf Normen des persönlichen Verhaltens, vor allem im Umkreis der Sexual- und Reproduktionsethik, bezogen, wenig Zustimmung. Man verwies auf die Irrtumsfähigkeit des Gewissens und auf die Verpflichtung, dieses insbesondere an Lehraussagen heranzubilden. Moraltheologen wurden in dieser Spannung auch – vor allem in Italien – gemaßregelt.6 Bischofsstühle in Österreich und Deutschland, teilweise in der Schweiz, waren in Treue zu „Humanae Vitae“ zu besetzen. Daraus hätte sich dann von Rom aus die weltweite Übereinstimmung der Bischöfe, im Rückgriff auf die Kirchenkonstitution des II. Vaticanums „Lumen Gentium“ n. 25, als eine Basis für eine „unfehlbare Norm“ rekonstruieren lassen. Diese Rekonstruktion der Unfehlbarkeit am Beispiel einer moralischen Lehraussage führte u. a. zur Kritik Hans Küngs an der Unfehlbarkeit des Papstes (1970). Auf einen solchen Verdacht aufgrund von Papstansprachen im Herbst 1988 antwortete die sogenannte „Kölner Erklärung“ vom 6. Januar 1989, die u. a. auch Alfons Auer mit unterzeichnete. Rom war aufgrund der weltweiten Zustimmung zur Intention dieser Erklärung beunruhigt. In der Vorbereitung der Moral-Enzyklika „Veritatis Splendor“ (1993) wurden nach Mailand und Zürich als Unterzeichner der Kölner Erklärung Alfons Auer und Johannes Gründel, begleitet von Wilhelm von Eiff, zu Gesprächen eingeladen. Die Gespräche fanden mit den vom Papst entsandten römischen Vertretern (dem polnischen Moraltheologen Thadeusz Stycen und dem Italiener Buttiglione) statt, in welchen es um Normen ging, die ausnahmslos, kontext- und umständeunabhängig gelten sollten (Fachausdruck „per se malum“). Alfons Auer hat die Enzyklika „Veritatis Splendor“ anschließend sorgfältig kommentiert. Er wies insbesondere auf folgende
6 Viele waren Priester, die die Zurückweisung besonders schmerzhaft erfuhren. Im Jahr 1969 – nachprüfbar bei einem Kongress in Wien – gab es unter den ca. 80 –100 promovierten Moraltheologen bis auf einen Neuankömmling, das war ich, nur Priester. 1974 war ich der erste Laientheologe, der einen Lehrstuhl für Moraltheologie in Freiburg / Schweiz, nicht ohne erhebliche Probleme, erhielt. (Der Bischof von Münster lehnte dies 1974 auf Anfrage der Fakultät schriftlich ab.)
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Stelle hin: „Wenn die Akte in sich schlecht sind, können eine gute Absicht oder bestimmte Umstände ihre Schlechtigkeit zwar abschwächen, aber nicht aufheben“ (Nr. 82). Nun bestand zwar in der Moraltheologie weitgehend Einigkeit darüber, daß es solche, durch sich selbst, d. h. durch ihre genaue Umschreibung bestimmte, schlechten Akte gebe, daß man aber, um ihre Schlechtigkeit genau auszuweisen, immer auch schon in der Beschreibung oder Benennung auf Absichten, Umstände und Folgen rekurrieren müsse. So könne am Verbot von Völkermord und Folter kein Zweifel bestehen, weil diese bereits in der begrifflichen Umschreibung ihre Verwerflichkeit nach Art, Gewicht und Folgen angeben würden. Damit wurde für die ganzheitliche Betrachtung einer Handlung argumentiert und gegen die Herauslösung einer reduzierten und isolierten Betrachtung eines Aktes. Dies war letztlich der Hintergrund, auf dem Auers „Autonome Moral“ (1971) entstanden ist, welche die vorherige Ausschöpfung vernünftiger Begründung vor einer Einweisung der Normen in die Glaubensautorität speziell für „weltethische Weisungen“ verlangte. Freilich wurde Auers Vorschlag, das Lehramt solle „in weltethischen Weisungen“ nach dem Subsidiaritätsprinzip vorgehen, von lehramtlichen Texten nicht weiter durchdacht. Dies hätte in Anlehnung an die starke Stellung des Subsidiaritätsprinzips in der Katholischen Soziallehre7 als Denkmodell durchaus in Betracht kommen können. Vielleicht befürchtete man eine Schwächung der praktischen Zuständigkeit der Kirche für das interne Leben der Gläubigen. Oder man sorgte sich um eine unkritische Betrachtung der durch die Universalität der Sünde geschwächten Rationalität (des „lumen naturale“ im Vergleich zum „lumen supernaturale“ bzw. zur „lux evangelii“). Auer selbst hatte seine „autonome Moral“ als ein bewährtes Verfahren in der Geschichte der Offenbarung, angefangen bei den Zehn Geboten, demonstriert und unterbaut. Seine Argumentation nutzte nicht primär den philosophischen Autonomiebegriff, sondern sie war traditionsgeschichtlich ausgewiesen. Korrespondierend bezog er sich auf die Erfahrung der Wirklichkeit. Die Beweisführung war also vor allem die Offenbarungs- und Glaubensgeschichte als eine Geschichte der „Integrierung“, d. h. der „vollständigen“ Erschließung der aus den Lebensüberzeugungen und den bewährten gesell7 Vgl. dazu das 2004 erschienene Kompendium dieser Lehre, deutsche Fassung, Freiburg-Basel-Wien 2006.
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schaftlichen Regulierungen entstehenden sittlichen Einsichten. Die Bedeutung, die Auer seinerseits der für ihn zentralen christlichen Motivation bzw. dem christlichen „Sinnhorizont“ im sittlichen Handeln gab, wurde von seinen Kritikern in einer echauffierten Debatte oft unterschätzt. Die Beweggründe des Glaubens bzw. einer christlichen Kontrasterfahrung, auf Grund derer eine moralische Fragestellung überhaupt erst wahrgenommen und formuliert werden kann und die man ebenso braucht wie die kohärenten Argumentationen, hat Auer nicht vernachlässigt. Es wäre heute ein Leichtes, mit Philosophen wie Ernst Tugendhat und Richard Rorty, eine Generation nach Auers Programmschrift, zu zeigen, dass ein Motiv als „Grund“ mindestens ebenso wichtig ist wie eine diskursive Begründung. Rorty unterscheidet sogar das Motiv als „Ursache“ des Handelns von der Begründung als Legitimation. Auer betrachtete die Enzyklika „Veritatis Splendor“ trotz des Mangels an fugenloser Übereinstimmung in der Frage der Beschreibung und der Reichweite der Kategorie des „In sich Schlechten“ als Fortschritt im Dialog. Er selbst las die kirchlichen Texte freilich auch „mit den Augen jener Katholiken, die sich zwar kirchlich engagieren, die sich aber mit ihren ethischen Vorstellungen bei ihr nicht mehr zuhause fühlen.“ In diesem Zusammenhang stellte er die Frage, ob die Kirche heute noch als moralische Heimat betrachtet werden könne. Er kam zu dem Schluss: „Die heimatstiftenden Elemente lassen sich klar benennen. Kirche kann Heimat stiften, weil sie ein umfassendes Sinnverständnis vermittelt, mit dem man leben und sterben kann. Sie kann Heimat stiften, weil sie lebbare Modelle zur Durchsetzung dieses Sinnes als Orientierungsangebote für die kritische Freiheit des Menschen vorstellt.“ Er sah zwei Voraussetzungen für diese Aufgabe: mehr Kommunikabilität im Zeichen des Kirchenbildes der „communio“ und mehr dialogische Wahrheitsfindung.8
8 Zitate aus: Alfons Auer, Ist die Kirche heute noch „ethisch bewohnbar“? In: Moraltheologie im Abseits, hrsg. v. D. Mieth (Quaestiones Disputatae 153), Freiburg i. Br. 1994, 296 –315.
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3. Die Anfänge der autonomen Moral. Auers „Christliches Weltethos“: eine Theologie für den Aufbruch der Laien in der Kirche Alfons Auer hat immer wieder am Bild des Christenmenschen in der „Welt von heute“ und an einem neuen dialogischen Kirchenbild gearbeitet. Das an der Schwelle des Konzils 1961 veröffentlichte Buch „Weltoffener Christ“ war begeistert aufgenommen worden und wurde in viele Sprachen übersetzt. Auer hatte sich auf diese Laien-Spiritualität, mit der er sich parallel mit dem französischen Theologen Yves Congar beschäftigte, durch seine Habilitationsschrift über das „Handbüchlein eines christlichen Streiters“ (also eines christlich engagierten Menschen) des Erasmus von Rotterdam vorbereitet.9 Die dort entworfene Systematik der christlichen Spiritualität bleibt faszinierend. In den Zeiten des Konzils wurde über das „Volk Gottes“ als Neuaufbruch in eine zeitgemäße Wanderschaft und über die Neubewertung der Aufgaben von Laien in der Kirche viel diskutiert.10 Auer, der den Spuren Franz Xaver Linsenmanns, über den er promoviert hatte, folgen wollte, suchte immer wieder nach einer Übereinkunft zwischen den christlichen Motiven, von denen ihn vor allem das Schöpfungsmotiv, die Inkarnation und die heilsgeschichtliche Vollendung bewegten, und den Möglichkeiten zeitgenössischer Vernunft. Die Frage nach den „Zeichen der Zeit“, die das Konzil in seiner von Johannes XXIII. verordneten Öffnung stellen wollte, hat ihn zusammen mit den Tübinger Theologen bewegt, die den Anschluss an die neuzeitliche Vernunft- und Freiheitsgeschichte gesucht hatten. Insbesondere im Werk seines Lehrers Theodor Steinbüchel (gest. 1950) war dies zum Aus-
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Erschienen Düsseldorf 1954. Hier begann auch die Zeit der „Laientheologen“, die z. B. mir selbst im Jahrzehnt zwischen 1963 und 1973 erlaubte, mich zum habilitierten und dann auch erstmals als Laien berufenen Moraltheologen von Alfons Auer ausbilden zu lassen. Heute (2016) gibt es unter den Moraltheologen nur noch wenige Priester, insbesondere aber auch Frauen auf den Lehrstühlen, z. B. in Münster, wo bei meiner Kandidatur 1974 der Bischof noch die Berufung eines Laien verweigerte. Jüngeren Moraltheologen, vor allem, wenn sie Laien, Männer und Frauen, sind, wird auch heute noch der Rat erteilt, sich vor der Erteilung der kirchlichen Lehrerlaubnis zurückzuhalten.
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druck gekommen.11 Auer fand auch Anschluss an den Gebrauch des „Autonomie“-Begriffs bei Marie-Dominique Chenu, z. B. in seinen Schriften über die mittelalterlichen Theologen.12 Die französischen Vorlagen zur Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ des Konzils nahmen dies auf. Die Diskussion dieser Konstitution durch die Moraltheologen nach dem Konzil ergab, dass die Konstitution zwar die Eigenständigkeit weltlicher Wirklichkeiten und damit auch der diese Wirklichkeiten untersuchenden wissenschaftlichen Vernunft anerkannte, aber die Tür zur Autonomie des Ethischen nur halb öffnete.13 Dies war verständlich, insofern auch Auer noch 1994 das „Grunddogma des neuzeitlichen Modells einer autonomen Moral, dass Autonomie und Theonomie miteinander unverträglich“ seien, ablehnt. Von diesem Dogma hielt er mit seinen Kollegen Josef Fuchs und Franz Böckle, wie er an gleicher Stelle sagt, „überhaupt nichts“.14 Auers Kommentar-Beiträge zum Text der Konstitution in der dem Lexikon für Theologie und Kirche (2. Auflage) angeschlossenen Konzilsausgabe macht auf die verschiedenen dialogischen Schritte aufmerksam, die das Konzil gegangen war, um an bestimmten Stellen vorsichtig einzuhalten. Der Dialog als Weg der Wahrheitsfindung erschien ihm als ein unumkehrbares Programm. Auer war in einem Kommentar auf die Antrittsenzyklika Pauls VI. „Ecclesiam suam“ (1967), die auch als Dialog-Enzyklika bekannt wurde, eingegangen. Er versuchte, die vom Papst angestoßene theologische Begründung des Dialogs zwischen „der Wahrheit des Heils und der Wahrheit der Welt“ zu vertiefen. Auch darüber ist in der Folge immer wieder nachgedacht worden bis hin zu dem Gedanken einer „Fremdprophetie“, weil doch die Auslegung des Glaubens auch in der Fremde auf Heimat stoßen musste, wenn man den Schöpfungsglauben und die gesamtmenschliche Bedeutung der Inkarnation ernstnahm. Dies ist der Grundgedanke von Karl Rahners „anonymem Christentum“, der ja nicht auf Vereinnahmung Andersdenkender, sondern auf Offenheit 11
Der belgische Moraltheologe Éric Gaziaux (Louvain-la-Neuve) hat dies in seinen beiden Büchern über die Autonomie der Moral ausführlich untersucht und Kontinuitäten zwischen Steinbüchel und Auer aufgezeigt. 12 Vgl. Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzième siècle, Paris 1957. 13 Vgl. die „Studien zur Theologischen Ethik“ 1978.1980. 14 Vgl. zu diesen Theologen Konrad Hilpert (Hrsg.), Christliche Ethik im Portrait, Josef Fuchs (von Jochen Sautermeister, 759 –790); Franz Böckle (von Hans Halter, 817–840).
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für bisher fremde Heimaten gerichtet war. Insofern etablierten sich hier auch Vorläufer des interkulturellen Dialoges. Der von Auer 1971 angestoßene Prozess eines neuen Nachdenkens über lehramtliche Zuständigkeiten findet sich interessanterweise auch zugleich in der damaligen römischen Doktorarbeit (1971) des Nachfolgers von Josef Ratzinger als Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Levada, der, nicht ohne im Vorwort auf Hans Küngs einschlägiges und anders argumentierendes Buch „Unfehlbar – eine Anfrage“ (1970) einzugehen, die Grenze der Unfehlbarkeit bei konkreten „naturrechtlichen“ Normen bekräftigte. Er begründete dies, ähnlich wie Auer, der diese Schrift nicht kannte, mit der Komplexität und der Geschichtlichkeit in der Erfassung solcher konkreter Normen. Alfons Auer sprach stets vorsichtig von der „Findung sittlicher Weisungen“ im Bereich eines „Weltethos“ der Christen. Unter „Weltethos“ verstand Auer nicht wie später Hans Küng ein „globales“ Ethos, sondern ein „mundiales“, d. h. ein den irdischen Wirklichkeiten als solche und ihrer sachgemäßen Interpretation zugewandtes Ethos. Dieses Ethos sollte insbesondere den Laienchristinnen und -christen aus einem eigenständigen Lernprozess in der Tätigkeit an eben diesen Wirklichkeiten erwachsen. Der „weltoffene Christ“ traut auch der „Welt“, nicht nur der Religion, Einiges zu, auch wenn sie für ihn nicht einfach Richtschnur des Handelns ist. Nicht die Deduktion der Normen aus festgefügten, bereits eingefrorenen Traditionen, die der Beweglichkeit einer lebendigen Überlieferung nicht mehr entsprachen, sondern die Induktion, die von bewährter Erfahrung, geschichtlicher Bewegung und (human)wissenschaftlicher Einsicht gespeist wurde, waren sein Weg. Freilich bedurfte es dazu der Zusammenführung solcher Einsichten aus einem gläubigen Vorverständnis und auf einem philosophischen Reflexionsniveau, das er seiner „anthropologischen Integrierung“ (der Zusammenführung der Teilaspekte der auf den Menschen bezogenen Wirklichkeitsanalyse) vor der „ethischen Normierung“ abverlangte. Gegen die unreflektierten normativen Kräfte des Faktischen und des bloß fiktiven Fortschrittes hat sich Auer mehrfach gewendet. Die „Zeichen der Zeit“ des Konzils sind nicht als Diktat des „Zeitgeistes“ zu verstehen. Aber es ist auch nicht außer Acht zu lassen, dass viele Spuren des „Zeitgeistes von gestern“ sich in die Strukturen der Kirche eingeprägt haben. Interdisziplinäre Arbeit hat Alfons Auer in den speziellen Bereichen der Moraltheologie gern geleistet und sich mit Umweltethik, MedienX
ethik, Bildungsethik, Medizinischer Ethik oder mit Politischer Ethik beschäftigt. Stets ging er von der Sachlage und ihrer vortheologischwissenschaftlichen Bearbeitung aus. Oft wurde er zu zusammenfassenden Schlussreferaten bei den zweijährigen Kongressen der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Moraltheologen und Sozialethiker gebeten. Seine dabei demonstrierte, integrierende und zugleich selbstironische Souveränität und sein gläubiger Optimismus blieben im Gedächtnis. Er behauptete ihn in hartnäckiger Widerstandshaltung zu den Kontrasterfahrungen mit den Realitäten in Kirche und Gesellschaft. Immer geht es ihm um ein „Mehr“ an Vernunft, Freiheit und Solidarität, um einen Fortschritt. Darin folgte er dem von ihm verehrten französischen Theologen und Paläontologen Teilhard de Chardin, der am prophetischen Hintergrund der Aufbruchsstimmung des 2. Vatikanischen Konzils mitwirkte und dessen Bild in seinem Dienstzimmer hing.
3. Warum „Ethos“ bzw. „Weisung“ und nicht „Gesetz“? – Auers an der Bibel orientierte Deutung der Geschichtlichkeit bzw. der Genealogie moralischer Einsichten15 Im ersten Kapitel der „Autonomen Moral“ bestimmt Auer das „Sittliche“ im Sinne eines „Weltethos“. Damit meint er vor allem, dass Moral unter dem Anspruch einer rational und realistisch erfassten „Wirklichkeit“ steht. „Wirklichkeit“ enthält die Wirkkräfte, die in der Welt wirken, ist insofern keine platte Realität. Auch die Religion gehört zu dieser Wirklichkeit. Auer wirft hier einen Blick auf die Tradition, aus der das Wort stammt: das Schöpfungswirken Gottes, das nur im deutschen Wort erhalten ist und in den anderen europäischen Sprachen zur bloßen „Realität“ absinkt. Anschließend geht es um die Vernunft und ihr anthropologisches Deutungspotential. Darauf komme ich ausführlicher zu sprechen. Das 2. Kapitel ist für Auers These von zentraler Bedeutung. Auer möchte nämlich zeigen, dass die moralische Vernunft der Geschichtlichkeit überantwortet ist: „Die geschichtliche Betrachtungsweise vermag […] im Unterschied zur abstrakt spekulativen, jene Offenheit 15
Vgl. Auer, Die Erfahrung der Geschichtlichkeit und die Krise der Moral, in: Theologische Quartalschrift 149 (1969) 4 –22.
