Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader [1. Aufl.] 9783839406649

Das Buch präsentiert die Geschichte des Mannseins in Nordamerika von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart. In chronologisc

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German Pages 432 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
1. KONZEPTIONELLES
Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas: Eine Einleitung
„Add Men and Stir?“ Männlichkeiten in geschlechterhistorischer Lehre und Forschung
„Crisis? What Crisis?“ Männlichkeit, Körper, Transdisziplinarität
2. VÄTER IN „EARLY AMERICA“
Vatersein und Männlichkeit im kolonialen Amerika
Vaterfigur und Gesellschaftsordnung um 1800
3. GRENZGÄNGER IM 19. JAHRHUNDERT
Männlichkeiten, territoriale Expansion und die amerikanische Frontier im 19. Jahrhundert
Grenzgänge: Hautfarbe, Geschlecht und die Macht der Kategorien im späten 19. Jahrhundert
Nationale Identität, Männlichkeit und amerikanisches Studentenleben an deutschen Universitäten im späten 19. Jahrhundert
4. TRANSFORMATIONEN DER MODERNE
Männer im Pelz: Entblößungen und Verhüllungen des natürlichen Körpers um 1900
Sportsmänner: Interpretationen des Faustkampfes um 1900
Technologie als Merkmal amerikanisch-bürgerlicher Männlichkeit, 1830-1978
5. DAS FRÜHE 20. JAHRHUNDERT
Film, Vorbilder und männliche Sozialisation in den 1930er Jahren
Kampfbereite Männerkörper und der Weg in den Zweiten Weltkrieg
6. VOM ZWEITEN WELTKRIEG BIS ZUR JAHRTAUSENDWENDE
David Riesman und die „Krise“ der Männlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg
Flugreisen und Männlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg
Queere Geschichten aus der Provinz: Mississippi in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Politik und Sexualität: John F. Kennedy und die „Krise“ der Männlichkeit im Kalten Krieg
Gewalt und schwarze Männlichkeit in der Black Power-Bewegung
Ökonomien der Männlichkeit im späten 20. Jahrhundert
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Autorinnen und Autoren
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Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader [1. Aufl.]
 9783839406649

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Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz (Hg.) Väter, Soldaten, Liebhaber

Jürgen Martschukat (Dr. phil.) ist Professor für nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. Er arbeitet vor allem zur Kultur- und Geschlechtergeschichte der USA sowie zur Geschichte der Gewalt. Olaf Stieglitz (Dr. phil.) ist Assistent für angloamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechtergeschichte sowie Sozial- und Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten.

Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz (Hg.)

Väter, Soldaten, Liebhaber Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: Diane Arbus, »A Young Brooklyn Couple Going on a Sunday Outing«, New York City 1966; © 1966: The Estate of Diane Arbus, LLC; hier entnommen aus: Black & White Magazine 36 (April 2005), S. 41; »Vietnam War Soldier«, undatiert, hier entnommen aus: http://www.medalofhonor.com/VietnamWarA-B.htm (7. Januar 2007); Charles William Dabney und Leverett Saltonstall, 1850, Harvardstudenten, hier entnommen aus: http://www.historyproject.org/exhibits/ public_faces/9.php (7. Januar 2007). Lektorat & Satz: Jürgen Martschukat und Silvan Niedermeier Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-664-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andee Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1. K ONZEPTIONELLES Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas: Eine Einleitung

11

JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ „Add Men and Stir?“ Männlichkeiten in geschlechterhistorischer Lehre und Forschung

27

BRUCE DORSEY „Crisis? What Crisis?“ Männlichkeit, Körper, Transdisziplinarität

43

SABINE SIELKE

2. V ÄTER IN „E ARLY A MERICA “ Vatersein und Männlichkeit im kolonialen Amerika

65

ANNE S. LOMBARD Vaterfigur und Gesellschaftsordnung um 1800

83

JÜRGEN MARTSCHUKAT

3. G RENZGÄNGER IM 19. J AHRHUNDERT Männlichkeiten, territoriale Expansion und die amerikanische Frontier im 19. Jahrhundert AMY S. GREENBERG

103

Grenzgänge: Hautfarbe, Geschlecht und die Macht der Kategorien im späten 19. Jahrhundert

123

MARTHA HODES Nationale Identität, Männlichkeit und amerikanisches Studentenleben an deutschen Universitäten im späten 19. Jahrhundert

139

ANJA BECKER

4. T RANSFORMATIONEN DER M ODERNE Männer im Pelz: Entblößungen und Verhüllungen des natürlichen Körpers um 1900

159

RALPH J. POOLE Sportsmänner: Interpretationen des Faustkampfes um 1900

183

CHRISTOPH RIBBAT Technologie als Merkmal amerikanisch-bürgerlicher Männlichkeit, 1830-1978

201

RUTH OLDENZIEL

5. D AS FRÜHE 20. J AHRHUNDERT Film, Vorbilder und männliche Sozialisation in den 1930er Jahren

221

OLAF STIEGLITZ Kampfbereite Männerkörper und der Weg in den Zweiten Weltkrieg 243 CHRISTINA JARVIS

6. V OM Z WEITEN W ELTKRIEG BIS ZUR J AHRTAUSENDWENDE David Riesman und die „Krise“ der Männlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg

277

JAMES GILBERT Flugreisen und Männlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg ANKE ORTLEPP

293

Queere Geschichten aus der Provinz: Mississippi in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

313

JOHN HOWARD Politik und Sexualität: John F. Kennedy und die „Krise“ der Männlichkeit im Kalten Krieg

335

ROBERT D. DEAN Gewalt und schwarze Männlichkeit in der Black Power-Bewegung

355

SIMON WENDT Ökonomien der Männlichkeit im späten 20. Jahrhundert

371

EVA BOESENBERG Literaturverzeichnis

389

Abbildungsnachweis

423

Autorinnen und Autoren

425

1. K O N Z E P T I O N E L L E S

Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas: Eine Einleitung JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

I. Noch vor nicht allzu vielen Jahren begannen die meisten Bücher, Aufsätze oder Vorträge zur Geschichte von Männern und Männlichkeiten mit der Bemerkung, die Geschichte von Männern als Männer stünde gerade erst am Anfang – sie zu schreiben, sei ein Projekt der Zukunft. Dabei bedienten sich die entsprechenden Passagen entsprechender Einleitungen gerne einer geschlechtlich geprägten Metaphorik, um die Aufbruchsstimmung zum Ausdruck zu bringen. Männer und Männlichkeiten, so war dort etwa zu vernehmen, müssten in der Geschichte neu „entdeckt“ werden, ein „jungfräuliches Feld“ oder ein „dunkler Kontinent“ warteten darauf, von zumeist männlichen Pionieren erobert zu werden. Auch lag damals durchaus ein Hauch von Provokation in der Luft, als historische Fachzeitschriften sich erstmals mit ganzen Themenheften dem Mannsein widmeten. (Vgl. etwa Cockburn 1989; Frevert 1993) Mittlerweile setzen die Eröffnungspassagen andere Akzente. Männer und Männlichkeiten seien in den letzten Jahren zu einem prominenten, wenn nicht gar beherrschenden Thema der historischen Forschung geworden, ist jetzt dort zu lesen. Eine solche Hausse ist dies- wie jenseits des Atlantiks zu beobachten, in den USA zeichnet sie sich jedoch noch deutlicher ab als hierzulande. Männer und das Mannsein sind als wissenschaftliche Themen so en vogue, dass es mittlerweile kaum mehr 11

JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

möglich ist, die gesamte Forschung zu überschauen oder gar „im Griff“ zu haben. Viel zu sehr hat sich das Forschungsfeld diversifiziert, Subdisziplinen haben sich herausgebildet mit eigenen Spezialistinnen und Spezialisten, und Männlichkeit hat sich von einem „Thema“ immer deutlicher zu einer Analysekategorie im Sinne der Geschlechterforschung gewandelt, die im Zugriff auf jedwedes Thema eine Rolle spielen kann. Als nur eines von vielen möglichen Beispielen für diesen Wandel soll hier etwa die Geschichte der Expansion oder der internationalen Beziehungen genannt werden. (Vgl. die Beiträge von Amy Greenberg und Robert Dean in diesem Band sowie generell Martschukat und Stieglitz 2005) Das breite Spektrum, das die Geschlechterforschung zu Männern und Männlichkeiten zwischenzeitlich abdeckt, vermag auch ein Blick in einschlägige Enzyklopädien zu verdeutlichen, wie sie kürzlich Michael Kimmel und Amy Aronson (Kimmel und Aronson 2004) oder Bret Carroll herausgegeben haben. (Carroll 2003a) Carrolls Historical Encyclopedia of American Masculinities umfasst über 250 Einträge, die Themen von Kunst und Populärkultur über Körper, Gesundheit und Sexualität bis zu Familie und Vaterschaft, Freizeit, Arbeit und viele weitere Bereiche abdecken. Zudem berücksichtigen die jeweiligen Artikel durchgehend, dass Mann nicht gleich Mann und männlich nicht gleich männlich ist. Unterschiede werden durch die systematische Einbeziehung weiterer Kategorien neben „Geschlecht“ deutlich, wie etwa „Klasse“, „Rasse“, „Sexualität“, „Region“, „Religion“, „Alter“ etc. Die Breite und Tiefe der Forschung, die Historikerinnen und Historiker über US-amerikanische Männer und das Mannsein in der Geschichte in den letzten Jahren erarbeitet haben, sind ohne Zweifel beeindruckend. Vor allem hat diese Forschung nicht nur unser Wissen über Geschlechterkategorien und -beziehungen bereichert, sondern auch über die US-amerikanische Geschichte und Gegenwart insgesamt – über die Organisation von Kultur, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, deren Leitlinien und Prinzipien. So viel ist mittlerweile klar: Wenn wir uns den USA annähern wollen, historisch wie aktuell, dann eröffnet uns die Kategorie Geschlecht, und zwar als Weiblichkeit wie Männlichkeit gedacht, neue Blicke. Und noch viel mehr: Nicht nur bislang unbekannte Phänomene und Zusammenhänge werden erschlossen, sondern auch was wir zu kennen glaubten, erhält häufig gänzlich neue Dimensionen. Genau dies soll auch das vorliegende Buch verdeutlichen. Es ist kein Lexikon und auch kein Handbuch, sondern vielleicht am ehesten als Reader zu bezeichnen. Expertinnen und Experten in den unterschiedlichsten Forschungsfeldern (so von der bereits erwähnten Expansionsgeschichte über Sexualität oder Technologie bis zur Familien- und Politikgeschich12

MÄNNER UND MÄNNLICHKEITEN IN DER GESCHICHTE NORDAMERIKAS

te, um nur eine Auswahl zu nennen) bringen ihre Kenntnisse und Erfahrungen ein, um mit ihren Beiträgen einen thematischen wie konzeptionellen Überblick über die Forschung zu Männern und Mannsein in der nordamerikanischen Geschichte von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart zu liefern. Dabei haben die Beiträge jeweils einführenden Charakter und skizzieren die Leitfragen ihres Feldes. Zugleich gehen sie aber auch in die Tiefe und zeigen damit exemplarisch, wie eine solche Männergeschichte als Geschlechtergeschichte in der Praxis aussehen kann, welch vielfältiger Quellen sie sich bedient und wie sie unsere Perspektiven auf die US-Historie insgesamt verschiebt. Lassen Sie uns aber, bevor wir die einzelnen Beiträge kurz vorstellen, zunächst die Entwicklung der historischen Männlichkeitsforschung noch etwas eingehender beschreiben. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass wir dabei die Verschiebungen der letzten Jahre nicht in ihrer gesamten Bandbreite skizzieren können, sondern Schlaglichter setzen müssen. (Einen breiteren Forschungsüberblick bieten Martschukat und Stieglitz 2005) In einem zweiten Teil werden wir dann einige konzeptionelle und theoretische Leitlinien herausarbeiten, die in der Forschung zur Geschichte von Männern und Männlichkeiten prägnant sind. Insbesondere die Konzepte der „Hegemonie“ und der „Krise“ gilt es hier vorzustellen, und auch zahlreiche Beiträge dieses Readers werden auf die eine oder andere Art um sie kreisen. Dabei werden wir auch das Verhältnis der Geschichte des Mannseins zur Frauen- und Geschlechtergeschichte diskutieren und auch eine Reihe von (selbst-)kritischen Einwänden aufgreifen. Diese Kritik, die während der letzten Jahre teils aus dem Forschungsfeld selbst heraus formuliert und teils von außen an es herangetragen wurde, treibt die Geschichtsschreibenden letztlich dazu, ihre Fragestellungen, Konzeptionen und Perspektiven immer wieder zu überdenken und zu hinterfragen. Daher sollte sie auch als Indikator für die Dichte, Intensität und Dynamik dieses Forschungsfeldes verstanden werden, das sich in einem produktiven Prozess permanenter Reformulierung befindet.

II. Der gegenwärtige Boom der historischen Männerstudien hat eine lange Vorgeschichte, die verdeutlicht, wie fest dieses Forschungsfeld in der Frauen- und Geschlechtergeschichte verankert ist. Schon als sich die Geschlechtergeschichte vor rund dreißig Jahren herauszubilden begann, betonten Historikerinnen und Historiker, dass Lebensformen und Vorstellungen des Frau- und des Mannseins ineinander verwoben seien. Wer 13

JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

sich die konzeptionellen Entwürfe der frühen Geschlechtergeschichte in Erinnerung ruft, wird dies bestätigen können: Schon damals forderten Historikerinnen regelmäßig, Forschungen zu Männern und Männlichkeiten in die Geschlechtergeschichte einzubinden. Stellvertretend sei hier die US-amerikanische Frühneuzeithistorikerin Natalie Zemon Davis zitiert, die 1976 in ihrem wegweisenden Beitrag über Women’s History in Transition betonte: It seems to me that we should be interested in the history of both women and men, that we should not be working only on the subjected sex any more than a historian of class can focus exclusively on peasants. Our goal is to understand the significance of the sexes, of gender groups in the historical past. (Davis 1976, S. 90)

Andere Historikerinnen wie Gerda Lerner in den USA oder Gisela Bock in Deutschland teilten diese Maxime und forderten ebenso wie Natalie Davis, den Plural Geschlechter ernst zu nehmen – Frauen wie Männer, Weiblichkeiten wie Männlichkeiten bedurften der gemeinsamen Analyse. (Lerner 1995; Bock 1988) Genau zehn Jahre nach Davis publizierte Joan W. Scott mit ihrem Aufsatz über Gender. A Useful Category of Historical Analysis einen Meilenstein der Geschlechterforschung. Scott entwickelte einen ausgefeilten theoretischen wie konzeptionellen Rahmen für mehrfach relationale Geschichten, die Frauen und Männer, Weiblichkeiten und Männlichkeiten aufeinander beziehen und sie darüber hinaus auch in ihren permanenten und wechselnden Bezügen zu anderen Strukturkategorien wie „class, race, age“ beleuchten. (Scott 1986, als Scott 1994 auch auf Deutsch) Ein genauerer Blick auf die damaligen Veröffentlichungen verdeutlicht dann allerdings, wie wenig sich diese konzeptionellen Blaupausen tatsächlich in der Forschungspraxis niederschlugen. Sicher war Ute Freverts Formulierung aus dem Jahr 1991, der Plural in Geschlechtergeschichte komme einer Mogelpackung gleich, als Provokation gedacht. Im Grunde traf er aber doch den Kern der Dinge. (Frevert 1991) Behandelten die meisten Arbeiten, die das Etikett „Geschlechtergeschichte“ trugen, nicht doch ausschließlich Frauen und Weiblichkeit? Dies hatte nicht zuletzt zur Folge, wie Joan Scott Ende der 1990er Jahre bemerkte, dass die Begriffe „gender“ und „women“ in der akademischen wie alltäglichen Sprache beinahe synonym verwendet wurden. (Scott 2001) Damit hatte die Frauen- und Geschlechtergeschichte zwar viele eklatante Leerstellen in einer bis dahin männerzentrierten Geschichtsforschung gefüllt. Zugleich aber hatte sie die althergebrachte Vorstellung genährt, Frauen und Weiblichkeit bedeuteten Abweichung von einer männlich 14

MÄNNER UND MÄNNLICHKEITEN IN DER GESCHICHTE NORDAMERIKAS

bestimmten Norm und hätten in Geschichte und Gesellschaft eine Sonderstellung. (Vgl. etwa Hausen 1998) Konkrete historische Analysen, die Frauen wie Männer als geschlechtliche Wesen innerhalb relationaler Geschlechterverhältnisse zu verstehen suchten, entstanden nur selten und zögerlich. Freilich hatte diese Zurückhaltung viele gute Gründe. Über rund einhundert Jahre hinweg hatten in der wissenschaftlichen, universitär verankerten Geschichtsschreibung zumeist Männer für Männer über Männer geschrieben. Sie schufen ein akademisches Erbe männlicher Dominanz, das eine universelle und naturalisierte Version der Welt mit dem Männlichen als Norm und dem Weiblichen als Abweichung zeichnete. Diese Leerstelle hatte es zu schließen gegolten, und Forschungsfragen und -programme über weibliche Handlungsformen, Konzeptionalisierungen und Erfahrungen in der Geschichte waren drängend. Außerdem begann sich das Forschungsfeld der Frauen- und Geschlechtergeschichte in den späten 1970er Jahren, zumindest an US-amerikanischen Colleges und Universitäten zu institutionalisieren – in Deutschland ließ dies noch eine ganze Weile auf sich warten. Der Kampf um die Verankerung an den Universitäten machte unmittelbar deutlich, wie eng und untrennbar die Frauen- und Geschlechtergeschichte mit der Frauenbewegung verbunden war, die nicht zuletzt darauf abzielte, Diskriminierung und männliche Dominanz auch institutionell zu überwinden. In einem solchen politischen und akademischen Kontext war es nur schwerlich möglich, das Räsonieren über Männer und Männlichkeiten auf breiter Basis in die Geschlechterforschung zu integrieren, auch wenn die theoretischen Konzeptionalisierungen dies mit guten Argumenten forderten. Gleichwohl erschienen schon in den 1970er Jahren erste ambitionierte Studien zum Thema Mannsein. Eine kleine Gruppe profeministischer Soziologen, Politik-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaftler lehrte und publizierte über Männer als Männer. Von besonderer Bedeutung für die US-amerikanische Geschichtsschreibung waren sicherlich die Bücher von Peter Filene, der schon im Jahr 1974 über die Konstruktion sexueller Identitäten schrieb (Filene 1974), von Elizabeth und Joseph Pleck, die 1980 eine Anthologie über The American Man vorlegten, sowie von John D’Emilio und Estelle Freedman, deren Geschichte der Sexualitäten mit dem Titel Intimate Matters aus dem Jahr 1988 nach wie vor ein Standardwerk ist. (Vgl. Filene 1974; Pleck und Pleck 1980; D’Emilio 1988; vgl. auch Stearns 1979) Alle diese Arbeiten trugen dazu bei, den Weg zu einer Geschlechtergeschichte der Männlichkeiten zu bahnen, wie wir sie heute kennen und einfordern. Dabei entlehnten die Autoren dieser Jahre ihre konzeptionellen und methodologischen Mo15

JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

delle einerseits aus der feministischen Forschung und andererseits aus den Men’s and Gay Studies, und sie verstanden sich als Teil einer breiten soziopolitisch emanzipatorischen Bewegung. Einige prominente feministische Autorinnen schrieben sich ebenfalls mit ihren Arbeiten in dieses Feld ein. Barbara Ehrenreichs Studie über The Hearts of Men ist hier sicherlich das bekannteste Beispiel. Obschon es sich nicht um eine geschichtswissenschaftliche Studie im engeren Sinne handelt, dient das Buch auch heute noch als Ausgangspunkt beinahe jeder Arbeit über das Mannsein in den 1950er Jahren. (Ehrenreich 1983; Ehrenreich 1984) Als in den 1990er Jahren erste Gesamtdarstellungen zur Geschichte US-amerikanischer Männer und Männlichkeiten erschienen, signalisierte dies, dass ein weiterer entscheidender Punkt in der historiografischen Entwicklung erreicht war. Anthony Rotundos American Manhood (1993) und Michael Kimmels Manhood in America. A Cultural History (1996) waren als frühe Synthesen von großer Bedeutung für die Entwicklung des Forschungsfeldes. Darüber hinaus stießen sie als Gesamtdarstellungen Debatten über die Konzeptionalisierung einer Männergeschichte als Geschlechtergeschichte an, die wir im folgenden Abschnitt aufgreifen und rekapitulieren werden.