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durchzuhalten, in der zukünftige Möglichkeiten eine reelle Chance haben, neue Seiten des Menschen zur Entfaltung zu bringen“ (S. 29). Er zeigt dies am Beispiel der Behandlung des „Weltethos“ in der Bibel und an Versuchen in der Geschichte der Moraltheologie (S. 123–136). Die biblische Integrierung moralischer Kulturen geschieht nach Auer nicht unkritisch. Aber es geht im Alten Testament darum, dass moralische Kulturen nicht vom Himmel fallen, sondern erst vorgefunden, dann auf eine bestimmte Weise eingeordnet werden. Das „Vorfinden“ liefert das Volk Gottes nicht an eine äußere Kulturwelt aus, sondern beachtet auch dessen „autonome“ Möglichkeiten, sich unterscheidend von der Umwelt – der sittlichen wie der religiösen – zu situieren. Dies gilt nach Auer für die Gesetzestafeln des Moses ebenso wie für das prophetisch-vorauseilende und weisheitliche Ethos, das Lebenserfahrungen umsetzt. Es handelt sich zunächst „nicht um spezifisch israelische Sittlichkeit“ (S. 56), sondern um eine sittliche Sozialordnung, die mit Israel zusammenwuchs und in eine religiöse Ordnung durch den Bundesschluss Gottes gebracht wurde. Damit wurden auch besondere Überbietungen des Ethos möglich. (vgl. S. 66). Der Schritt in eine prophetische Sozialkritik konnte auf der Basis solcher Überbietungen auf Zukunft hin erfolgen. Ähnlich erfolgte der Schritt zum religiös motivierten Weisheitsethos auf der Basis der besonderen religiösen Schöpfungserfahrung. Auer stellt in seinem an den alttestamentlichen Exegeten orientierten Bericht abschließend lapidar fest: „Nirgendwo treffen wir vom Glauben unabhängiges Ethos“ (S. 78). Seine Formel „autonome Moral“ soll also nicht ein sogenanntes „immanentes“ Ethos aus der Glaubenserfahrung herauslösen, aber auch nicht schlicht mit Glaubenserfahrung in eins setzen. Wenn daher Jesus das Liebesgebot radikal theologisiere (S. 86) und das „Reich Gottes“ als neuen Bezugspunkt setze, dann gehe es ihm um ein „Hochethos“, das in der „Feindesliebe“ kulminiere, während z. B. die „Goldene Regel“ die jesuanische Moral mit den weltethischen Möglichkeiten der Antike verbinde. Die Bergpredigt Jesu formuliert Einsichten, die nicht an sich „unvernünftig“ sind, aber über die wechselseitigen Erwartungen von moralischem Verhalten hinausgehen, so dass es nicht die moralische Einsicht ist, die das letzte Wort hat, sondern die Krisis einer zu Ende gedachten Gesetzesmoral, die dann von Paulus aufgegriffen wird. Es liegt nahe, dass Alfons Auer in seinem Teil auch auf Thomas von Aquin zurückgreift. Er äußert sich damit in einer Kontroverse, die XII
damals von vielen moralphilosophischen und moraltheologischen Studien vor allem zu dem Traktate „De lege“ entfaltet wurde.16 Auer sieht die Position des Thomas als duale Ordnung von Schöpfung und Erlösung. Weniger in den Blick nimmt er die naturteleologischen Voraussetzungen bei Thomas, die in der Debatte um die „natürliche“ Empfängnisregelung und die Homosexualität eine Rolle spielten. Hier formuliert er klar: „Das Sittliche ist (bei Thomas!) autonom gegenüber den physiologisch-biologischen Gesetzlichkeiten; deren Respektierung allein ist nicht an sich schon als moralisch gut zu qualifizieren. Das Sittliche ist autonom gegenüber der Metaphysik; ethische Normen können nicht einfachhin von der natura metaphysica des Menschen oder des menschlichen Aktes durch Ableitung, Extension oder Applikation gewonnen werden. Und schließlich ist das Sittliche autonom gegenüber dem Glauben, auch gegenüber den wesentlichen Grundformen christlichen Existenzvollzuges (Glaube, Hoffnung, Liebe); wenn diese Autonomie nicht konzediert wird, dann trägt die Formel von der ,die Gnade voraussetzenden Natur‘ nicht mehr“ (S. 130).17 Neben der Thomas-Debatte greift Auer die nachkantische Position Sebastian Mutschelles heraus, welche eine „Säkularisierung der Moral“ (S. 136) ermögliche, ohne aber die Aufgabe einer Beziehung auf den Glauben einlösen zu können.18 Es ist klar, dass man hier und heute in eine Diskussion der Ethik Kants und seinen Versuch, Religion zu denken, einsteigen müsste.19
16 Vgl. Korff, Merks, Bujo, Fuchs, Ronheimer und später Eberhard Schockenhoff, der sich demgegenüber wie Servais Pinkaers vor allem auf die Tugendethik des Thomas bezog. 17 Hier liegt m. E. ein Druckfehler vor, weil sich Auer auf die Formel „Gratia supponit natura“, „die Gnade setzt die Natur voraus“, beziehen will. D. h. es geht um die die Natur sich voraussetzende Gnade! 18 Ich denke, hier könnte man bei J. S. Drey fündiger werden, vgl. Dietmar Mieth, s. u. Anm. 39. 19 Vgl. Gordon Michaelson (ed.), Kant’s Religion within the Boundaries of Mere Reason. A Critical Guide, Cambridge 2014. Kants „Autonomie des Willens“ ist eher als moralische Therapie der bösen Neigungen gedacht. Deshalb hat Johannes Schwartländer immer wieder von Alfons Auer gefordert, er möge doch auch über die „Moral der Autonomie“ und nicht nur über die „autonome Moral“ nachdenken, vgl. die Festschrift „Anspruch der Wirklichkeit und christlicher Glaube“ 1980. Auer freilich hielt demgegenüber an seiner genealogischen Sicht fest, die sich mit Kants Begründungstheorie m. E. nicht vereinbaren lässt.
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4. Anthropologie und Ethik nach Alfons Auer Die Frage nach dem Menschen hat Auers Ethik zutiefst bewegt und ist daher auch zur Schlüsselfrage nach dem Verhältnis von Theologie und Ethik geworden. 4.1. „Autonome Moral“ als Hervorhebung der philosophischen Anthropologie Alfons Auer räumt in seiner Programmschrift „Autonome Moral und christlicher Glaube“20 der Anthropologie eine zentrale Stellung ein. Es ist für ihn keine Frage, dass es sich dabei um die philosophische Anthropologie handelt. Die Grundbestimmung der Existenz des Menschen steht der Rationalität des Menschen, seiner Selbstreflexion, offen. Es ist freilich die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, nicht nur die Frage nach dem Menschen, „woher er kommt, wohin er geht“ (Max Scheler), aufzuwerfen und ihr nachzugehen, sondern auch die spezifischen humanwissenschaftlichen Kenntnisse über die reale Gesamtsituation des Menschen zusammenzuführen. Diese Kenntnisse beruhen auf objektivierenden Methoden der korrespondierenden Einzeldisziplinen, z. B. der Humanbiologie, der Psychologie und der Sozialwissenschaften. Objektivierende Methoden sind stets sektoral ausgerichtet. Sie gehen nicht aufs Ganze, oder sie sehen das Ganze nur aus einer bestimmten Perspektive, die ihre Exaktheit aus ihrer Begrenzung durch einschränkende Rahmenbedingungen gewinnt. Löst man diese Begrenzung auf, dann gerät alles mit allem in Verbindung. Probleme können nicht mehr isoliert und in diesem Rahmen erklärt werden. Sie geraten hingegen in allgemeine Kontexte, wo es darum geht, Zusammenhänge zu verstehen und nicht nur darum, etwas in einem Bezugsrahmen zu erklären. Der offene Horizont und die Unabschließbarkeit der Kontexte sind Kennzeichen einer philosophischen Reflexion, die darum weiß, dass ihr Gegenstand, insbesondere der nicht-objektivierbare Mensch, zwar befragbar ist, aber doch den Antworten in gewisser Weise entzogen bleibt. Die Frage nach dem Menschen ist in diesem Sinne für den Theologen Auer nicht als philosophische Frage abschließbar. Die Offenheit für den Transzendenzbezug hat er immer auch als philosophische Posi20
Vgl. auch dazu die in Anm. 3 genannten Beiträge.
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tion vertreten. Für die Ethik hält er jedoch an einer Unterscheidung zwischen autonomer Vernunft und Glaubensüberzeugung fest. Er versteht diese Unterscheidung nicht als Trennung, sondern als eine Möglichkeit „reziproker“ Lernprozesse. 21 Die Unterscheidung dient nicht der Abspaltung, sondern einer Bereicherung der Perspektiven, die eine wechselseitige Korrektur und eine immer wieder neu zu gestaltende Bindung ermöglicht. 4.2. Die beiden fundamentalen Dreischritte oder Auers Methodologie Die philosophische Anthropologie hat nach Alfons Auer „die spezifische Aufgabe, über den Sinn menschlicher Existenz und über den in der menschlichen Personalität zentrierten Sinn der Welt überhaupt zu reflektieren“ (S. 44). Die entsprechenden Ausführungen Alfons Auers haben eine gewichtige Tragekraft für die Hauptthese über die „Autonome Moral“ zu entfalten (vgl. S. 28–54). Die Zurücknahme einer spezifisch theologischen Anthropologie hinter eine philosophische Anthropologie als zureichende normengebende Instanz, als integrierender Hintergrund der ethischen Normierung, macht ja einen der wesentlichen Punkte der „autonomen Moral“ im Sinne Auers aus. Der Auersche Dreischritt lautet: Humanwissenschaftliche Grundlegung – anthropologische Integrierung – ethische Normierung. 22 In diesem Dreischritt ist die theologische Reflexion explizit als solche noch nicht enthalten. Diesen im Buch „Autonome Moral und christlicher Glaube“ grundgelegten Dreischritt vollzieht Auer in seiner „Umweltethik“23, ohne dass ihn zunächst eine theologische Aussage begleitet. Die Theologie wird damit nicht funktionslos, sondern die Funktionen der Theologie müssen gegenüber diesem Dreischritt eigens und jeweils auf die konkrete ethische Fragestellung bezogen ausgewiesen werden. Der zweite Auersche Dreischritt, die kritisierenden, integrierenden und stimulierenden Funktionen der Theologie, wird von ihm auch auf die 21 Vgl. A. Auer, Zur Theologie der Ethik, Freiburg i. Br. – Freiburg / Schw. 1995. In diesem Band fi ndet sich der zuerst 1972 in der Festschrift für Richard Egenter erschienene Aufsatz „Interiorisierung der Transzendenz. Zum Problem Identität oder Reziprozität von Heilsethos und Weltethos“, a. a. O. 131–150. 22 In diesem Zusammenhang sei auch auf die moraldidaktische Bedeutung Auers hingewiesen, die sich in den Arbeiten seines Schülers Albert Biesinger fortsetzt. 23 Düsseldorf 1984.
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Kompetenz der kirchlichen Rede und ihrer Autorität bezogen. Diese Aufgaben der Theologie werden in der „Autonomen Moral“ im Einzelnen beschrieben (vgl. S. 185 –197). Sie sind dann in der „Umweltethik“, die man als Paradigma für Auers Darstellung einer „speziellen Moral“ betrachten kann, einem zweiten Teil vorbehalten. Die theologische Schöpfungslehre wird in ihrer Relevanz für die sittliche Verbindlichkeit in der Ökologie entfaltet, nachdem die Fragen ethischer Normierung bereits mit philosophischen, d. h. hier: „allgemein kommunikablen“ Beweisgründen behandelt worden sind. Von manchen Rezipienten wurde die Darlegung der theologischen „Beweggründe“ (Auer: „Sinnhorizont und Motivation“) in der Schöpfungslehre nicht mehr gelesen, weil die ethische Normierung ja schon vorher klar zu sein schien. Die kritisierende, integrierende und stimulierende Funktion der theologischen Aussage in der Auerschen Konzeption muss daher aus ihrem Missverständnis als „Anhängsel“ befreit werden, das glaubensethische Kritiker der autonomen Moral gern als Gegenargument benutzten. 24 Durch die vordergründige Diskussion über die „Autonomie“ im Sinne eines selbstbestimmten Gewissens war Auers „Theologie der Ethik“ in den Hintergrund gedrängt worden. Man diskutierte mehr über die Selbstbestimmung des Menschen im Bereich des Sittlichen, über die Eigenständigkeit des Ethischen gegenüber der Glaubensauslegung und Glaubensverkündigung, weniger darüber, was es bedeutet, wenn die anthropologische Integrierung und die ethische Normierung in einer theologischen Perspektive noch einmal durchdacht werden. Auer selbst war davon ausgegangen, dass auch eine philosophische Begründung der Moral nicht ohne Vorverständnis auskomme. Sein „Vorverständnis des Sittlichen“ entfaltet er zwar in allgemein kommunikabler Sprache, aber nicht ohne den Sinnhorizont, für dessen Erschließung er den christlichen Glauben einsetzt, in die Theologie hinein zu erweitern. Ethik als „Sinnwissenschaft“ ist daher für ihn ein Konzept der theologischen Ethik. 25 Zudem ist es eine zentrale theologische These Auers, dass man einen „Christomonismus“, der die 24
Vgl. H. Urs von Balthasar, J. Ratzinger, B. Stoeckle, Prinzipien der christlichen Moral, Einsiedeln 1975. 25 Vgl. A. Auer, Das Vorverständnis des Sittlichen und seine Bedeutung für die theologische Ethik, zuerst 1977 in der Festschrift für Bernhard Häring, in: ders., Zur Theologie der Ethik, a. a. O. 170 –194.
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heilsgeschichtlichen Differenzen einebnet, ebenso zu vermeiden habe wie einen glaubensethischen Monismus, der die ethischen Grundaussagen autoritativ – bibelpositivistisch oder lehramtspositivistisch – deduziert. Seine Differenzthese (Autonomie-Glaube) stellt eine Variation des katholischen „et“ als Unterscheidung ohne Trennung dar, das Josef Ratzinger so präzise in einem Tübinger Vortrag aus der gemeinsamen Zeit charakterisiert hat. 26 Auers vorrangige Absicht ist dabei nicht die Begründung vorhandener sittlicher Urteile, die u. U. miteinander konkurrieren, vielmehr geht es um die Beantwortung neuer Herausforderungen in Fragen der sittlichen Urteilsfindung. Auers Betonung der „Geschichtlichkeit“ und damit auch der Wandlungsfähigkeit moralischer Positionen ist sicherlich durch den Reformbedarf der katholischen Kirche pointiert und sollte nicht relativistisch missverstanden werden, aber seine Bevorzugung einer Sprache des „Findens“ bzw. des umsichtigen Suchens gegenüber einer Sprache des „Begründens“, wie sie etwa parallel sein Münsteraner Kollege Bruno Schüller einsetzte, stammt einerseits aus seiner Vorstellung von einer zusammenführenden, integrierenden, deshalb auch notwendig interdisziplinären Wissenschaft, andererseits aber auch aus seiner „Erfahrung der Geschichtlichkeit“27. 4.3. Die besondere Bedeutung der Humanwissenschaften Die Frage nach dem Verhältnis von Humanwissenschaften und philosophischer Anthropologie ist für diese Sequenz eminent wichtig. Das lässt sich an allen Arbeiten Auers zu konkreten ethischen Pro-
26
Vgl. J. Ratzinger, Tendenzen der Theologie der Gegenwart, in: Attempto (der damaligen Tübinger Universitäts-Zeitschrift) 1968. 27 Vgl. A. Auer, Die Erfahrung der Geschichtlichkeit und die Krise der Moral, zuerst Theologische Quartalschrift 149 (1969) 75 –85, jetzt in ders., Zur Theologie der Ethik, a,a. O. 50 –70. Auer bezieht sich auch auf Heinrich Rombach, Die Wissenschaft und die geschichtliche Selbstbestimmung des Menschen, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 75 / I (1967), 166 –185, hier 171: „Geschichte ist die Erfahrung des ‹Es geht›, dies freilich so verstanden, daß es nicht im Hinblick auf bestimmte Ziele und begrenzte Zeiten, sondern im Hinblick auf die Zielhaftigkeit überhaupt und Zeit schlechthin (d. h. zuletzt im Hinblick auf Menschsein) möglich ist. So gesehen ist tatsächlich die schlichteste Forderung für einen geschichtlichen Prozeß, daß er ,geht‘, auch schon das höchste Prinzip für die humane Bewertung, daß in ihm Menschsein möglich ist.“ Auf dieser Ebene hat auch Karl Rahner argumentiert.
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blemen zeigen. 28 Für die Studierenden, die Auers „Wende“ vom Glaubensethiker (mit einem heilsgeschichtlichen und sakramentalen Ansatz, den er 1955 bis 1966 gegenüber dem eher „autonomen“ Ansatz seines Lehrers Steinbüchel 29 für notwendig hielt) zur „Autonomen Moral“ Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger Jahre miterlebten und mitvollzogen, war das Studium der Humanwissenschaften das eigentliche Abenteuer. Während die Philosophie sich damals immer mehr von der Anthropologie entfernte und bis heute kein integrierendes Konzept für Detailerkenntnisse der Humanwissenschaften entwickelte (sieht man einmal von der Sonderentwicklung einer „philosophy of mind“ ab), erhielten die Human- und Sozialwissenschaften in der Tübinger katholisch-theologischen Fakultät ein gewisses Heimatrecht. So wurde 1972 der Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre in „Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftswissenschaften“ umbenannt und ein Dauer-Lehrauftrag für „Human- und Sozialwissenschaften“ wurde mit Hilfe der Diözese Rottenburg-Stuttgart eingeführt. Hatte das Interesse der Studierenden diese Entwicklungen über 30 Jahre hinweg gefördert, so nahm es in dem Ausmaße wieder ab, als die philosophische Ethik durch ihre regen Anstrengungen der letzten Jahrzehnte mit Recht, aber nicht ohne Verlust, diese Aufmerksamkeit für sich vereinnahmte. Die auf die Wissenschaften vom Menschen bezogene Aufmerksamkeit, die Auers Konzeption mittrug, wanderte in die interdisziplinären Bemühungen zwischen den Fakultäten ein und stand damit an der Wiege des heutigen interfakultären „Zentrums für Ethik in den Wissenschaften“. Es wäre ein Leichtes, hier „mutatis mutandis“ die Zusammenhänge zwischen einem Konzept der Ethik als „integrierender Sinnwissenschaft“ und dem Konzept in „Ethik in den Wissenschaften“, welches, wie der Titel schon sagt, eine induktive Komponente vertritt, herzustellen.
28
Vgl. die Bibliographie zu Auer bei Hirschi, a. a. O. 201–219 (Stand 1992). Zu Steinbüchel vgl. É. Gaziaux, L’autonomie en morale. Au croisement de la philosophie et de la théologie, Leuven 1998, der ausdrücklich auf die „Ahnenreihe“ Kant – Steinbüchel – Auer in Zusammenhang und Differenz hinweist. Diese Habilitationsschrift in Louvain-la-Neuve (der Autor basiert auf einem Studienaufenthalt in Tübingen) vermag die internationale Bedeutung dieses Teiles der „Tübinger Schule“ zu zeigen.
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4.4. Anthropologie und Sinnvertrauen in Rationalität Die philosophische Anthropologie hat für Auer das zentrale Gewicht, sofern „die radikalen, metaphysischen und religiösen Entscheidungen“ noch nicht eingeschlossen sind, wie er mit J. Girardi darlegt (S. 30).30 Für Auer ist vielmehr entscheidend: „Aus der Mitte seiner eigenen Existenz tritt ihm (dem Menschen) der unabdingbare Anspruch der vorgegebenen Wirklichkeit entgegen. […] Wenn die ethischen Vorstellungen und Verhaltensweisen gegen das eigentlich Menschliche – früher sagte man gegen die Wesensstruktur des Menschen – verstoßen, verfehlt er den Sinn seines Daseins und frustriert sich selbst“ (S. 30). Damit dieses Kriterium einer essentialistisch verstandenen Anthropologie überzeugen kann, bedarf es nach Auer eines „Urvertrauens in den Gang der Geschichte und seines persönlichen Daseins“. Das heißt: „Allen Anfechtungen zum Trotz unterstellt er, daß es sinnvoll ist, zu leben und Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen. Er unterstellt weiterhin, daß auf dem Grunde der Welt eine Ordnung waltet, und daß er durch ein vielmaschiges Netz von Beziehungen in diese Ordnung einbezogen ist und von ihr getragen wird. Er weiß zwar, daß die Wirklichkeit und unser eigenes Leben nicht bis ins Letzte hinein aufhellbar sind. Aber die undurchdringlichen Irrationalitäten stehen im Horizont einer – aus welchen Gründen auch immer – für sicher gehaltenen Rationalität“ (S. 32). Dieses Urvertrauen kann auch als Sinnvertrauen bezeichnet werden. Freilich macht sich das Sinnvertrauen nicht einfach an der gegebenen Realität fest, sondern entfaltet sich im Horizont der Hoffnung auf die in der gegebenen Realität anwesenden, aber in ihr noch nicht eingelösten Möglichkeiten. „Die Wirklichkeit (ist) auf die Ermöglichung einer fruchtbaren menschlich-geschichtlichen Existenz angelegt“ (S. 33). Zwar ist „Welt etwas Gestaltloses, das der menschlichen Durchformung harrt“, aber in der Welt selbst und im gestaltenden Menschen ist „potentielle Rationalität vorgegeben“ (S. 35 f). Das Vertrauen in die Potentialität ist durch einen Blick auf die Geschichte gegeben. „Die progressive Differenzierung der ursprünglichen Formen normativer Explizierung von Sinn und Ord-
30 Vgl. J. Girardi, Überlegungen zur Begründung einer weltlichen Moral, in: Moderner Atheismus und Moral (Weltgespräch Bd. 5), Freiburg u. a. 1968, 35 –51, hier 47.
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nung der Welt entspricht unverkennbar dem Entwicklungsgesetz menschlichen Gemeinschaftslebens“ (S. 37). 4.5. Die Bindung an die Realität des Menschen31 Die humanwissenschaftliche Grundlegung sorgt nach Auer einerseits dafür, dass die Realität wirklich ins Spiel kommt. Auf der anderen Seite bereitet sie die philosophisch-anthropologische Integrierung vor. Mit Auers Worten: „Wenn sich die Lehre von der sittlichen Selbstverwirklichung nicht im luftleeren Raum abstrakter Spekulationen verlieren soll, muß sie von der realen Gesamtkonstitution des Menschen ausgehen und diese fortwährend im Auge behalten […]. Die Einbringung seiner personalen Existenz in physiologisch-biologische, psychische und soziale Realitäten unterwirft den Menschen deren immanenten Gesetzlichkeiten und engt damit seinen Freiheitsraum ein“ (S. 39). Die Grenzen der Humanwissenschaften werden durch die „geistige Determination“ bestimmt. Weil der Mensch von Natur aus noch „unausgefertigt“ ist, wie die Anthropologie von Hartmann, Scheler, Gehlen und Pannenberg annimmt, bedürfen die einzelnen Humanwissenschaften, „weil sie durch ihren methodischen Monismus mehr oder weniger fixiert sind, der integrierenden Kraft der philosophischen Anthropologie“ (S. 40). Konsequenterweise betrachtet Auer den Biologismus, den Psychologismus und den Soziologismus mit gehöriger Skepsis. Sein Fazit lautet: „Die Anthropologie kann die Ergebnisse der einzelnen Humanwissenschaften integrieren, aber diese Wissenschaften können sich selbst nicht auf Anthropologie hin überschreiten, sie können und müssen nur offen bleiben angesichts der Fragen, die sie von sich aus nicht zu beantworten vermögen. Sie dürfen nicht den Eindruck erwecken, als könnten sie die volle Wahrheit über den Menschen aussagen. (Darum sind Formulierungen wie medizinische,
31
Hier begegnet der Ansatz Auers dem frühmodern-naturrechtlichen Ansatz von Samuel Pufendorf, vgl. Sascha Müller, Samuel von Pufendorfs Stärkung des neuzeitlichen Autonomiegedankens. Naturrechtliche Erkenntnis als actio humana, in: Theologische Quartalschrift 191 (2011) 242–259; vgl. auch Richard Bruch, Ethik und Naturrecht im deutschen Katholizismus des 18. Jahrhunderts, Tübingen-Basel 1997, 24 –56 zur protestantischen Tradition; dazu auch Knud Haakonssen, Early Modern Natural Law, in: The Routledge Companion to Ethics, ed. John Skorupski, London– New York 2010, 76 –87.
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biologische, psychologische usw. Anthropologie mit der gehörigen Einschränkung zu verwenden.)“ (S. 42). Auer entscheidet sich also mit W. Schöllgen für einen „neuen Typ von Wissenschaften“, d. h. für die interdisziplinären Integrierungswissenschaften (S. 44).32 Dies hatte in der „Auer“-Schule durchaus Folgen für die Interdisziplinarität des Vorgehens im Bereich der konkreten ethischen Probleme. Dabei spricht Auer wiederum der philosophischen Anthropologie die spezifische Aufgabe zu, „über den Sinn menschlicher Existenz und über den in der menschlichen Personalität zentrierten Sinn der Welt überhaupt zu reflektieren“ (S. 44). Auer geht es ja um eine Anthropozentrik, die christlich stimuliert ist, aber eine allgemein einsehbare Struktur aufweist. 4.6. Anthropologische Wende? Mit der sogenannten anthropologischen Wende der Neuzeit wird der Mensch sich selber zur Frage und damit in sich selber fragil. Michael Landmann, den Auer gern zitiert, formuliert dies so: „Im tiefsten Grunde […] entspringt die Frage nach dem Menschen weder der Philosophie noch den Wissenschaften, sondern einer Not der Zeit. Normalerweise nämlich hat der Mensch ein festumrissenes Weltbild von sich. Er glaubt zu wissen, wer er ist, und braucht deshalb nicht nach sich zu fragen. Dem heutigen Menschen dagegen, trotz oder vielleicht gerade wegen seines mannigfaltigen Sichauskennens in der Menschenwelt, fehlt ein solches gültiges Bild von sich. Neben dem Religiösen ist auch das scheinbar so evidente Bild vom Menschen als Vernunftwesen erschüttert: Schopenhauer und Marx, Nietzsche und Freud haben uns gezeigt, daß der Mensch in Wahrheit von ganz anderen Kräften als der Vernunft bewegt wird. Vor allem Nietzsche war groß in der Demaskierung der künstlichen Scheinwelten, durch die sich der Mensch seine wahre Wirklichkeit zu verdecken pflegt.“33 Vielleicht könnte man die Frage nach dem Verhältnis von Gutsein und Dasein des Menschen auch umdrehen: Wenn der Mensch nicht mehr weiß, was gut ist, dann weiß er nicht mehr, wer er selbst ist. Jedenfalls hat es Nietzsche so gesehen: „Nun haben wir die Moral vernichtet – wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden!“ 32 33
Vgl. W. Schöllgen, Konkrete Ethik, Düsseldorf 1961, 31– 45. Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1955, 53.
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(Wille zur Macht, 594). Kierkegaard hat darauf hingewiesen, dass man mit der Gottesgewissheit auch die Menschengewissheit verloren hat: „Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in was für einem Lande man ist. Ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was will das heißen, die Welt? Wer hat mich in das Ganze hineingelockt und läßt mich da stehen? Warum wurde ich nicht erst gefragt, warum nicht mit Sitte und Brauch bekannt gemacht?“34 Michel Foucault spricht dagegen in „Die Ordnung der Dinge“35, das im gleichen Jahr wie Auers „Autonome Moral“ erschien, von „anthropologischen Schlaf“: In der Erfahrung Nietzsches liege eine „Entwurzelung der Anthropologie“. Da Gott und Mensch sich nicht mehr wechselseitig interpretieren können, ist der Tod des Menschen mit dem Verschwinden Gottes gegeben. „In unserer heutigen Zeit kann man noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken.“ Diese Leere sei mit allen möglichen Wissenschaften ausgefüllt, die sich mit „dem Menschen“ beschäftigen. Foucault: „Die Anthropologie bildet vielleicht die grundlegende Position, die das philosophische Denken von Kant bis zu uns bestimmt und geleitet hat. Diese Disposition ist wesentlich, weil sie zu unserer Geschichte gehört. Aber sie ist im Begriff, sich unter unseren Augen aufzulösen, weil wir beginnen, darin gleichzeitig das Vergessen des Anfangs, der sie möglich gemacht, das hartnäckige Hindernis, das sich widerspenstig einem künftigen Denken entgegenstellt, zu erkennen und kritisch zu denunzieren. Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren, die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, dass es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen – d. h.: ein zum Teil schweigendes Lachen.“36 Das „schweigende Lachen“ Foucaults lässt 34 35 36
Beide Autoren zit. nach Landmann, a. a. O. Zuerst 1971, dt. Frankfurt a. M. 1980. Ebd., 412.
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nicht einmal mehr eine „skeptische Anthropologie“ zu, wie wir sie bei Michael Landmann, Helmut Plessner und Wilhelm Weischedel finden. Welchen Sinn und welche Hoffnung kann man also in den Menschen investieren, der vielleicht nur eine epochale humanistische Erfindung ist und der, seit er sich selbst irreversibel zum Gegenstand von Wissenschaft, Technik und sozialer Planung gemacht hat, immer mehr aus der souveränen Rolle des Fragenden in die abhängige Rolle des Manipulierten, Behandelten, Veränderten und Vergegenständlichten gerät? An dieser Stelle ist nach dem christlichen Glauben zu fragen, etwa auf der Ebene Karl Rahners, der seine Einsicht in den „operablen“ Menschen zur Frage nach der Zukunft des Menschen überhaupt entfaltet.37
5. Die theologische Perspektive der autonomen Ethik 38 Der Weg über eine philosophische Anthropologie aus dem Sinnvertrauen bei Auer zu einer „operablen“, dabei skeptischen bzw. negativen Anthropologie scheint weit. Aber wir müssen davon ausgehen, dass der Auersche Optimismus in der ethisch grundlegenden Anthropologie nicht sein letztes Wort ist. Denn die theologische Ethik knüpft ja gerade an den skeptischen Erfahrungen an. Sie macht sie jedoch weniger auf der Ebene der Beweisgründe für das ethisch Gute und Richtige geltend, als auf der Ebene der Beweggründe. Auf dieser Ebene geht die philosophische in die theologische Anthropologie über. Die Distinktionen können gewahrt bleiben: die skeptische Anthropologie der Philosophie entfaltet die Fragen. Wenn diese jedoch zum handelnden Menschen zurückkehren, verliert dieser an Spontaneität. Die negativen Anthropologien eines Foucault oder, mutatis mutandis, eines Adorno sind kontemplativ. Zur Ethik scheint hingegen eine Betrachtung des handelnden Menschen zu gehören, die mit 37 Vgl. D. Mieth, Der operable Mensch. Karl Rahners Beitrag zur Selbstmanipulation des Menschen im Disput, In: Stimmen der Zeit 129 (2004) 807–817. 38 Vgl. zur generellen Frage heute: Ch. Mandry, Ethische Identität und christlicher Glaube, Mainz 2002, wo schon im Titel nicht absichtslos die Auersche Formel „Autonome Moral und christlicher Glaube“ in Kontinuität zu ihrer Intention verwandelt wird. Vgl. jetzt: Monika Bobbert / Dietmar Mieth, Das Proprium der christlichen Ethik, Luzern 2015.
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dem wahren Bewusstsein im falschen rechnet. Ethik ist nur unter Suspension der letzten Skepsis, des letzten Zweifels, aber auch der letzten Hoffnung möglich. Insofern holt Ethik den Menschen, um den es ihr geht, nicht ein. „Was darf ich hoffen“ ist doch die tiefere Frage, die der Philosoph Kant formuliert hat, im Gegenüber zur ethischen Frage, die er als „Was soll ich tun?“ formulierte. Der im tiefsten kontemplativen Schauen betrachtete Mensch ist nicht „ethisch“ zu erfassen, es sei denn, unter der Perspektive der Endlichkeit, Fehlerfähigkeit, der Schuld und der Sünde. Insofern holt der Glaube den Menschen bei der Ethik ab und lässt diese in der Frage nach Rechtfertigung und Erlösung hinter sich zurück. Dieses kontemplative Zurücklassen schließt eine aktive ethische Rückkehr aus der Superabundanz der theologischen Kontemplation (Thomas von Aquin: „ex superabundantia contemplationis“) nicht aus, sondern ein. Insofern ist das theologische Verlassen der Ethik zugleich eine neue Sensibilisierung für Ethik. Die Kontrasterfahrung, die Empörung, der Entdeckungszusammenhang der moralischen Erkenntnis, der das „so geht es nicht weiter“ enthält – das alles wird in gläubiger Skepsis und in gläubiger Hoffnung zugespitzt und verstärkt. Ebenso befreit der Glaube zu einem Sinn von Moral, die diese selbst nicht garantiert, weil sie scheitert. Moral ist, indem sie einerseits als letzter Sinn bestritten und entlarvt wird, gleichsam auf der vom religiösen Sinn abgeleiteten Ebene eine Freigelassene der Religion, die sie nicht in ihren Rechten außer Kraft setzen darf, die sie stützen und schützen muss: stimulieren, kritisieren, integrieren, wie Auer dies in seiner Merkformel zum Ausdruck gebracht hat. Es ist Aufgabe einer wahrhaft theologischen Ethik nach Alfons Auer, die kontemplativen Kräfte der Philosophie und der Theologie unter theologischer, d. h. offenbarungsgläubiger Prämisse zusammenzuführen. An dieser Stelle erweist sich die Theologie bei aller Teilhabe an der Ethik-Kritik dennoch nicht als Hemmnis der Ethik, sondern sie entfaltet sich als ihr Stimulans und ihr tieferes Verstehen: sie gibt und sie nimmt nicht.39 Auers tiefe Kirchlichkeit enthält dieses Vertrauen und ist doch voll kämpferischer Skepsis, ob die 39
Ich bin der Frage nachgegangen, wie sich J. S. Dreys Bestimmung der Moral als „umgewandte“ Dogmatik zu Auers Theologie der Ethik verhält. Vgl. D. Mieth, Das Reich Gottes bei Johann Sebastian Drey und die Begründung einer katholischen Soziallehre, in: M. Kessler / O. Fuchs (Hrsg.), Theologie als Instanz der Moderne. Bei-
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Strukturen der Kirche dieser Aufgabe heute gewachsen sind, ob die Ethik tatsächlich so freigelassen wird, dass sie, gleichsam kirchlich zurückgewendet, auch der Kirche sagen darf, wo sie falsch liegt, so wie die Kirche in offener Weltzugewandtheit auch das Recht der kritischen Einspruchs wahrnimmt und wahrnehmen soll. Das christliche Menschenbild ist gleichsam das Brückenprinzip der wechselseitigen Kritik: der moralischen Kritik an der Strukturverhärtung der Kirche und der gläubigen Kritik an der Gewalt der Ethik, die sich als Zwang, als Waffe, als Letztinstanz selbst verfehlt, weil sie sich nicht in einem den Menschen befreienden und erlösenden Sinnhorizont verankert. Zur theologischen Perspektive Alfons Auers gehört in Abwehr eines „Heilsmonismus“ oder „Christomonismus“, wie er es nannte, die Eigenständigkeit einer Schöpfungstheologie, deren Entsprechung zur Vernunft als ethisch entscheidende Grundfähigkeit des Menschen im Sinne des thomanischen „Secundum rationem agere“ geprüft und aufrechterhalten werden sollte. Der Vernunft fiel deshalb bei aller Einschränkung durch geschöpfliche Endlichkeit, durch Fehlerfähigkeit und durch das Zurückbleiben des Menschen beim eigenen Versuch, sein moralisches Versagen aufzuholen, die Aufgabe der Begründung zu, auch wenn die Motive zur Begründung durchaus auch aus dem Reichtum der Heilsoffenbarung schöpfen konnten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Auers konkrete Ethik neben medizinischen Bereichen, in welchen es ja auch um Schöpfung und Leben gehen kann, exemplarisch in der Unweltethik (1985) entfaltet ist. Als konkreter Ethiker hat Alfons Auer einen weiten Kreis von Problemen in seine Untersuchungen eingeschlossen. Sein Dreischritt von der Fachlichkeit über die „anthropologische Integrierung“ zur ethischen Normierung ist dabei stets ausweisbar. Außerdem beherrschte er eine Kunst der Abwägung, die ihn oft weit über eingefahrene Frontbildungen hinausführte. Eine genaue Untersuchung seiner konkreten Beiträge zu ethischen Einzelfragen steht noch aus. Man muss dabei dem Missverständnis wehren, als habe Alfons Auer die konkrete „ethische Normierung“ aus der ihr vorausgehenden „anthropologischen Integrierung“ ablesen wollen. Dies wäre in der Tat, wie Christian Illies in seiner „Philosophischen Anthropologie im bioträge und Studien zu Johann Sebastian Drey und zur Katholischen Tübinger Schule, Tübingen 2005, 315 –332.
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logischen Zeitalter“ darlegt, problematisch.40 Man folge besser nicht „dem Vorschlag […], die Moral auf die Anthropologie zu gründen“. Aber Illies sagt auch unter Berufung auf Kant: „Die Frage nach dem, was wir tun wollen, geht über die Frage nach dem Menschen, der wir sein wollen […].“41 Im theologischen Kontext ist diese Verbindung von Sollen und Wollen, also die Frage nach dem „Selbstbild“ und Lebensziel besonders virulent. Die ethische Begründung, sofern sie in dieser Hinsicht praktisch werden soll, kann dies nicht ohne Gespräch mit der Anthropologie werden.
6. Reaktionen Der Innsbrucker Moraltheologe Hans Rotter fragte in seiner Besprechung, „ob aus der Tatsache, dass Jesus ethische Inhalte aus dem AT und dieses ethische Traditionen aus früheren Kulturen übernimmt, bereits folgt, dass es sich dabei um immanente, autonome Moral handelt. Steht nicht dieses Traditionsgut bereits seinerseits in einem religiösen Sinnhorizont, der dann nur geklärt und in einer unüberbietbaren Weise vertieft wird?“ Die „Funktion der Kirche“ erscheint ihm als „etwas dürftig“. Er fährt fort: „Wäre da nicht zu befürchten, dass eine solche Anpassung an die Säkularisierung christliche Moralverkündigung zwar zeitgemäß, aber auch überflüssig macht?“42 Hat Auer die autonome Moral mit der Plattitüde einer immanenten Moral gleichgesetzt? Hier erhält „Immanenz“ zugleich das Label einer Verkürzung im Sinne eines Vorbehaltes gegenüber der „ungetauften“ ethischen Vernunft, den Auer nicht teilte. Der Verdacht gegen die „Zeitgemäßheit“ übersieht die Bedeutung des „Zeitgeistes von gestern“, der zur moraldogmatischen Größe geworden ist, obwohl die Begründung dafür nicht oder nicht mehr ausreicht. Es war damals eine Frage, wie sehr sich die Moraltheologie oder Theologische Ethik einer Vernunft verpflichten durfte, die nicht zuvor von 40
Vgl. Frankfurt a. M. 2006, 156 –160. Ebd., S. 160. 42 Hans Rotter schickte mir diese Besprechung zu. – Vgl. auch Hans Rotter, Die Funktion des Glaubens in der Ethik, in: Adrian Holderegger (Hrsg.), Fundamente der Theologischen Ethik, Fribourg-Freiburg 1996, 277–89, hier 280: der Glaube gebe Normen eine „andere Bedeutung“. Ähnlich auch Klaus Demmer, Gottes Anspruch denken, Fribourg-Freiburg 1993, 155 165: „Der Mut zum Unterschied.“ 41
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der Theologie in Dienst genommen war. Dabei wurde übersehen, dass nur eine zur Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung selbstgesetzte Vernunft in der Lage sein kann, dem Glauben seine Dynamik der Befreiung von den „Zeitgeisten“ zu geben, an die er sich ausgeliefert hat. Erst eine Kirche, die sich mit dem von ihr verdeckten Missbrauch auseinandersetzen musste, war zur Anerkennung ihrer historischen Fehlerfähigkeit gezwungen. Wenn christliche Offenbarung ihre „Offenbarkeit“ für alle Menschen nicht auf dem Forum der Vernunft behaupten kann, macht sie sich selbst unfrei. Der feudale Zeitgeist von gestern ist nicht der Heilige Geist. Polemische Reaktionen auf seinen Ansatz, insbesondere durch eine Gruppe um Josef Ratzinger, Hans Urs von Balthasar und Bernhard Stoeckle, wurden von ihm bereits in der hier vorgelegten Neuauflage 1984 beantwortet.43 Vorher waren sie auch Thema des Moraltheologen-Kongresses in Freiburg / Schweiz, der unter meiner Leitung stattfand. Josef Ratzinger war dazu eingeladen, musste aber absagen. Zugleich führten die Polemiken zu kirchlichen Schwierigkeiten, die vor allem 1977 in einer Vorladung Auers und einer denkwürdigen Sitzung der bischöflichen Glaubenskommission unter Leitung Erzbischof Ratzingers ausgetragen wurden und die später eine seiner Ehrenpromotionen (Dr. theol. in Wien) aufhielten. An Stelle dieses Dokumentes, das erst freigegeben wurde, als er nicht mehr reisefähig war, erhielt er zunächst den Dr. phil. h.c. in Frankfurt am Main. Seine gesammelten Schriften zur „Theologie der Ethik“ wurden von mir 1995 in die „Studien zur Theologischen Ethik“ 44 eingereiht. Eine Reihe von Aufsätzen zur konkreten Ethik in den Bereichen Medizin, Recht und Ökonomie zeugt von der bleibenden Bedeutung seiner Kunst abwägender Argumentation. Die Reden zum 90. Geburtstag im Februar 2005 wurden unter dem Titel „Autonome Moral im christ-
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Vgl. auch meine kritische Besprechung dieses Buches in der Orientierung 1976. Diese von Adrian Holderegger seit 1981 herausgegebene Reihe enthält immer wieder fundamentalethische Bände, die auch die Diskussion über die Autonome Moral einbeziehen. Vgl. etwa: Adrian Holderegger (Hrsg.), Fundamente der Theologischen Ethik. Bilanz und Neuansätze, Fribourg-Freiburg 1996, insbesondere die Beiträge von Hansjürgen Verweyen, Thomas Pröpper, Salvatore Privitera, Hans Schelkshorn, Klaus Demmer, Hans Rotter. 44
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lichen Glauben“ veröffentlicht.45 Alfons Auer war einer der bedeutendsten Moraltheologen während und nach dem 2. Vatikanischen Konzil. Nach seinem Tode 2005 wurde er in seiner Heimat, Schönebürg bei Biberach an der Riß, deren Ehrenbürger er war, beerdigt und erhielt einen Gedenkstein. Die Diskussion des Autonomie-Buches schien in der fachlichen Welt mit einem Autonomie-Kongress in Fribourg 1977, dem eine Reihe von Untersuchungen zur Autonomie in der Reihe „Studien zur Theologischen Ethik“ folgten, weiter geführt. Auer wies die Möglichkeiten seines Ansatzes in einem sorgfältig elaborierten Buch zur „Umweltethik“ (1985) nach. Seit 1980 Emeritus, blieb er lange rüstig, neben seinen Schriften ein begehrter Vortragsredner und Prediger. Sein Werk krönte er mit einem Buch über „Geglücktes Altern“ (1995), das wiederum einige Auflagen erlebte und in dem auch seine menschliche Vorbildlichkeit durchscheint.