III. Im Zuge der Debatten um Rotundos Handbuch diffundierten konzeptionelle Erwägungen aus den soziologischen Männerstudien in die Geschichtsschreibung. American Manhood erhielt viel Lob, wurde aber auch Zielscheibe der Kritik, handelte es doch vor allem von weißen, protestantischen Männern der Mittelklasse. Andere Lebensformen, -entwürfe und -erfahrungen spielten in dem Buch keine Rolle, und Rotundos Betrachtungen brachten auch kaum zur Sprache, wie normativ dieses hegemoniale Männlichkeitskonzept war. Damit kollidierte sein Buch mit den damals neuesten Ansätzen der soziologischen Männerstudien, die in zunehmendem Maße die Vielfalt männlicher Erfahrungen hervorhoben. Forscher wie Harry Brod, Michael Kaufman und Kenneth Clatterbaugh hatten bereits begonnen, den Singular masculinity durch den Plural masculinities zu ersetzen. So sollte Männlichkeit als vielfältig, dynamisch, wechselhaft und differenziert gekennzeichnet werden. (Brod 1987; Clatterbaugh 1990; Brod und Kaufman 1994) Außerdem strebte diese zweite Welle soziologischer Männerstudien danach, theoretische Instrumente zu entwickeln, die genau diese Vielfalt verschiedener Männlichkeitsentwürfe besser erfassten. Vor allem die verschiedenen Formen männlicher Differenz, Dominanz und Macht soll16

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ten herausgearbeitet werden können. Insbesondere das Konzept „hegemonialer Männlichkeit“ des australischen Soziologen Robert Connell sollte rasch großen Einfluss erlangen. In den 1980er Jahren hatte Connell begonnen, diese Alternative zur Patriarchatstheorie zu entwickeln, die bis dahin prägend gewesen war. Dabei stritt Connell die Bedeutung des Patriarchats zur Erklärung von männlicher Dominanz und Gewalt keineswegs ab, sondern er betonte sie vielmehr, indem er Mechanismen hervorstrich, die eine Vorrangstellung von Männern gegenüber Frauen insgesamt stabilisierten. (Connell 2000, S. 100) Zugleich aber betonte er, dass diese Perspektive nur wenig dazu beitrage, die Machtgefälle zwischen Männern verstehen und erklären zu können. Denn Männer, so Connell, üben nicht nur Macht über Frauen aus, sondern auch über andere Männer, die sozial, ökonomisch, kulturell oder sexuell marginalisiert sind. Das Modell von Hegemonie und Marginalisierung machte es möglich, Variationen von Männlichkeiten in den Blick zu bekommen und zu erklären, wer warum welchen Zugriff auf welche gesellschaftlichen Ressourcen hat. Anders ausgedrückt entwarf Connell multirelationale Analyseansätze, die von pauschalisierenden Erklärungsversuchen Abstand nahmen. (Connell 1987; Connell 2000; Tosh 2004) Connell betont zudem, dass die Formen männlicher Dominanz einem beständigen Wandel unterworfen sind. Sie entstehen in fortwährenden Prozessen des „doing gender“, weshalb „hegemoniale Männlichkeit“ kein stabiles Gebilde ist, sondern ein ewig umkämpftes kulturelles Ideal, das sich in permanenter Aushandlung befindet. „Hegemoniale Männlichkeit“ beschreibt eine historisch und kulturell veränderliche Vorstellung, wie Männer sein und handeln sollten, und zwar sowohl in ihren Beziehungen zu Frauen wie auch zu anderen Männern. Dabei betont Connell, dass die Anforderungen „hegemonialer Männlichkeit“ keineswegs von allen (und noch nicht einmal von vielen) Männern erfüllt werden müssen, dass sie aber dennoch als soziales und kulturelles Ideal von großer Wirkmächtigkeit sind. Wir brauchen kaum mehr zu betonen, dass Connells Konzept seine Wurzeln zwar in Soziologie und Sozialwissenschaften hat, es aber zugleich mit einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geschlechterforschung harmoniert. Konstruktion, Differenz, Vielfalt, Performanz und Performativität sind in Connells Konzepten durchaus mitgedacht. Dadurch sind sie auch für solche Studien hilfreich, die sich eigentlich auf Diskursanalyse, Psychoanalyse oder Semiotik stützen. Zahlreiche soziologische, kulturwissenschaftliche und historische Studien zu Männern und Männlichkeiten haben sich in den letzten Jahren auf das Konzept der Hegemonie als Theorie männlicher Macht ge17

JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

stützt. Nehmen wir zum Beispiel Michael Kimmels Manhood in America, das die wohl bekannteste Gesamtdarstellung über Männer und Männlichkeiten in der US-amerikanischen Geschichte ist. Das Buch umfasst einen deutlich weiteren Zeitraum als Rotundos Studie, denn es reicht von der Gründung der USA bis in das späte 20. Jahrhundert. Es handelt im Wesentlichen von hegemonialen Männern, wie Michael Kimmel in seiner Einleitung erläutert: A history of manhood must […] recount two histories: the history of the changing ‚ideal‘ version of masculinity and parallel and competing versions that coexist with it. It is this tension […] that forms one of the organizing dynamics of this book. [… T]his is a history of [the] straight, white, middle class, native-born – the story of his great accomplishments and his nagging anxieties. Yet in another sense, it is at least indirectly the story of the marginalized ‚others‘ – working class men, gay men, men of color, immigrant men – how these different groups of men and, of course, women were used as a screen against which those ‚complete‘ men projected their fears and […] constructed this prevailing definition of manhood. (Kimmel 1996, S. 6)

Das Hegemonie-Konzept hat also nicht nur dazu beigetragen, marginalisierte Formen der Männlichkeit besser in den Blick zu kriegen und diese in Relation zu hegemonialen Formen zu verstehen, sondern es hat in zunehmendem Maße auch die Aufmerksamkeit der Forschenden auf die hegemonialen Formen des Mannseins gelenkt. Kimmels Buch, und hier vor allem die Einleitung, vermag das exemplarisch zu verdeutlichen, und es rückt ein weiteres Leitmotiv der historischen Männer- und Männlichkeitsforschung in das Blickfeld, nämlich die „Krise“. Kimmel akzentuiert eine gegenwärtige „confusion, defensiveness, and malaise among American men“, die, wie er betont, nur aus der Vergangenheit heraus zu verstehen sei. Diese Hypothese strukturiert das gesamte Buch: „I am interested especially in moments of crisis“ (Kimmel 1996, S. 10), stellt er heraus, und beschreibt damit vortrefflich, was auf den nächsten 350 Seiten folgt: Eine „Krise“ reiht sich an die andere, so dass die Lesenden gar nicht mehr wissen, ob amerikanische Männer sich irgendwann einmal nicht in einem Zustand der Krise befunden haben. Die 1830er, die 1870er, die 1890er, die 1930er, die 1950er, 1970er und 1990er Jahre werden alle als Phasen gefährdeter Männlichkeit beschrieben. Wichtig ist, dass Krisendiagnosen sich in aller Regel auf den Männlichkeitsentwurf beziehen, der eigentlich „Hegemonie“ versprechen sollte, dessen Dominanz aber offenbar in bestimmten Momenten in der Geschichte gefährdet war.

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MÄNNER UND MÄNNLICHKEITEN IN DER GESCHICHTE NORDAMERIKAS

Ist ein solches Krisenempfinden zeitgenössisch, so lässt es sich in historischen Quellen aufspüren, und wir können erkennen, wie Männer zu bestimmten Augenblicken in der Geschichte „Krise“ als angemessene Beschreibung ihres Zustandes und ihres Selbstwerts empfanden und – vor allem – was dies für die jeweilige Gesellschaft und ihre Ordnung bedeutete. Entsprechende historische Analysen führen vor, wie Krisendiskurse und -erfahrungen hegemoniale Geschlechterstrukturen entweder aufweichten oder bestärkten und wie sie in welcher Beziehung zu anderen Strukturkategorien wie „race“, „class“ oder „sexuality“ standen. Gerade in Momenten, die als krisenhaft empfunden wurden, erhielt das Geschlechtersystem besondere Aufmerksamkeit und transformierte (oder verfestigte) sich mit erhöhter Geschwindigkeit und Dynamik. Daher lässt es sich in solchen Momenten in der Geschichte besonders deutlich herauspräparieren, wobei freilich immer zu bedenken gilt, wer eine Krise diagnostizierte, wen sie dabei als krisenhaft im Blick hatten und was sie damit bezweckten. Dabei wird das Krisengerede bisweilen auch als Strategie männlicher Selbstviktimisierung erkennbar, die darauf ausgerichtet war, die gefährdete Hegemonie wieder zu festigen. Oft genug wird in den Klagen über eine Krise und eine gefährdete Männlichkeit ein essentialistisches, authentisches Mannsein beschworen. Spätestens seit Judith Butlers Schriften wissen wir, dass vermeintlich „authentisches“ Mannsein durch die klagenden Anrufungen oder auch durch beständig wiederholte Praktiken der „Krisenbewältigung“ letztlich erst erzeugt wurde. (Butler 1998; Butler 2002; Martschukat und Patzold 2003; vgl. auch den Beitrag von Sabine Sielke in diesem Band) Entsprechende Blicke in die Geschichte, die möglicherweise zur Diagnose historischer Krisenempfindungen führen, können also hilfreich und produktiv sein. Die objektivierende Diagnose einer Krise als Resultat historischer Forschung ist allerdings problematisch. Denn wenn wir die Erkenntnis ernst nehmen, dass Geschlechter wie Gesellschaftsordnungen Ergebnisse performativer Prozesse sind, so befördert die Feststellung, Männer und Männlichkeit seien zu einer bestimmten Zeit tatsächlich in einer Krise und somit in Gefahr gewesen, die Vorstellung essentieller, authentischer Geschlechterentwürfe, deren Stabilität eigentlich erstrebenswert sei. Mit den Prämissen der jüngeren Geschlechtergeschichte verträgt sich diese Vorstellung überhaupt nicht. Es ist vielmehr zu fragen, ob sich nicht ein derart objektivierter Krisenbegriff selbst ad absurdum führt, da schon die bloße Anzahl dieser vermeintlichen „Krisen“ die Frage aufwerfen muss, ob so etwas wie männliche Normalität überhaupt jemals existiert hat und existieren kann? Und zugleich suggeriert die Diagnose einer Krise eben die Existenz eines solchen essenziellen und überhistorischen Zustandes männlicher Normalität und Authen19

JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

tizität, der von externen oder internen Faktoren erschüttert worden sei und des Ausgleichs bedürfe. Müssen solche Erschütterungen denn notwendigerweise als „Krise“ beschrieben werden, wie die Historikerin Gail Bederman ebenso pointiert wie zutreffend fragt? (Bederman 1995) Wenn gender ein mehrfach relationales Geflecht ist, ist dann nicht die Krise der einen zugleich die Chance der anderen? Spätestens hier drängt sich die Frage auf, ob das Lamento über die Krise der (hegemonialen) Männer und ihres Mannseins nicht nur deshalb so laut ist, weil Frauen und subordinierte Männer möglicherweise von ihr profitieren könnten. In der Regel werden, um dies hier nochmals zu betonen, Krisen nämlich gerade dann beklagt, wenn die hegemoniale Männlichkeit betroffen scheint. Oder das Krisengerede bezieht sich auf solche Männer, deren krisenhafter Zustand als dauerhaft defizitär und unkurierbar behauptet wird. Hier sei nur auf Betrachtungen afroamerikanischer Männlichkeit verwiesen. (Vgl. etwa Booker 2000; Hine und Jenkins 1999 und 2001 sowie den Beitrag von Simon Wendt in diesem Band) Eine Krise in der Geschichte zu diagnostizieren, ist mithin selbst ein performativer Akt in dem fortwährenden Prozess der Geschlechterkonstruktion, und dieser Akt postuliert eine ganz bestimmte Form des Mannseins als Ideal. (Martschukat und Stieglitz 2005, S. 81-90; vgl. auch den Beitrag von Sabine Sielke in diesem Band) Kehren wir nun noch einmal zurück zum Verhältnis von Männlichkeitengeschichte und Geschlechtergeschichte. Der kanadische Kulturwissenschaftler Bryce Traister hat in der Zeitschrift American Quarterly die kritischen Erwägungen hinsichtlich der Männerstudien zugespitzt, indem er sie als „Academic Viagra“ beschrieb. (Traister 2000; vgl. außerdem Kaltenecker 2000; Allen 2002; Ditz 2004) Traister moniert vor allem, dass der weiße heterosexuelle Mann der Mittelklasse im Begriff sei, wieder in das Zentrum der Forschung zu rücken. Dabei weist er mit Nachdruck darauf hin, dass das Verhältnis der immer populäreren Heteromasculine studies zur Geschichte von Frauen und Weiblichkeiten sowie zu den Gay and Queer Studies gespannt sei. Anders als Traister hat der Historiker Daniel Wickberg kürzlich im Journal of American History das kritische Potenzial der neuen Forschungen zu Männlichkeit, „Whiteness“ und Heterosexualität hervorgehoben. Sie seien Folge und notwendiger Bestandteil einer Geschichtsschreibung, die Strukturkategorien wie Geschlecht, „Rasse“ und Sexualität ernst nehme und Frausein und Mannsein, Weißsein und Schwarzsein, Homosexuell- und Heterosexuellsein, Altsein und Jungsein etc. in ihrer Verschränkung erfasse und verstehe. (Wickberg 2005) Wickberg betont, durch diese Geschichten würden Mechanismen der Hegemonialisierung und Marginalisierung weiter dechiffriert und in zunehmendem Maße aufgelöst. 20

MÄNNER UND MÄNNLICHKEITEN IN DER GESCHICHTE NORDAMERIKAS

IV. Das vorliegende Buch bietet eine Geschichte von Männern und Männlichkeiten in Nordamerika, die die oben skizzierten Kritiken im Sinne Traisters aufgreift und sie zugleich im Sinne Wickbergs produktiv nutzt. So setzen sich viele der insgesamt neunzehn Kapitel dieses Bandes explizit mit den Konzepten von Krise, Hegemonialisierung und Marginalisierung auseinander. Dabei geben sie zugleich einen Überblick über die Leitfragen der aktuellen Forschung sowie einen Überblick über die nordamerikanische Geschichte von der Kolonialzeit bis in die 1990er Jahre. Gleichwohl nimmt der Band nicht für sich in Anspruch, das Thema Mannsein in der US-Geschichte vollständig und in all seinen Facetten zu erschließen. Vielmehr setzen die einzelnen Beiträge von Expertinnen und Experten aus den Geschichts- und Kulturwissenschaften, die an Universitäten in den USA, der Türkei, der Schweiz, den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland unterrichten, Schlaglichter auf wesentliche Momente der nordamerikanischen Männlichkeitengeschichte. Diese ist hierzulande, trotz der Konjunktur der Männerforschung insgesamt, immer noch recht unbekannt und bestenfalls auf einige wenige prominente Medienfiguren der letzten Jahrzehnte wie John Wayne oder Arnold Schwarzenegger fokussiert. Kurzum: Wir streben eine Mischung aus Überblick und Tiefenforschung an, die zudem der Multirelationalität von Geschlecht gerecht wird. Dies hoffen wir durch die Vielfalt der Beiträge erreichen zu können, die jeweils verschiedene Verknüpfungen und Verbindungen innerhalb von Geschlechtersystemen präsentieren. Die verschiedenen Kapitel könnten vielleicht als Mosaiksteine betrachtet werden, von denen zwar nicht jeder einzelne in sämtlichen Farben schimmert, die sich insgesamt aber zu einem vielfältigen und trotzdem zusammenhängenden Bild verbinden. Der Band beginnt mit zwei konzeptionellen Beiträgen, die an die Gedanken dieser allzu knappen Einleitung anschließen und sie vertiefen. Zunächst wird der Historiker Bruce Dorsey vom Swarthmore College die Entwicklung der Geschichtsschreibung zu Männern und Männlichkeiten weiter ausführen und ein Plädoyer für eine relationale und kritische Geschlechtergeschichte formulieren. Die Kulturwissenschaftlerin Sabine Sielke von der Universität Bonn wird ihrerseits die Krisendiskurse in den USA wie in Deutschland sezieren und dabei präzise vorführen, wie das jüngste Gerede von der Krise als Streben nach Authentizität und der Restabilisierung einer traditionellen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung zu verstehen ist. Die Krise der Männlichkeit, so Sielke, fällt in eins mit der viel beschworenen Krise der Repräsentation.

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JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

Die dann folgenden inhaltlichen Beiträge sind chronologisch angeordnet. Zunächst wenden sich Anne Lombard von der California State University und Jürgen Martschukat von der Universität Erfurt dem Verhältnis von Vaterschaft und Gesellschaftsordnung zu. Während Lombard den Vater als familiär wie politisch zentrale Figur der nordamerikanischen Kolonialgesellschaften präsentiert und dabei einfordert, das Bild des rauen und lieblosen puritanischen Vaters zu modifizieren, zeigt Martschukat, wie sich die Konnotationen des Vaterseins mit der Revolution und der Gründung der USA veränderten. Eine auf die Fähigkeit zu Eigenverantwortung und Selbstführung ausgerichtete Gesellschaftsordnung stützte sich wesentlich auf neuartig konzipierte Vater- und Mutterfiguren, die bis in die Gegenwart fortwirken. Danach zeigt Amy Greenberg von der Penn State University, wie sich die USA im Verlaufe des 19. Jahrhunderts über den nordamerikanischen Kontinent ausdehnten. Die Geschichte der Expansion gründete wesentlich auf Entwürfen rastloser Männlichkeit wie rassischer Überlegenheit, die mit den kriegerischen Erfolgen und der zunehmenden Ausbreitung der USA immer wieder bestärkt wurden. Inwieweit Konzepte von Geschlecht und Rasse ineinander greifen, zeigt auch Martha Hodes von der New York University in ihrem Beitrag über „Grenzgänge“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hodes schildert die Geschichte einer Familie, die verschiedene rassisch gedachte Grenzen überschritt und ebenso geografische Räume durchquerte. So zeigt sie, wie vermeintlich „natürlich“ begründete Kategorisierungen historisch und kulturell variieren und zur Bestätigung und Unterminierung von Machtstrukturen dienen. Auch Anja Becker von der Universität Leipzig befasst sich mit geografischer Mobilität, und mit ihrem Beitrag über US-amerikanische Austauschstudenten an deutschen Universitäten sind wir an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert angelangt, einem neuralgischen Zeitraum in der Geschlechtergeschichte. Becker führt vor, wie unterschiedliche Hochschulkulturen in Deutschland und den USA Auskunft über variierende Geschlechterordnungen in den beiden Ländern geben können. Auch die Kulturwissenschaflter Ralph J. Poole von der Fatih University in Istanbul und Christoph Ribbat von der Universität Basel geleiten uns in die Jahre um 1900, in der das Krisenempfinden unter weißen, heterosexuellen, amerikanischen Männern weit verbreitet war. Poole wie Ribbat führen vor, wie eine Neubestimmung von Körperlichkeit hier Abhilfe schaffen sollte. Während Ribbat den Boxkult und dessen Verbürgerlichung betrachtet, analysiert Poole an Hand verschiedener Beispiele das Wechselspiel von Naturalisierung und Kulturalisierung, von Pelz, Nacktheit, Weißsein und Begehren. Die Historikerin Ruth Oldenziel von den Universitäten Amsterdam und Eindhoven wendet sich 22

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einem weiteren Signifikanten von Männlichkeit zu, der ebenso zentral ist für deren modernen Entwurf wie „Körperlichkeit“: die Technik. In ihren Betrachtungen, die sich vom frühen 19. bis zum späten 20. Jahrhundert erstrecken, setzt Oldenziel verschiedene Akzente, um zu zeigen, wie sich im Bereich der Arbeit, der Sozialisation und der Repräsentation eine enge Verschränkung von Technik, Männlichkeit, Weißsein und bürgerlicher Mittelklasse herausgebildet hat. Die Repräsentation von Männlichkeit ist auch das Thema von Olaf Stieglitz’ Beitrag. Stieglitz, Historiker an der Universität zu Köln, wendet sich der Funktion von Leitbildern für die Sozialisation männlicher Jugendlicher zu. Genauer schaut er dabei auf die Repräsentation von Kriminalität in ausgewählten Spielfilmen der 1930er Jahre und auf die öffentliche Diskussion, von der sie begleitet waren. In den 1930er Jahren bewegt sich zu weiten Teilen auch der Beitrag von Christina Jarvis, Kulturwissenschaftlerin an der State University New York in Fredonia. Jarvis zeigt, wie schon während des New Deal eine Akzentuierung militarisierter Körperlichkeit und Männlichkeit einsetzte, die in die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung während des Zweiten Weltkriegs hineinführte. Der Beitrag ist in wesentlichen Teilen ihrem Buch über „The Male Body at War“ entnommen. (Jarvis 2004) Damit wären wir in den Nachkriegsjahren angelangt und wieder in einer Zeit, die von veritablen Krisenstimmungen geprägt sein sollte. Die Figur der Männlichkeitskrise greift der Historiker James Gilbert von der University of Maryland explizit auf. Gilbert weist in seinem Beitrag über die Beobachtungen des Soziologen David Riesman darauf hin, dass die vermeintliche Krise verweich- und verweiblichter Vorstadtmänner der 1950er Jahre womöglich mehr das Ergebnis eines intellektuellen Diskurses denn einer breit empfundenen männlichen Verunsicherung gewesen sei. Der Beitrag Anke Ortlepps vom Deutschen Historischen Institut in Washington, DC, bestätigt Gilberts These insoweit, als dass sie durchaus selbstbewusste männliche Flugreisende präsentiert, für die eine solche technisch avancierte Form der Mobilität nicht zuletzt ein Zeichen ihrer geschlechtlichen und auch „rassischen“ Überlegenheit war. Dabei führt uns Ortlepp auch die sexuellen Konnotationen des Luftverkehrs vor Augen, wie sie aus den frühen Werbekampagnen der Airlines sprechen. Sexualität ist das zentrale Thema der beiden dann folgenden Kapitel von John Howard und Robert Dean. Howard, Historiker am King’s College in London, formuliert ein Plädoyer für eine queere Geschichte, die die künstliche Dichotomisierung von homosexuellen und heterosexuellen Lebens- und Liebesformen aufbricht. Zudem zeigt er, dass queere Geschichte entgegen des dominanten historischen Narratives nicht immer Stadtgeschichte sein muss, indem er Sexualitätsge23

JÜRGEN MARTSCHUKAT UND OLAF STIEGLITZ

schichte aus dem äußerst ländlichen Mississippi der Nachkriegsdekaden erzählt. Die enge Verbindung von Sexualitäts- und Politikgeschichte führt Robert Dean vor, Historiker an der Eastern Washington University. Auch Dean diskutiert die Krisenszenarien der Nachkriegsdekaden, in denen sich die Furcht vor kommunistischer Bedrohung und die Sorge vor homosexueller Unterwanderung gegenseitig hochschaukelten. Er zeigt schließlich, wie sich der Erfolg und der Mythos John F. Kennedys nicht zuletzt dadurch erklären lassen, dass JFK aggressiv erfolgreiche Politik und offensiv männliche Heterosexualität miteinander verband. Offensiv propagierte, explizit heterosexuelle Männlichkeit ist auch das Thema von Simon Wendts Beitrag. Wendt, Historiker an der Universität Heidelberg, beschreibt den Konnex von Männlichkeit und Gewalt in der afroamerikanischen Geschichte, die als ein Streben nach „manhood rights“ gelesen werden kann. Den Fokus legt er dabei auf die Bürgerrechtsbewegung und deren Radikalisierung in den 1960er Jahren. Bis in die 1980er und 1990er Jahre und damit zu einer neuerlichen – oder immer noch anhaltenden? – „Krise“ der Männlichkeit führt uns abschließend die Kulturwissenschaftlerin Eva Boesenberg von der Humboldt Universität in Berlin. Boesenberg zeigt, inwieweit wirtschaftlicher Erfolg nach wie vor als Männersache erscheint und wie ökonomischer Misserfolg vor allem in Zeiten boomender Börsen als männliches Scheitern gedeutet wurde – mit allen entsprechenden Konnotationen. Eva Boesenbergs Beitrag rundet die Betrachtungen des Bandes insofern ab, als dass er Aspekten nachgeht, um die auch das erste Kapitel Anne Lombards kreiste, nämlich dem Verhältnis von Männlichkeit und wirtschaftlichem Erfolg. Schließlich definierte sich auch der koloniale Vater im Wesentlichen dadurch, dass er in der Lage war, für den Unterhalt der Seinen Sorge zu tragen. Zugleich aber könnten die Männlichkeitsentwürfe der provinziellen Patriarchen, die uns Lombard vorführt, und der urbanen Börsianer der New Economy, die uns Boesenberg zeigt, kaum unterschiedlicher sein. Das Zusammengreifen von Kontinuität und Veränderung amerikanischer Männlichkeitsentwürfe über die gut drei Jahrhunderte hinweg, die zwischen den Beiträgen Lombards und Boesenbergs liegen, kann kaum pointierter gefasst werden. Zugleich, und darauf soll zum Ende dieser Einleitung nochmals verwiesen werden, ist nicht nur der behandelte Zeitraum dieses Bandes sehr groß, sondern auch das Spektrum der Themen. Auf einem Fundament (selbst-)kritscher Konzeptionalisierung gehen die insgesamt achtzehn inhaltlichen Kapitel nicht nur dem Wechselspiel zwischen Männern und Frauen sowie Männlichkeiten und Weiblichkeiten nach, sondern auch dem Verhältnis von Männlichkeit, Männern und Arbeit, Bildung, Expansion, Familie, Film, Gewalt, Kleidung, Körperlichkeit, Krieg, Kriminalität, 24

MÄNNER UND MÄNNLICHKEITEN IN DER GESCHICHTE NORDAMERIKAS

Krise, Literatur, Militär, Mobilität, Nation, Ordnung, Politik, Rassismus, Reisen, Sexualität, Sozialisation, Sport, Technik, Wirtschaft und Wissenschaft.

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„Add Men and Stir?“ Männlichkeiten in geschlechterhistorischer Lehre und Forschung BRUCE DORSEY

I. Im Frühjahr 1994 entwickelte ich am History Department der Universität von Kalifornien in Santa Cruz eine Unterrichtseinheit zum Thema „Männlichkeit in der Amerikanischen Geschichte“; dies war, soweit ich weiß, der erste Kurs dieser Art in den Vereinigten Staaten. Obschon es zu dieser Zeit eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte von Männlichkeit gab, hatte ich verschiedene Hindernisse zu überwinden, bevor der Kurs zustande kam. Ironischerweise erhielt ich von meinen Freunden und Kollegen ähnliche Kommentare, wie sie seinerzeit auch die Wegbereiterinnen der Frauengeschichte zu hören bekamen: „Damit kann man ein ganzes Semester bestreiten?“, fragte man mich erstaunt. Doch zu meinen Problemen bei der Gestaltung gehörten weder ein Mangel an interessanten Themen noch eine unzureichende Anzahl an guten Texten. Im Gegenteil, gerade die Planungsphase meines Kurses fiel mit einer wahren Flut von Veröffentlichungen zusammen, und die Geschichte der Männlichkeit war in den Fokus der historischen Zunft geraten. E. Anthony Rotundos Buch American Manhood und Robert Griswolds Fatherhood in America waren einige Monate vorher publiziert worden, und George Chaunceys Gay New York sollte einige Monate später erscheinen. Wegweisende Aufsätze von Gail Bederman, Kevin Mumford, Martha Hodes und Patricia Cline Cohen waren gleichfalls im vorange27

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gangenen Jahr veröffentlicht worden. (Rotundo 1993; Griswold 1993; Bederman 1989; Bederman 1992; Mumford 1992; Hodes 1993; Cohen 1992) Ich selbst präsentierte meine eigene Forschung zu Männlichkeitsentwürfen innerhalb der amerikanischen Reformbewegungen vor dem Bürgerkrieg auf der Jahrestagung der Organization of American Historians in Atlanta – in einer von insgesamt vier verschiedenen Sektionen, die sich bei dieser Gelegenheit mit der Geschichte der Männlichkeit in den USA auseinandersetzten. Eine solche Dichte an Tagungsbeiträgen zu diesem Komplex hatte es bis dahin auf einer solch großen Konferenz noch nicht gegeben, ein Zeichen dafür, dass die Geschichte der Männlichkeit als eine eigene Kategorie unter den amerikanischen Historikerinnen und Historikern en vogue war. Während es also ausreichend gutes Material für meinen Kurs gab, lag das grundlegende Problem vielmehr darin, dass sich diese neue Literatur zumeist in sehr engen Bahnen bewegte, vor allem im Bezug auf ihren Zeitrahmen. Ihr Schwerpunkt lag eindeutig auf dem 19. Jahrhundert sowie insbesondere an der Wende zum 20. Jahrhundert. Ein Grund hierfür war sicher John Highams Essay The Reorientation of American Culture in the 1890s, der eine ganze Generation von Kulturhistorikern und -historikerinnen beeinflusst hatte und ihre Aufmerksamkeit auf die auffälligen Bemühungen weißer Männer der Mittelklasse gelenkt hatte, ihre so wahrgenommene hinfällige Männlichkeit wieder herstellen zu wollen. Die frühe Forschung zur Geschichte amerikanischer Männlichkeit entfernte sich jedenfalls nur selten weit von dieser so bedeutsamen Dekade. (Higham 1965; zu den Pionierarbeiten der späten 1970er und frühen 1980er Jahre zählen etwa Filene 1975; Pleck/Pleck 1980; Salvatore 1982; Macleod 1983. Die Vielzahl der Veröffentlichungen zwischen 1986 und 1991 konzentrierte sich weiterhin auf die Jahrhundertwende: Gorn 1986; Cashin 1986; Clinton/Silber 1986; Carnes 1989; Carnes/ Griffin 1990; Baron 1991; Roediger 1991; Adams 1990; Ownby 1990; Duberman 1991) Durch diesen Umstand sah ich mich gezwungen, meine Lehrveranstaltung auf den Zeitraum zwischen der Amerikanischen Revolution und 1920 zu beschränken, also auf ein langes 19. Jahrhundert plus einige wenige Ausblicke hinein in das Zwanzigste. Nachdem ich diesen Kurs zum wiederholten Male gegeben hatte, diesmal am Swarthmore College in Pennsylvania, publizierte ich den Seminarplan 1996 zusammen mit kurzen Erläuterungen in Radical History Review. (Dorsey 1996) Während ich das Seminar entwickelte und begann, selbst über Männer in der Geschichte der USA zu schreiben, realisierte ich eine Reihe von Wahlmöglichkeiten in Bezug auf den konzeptionellen Rahmen, in dem ich mich historiografisch bewegen konnte. Mein ursprüngliches 28

„ADD MEN AND STIR?“

Anliegen war simpel: Ich wollte alles lesen und über alles nachdenken, was bislang aus historischer Perspektive zu Männern und Männlichkeit in Amerika geschrieben worden war. Doch mir wurde schnell bewusst, dass pädagogische und politische Aspekte gleichfalls von hoher Bedeutung bei meinen Überlegungen waren. Was war das überhaupt für ein Forschungsfeld, dessen Entstehung ich da verfolgte? Welche Bedeutung hatten bestimmte Begriffe in diesem Feld, und welchen Namen sollte ich meiner Forschungsrichtung geben: „Men’s History“? Wie sollte ich das mit meiner bisherigen Forschung und nicht zuletzt mit meinem pädagogischen Engagement in der Frauengeschichte verbinden, der ich mich seit meiner Zeit als graduate student verschrieben hatte? Wäre es ausreichend, wenn ich einfach den mir vertrauten Rahmen der Frauengeschichte nähme, Männer sprichwörtlich hinzu gösse und schließlich umrührte? Der vorliegende Band zur Geschichte von Männlichkeiten in den USA gibt mir die Gelegenheit, über meine Tätigkeit in Lehre und Forschung in diesem Feld nachzudenken. Ich möchte sie nutzen und einige Herausforderungen ansprechen, die sich ergeben, wenn wir versuchen, eine Analyse von Männlichkeiten in eine komplexe Geschlechtergeschichte zu integrieren. Genau dies ist mein Anliegen, seit ich zu diesen Aspekten unterrichte und vor allem seit ich meine Forschung zur Reformbewegung der Jahrzehnte vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg konzeptionalisierte: Eine umfassende Geschlechtergeschichte zu entwickeln, welche die Kategorie Geschlecht in all ihren komplexen Wirkungsweisen für Frauen und Männer in vergangenen Epochen analysiert. (Dorsey 2002) Dass dabei ein simples Vorgehen nach dem Rezept „add men and stir“ nicht ausreichen kann, sollte selbstevident sein. Doch leider erreichen viele der Arbeiten, die heute als „Men’s History“ daher kommen, nicht viel mehr als das, und oft fehlt es nach wie vor an kritischer Auseinandersetzung mit eben jenen pädagogischen und analytischen Vorannahmen, die bereits für meine Lehrveranstaltung und ihre Einordnung in eine umfassende Geschlechtergeschichte bedeutsam waren. Ich möchte dies im Folgenden deutlich machen. Dabei werde ich zunächst meine eigenen, konkreten Lehrerfahrungen schildern, danach die Entwicklung historischer Männlichkeitsforschung vor dem Hintergrund der Frauengeschichte diskutieren, um schließlich die innovative und gestalterische Kraft der Geschlechtergeschichte insgesamt auszuleuchten. Zum Abschluss meines Beitrags werde ich dann einige Vorschläge formulieren, wie sich die historische Forschung jenseits einer einfachen „Men’s History“ zu einer tatsächlich in ihrer ganzen Breite gedachten Geschlechtergeschichte entwickeln kann.

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II. Zu Beginn der 1970er Jahre realisierten Frauenhistorikerinnen, dass ihre Ansätze und Methoden grundlegende Annahmen in Frage stellten, auf denen die zumeist allein aus Handlungen und Erfahrungen von Männern zusammengestellten Überblicksdarstellungen zur amerikanischen Geschichte basierten. Dies galt vor allem im Hinblick auf die Periodisierung der US-Geschichte sowie auf etablierte Erklärungs- und Entwicklungsparadigma. Es war nun nicht mehr länger ausreichend, die „vergessenen“ Frauen schlicht in die bestehenden Interpretationsrahmen etwa von traditioneller Politikgeschichte oder von intellectual history hinzuzufügen, diese mit Frauen und ihren Erfahrungen „zu komplettieren“. Zu diesem Zeitpunkt sprach irgend jemand irgendwo die Ansicht aus, dass es nun nicht mehr genüge, Frauen zum historischen „Brei“ hinzuzufügen, umzurühren und dabei zu hoffen, die traditionellen historiografischen Narrative würden sich schon ändern.1 Feministische Historikerinnen insistierten vorausschauend darauf, dass es notwendig sein werde, alle Felder der Historiografie gänzlich neu zu organisieren und ihre Inhalte anders zu konzeptionalisieren. Die Periodisierung der US-Geschichte, so argumentierten sie beispielsweise, würde maßgeblich anders aussehen, wenn sie nicht mehr allein aus Perspektive des universal gedachten männlichen Subjekts heraus hergeleitet würde. Wie Ann Gordon, Mari Jo Buhle, and Nancy Dye im Jahre 1976 feststellten, „such a methodology implies not only a new history of women, but also a new history.“ (Gordon/Buhle/Dye 1976, 89; Scott 1986, 1054) So war es nicht erstaunlich, dass viele Frauenhistorikerinnen zu Beginn der 1990er Jahre verwundert auf den neuen Trend einer nun populär werdenden „Men’s History“ reagierten. Sie hatten allen Grund, einer historischen Forschung mit Skepsis zu begegnen, die nun wieder Männer und deren Erfahrungen in das Zentrum ihrer Bemühungen stellte – selbst wenn sie dabei vorgab, „Männer als Männer“, also als geschlechtlich codierte Wesen zu betrachten. Tatsächlich entstanden einige Arbeiten dieser frühen „Men’s History“ klar erkennbar aus dem Anliegen heraus, sich eine „usable past“ zu erschaffen, basierend auf dem Wissen darüber, wie Männer zu unterschiedlichen Zeiten sich selbst als Männer 1

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Selbst mit den heute zur Verfügung stehenden Suchmaschinen war es mir leider nicht möglich herauszufinden, wer genau diesen Ausspruch erstmals prägte. Doch ich wage die Behauptung, dass sich eine ganze Generation von FrauenhistorikerInnen an den Augenblick erinnern kann, an dem er oder sie ihn zum ersten Mal in einem Klassenzimmer ausgesprochen gehört hat und wie dies den Gedanken an die transformative Kraft der Geschlechtergeschichte stimulierte.

„ADD MEN AND STIR?“

verstanden oder auch missverstanden.2 Diese Historiker sahen ihre Aufgabe darin, ihre männlichen Geschlechtsgenossen zum Ende des 20. Jahrhunderts aufzuklären, von denen sie annahmen, sie hätten im Anschluss an die Neue Frauenbewegung ihren Halt verloren. Dies erklärt zum Teil das Aufkommen des „Krisen“-Paradigmas in der historischen Männlichkeitsforschung – diese erste Generation von „Männerhistorikern“ wandte sich der Krisenwahrnehmung der Jahrhundertwende zu, um eine Antwort auf ihre eigene, als prekär empfundene Situation knapp einhundert Jahre später zu bekommen. Aus diesen Gründen heraus bin ich mit dem Begriff „Men’s History“ unzufrieden und verwende ihn nur mit Anführungszeichen und für Forschungsarbeiten, die – aus Gründen, die ich gleich darlegen werde – besonders zu wünschen übrig lassen. Die meisten der „Männerhistoriker“ dieser ersten Phase zwischen Mitte der 1980er und Mitte der 1990er Jahre erwarteten nicht, dass sich ihre Forschungsrichtung in ein eigenständiges historiografisches Feld entwickeln würde. Einige von ihnen stolperten schlicht über die Kategorie Männlichkeit, weil sich die von ihnen untersuchten Akteure einer solch maskulin aufgeladenen Sprache bedient hatten, dass es beim besten Willen nicht zu übersehen war. Mark Carnes (selbst einer dieser Pioniere) beschrieb diese erste Gruppe praktizierender „Männerhistoriker“ so: „Without intending to study gender, they realize they have happened upon it. Before they can return to their usual academic pursuits, they must come to terms with [… the] glaring hypermasculine rhetoric [they discovered in their documents].“ Zugleich planten andere Historiker schon ihre Abgesänge an die „Men’s History“, die sie bereits in einer nicht so fernen Zukunft schlicht in der Geschlechtergeschichte aufgehen sahen. (Carnes 1998, xii; Cott 1990) Doch die „Men’s History“ zeigt keine Anzeichen, einfach wieder zu verschwinden. Noch immer nimmt die Anzahl von Dissertationen und Aufsätze, die sich mit historischen Männlichkeiten befassen, jährlich zu. Eine Suchabfrage in der historischen Datenbank America: History & Life, einem verlässlichen Index zu Publikationen im Bereich der American Studies, ergab, dass im Jahr 2000 mehr als doppelt so viele Dissertationen und Zeitschriftenbeiträge zum Thema Männlichkeiten in den USA erschienen sind wie noch 1993.3 Heute trifft man auf jeder bedeu2

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Diese Suche nach einer Geschichte mit unmittelbarem Nutzen für die gegenwärtige „Angst“ der Männer vor den Femistinnen wird am lautesten wohl von Michael Kimmel vertreten, wenn er argumentiert, „[that] the sources of the current confusion, defensiveness, and malaise among American men lie deep in our nation’s past.“ Kimmel 1996, S. 2. Die dort zur Verfügung gestellten Angaben basieren auf der Anzahl aller Artikel und Dissertationen, die unter den Suchbegriffen „masculine“, „masculinity“, „manly“, „manliness“ und „manhood“ aufgeführt waren.

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tenden Fachtagung in den Vereinigten Staaten – etwa der American Historical Association, der Organization of American Historians oder auch der American Studies Association – auf eben so viele Beiträge zu Männern und Männlichkeiten wie zu Frauen und Weiblichkeiten. Inzwischen bildet „Masculinity“ in der Rubrik „Recent Scholarship“, in der die wichtige Fachzeitschrift Journal of American History Neuerscheinungen erfasst, gemeinsam mit „Femininity“ eine Kategorie „Gender“.4 Um nicht missverstanden zu werden: Ich bewerte diese immense Zunahme an historischen Arbeiten über Männer und Männlichkeiten nicht als eine uneingeschränkt positive Entwicklung. Denn die Quantität allein sagt noch nichts über die Qualität dieser Publikationen aus. Unter dem Label „Men’s History“ erscheinen zu viele Werke, die mit Geschlechtergeschichte nichts zu tun haben (zwei kürzlich erschienene Forschungsberichte widmen sich dem Verhältnis von „Men’s History“ und Gender History; Ditz 2000; Dierks 2002). Dies führt auch zu Frustration. Heute gehört die existierende Literatur zu Männern und Männlichkeiten zur Pflichtlektüre für graduate students im Fach Geschichte, und viele dieser Bücher und Aufsätze bieten ein allzu leicht zu kopierendes Muster, mit dem die Geschichtswissenschaft sich erneut dem exklusiven Studium männlicher Subjekte widmen kann. Und diese Gefahr ist umso größer in den Teilbereichen der Historiografie, die traditionell schon ihren Blick vornehmlich auf männliches Handeln und männliche Erfahrung richten, wie etwa Diplomatie-, Politik- oder Militärgeschichte. Hier werden oftmals althergebrachte Narrative re-legitimiert, indem man sie oberflächlich in die inzwischen reichlich vorhandenen Erklärungsmuster der „Männergeschichte“ einordnet. In vielen Fällen besteht dann die Geschlechtergeschichte aus nicht viel mehr, als dass man in den Quellen eine selbst-reflexive, männliche Sprache der Akteure entdeckt und einige Fußnoten mit der neuen kanonischen Literatur einfügt. So können, um nur ein Beispiel zu nennen, Historikerinnen und Historiker, die über die männlichen Begründer des amerikanischen Imperialismus arbeiten, einen Konferenzbeitrag zur Diplomatiegeschichte rasch in einen solchen zur Geschlechtergeschichte umwandeln, indem sie aufzeigen, wie häufig diese Personen Vokabeln wie „manly“ oder „manfully“ verwandten und dies schließlich unter Hinweis auf die sehr bekannten Arbeiten von E. Anthony Rotundo, Gail Bederman oder Kristin L.

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Für das Jahr 1993 lagen 23 Treffer vor, im Jahr 2000 waren es 54, dabei habe ich bereits andere Fächer wie z.B. Literaturwissenschaften oder Cultural Studies heraus gerechnet. Als die Herausgeber erstmals diese Kategorie in ihrem Index aufführten, hieß sie „Men’s History“.

„ADD MEN AND STIR?“

Hoganson belegen. Doch haben sie damit allein schon untersucht, wie Geschlechtlichkeit Imperialismus mitgeprägt hat oder wie dessen amerikanische Variante auf das Geschlechtersystem gewirkt hat? Ist durch die Geschlechteranalyse eine „neue“ Geschichte des amerikanischen Empire entstanden oder hat die „Männergeschichte“ nur zu einer neuen, modischeren Verpackung konventioneller Geschichtsschreibung geführt?5 (Rotundo 1993; Bederman 1995; Hoganson 1998) In meinem Fall war es so, dass ich nicht zufällig auf das Thema Männlichkeit gestoßen bin, hatte ich doch ohnehin ein Faible für die Geschlechtergeschichte. Ich widmete mich schon länger dem Studium der Reformbewegung vor dem Bürgerkrieg und erkannte, dass die besten Texte zu diesem Thema seit beinahe zwei Jahrzehnten Frauen und mit ihnen Konzeptionen von Weiblichkeit als Schlüsselkategorien ihrer Analysen verwandten. Heute hat man beinahe vergessen, dass sich die historische Forschung zu diesem Themenkomplex bis in die 1970er Jahre hinein ausschließlich mit Männern und männlich dominierten Reformorganisationen beschäftigt hatte. Erst die Wegbereiterinnen der Frauengeschichte haben die Sichtbarkeit von Frauen in den Bewegungen herausgearbeitet und außerdem gezeigt, dass deren Bedeutung für die Dynamik der Reformbewegung mindestens so groß war, wie die ihrer männlichen Pendants. (Smith-Rosenberg 1971; Ryan 1981; Hewitt 1984; Lebsock 1984; Boylan 1984; Ginzberg 1990; Scott 1991) Es war mithin gar nicht mein Ziel, gender in meine Betrachtungen über Reformer „einzubauen“. Vielmehr war mir daran gelegen, die schon bestehenden Geschlechtergeschichten zur Temperenzbewegung, zur Armenfürsorge, zum Abolitionismus oder auch zum Missionswesen zu „erweitern“, sie voranzutreiben statt zurück zu nehmen. Es gab also ein seltsames Zusammenspiel zwischen der Entwicklung der Frauengeschichte einerseits und der neuen Literatur über Männlichkeit andererseits. Ich erinnere mich daran, wie oft ich hinsichtlich meines angekündigten Seminars gefragt wurde: „Wer belegt diesen Kurs?“, und bevor ich etwas erwidern konnte, gab die fragende Person die Antwort selbst: „Die meisten sind Frauen, richtig?“, oder auch: „Meist sind’s Männer, stimmt’s?“ Solche Annahmen basierten auf der Vorstellung, die Anfang der 1990er Jahre noch mit Geschlechtergeschichte verbunden wurden. Entweder, so dachten die einen, sei Geschlechtergeschichte synonym mit Frauengeschichte, also würden sich nur sehr wenige Männer dafür interessieren. Oder ein solcher Kurs böte, so die an5

Hier sei an Joan Scotts Aufforderung erinnert, Geschichtsschreibende sollten „the particular and contextually specific ways in which politics constructs gender and gender constructs politics“ untersuchen; Scott 1986, S. 1070.