7. Auers Nachwirkung als Moraltheologe Alfons Auer, der bodenständige Schwabe, lehnte Einladungen für Gastaufenthalte (z. B. in Brasilien) ab. Sein Kontakt in den USA basierte auf seiner Freundschaft mit Warren Reich, Medizinethiker am Kennedy Institute for Ethics in Georgetown, der seinerseits in Tübingen zwei Mal Gastprofessor war. Von den Autoren der „autonomen Moral“, die er in seinen Vorlesungen heranzog, ist sicherlich Erich Fromm von Bedeutung geblieben. Die Nachlassverwaltung Fromms und die Gründung der Erich Fromm Gesellschaft ist mit Rainer Funk verbunden, der Mitarbeiter Erich Fromms wurde, nachdem er bei Alfons Auer Assistent gewesen war und bei ihm über Erich Fromm promoviert hatte. Eine humanistische Geistesverwandtschaft scheint mir hier weiter zu wirken. Auers interdisziplinäre Arbeit an der Universität Tübingen fand immer wieder eigenständige Fortsetzungen. Über seinen Schülerkreis hinaus, der sich auch in eine zweite Tübinger Generation hinein fortsetzte, ist seine Wirkung jedoch deutlich zu sehen: in der Aufnahme seiner Autonomieformel als Eigenständigkeit der ethischen Vernunft gegenüber der Glaubensautorität. Eigenstän45
Tübinger Universitätsreden. Neue Folge, Bd. 42, Redaktion Tobias Meyer, Dietmar Mieth.
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digkeit hat er nicht als Autarkie verstanden und seine in „Zur Theologie der Ethik“ gesammelten Aufsätze bezeugen dies. Die wissenschaftliche Bedeutung Auers, insbesondere in seiner Autonomie-These, wird in den Arbeiten von Hans Hirschi46 und Éric Gaziaux47 hervorgehoben. Die breite Wirkung dieser These hängt damit zusammen, dass in den folgenden theologischen Generationen zwei Lernprozesse stattgefunden haben: zum einen wurde die Unterscheidung zwischen Autonomie als freie Selbstverpflichtung und Autarkie der Wahl, auch individuelle „Selbstbestimmung“ („free choice“), bei Auer „Autonomismus“ genannt, immer genauer bestimmt und rezipiert; zum anderen hat die Betonung der „Vernunft“ im dialogischen Bezug auf Glauben bei Johannes Paul II. und bei Benedikt XVI. trotz der offenen Auseinandersetzung über die Korrekturfähigkeit dieser Vernunft im Hinblick auf eine Autonome Moral als Aktualisierung des Natur- bzw. Vernunftrechts entschärfend gewirkt. Insbesondere hat Auers Methode der „integrierenden“ Ethik weitergewirkt. Gerade in der interdisziplinären Zusammenarbeit in konkreten Fragen ethischer Verantwortung erwies sich der induktive Ausgangspunkt bei den Einzelwissenschaften und Fachbereichen als fruchtbar. So trägt auch das Konzept einer „Ethik in den Wissenschaften“ (nicht von außen für die Wissenschaften), das in Tübingen erfolgreich seit 1985 entwickelt wurde, etwas von der Auerschen Konzeption im „Erbe“. 48 Die Gelassenheit, mit der Auer sein letztes Buch „Geglücktes Altern. Eine theologisch-ethische Ermutigung“ (1995) schrieb, zeugte von seiner Lebensart und Lebenskunst, auf die Menschen mit sehr unterschiedlicher Einstellung zur Religion gern zurückgriffen.
Zusammenfassung Auers Vorschlag, das Lehramt solle „in weltethischen Weisungen“ nach dem Subsidiaritätsprinzip vorgehen, wurde von lehramtlichen 46
Fribourg 1992. Louvain-la-Neuve 1995, 1998. 48 Vgl. Dietmar Mieth, Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik, Freiburg-Basel-Wien 2002. Hier wird Auers Methode der Integrierung zu eine interdisziplinären „konduktiven Methode“ weiter entwickelt. 47
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Texten nicht aufgenommen. Der erste Text, in welchem man etwas von dieser Subsidiarität spürt, ist die Enzyklika „Laudato Si“ von Papst Franziskus (2015). Dies hätte in Anlehnung an die starke Stellung des Subsidiaritätsprinzips in der Katholischen Soziallehre als Denkmodell durchaus auch in der Moraltheologie in Betracht kommen können. Vermutlich befürchtete man eine Schwächung der praktischen Zuständigkeit der Kirche im Leben der Gläubigen; oder man sorgte sich um eine unkritische Betrachtung der durch die Universalität der Sünde geschwächten Rationalität (des „lumen naturale“ im Vergleich zum „lumen supernaturale“ bzw. zur „lux evangelii“). Auers Argumentation nutzte nicht nur den philosophischen Autonomiebegriff – im Sinne einer Verbindlichkeit aus Selbstverpflichtung –, sondern sie war traditionsgeschichtlich ausgewiesen. Korrespondierend bezog er sich auf die Zugänglichkeit der Erfahrung der Wirklichkeit durch die Vernunft. Die Beweisführung war also vor allem die Offenbarungs- und Glaubensgeschichte als eine Geschichte der „Integrierung“, d. h. der „vollständigen“ Erschließung der aus den Lebensüberzeugungen und den bewährten gesellschaftlichen Regulierungen entstehenden sittlichen Einsichten. Die Bedeutung, die Auer dabei dennoch der für ihn so zentralen christlichen Motivation bzw. dem christlichen „Sinnhorizont“ im sittlichen Handeln gab, die Bedeutung der Beweggründe des Glaubens bzw. seiner Kontrasterfahrung, auf Grund derer eine moralische Fragestellung überhaupt erst wahrgenommen und formuliert werden kann und die man ebenso braucht wie die kohärenten Argumentationen, wurde von seinen Kritikern in einer echauffierten Debatte oft unterschätzt. Es wäre aber ein Leichtes, mit Philosophen wie Ernst Tugendhat und Richard Rorty heute, eine Generation nach Auers Programmschrift, zu zeigen, dass ein „Motiv als Grund“ mindestens ebenso wichtig ist wie eine diskursive Begründung. Rorty unterscheidet sogar das Motiv als „Ursache“ des Handelns von der Begründung als Legitimation. Ähnlich hat Hans Joas als Soziologe die moralische Genealogie der Menschenwürde dargelegt. Der von Auer 1971 angestoßene Prozess eines neuen Nachdenkens über lehramtliche Zuständigkeiten findet sich interessanterweise auch zugleich in der damaligen römischen Doktorarbeit (1971) des späteren Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Levada, der, nicht ohne im Vorwort auf Hans Küngs einschlägiges und anders argumentierendes Buch „Unfehlbar – eine Anfrage“ (ebenfalls 1971!) einzuXXX
gehen, die Grenze der Unfehlbarkeit bei konkreten „naturrechtlichen“ Normen bekräftigte. Er begründete dies mit der Komplexität und der Geschichtlichkeit in der Erfassung solcher konkreter Normen. Seine eigenen integrierenden Fähigkeiten hat Alfons Auer oft in den speziellen Bereichen der Moraltheologie unter Beweis gestellt, ob er sich mit Umweltethik, Medienethik, Bildungsethik, Medizinischer Ethik oder mit Politischer Ethik beschäftigte. Oft wurde er zu zusammenfassenden Schlussreferaten bei den zweijährigen Kongressen der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Moraltheologen und Sozialethiker gebeten. Seine selbstironische Souveränität bleibt im Gedächtnis. Auch scheute er nie davor zurück, die Worte der Schrift und die Geheimnisse des christlichen Glaubens an den Interpretationsmöglichkeiten der zeitgenössischen Vernunft und Erfahrung zu messen. Er gab diese Worte nie auf, aber er wollte wissen, wie sie sich vor unserem Bewusstsein behaupten können und wie dieses sich vor ihnen bewähren kann. Glauben sollte das Denken bewegen und sich als Befreiung in Solidarität bewähren. Es ist heute kaum zu ermessen, wie befreiend seine in Tübingen nach 1967 entwickelte Theologische Ethik auf die Studierenden wirkte, die in Scharen in seine Seminare strömten, wo sie vor allem lernten, die christlichen moralischen Motive im Medium einer interdisziplinären wissenschaftlichen Welt zu untersuchen und zu überprüfen. Gewiss ist die damalige Aufbruchstimmung mit der Zeit verloren gegangen, hat sich an mancher Reformunwilligkeit und an einer bis zum Defätismus reichenden Skepsis aufgerieben. Aber geblieben ist seine Ermunterung zu mehr Vernunft, Freiheit und Solidarität. Das Ethische“, sagte Alfons Auer, „meldet sich nicht als Oktroi ‹von außen› oder ‹von oben›. Es meldet sich als Implikat der Wirklichkeit.“ Er verstand die „autonome“ Wirklichkeit als Prozess und als Geschichte. Darin sah er Erfahrungen und Lernvorgänge, die den bleibenden Wahrheiten eine neue Sprache zu ihrer Erkundung ermöglichten. Aus der Pressemitteilung der Universität Tübingen im November 2015: Der kanadische Philosoph und Politikwissenschaftler Charles Taylor erhält am 27. November 2015 den „Alfons Auer Ethik-Preis“ der Universität Tübingen. Der mit 25 000 Euro dotierte Preis wird in diesem Jahr erstmals von der Katholisch-Theologischen Fakultät vergeben XXXI
und wurde vom Unternehmer Siegfried Weishaupt (Schwendi) gestiftet. Anlässlich des 100. Geburtstags des Moraltheologen Alfons Auer in diesem Jahr wird er an eine Persönlichkeit verliehen, die sich im Sinne eines besonderen ethischen Engagements im religiösen, wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Bereich auszeichnet.
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Literatur
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Einleitung
Der Titel dieses Buches »Autonome Moral und christlicher Glaube" will die beiden zentralen Probleme heutiger moraltheologischer Dis kussion in sich selbst und in ihrer Interdependenz ansprechen. Das erste Problem ist das des Sittlichen überhaupt. Tradierte sittliche Normen werden heute ohne Zögern beiseite geschoben, wenn sie nicht überzeugend begründet werden können. überzeugen aber kann eine Begründung nur, wenn sie sich auf rationale Argumente stützt. Auch Autoritäten haben keine anderen Mittel, sofern es ihnen wirk lich um Überzeugung zu tun ist; und anderes steht im Bereich des Sittlichen, im Unterschied etwa zu den das Strafrecht bestimmenden Sachzwängen, nicht an. Wie bei der Begründung tradierter Normen, so ist es auch bei der Auffindung sittlicher Orientierungshilfen in jenen Bereichen menschlichen Zusammenlebens, die im Zuge der fort schreitenden technischen Selbstmanipulation des Menschen ganz neue, ethisch noch nicht oder nicht ausdrücklich r.eflektierte Fragen auf werfen. Jede Diskussion, in der inhaltlich konkretisierte sittliche Forderungen behauptet oder bestritten werden, führt über kurz oder lang mit Sicherheit in den Engpaß der Begründungsproblematik. Jedermann kennt die Schwierigk.eiten, sich auch nur über ein in unserer Gesellschaft pädagogisch zu urgierendes ethisches Minimum zu vereinbaren. Kann man im Blick auf die beginnende Neuzeit noch von einer »Emanzipation des Ethischen" von der religiösen Tradition sprechen, so muß sich bei der heutigen Krise der Eindruck der „Emanzipation vom Ethischen" 1 überhaupt einstellen. Wer sich in der Geschichte auskennt, macht sich über die Bedrohlichkeit einer solchen Entwicklung, falls die Diagnose stimmt, keine Illusionen. Auf der anderen Seite halten neuerdings sogar Soziologen Ausschau nach sittlichen Verhaltensmustern, weil sie feststellen, daß der völlige Verzicht auf normative Institutionalisierung der anthropologischen 1
G. Ebeling, Die Evidenz des Erhischen und die Theologie 325.
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Dringlichkeiten den Menschen schlechthin überfordert. Was ist in die ser Situation zu tun? Wenn das Sittliche mit der Entfaltung menschlicher Freiheit und Würde zu tun hat, muß es kommunikabel sein. Es ist tatsächlich kommunikabel, weil es in der menschlichen Vernunft begründet ist. Aus eben diesem Grunde muß die Reflexion über ethische Fragen autonom ansetzen, sie muß Vorstellungen entwickeln, die von be stimmten Glaubenshorizonten unabhängig sind und doch ein sinn volles und fruchtbar.es Zusammenleben der Menschen gewährleisten (1. Kapitel). Die Autonomie des Sittlichen ist auch für den Theologen nicht nur ein möglicher, sondern, zumindest in der heutigen Gesell schaft, der einzig sinnvolle Ansatz. Der Theologe begibt sich sonst a priori der Möglichkeit einer Kommunikation mit denen, an die sich die christliche Botschaft wendet und an die er sie doch vermitteln soll. 2 Das zweite Problem gegenwärtiger moraltheologischer Reflexion hängt mit dem ersten unmittelbar zusammen. Wenn das Sittliche autonom ist, was kann dann der christliche Glaube zur sittlichen Verwirklichung menschlicher Existenz beitragen, und welche Aufgabe kommt in diesem Zusammenhang den Vermittlern und Interpreten der christlichen Botschaft zu? Die Untersuchung wendet sich, um diese schwierigen Fragen bedenken zu können, zunächst der Heiligen Schrift (2. Kapitel) und in einem kurzen Exkurs der geschichtlichen Entwicklung der Moraltheologie zu. Das 2. Kapitel über „Weltethos in der Heiligen Schrift" mag manchem Leser allzu breit angelegt sein, zumal es vom Standpunkt der Exegese und der biblischen Theo logie her nichts Neues zu bieten hat. Aber das Problem, das in diesem Kapitel an die Heilige Schrift herangetragen wird, scheint die Exege ten nicht in gleicher Weise zu bedrängen wie die Moraltheologen. Die vorliegende Untersuchung kann darum keinesfalls darauf ver zichten, aus dem Alten und Neuen Testament und wenigstens andeu tungsweise auch aus der Geschichte der Moraltheologie einige wesent liche Modelle religiöser bzw. theologischer Integrierung autonomer • Um es vorweg deutlich zu sagen: hier steht nicht das „Heilsethos", sondern das "Weltethos• zur Debatte. Es geht also um we!tethische Orientierung, nicht um die .Unmittelbarkeit zu Gott". Was die .Unmittelbarkeit zu Gott" betrifft, sind wir auf die Orientierungshilfen der Heiligen Schrift angewiesen. Die Unterscheidung zwischen • Weltethos" und .Heilsethos" ist gewiß mit manchen Problemen behaftet. Dodl sollte man dem, der sie trotzdem für sinnvoll hält, nicht allzu rasch und unbesehen vor werfen, er verkenne die .Reziprozität" zwischen der Unmittelbarkeit zu Gott und der Zuwendung zur Welt.
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Moral zu erheben und damit jenes Fundament bereitzustellen, auf dem sie zu einer Bewertung heutiger kirchlicher Praxis und heutiger moraltheologischer Reflexion ansetzen kann. Nur wenn aus der ge schichtlichen Entwicklung, vor allem aus ihren theologisch privilegier ten Anfängen, verbindliche Richtbilder sichtbar gemacht und mit einer gewissen Ausführlichkeit demonstriert werden, kann das christ liche Proprium sittlichen Existenzvollzugs und die kirchliche bzw. theologische Ermächtigung bei der Findung weltethischer Weisungen genauer bestimmt werden (3. Kapitel). Vor gut zwei Jahren hat der Verfasser in der Tübinger "Theolo gischen Quartalschrift" 3 einen Beitrag "Nach dem Erscheinen der Enzyklika ,Humanae vitae' - Zehn Thesen über die Findung sittlicher Weisungen" veröffentlicht. Die Absicht, diese Thesen ausführlicher zu entfalten und sorgfältiger zu begründen, löst er mit der hier vorgelegten Untersuchung ein. Daß sich die Veröffentlichung so lange verzögerte, lag an den üblichen Belastungen, denen der Hochschulleh rer heute ausgesetzt ist. Die Verzögerung hat allerdings den Vorteil, daß nunmehr eine Reihe inzwischen erschienener wichtiger Arbeiten mit berücksichtigt werden kann. Der Bericht über die gegenwärtige Diskussion unter den Moraltheologen soll die verschiedenen Positio nen im einzelnen vorstellen, auch wenn dies den Anmerkungsteil beträchtlich anschwellen läßt. Doch geht es nicht nur um einen Be richt, sondern um die Darlegung und Begründung einer eigenen dezidierten Stellungnahme des Verfassers. 4 Diese Stellungnahme zielt keineswegs auf Kritik um der Kritik willen, sondern auf jene Diffe renzierung des Denkens und des Sprechens, zu der Kirche und Theo logie durch die geistige und sittliche Entwicklung der Neuzeit auf gefordert sind. Wenn die Untersuchung sich im wesentlichen auf die katholische Auf fassung bezieht, hängt das damit zusammen, daß sich für Lehramt und Theologie der katholischen Kirche die Frage ungleich schärfer stellt als für den evangelischen Bereich, was gewiß nicht heißt, daß das Problem dort nicht besteht. ' 149 (1969) 75-85. • ]. Meßner, Ehemoral und Entscheidungsethik, in: Hochland 62 (1970) 1-19, hier �7, stellt einen Wandel in der Auffassung des Verfassers fest. Tatsächlich plädierte dieser zunächst für eine "Theologisierung" der Moral. Inzwischen ist er zu der Überzeugung gekommen, daß die Moraltheologie den autonomen Denkansatz aufgreifen muß - nicht nur, weil ihr die moderne autonome Profanität als Ort ihrer Reflexion zugewiesen ist, sondern weil ihr nur an diesem Ort Riditigkeit und Bedeutsamkeit dieses Denk ansatzes erkennbar werden.
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1. Kapitel
Weltethos als das Ja zur Wirklichkeit
I. Bestimmung des Sittlichen (im Sinne des Weltethos) Die Frage nach dem Wesen des Sittlichen hat im Laufe der Geschichte ungezählte Antworten gefunden, die, sofern sie nur tief genug ange setzt waren, jeweils einen mehr oder weniger wesentlichen Beitrag zur Aufhellung dieses sdiwer durchschaubaren Phänomens geleistet haben. Alle diese Antworten wurden aus einem bestimmten ganz heitlichen Verstehenshorizont heraus formuliert und unterlagen damit automatisch dem Gesetz der perspektivischen Sichtverengung. ,,Jede kulturelle Antwort auf die großen Menschheitsfragen ist eben doch nur eine neben möglichen anderen und damit, wenn audi in sich nicht unzulänglich, so doch einseitig. Als entscheidende Form hat sie nur eine besdiränkte Fassungskraft und sdiließt andere Formen aus ... Indem wir in der einen Antwort stehen und ihrer Vorzüge teilhaft sind, fühlen wir doch, daß uns gleichzeitig dadurch die Vorzüge ande rer Antworten entgehen. Anderseits lassen sich die Vorzüge der ver schiedenen Antworten nicht synthetisieren: Die Optima sind imkom possibel." 1 Die im Folgenden vertretene Position verleugnet ihre Her kunft von der durdi Thomas von Aquin in klassisdier Weise entwik kelten "Seinsethik" nicht, versucht diese aber auf Grund heutiger Einsichten zu aktualisieren.