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deren, ein Korrektiv zu Veranstaltungen über Frauen, Weiblichkeit und Frauengeschichte und sei also vor allem für Männer attraktiv und müsste feministische Frauen abschrecken. Tatsächlich wird mein Kurs solange ich ihn gebe stets von etwa gleich großen Gruppen von Männern und Frauen besucht. Auch schwule bzw. lesbische Studierende, obwohl in der Minderheit, belegen meinen Kurs in nicht unbedeutender Anzahl – aber in diesem Zusammenhang muss ich eingestehen, dass ich das Privileg genoss, die Veranstaltung an zwei der „most queer friendly“ Hochschulen der Vereinigten Staaten unterrichten zu dürfen. Dies führt mich zu einer ersten Überlegung, die ich aufgrund meiner Lehrerfahrung betonen möchte. Meine Studierenden bemerken schnell, dass der Kurs auf eine umfassende Betrachtung der Kategorie gender in der amerikanischen Geschichte angelegt ist. Gleich zu Beginn des Semesters betone ich die Einordnung des Seminarprogramms in das Feld der Geschlechtergeschichte, und dass die Veranstaltung keine „Männergeschichte“ bietet. Es geht weder um männliche Helden noch um gescheiterte Männer, so mache ich ihnen bewusst, sondern darum, Männer als geschlechtlich codierte Subjekte zu begreifen, und ich bemerke: „Versäumen wir es, Männer auf diese Weise zu analysieren, dann gehen wir fälschlicherweise davon aus, dass Männer und Männlichkeit die Norm sind und dass Frauen, aufgrund ihres Geschlechts, lediglich die Abweichung darstellen, die es zu untersuchen gilt.“ Dieser Kurs sei, so unterstreiche ich immer wieder, „part of an intellectual quest to engender all of American history.“ (Dorsey 1996, S. 19) Durch diese grundlegende Annahme, dass jede historische Untersuchung von geschlechterhistorischen Überlegungen profitieren kann, eröffnet sich die gesamte US-Geschichte der Betrachtung. Wir erforschen, wie männliche Identitäten, Rhetoriken, Konflikte und Repräsentationen einzigartige Wege zur Interpretation scheinbar bereits bekannter Themen eröffnen, Themen wie die Geschichte der Native Americans, des Westens, der Sklaverei und der afroamerikanischen Kultur, der Arbeitskämpfe, Kriege, Gewalt, Imperialismus oder Parteipolitik. Darüber hinaus nähern wir uns auf anderen Wegen den Inhalten solcher Geschichten an, die sich mit der Familie, Frauen und Sexualität auseinander gesetzt haben, wenn wir uns mit Jungen und männlichen Jugendlichen befassen, oder mit Ehe und Vaterschaft, oder mit dem männlichen Körper bei Bodybuilding und Sport, mit Themen wie Heterosexualität, Homosexualität oder auch Prostitution. Ich bitte meine Studierenden, Hausarbeiten zu Themen anzufertigen wie Duellen, zu Militärkultur, zu den Pfadfindern, zur protestantischen Betonung von Körperlichkeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert („muscular Christianity“), zu Männlichkeit in 34

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Stummfilmen, zu den so genannten „Zoot-Suit-Riots“ in Los Angeles während des Zweiten Weltkriegs, zu Antikommunismus oder auch zur Autokultur. Ferner verwende ich heterogene Quellentexte, unter anderen Benjamin Franklins Autobiography, Herman Melvilles The Confidence Man, das Buch The Narrative of Frederick Douglass, a Slave, T. S. Arthurs Ten Nights in a Bar-room, Horatio Algers Ragged Dick und Struggling Upward, Sutton Griggs Imperium in Imperio, Claude Hartlands The Story of a Life, Harold Frederics The Damnation of Theron Ware, Mickey Spillanes One Lonely Night, Jack Kerouacs On the Road und Anthony Swoffords Jarhead. Eine zweite Überlegung erscheint mir wichtig: Ich habe mich bewusst dazu entschieden, den Kurs von jeder Verbindung zur nichtakademischen „Männerbewegung“ zu trennen. Zu diesem Zweck mache ich meinen Studierenden ebenfalls gleich zu Beginn deutlich, dass männliche Selbstvergewisserung kein Bestandteil der Veranstaltung ist, dass wir keine Zeit darauf verwenden werden, über ihre eigene Männlichkeit oder starke Männerfiguren in ihren Leben zu diskutieren. Ich bin keineswegs generell ein Gegner dieser Bewegung.6 Ich verwende auch durchaus Quellen, die diese gegenwärtigen Trends in der amerikanischen Kultur aufnehmen und verarbeiten, etwa eine Werbung für Dewar’s Scotch, die ich erstmals an einer Bushaltestelle in Manhattan sah und die weiße Managertypen in mittleren Jahren bei einem Treffen im Wald darstellt, zusammen mit dem Satz: „Becoming a man doesn’t have to involve beating drums or hugging a tree.“ Doch verwende ich das Bild nicht dazu, über heutige Männergruppen zu reden, sondern als Aufhänger für eine Diskussion darüber, wie eng Alkoholkonsum und die Konstruktion von Männlichkeiten in den USA miteinander verknüpft waren und sind.7 Andererseits habe ich bislang nur selten wirklich erfahren, was Studierende dazu motiviert hat, meine Veranstaltung zu belegen. Am Ende meines ersten Semesters am Swarthmore College kam einmal ein Student zu mir und erzählte mir von seiner Herz zerreißenden Hoffnung, in meinem Kurs etwas darüber zu erfahren, warum sein Vater zu jeder Form von Intimität unfähig sei. Doch solche Momente bleiben rar, und sie waren nie Teil meines Seminarplans.

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Allerdings gestehe ich ein, sie mit einem Wortspiel veralbert zu haben, als ich den Titel von Robert Blys Buch Iron John mit Sam Keens Fire in the Belly vermischte und dabei „Fire in the John“ herauskam. Es sei noch einmal erwähnt, dass ich diesen Kurs an der Universität in Santa Cruz entwickelte, und wer ein wenig mit dem Ruf dieser Hochschule (der einzigen, an der man eine Promotion in Geschichte des Bewusstseins ablegen kann) vertraut ist, weiß vielleicht, warum ich jedes Abdriften in persönliche Geschichten zu vermeiden suchte.

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BRUCE DORSEY

Drittens war es mir von Beginn an wichtig, das in der Geschichte der Männlichkeit in den Vereinigten Staaten so verbreitete Krisenmodell als konzeptionellen Rahmen in Frage zu stellen. Dies erwies sich nicht immer als einfach, denn schließlich bewegte sich ein großer Teil der vorhandenen Forschung im ausgehenden 19. Jahrhundert und ging von der Annahme aus, dieser Zeitraum sei entscheidend für ein Verständnis amerikanischer Männlichkeit als krisenhaft. (Higham 1965; Dubbert 1980; Kimmel 1987) Diese Fixierung auf eine Männlichkeitskrise entstand durch die fälschliche Auffassung, Männlichkeit sei eine stabile, essenzielle Größe, die entweder bestärkt oder eben auch geschwächt werden könne. Dagegen hat die Geschlechtergeschichte seit langem eingewandt, dass Männlichkeit und Weiblichkeit, mithin Geschlecht, niemals als abgeschlossene, sondern als prozesshafte historische Konstruktionen zu verstehen sind, in denen Konflikte, Wandel und Aushandlungsprozesse Teile einer sich beständig verschiebenden Machtdynamik ausmachen. Als Historikerinnen und Historiker sollten wir ja ohnehin Wandel erwarten und auch, dass bestimmte soziale Gruppen sich gegen derlei Transformationen zur Wehr setzen, doch sollten wir immer skeptisch sein, wenn eine Gruppe von Menschen den Wandel innerhalb einer Generation als „Krise“ beschreibt. Dementsprechend behandeln wir das Modell von der „Männlichkeitskrise“ im Unterricht auch als ein Problem, dem wir uns kritisch zuwenden müssen, statt es als einen Analyserahmen unhinterfragt zu akzeptieren. Dieses Krisenmodell schränkt meiner Ansicht nach die konzeptionellen Möglichkeiten einer historischen Betrachtung von Männlichkeit ein und privilegiert eine spezifische Form von Männlichkeit dadurch, dass es sie im Zentrum ihres Narrativs plaziert. Tatsächlich macht der historische Ausgangspunkt in meiner Unterrichtseinheit einen deutlichen Unterschied aus. So beginne ich etwa mit Männlichkeitsentwürfen bei Native Americans und beleuchte allgemein, wie Geschlechtlichkeit in dieser Gruppe gedacht und gelebt wurde. Die Ergebnisse dieser Diskussionen bringe ich dann auch in späteren Sitzungen wieder ein, wenn wir uns chronologisch schon längst jenseits der Epoche der ersten Kulturkontakte und der Kolonisierung des Westens befinden. Es ist mein erklärtes Ziel, den hegemonialen, weißen Mann der Mittelklasse aus dem Zentrum des Narrativs zu nehmen. Dabei kann ich natürlich nicht der Forschung vorgreifen, sondern ich orientiere mich an ihrer Entwicklung. So habe ich etwa im letzten Jahr erstmals eine Sitzung zur Geschichte der Transsexualität eingebaut – zufällig in der Woche, als sich die enorme gesellschaftliche Aufregung um Christine Jorgensens Geschlechtsumwandlung zum fünfzigsten Mal jährte.

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III. So sahen meine bescheidenen Bemühungen aus, die Analysen in meinen Klassen auf ein Niveau zu heben, das jenseits der „Men’s History“ lag. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels möchte ich nun einige Vorschläge machen, welchen Leitlinien Historiker und Historikerinnen folgen können, um eine solche umfassende Geschlechtergeschichte anzustreben, in der gender tatsächlich zu einer transformativen Kategorie der Analyse wird. Zunächst möchte ich erläutern was ich meine, wenn ich im Folgenden von einer „umfassenden“ Geschichte rede.* Ich habe mir dieses Modell von den bedeutenden Frauenhistorikerinnen Gerda Lerner und Natalie Zemon Davis geborgt. Beide hatten sich in prophetischen Appellen in den späten 1970er Jahren für eine solche „umfassende Geschichte“ als nächsten logischen Schritt von einer reinen Frauengeschichte hin zu einer Geschlechtergeschichte ausgesprochen. Um es in Davis‘ oft zitierten Worten zu sagen: Geschichtsschreibende „should be interested in the history of both women and men,“ und das Studium von Frauen allein mache nicht mehr Sinn als eine Klassenanalyse, die sich ausschließlich mit Bauern befasst. Genau das hatte auch Lerner gemeint, wenn sie von einer „new universal history“ oder eben einer „holistic history“ sprach. (Zemon Davis 1975-76; Lerner 1979) Ich möchte das Wort „holistisch“ dabei keineswegs in einem Sinne verwenden, der es mit Ideen von Eurozentrismus oder Hierarchie koppelt (wie dies im deutschen Sprachgebrauch bisweilen der Fall ist).8 Genauso wenig meine ich „holistisch“ so, wie in New Age-Kreisen über Gesundheit und Harmonie in der Geschichte gedacht wird, und ich spreche mich auch nicht für eine „totale“ Geschichte aus, die jeden einzelnen noch so kleinen Aspekt menschlichen Lebens umfassen muss, um als echte Geschichte zu gelten. Was ich meine ist, dass wir mehr Geschlechtergeschichten brauchen, in denen Männer und Frauen, Männlichkeit und Weiblichkeit, gleich wichtige und integrierte Analysekategorien darstellen. Es ist ein Aufruf, Geschlechtergeschichte zu betreiben, und nicht Frauengeschichte oder Männergeschichte. Damit folge ich anderen, die gerade die Relationalität von Geschlecht betont haben.

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Anm. des Übersetzers: Bruce Dorsey benutzt im englischen Original den Begriff „holistic“. Ich möchte mich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Jahrestagung der Historiker und Historikerinnen in der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien 2004 in Tutzing bedanken, die mich auf dieses Verständnis des Wortes „holistisch“ aufmerksam gemacht haben.

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BRUCE DORSEY

Weiterhin möchte ich vorschlagen, dass wir die Relationalität von Geschlecht weit fassen. Einige Kolleginnen und Kollegen begnügen sich mit der Feststellung, dass Geschlecht eine relationale Kategorie ist, und sie meinen damit, dass man Weiblichkeit nicht ohne Männlichkeit und umgekehrt verstehen kann. Das ist natürlich eine wichtige Einsicht, und ich unterstreiche diesen Punkt auch in der Einleitung zu meinem Kurs: The meaning of manhood in America cannot be understood in a vacuum. Or, to state this more directly, we cannot comprehend manhood without examining the construction of an entire gender system. Men’s history is inseparable from the history of women; the two have been inextricably bound together in all of American history. Manhood and womanhood are dependant upon each other. (Dorsey 1996, S. 20)

Doch ich möchte ergänzen, dass es sogar um mehr geht. Man könnte es vielleicht besser so formulieren: Die Geschlechtergeschichte geht davon aus, dass Männlichkeit und Weiblichkeit nicht isoliert betrachtet werden können. Sie sind nicht nur ineinander verschränkt, sondern auch mit anderen sozialen Verhältnissen, Identitäten und Machtkonstellationen wie „Rasse“, Klasse, Ethnizität, Sexualität oder auch Nationalismus oder Kolonialismus. Eine umfassende Geschlechtergeschichte kommt nicht darum hin zu untersuchen, wie diese anderen Kategorien mit Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verwoben sind und in welcher Weise sie mit ihnen interagieren. (Parr 1995) So ist es keineswegs die erneute Beschäftigung mit dieser so oft als „Männerkrise“ beschrieben Epoche der Jahrhundertwende, die Gail Bedermans Buch Manliness and Civilization immer noch zum Maßstab einer solchen reich nuancierten Geschlechtergeschichte macht, wie ich sie gerade beschrieben habe. (Bederman 1995) Was diese Arbeit vor allem auszeichnet, ist, dass sie Geschlechtlichkeit und Männlichkeit niemals isoliert beleuchtet. Zwei ihrer vier Kapitel in einem Buch über Männlichkeit stellen Frauen in das Zentrum der Betrachtung, Ida B. Wells, eine Afroamerikanerin, und Charlotte Perkins Gilman, eine weiße Bürgerliche. Darüber hinaus ist es nicht allein Bedermans Anliegen, die hypermaskuline Rhetorik dieser Zeit, wie sie am deutlichsten in der Sprache Theodore Roosevelts aufscheint, zu verstehen, sondern auch nach dem Verhältnis von Geschlecht und Rassediskursen zu fragen. Dabei kann sie zeigen, wie sehr diese beiden miteinander verbundenen Diskurse wiederum mit grundsätzlichen Annahmen über den amerikanischen Imperialismus verknüpft waren. Im Zentrum von Bedermans herausragender Analyse steht Geschlechtlichkeit als wirklich relationale Kategorie, in all ihrer Komplexität und all ihren Widersprüchen. Ver38

„ADD MEN AND STIR?“

gleichen Sie einmal ihr Verständnis von Geschlecht zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit der Art und Weise, wie Michael Kimmel diese Zeit in seiner Überblicksdarstellung Manhood in America beschreibt, und Sie sehen die Unterschiede zwischen Geschlechtergeschichte und „Männergeschichte“. Als zweites möchte ich Historikerinnen und Historikern, die zu Männlichkeit in einem geschlechterhistorischen Rahmen forschen wollen, vorschlagen, dass sie weiße Männer aus dem Zentrum ihrer Erzählungen verbannen. Dies gilt umso mehr, wenn große Überblicke über die Geschlechtergeschichte angestrebt werden. Ich will dies nicht als Forderung verstanden wissen, überhaupt nicht mehr über weiße Männer zu schreiben, aber ich würde mir wünschen, dass häufiger und bewusster darüber nachgedacht wird, welche Subjekte in den Kern und welche folglich an die Ränder der Geschichte gerückt werden. Lassen Sie mich dies mit Hilfe meines Buches Reforming Men and Women illustrieren. Dort habe ich versucht, nicht nur eine übergreifende Sozial- und Kulturgeschichte der Reformbewegungen in den Städten des Nordens vor dem Bürgerkrieg zu schreiben, sondern darüber hinaus auch die besonderen sozialen Probleme in den Blick zu nehmen, die diese Bewegungen entstehen ließen und welche Bedeutung Geschlecht in einem umfassenden Sinne für sie hatte. Die Art und Weise, wie die Reformerinnen und Reformer die sozialen Probleme ihrer Zeit wahrnahmen und ihnen einen Sinn gaben, war durch einen geschlechtlich strukturierten Blick angeleitet; und aus diesem Grund konzeptionalisierten sie ihre Reformbemühungen auch als Versuche zur Wiederherstellung wahrhaft männlichen und weiblichen Verhaltens und echter Männlichkeit und Weiblichkeit. Der Titel meines Buchs ist also bewusst in doppelter Bedeutung gewählt. Sehen wir uns zum Beispiel die Antwort der Reformerinnen und Reformer auf die Sklaverei an. Den meisten dürfte bekannt sein, welch prominenten Einfluss Frauen in der Bewegung gegen die Sklaverei hatten, und auch welche Rolle diese Frauen in dem entstehenden Diskurs einnahmen, der die erste Frauenbewegung inspirierte. Also traf ich bewusst die Entschiedung, dieses Kapitel in meinem Buch mit einem afroamerikanischen Mann beginnen zu lassen – kein Abolitionist, sondern ein freier Schwarzer aus dem Norden, der als einer der ersten Unterstützer der Kolonisierungsbewegung nach Liberia segelte. Auf diese Weise konnte ich geschlechtlich codierte Konstruktion des Sklavereiproblems offenlegen, in dem Vorstellungen von race und gender umfassend miteinander gekoppelt waren. Ich argumentierte, dass Mitglieder der Kolonisierungsbewegung ihr Anliegen schon zu einer Zeit, bevor der Abolitionismus bedeutsam wurde, als einen Ausdruck männlichen Handelns 39

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dachten. Weiße Befürworter einer Kolonisierung Liberias bestätigten ihre eigene Männlichkeit durch ihren Vorschlag, den offen sexualisiert imaginierten afrikanischen Kontinent von schwarzen Männern besiedeln zu lassen, die ohnehin niemals echte Männer werden könnten, wenn sie nicht ihr Leben in Amerika aufgäben und nach Afrika gingen. Währenddessen verspürten afroamerikanische Männer Freiheit und ein damit verbundenes Gefühl von Mannsein durch solche Reisen, die manchmal nach Liberia führten, zu anderen Zeiten eben auch Emigration nach Norden oder Selbstemanzipation bedeuten konnten. Eine Geschlechtergeschichte, die nach den Antworten der Reformerbewegung auf die Sklavereifrage sucht, wäre nicht in meinem Sinne umfassend, wenn sie nicht auch die Kolonisierungsbemühungen, die schwarze Emigration sowie die abolitionistische Bewegung thematisieren würde. Auf diese Weise erweitert und verändert sich die so vertraute Geschichte über schwarze und weiße Frauen und ihre Rollen im Abolitionismus. Weil die Protagonisten der Kolonisierungsbewegung ihre Anstrengungen als männliches Unternehmen kennzeichneten, musste die prominente Stellung von Frauen im Abolitionismus sofort als radikal und sehr gefährlich für das Fortbestehen des Geschlechtersystems gesehen werden. Mein Vorgehen gestattete es mir auch, an bestimmten Punkten Afroamerikanerinnen in das Zentrum meiner Analysen über aktive Frauen im Abolitionismus zu stellen. Es war ihre Rolle bei der Entstehung einer Kritik an religiösen, „rassischen“ und geschlechtlichen Hierarchien, welche das Verständnis von „rassischer“ und sexueller Gleichheit ihrer weißen Mitstreiterinnen anleitete. (Dorsey 2002, 136-194) Es sind diese Prozesse einer beständigen Neujustierung der Perspektive, eines bewussten Positionswechsels zwischen Zentrum und Peripherie eines Diskurses, und schließlich die völlige Destabilisierung von Vorstellungen von so etwas wie einem Kern und Rändern überhaupt, die die fruchtbarsten Werkzeuge zu einer in meinem Sinne umfassenden Geschlechteranalyse bereitzustellen versprechen. Mein dritter Vorschlag ist, dass die Geschlechterforschung zu Männlichkeiten eine besondere Sensibilität für die komplexen und mächtigen Aspekte von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Geschlecht in der Geschichte entwickeln sollte. Es ist eine besondere Ironie der Konstruktion von Geschlecht, dass Männer und Frauen, und mit ihnen Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit, zur gleichen Zeit sehr sichtbar und trotzdem völlig unsichtbar auftreten. Dies gilt auch, um nochmals meine eigene Forschung anzusprechen, für die Phase der frühen Republik. Weiße Frauen wurden zu einem sehr realen wie sichtbaren Bestandteil des neuen, sich entwickelnden Systems von Lohnarbeit während der so genannten Market Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts, doch 40

„ADD MEN AND STIR?“

gleichzeitig definierte der dominante ökonomische Diskurs die Sphären von Produktion und Handel als gänzlich männlich und sorgte so dafür, dass diese Frauen völlig unsichtbar blieben. Zudem erhob man weiße Frauen zu dieser Zeit auffällig häufig in den Rang politischer Symbole – etwa als die Freiheit oder Columbia einerseits oder auch als Repräsentation „öffentlicher Gefahren“ wie Irrationalität, Prostitution oder Luxus andererseits, während man ihnen gleichzeitig bewusst die vollen Staatsbürgerrechte und die Teilhabe am politischen Leben verweigerte. Im Kontrast dazu blieben Männer zwar in den Feldern der Politik und der Wirtschaft offen sichtbar, doch blieb ihre geschlechtliche Codierung für sie selbst (wie für nachfolgende Historikerinnen und Historiker) seltsam unsichtbar. Um mich noch einmal selbst zu zitieren: This is perhaps what Joan Scott meant when she wrote „that ‚man‘ and ‚woman‘ are at once empty and overflowing categories.“ The historian’s challenge, then, lies in emptying the full vessels and filling the empty ones; that entails reading the silences as well as listening to the prominent voices that surrounded the construction of gender in American culture.9 (Dorsey 2002, S. 5; siehe auch Scott 1986, S. 1074)

IV. Wohin wird sich die Geschichte der Männlichkeiten in den Vereinigten Staaten in den nächsten zehn Jahren entwickeln? Eine einfache Antwort auf diese Frage zielt auf die Chronologie. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg werden ohne Zweifel den fruchtbarsten Boden für neue Forschung abgeben und damit die Dominanz der „Jahrhundertwenden-Krise“ ablösen. Ich habe bereits meinen Kurs in diese Richtung ausgeweitet. Eine Vielzahl von Themen wartet darauf, untersucht zu werden. Es gibt bislang keine wirkliche Überblicksdarstellung zu Männlichkeiten der Nachkriegszeit (Einen Anfang macht hier Gilbert 2005), und die Forschungsoptionen sind zahllos. McCarthyism und Antikommunismus, der Konformismus, wie er in der „Männer im grauen Flanell“-Metapher zum Ausdruck kommt, afroamerikanische Männlichkeit von der Civil Rights-Bewegung bis zu Black Power, Rock’n Roll, der Vietnamkrieg und die Counterculture, Väter und Söhne während des Baby Booms, die Schwulenbewegung vor und nach Stonewall – und gerade im Zusammenhang mit diesem letzten Punkt warten wir alle auf 9

Wie Judith Butler bemerkte, ist gender „a construction that regularly conceals its genesis.“ Butler 1988, S. 522; siehe auch Seidler 1989, S. 1-13; Riley 1988, S. 4.

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den zweiten Band von George Chaunceys Gay New York. Keines dieser Themen wurde bislang wirklich wissenschaftlich in ihren Wechselverhältnissen zu Männlichkeit untersucht (vgl. die Aufsätze in diesem Band von James Gilbert, Anke Ortlepp, Robert Dean und John Howard). Darüber hinaus kann in einer von mir als umfassend gedachten Geschlechtergeschichte keines dieser Themen isoliert behandelt werden. Eine Geschlechtergeschichte der Bürgerrechtsbewegung, zum Beispiel, muss nach dem Zusammenspiel von Vorstellungen weißer Männlichkeit im segregierten Süden mit denen schwarzer Christen und schwarzer Muslims ebenso fragen wie nach den Positionen schwarzer Frauen in Organisationen wie SNCC oder den Black Panthers (vgl. in diesem Band den Beitrag von Simon Wendt). Ich hoffe, dass diese Geschichtsschreibung etwas aus den Fehlern ihrer Vorgänger lernt und weniger „Men’s History“ produziert. Wenn dabei echte Geschlechtergeschichten entstehen würden, könnte das sogar meinen eigenen Kurs überflüssig machen. Damit würden dann endlich die Stimmen Recht bekommen, die dieser Art der Geschlechtergeschichte die Fähigkeit attestieren, unsere Palette an Erklärungsmustern weiter zu bereichern, den Radar der Historikerinnen und Historiker zu vergrößern und auf eine Art und Weise in die Vergangenheit zu schauen, die unser Blickfeld wesentlich verändert. (Kessler-Harris 2002; Parr 1995) Deutsche Übersetzung von Olaf Stieglitz

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„Crisis? What Crisis?“ Männlichkeit, Körper, Transdisziplinarität SABINE SIELKE

I. Der Titel meines Aufsatzes ist inspiriert durch einen Vortrag von Eva Boesenberg, der im Rahmen der Tagung „Masculinities in American History“ im Februar 2004 das Album Crisis? What Crisis? (1975) der englischen Popgruppe Supertramp in Erinnerung rief. (Supertramp 1975) Songs wie A Soapbox Opera und The Meaning ironisieren dort die verbreitete und sicherlich höchst „menschliche“ (oder doch eher „männliche“?) Vorliebe, Krisen persönlicher wie politischer Art zu verdrängen und unter den Teppich zu kehren. Das kann man von der viel beschworenen „Krise der Männlichkeit“ nicht sagen, und allein das sollte uns misstrauisch stimmen. Seit dem Aufkommen der Men’s Studies und dem Beginn der Debatten um die Konstruktion von Männlichkeit(en) und männlichen Körpern in den 1980er Jahren (vgl. Reichardt und Sielke 1998) haben verschiedene Bereiche der Wissenschaft, darunter auch die revisionistische (Kultur-)Geschichtsschreibung, wiederholt „Krisen der Männlichkeit“ postuliert. Dürfen wir uns über diese Verunsicherung der Mannsbilder nun freuen, oder ist eher Skepsis angesagt gegenüber einer Forschung, in der sich – what else is new? – alles um den Mann dreht? Warum bemüht man hier das Konzept der Krise, und welche Funktion hat dieser Schlüsselbegriff, dieses „Klischee der Moderne“ (Schäfer-Wünsche, unveröffentlichtes Manuskript) in Anbetracht der Tatsache, dass männliche Macht, grundsätzlich und global betrachtet, mitnichten auf dem Rückzug 43

SABINE SIELKE

ist? Von welchen Männern, welcher Männlichkeit ist da eigentlich die Rede? Und welche kulturelle Arbeit leistet die Debatte? Diese und ähnliche Fragen sind bereits vielfach gestellt worden. Ich will sie hier noch einmal aufgreifen, denn ihre Tragweite untermauert nicht nur die Bedeutung der Gender Studies und Männlichkeitsforschung. Sie eruiert gleichzeitig Potential und Grenzen transdisziplinärer Perspektiven, die diese Forschung insbesondere für die Kultur- und Geschichtswissenschaft eröffnet hat. Denn interessanterweise sind es stets signifikante Momente der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung – in der Geschichte der USA insbesondere die 1890er, die 1950er und die 1990er Jahre –, die als Momente eines gebrochenen Männerbildes und männlichen Selbstverständnisses identifiziert und problematisiert werden. Diese Tatsache macht nur allzu deutlich, dass der kulturelle Diskurs über Geschlechteridentitäten in Zeiten kultureller und ökonomischer Umbrüche und politischer Bewegung besonders proliferiert, gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche auf den Nebenschauplatz der Verhandlung von Geschlechteridentitäten verschiebt und somit auch dazu dient, deren eigentliche Ursachen zu verschleiern. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Ähnliches aber auch für die Diskurse der Gender Studies selbst zu gelten hat, die bisweilen mehr als Echo, denn als Analyse dieser historischen Diskurse fungieren. Die Rekonstruktion von Momenten des ökonomischen und nationalen Umbruchs einer Kultur als „Krise der Männlichkeit“ hat nicht selten zur Folge, dass die etablierte Zeitschiene geschichtlicher Chronologie eher bestätigt, denn revidiert wird. (Epstein 1995) Mehr noch ist sie gepaart mit einer Tendenz, historische Differenzen zu nivellieren. So kommt beispielsweise Michael S. Kimmel in seinem Essay The Contemporary Crisis of Masculinity in Historical Perspective (1987) zu dem Schluss, dass die drei Positionen, mit denen das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert der „Krise der Männlichkeit“ begegnete („antifeminist“, „promale“ und „profeminist“), auch am Ende des 20. Jahrhunderts – „in the wake of transformations of work, the closing of the imperial frontier, and new gains for women“ – als Methoden des Krisenmanagements dienten. (Kimmel 1987, S. 153) Die projizierte Historisierung der Krise mündet somit in einen ahistorischen Analogieschluss, der die Distanz zwischen zwei disparaten fin-de-siècle-Momenten verwischt. Die Frage, was diese Momente des Krisenmanagements unterscheidet, bleibt somit unbeantwortet. Auch dieser Frage will ich im Folgenden nachgehen. Sowohl in den 1890er als auch in den 1990er Jahren gilt das Aufbegehren weiblicher Subjekte gegen die Geschlechterkonvention als Ursache gesamtgesellschaftlicher Krisen. Die Kulturwissenschaft dagegen 44

„CRISIS? W HAT CRISIS?“

erinnert uns, dass die Krise der Männlichkeit nicht zu trennen ist von dem, was vielerorts als „crisis of representation“ umschrieben wird. Die transdisziplinären Debatten der Cultural und Gender Studies sind maßgeblich durch das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts abnehmende Vertrauen in die „Wahrhaftigkeit“ unserer Repräsentationsformen und Wissenssysteme und die so genannte „Krise des (männlichen, philosophischen) Subjekts“ bedingt. Das Postulat einer „Krise der Männlichkeit“, so meine These, geht einher mit einem impliziten oder expliziten Widerstand gegen die Einsichten der Dekonstruktion und der konstruktivistischen Kulturwissenschaften und beruft sich gleichzeitig gern auf Fiktionen von Männlichkeit. Diese Ambivalenz umspielt die brüchigen Schnittstellen im Verhältnis zwischen Kultur- und Geschichtswissenschaften. Mein Beitrag ist ein Versuch, die Zusammenhänge zwischen Krisendiskurs und transdisziplinären Dialogen transparenter zu machen und dabei auch die aktuellen Herausforderungen an eine historisch orientierte Kulturwissenschaft und eine kulturwissenschaftlich orientierte Geschichtswissenschaft zu beleuchten. Deshalb will ich hier keinen umfassenden Abriss der proliferierenden Rede über die „Krise der Männlichkeit“ liefern; (Einen Überblick über die Diskussion bietet unter anderem Pinar 2001, S. 321-332) vielmehr ist es mein Ziel, an einigen wenigen Texten zentrale Funktionen dieser Rhetorik darzulegen.

II.

„Mannsbilder“ und Männerkörper in der Krise: Formen und Funktionen eines postmodernen Diskurses

Glaubt man den vielen Publikationen zum Thema „Krise der Männlichkeit“, so befindet sich der Mann am Ende des 20. Jahrhunderts am Tiefpunkt seiner Geschichte, seiner Autorität und seines Selbstverständnisses. Was einstmals als wahre Männlichkeit galt, wird nun vielerorts schlicht als pathologischer Zustand projiziert, der ursächlich ist für die Verrohung der Gesellschaft and alles Unglück dieser Welt. Mehr noch: Die Spezies Mann scheint angesichts von Emanzipation und Eigenständigkeit der Frau und neuen Reproduktionstechnologien zunehmend redundant, wie Anthony Clare in seinem Buch On Men. Masculinity in Crisis (2000) wiederholt betont.1 Ähnlich deutlich formuliert es Warren 1

Bereits am Ende des ersten Kapitels (The Dying Phallus) auf S. 9 postuliert Clare: „[P]hallic man, authoritative, dominant assertive – man in control not merely of himself but of woman – is starting to die, and now the question is whether a new man will emerge phoenix-like in his place or whether man himself will become largely redundant.“

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Farrells Studie The Myth of Male Power. Why Men Are the Disposable Sex (1993). Doch nicht nur das: Die Männlichkeitskrise ist mitnichten ein Phänomen des späten 20. Jahrhunderts. Retrospektiv scheint sie immer da gewesen zu sein und stets an signifikanten Momenten der Geschichte bzw. Geschichtsschreibung zu kulminieren, nur wollte das bislang niemand zur Kenntnis nehmen. Nobody wants to be a man anymore? betitelt Elisabeth Krimmer ihren Aufsatz über Crossdressing im amerikanischen Film der 1990er Jahre und suggeriert durch ein Fragezeichen die Kritik an der Debatte, die sie in ihrem Unterkapitel Masculinity in Crisis zu systematisieren versucht. (Krimmer 2000, S. 30-32) Sie beobachtet dabei, dass Autoren unterschiedlichster Agenda und Gruppenzugehörigkeit wie Maurice Berger, R.W. Connell und Susan Faludi (Connell 1995; Berger, Wallis und Watson 1995; Faludi 1999) zwar unisono zu gleicher Einschätzung kommen – „[i]n almost all these texts“, so Krimmer, „masculinity emerges as a concept under siege“ (Krimmer 2000, S. 30) –, die Natur der Krise jedoch höchst unterschiedlich bewertet wird. So gilt einerseits der Feminismus als Ursache einer fundamentalen Verunsicherung, die durch soziale und ökonomische Entwicklungen weiter verschärft wurde und Männer der weißen Mehrheit motivierte, Minderheitenstatus zu reklamieren. Andererseits wird betont, dass nicht die privilegierte Machtposition des Mannes, sondern lediglich deren Legitimationen zur Disposition stünden. Die postulierte Krise korreliere mitnichten, so wendet auch James Heartfield in seinem Essay There is No Masculinity Crisis (2002) ein, mit einer Krise des „Patriarchats“, jener Machtstrukturen, die weiterhin vornehmlich von Männern besetzt sind und die die Autorität und den Besitzstand von Männern wahren: „[M]en continue to command disproportionate authority, wealth, and power.“ (Heartfield 2002, Abschnitt 10) Heartfields These, nicht Männlichkeit, sondern die Arbeiterklasse befinde sich in der Krise, mag jedoch nicht wirklich überzeugen. Denn postindustrielle Wirtschaftssysteme haben nicht nur der „working class“, sondern auch dem Mittelstand, der „professional managerial class“ zugesetzt. (Robinson 2000, S. 2) Vielmehr manifestiert sich hier das Begehren nach eben jener Authentizität, deren Verlust die postmoderne Kultur beklagt und die sie gleichzeitig beharrlich in Szene setzt. Und eben dies, so meine These, tut auch der Diskurs um die Krise der Männlichkeit. Während einige Autoren den Krisendiskurs mit der „Realität“ konterkarieren, sucht Susan Faludi in ihrem Buch Stiffed. The Betrayal of the American Man (1999) Analysen ökonomischen, politischen und kulturellen Wandels zu verknüpfen. Sie folgt damit Ansätzen der Gender Studies, die Interdependenzen von Repräsentation und Realem nachspü46

„CRISIS? W HAT CRISIS?“

ren, und sieht das Aufkommen neuer ökonomischer Strukturen („corporate structures“) und einer auf Glamour und Konsum basierenden „display culture“ als ursächlich für die „Krise der Männlichkeit“. In dieser ornamentalen Kultur, so Faludi, hätten Frauen die Nase vorn. (Krimmer 2000, S. 31) Männer dagegen würden Opfer zunehmender Misandrie (Nathanson und Young 2001) sowie eines traditionellen Männerbilds und „gesellschaftlichen Erfüllungsdruck[s]“. (Ribbat 2006) Heartfield betrachtet die Werte aggressiver Männerkulturen gar als Falle der Selbstzerstörung. (Heartfield 2002, Abschnitt 23) Männlicher Masochismus ist folglich zu einem zentralen Begriff der Debatte geworden. Die genannten Interpretationsmuster divergieren in ihren Analysen. Dennoch sind sie allesamt einem Krisendiskurs verpflichtet, der zwar anerkennt, dass Geschlecht keine essenzielle Wesenseigenschaft ist, die biologischen Körpern anhaftet, der aber gleichsam den Rahmen traditioneller Männlichkeit aufs Neue zu umreißen sucht. Dieser Widerspruch, so Robinson, ist charakteristisch für eine „postemanzipatorische“ Krisenrhetorik, die darauf abzielt, „to heal a wounded white masculinity, and thus to remasculinize America, but also to dwell in the space of crisis and thus to reimagine the dominant meanings of white masculinity.“ (Robinson 2000, S. 11) Einerseits mag der Krisendiskurs also der Nachhaltigkeit traditioneller Mannsbilder zugute kommen. Andererseits bestärkt die Rede von der Krise nicht allein das „Patriarchat“, sondern auch die „Macht der Bilder“ und Diskurse. Der „Hype“ um die Krise der Männlichkeit entpuppt sich daher, unabhängig von seiner ideologischen oder politischen Couleur, als Effekt der Krise der Repräsentation und als Zeichen des Widerstands gegen diese Krise. Und wie alle postmodernen Krisendiskurse dient er vornehmlich dem Erhalt eines Realitätsprinzips, das auf der steten „Wiederbelebung der Fiktion des Realen“ beruht. „Die Macht besitzt nur eine Waffe, nur eine Strategie“, schreibt Baudrillard in Agonie des Realen (1978), „um die Abkehr des Realen zu verhindern: sie injiziert überall und immer wieder neue Formen des Realen und Referentiale. Um uns von der Realität des Sozialen, von der Wichtigkeit der Ökonomie und von der Finalität der Produktion zu überzeugen, benutzt sie mit Vorliebe den Diskurs der Krise, aber ebenso – und warum nicht – den des Begehrens.“ (Baudrillard 1978, S. 25, S. 39) Die Diskurse der Krise und des Begehrens sind, wie im Folgenden evident wird, nicht voneinander zu trennen. Wollen wir die Funktionen der Rede von der Männlichkeitskrise beleuchten, bedarf es zunächst jedoch der Erinnerung an die Dekonstruktion unserer gängigen Vorstellungen von Mann und Welt, die vornehmlich durch die poststrukturalistische Sprachphilosophie und die Literatur- und Kulturwissenschaften geleistet wurde. 47

SABINE SIELKE

III.

Die Krise der Männlichkeit als Krise der Repräsentation

Für die von der Geschlechterforschung inspirierte Literatur- und Kulturwissenschaft ist die „Krise der Männlichkeit“ vornehmlich ein Phänomen, das sich in kulturellen Praktiken manifestiert, Praktiken, die ironische Überzeichnungen und andere Subversionen traditioneller Geschlechterverhältnisse inszenieren. Ihr Interesse ist es, Machtverhältnisse zu verändern und, wie Kaja Silverman in Male Subjectivity at the Margins (1992), bestimmte Formationen zu identifizieren, die sich etablierter männlicher Dominanzen und „phallischer Identität“ zugunsten einer feministischen oder libidinösen Politik widersetzen. Dabei gerät Männlichkeit für Silverman in genau dem Moment in die Krise, „at which the equation of the male sexual organ with the phallus could no longer be sustained.“ (Silverman 1992, S. 2) Für die Literatur- und Kulturwissenschaft ist die „Krise der Männlichkeit“ somit eng verknüpft mit einer Krise der Repräsentation und dem fundamentalen theoretischen Paradigmenwechsel, der Namen wie Jacques Derrida, Jacques Lacan und Michel Foucault, Julia Kristeva, Luce Irigaray und Hélène Cixous aufruft. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, an die Synchronizität zweier scheinbar divergenter kultureller Bewegungen zu erinnern. Denn genau in dem Moment, in dem der Feminismus zu Höchstform auflief, brachte die dekonstruktivistische Sprachphilosophie Derridas, die revisionistische Psychoanalyse Lacans und die Foucault’sche Diskursanalyse ein poststrukturalistisches Text-, Subjekt- und Weltverständnis hervor, das zunächst auf die Literatur- und Kulturwissenschaften, dann auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften wirkte und in der Folge auch den feministischen Begriff gender grundlegend veränderte. Bezeichnete gender zunächst eine primär biologisch bedingte, sexuelle und soziale Differenz, konzentriert sich die Geschlechterforschung der späten 1980er und 90er Jahre auf die kulturelle Verfasstheit oder Konstruktion dieser Differenz. Was Alice Schwarzer einst als „kleinen Unterschied mit großen Folgen“ beschrieben hat, entpuppte sich als ein systemisches Element kultureller Strukturen und Hierarchien. (Schwarzer 1975) Interessanterweise hat der Poststrukturalismus Begriffe wie Erfahrung, Wahrheit und Identität in genau dem Moment hinterfragt, an dem die Position der Differenz, des „Anderen“, von den Rändern der Kultur her als Modus eines neuen Identitätskonzepts reklamiert wurde. Entsprechend befanden es feministische Kritikerinnen als höchst suspekt, dass just dann, wenn Frauen und Minderheiten sich auf die Suche nach dem eigenen Selbst, dem eigenen Körper, der eigenen Identität begeben, diese Konzepte – und die Vorstellungen von Präsenz und Authentizität, 48

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die sie transportieren – unter Beschuss „männlicher“ Theorieschulen geraten. Mittlerweile jedoch besteht kein Zweifel mehr daran, dass Akte der (Re-)Konstruktion und Dekonstruktion nicht gegenläufige, sondern interdependente Prozesse sind. In der Tat hat die graduelle Dekonstruktion des männlichen, philosophischen Subjekts und die Einsicht in die Diskursivität von Identität und Geschichte den Weg frei gemacht für die Prominenz marginaler Gruppen, die sich als Subjekte in die Geschichte einschreiben. Es scheint mir wichtig, diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) hier nochmals hervorzuheben, verdeutlicht sie doch, dass die oftmals gestellte Diagnose, die Krise der Männlichkeit sei auf das Erstarken des Feminismus zurückzuführen, nur einen Teil der Geschichte beleuchtet. Vielmehr ist die Kulmination der Krise des männlichen, philosophischen Subjekts in den 1960 und 70er Jahren – einer Krise, die eng mit der Geschichte und dem Begriff der Moderne verbunden ist –, ein Motor und eine Möglichkeitsbedingung des Feminismus und anderer politischer Bewegungen dieser Zeit. Diese Krise, so wird hier gleichzeitig evident, schüttelt nicht Männlichkeit in aller Breite. Sie tangiert und dezentriert vor allem die Konstruktionen normativer, weißer Männlichkeit und bewirkt dabei gleichzeitig auch, dass diese männliche Norm, wie Robinson überzeugend argumentiert, sichtbar „markiert“ wird. „[I]nvisibility“, so unterstreicht die Autorin in ihrer Studie Marked Men. White Masculinity in Crisis (2000), „is a necessary condition for the perpetuation of white and male dominance, both in representation and in the realm of the social. […] white male power has benefited enormously from keeping whiteness and masculinity in the dark.“ (Robinson 2000, S. 1) Dieses Verdunkeln unterscheidet sich grundsätzlich von der systemisch-systematischen Marginalisierung sichtbar markierter „Minderheiten“: „To be unmarked means to be invisible – not in the sense of ‚hidden from history‘ but, rather, as the self-evident standard against which all differences are measured: hidden by history.“ (Robinson 2000, S. 1. Pinar z. B. spricht aber auch von der Krise schwarzer Männlichkeit; Pinar 2001, S. 854-855) Die Krise weißer Männlichkeit macht somit die Norm zur Differenzkategorie; ihre Diskurse sind folglich eine Form von Identitätspraxis, eine „identity politics of the dominant“, die teilhat am Kampf um kulturelle Vorherrschaft. (Robinson 2000, S. 3) Anders ausgedrückt: „Announcements of a crisis in white masculinity […] perform the cultural work of recentering white masculinity by decentering it.“ (Robinson 2000, S. 12) Das heißt aber auch, dass die zentrale Stellung von (weißer) Männlichkeit nunmehr neu erkämpft werden muss. Mit welchem Effekt bleibt im Folgenden zu untersuchen. 49

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IV.