1 M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, München-Basel 1961, 73.
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1. Das Sittliche als das Ja zur Wirklichkeit a) Die These "Alles Sollen gründet im Sein. Die Wirklichkeit ist das Fundament des Ethischen. Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße. " 2 Das Sittliche ist also zu bestimmen als der Anspruch, den die Wirklichkeit an die menschliche Person stellt. Wenn ich wissen will, wie ich mich in Ehe, Familie, Beruf, Staat, Technik, Kunst, Wissenschaft usw. zu verhal ten habe, muß ich zuerst wissen, was diese Lebensbereiche für die menschliche Person und ihre sozialen Beziehungen bedeuten, welche Gesetze in ihnen herrschen, welche Sinnwerte in ihnen repräsentiert sind, welche geschichtlichen Möglichkeiten ihnen offenstehen und welche Grenzen ihnen gesetzt sind. Erst dann kann mir klarwerden, wie ich mich in ihnen zu verhalten habe, damit sie ihren Sinn und ihre Funktion für das menschliche Dasein in optimaler Weise erfül len. Das wahre Sein der Wirklichkeit, die innere Wahrheit der Dinge wird zum Maß und zur Norm des Handelns. Diese Sachlichkeit ver mag nicht nur die augenblickliche Gestalt der Wirklichkeit, sondern auch ihr Zurückbleiben hinter den angebotenen Möglichkeiten und ihre wesenhafte Finalisierung auf das melius und schließlich das optimum potentiae, auf das Äußerste ihres jeweiligen Seinkönnens - das definitive Seinkönnen ist nicht zugänglich, solange die Ge schichte dauert - wahrzunehmen.3 Diese radikale Sachlichkeit allein • ], Pieper, Die Wirklichkeit und das Gute 11, bringt mit dieser Formulierung die Auffassung des Aquinaten mit äußerster Prägnanz zum Ausdruck. Er stellt seinem Buch als Motto zwei Worte voraus, das erste von Bernhard von Clairvaux: "Ein Weiser ist, wem alle Dinge so schmecken, wie sie wirklich sind", das zweite von J. W, Goethe: .Im Tun und Handeln kommt alles darauf an, daß die Objekte rein aufgefaßt und ihrer Natur gemäß behandelt werden." Vgl. auch H. Henkel, Einführung in die Red:itsphilosophie 288: .Das Wort ,Natur der Sache' •.. bezeidrnet im wissen schaftlichen Denken einen bestimmten Weg der Erkenntnis, der nicht auf Ideen hin gerichtet ist, sondern von den ,Dingen' ausgeht und sich an ihrem ,Maß' orientiert. Als eine solche Denk- und Betrachtungsweise kennzeichnet Schiller in dem bekannten und vielgenannten Brief an Wilhelm von Humboldt (vom 9. 11. 1795) Goethes ,solide Manier, immer von dem Objekt das Gesetz zu empfangen und aus der Natur der Sache ihre Regeln abzuleiten'. Als Leitprinzip für das redite Handeln versteht Adalbert Stifter die Maxime, stets das zu tun, ,was die Dinge fordern', Diese beruht, wie Bockelmann treffend formuliert hat, auf folgender Grundlage: ,In jeder Situation, in jeder Konstellation von Tatsachen, mensdilichen Strebungen und historischen Ten denzen liegt ein Maßstab des Rimtigen verborgen, den es auszuhorchen gilt. Er ist den Dingen immanent, nicht transzendent.'"' • Thomas von Aquin, Summa Theologica I-II, 3,2: .Unumquodque autem intantum perfectum est, inquantum est actu; nam potentia sine actu imperfecta est - Jedes
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schützt vor der Tabuierung des einzelnen Gewissens und vor der Anmaßung der "privilegierten Gewissen" von Ethikern und Moral theologen. Diese Sachlichkeit bewahrt den Menschen auch davor, durch Egoismus und Willkür die Wirklichkeit um ihren Sinn und ihre Ordnung zu bringen und damit zugleich die Entfaltung der eigenen Existenz zu verhindern. Die Grundthese der Seinsethik hängt an zwei Sachverhalten. 4 Sie hat zunächst zur Voraussetzung, daß menschliches Erkennen tatsächlich die Wirklichkeit richtig zu erfassen vermag (Realistische Erkenntnis lehre). Dazu bedarf es jener Askese, durch die alle „Vorurteile" zurückgehalten werden und die Wirklichkeit allein zum Maß des Erkennens wird. Richtige Erkenntnis kommt nur zustande, wo der menschliche Geist mit dem Wirklichen übereinstimmt. Zum zweiten hängt die Grundthese der Seinsethik daran, daß die richtige Erkennt nis als Maß des Wollens und des Wirkens respektiert wird (Rationale Ethik). Thomas von Aquin formuliert diesen Sachverhalt folgender maßen: ,,Das Gute des Menschen liegt im Sein gemäß der Vernunft, sein Böses im Sein wider die Vernunft. " 5 Das Sittliche kann also verstanden werden als das Ja zur Wirklichkeit. Dieses Ja hebt an mit der Sachgerechtigkeit des Erkennens, schreitet fort zur Sachgerechtig keit des Wollens und vollendet sich in der Sachgerechtigkeit des Tuns. Das Gewissen ist keine Instanz gegen den Anspruch der Wirk lichkeit, es ist vielmehr das verbindliche Bewußtwerden des in der Wirklichkeit implizierten Anspruchs, wie auch Freiheit nicht Willkür ist, sondern als Befähigung und Verpflichtung zur Erfüllung dieses Anspruchs zu bestimmen ist. 6
Wesen ist so sehr vollkommen, wie es verwirklicht ist; und die Unvollkommenheit liegt darin, daß ein Seinkönnen nicht zur Verwirklichung kommt,• • Vgl. zum folgenden /. Pieper, Die Wirklichkeit und das Gute 17-19. ' Summa Theologica I-II, 18, 5. • Die hier vertretene Position kann nicht einfachhin als .seinsethisch" bezeichnet werden. Vielmehr ist der Begriff .Sein" durch den Begriff • Wirklichkeit" abgelöst. Dieser geht auf Meister Eckhart zurück, der mit "Wirklichkeit" das lateinische actualitas (,. Wirk samkeit") übersetzte, Im Begriff Wirklichkeit steckt also unverkennbar die Komponente des • Wirkens". Vgl. dazu Art. Wirklichkeit, in: Philosophisches Wörterbuch (Kröners Taschenausgabe Bd. 13), Stuttgart 181969, 663-665, und vor allem D. Mieth, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler (Studien zur Geschichte der kath. Moral theologie, hrsg. von M. Müller, Bd. 15), Regensburg 1969, 335 (Stichworte • Werk", "Wirken", • Wirksamkeit", "Tätigkeit" im Register).
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b) Die Bewertung der These Man hat gegen die scholastische These "ens et bonum convertuntur" eingewendet, es handle sich in der Ethik »nicht so sehr um die Orien tierung an einem Seienden, sondern am Seinsoll.enden"7• Das Erstrebte sei irreal, die Werte und die in ihnen gründenden Forderungen seien in Geltung, auch wenn die Wirklichkeit ihnen nicht entspreche. Man könne also nicht von einer Entsprechung zwischen dem ens und dem bonum sprechen. Demgegenüber ist festzustellen, daß das Seiende ja eben als Seinsollendes auftritt. Die Nichtidentität des Wirklichen und des Gesollten wird vom ethisch erweckten Menschen als sittlicher Impuls erfahren. Das Sollen liegt also gerade darin begründet, daß das Wirkliche noch nicht ein Voll-Wirkliches ist, daß es noch weitere Möglichkeiten der Verwirklichung in sich hat. Der Begriff von Wirk lichkeit, der hier verwendet wird, meint gerade nicht die empirischen Faktizitäten, sondern ihre je mögliche bessere, d. h. menschlichere Gestalt, der die Tatsächlichkeit nähergebracht werden soll. Sittliche Erkenntnis ist somit nur dort gegeben, wo "Noch-nicht-Wirkliches als etwas Seinsollendes (entworfen wird), aber nicht in freier ,Erfin dung', sondern auf Grund eines bereits Wirklichen, des im Aktträger verwirklichten personalen Wesens des Menschen". 8 Diese philosophische Begründung des Sittlichen befindet sich in einer größeren Nähe zur Heiligen Schrift, als man auf den ersten Blick vermutet. Was die Wirklichkeit an Sinngestalten, Ordnungsgesetzen und dynamischen Intentionalitäten in sich trägt, wird im Alten und Neuen Testament auf das schöpferische Tun Gottes durch den Logos zurückgeführt. Alles Wirkliche und alles Mögliche stammt aus der Kraft des schöpferischen „Wortes". Im Logos hat die Wahrheit der Welt ihren personalen Ursprung. Jo 3, 21 ist gesagt, daß nur der ins Licht kommen kann, der „die Wahrheit tut". J. Blank9 hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Formel „die Wahrheit tun" jenen alttestamentlichen Ausdrücken nachgebildet ist, in denen vom „Recht" und vom „Tun der Gerechtigkeit" die Rede ist. Die Begriffe „Recht" und „Gerechtigkeit" umgreifen im alttestamentlichen Sprachgebrauch 7 H. Meyer, Das Wesen der Philosophie und die philosophisdien Probleme, Bonn 1936, 115. ' ]. Stallmach, Das Problem sittlicher Eigengesetzlichkeit des Individuums in der philosophischen Ethik 43; hier auch weitere Literatur über die "Richtigkeit" des seinsethischen Ansatzes. • Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg 1964, 106 f.
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„die gesamte menschliche Lebensordnung nach ihrer objektiven und subjektiven Seite", sind also als „Inbegriff für das gottgemäße Han deln überhaupt" zu verstehen. Für den, der in die Gemeinschaft mit Christus eingetreten ist, erhebt die neutestamentliche Botschaft die zentrale sittliche Forderung, daß er „die gesamte menschliche Lebens ordnung" in der durch das Pneuma ermöglichten Liebe aufzurichten habe. So darf man in dem „aletheuein en agape" von Eph 4, 15 eine Kurzformel christlicher Sittlichkeit sehen: Sittlich gut ist der Mensch, der die Wahrheit der Welt in Liebe vollzieht. 2. Die Dimension der Wirklichkeit Das Sittliche ist das Ja zur Wirklichkeit. Die Sittenlehre hat also die Aufgabe, die Einsichten in die Wirklichkeit, in ihre Sinngestalten und Ordnungsstrukturen, in die Sprache der Verbindlichkeit zu über setzen, die Indikative über die Wirklichkeit in Imperative für das Handeln umzuformen. Zur weiteren Klärung und Konkretisierung mag es dienlich sein, die Dimensionen dessen, was hier mit Wirklich keit gemeint ist, kurz aufzuweisen. Zunächst ist zu bedenken, daß der Mensch, um den sich alle weltliche Wirklichkeit zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschließt, Person ist. Personalität bedeutet, daß der Mensch ein Eigensein ist und daß er dieses Eigenseins bewußt und mächtig ist oder doch bewußt und mächtig werden kann. Sie äußert sich darin, daß er sein Eigensein ausdrücklich aufzugreifen und in Erkenntnis und Freiheit zu entfalten und zu erfüllen vermag. Daß der Mensch Person ist, impliziert seine Befähigung und Verpflichtung, alles, was er ist, in die Hand zu bekommen, alle Schichten seines Wesens im geistigen Selbstand zu zentrieren. Nur in dem Maße, wie ihm dies gelingt, verwirklicht er personales Dasein. Der Begriff der menschlichen Person schließt ihre dialogische Bezie hung zu der sie umgebenden Umwelt w,esenhaft mit ein. Menschliche Person ist nie weltlos, weil Sozialität und Materialität für sie konsti tutiv sind. Darum kann sich menschliche Personalität nur im Handeln verwirklichen. Nur das Handeln bringt sie voran auf dem Weg zum ,,optimum potentiae", zur je möglichen besseren Einlösung mensch lichen Seinkönnens. Menschliche Person ist auf Koexistenz mit ande ren verwiesen. Sie trägt in sich dynamische Anlagen, intentionale 19
Kräfte, die sie aus der Verschlossenheit in sich selbst mit unwider stehlicher Kraft in die Sozialität hinausdrängen. Der Mensch bedarf der Gemeinschaft nicht nur, um überhaupt ins Dasein zu treten und seine Daseinsgrundlagen fortwährend zu sichern, sondern um sich in Erkenntnis und Verbundenheit, in Wort und Liebe zusammen mit den anderen zur Erfüllung zu bringen. Er ist aufgerufen, sein volles personales Engagement zur sinnvollen und fruchtbaren Gestaltung jener Formen von Gemeinschaft und Gesellschaft zu leisten, in denen sich seine Sozialität konkret entfaltet: von Ehe, Familie, Freund schaft über Arbeit, Beruf, Gemeinde bis hin zu den umfassenden wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Sozialformen und schließlich zur univcrsalmenschlichen Verbundenheit. Wie in die Sozialität, so ist der Mensch auch in die Materialität hineingegründet. Als leibhaft existierendes Wesen ist er durch ein vielmaschiges Netz von Beziehungen in den anorganischen und orga nischen Bereich der Wirklichkeit unlösbar verflochten. Er ist auf die Welt der Dinge angewiesen, weil er ohne sie seine materielle Existenz nicht fristen kann. Ober die Erfordernisse der baren Notdurft hinaus muß er die Materie geistig durchdringen und beherrschen. Ob er mit den Dingen in spielerischer Freiheit umgeht (homo ludens), ob er in ihrer künstlerischen Gestaltung seinen Daseinssinn schöpferisch aus drückt (homo creator), ob er sich ihren Nutzwert zugute macht (homo oeconomicus) oder seine technische Herrschaft über sie auf richtet (homo faber), immer muß sein Verhalten der Dingwelt gegen über wirklichkeitsgemäß und sachgerecht, d. h. sittlich geprägt sein. Sittliches Verhalten gegenüber der Dingwelt erfordert Sachlichkeit in Erkenntnis, Gestaltung und Nutzung der Dinge, Aufgeschlossenheit für die in sie eingegründeten Sinnwerte und schließlich auch Freiheit zum Verzicht auf die Dinge. Technik und Kunst sind gewiß das „Werk der Freiheit" (R. Berlinger), in dem der Mensch die übermacht der Natur abschüttelt und ihre Selbstverschlossenheit aufbricht. Aber wenn er dieses „Werk der Freiheit" aufgerichtet hat, dann muß er seine eigene Freiheit immer wieder in Sicherheit bringen, indem er nun auch die Herrschaft über sein Werk gewinnt und durchhält. Diese Dreidimensionalität menschlicher Existenz (Personalität, Sozia lität, Materialität) kann sich nur im Horizont der Geschichtlichkeit entfalten. Welthaftigkeit gibt es nur in der Gestalt der Werdehaftig keit. Der Mensch ist immer unterwegs zum Ganzen seiner selbst und der Welt. Aus den Vorgegebenheiten der Vergangenheit muß
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er die je gegenwart1gen Möglichkeiten auf eine fruchtbare Zukunft hin entfalten. Die Gesetze dieser Entfaltung erscheinen erst in ihrem Vollzug, und es ist gewiß, daß bestimmte Implikationen der mensch lichen Natur nicht von Anfang an gewußt, sondern erst im Zuge der Herausbildung verschiedener kultureller Stile erkannt werden. Geschichte ist wesentlich offen, darum kommen auch die Strukturen menschlicher Existenz erst allmählich zum Erscheinen. Damit ist kei neswegs jede beliebige kulturelle oder moralische Evolution legitimiert. Die Legitimation einer Entwicklung erweist sich ausschließlich an dem realen Gewinn an Freiheit, den sie in die menschliche Gesell schaft einzubringen vermag. Die Vorstellung geschichtlicher Dynamik und damit gegebener Wandelbarkeit und Relativität hat nichts gemein mit Willkür und Beliebigkeit. ,,Der Maßstab, der es erlaubt, echte Entwicklung von Regressions- und Verfallserscheinungen zu unter scheiden, liegt nicht im tatsächlichen Auftreten neuer Denkbilder und V crhaltensmuster, sondern in ihrer Konsonanz oder Dissonanz mit der Grunddynamik der Evolution." 10 Diese aber zielt auf tiefere und weitere Entfaltung von Freiheit und Liebe. Die geschichtlich sich entfaltende Dreidimensionalität menschlicher Existenz ist nicht ein Letztes, hinter das man nicht zurückfragen kann. Im Bewußtsein moderner Profanität freilich stehen Mensch und Welt radikal in sich selbst, sie haben ihren Grund, ihre Mitte, ihr Ziel und ihren Sinn in sich selbst, es gibt keine Relationen zu einer transzendenten Wirklichkeit. Nun weist allerdings schon die Philo sophie die Grenzen einer rein innerweltlichen Daseinsinterpretation auf, mag sie sich auch völlig außerstande sehen, näheres über die Dimension der Transzendenz auszusagen. Die Verwiesenheit auf eine absolute, transzendente (personale) Wirklichkeit ist urmenschliche Erfahrung, sie wird erlebt als innere Wesensunruhe, als Heimweh nach Ganzheit und Ewigkeit, als „Krankheit des Endlichen" (K. Adam). Von den verschiedenen Versuchen, die Transzendenz zu beSünde, Freiheit und Gewissen, Salzburg 1968, 94-97. Vgl. auch Soziologie der Sexualität (Rowoh!ts Deutsche Enzyklopädie, Sachgebiet Sozio logie), Hamburg 5 1956, 49: .Gewiß sind auch die Sexualnormen relativ. Aber worauf? In ihren Grundtatbeständen immer auf das Gesamtgefüge der jeweiligen Kultur. Diese Normen zu erschüttern, heißt dann nicht mehr und nicht weniger, als das Gesamt gefüge der jeweiligen Kultur in seinen Grundlagen angreifen. Es würde eine Leugnung der geschidulichen Dimension unseres kulturell-konkreten Menschseins bedeuten, wollte man aus der grundsätzlidien Variabilität und Formbarkeit des Gesdilechtlichen sdiließen, daß man es nun zu jeder Zeit beliebig sozial normieren oder umstellen könne. Wir sind nid1t soeben ,vom Baum gesprungen'." 10
L.
Monden,
H. Schelsky,
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streiten11, kann hier nicht die Rede sein. Aus der Sicht der christlichen Offenbarung kann jedenfalls das Wesen des Menschen ohne diesen Bezug zur Transzendenz überhaupt nicht voll bestimmt werden. In der Tatsache, daß der Mensch zutiefst ein theologisches Wesen ist, ist zugleich die entscheidende Dimension der Wirklichkeit im ganzen impliziert. Die Erkenntnisse und Aussagen über diese Dimenison müssen wie alle anderen Indikative in die Sprache der sittlichen Verbindlichkeit übersetzt werden. Auch die Relation in die Trans zendenz muß sittlich verifiziert werden, sobald und in dem Maße wie sie dem Menschen in Sicht kommt. (Hier ist von "Heilsethos" die Rede im Unterschied zum „Weltethos", in dem die sittliche Veri fizierung der immanenten Relationen zur Darstellung kommt.)
3. Der Anspruch der Wirklichkeit a) Begründung des Anspruchs Daß die Wirklichkeit einen Anspruch an die menschliche Person erhebt, ergibt sich zunächst aus dem Wesen des Menschen selbst. Die Wirklic..1.ikeit, in die der Mensch hineing,estellt ist und die ihn selbst umschließt, ist eine auf Sinn und Ordnung hin finalisierte Wirklichkeit, d. h. sie besitzt eine wesenhafte Rationalität. (Näheres dazu ist im nächsten Abschnitt zu sagen.) Der Mensch aber ist befähigt, diese Rationalität zu durchschauen, Sinnwerte und Struk turen der Welt wahrzunehmen. Diese Fähigkeit ist von allen irdi schen Wesen allein dem Menschen zuteil geworden, und sie ist ihm offensichtlich nur deswegen zuteil geworden, weil ihm Verantwort lichkeit zubestimmt ist. Er ist ein geistiges Wesen, und als solchem ist ihm verbindlich auferlegt, den geistigen Grund der Welt zu er kennen und durch die Geschichte hindurch zu entfalten. 12 11
Vor allem im ideologischen, existentialistischen, humanistischen, nihilistischen und wissenscliaftlichen (religionsgeschicht!idien, modernistischen, psychoanalytischen, rationa listischen) Atheismus. Vgl. dazu P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt 1970. " G. Ebeling, Die Evidenz des Sittlichen und die Theologie 349: .Die den Menschen angehende Wirklichkeit fordert ihn zum Wirken heraus • • • Sie fordert ihn (aber) auch zum Sprechen heraus. Weithin kann der Mensch der ihn angehenden Wirklichkeit überhaupt nicht durch Wirken, sondern allein durch das Wort entsprechen und so gerecht werden."