Therapie statt Politik: Kulturelle Effekte des Krisendiskurses

Es ist vielleicht nicht verwunderlich, dass Subjekte, deren Position von jeher als prekär, peripher und instabil projiziert wurde, besser mit den Einsichten der poststrukturalistischen Theorie leben können – ja immer mit diesen Einsichten gelebt haben – als Subjekte, die sich stets im Zentrum unserer Lebensweltlichkeit lokalisieren. Ebenso wenig verwundert, dass der Begriff der „Krise der Männlichkeit“ insbesondere in therapeutischen Diskursen hoch gehandelt wird. Hier, wie in der Rede über die Umweltkrise, „liegt offenbar ein medizinischer Notfall vor“, und indem wir ihn ignorieren, scheinen wir uns unterlassener Hilfeleistung schuldig zu machen. (Bergthaller, unveröffentlichtes Manuskript; Bergthaller, im Druck) Denn dort ist der Krisendiskurs – „a language of pain and urgency to dwell on, manage and/or heal the threats to a normativity continuously under siege“ (Robinson 2000, S. 5) – gewissermaßen zu Hause, dort gelten Krisen, sind sie erst als solche erkannt, als signifikante Momente und entscheidende Wendungen im Drama von Selbstfindungsprozessen. Die Krise ist somit auch eine Form von „cultural currency“. Oder wie Robinson betont: „[T]here is much symbolic power to be reaped from the social and discursive position of subject-in-crisis.“ (Robinson 2000, S. 9) Entsprechend wird die „Krise der Männlichkeit“ vielerorts zum Ausgangspunkt, um über den Umgang mit etablierten „Mannsbildern“ nachzusinnen und Wege aus der Krise zu weisen. Nicht selten werden dabei, oft mit Rückgriff auf literarische Texte, tradierte Fiktionen und Narrative von Männlichkeit sowohl reanimiert als auch in Frage gestellt. In beiden Fällen bekommt man nicht selten den Eindruck, mit der Krise der Männlichkeit solle auch die Krise der Repräsentation überwunden werden. Welche Funktion, so wundert sich die Literaturwissenschaftlerin, können ausgerechnet literarische Texte dabei erfüllen – Texte, die Geschlecht beharrlich als Re-Präsentation zur Schau stellen? Der Griff in den Zitatenschatz der Weltliteratur ist eine beliebte und weit verbreitete Argumentationsstrategie, die Literatur zwar als eigene Form der Erkenntnis respektiert, ihr Wissen jedoch selten spezifiziert. Ganze Wissenschaftsbereiche, wie „Law and Literature“ beispielsweise, setzen auf das ethische Moment ästhetischer Texte und beweisen dabei seltener das Potential interdisziplinärer Arbeit, als dass sie deren Grenzen aufscheinen lassen. Interdisziplinarität, so führt Julie Stone Peters aus, bewege sich in einem „disziplinären Spiegelkabinett“. (Peters 2005, S. 448) In ihrer Analyse der transdisziplinären Perspektiven von Rechtund Literaturwissenschaften legt Peters in überzeugender Weise dar, wie 50

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das Bemühen, disziplinäre Grenzen zu überschreiten, nicht selten gepaart ist mit einer imaginären Projektion der Eigenheiten der jeweils anderen Disziplin: „Law seemed to the literary scholar longing for the political real, a sphere in which language really made things happen. Literature seemed, to the legal scholar longing for the critical-humanist real, a sphere in which language would stand outside the oppressive state apparatus, speaking truth to the law’s obfuscations and subterfuges“. (Peters 2005, S. 448) Somit zementiere interdisziplinäre Forschung nicht selten die Grenzen der Disziplinen, „caricaturing disciplinary difference through each discipline’s longing for something it imagined the other to possess“. (Peters 2005, S. 449) Eine ähnliche Funktion scheinen literarische Texte in nicht-literaturwissenschaftlichen Debatten um die „Krise der Männlichkeit“ einzunehmen. Nehmen wir beispielsweise Roger Horrocks Studie Masculinity in Crisis. Myths, Fantasies and Realities (1994), die im Titel den Krisendiskurs bereits zur Verteidigung des Realitätsprinzips heranzitiert und die der Literatur das letzte Wort einräumt. Während der Autor schlussfolgert, dass es im Interesse von Männern wie Frauen läge, das „‚Patriarchat‘ zu dekonstruieren – nicht theoretisch, sondern konkret“ – fällt es ihm schwer, sein Plädoyer zu konkretisieren. (Horrocks 1994, S. 185) Wen wundert’s? Die feministische Kritik ist längst von solchen Maximalforderungen abgerückt. Stattdessen beruft sich Horrock am Ende auf antike und amerikanische Literatur: „The Roman gladiators used to chant to the emperor: ‚We who are about to die salute thee!‘ Incomparable masculine gesture! – a blend of stoicism, masochism and bravado that Hemingway would have been proud of. But today we can coin new songs and new sayings – we refuse to die, and we refuse to salute our executioner!“ (Horrocks 1994, S. 185) Einerseits dient Hemingway hier wie vielerorts als Verfechter ungebrochener Männlichkeit – fälschlicherweise, hat der Autor doch höchst sensible Bilder männlicher Ängste und Krisen skizziert und Geschlecht deutlich als Zitation etablierter Diskurse und Stile, als Performativität vorgeführt. Andererseits rückt die – politisch marginale – Position des Pazifismus ins Zentrum. Der projizierte Weg aus der Krise gibt sich damit unverblümt als Utopie, genauer: als eine nostalgische (Re-)Vision der 1960er Jahre zu erkennen. Doch liegen die Dinge nicht immer so offen wie hier. Werfen wir einen genaueren Blick in Clares Studie On Men. Masculinity in Crisis, die in vieler Hinsicht repräsentativ ist für den auf Männer(körper) fixierten Krisendiskurs und, mehr noch, für eine grundsätzliche Tendenz öffentlicher Rede, die Wendy Brown als „steady slide of political into therapeutic discourse“ problematisiert. (Robinson 2000, S. 14) In den 51

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ersten Kapiteln seines Buchs wendet sich Clare dezidiert gegen sozialbiologistische Perspektiven, die Männlichkeit als physiologische Differenz und die Gewaltbereitschaft von Männern mit Verweis auf das YChromosom als „natürlich“ deklarieren. Wie diese Erklärungsmuster habe aber auch das Modell Mann selbst auf allen Ebenen seiner einstigen Funktionstüchtigkeit – im Bereich des Sozialen, der Produktion und der Reproduktion – ausgedient. Diesen „Tod des Phallus“ sieht der Autor jedoch nicht als Verlust, sondern als Chance, ungenutztes emotionales Potenzial des Mannes zu mobilisieren. In gewisser Weise vollzieht Clares Argumentation somit eine Umkehrung des Arguments, das Mary Wollstone-craft 1792 in The Vindication of the Rights of Women führte. Während Wollstonecraft insistierte, Frauen seien nicht ausschließlich emotionale, sondern rationale Wesen, präsentiert Clare den Mann als emotionales Geschöpf, das als Vater und Freund alles andere als redundant wäre. Robinson würde diese Diagnose unter das Schlagwort „Masculinity as Emotional Constipation“ fassen. „Men’s liberation discourse“, so erläutert die Autorin, participates in the move to substitute the personal and bodily for the public and social, as a feminist analysis of systematic gender oppression gives way to a description of the personal emotional and physical ills traceable to the burdens of patriarchy. Central to this substitution is a conceptualization of emotion as a psychophysical essence, rather than a socially conditioned and situated process. (Robinson 2000, S. 18)

Clares Buch hat damit Teil an einer Transformation des PolitischSozialen in das Persönlich-Private, die gleichzeitig auch eine Umkehr der feministischen Forderung darstellt, das Private als das Politische anzuerkennen. Ist die emotionale Verstopfung erst einmal behoben, so folgert Clare, erübrige sich auch die Forderung nach „neuen“ Männern: There is no need to create a ‚new man‘ in the image of woman. There is a need for the ‚old man‘ to re-emerge. Such a man employs his physical, intellectual and moral strength not to control others, but to liberate himself, not to dominate but to protect, not to worship achievement but to enlist it in the struggle to find meaning and fulfilment. ‚A man can’t go out the way he came in‘, says Willy Loman in Death of a Salesman, ‚a man has got to add up to something‘. And he still can. (Clare 2001, S. 221)

Von Arthur Miller inspiriert, unterstreicht Clares Schlusswort einerseits das wachsende Bewusstsein davon, dass „Manns- und Weibsbilder“ wie auch unser Verständnis von Wirklichkeit und Wahrheit maßgeblich 52

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durch ein kulturelles Imaginäres (Fluck 1997) produziert werden. Winfried Fluck umschreibt mit dem Begriff des kulturellen Imaginären alle Bedeutungen, die eine Kultur zu artikulieren sucht. Kulturelle Praktiken reproduzieren historisch gegebene Macht- und Produktionsverhältnisse und dominante Muster von Verwandtschaftsbeziehungen nicht, sondern manifestieren – ästhetisch wie inhaltlich – ein kulturelles Begehren, das diesen Gegebenheiten oftmals zuwider läuft oder über sie hinaus drängt. Die Bilder und Affekte, die dabei hervorgebracht werden, stimulieren ihrerseits die kulturelle Imagination und halten somit einen Prozess kultureller Symbolisierung in Gang, der unsere Vorstellungen von Realität beständig revidiert. Auch der Krisendiskurs, von dem hier die Rede ist, ist Teil dieses kulturellen Imaginären. Gleichzeitig wirkt Clares literarische Referenz wie Wasser auf die Mühlen jener Kritiker, für die aus der „Krise der Männlichkeit“ die Reanimation alter Modelle von Männlichkeit resultiert.2 Mit Millers Willy Loman scheinen hier nicht nur der einfache, aber redliche weiße Familienvater („low man“) und mit ihm der Glaube an den American Dream, sondern auch traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit wieder auferstanden. Doch ist dies tatsächlich eine Art Regression, wie Kritiker des Krisendiskurses beklagen würden? Wozu der argumentative Aufwand, nur um an diesen Punkt zurückzufallen? Evident ist, dass Clares „new ‚old man‘“ sich weniger von seiner Position als Beschützer (strength) und Sinnstifter (meaning), sondern vielmehr von gängigen Legitimationen und Auslegungen dieser Position verabschiedet – eine Bewegung, die hier, wie z.B. bei Horrocks und anderswo, als Mimikry feministischer Befreiung, als „men’s lib“ daher kommt. Diejenigen, die gegen die Entmachtung des Mannes rebellieren oder argumentieren, bedienen sich somit der „rhetorics of ‚liberation‘“ (Robinson 2000, S. 7) und politischer Strategien eben jener Bewegungen, gegen die sie vermeintlich zu Felde ziehen. Das heißt notwendigerweise auch, dass sie Effekte dieser Rhetorik perpetuieren, aber auch parodieren. Ein zentraler Effekt des US-amerikanischen High Feminism der 1970er Jahre war die Reproduktion stereotyper Fiktionen von Weiblichkeit. Die Definition von Geschlecht als sexuelle und soziale Differenz und die Privilegierung eines weiblichen „Anderen“ bewirkte eine Polarisierung, die gerade jene Geschlechterhierarchie verstärkte, die ursprünglich kritisiert und nivelliert werden sollte. Das Feiern weiblicher Differenz, so wurde in den 1980er Jahren kritisiert, sei in der Tendenz essenzialistisch und geriere Bilder vermeintlich authentischer Weiblichkeit. Eben diese Suche nach oder Projektion von „authentischer Männlich2

Robinson nennt Clyde Griffin und Gail Bederman, S. 199, Anmerkung 17.

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keit“ scheint eine zentrale Funktion kultureller Praxis (wie z.B. des exhibitionistischen Ausstellens verletzter Männerkörper) und der Debatte um die „Krise der Männlichkeit“ zu sein. Mit Rückgriff auf die Historiografie der feministischen Kritik könnte man diese Strategie – mit Gayatri Chakravorty Spivaks Begriff – aber auch großzügig als „strategischen Essenzialismus“ rehabilitieren. Das hieße folglich, dass der Krisendiskurs mitnichten als eine Form des „backlash“ gegen den Feminismus interpretiert werden kann. Vielmehr vermittelt er uns, dass die Idee des Normativen, der Mehrheit selbst unter Beschuss steht und der Befreiung bedarf, (Robinson 2000, S. 7) es gleichzeitig jedoch unmöglich ist, zu den Fiktionen von abstrakter Individualität und „unmarkedness“ zurückzukehren. (Robinson 2000, S. 9) Und das verdeutlichen nicht zuletzt auch die selbstreflexiven Anführungszeichen, mit denen Clare seinen „‚old man‘“ rahmt. Als Zeichen der Distanznahme und Ironie markieren sie eine zentrale Funktion der Rhetorik der Krise, die dazu dient, den Wandel unseres Verständnisses weißer Männlichkeit zu verhandeln. Sie signalisieren das Bewusstsein, dass nur Allzeit gestrige Mannsbilder heute noch ungebrochen als Macho daher kommen können. Es regiert die intelligente Selbstironie, die auch die Werbung für die „Sportschau“ zu Beginn der Bundesligasaison im Spätsommer 2005 beflügelte. „Endlich da“, konnten wir hören und lesen, „die Pille für den Mann!“

V.

„Reenter Willy Loman“ – oder: Die Rückkehr der Untoten

Doch zurück zu Willy Loman. Es ist bemerkenswert, dass ein Autor, den die Krise der Männlichkeit bewegt, Rückhalt sucht in einer literarischen Figur, die sich noch dazu als unverlässlicher Geschichtenerzähler „outet“, einer Figur, die allen und vor allem sich selbst etwas vormachte. „The gist of it is“, so gesteht Loman seinem Sohn Biff, als er nach 40 Jahren treuer Dienste von seinem Chef gefeuert wurde, „that I haven’t got a story left in my head.“ (Miller 1988, S. 77) Bemerkenswert ist auch, dass hier ein Theaterstück auf den Plan rückt. Die Zitation eines zentralen Texts des modernen amerikanischen Dramas unterstreicht die Performativität einer Rhetorik der Krise, die sich diskursiver Konventionen und rhetorischer Figuren bedient. „A crisis is ‚real‘“, so Robinson, „when its rhetorical strategies can be discerned and its effect charted; the reality of a particular crisis depends less on hard evidence of actual social trauma or do-or-die decision-making than on the power of language, of metaphors and images, to convincingly represent that sense of trauma 54

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and turning point“. (Robinson 2000, S. 10) Loman ist eine solche (rhetorische) Figur, die sich bestens in jene „Logik der Viktimisierung“ fügt, (Robinson 2000, S. 12) die derzeit die US-amerikanische Rede über Identitäten dominiert und längst globale Wirkkraft entfaltet hat. Loman sei ein – allzu durchsichtiges – Opfer des Kapitalismus, so monierten Millers frühe Kritiker und griffen dabei ebenso kurz wie diejenigen, die den Krisendiskurs mit dem Hinweis auf die realen Verhältnisse oder die Krise der Arbeiterklasse kontern. Die Rückkehr der Lomans scheint den Weg zu klaren, übersichtlichen Verhältnissen zu ebnen. Retrospektiv wirkt Millers Protagonist ebenso „authentisch“ wie der Kontext, dem er entstammt: die USA zur Zeit der wirtschaftlichen Depression der 1930er Jahre. Als Antiheld eines Dramas, das landläufig unter dem Label „social realism“ verschlagwortet wird, mutiert Loman bei Clare zur historischen Figur, zum Repräsentanten einer Zeit ökonomischer Krisen, zum „(real) man in crisis“. Für den Autor Miller war Willy Loman ein tragischer Held, „agonized by his awareness of being in a false position, so constantly haunted by the hollowness of all he had placed his faith in, so aware, in short, that he must somehow be filled in his spirit or fly apart, that he staked his very life on the ultimate assertion.“ (Miller 1988, S. 114) Diese Interpretation manifestiert einen Glauben an die Existenz wahrer Werte, ähnlich wie die Behauptung, Loman könne der Realität nicht ins Auge blicken, die Existenz dieser Realität voraus setzen. Mit der Wiederkehr Lomans offenbart sich meines Erachtens also auch, dass der Diskurs um die Krise der Männlichkeit – und mit ihm jedweder Krisendiskurs – den Prämissen der Moderne und ihrer Suche nach Ganzheit, Identität, Authentizität und Wahrheit verhaftet bleibt. Diese Prämissen wollen uns weiß machen, dass sich hinter dem schönen Schein der Oberflächen, der Inszenierung (von Männlichkeit) die Wirklichkeit (und der wahre Mann) offenbare. Alle Behauptungen, Männlichkeit sei in der Krise, beschwören jenen Glauben an Essenzialismen und ähnliche Untote, den uns Dekonstruktion und Poststrukturalismus nehmen wollten. Und während die Differenz von Penis und Phallus, auf die Clare insistiert, den kollektiven Glauben an deren Identität und die Identität von Zeichen und Bezeichnetem in den Wind schlägt – ein Glaube, der, wie Kaja Silverman ausführt, zentral ist für den Erhalt der dominanten Fiktion von „Realität“ (Silverman 1992, S. 2, S. 65) –, so kehrt dieser Glaube mit Willy Loman wieder. Wo er die Distanz zwischen kultureller Repräsentation und Realem verwischt, legt der aktuelle Diskurs zur „Krise der Männlichkeit“ und seine Vorliebe für die „Lomans“ seinen Finger somit auch tief in eine „Wunde“ transdisziplinärer Kulturwissenschaft: die postulierte, aber weiterhin nebulöse Interdependenz zwischen den in der kulturellen Praxis proji55

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zierten Männerbildern und den kulturellen Ideologien einerseits und den materiellen Körpern und Kapitalverhältnissen andererseits. Somit werfen Anleihen bei Literatur oder Film gleichzeitig auch die Frage nach dem komplexen Verhältnis von Repräsentation und Realem wieder auf, deren Implikationen ich an Clares Schlusswort noch etwas weiter verfolgen möchte. Warum ausgerechnet Loman? Und welchen Weg soll er uns weisen? Zuallererst wohl verkörpert Loman jenen „mainstream“, der in den Debatten um den Multikulturalismus ins kulturelle Abseits geraten ist: „The ‚mainstream‘“, so definiert Robinson, […] is a site of struggle over the meaning of normativity, in political and cultural terms. In political terms, the ‚Middle American‘ or ordinary American is the hero of a vast array of American narratives, pursued by the right and left, apprehended paradoxically as both uniquely individual and representatively American. The Middle American is the great unmarked, the phantom figure against whom differences become visible – but […] himself deeply invested in coming to visibility. The Middle American is the American individual, and his fortunes parallel the fortunes of dominant conceptualizations of American identity. (Robinson 2000, S. 14-15)

Anders formuliert ist der Mainstream-Amerikaner und mit ihm das, was als amerikanische Identität umschrieben wird, selbst eine Fiktion, ein Produkt kultureller Imagination oder präziser: die Verbildlichung einer Ideologie, die es erlaubt, eine Außenseiterposition zu skizzieren, die lange Zeit niemand reklamieren wollte. Clares Abgesang unterstreicht somit auch, dass der „repräsentative (mainstream) man“ in genau jenem Moment globale Signifikanz erhält, in dem die Mittelschicht mehr und mehr erodiert. Das gleiche gilt für die Wiederbelebung des „family man“ und des Familienromans zu einer Zeit, in der neue Formen familiärer Affiliation – wie z. B. die so genannte Patchwork-Familie – dominieren. (Ickstadt 2004, S. 11-26) Loman dagegen fand (noch) kein symbolisches Kapital in seiner Position als „subject-in-crisis“. Er wollte das Ende der Krise auch nicht hinauszögern, wie der kontinuierliche Krisendiskurs es tut. „The rhetorical power of ‚crisis‘ depends“, so erläutert Robinson, „on a sense of prolonged tension; the announcements of crisis are inseparable from the crisis itself.“ (Robinson 2000, S. 11) Willy Loman dagegen setzt seiner Krise höchstselbst einen Schlusspunkt. Betrachten wir also kurz den narrativen Kontext, dem Clare sein Schlusswort entnommen hat. Willy Loman ist an einem Punkt seines Lebens angelangt, an dem die Diskrepanz zwischen seinem phantasmatisch-idealisierten Selbstbild und seiner tatsächlichen Position als 56

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erfolgloser und mittlerweile anstellungsloser Handelsreisender und Vater „nichtsnutziger“ Söhne ihm den Boden unter den Füssen wegzieht und ihn gleichzeitig zu einer höchst symbolischen Übersprungshandlung motiviert. Wie aus heiterem Himmel verspürt er das Verlangen, sich „fortzupflanzen“: „I’ve got to get some seeds, right away. Nothing’s planted. I don’t have a thing in the ground.“ (Miller 1988, S. 88) Während Ehefrau Linda und Sohn Biff sich über die Verantwortung der Söhne gegenüber dem Vater in den Haaren liegen, beackert der Vater den Garten. ([…] He is carrying a flashlight, a hoe, and a handful of seed packets. He raps the top of the hoe sharply to fix it firmly, and then moves to the left, measuring off the distance with his foot. He holds the flashlight to look at the seed packets, reading off the instructions. He is in the blue of night.) WILLY: Carrots ... quarter-inch apart. Rows … one-foot rows. (He measures it off.) One foot. (He puts down a package and measures off.) Beets. (He puts down another package and measures again.). Lettuce. (He reads the package, puts it down.) One foot – (He breaks off as Ben appears at the right and moves slowly down to him.) What a proposition, ts, ts. Terrific, terrific. ‚Cause she’s suffered, Ben, the woman has suffered. You understand me? A man can’t get out the way, he came in, Ben, a man has got to add up to something. You can’t, you can’t – (Ben [Willy’s brother] moves toward him as though to interrupt.) You gotta consider, now. Don’t answer so quick. Remember, it’s a guaranteed twenty-thousand-dollar proposition. Now look, Ben, I want you to go through the ins and outs of this thing with me. I’ve got nobody to talk to, and the woman has suffered, you hear me? (Miller 1988, S. 91)

Offensichtlich geistig umnachtet scheint Loman sich den essentiellen Werten des Lebens zuzuwenden und seiner Entfremdung durch körperliche erdverbundene Arbeit entgegentreten zu wollen. Sein Denken und Handeln jedoch bleibt weiter den Gesetzen der Gewinnmaximierung und der Bilanzierungspolitik unterworfen („measure“, „add up“). Clares Reminiszenz an Lomans nächtliche Gartenarbeit führt uns somit ungewollt vor Augen, warum die „Krise der Männlichkeit“ nicht notwendigerweise eine Krise etablierter Machtstrukturen ist. Die Ideale und Werte, die Loman hier hoch hält, stützen und erhalten diese Strukturen, Strukturen, die eben auch – und vielleicht vor allem – von „kleinen Männern“ (und Frauen) gestärkt werden, die nicht von ihnen profitieren, sondern durch sie demontiert werden. Loman ist gar zum Selbstmord bereit, um seiner Frau das Vermächtnis einer Lebensversicherung hinterlassen zu können.

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Sowohl das emphatische Handeln gegen die eigenen Interessen als auch die suizidale Prädisposition des Helden verbildlichen jenen männlichen Masochismus, der in der Diskussion um die „Krise der Männlichkeit“ immer wieder problematisiert wird. Der Kontext der von Clare lediglich selektiv und verzerrend zitierten, höchst ironischen Passage aus Millers Text verschafft uns gleichzeitig aber auch einen überraschenden Einblick in die Funktion des Diskurses um die „Krise der Männlichkeit“ und die Reanimation von Mainstream-Männlichkeit: Sie entpuppt sich für bestimmte Männer als eine Form des Selbstmords oder, weniger dramatisch formuliert, als fortgesetzte Idealisierung einer Position ökonomischer Machtlosigkeit. Wie problematisch all dies ist, wird uns zumeist nur bewusst, wenn es sich bei diesen Machtlosen um sichtbar „Andere“ handelt. Oder anders formuliert: Wird die weiße männliche Norm sichtbar „markiert“, wird sie gleichzeitig ethnisch überformt. Noch anders formuliert: Wie Loman ist die viel beschworene Mainstream-Männlichkeit ein Untoter, der im Diskurs der Krise um die Männlichkeit wieder aufersteht und uns verfolgt. „[W]hy do the dead return?“, fragt Slavoj Zizek in seinem Essay „The Real and Its Vicissitudes“ (1992): The answer offered by Lacan is the same as the one found in popular culture: because they were not properly buried, i.e. because something went wrong with their obsequities. The return of the dead is a sign of a disturbance in the symbolic rite, in the process of symbolization; the dead return as collectors of some unpaid symbolic dead. […] The return of the living dead, then, materializes a certain symbolic debt persisting beyond physical expiration. (Žižek 1992, S. 23)

Was aber ist diese Schuld? Vielleicht das fehlende Eingeständnis, dass die Freiheit mancher Männer der Unfreiheit anderer bedarf.

VI.

„Crisis? Whose Crisis?“ P l ä d o ye r f ü r e i n e K r i s e n r e s i s t e n z d e r Kultur- und Geschichtswissenschaften

Kürzlich offerierte uns Matthias Politycki mit seinem Essay Weißer Mann – was nun? (2005) ein entlarvendes Beispiel der Beschwörung des Realitätsprinzips und der Idealisierung von Machtlosigkeit. (Politycki 2005, S. 39-40) Der Autor beklagt den „Untergang des weißen Mannes“ und engt unser Blickfeld dabei einerseits auf eine europäische Spielart der Männlichkeitskrise ein, während er andererseits jedoch die 58

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Kampfzone ausweitet und die Rede über die „Krise des weißen Mannes“ als Teil einer Globalisierungsdebatte lokalisiert, die gleichzeitig gegen die Einsichten der Postmoderne rebelliert. Welterfahren und weit gereist stellt Politycki dem „Simulationsterror der Meinungsbarometer und Talkshows“, deren „Standardmoralkeulen fast jedes authentische Sprechen unmöglich machen“, die Rede von Wirklichkeit, „vitalem Leben“, vom „puren Kampf ums Überleben“, vom „Kraftüberschuss“ der Kubaner, (Politycki 2005, S. 39) vom „gewaltigen Willen […] ausgemergelte[r] Kerle“ und von „ausdauernde[r] Beharrlichkeit“ gegenüber. (Politycki 2005, S. 40) Es wäre leicht, Polityckis Pamphlet als Dokument der „midlife crisis“ eines 50jährigen deutschen Schriftstellers abzutun. Ich erwähne es dennoch aus folgenden Gründen. Zum einen kontextualisiert der Essay die Rede über die „Krise der Männlichkeit“ als Teil einer Rhetorik, die die Globalisierung als Schreckgespenst einsetzt, um weiter Grenzen zu ziehen, Gewinne zu maximieren und Arbeitnehmern und allen, die es werden wollen, Bescheidenheit zu lehren. Zum anderen exponiert Politycki die Ohnmacht und „Hilflosigkeit“ des weißen Mannes nicht als Effekt weiblicher Emanzipation, sondern als Resultat eines ungeklärten Verhältnisses zu „anderen“ Männern. (Sedgwick 1985 und 1990) Gleichzeitig ertönen in Polityckis dumpf antiamerikanistischer Argumentation Echos einer Rhetorik, die charakteristisch ist für einen Teil der Historiografie nach 9/11 (Martschukat 2004) und die selbst wiederum an US-amerikanische Diskurse an der Wende zum 20. Jahrhundert erinnert, Diskurse, die schwarze Männlichkeit als hypersexualisiert projizieren und Horrorszenarien der Übervölkerung durch dunkelhäutige Fremde entwerfen. (Sielke 2002; Stoddard 1981) Nur bleibt der „Andere“ für den Europäer, bedingt durch seine spezifische Kolonialgeschichte, ein Exot, der mehr Begehren als Ängste provoziert und dem man sich als „Reisender“ gerne nähert, der aber bitte in seinen Dritt- und Viertwelt-Ghettos zu verbleiben hat. Der Text entlarvt diese Rede vom „Untergang des weißen Mannes“ somit als europäische Kehrseite jener US-amerikanischen „Angst vor einem schwarzen Planeten“, (Public Enemy 1990; Awkward 1993) die auch Hurrikan Katrina im Spätsommer 2005 wieder ans Tageslicht gespült hat. Polityckis Essay scheint mir ferner stellvertretend für eine Tendenz in der öffentlichen Debatte über Männlichkeit, bei der die Differenz zwischen Metapher und Wirklichkeit verwischt, die Identität von Phallus und Penis wieder hergestellt und auf jedwede Anführungszeichen und Ironie verzichtet wird. Die Einsicht in die Selbstreflexivität der Diskurse, die uns Postmoderne und Aufklärung gelehrt haben, wird hier schlicht „vergessen“. Nirgendwo stellt der Autor seine reduktive Weltsicht, sein Klischee der Wirklichkeit – die Projektion eines überaufge59

SABINE SIELKE

klärten, repressiven Europa des weißen Mannes hier, einer authentischen, dunklen Welt der wahren Männer dort – auf den Prüfstand. Die Rede von der Krise des weißen Mannes befördert vielmehr die apokalyptische Weltsicht einer gescheiterten Aufklärung, die SciFi-Dystopie einer „Gewalt ohne Ende“ (Finger 2005, S. 43), die diese Gewalt gleichzeitig als einen Moment dieses Scheiterns legitimiert. Bemerkenswert ist auch, dass Politycki die fremden Männlichkeitsgesten als Rituale „einer ungebremst sich inszenierenden Virilität“ erkennt, das Wissen um die Performativität von Differenzparametern wie gender, class, race und ethnicity gleichzeitig in den Wind schlägt und den Ruf erschallen lässt nach Authentizität, nach der „Brutalität des vitalen Lebens“, „diese[r] ungebremste[n] Wildheit des Willens“. (Politycki 2005, S. 39) Paradoxerweise scheinen solche Inszenierungen von Männlichkeit genau jene „Sehnsucht nach festen Standpunkten“ (Politycki 2005, S. 40) zu befriedigen, deren Festigkeit sie beharrlich in Frage stellen. Denn die Distanz des Reisenden, der in sein Abendland zurückkehrt, erlaubt gleichzeitig die Befriedigung der Schaulust und die Unversehrtheit des eigenen Körpers: „Displaying wounded bodies materializes the crisis of white masculinity, makes it more real“, schreibt Robinson. (Robinson 2000, S. 9) Solche Rituale und Inszenierungen von Gewalt sind jedoch mitnichten Abbilder einer gewalttätigen oder gar urwüchsigen Gesellschaft, sondern (auch) Zeichen einer unter Beschuss geratenen männlichen Norm. Über „die Brutalität des vitalen Lebens“ anderer wird also die Krise dieser Anderen als eigene appropriiert, ohne dass der Betrachter riskiert, selbst Schaden zu nehmen. Vom eigenen „body politic“ jedoch lässt sich dieser Schaden nicht abwenden, trotz aller regionalen Krisenresistenz. Vom „Hochufer der Ostsee“ z.B., bemerkt Wolfgang Büscher, kann man ruhig zusehen, „wie die Leichen der Globalisierung vorübertreiben“. (Büscher 2005, S. 52) Wie Loman sind diese Leichen Untote, die uns verfolgen werden, um unsere „symbolische“ und materielle Schuld einzutreiben.3 Davon kann die Rede über die Krise der Männlichkeit, der Repräsentation, der Postmoderne, der Aufklärung etc. nur bedingt ablenken. Offensichtlich ist es nicht damit getan, auf die Diskursivität von Wirklichkeit, Geschichte und Geschlechteridentitäten zu pochen. Eine solche Beharrlichkeit, das zeigt die Analyse der Rede über die Krise der Männlichkeit, beflügelt vielmehr das Begehren nach (Projektionen) physischer Erfahrung und Authentizität. Und auch die Geschlechterfor3

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Entsprechend ist auch Jonathan Franzens The Corrections kein Roman über Mann und Kernfamilie in der Krise, sondern, wie Susanne Rohr überzeugend argumentiert, eine „novel of globalization“. Vgl. Rohr 2004, S. 91-105.

„CRISIS? W HAT CRISIS?“

schung selbst beklagt mittlerweile die Grenzen des Konstruktivismus, nicht zuletzt, weil die Kategorie gender und die Geschlechterforschung derzeit durch die neuen Biowissenschaften auf ganz neue Weise herausgefordert werden. Das betont ausgerechnet jene Historikerin, die maßgeblich dazu beigetragen hat, gender als eine Analysekategorie der Geschichtswissenschaften zu etablieren. (Scott 2001, S. 19-37) Die poststrukturalistische Prämisse, unsere Erfahrung der Welt sei stets durch Diskurse vermittelt, so argumentiert Joan W. Scott in „Millenial Fantasies. The Future of ‚Gender‘ in the 21st Century“, habe uns von der Natur und von den Körpern entfernt. Und während die Gender Studies der Performativität von Geschlechteridentitäten nachspürten, hätte man die materiellen Körper aus dem Blick verloren. (Scott 2001, S. 22) Die neuen Biowissenschaften, so Scott, zwingen uns, jene Körperlichkeit wieder wahrzunehmen, die sich nicht auf den Begriff der Konstruktion reduzieren ließe. Gleiches tut wohl auch die Rede von der „Krise der Männlichkeit“, die die Materialität der Körper und gesellschaftlichen Verhältnisse einklagt und uns somit auf den Boden vermeintlicher Tatsachen zurückbeordern will. Lässt sich diese Bewegung wiederum als ein Moment der Krise der Kultur- und Geschichtswissenschaften beschreiben? Es scheint ein implizites Anliegen revisionistischer Forschung, mit der „Krise der Männlichkeit“ auch die Krise von Disziplinen zu postulieren, deren Ziel es war und ist, den Interdependenzen von historisch realen und fiktiven Welten nachzuspüren. Die genaue Analyse des Krisendiskurs unterstreicht jedoch einmal mehr, dass Geschichts- und Kulturwissenschaften mehr verbindet als trennt. Vor allem verbindet sie die Herausforderung von Seiten jener – natur- wie sozial- und kulturwissenschaftlichen – Diskurse, die alte Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, Kultur und Natur, Diskurs und Materie neu markieren und materielle Differenzen dabei wieder verwischen wollen. Diese Herausforderung gilt es anzunehmen.

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2. V Ä T E R I N „E AR L Y A M E R I C A “

Vatersein und Männlichkeit im kolonialen Amerika ANNE S. LOMBARD

Lange waren das Erkenntnisinteresse und die Fragestellungen der Männlichkeitsgeschichte zu großen Teilen aus der feministischen Bewegung gespeist, und die meisten Arbeiten haben Fragen nach männlicher Macht, Autorität und Exklusion aufgeworfen. Historikerinnen und Historiker haben untersucht, wie Männlichkeit jeweils kulturell spezifisch definiert wurde und darüber mitentschied, wer über welches Maß an Macht verfügte und wer nicht. Sie haben deutlich gemacht, wie Männlichkeitskonzepte dazu beitrugen, Frauen von Macht abzukoppeln, aber auch politische Autorität zu begründen, militärische Aggression oder imperiale Herrschaft zu rechtfertigen und Konzepte rassischer Überlegenheit zu entwerfen. Dies alles sind äußerst wichtige Fragen, um die Verbindung zwischen der Geschichte der Männlichkeit einerseits und der Geschichte der politischen Institutionen, des Kriegs und der Imperien oder der sozialen Stratifizierung andererseits zu ergründen. Gleichwohl erscheinen diese Geschichten und deren Ergebnisse ein wenig schematisch, und sie implizieren, dass Männlichkeitskonzepte in den verschiedenen Kulturen einzig dem Einsatz in Machtkämpfen dienten. Unsere Erfahrungen als menschliche Wesen sagen uns allerdings, dass diese Gleichung zu simpel ist. Ohne Zweifel generiert Männlichkeit, wie auch immer sie in unterschiedlichen Kulturen definiert wird, geschlechtlich strukturiertes Selbstwertgefühl und Status, und das Begehren, als „maskulin“ zu gelten, verleitet Männer bisweilen dazu, aggressiv zu handeln und nach Dominanz über Frauen zu streben. Zugleich 65

ANNE S. LOMBARD

aber sind Konzepte des Mannseins auch eng mit Vorstellungen von moralischer Verantwortung, von Pflicht und Opfer, Loyalität und Freundschaft innerhalb einer Kultur verknüpft. Spürt man nun nach solchen Facetten kultureller Männlichkeitsentwürfe, so gelangt man zu anderen Ergebnissen als weite Teile der bisherigen Historiografie, etwa hinsichtlich der Verbindungen von Männlichkeit und religiöser Erfahrung oder sozialer und politischer Solidarität. Das Potenzial einer solchen Perspektive wird erkennbar, wenn man auf die engen Beziehungen zwischen einer Geschichte des Mannseins und der Anforderungen an die Vaterfigur in angloamerikanischen Gesellschaften des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts schaut. Für heutige US-Amerikaner ist kaum unmittelbar ersichtlich, dass Männlichkeit und Vaterschaft zusammen gehören. Die dominanten Repräsentationen moderner amerikanischer Männlichkeit, die vor allem in Hollywood geprägt werden, stellen Jugendlichkeit, Virilität, körperliche Stärke und Freiheit in den Vordergrund. Häuslichkeit reiht sich gewiss nicht in diesen Kanon männlicher Tugenden ein. Die Ikonen moderner Männlichkeit sind abenteuerlustige, mutige, individualistische Einzelgänger. Sie sind Cowboys, einsame Rebellen, Ordnungshüter oder Spione – und sie sind ledig. Frei von häuslichen Bindungen zu sein, gilt offenbar als sexy. Verheiratete Männer werden in Film und Fernsehen oft als weniger männlich und tendenziell lächerlich präsentiert, selten nur als heldenhaft. Väter werden oft als dümmlich, seltsam und erfolglos veralbert (man denke nur an die Väter in Mrs. Doubtfire, The Simpsons, Malcolm in the Middle oder American Dad). Wenn wir uns nun auf eine Zeitreise begeben und die englischen Kolonien in Nordamerika besuchen könnten, und wenn wir die Männer und Frauen dort fragen würden, welchen Typ Mann sie am meisten schätzten, dann würden sie uns eine ganz andere Art von Mann beschreiben: Die männliche Ikone dieser Gesellschaften war ein verheirateter Vater. (Wilson 1999; Lombard 2003) Ein verheirateter Vater war mächtig, er hatte den Respekt seiner Gattin und die Kontrolle über das Betragen seiner Kinder. Am besten bezeugte ein halbes Dutzend Kinder seine Virilität. Verantwortungsbewusst, produktiv und stabil erreichte er einen Grad wirtschaftlicher Unabhängigkeit, der die Ernährung seiner Familie sicherte, und bei wohlhabenden Männern auch die Freiheit von Schuld und Patronage. Als guter Vater gab ein Mann auch dann noch sein Bestes, um das Auskommen der Kinder zu sichern, wenn diese bereits erwachsen waren. Ganz bestimmt jedenfalls war dieser ideale Mann der Kolonialgesellschaften kein Junggeselle. Unverheiratete Männer waren alles andere als glamouröse Figuren. Ihre Unabhängigkeit von häusli-

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VATERSEIN UND MÄNNLICHKEIT

chen Verpflichtungen wurde belächelt, und sie galten als unproduktiv und unmännlich. (Vgl. Foster, erscheint demnächst, Kap. 1) Es gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, dass die Weltwahrnehmungen menschlicher Individuen historisch kontingent und von veränderlichen ökonomischen, sozialen, kulturellen, geografischen und anderen Kontexten geprägt sind. Daher bedarf es zumindest einer kurzen Beschreibung der angloamerikanischen Gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts und ihrer Wirkkräfte, um die kulturelle Prägung des damals virulenten Männlichkeitsideals zu verstehen. Diese Gesellschaften waren vormodern: agrarisch, vorindustriell und politisch dezentral. Das Wirtschaftsleben war regional unterschiedlich: In den Kolonien Neuenglands war Subsistenzwirtschaft vorherrschend, Familienfarmen produzierten bestenfalls geringe Überschüsse. In den so genannten Middle Colonies Pennsylvania und New Jersey versprach der fruchtbarere Boden den Farmern und ihren Familien einen höheren Profit. Im Hinterland Pennsylvanias und in New York wiederum dominierte die Subsistenzwirtschaft. Zudem lebte im Norden nur ein geringer Teil der Bevölkerung in den Hafenstädten, deren Wirtschaftsleben von Handel und Schifffahrt getragen war. Auch im Süden gab es unterschiedliche Gesellschafts- und Wirtschaftsformen: In den Küstenregionen war das Klima warm und feucht, und fruchtbarer Boden ermöglichte den gewinnbringenden Anbau von Gütern wie Tabak und Reis. Ab dem 18. Jahrhundert produzierten lokale Pflanzereliten diese Waren auf zunehmend großen Plantagen und durch die Arbeit von Sklavinnen und Sklaven. Ansonsten dominierten auch in weiten Teilen des Südens Familienfarmen mit höchstens einigen wenigen Sklaven. Meistens besaßen diese Farmer ihr eigenes Stück Land, obgleich vor allem im Hinterland des Südens und in New York auch Pachtverhältnisse nicht selten waren. Insgesamt aber lässt sich festhalten, dass der Großteil der Bevölkerung auf Familienfarmen tätig war, um das eigene Auskommen zu sichern und manchmal auch Überschüsse zu erwirtschaften. Besonders im Norden war die Bevölkerung vielfältig in ihrer Herkunft, aber vergleichsweise homogen in ihrem Glauben, denn die meisten Bewohner waren Reformierte. Im 18. Jahrhundert waren sie alle dem englischen Recht unterstellt, Land war die Hauptressource des Wohlstandes und vergleichsweise breit unter der weißen männlichen Bevölkerung verteilt. Folglich waren Klassenunterschiede im Vergleich zu den europäischen Gesellschaften dieser Tage weniger prononciert. Die Mehrheit der euroamerikanischen Männer des Nordens besaß im Alter von etwa dreißig Jahren kleinere Farmen, oder sie hatten zumindest eine realistische Aussicht darauf. Auch im Süden führten weiße Männer für gewöhnlich ihre eigenen landwirtschaftlichen Betriebe. 67

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Trotz dieser relativ breiten Verteilung von Eigentum in den Kolonien existierten freilich auch in der nordamerikanischen Gesellschaft deutliche Statusunterschiede. Erwachsene weiße Männer mit Eigentum hatten mehr Macht und Prestige, als der Rest der Bevölkerung, die ihnen untergeordnet und von ihnen abhängig war. Erst im 19. Jahrhundert sollte sich ein System der Lohnarbeit entfalten, und die meisten Menschen lebten bis dahin in patriarchalen Familienstrukturen, in denen ein männlicher Hauhaltsvorstand Ehefrau, Söhne, Töchter, Bedienstete, Lehrlinge und Sklaven dirigierte. Die sicherlich grundlegende Trennlinie hinsichtlich des sozialen Status war die zwischen Männern, die rechtlich zum Besitz von Eigentum befugt waren, und Frauen, die Eigentumsrechte verloren und sich juristisch einem Mann unterwarfen, wenn sie die Ehe schlossen. Ebenfalls subordiniert waren junge Männer, die (noch) keinen Grund und Boden besaßen. In Neuengland waren solche jungen Männer in der Regel der unmittelbaren Autorität ihrer Väter unterstellt, bis sie an die dreißig Jahre alt waren. Auf einer praktischen Ebene bedeutete dies, dass Väter die Entscheidungen ihrer Söhne hinsichtlich ihres Arbeitsund Geschäftslebens ebenso wie hinsichtlich ihres Liebeslebens und ihrer Eheschließung auch dann noch kontrollierten, wenn diese längst erwachsen waren. Ansonsten waren im Norden viele Männer bis mindestens zur Mitte ihres dritten Lebensjahrzehnts als Dienstleute gebunden, weshalb es ihnen rechtlich versagt war, zu heiraten und über ihr Einkommen zu verfügen. Auch in weiten Teilen des Südens blieben junge Männer lange von ihren Vätern abhängig, wenn diese Grund und Boden besaßen und also so genannte yeomen waren. Weiterhin darf nicht vergessen werden, dass über zwanzig Prozent der südlichen Bevölkerung (und auch ein geringer Anteil im Norden) versklavt waren und in ihrem gesamten Leben kein Recht auf Eigentum oder Eheschließung hatten. Die Allgegenwart sozialer Hierarchien prägte auch die Vorstellungen, die die jeweiligen Menschen über die natürlichen Eigenschaften von Männern und Frauen hatten. Letztlich war es für die Nordamerikaner der Kolonialzeit unumstritten, dass eine Gesellschaft hierarchisch strukturiert sein sollte. Hierarchien waren nicht zuletzt durch die Bibel gerechtfertigt: Gott habe die irdischen Wesen als dem Menschen unterworfen geschaffen, und der Mensch sei seinerseits Gott unterworfen. Analog hätten Beherrschte den Herrschenden zu folgen, Kinder den Eltern und Knechte den Herren. In den Augen der Zeitgenossen und innerhalb des gegebenen historischen Kontextes machten die biblischen Maximen Sinn, galten sie doch ganz einfach als Teil der natürlichen Ordnung. Ähnlich schien die Genesis im Verbund mit den bestehenden Geschlechterentwürfen die Überlegenheit des Mannes über die Frau zu beweisen. Es hieß, Frauen seien, so wie Eva, moralisch schwächer als 68

VATERSEIN UND MÄNNLICHKEIT

Männer und anfälliger für die Versuchung. Weibliche Vernunftfähigkeit sei deutlich geringer ausgeprägt als männliche, Frauen seien deutlicher ihren Leidenschaften unterworfen und neigten zu Kontrollverlusten. (Fletcher 1995, S. 30-98) Diese Vorstellungen implizierten, dass Frauen besser keine wichtigen Entscheidungen treffen sollten und Männer bräuchten, die sie führten. Aus ähnlichen Vorstellungen über die angeblich natürlichen Fähigkeiten jüngerer und ärmerer Männer ließen sich ähnliche Schlüsse ziehen, nämlich dass sie der Führung erwachsener, besitzender Männer bedurften. Vorstellungen des Mann- und des Frauseins trugen demnach in den nordamerikanischen Kolonialgesellschaften dazu bei, männliche Macht und Autorität über Frauen, Sklaven und junge Menschen zu legitimieren. Würden wir unseren Blick ausschließlich auf das Verhältnis von Männlichkeit und Macht richten, so könnten wir damit unsere Überlegungen abschließen. Ohne Zweifel trugen Vorstellungen einer natürlichen moralischen Überlegenheit erwachsener Männer dazu bei, Strukturen von Autorität und Unterordnung zu legitimieren. Doch das ist nicht alles. Warum war nicht etwa der Besitz von Eigentum oder das Erwachsensein, sondern insbesondere das Vatersein Quelle des Prestiges und der Anerkennung? Warum hatten verheiratete Männer einen höheren Status als diejenigen Männer, die ledig blieben? Warum war Vaterschaft ein Zeichen von Männlichkeit? Oder, um es anders zu fassen, warum bewunderten die Menschen Väter, anstatt sie zurückzuweisen, wo es doch ihre gesellschaftliche Hauptfunktion war, Macht über Abhängige auszuüben? Väter in Early America waren strenge und autoritäre Figuren, und nicht die jovialen Väter, die das 20. Jahrhundert idealisierte. Trotzdem sprachen und schrieben erwachsene amerikanische Männer im 17. und 18. Jahrhundert immer voller Ehrerbietung, Dank und Zuneigung von ihren Vätern, und nicht voller Verbitterung oder gar Zorn. Wie lassen sich solche, auf den ersten Blick überraschenden Reaktionen auf diese hartherzigen Väter erklären? Was verstanden die Amerikanerinnen und Amerikaner der Kolonialzeit unter Vaterschaft? Welche Erwartungen hatten sie? Wie präsentierten sich die kolonialen Väter im Vergleich zu ihren Zeitgenossen im frühneuzeitlichen Europa? Um diese Fragen zu beantworten, wollen wir zunächst auf die Bedeutung der Vaterschaft im Kontext zeitgenössischer Vorstellungen von Sexualität und Ehe schauen. In den vormodernen Gesellschaften war es deutlich wahrscheinlicher als heutzutage, dass Geschlechtsverkehr zwischen einem Mann und einer Frau zur Schwangerschaft führte. Nicht zuletzt deshalb wurden sexuelle Beziehungen von der Gemeinschaft genauestens überwacht. Wurde eine Frau Mutter eines unehelichen Kindes, so musste der Vater sie heiraten oder für die Unterstützung des Kindes 69