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Die Betrachtung von der Wirklichkeit her führt zum gleichen Ergeb nis. Die Welt ist nicht eine von Anfang an fertige, sie ist vielmehr in einen amorphen Ursprung hineingestiftet. Die Urgestalt der Welt ist allerdings voll von Dynamismen und Intentionalitäten, die in ihr wie ein Gefälle auf Entfaltung hin wirksam sind. Es besteht also durch die ganze Geschichte hindurch eine Spannung zwischen der tatsächlichen, noch unerfüllten und vielleicht sogar sehr ungeordneten Gestalt der Wirklichkeit und ihrer je besseren und schließlich ihrer vollendeten Gestalt. An dieser Spannung zwischen Tatsächlichkeit und geschichtlich eröffneter Möglichkeit, zwischen dem esse reale und dem esse melius - die Scholastik sagte: dem esse perfectum - ent zünden sich jegliche sittliche Verbindlichkeit und jegliche geschichtliche Dynamik. Der Mensch vermag an sich selbst und an der ihn umge benden Welt diese Spannung zu erfahren. Da er zugleich erfährt, daß er von allen geschichtlichen Wesen allein fähig ist, diese Spannung zu mildern, spürt er in sich die sittliche Verpflichtung, die Bestim mung der Wirklichkeit auf Entfaltung und Erfüllung hin einzulösen. Die ontologische Begründung dieser Aussagen liegt in der Funktion des Menschen als eines umgreifenden Ordnungsprinzips innerhalb des Universums. Weil die Welt sinnvoll und geordnet ist, ereignet sie sich gewissermaßen in jedem ihrer Teile. Im Menschen aber ist sie am vorzüglichsten repräsentiert. Er ist die ontologische Spitze der Welt. Darum trifft sich in ihm die naturhafte dynamische Intentiona lität der gesamten übrigen Welt auf ihre optimale geschichtliche Verwirklichung hin. Weil in ihm die Evolution zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen ist, hat er ihren weiteren Fortgang zu ver antworten. 13 b) Stufen der Erkenntnis und Anerkenntnis des Anspruchs Sozial auferlegte Sittlichkeit Menschen müssen miteinander leben. Dies ist von allem Anfang an nur möglich, wenn sie ihr Verhalten verbindlich unter sich abstimmen. " R. Hofmann, Was ist Sittlichkeit? 10: Im Sittlichen gewahren wir .eine geistige Ordnung, in der Sinngeha!te und Werte auf Verwirklichung drängen, die sich auf den Menschen und sein freies persönlid,es Tun mit einem letztentscheidenden Forderungs anspruch beziehen. Aus dieser Ordnung kommt ein gebietendes Sollen, eine absolute, dem Mensdien selbst nicht verfügbare, vorgegebene Normierung.• - Für die Inter pretation der Erfahrung, in der dem Menschen die Spannung zwischen Tauächlichkeit
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Nun gibt es zu allen Zeiten verschiedene soziale Verhaltensordnun gen, die sich gegenseitig stützen: Sitte, Recht, Moral, Religion. In diesen verschiedenen Verhaltensordnungen artikuliert sich der An spruch der Wirklichkeit, aber er vermag sich nicht überall in gleicher Klarheit und Intensität durchzusetzen. Auch wenn - etwa im Bereich der Großfamilie und des Stammes das unverzichtbare Minimum sozialen Verhaltens zunächst vorwie gend durch primitive Formen von Brauchtum und Recht durchgesetzt wird, ist bereits das sittliche Empfinden der Sozietät wirksam. Schon hier kann eine Ordnung auf die Dauer nur Bestand haben, wenn sie von der sittlichen Bereitschaft einzelner und von einem wenigstens keimhaften moralischen Empfinden der Gesamtheit getragen wird. Der Grundbestand der gemeinsamen Anschauungen und Wertungen mag als „einfache Sittlichkeit" (0. F. Bollnow) bezeichnet werden, er läßt sich jedenfalls nicht ausschließlich auf soziale Nützlichkeit oder gar bloße Umgänglichkeit reduzieren, etwa im Sinne der Fabel A. Schopenhauers von den Stachelschweinen. 14 Insofern die sozialen Notwendigkeiten nur instinktiv aufgenommen oder gar nur mit Widerwillen akzeptiert werden, ist freilich die Sphäre des Sittlichen noch nicht erreicht. Anderseits schließt die bloße Tatsache, daß die Sozialmoral durch den Gemeingeist als verbindliches Verhaltensmu ster entwickelt und in Klugreden artikuliert oder in Bräuchen und rechtlichen Festlegungen institutionalisiert ist, das Moment des Sitt lichen keineswegs aus. Die Prävalenz des Utilitären führt allerdings - und zwar nicht nur in den Primitivstadien menschlicher Sozietäten - zu massiven Gefährdungen. Wo die Würde des Menschen und der spezifische Eigenwert zwischenmenschlicher Beziehungen unbe rücksichtigt bleiben, wird beispielsweise „über Selbstmord, über Euthanasie, die Tötung schwerleidenden Lebens, über Tötung wer denden Lebens nach naheliegenden Motiven des Mitleids, der Zweck und Eigentlichkeit bewußt wird, erscheint die Vorstellung einer .Kontrasterfahrung« , die E. Schillebeeckx entwickelt hat und von der später noch zu handeln sein wird, besonders hilfreich. u Versäumte Lektionen, hrsg. von P. Glotz und W. R. Langenbucher, Gütersloh 1965, 249: .Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch empfanden sie die gegenseitigen Stadteln; weldtes sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und herge worfen wurden. Bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. - Und diese Entfernung nannten sie Höflich keit und feine Sitte.�
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mäßigkeit, des gerade gegenwart1gen Notbehelfs geurteilt, ohne zu erwägen, daß es Letztlich um die Unverfügbarkeit (der) menschlichen Existenz, schließlich überhaupt um die Grundlagen menschlicher sitt licher Lebenshaltung und gemeinschaftlicher Lebensordnung geht" 15• Es entspricht nun aber der geschichtlichen Dynamik jeder Gemein schaft und Gesellschaft, daß sie um einer fruchtbaren Existenz willen auch künftiges Sozialverhalten zu beeinflussen sucht. Wenn die Zu kunft einer Sozietät glücken soll, müssen das angestrebte Ziel und die Wege dorthin aus einer tieferen Einsicht in die menschliche Ord nung heraus bestimmt und die sittlichen Kräfte ins Spiel gebracht werden. Als „gut" erscheint dann nicht mehr das, was tatsächlich und technisch geht, sondern nur was mensdilich geht, d. h. was auf die Dauer gesehen dem äußeren und inneren Wohlbefinden und der schöpferischen Entfaltung der Person und ihrer sozialen Verbunden heiten dient. 16 Personal bejahte Sittlichkeit Das sittliche Moment in der Innerliclikeit und im Handeln des Menschen ,erstarkt in dem Maße, wie das erkannte Gute um seiner selbst willen erstrebt, wie der finis operantis mit dem finis operis, d. h. die Absicht des handelnden Menschen mit dem der Handlung immanenten Eigenwert identifiziert wird. Der wahrhaft sittliche Mensch tritt in den reinen Dienst der besseren Gestaltung der Wirk lichkeit - ohne Rücksicht auf äußeren Erfolg, auf sinnliche Befriedi gung und soziale Anerkennung. Das erkannte Bessere wird in die volle personale Verantwortlichkeit übernommen. Das im Gewissen sich meldende Verpflichtungsbewußtsein wird uneingeschränkt aus getragen. Das sittliche Handeln kommt aus der Mitte der personalen Existenz, aus dem Kern des Menschen und zielt auf die freie Selbst entfaltung eigener und mitmenschlicher Würde. Dies ist der Kontext, in den Kant seinen kategorischen Imperativ ausdrücklich hineinstellt: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von 15 11
R. Hofmariri, Was ist Sittlid,keit? 20. H. Rombaw, Die Wissenschaft und die geschichtliche Selbstbestimmung des Menschen
171: .Geschichte ist die Erfahrung des ,Es geht', dies freilich so verstanden, daß es nicht im Hinblick auf bestimmte Ziele und begrenzte Zeiten, sondern im Hinblick auf Zielhaftigkeit überhaupt und Zeit schlechthin (d. h. zuletzt im Hinblick auf Mensch sein) möglich ist. So gesehen ist tatsächlich die schlichteste Forderung für einen gesd1ichtlichen Prozeß, daß er ,geht', auch schon das höchste Prinzip für die humane Bewertung, daß in ihm Menschsein möglich ist."
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keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen er hebt." 17 Solche personal angeeignete Sittlichkeit ist nicht am Anfang, sondern nur auf dem Höhepunkt der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins möglich. Sie hat zur Voraussetzung, daß der Mensch vor allen konkreten Einzelentschlüssen eine fundamentale und totale Orientierung seines Lebens (,,Grundentscheidung") auf „das Gute" hin vollzieht, daß ihm der Durchbruch zur Freiheit und zur Liebe gelingt. Von personaler Sittlichkeit kann freilich auch schon auf den Vorstufen solcher Entbindung zu Freiheit und Liebe gesprochen wer den - jedenfalls von dem Augenblick an, in dem sich der Mensch entschlossen auf den Weg macht zur wahren Verwirklichung menschli cher Würde um ihrer selbst willen. 18 Eine solche Einstellung lebt im letzten aus der Kraft und Entschiedenheit des einzelnen, soviel auch aus der sittlichen Erfahrung des ihn mittragenden Lebenskreises und der Menschheit im ganzen in sie eingeströmt sein mag. Man kann sittliches Sein und Handeln, das auf das Gute um seiner selbst willen gerichtet ist, als „autonome Sittlichkeit"19 bezeichnen, weil hier die „Idee des Guten als eines in sich Wertvollen und deshalb zu Verwirklichenden" als eigentlich bewegende Kraft wirksam wird. Damit tritt auch das Gewissen als „Zentrum der autonomen Sittlich keit" in voller Klarheit hervor. Nur darf dabei nicht verkannt werden, daß das Gewissen eben nicht autonom ist; es ist vielmehr der personale Grund, in dem der Mensch sich der Verbindlichkeit der Wahrheit bewußt wird. Das Gewissen steht nicht für sich selbst, es findet sein Maß an der „Wahrheit der wirklichen Dinge" (J. Pie per), d. h. an ihrem jeweiligen Seinkönnen.
17 Kant-Brevier. Eine Auswahl aus seinem Werk, hrsg. von J. Pfeiffer (Goldmanns Gelbe T�schenbücher Bd. 1700), München 1966, 61 f. '" Vgl. dazu das ungedruckte Bekenntnis E. Wasmuths: .Ich glaube an das Geheimnis des Stillen und des Schwachen. Ich glaube an die Wurzeln des Steinbrech, die - so zart sie sind - die Felsen sprengen. Ich glaube an die Kiesel aus der Schleuder Davids. Ich glaube an das Unausrechenbare der nur dem Guten dienenden und nichts außer ihm suchenden Handlung.• " H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie 129-131.
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Christlich integrierte Sittlichkeit über das Proprium des christlichen Ethos wird später ausführlich zu handeln sein. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß die christliche Botschaft gegenüber einer autonomen Ethik keine zusätzlichen mate rialen Normen vorlegt, sondern die autonom entwickelte Sittlichkeit in einen neuen Begründungszusammenhang stellt. Indem die biblische Verkündigung das durch die Offenbarung vermittelte Menschen- und Weltbild vorlegt und die aus der Sachgesetzlichkeit der einzelnen weltlichen Bereiche sich ergebenden Normen im göttlichen Schöpfer willen begründet und im Mysterium des Heils integriert, bringt sie die volle Wahrheit über die Wirklichkeit in den Blick und ermöglicht damit auch die erfüllte Gestalt der Sittlichkeit. Im christlichen Sinn horizonr wird das Sittliche zur Antwort an den persönlich anrufenden Gott, zum Vollzug der Nachfolge Christi und zum Aufbruch in die absolute Zukunft der Welt. Diese religiöse Dimension des Sittlichen muß sich aber in den autonom weltlichen Strukturen realisieren; es ist ihr nicht ein spezifisches Feld der Bewährung zugewiesen, von dem aus sich der Christ gar vom Engagement für die Verwirklichung der Menschenwürde dispensieren könnte. Der zum Heil berufene Mensch antwortet auf die ihm in Jesus Christus zuteil gewordene Huld Gottes mit einer Freiheit und einer Großmut, die ihn wenig stens da und dort über das „sittlich Gebotene" hinaustragen und zum reinen Abbild dessen machen, daß Gott die Liebe ist. Bewertung der Dreistufigkeit des Sittlichen Keine der drei Stufen des Sittlichen vermag die sittlichen Implika tionen der Wirklichkeit adäquat darzustellen. Trotzdem sollte man sich nicht scheuen, für die Bewertung dieser Stufen verschiedene „Höhenmarken" (H. Henkel) anzusetzen. Sittlichkeit kommt um so mehr zu sich selbst, je reiner und unverkürzter sich der Anspruch der Wirklichkeit in ihr durchzusetzen vermag. In der personal bejah ten Sittlichkeit trifft dies mehr zu als in der sozial auferlegten Sitt lichkeit, in der christlich integrierten mehr als in der personal bejah ten. Damit ist noch nichts über den Ernst und die Redlichkeit der menschlich sittlichen Bemühungen auf den verschiedenen Integrations stufen ausgesagt. Autonome Sittlichkeit kann im konkreten Einzelfatl 27
ungleich tiefer und würdiger gelebt werden als da und dort die christlich integrierte. Zum anderen aber ist mit Nachdruck zu betonen, daß zwischen den einzelnen Ausprägungen des Sittlichen eine reale gegenseitige Wech selwirkung besteht. Die sozial auferlegte Moral lebt vom personalen Ethos vieler einzelner; es lebt aufs Ganze gesehen auch die autonome Sittlichkeit aus ihr,em nicht erkannten göttlichen Grund. Aber die Geschichte beweist uns zugleich die Gegenwirkung von „unten" nach „oben": Christliches Ethos wird durch das Mächtigwerden autonomer Ethik zu reinerer Selbstdarstellung gefordert, und die Zunahme des sozialen Weltstoffes zwingt die Vertreter autonomer Gewissensethik immer wieder ins Gemenge mit den konkreten Realitäten. 0. F. Bollnow, der die Unterscheidung zwischen „einfacher Sittlichkeit" und »Hochethos" eingeführt hat, sieht in den Formen des hohen Ethos „nur die letzten, höchsten Gipfel, die sich aus einem sehr viel weiter reichenden Untergrund sittlich bedeutsamer Erscheinungen herausheben. Diese Hochformen sind aber einseitig. Sie erfassen be stimmt geartete Möglichkeiten des menschlichen Lebens, aber sie schließen eben dadurch andere, ebenso berechtigte Möglichkeiten aus. Sie sind daher unfähig, das Leben im ganzen und auf die Dauer zu formen. Neben der allseitigen Entfaltung der Persönlichkeit steht der nur durch Einseitigkeit zu erreichende Nutzen für die Gesamtheit, neben dem heldischen Einsatz des vollen Daseins steht die stille Bescheidung im vorgegebenen Kreis. Die eine Möglichkeit schließt immer die andere aus, und die in der einen ungeformt gebliebenen Kräfte drängen ihrerseits gewaltsam nach Gestaltung. So wandeln sich diese Formen beständig im Laufe der Geschichte. "20
4. Folgerungen a) Rationalität des Sittlichen Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich wichtige Folgerungen für das rechte Verständnis des Sittlichen; sie brauchen hier nur vor läufig angedeutet zu werden. In der sittlichen Ordnung erscheinen Sinn und Ordnung menschlicher Existenz in ihrer unausweichlichen Verbindlichkeit. Zu einer sicheren Erkenntnis seines Wesens und damit •• Einfache Sittlichkeit, Göttingen 3 1957, 20-22.
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auch der sittlichen Ordnung gelangt der Mensch durch seine Vernunft. (Über die Bedeutung von Offenbarung und Glauben für das mensch liche Selbstverständnis wird später zu handeln sein.) Der Mensch muß über sein In-der-Welt-sein nachdenken und seine guten und schlech ten Erfahrungen in gründlicher Reflexion bedenken, wenn er zu einem sinnvollen Entwurf seines Daseins und seines Handelns kom men will. Aus der Vernunftnatur des Menschen resultiert die Rationa lität des Sittlichen. Das Tier wird durch seine Instinkte angeleitet, das für sein Dasein Notwendige zu tun. Der Mensch kann den Sinn seiner Existenz und die zu seiner Erfüllung erforderlichen Verhaltens weisen nur erkennen, wenn er über sich selbst nachdenkt. Dazu gehört aber wesentlich, daß er sich die gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhänge klarmacht, in die er hineingestellt ist.21 Die Rationa lität des Sittlichen enthüllt sich weniger in der abstrakten Spekulation als in der Reflexion über die geschichtlichen Erfahrungen der Mensch heit. Die Geschichte macht offenbar, auf welchen Wegen eine sinn volle und fruchtbare menschliche Existenz gewonnen und auf welchen sie verfehlt wird. Die geschichtliche Betrachtungsweise vermag auch, im Unterschied zur abstrakt spekulativen, jene Offenheit durchzuhal ten, in der zukünftige Möglichkeiten eine reelle Chance haben, neue Seiten des Menschseins zur Entfaltung zu bringen.22 b) Autonomie des Sittlichen
Mit der Rationalität des Sittlichen ist seine Autonomie gegeben. Wenn man die Authentizität der ontologischen und der axiologischen Ebene und zugleich deren Unterschiedenheit beachtet, kann man auch als Theologe ohne jede Gefahr des Mißverständnisses von der Auto" U. Lück, Das Problem der allgemein gültigen Ethik 102: .So ist die historisd,e Vernunft des Mensdten das Organ, durdt das dieser die sittlidte Ordnung erkennt, auf die er von Natur verwiesen ist." Vgl. aud, G. Ebeling, Die Evidenz des Sitt!id,en und die Theologie 343: .Denken heißt, sich Redtensdtaft geben. Die Vernunft selbst hat Verantwortungsstruktur. Zwisdten der Vernünftigkeit des Mensdten und der Moralität besteht engster Zusammenhang . . . Als einer, der des Wortes mädttig ist, ist (der Mensd,) Rede und Antwort sdiuldig, ist er verantwortlidi. Das Sittlidie kommt also nicht zur Vernunft hinzu. Eher könnte man fragen, ob das, was man sittliche Zuredt nungsfähigkeit nennt, nicht das sadtlidt Frühere ist gegenüber dem, was man als geistige Zuredrnungsfähigkeit zu bezeichnen pflegt. Das Denken gehört offenbar in den Horizont des Sittlichen, so daß es sittlidte Pflidtt ist, zu denken, das Denken aber audt an sittlidte Verantwortung gebunden ist." " Vgl. A. Auer, Die Erfahrung der Geschichtlidikeit und die Krise der Moral, in: Theo!. Quartalschrift 149 (1969) 4-22.
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nomie des Sittliclien spreclien. Man muß allerdings darauf verzicliten, von allem Anfang an und ausdrücklicli die ontologisclien Grundlagen des Sittliclien bis auf den tiefsten Grund in die Diskussion miteinbrin gen zu wollen. Der eigentliclie Sinn und der unmittelbare Gebrauclis wert der Formel von der Autonomie der Moral liegt darin, siclitbar zu madien, "daß die (ontologischen) Grundlagen (der praktisdien Ideale) in versdiiedenen Tiefenbereichen angetroffen werden können, von denen einige die radikalen metaphysischen und religiösen Ent scheidungen noch nidit einschließen" 23• Nach theologischer Lehre kann der Mensdi zwar nicht ohne die wirksame Hilfe Gottes, aber sehr wohl ohne die ausdrücklidie Erkenntnis Gottes den Vollsinn seiner Existenz in der Welt und damit auch den entscheidenden Kern des Sittlidien verstehen. Aus der Mitte seiner eigenen Existenz tritt ihm der unabdingbare Anspruch der ihm vorgegebenen Wirklichkeit ent gegen. c) Realistik des Sittlichen Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die konkrete geschichtlidie Erfahrung die ständige Gegenprobe zu den sittlidien Entscheidungen des Menschen ausfertigt. Wenn die ethischen Vorstellungen und Ver haltensw,eisen gegen das eigentlich Menschlidie - früher sagte man: gegen die Wesensstruktur des Menschen - verstoßen, verfehlt er den Sinn seines Daseins und frustriert sidi selbst. Alle sittlichen Verfehlungen haben Verwirrung oder gar Zerstörung zur Folge. Die sittliche Ordnung ist tatsächlich „die Seinsgrundlage der Existenz und des Wohlergehens der Völker und der Individuen" 24• Auf die immanenten, d. h. aus der inneren Ordnungsstruktur der Welt selbst sich einstellenden Sanktionen des Sittlichen hat schon Augustin hin-
" ]. Girardi, Überlegungen zur Begründung einer weltlichen Moral 47, Vgl. D, Mieth, Auf dem Wege zu einer dynamischen Moral 19 f.: "Wenn der Säkularisierung der Welt eine Säkularisierung, eine Enttheologisierung des Sittlichen entspricht, dann erscheint die sittliche Norm nicht mehr als vorgegeben, sondern als dem Menschen aufgegeben. Sie wird zu der Verbindlidikeit, die das mensdilidie Verständnis der menschlichen Natur in ihrer Entfaltung und in der Gesamtheit ihrer Sinnwerte, das heißt in ihrer Integrität, jeweils impliziert. Sittlichkeit, so könnte man sagen, ist nidit mehr theonome Vor ordnung, sondern die Verpflichtungsseite des menschlichen Selbstverständnisses. Dieses aber ist geschichtlich zu verstehen •.. • - i\hnlich, wenn auch mit anderer Akzentuierung: F. Böckle - [. Hermann, Die Probe aufs Humane 11 f., 16-18 . .. U. Lück, Das Problem der allgemeingültigen Erhik 103.
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gewiesen: ,,Du hast es, o Gott, so geordnet, daß sich selbst zum Fluche wird jeder ungeordnete Geist." Man kommt zum gleichen Ergebnis, wenn man - im Anschluß an R. K. Merton25 - die Begriffe Funktionalität und Disfunktionalität der Normen einführt. Freilich darf man, w.enn man sie als Maßstab für die vernünftig-sachliche Prüfung der Brauchbarkeit und Nützlich keit einer Norm oder einer sittlichen Zielvorstellung anlegt, nicht den verengten Horizont eines eindimensionalen Funktionalismus im Auge haben, sondern muß auf die optimale Entfaltung des Humanum beim einzelnen und im ganzen abheben. Die Funktionalität der Nor men ist unentbehrliche Voraussetzung für das Gelingen menschlichen Zusammenlebens, ihre Disfunktionalität impliziert einen Widerspruch zur Rationalität der Welt und des Sittlichen und gefährdet oder zerstört schließlich gar Ordnung und Produktivität des menschlichen Zusammenlebens. Ob eine Norm oder eine Struktur sachgerecht und geschichtsgerecht entwickelt und eingesetzt wird, erweist sich nicht durch schlüssige Deduktionen, sondern an ihrem realen Beitrag zur Humanisierung der Welt. Normen und Strukturen sind richtig, wenn und solange es unter ihrer Geltung mit der Menschheit auf ihrem Weg zu Freiheit und Liebe vorangeht. Die Gegenprobe: ,,Eine Struk tur" - ähnliches gilt von der Norm (der Verf.) - ,,erweist sich dann als in der Gefahr der Verkümmerung stehend, wenn sie an gewissen Stellen ihres Zusammenhanges nicht mehr gehen will, wenn dieser Zusammenhang gegen sich selbst steht, wenn also Mißverhält nisse auftreten, die die Form der Selbstbehinderung haben; es lichtet sich nichts, Menschsein kommt nicht frei. Es ergibt sich so, daß es ein und dieselbe Prüfung ist, wenn sachlich (freilich konsequent genug) darauf gesehen wird, daß es geht (,vorangeht') und wenn sittlich (freilich historisch genug) danach gefragt wird, ob das Menschliche dadurch gefördert wird. In der Tiefe, und das heißt in der formalen Radikalität, laufen diese Betrachtungen zusammen. Menschsein ist das freie Gelingen in der Realisation historischer Aufgaben auf konkre ten, sich geschichtlich durchdeterminierenden Sachfeldern." 26 Von die sen Einsichten her erscheint die Realistik - neben der Rationalität und der Autonomie - als ein wesentliches Kriterium des Sittlichen. Vgl. S. Keil, Absolutheit und Relativität der Normen in soziologischer und theolo gischer Sicht 71-74; ferner A. K. Ruf, Maßstäbe sittlidien Verhaltens 163, H. Rombach, Die Wissensmaft und die geschimtliche Selbstbestimmung des Menschen 172.
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„
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II. Die Rationalität der Wirklichkeit als Grund des Sittlichen Soviel dem Menschen auch undurchsiditig oder absurd ersdieinen mag, er hat eine Art Urvertrauen in den Gang der Geschidite und seines persönlichen Daseins. Allen Anfechtungen zum Trotz unterstellt er, daß es sinnvoll ist, zu leben und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Er unterstellt weiterhin, daß auf dem Grunde der Welt eine Ordnung waltet und daß er durch ein vielmaschiges Netz von Beziehungen in diese Ordnung einbezogen ist und von ihr getra gen wird. Er weiß zwar, daß die Wirklidikeit und sein Stehen in ihr nicht bis ins letzte hinein aufhellbar sind. Aber die undurchdringlichen Irrationalitäten stehen im Horizont einer - aus welchen Gründen audi immer - für sicher gehaltenen Rationalität. Der amerikanische Soziologe P. L. Berger handelt in seinem Buch ,,Auf den Spuren der Engel" 27 von der Wiederentdeckung der Trans zendenz in der modernen Gesellschaft. Er spricht von dem fundamen talen Vertrauen auf eine der menschlichen Geschichte letztlich zu grundeliegende Ordnung; er spricht von dem naturalen Drang des Menschen, sich in mannigfachen Formen spielerischer Selbstentfaltung von den Sachzwängen seines Daseins zu befreien; er spricht von der unverwüstlichen Kraft, allen Zusammenbrüchen zum Trotz auf ein endgültiges überleben zu hoffen. Und er behauptet, solch prototypi sches menschliches Verhalten, solche mensdilichen Urgebärden und Urgesten seien als „Zeichen der Transzendenz" anzusehen. Wenn uns nicht alles täuscht, muß es jenseits oder auf dem Grunde der Wirk lichkeit, in die wir verstrickt sind, einen durchhaltenden Sinn geben, von dem her unser aller Urvertrauen in diese Wirklichkeit erst eigent lich erklärbar wird. Jeder einzelne erfährt es, und es wird auch in der Geschichte der menschlichen Kulturen evident: ,,Der menschliche Drang nadi Ordnung gründet sich auf das Vertrauen oder den Glau ben, daß die Wirklichkeit letztlich ,in Ordnung', ,sdion recht', ,so wie es sein soll' ist . . . Das ist der Glaube an Ordnung als solche, ein Glaube, der dem fundamentalen Wirklichkeitsvertrauen des Men schen eng benachbart ist." Es gehöre zum Auftrag der Eltern, ihren Kindern dieses Urvertrauen zu vermitteln, weil deren Sozialisation sonst nicht gelingen könne. Man könne die Formeln, in denen Eltern " Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt 1970, besonders 75-109.
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ihre Kinder das Vertrauen lehren, in die kosmische Aussage über setzen: ,, Vertraue dem Sein."28 Natürlich können solche Aussagen statisch mißverstanden werden; Geschichte und Gegenwart bezeugen es deutlich genug. Daß sie ebensogut im Sinne einer dynamischen Interpretation der Wirklichkeit ausgelegt werden können, wird jeder zugeben, dem nicht infolge ideologischer Fixierung die Bereitschaft zum Hören auf andere gänzlich abhanden gekommen ist.
1. Die Rationalität der Wirklichkeit Wenn hier von "Rationalität der Wirklichkeit" die Rede ist, dann soll ausgedrückt werden, daß die Wirklichkeit au_f die Ermöglichung einer fruchtbaren menschlich-geschichtlichen Existenz angelegt ist. Es soll hier keineswegs einer totalen teleologischen Prädestination das Wort geredet werden. (Daß manche dies herauslesen werden, ist mit Sicherheit zu erwarten und kann nicht verhindert werden, weil sie es eben „wahr haben wollen".) Es soll aber doch einer exzessiven Aufwertung menschlicher Kreativität gegenüber betont werden, daß diese nur im Rahmen vorgegebener Möglichkeiten (nicht „ex nihilo") aktuiert werden kann. Im Folgenden sollen zunächst die für den Zusammenhang wichtigen Aspekte der Rationalität der Wirklichkeit klarer herausgehoben werden: ihre Vorgegebenheit, ihre Dynamik und ihre Verbindlichkeit. a) Ihre Vorgegebenheit
Menschen und Dinge, so selbständig sie auch erscheinen, sind auf andere verwiesen und über die Verwiesenheit hinaus in reale Bezie hungen zu anderen gestellt. Nichts steht für sich allein, alles hat seinen Ort im Ganzen, wie dieses auch im einzelnen bestimmt werden mag. Man kann, wie Kant und Nietzsche, aus der Subjektivität des Menschseins, man kann, wie Epiktet und Heidegger oder J aspers, aus der Objektivität des In-der-Welt-seins zu Vorstellung und Sinn•• A. a. 0. 80-86. 83: .Im Mittelpunkt der Menschwerdung, im innersten Kern der Humanitas steckt ein Erlebnis des Vertrauens in die Wirklichkeit der Ordnung bzw. die Ordnung der Wirklichkeit.• Vgl. auch /. Sudbrack, Christliche Meditation - Ver senkung oder begreifende Ekstase, in: Geist und Leben 43 (1970) 437-454, besonders 450, und D. Wyss, Strukturen der Moral, Göttingen 1968, 36-39. 132.
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deutung von „Ordnungszusammenhängen" kommen. 29 Ordnungen implizieren bestimmte Strukturen, die uns als konstante Beziehungen erscheinen und die doch eine gewisse Offenheit zulassen und sogar fordern, weil sonst Dasein und Geschichte nicht möglich werden. Der Mensch erfährt sich selbst in die Bereiche des Anorganischen und Organischen hineinreichend und damit deren Gesetzlichkeiten unterworfen, er spürt in sich Triebe sowie Regungen des Gefühls und des Bewußtseins, er hat die Fähigkeit der Erkenntnis und der freien Entscheidung. Diese Grundbestimmungen personalen Mensch seins liegen unabänderlich fest, aber sie können und müssen in immer neuen Daseinsentwürfen konkretisiert werden. Damit ist weiterhin vorgegeben, daß sie im Zusammenhang mit sozialen Strukturen ver wirklicht werden müssen, die ihrerseits wiederum teils verfügt und teils zu verantwortlicher Gestaltung aufgegeben sind, die also eine „seinsgesetzlich bestimmte konstante Grundlage" und zugleich einen ,,offenen Raum möglicher Selbstgestaltung nach historisch wandel baren Entwürfen" 30 umschließen. In dem Netz sozialer Verbunden heiten, die hier nicht im einzelnen darzustellen sind, bilde!l sich bestimmte Verhaltensweisen heraus, ,,soziale Spielregeln" 31, mit deren Hilfe sich das Zusammenleben in dem Maße ermöglicht, wie sie das innere Gefüge der vielfältigen Wechselbeziehungen in verbindlicher Weise zu artikulieren vermögen. Die personalen und sozialen Struk turen ruhen schließlich auf Sachstrukturen auf, d. h. Person und Gemeinschaft sind in ihrer Entfaltung auf Anerkennung und Nutz barmachung physiologisch-biologischer und psychologischer Determi nationen angewiesen. Auch sie sind als unabänderliche Vorgegeben heiten zu bewerten, auch sie lassen hinsichtlich ihrer konkreten Aktu ierung dem Menschen in der Regel ausreichenden Raum freier perso naler und sozialer Gestaltung.
29 Vgl. E. Maihafer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, Frankfurt 1956; H. Kriug,. Ordo. Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Jdee (Philosorhie und Geisteswissenschaften, hrsg. von E. Rothacker, Bd. 9), Halle/Saale 1941; F. Scbmidt, Ordnungslehre, München-Basel 1956; H. Barth, Die Idee der Ordnung. Beiträge zu einer politischen Philosophie, Zürich-Stuttgart 1958. ''' H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie 201. " ]. Pieper, Grundformen sozialer Spielregeln, Frankfurt 1955.
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b) Ihre Dynamik Von verschiedenen Seiten wird immer wieder kritisch eingewendet, die Annahme vorgegebener Sinngestalten und Ordnungsstrukturen führe unvermeidlich zu einer statischen Weltkonzeption. Dieser Ge fahr entgeht man von vornherein, wenn man das Sein der Welt nicht als fertiges, sondern als werdendes, auf Entfaltung und Voll endung drängendes Sein, also als Wirklichkeit auslegt: Alles geschieht aus den Möglichkeiten, die in der Welt angelegt, mit den Mitteln, die ihr mitgegeben, und auf die Ziele hin, die ihr gesetzt sind. Vor gegebene Keime drängen zur Entfaltung, angelegte Potenzen zu maximaler Verwirklichung. Die Hinführung auf die - wie bereits gesagt: apriorisch nicht erkennbare - Zielgestalt ist nicht in ge schichtsloser Abstraktion, sondern nur in konkreten, einander über bietenden Ausprägungen denkbar und realisierbar. Nicht erst Teilhard de Chardin hat durch seine "metaphysische Weltformel" des „Plus etre" das statische Weltverständnis durch ein dynamisch-evolutionäres ersetzt und damit das biologische Konzept des 19. Jahrhunderts theo logisch adaptiert. Bereits H. Schell hat Entwicklung als den „Grund charakter der ganzen Natur und Wirklichkeit" voll anerkannt und sie von den Urelementen bis zur Welt des Geistes und der Freiheit als einen .einzigen und allumfassenden Vorgang aufgewiesen, der im Menschen konvergiert, seiner selbst bewußt wird und nunmehr auf das Ziel zunehmender Humanisierung hin verantwortet werden muß. 32 Sobald sich der Mensch über seine Stellung in der Welt klar wird, fühlt er sich von den ihn umgebenden und auf ihn gerichteten Möglichkeiten der Welt bedrängt: Er muß sie aufnehmen und erfül len, weil außer ihm dazu niemand imstande ist. c) Ihre Verbindlichkeit Die Antike sah in der Welt einen Kosmos, in dem das Ziel als entelechiale Kraft wirksam ist und Ordnung stiftet. Für das moderne Denken ist Welt etwas Gestaltloses, das der menschlichen Durchfor mung harrt und das erst durch das menschliche Engagement seine Potenzen freigibt. Dies ist freilich nur möglich, weil in der Welt „ Vgl. H. Mynarek, Der Mensch - Sinnzicl der Weltentwicklung. Das Bild des Menschen in einem dynamischen Universum, München-Paderborn-Wien 1967, 1 f. 36-59. 345-362; J. Wies, Biologie und Theologie im 20. Jahrhundert, in: Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert II, 160-194, besonders 175-183.
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selbst und im gestaltenden Menschen potentielle Rationalität vorge geben ist. Nur weil der Mensch selbst rational ist, vermag er die Rationalität der Welt zu entdecken und zu heben. Menschliche Rationalität impliziert Verantwortung für die Rationalität der Welt. Wer fähig ist, die Welt ihrem Sinn und ihrer Ordnung näherzubrin gen, ist mit dieser Fähigkeit in Pflicht genommen. Hier ist der eigentliche Ursprungsort des Sittlichen. Weil die Rationalität der Welt noch nicht reine Aktualität, sondern immer noch auf Verwirklichung drängende Potenz ist, darum ist sie auf das Entgegenkommen mensch licher Rationalität angewiesen. Der Mensch erfährt die Tendenz der Welt auf ihre je bessere Verwirklichung hin in seinem Bewußtsein als unausweichliche Verbindlichkeit. Außerdem weiß er, daß er auch sich selbst nur im Durchgang durch .eine sachliche Leistung, durch Selbstrepräsentation in einer rational gebauten Welt verwirklichen kann. Der Weg zur Menschlichkeit führt über die Sachlichkeit; menschliche Rationalität ist für ihre Selbstdarstellung auf die Entfal tung der Rationalität der Welt verwiesen.
2. Die normative Artikulierung der Rationalität der Wirklichkeit In den Anfangsstadien der Entwicklung artikulieren sich Rationalität und Verbindlichkeit menschlicher Sozialbeziehungen in verhältnis mäßig undifferenzierten Formen, aber sie artikulieren sich in j.edem Fall. Auch wo keine Autorität Weisungen erteilt, ergibt sich unaus weichlich die Notwendigkeit einer Vereinbarung sozialer Spielregeln. Da es sich zumeist um kleinere Gruppen handelt, darf ein Gemein besitz an Erfahrungen, Vorstellungen und Wertungen angenommen werden. Dieser Gemeinbesitz hat zunächst die Gestalt der Sitte, also eines sozial vereinbarten, allgemein anerkannten und von jedem einzelnen erwarteten Verhaltens. Die Sitte garantiert eine gewisse Sicherheit des konkreten äußeren Verhaltens und oft auch der inneren Gesamtorientierung. Wenn diese Sicherheit gefährdet ist oder auch nur die Gruppe einen größeren Umfang annimmt, werden die ur sprünglich von der Sitte vorgeschriebenen Verhaltensweisen in Rechts normen fixiert und mit Sanktionen ausgestattet. (Dieser Prozeß voll zieht sich nicht selten über die Zwischenstufe des Gewohnheitsrechts.) Da die Gruppe sich zumeist als Stiftung einer Gottheit versteht, 36
unterstehen die Verhaltensweisen auf den verschiedenen Stufen den Regeln des Tabus: Wer sich den sozial anerkannten Verpflichtungen verweigert, muß mit der göttlichen Bestrafung rechnen. Diese wird durch die Gruppe vollzogen. Wenn der Übeltäter nicht gänzlich ausgeschlossen oder gar getötet wird, muß er sich einem kultischen Reinigungsverfahren unterziehen. Die Tabuierung hebt das instinktiv als sozial nützlich und gültig erkannte Verhalten in den Rang abso luter Forderungen. Erst wenn die von der Gruppe entworfenen Ver haltensmodelle vom einzelnen in ihrer Rationalität durchschaut und frei bejaht werden, entwickelt sich aus Sitte, Recht und Tabu die Sittlichkeit. Sittlichkeit ist also nicht die einzige Form normativer Artikulierung der Rationalität der Welt; sie löst die anderen Formen auch in späteren Phasen der Sozialentwicklung nie ganz ab. Auch in kulturell entwickelten Gesellschaften ist die Sittlichkeit - das gleiche gilt für den Bereich des Rechts - von unreflektierten Mei nungen, Trieben und Reaktionen unterströmt und bleibt darum immer gefährdet. 33 Man mag darauf vertrauen, daß vernünftig geförderte Aufklärungsprozesse diese Gefährdung mehr und mehr reduzieren. Nach dem Ausweis der bisherigen Geschichte vollziehen sich aber solche Prozesse zumeist recht schwerfällig und provozieren über kurz oder lang gegenläufige Tendenzen, denen sich die Kräfte der Ent tabuierung und Entmythologisierung auf die Dauer selten gewachsen zeigen. Damit ist für künftige Entwicklungen freilich nichts Defini tives ausgesagt. Die progressive Differenzierung der ursprünglichen Formen norma tiver Explizierung von Sinn und Ordnung der Welt entspricht unverkennbar dem Entwicklungsgesetz menschlichen Gemeinschafts lebens. Je weiter nun die Differenzierung voranschreitet, desto deut licher treten ihre konstitutiven Elemente hervor. Es scheint, daß wir gegenwärtig eine kritische Phase erleben. Durch die umstürzenden Fortschritte der modernen Humanwissenschaften (der Physiologie, der Biologie, der Psychologie, der Soziologie, der Verhaltensforschung, der Kulturgeschichte, der Ethnologie) ist das jahrhundertelang fest stehende metaphysische, ethische und rechtliche Leitbild unseres Kul turkreises in Frage gestellt worden. Wir wissen sehr viel mehr über den Menschen als früher,e Generationen. Die physiologisch-biologi schen Bedingtheiten, die Gesetzlichkeiten der psychischen Funktions abläufe und die massiven Zwänge der sozialen Gegebenheiten sind mit 33 H. Jäger - K. S. Bader, Der Normanspruch des Staates 175-179. 37
großem Aufwand praz1sen wissenschaftlichen Analysen unterzogen und dem allgemeinen Bewußtsein nahegebracht worden. Damit er scheint die Lehre von der Freiheit des Menschen, in der wir das Fundament jeder Sitten- und Rechtslehre zu sehen haben, vielen als ein Relikt aus einer Zeit, die sich von den Ergebnissen und vor allem von den Möglichkeiten heutiger humanwissenschaftlicher Forschung keine Vorstellung machen konnte. Ideologisch engagierte Totalisierung wirklich oder vermeintlich gesicherter Ergebnisse einzelner Human wissenschaften spricht dem Mensmen jede reelle Fähigkeit zu perso naler Eigenverfügung ab und erwartet folgerichtig eine bessere Zu kunft ausschließlich von einer wissenschaftlich fundierten Änderung der sozialen und ökonomischen Strukturen. "Eine die neuen Erkennt nisse popularisierende und in die Ebene der ,Weltanschauung', des Naturalismus, transponierende Literatur .erhielt den scharfen Akzent sozialrevolutionärer Anklagen, die sim gegen die bestehende Gesell schaftsordnung, ihre Moral und ihre Rechtsordnung richteten." 34 Das sittliche Koordinatensystem - vom rechtlichen ist hier nicht zu han deln - und sein metaphysisches Fundament, durch lange Jahrhunder te unbestritten in Geltung, erscheinen plötzlich als zufällige oder gar willkürlich-repressive Konstruktionen, die nunmehr endgültig abzu bauen sind, nachdem die Wissenschaften das Wesen und die Konstitu tion des Mensmen definitiv aufgehellt haben. Wie soll der Mensm unseres wissenschaftlimen Zeitalters noch Wertvorstellungen, Ord nungskonzeptionen und Detailnormierungen anerkennen, die ihre Ur sprünge einer unaufgeklärten Vorzeit verdanken! Die Krise, von der hier die Rede ist, ist ein Ausdruck dafür, daß wir hinsichtlich der normativen Explizierung der Rationalität der Welt in einem irreversiblen Differenzierungsprozeß stehen. Damit sich aber die anhebende Differenzierung nicht ullzu rasch in einer neuen und angesichts der zunehmenden Technisierung höchst gefähr lichen Simplifizierung verkapselt, müssen die konstitutiven Elemente einer echten Differenzierung klar ins Bewußtsein treten: die human wissenschaftliche Grundlegung, die anthropologische Integrierung und die ethische Normierung.
" H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie 195.
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a) Humanwissenschaftliche Grundlegung Wenn sich die Lehre von der sittlichen Selbstverwirklichung des Menschen nicht im luftleeren Raum abstrakter Spekulationen verlie ren soll, muß sie von der realen Gesamtkonstitution des Menschen ausgehen und diese fortwährend im Auge behalten. Die traditionelle Moraltheologie hat dies unter dem Stichwort "circumstantiae", also in dem Traktat von den „Umständen des sittlichen Handelns" wenn auch, besonders in ihrem "Speziellen Teil", nicht mit dem nötigen Nachdruck - tatsächlich getan. Die ethischen Konsequenzen, die dieser Ausgangspunkt ethischer Reflexion nahelegte, waren in einem mehr oder weniger unreflektierten, von Geschlecht zu Geschlecht weitergegebenen Erfahrungsschatz (Weisheitsliteratur, Klugreden, Sprichwörter) artikuliert und wurden von reifen Menschen auf Grund ihrer eigenen Lebenserfahrung ausgelegt. Hier lag der tiefste Grund für die Autorität des Alters gegenüber der Jugend. In der „Theolo gischen Summe" des Thomas von Aquin heißt es: ,,Es gibt gewisse auf natürliche Weise erkannte Prinzipien, zu deren Beurteilung es vielfältiger Überlegung verschiedener Umstände bedarf; solch sorg fältige Überlegung ist nicht Sache jedes beliebigen, sondern der Wei sen, so wie es auch nicht allen, sondern allein den Philosophen zu steht, die Folgerungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen im einzel nen zu bedenken."35 Die Verhältnisse des modernen Lebens sind nun freilich so komplex geworden, daß die „sapientes" und die „philo sophi" nur dann glaubwürdig bleiben, wenn sie sich nicht nur auf ihre Lebenserfahrung und auf die Kraft ihrer Spekulation, sondern auf begründete wissenschaftliche Einsichten stützen. Die spezifische Funktion der Humanwissenschaften liegt nun genau darin, diese Einsichten bereitzustellen und damit die Bedingtheiten und die Chan cen menschlichen Handelns in der jeweiligen Gegenwart aufzuzeigen. Die Eingründung seiner personalen Existenz in physiologisch-biolo gische, psychische und soziale Realitäten unterwirft den Menschen deren immanenten Gesetzlichkeiten und engt damit seinen Freiheits raum ein. Die Ergebnisse der neueren Forschungen weisen dies für die verschiedenen Dimensionen menschlicher Existenzentfaltung mit erdrückender Materialfülle aus. Zugleich zeigen diese Forschungen aber auch, daß in den konkreten Gegebenheiten des heutigen Lebens 35 Summa Theologica 1-II, 100, 1; vgl. audi. W. Schöllgen, Die soziol ogischen Grund· lugen der katholisdien Sittenlehre 398.
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besondere Chancen personaler und sozialer Selbstverwirklichung des Menschen liegen. Die mannigfachen Bedingtheiten erscheinen also nicht als totale Verschlossenheit, vielmehr eröffnen sie spezifische Möglichkeiten für die »leibhafte" Selbstdarstellung der menschlichen Person im Stoff der Welt. Die Einsicht in die wesentliche Nicht Abschließbarkeit menschlicher Strukturen macht den Blick für die evolutive Sicht frei und weckt die kreativen Kräfte des Menschen.36 Der Mensch ist aber nicht nur physiologisch-biologisch, psychologisch und soziologisch bestimmt, er hat auch eine geistige Determination. Damit kommen die Grenzen der Humanwissenschaften in Sicht. Auf einer breiten Basis empirischen Materials definiert die moderne Anthropologie das biologische »Mängelwesen" Mensch (A. Gehlen) als Kulturwesen. Der Mensch ist dem totalen Zwang der Instinkte entronnen. Das bedeutet den Gewinn geistiger Freiheit, aber auch den Verlust der automatischen Sicherung durch den Funktionalismus der Instinkte. Der Mensch ist ein unausgefertigtes, von der Natur »nicht bis zum Ende durchgeformtes Wesen" (N. Hartmann), ein "weltoffenes Wesen" (M. Scheler, A. Gehlen, W. Pannenberg). In mitten seiner Bedingtheit verbleiben ihm Möglichkeit und Verbind lichkeit eigener freiheitlicher Lebensverantwortung. Er ist sich nicht nur vorgegeben, sondern aufgegeben. Die Orientierung, nach der sich menschliche Selbstverwirklichung auszurichten hat, kann nun aber nicht von einzelnen Humanwissenschaften und auch nicht von allen zusammen signalisiert werden, weil sie durch ihren methodischen Monismus mehr oder weniger fixiert sind. Sie bedürfen vielmehr wie gleich ausdrücklicher darzustellen ist - der integrierenden Kraft der philosophischen Anthropologie. Es ist nicht anthropologisch ver antwortete Ethik, sondern Psychologismus, wenn die Vermeidung seelischer Funktionsstörungen und die Wahrung seelischer Gesundheit zu den alleinigen Prinzipien der Lebensentfaltung deklariert werden. Es ist nicht anthropologisch verantwortete Ethik, sondern Soziolo gismus, wenn die Eliminierung sozialer Spannungen und die Herstel lung eines reibungslosen Zusammenlebens zu den alleinigen Prinzipien der Lebensentfaltung deklariert werden.37 Niemand wird solchen Forderungen die Qualität des Sittlichen absprechen, aber sie umgr,ei-
„ Zur Bedeutung
der Humanwissenschaften vgl. auch /. Gründel, in: /. Gründel - H. van Oyen, Ethik ohne Normen? 49---54; W. Kor//, Empirische Sozialforsdtung und Moral, in: Concilium 4 (1%8) 323-330; F. Rauh, Das sittliche Leben des Mensdten im Lichte der vergleichenden Verhaltensforsdtung (Eidtstätter Studien, N. F. II), Kevelaer 1%9. 37 Vgl. R. Hofmann, Was ist Sitt!idtkeit? 21.
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fen nicht den ganzen Horizont und nicht die ganze Sinntiefe mensch licher Existenz, weshalb ihre Einlösung allein in der Regel auch Störungsmomente meist nur an der Oberfläche abzufangen vermag und nicht selten schwerere Störungen in wesentlicheren Bereichen menschlicher Existenz verschuldet. Von vielen möglichen konkreten Beispielen sei hier lediglich die Konzeption einer "biologischen Moral" von P. Chauchard erwähnt. 38 Der bekannte französische Neurophysiologe will nicht an die Stelle des Moraltheologen oder Ethikers treten, aber deren Thesen bestä tigen. Er lehnt eine Aufspaltung des Menschen in zwei aufeinander einwirkende Wesenheiten ab und plädiert für eine »Biologie des Menschen, die das Wesen des Menschen in seiner Vielfältigkeit, Ur sprünglichkeit und Einheit sieht". Der Neurophysiologe "erforscht die zerebralen Grundlagen des Verhaltens, des Denkens und des reflektierenden Bewußtseins im gegenwärtigen Zustand beim zivili sierten Erwachsenen, im fortschreitenden Aufbau beim Kind und in der biologischen Evolution, die aus dem Menschen den Endpunkt eines Aufsteigens zu einem höher entwickelten Gehirn macht. Diese biologische Evolution findet ihre Fortsetzung in der geschichtlichen Kulturentwicklung, in der Fähigkeit, sich des menschlichen Gehirns zu bedienen." Eine solche Wissenschaft ist nicht mehr nur deskriptiv, sondern normativ. Sie will das Menschliche bestimmen, ,,wi.e es der psychobiologischen Natur des menschlichen Lebewesens entspricht". Indem die Neurophysiologie eine „Gehirnphysiologie und eine Ge hirnpathologie der Freiheit und der Verantwortlichkeit" aufbaut, leistet sie ihren Beitrag zur Moral. Moral hört damit auf, ein „rein geistiges Ideal" zu sein, sie wird zur "notwendigen Hygiene des Menschen, der nicht krank oder anomal sein will". - Das klingt durchaus einleuchtend und ist für den Ethiker gewiß von hoher Bedeutung. Aber man wird stutzig, wenn man dazwischen den Satz liest: ,,Diese neue Biologie will das herausarbeiten, was den Menschen zum Menschen macht und zur Entfaltung der Möglichkeiten dieser menschlichen Natur hinführt..." Wo Biologie und Anthropologie konvertibel sind, werden es auch Hygiene und Moral. Dann kann man von biologischen Gegebenheiten unvermittelt zu hygienisch moralischen Normierungen kommen. Der Neurophysiologe sieht das 38 Vgl. zum folgenden vor allem das Einleitungskapitel von P. Chauchard, Wie frei ist der Mensm? 11-26; dazu aud, die Rezension von D. Mieth, in: Theo!. Quartalsmrift 148 (1968) 369-372.
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Sittliche darin, daß die physiologische Vorrangigkeit der Präfrontal region im Gehirn gesichert wird. Nun kann man aber das typisch Menschliche - Freiheit, Verantwortlichkeit, Liebe, Gutheit u. a. m. nicht auf kausal-analytischem Wege, also nicht empirisch aufweisen, man kann es nur erfassen, wenn man die empirischen Gegebenheiten auf das Ganzheitlich-Personale hin transzendiert. P. Chauchard kann die Neurophysiologie wohl nur deswegen auf die Anthropologie hin überschreiten, weil er in seine wissenschaftliche Arbeit als Neurophy siologe hinein bereits ein ganz bestimmtes Vorverständnis des eigent lich Menschlichen mitbringt. Das braucht gewiß kein Unglück zu sein, sondern kann im Gegenteil sehr hilfreich werden, zumal P. Chauchard auch die anderen Humanwissenschaften gleichermaßen ganzheitlich ausgerichtet sehen möchte. Aber der heutige Mensch stellt höchste Anforderungen an einen wissenschaftlichen Beweisgang, und si.e scheinen nur einlösbar, wenn die einzelnen Wissenschaften ihre methodische Eigenständigkeit resolut durchhalten und sich auch ihrer methodischen Grenzen bewußt bleiben. Die Anthropologie kann die Ergebnisse der einzelnen Humanwissenschaften integrieren, aber diese Wissenschaften können sich selbst nicht auf Anthropologie hin über schreiten, sie können und müssen nur offen bleiben angesichts der Fragen, die sie von sich aus nicht zu beantworten vermögen. Sie dürfen nicht den Eindruck erwecken, als könnten sie die volle Wahr heit über den Menschen aussagen. (Darum sind Formulierungen wie medizinische, biologische, psychologische usw. Anthropologie mit der gehörigen Einschränkung zu verwenden.) W. Schöllgen39 sucht, was hier gemeint ist, mit Hilfe einer Analogie einsichtig zu machen. Man kann heute - sagt er - biblische Texte nicht mehr erklären, wenn man nicht die philologischen und geschicht lichen Grundlagen der Erklärung zuvor herausgearbeitet hat. Früher mochte man mit gesundem Menschenverstand und mit frommem Sinn durchaus zurechtkommen. Khnlich verhält es sich in unserem Be reich. Ohne humanwissenschaftlichen Unterbau reicht die Klugheit nicht mehr allzuweit. Aber der wissenschaftliche Unterbau präjudi ziert die ethischen Aussagen genausowenig, ,, wie die Sprachkennt nisse allein schon entscheiden, welche Aussagen der Bibeltext selber macht". P. Chauchards Werk soll in seiner positiven Bedeutung keineswegs verkannt werden, wenn hier die sorgfältige Wahrung der methodi ·" Vgl. Die soziologischen Grundlagen der katholischen Sittenlehre 398.
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sehen Eigenständigkeit und Begrenztheit der einzelnen Wissenschaften moniert wird. 40 Während man bei ihm eine Grenzüberschreitung von der Biologie zur Anthropologie feststellen zu müssen glaubt, ver suchen nicht selten auch Vertreter anderer Humanwissenschaften, alles über den Menschen im Rahmen ihrer methodischen Möglich keiten auszumachen. Was darin nicht verifiziert werden kann, gilt dann als nicht existent, jedenfalls als nicht relevant. Freilich kann man auch hier Zeichen eines Wandels vermerken. Der Blick für die Begrenztheit einzelner Teilaspekte schärft sich zusehends. Der Mensch stellt sich den verschiedenen wissenschaftlichen Bemühungen doch als ein sehr komplexes Gebilde dar, an dem sie nicht nur Zwänge und Bedingtheiten, sondern auch Freiheit und Offenheit feststellen. Die da und dort unverkennbar anhebende humanwissenschaftliche Selbst bescheidung schafft gewiß nicht einfach wieder Raum für eine Neu auflage des alten Idealismus, aber sie weckt die Bereitschaft zur Ko operation und zur Synopse. Der Psychiater und Kriminologe Friedrich Stumpfl charakterisiert die Situation folgendermaßen: "Nach all dem naturwissenschaftlichen Aufwand von Tiefenpsychologie, Psychiatrie, Vererbungswissenschaft, Konstitutions- und Milieuforschung ist das Ergebnis wahrhaft enttäuschend. Wir glaubten durch unsere For schungen den Menschen in seiner Begrenzung, seiner Gebundenheit durch Triebe, Geisteszustand, Erbe, Körperbau und Milieu aufweisen zu können, gleichsam ein Produkt aus Erbanlage und Umwelt, Cha rakter-Entelechie und Erziehung, Körperkonstitution und Krankheit, und was uns nach all den jahrelangen Bemühungen aus Staub und Asche des zweiten Weltkrieges entgegentritt, ist das Bild seiner Frei heit. " 41 Auch wenn man bei dieser Kennzeichnung der Situation eine gewisse emphatische Übertreibung in Abzug bringt, bleibt noch genug übrig. um den gemeinten Wandel anzuzeigen.
"' In ähnlicher Weise wie P. Chaud1ard die Möglichkeiten der Biologie, so scheint V. Satura, Die heutige Psychologie und das theologische Denken, in: Bilanz der Theo logie im 20. Jahrhundert II, 194-197, die Möglichkeiten der Psychologie zu überspan nen, wenn er es als Aufgabe der heutigen Psychologie bezeichnet, aus den Teilergebnissen der verschiedenen Schulen .ein Gesamtbild der menschlichen Person zu erarbeiten, und zwar nicht rein en2yklopädisch, sondern in Form einer organischen Synthese, die die effektive Struktur des Menschen widerspiegelt", " In: Wiener Zeitschrift für praktische Psydiologie (1949) 20, zitiert bei H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie 197.
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b) Anthropologische 1ntegrierung W. Schöllgen weist seit einer Reihe von Jahren nachdrücklich auf die integrierenden Wissenschaften als einen neuen Typ von Wissenschaf ten hin.42 Beispielsweise kann Verkehrswissenschaft nur betrieben wer den, wenn sich der Mediziner, der Psychologe, der Straßenbauer, der Auto-(bzw. Flugzeug-)konstrukteur, der Philosoph und der Ethiker zur Kooperation zusammenfinden. Das gleiche gilt von den Sozialwissenschaften, die sich von der Erforschung der Geopsyche bis hin zur Ideologieforschung erstrecken. Es gilt von der Politik, von der Sportpädagogik, von der Publizistik u. a. m. Auch traditio nelle Disziplinen wie Geographie, Agrarwissenschaft, Medizin oder Psychotherapie sind nach isolationistischen Zwischenphasen mit zwei fellos erstaunlicher Erfolgsbilanz hinsichtlich des fachspezifischen Sachwissens auf "anthropologisch wesentliche Gesamtaspekte" hin in Bewegung geraten. Sie suchen in der Anthropologie ein sie alle inte grierendes Bezugssystem. Nun hat es gewiß auch mit der Anthropologie seine Schwierigkeiten. Immerhin kann man sagen, daß sie sich als philosophische Anthropo logie mit dem Menschen als Person befaßt und daß sie dies nur im Durchgang durch die Erkenntnisse der Humanwissenschaften über den Menschen als Naturwesen vermag. Man wird auch Zustimmung fin den, wenn man der Anthropologie die spezifische Aufgabe zuspricht, über den Sinn menschlicher Existenz und über den in der mensch lichen Personalität zentrierten Sinn der Welt überhaupt zu reflek tieren. Schließlich scheint klar, daß heutige philosophische Anthro pologie gleich weit von purem Empirismus wie von purem Aprioris mus entfernt ist: ,,Eine Deduktion von oben her ist ebenso wenig möglich wie konstruierender Aufbau von unten nach oben." 43 Für unsere Überlegungen werden wir ohne weitere Begründung von der These ausgehen dürfen, daß es jenseits oder auf dem Grunde der humanwissenschaftlich-empirisch faßbaren Sachverhalte einen umgrei fenden Sinnverhalt gibt, der die Grundwerte des Menschseins um greift. Was damit gemeint ist, kann man auf verschiedene Weise Vgl. zum folgenden vor allem Konkrete Ethik 31-45. " J. Möller, Zum Thema Menschsein {Probleme der praktischen Theologie, Festgabe zum 60. Geburtstag von J. M. Reuß, hrsg. von L. M. -Weber und A. Görres, Bd. 1), Mainz 1967, 12. Der Verfasser gibt S. 10-21 einen k nappen, aber sehr informativen Oberblick über die philosophische Anthropologie dtr Gegenwart. 42
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umschreiben. B. Schüller44 verlangt in seiner Lehre von der Begrün dung des Sittlichen, daß das Faktische und Empirische überschritten und das „Essentielle", der „intelligible Wesenscharakter menschlichen Seinkönnens" eingesehen wird; das bloß Faktische könne als Nicht Notwendiges, als Kontingentes keine sittliche Notwendigkeit begrün den. Er verweist beispielhaft auf das vergebliche Bemühen Epiktets um den Nachweis, daß der Mann sich deswegen nicht rasieren dürfe, weil sein Bart das natürliche sichtbare Unterscheidungsmerkmal gegen über der Frau sei. Hier wird eine biologische Tatsache zur sittlichen Forderung hinaufideologisiert. B. Schüller bemerkt dazu: ,,Epiktet vollzieht die für die ethische Normierung richtige Denkb.ewegung, nämlich vom Sein zum Sollen. Wenn er trotzdem zu einem Fehl schluß gelangt, dann eben deswegen, weil er das bloß empirisch, nicht intellektiv erfaßte Sein des Menschen zum Fundament einer sittlichen Norm machen will." Bis in die neueste Zeit herauf haben kirchliches Lehramt und Moraltheologie sich des gleid1en Fehlers schuldig ge macht, wenn sie die physiologisch-biologische Integrität des ehelichen Aktes als solche - die Zwischenschaltung einer „Metaphysik des ehelichen Aktes" ist kaum mehr als ein Versuch der Errichtung eines ,,ideologischen Oberbaus" - in den Rang einer sittlichen Norm erho ben haben, anstatt sie von ihrer Bedeutung für die gesamtmensch liche Entfaltung her zu würdigen. In ähnlicher Weise - so wiederum B. Schüller - haben sie das moralische Gewicht der Lüge verkannt, weil sie in der Sprache lediglich ein Informationsmittel und nicht ein Medium menschlicher Selbstmitteilung gesehen haben. H. Rombach vertritt die Auffassung, daß man genaueren Aufschluß über das Wesen des Menschen nur gewinnen kann, wenn man eine Fülle geschichtlichen und kulturkundlichen Materials zusammen trägt.45 Nur aus strukturalen (,,wesensgeschichtlichen") Einsichten las sen sich normative (» w,esensgesetzliche") Festlegungen treffen. Beide freilich, die Einsichten und die Festlegungen, erreichen nie definiti ven Charakter, sondern bleiben für künftige Entwicklungen offen, was freilich ihrer augenblicklichen Geltung keinerlei Abbruch tut, weil sie im Horizont einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes als richtig und darum auch als verbindlich erscheinen. Der Aufweis solcher Richtigkeit und Notwendigkeit "erschöpft sich " Vgl. Wieweit kann die Moraltheologie das Naturrecht entbehren? 58-62. " Die Wissenschaft und die geschichtliche Selbstbestimmung des Menschen 180-183. 174. Vgl. P. Touilleux, Kritische Theologie, in: Theo!. Quartalschrift 149 (1969) 235-258.
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nicht in einer Nachschilderung der gegebenen Verhältnisse, er inter pretiert und prüft auf strukturellen Zusammenhalt hin (darum: "strukturelle Anthropologie"), er stößt auf Spannungen im Gesamt gefüge, Verhärtungen im Verlebendigungsprozeß, Selbstbeeinträchti gung ,eines Menschentums, gerade auch im Hinblick auf die besonde ren Voraussetzungen und Beschränkungen seines Lebensraumes." Die se „strukturelle Interpretation" allein vermag zwischen der Scylla dogmatistisch-ideologischer Verabsolutierungen und der Charybdis eines permanenten selbstzerstörerischen Relativismus den sicheren Weg zu finden. In so verstandener anthropologischer Sicht wird an alle Gefahren und Chancen der Entwicklung der Maßstab des Ganz heitlich-Sinnvollen angelegt. Wenn sich die einzelne Humanwissen schaft monistisch verabsolutiert, verfehlt sie mit diesem Totalitäts anspruch das Maß des Menschlichen, weil die Aspekte anderer Wis senschaften und die integrierenden Aussagen der Anthropologie un terschlagen werden. Ein universaler wissenschaftlicher Humanismus hat allerdings zur Voraussetzung, daß über ein gewisses Vorverständ nis des Menschseins wenigstens unbewußt Einvernehmen besteht und daß grundsätzlich alle Aspekte menschlicher Wesensart - der leibli che, seelische, personale, soziale und religiöse - in ihrer Eigenwertig keit und in ihrer Interdependenz anerkannt werden.46 c) Ethische Normierung
Vor dem Horizont der humanwissenschaftlichen und der sie inte grierenden anthropologischen Betrachtungsweise wird das ganze Elend der Ethik und der Moraltheologie offenkundig. Wie sollen sie mit dem überwältigenden Fortschritt der humanwissenschaftlichen Einzel disziplinen Schritt halten? Ethische Untersuchungen sind hinsichtlich ihres Grundlagenwissens nicht selten schon nach einem Jahrzehnt durch die weitere Entwicklung einzelner Wissenschaften überholt und vermögen die aktuelle Problematik nicht mehr genau zu treffen. Es •• Vgl. L. Jerphagnon, Die Wissensdiaften führen zur Moral, in: P. Cha1