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Sorge tragen. Eine Ehe dauerte das ganze Leben, Scheidungen waren nur in den seltensten Fällen möglich. Letztlich war die Ehe der Rahmen, der Männern und Frauen die Möglichkeiten sexueller Freuden eröffnete, und gleichzeitig war sie eine Struktur, um die daraus hervorgehenden Sprösslinge zu unterstützen. Ein Mann hatte sogar die Pflicht zum Sex mit seiner Gattin, sobald die Ehe geschlossen war. In Neuengland war die Unfähigkeit des Mannes, den Geschlechtsakt zu vollziehen, einer der wenigen Scheidungsgründe. Gleichzeitig gingen die Menschen davon aus, dass eine Schwangerschaft mehr als nur ein Zeichen männlicher Zeugungsfähigkeit war, denn schließlich war die Annahme weit verbreitet, dass eine Frau nur dann empfangen könne, wenn sie während des Geschlechtsverkehrs einen Orgasmus hatte. Nichts schien also die Männlichkeit eines Mannes besser unter Beweis zu stellen, als wenn er Vater wurde. Andererseits verursachte das Vaterwerden bei einem Ehemann auch eine gewisse Unsicherheit. Schließlich wusste letztlich nur die Ehefrau ganz gewiss, ob ihr Gatte der Erzeuger des Kindes war – oder etwa ein anderer Mann. Folgen wir den Erkenntnissen von Anthropologen, so sind Männer in den meisten Gesellschaften hinsichtlich der sexuellen Treue ihrer Gattin verunsichert, da nur sie Vaterschaft genau zu bestimmen vermag. Entsprechend war es die größte Erniedrigung für Männer im kolonialen Amerika wie im frühneuzeitlichen Europa, betrogen zu werden und das Kind eines anderen Mannes aufziehen zu müssen. Die kolonialen Gemeinden bestraften weiblichen Ehebruch auch besonders streng. Ehebruch konnte zur Scheidung führen, zum Ende der materiellen Unterstützung und sogar den Tod als Strafe nach sich ziehen. Außerdem hatten Ehemänner weitreichende Befugnisse, um ihre Frauen zu kontrollieren. Dies war ebenfalls ein wichtiges Zeichen ihrer Männlichkeit, denn sie gaben einem Mann Mittel an die Hand, die eigene Ehre zu schützen. Hierbei ist besonders wichtig, dass Autorität über eine Frau etwas war, das unverheiratete Männer nicht für sich in Anspruch nehmen konnten. (Zu weiblicher Treue und männlicher Ehre vgl. Main 2001, S. 67-71) Im Europa der frühen Neuzeit hatte ein Ehegatte und Vater mindestens drei Arten rechtlicher und moralischer Verpflichtungen gegenüber seiner Familie. Er hatte sie zu versorgen, er hatte zärtlich zu sein, und er hatte ihr Verhalten zu überwachen. Auch amerikanische Väter der Kolonialzeit waren nicht nur die autoritären, kontrollierenden Patriarchen, wie sie von Historikern bislang beschrieben wurden: Männer, die ihrer Kinder nicht liebten und durch harsche Erziehungsmethoden terrorisierten. Tatsächlich verspürten sie eine starke Liebe zu ihren Kindern, wie andere Väter auch, doch kulturelle Erwartungen und ökonomische Rea70

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litäten veranlassten sie, die Sorge um das Wohl der Kinder anders zum Ausdruck zu bringen, als moderne Väter dies tun würden. (Einen Überblick über die Forschung bis zu den 1980er Jahren zu kolonialer Vaterschaft bietet Demos 1986) Familien im kolonialen Amerika waren vor allem ökonomisch motivierte Lebensverbände, ihre Bindung war zunächst weniger emotional. Wichtigste Pflicht eines Haushaltsvorstandes war entsprechend, für seine Ehefrau und Kinder zu sorgen. Sicherlich könnte das Gleiche auch von den Familien der Gegenwart behauptet werden, aber die kolonialen Familien waren sich ihres wirtschaftlichen Zusammenhalts bewusster als wir. Zentral für das männliche Selbstverständnis im England des 17. und 18. Jahrhunderts war das Ideal der so genannten competence, das vor allem wirtschaftliche Unabhängigkeit auf der Basis von Landbesitz meinte und einem Mann Selbstbewusstsein und Anerkennung gab. Competence bedeutete nicht nur, dass dieser Mann unabhängig von der mächtigen Elite leben konnte, sondern auch, dass er in der Lage war, seiner Familie ein Leben in materiellem Wohlstand und mit einem gewissen Komfort zu sichern. Männer ohne competence blieben zumeist unverheiratet, weil man davon ausging, dass sie nicht in der Lage sein würden, ihre Pflichten gegenüber Frau und Kindern zu erfüllen. (Zur competence siehe Vickers 1994) Kam ein Mann nicht dieser ersten aller Pflichten nach, erfuhr er harsche Kritik aus der Gemeinde. Fehlende Unterstützung durch ihren Gatten oder Vernachlässigung gehörten zu den wenigen anerkannten Scheidungsgründen, die eine Frau im Amerika des 18. Jahrhunderts anbringen konnte. So lange der Mann allerdings nicht gänzlich verschwand, war es wahrscheinlicher, dass die Gemeinde keine Scheidung befürwortete, sondern massiven sozialen Druck auf ihn ausübte, so dass er nach Hause zurückkehrte und seine Familie wieder unterstützte. (Cott 1976-77)1 Nachbarn erwarteten von einem Mann auch, dass er uneheliche Kinder unterstützte und die Mutter am besten heiratete. Besonders Gemeinden des Nordens setzten junge Männer unter Druck, schwangere Freundinnen zu heiraten und für ihre Nachkommenschaft zu sorgen. (Die bekannteste Geschichte ist sicher die von Jonathan Ballard, von der Ullrich 1990 berichtet) Man erwatete von einem Vater, dass er zärtlich und liebevoll mit seinen Kindern umging, solange diese klein waren. Was dies konkret bedeutete, war regional unterschiedlich. Die vorwiegend anglikanischen 1

Die Geschichtsschreibung zur Ehescheidung hat sich bislang auf Neuengland konzentriert, da in den anderen kolonialen Gesellschaften Nordamerikas Scheidung noch seltener war (die meisten der südlichen Kolonien sahen überhaupt keine Scheidungsmöglichkeiten vor).

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Eltern im Süden waren zurückhaltend und neigten zu relativ großer Toleranz gegenüber ihren Kindern, an die sie vor deren siebtem Lebensjahr kaum Ansprüche formulierten. Im Norden allerdings waren die häufig reformierten und evangelikalen Eltern deutlich angespannter.2 Durch den Glauben an einen übermächtigen Herrgott, der das Seelenheil nur einer kleinen Gruppe Auserwählter gewährte, konnten reformierte Protestanten als Eltern niemals gänzlich sicher sein, dass ihre Kinder errettet würden. Entsprechend unternahmen sie große Anstrengungen, damit diese die Gnade des Herren auch erkannten, wenn sich die Gelegenheit bot. De facto war der Einfluss des reformierten Protestantismus von größter Bedeutung für die Herausbildung eines typisch amerikanischen Stils der Vaterschaft. Reformiert protestantische Eltern machten sich größere Sorgen darüber, ob sie ihre Kinder verwöhnten, und sie strebten danach, ihnen die nötige Selbstdisziplin zu vermitteln, so dass die Kinder lernten, ihr korrumpierbares Wesen zu beherrschen. Auch wenn die Ausdrucksformen dieser Zuneigung uns heute manches Mal ein wenig harsch erscheinen mögen, so verdeutlichen all diese Sorgen doch, wie sehr die Eltern ihre Kinder liebten. Obwohl Kinder bis zum Alter von ungefähr sieben Jahren den größten Teil der Aufmerksamkeit von ihren Müttern erhielten, übernahmen Väter auch in diesen ersten Lebensjahren des Kindes viele Aufgaben des Elternseins. Die meisten Angloamerikaner hegten nämlich den Verdacht, dass Mütter ihre Söhne verwöhnten und diese dadurch verweiblichten. Protestantische Reformer befürchteten auch, dass eine zu mütterliche Erziehung die moralische Entwicklung eines Kindes behinderte. Sie drängten Väter, sich aktiv in die moralische und religiöse Erziehung der Kinder einzuschalten, weil das männlich moralische Empfinden dem weiblichen als überlegen galt. (Dies war auch der Grund, dass Väter, und nicht Mütter, im Scheidungsfall rechtlich für das Wohlergehen der Kinder Sorge zu tragen hatten; vgl. Grossberg 1985) Nach dem Ende der Stillzeit sorgten und kümmerten sich protestantische Väter mehr und mehr um ihre Kinder. So lange diese noch sehr jung waren, lag die väterliche Hauptaufgabe in der Anleitung zu Gebet und Disziplin. Die Puritaner und evangelikalen Protestanten Neuenglands versuchten möglichst früh im Leben der Kinder (ungefähr im Alter von zwei Jahren), 2

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Smith 1980 führt die elterliche Zurückhaltung im Süden auf den Einfluss der Sklaverei zurück. Die Frage, wie Erziehungspraktiken von religiösen Erfahrungsmustern im kolonialen Amerika geprägt waren, hat vor allem Greven 1977 aufgeworfen. Greven hat dabei drei verschiedene Formen religiösen Temperamentes zu drei Familientypen in Beziehung gesetzt. Dabei hat er nicht versucht, regionale Zuordnungen vorzunehmen – weder hinsichtlich der Religiosität noch der unterschiedlichen demografischen und ökonomischen Strukturen.

VATERSEIN UND MÄNNLICHKEIT

deren Willen zu brechen, damit sie lernten, gehorsam zu sein. Diese Disziplinierung, so hoffte man, würde die Kinder dazu befähigen, später im Leben ihren eigenen Willen dem Willen Gottes zu unterwerfen. Sobald die Kinder das vierte oder fünfte Lebensjahr erreicht hatten, begannen die reformierten protestantischen Väter mit einem Programm formaler religiöser Instruktion. Kinder mussten lernen zu beten, die Bibel zu lesen, ihre eigene Sündhaftigkeit ebenso zu verstehen wie die Notwendigkeit, das Heil durch Gottes Gnade anzustreben. Tagebücher von Vätern zeigen, wie ernst sie diese Aufgabe nahmen und wie intensiv die Gespräche waren, die Väter schon mit kleinen Kindern über ihre Seelen führten.3 Sie gingen davon aus, ihren Kindern die Vergänglichkeit des Lebens und die Ungewissheit ihres eigenen Heils vermitteln zu müssen, damit sie nicht selbstgefällig würden und es versäumten, sich auf das Geschenk der göttlichen Gnade vorzubereiten. Puritaner und evangelikale Protestanten suchten ständig nach Gelegenheiten, ihren Kindern die Gewissheit des Todes zu verdeutlichen und ihnen ebenso klar zu machen, dass sie sich auf ihr späteres Ableben vorbereiten mussten. (Hambrick-Stowe 1982, S. 219-221) So wissen wir, dass der puritanische Prediger Cotton Mather im späteren 17. Jahrhundert seiner sechsjährigen Tochter erläuterte, dass er bald sterben werde und sie täglich dafür beten müsse, dass sich Gott ihrer sündhaften Seele annehme und ihr ein reines Herz schenke. (Tatsächlich war Mather vollkommen gesund und lebte noch mehrere Jahrzehnte.)4 Jonathan Edwards, der berühmte evangelikale Prediger aus dem Massachusetts des 18. Jahrhunderts, führte seine Kinder zu einem noch brennenden Haus, in dem zwei Mädchen aus der Nachbarschaft gestorben waren, um ihnen ihre eigene Sterblichkeit vor Augen zu führen. (Marsden 2003, S. 321) Heutigen Lesern mag dies grausam erscheinen, und Historiker haben daraus fälschlicherweise den Schluss gezogen, dass puritanische Väter die Ängste ihrer Kinder schüren wollten, um sie dadurch besser kontrollieren zu können. Im Licht puritanischer Glaubenssätze betrachtet, macht diese Praxis allerdings Sinn. Gemäß puritanischer Lehre konnte ein Mensch nur dann auf göttliche Gnade hoffen, wenn er sich vollkommen unterworfen und erkannt hatte, dass er unwürdig war, die Erlösung zu erfahren. Wer Kindern ihre Sterblichkeit und die Anerkennung ihrer Sündhaftigkeit lehrte, der bereitete sie also darauf vor, göttliche Gnade 3

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Vgl. etwa Cotton Mather 1911, The Diary of Cotton Mather, 1681-1724, in: Collections of the Massachusetts Historical Society, 7. Serie, Bd. 7, Boston, S. 201, S. 239-240; Diary of Nicholas Gilman, Connecticut Historical Society, Jan. 1, 1739/40, S. 1. Worthington Chauncey Ford (Hg.) 1969, The Diary of Cotton Mather, Bd. 1, New York, S. 239-240.

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empfangen zu können. Puritanische Eltern gingen demnach davon aus, ihren Kindern das größtmögliche Geschenk mit auf den Weg zu geben, wenn sie sie die Unvermeidbarkeit des Todes und die Wahrscheinlichkeit ewiger Verdammnis lehrten: damit vermittelten sie ihnen nämlich die Fähigkeit, das ewige Heil empfangen zu können. Damit sich die Jungen ab ihrem siebten Lebensjahr deutlicher an einem männlichen Vorbild orientieren konnten, übernahmen dann – ganz gleich, welchem Glauben die Familie anhing – die Väter mehr Verantwortung für deren Sozialisierung. Jungen erhielten in diesem Alter auch in einer Zeremonie ihr erstes Paar Hosen, wodurch der Bruch mit der Welt der Frauen und der Eintritt in die Welt der Männer symbolisiert werden sollte. (englische Sorgen über die Gefahren der Verweiblichung von Jungen beschreibt Fletcher 1995) Im Norden wurden viele Jungen nun auch zur Schule geschickt, damit sie gemeinsam mit anderen Jungen Lesen, Schreiben und Rechnen lernen konnten.5 Trotzdem scheinen viele Väter mit ihren Söhnen das Lesen und Schreiben geübt zu haben, selbst wenn insbesondere in Neuengland viele Ortschaften gemeinschaftliche Schulen hatten.6 Auf familiären Farmen (also gewissermaßen überall außer in Städten und auf den größeren Plantagen des Südens) begannen Väter außerdem, ihre Söhne in die tägliche Arbeit einzubinden. Viele reformierte Protestanten glaubten in dieser Zeit, dass Eltern ihre Zuneigung zu ihren Kindern bremsen mussten, da die protestantischen Lehrsätze vorgaben, dass eine erlöste Person seine Liebe zu Gott vor seine Liebe zu irdischen Kreaturen stellte. Folglich signalisierte eine zu enge Bindung an das eigene Kind, dass es an der rechten Hinwendung zu Gott mangelte. Dass so manche amerikanischen Väter der Kolonialzeit dieser Leitlinie folgten, hat Historiker zu dem Schluss verleitet, dass sich diese weniger um ihre Kinder sorgten als moderne Eltern. Ein genauerer Blick in die Quellen zeigt jedoch, dass Väter vor allem mit dem wachsenden Erziehungsengagement ab dem siebten Lebensjahr eine zu5

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Im Norden spielte ein formelles Schulsystem eine größere Rolle als im Süden, zum Teil weil Reformierte von den Individuen forderten, die heilige Schrift selber zu lesen, um sie auch wirklich verstehen zu können. Ortschaften in Neuengland richteten häufig Schulen ein, wo alle Kinder das Lesen lernten, während das Schreiben, Addieren und Buchhalten nur den Jungen beigebracht wurde; vgl. dazu mit Akzent auf Geschlechterdifferenzen Monaghan 1988. Über Väter, die eine aktive Rolle in der Schulbildung ihrer Söhne übernahmen, erfahren wir in: Autobiography of the Reverend John Barnard, S. 178, in den Memoiren Josiah Cottons, 1726-1754, Massachusetts Historical Society, S. 37, sowie in den Tagebüchern William Stickneys, 17661767, Massachusetts Historical Society.

VATERSEIN UND MÄNNLICHKEIT

nehmend enge Bindung zu ihren Sprösslingen aufbauten und ihre Gefühle keineswegs immer unter Kontrolle hatten. Persönliche Nachlässe weisen darauf hin, dass Väter große Erwartungen an ihre Kinder richteten. Besonders ihre Söhne beschrieben sie mit Begriffen wie „my joy“ oder „my consolation“, was eine väterliche Hoffnung dokumentiert, die Söhne würden sich nach ihrem Vorbild entwickeln. Waren Väter auf Reisen, so schrieben sie besorgte Briefe heim, in denen sie nach der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Kinder fragten. Waren die Kinder krank, sorgten nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter für sie. In der typischen Familie der Kolonialzeit hatten Mütter zu viele Kinder und zu viele weitere Pflichten, als dass sie alles hätten stehen und liegen lassen können, um sich ausschließlich einem kranken Sprössling zu widmen, der möglicherweise rund um die Uhr elterliche Aufmerksamkeit brauchte. Folglich sprang dann der Vater ein, und er pflegte und hegte das kranke Kind nicht nur, sondern stellte häufig auch eine Diagnose und schlug eine Medikation vor, denn es hieß, Männer wüssten in diesen Fragen besser Bescheid als Frauen. Die Intensität väterlicher Gefühle war dann am deutlichsten zu erkennen, wenn ein Kind zu sterben drohte. Der Prediger John Green erinnerte sich wie folgt an jenen Moment, in dem einer seiner Söhne aufgeregt nach dem Vater rief, weil der jüngere Bruder von einer Mauer gefallen war und sich nicht mehr regte: „John stayed with him & Joe[seph] came in & told us Nedde was dead & we all ran crying & when I came I perceived life in him but no sense, & so I brought him home.“ Das Kind kam wieder zu Bewusstsein, und der Vater schrieb: „I doe not remember that I ever was in greater distress than at this time.“7 Als 1702 der Sohn des Kirchenführers John Pike aus New Hampshire verstarb, schrieb Pike in sein Tagebuch: „My Dear son Samuel was born 1695, Ap.1, betwixt two & 3 of the clock afternoon Monday. Lived seven years, seven months, twenty eight days. Died Nov. 29 1702, sabmorning, after two days Relapsed into a fever his principal malady was sore throat and caput-dolor. The joy of my heart.“ 1741 starben zwei Söhne Nicholas Gilmans aus Connecticut innerhalb von drei Wochen an Diphtherie. Nach dem Tod des ersten, zehn Jahre alten Kindes, sprach Gilman sich selber Trost zu, dass das Kind während seiner Krankheit Zeichen spiritueller Reinigung gezeigt hatte. Als er jedoch auch sein achtjähriges Kind verlor, war er dem Zusammenbruch nah. Von der Beerdigung nach Hause zurückkehrend, notierte er in sein Tagebuch: „Blessed be God I find the three remaining children pretty well – Oh!

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Commonplace Book of Joseph Green, in: Publications of the Colonial Society of Massachusetts, Bd. 34 (Boston, 1938), 16. Jan. 1712/13, S. 253.

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find the three remaining children pretty well – Oh! That they may be spared Lord if it may be thy Will.“8 Die Verantwortlichkeit der Väter für ihre Söhne nahm ab dem zehnten Lebensjahr weiter zu, da sie ihnen nun in beruflichen Entscheidungen beiseite stehen mussten. Nach allem, was wir wissen, waren die meisten Jungen im Alter von vierzehn Jahren fest in das Arbeitsleben eingebunden. Dann halfen sie entweder ihren Vätern, arbeiteten als Lehrjungen bei anderen Männern oder gingen ganztägig zur Schule, um einen Beruf zu erlernen. Väter und Söhne sollten gemeinschaftlich entscheiden, welcher dieser Wege eingeschlagen wurde. Protestantische Reformer betonten, dass Väter ihre Söhne nicht bloß ihr eigenes Geschäft lehren sollten, sondern dass sie auch die individuellen Interessen und Fähigkeiten der Jungen sowie deren Begabung erkennen und fördern sollten, damit diese sich optimal in das Gemeinwesen einbringen konnten. Diese Aufgabe war nicht leicht zu bewältigen, sie forderte von den Vätern, Jungen zwischen zehn und vierzehn Jahren mit Taktgefühl von ihren jugendlichen Fantasien über aufregende, aber unpassende Betätigungen fortzuführen und ihnen stattdessen eine Arbeit nahe zu legen, die sinnvoll und angenehm zugleich war. Der Vater Benjamin Franklins zum Beispiel bemerkte schon früh die außergewöhnliche Intelligenz seines Sohnes. Als er den Schulbesuch jedoch nicht mehr bezahlten konnte, suchte er für den zehnjährigen Ben nach einem Beruf, der ihn erfüllen würde. Franklin beschrieb dies in seiner Autobiografie wie folgt: „[H]e sometimes took me to walk with him and see joiners, bricklayers, turners, braziers, etc., at their work that he might observe my inclination and endeavour to fix it on some trade that would keep me on land.“9 Ben lernte schließlich bei seinem älteren Bruder James den Beruf des Druckers, und sein Traum, zur See zu fahren, sollte sich niemals erfüllen. Andere Väter versuchten, diesen Prozess stärker zu steuern. John Adams, der zweite Präsident der USA, wollte als Junge Farmer werden. Sein Vater, selber ein Farmer, nahm den Sohn im eigenen Betrieb hart in die Pflicht, um ihm zu zeigen, wie schwer und undankbar dieser Job ist, und ihn dadurch von der Idee abzubringen. Die Strategie scheiterte jedoch, denn John blieb bei seinem Wunsch treu und besuchte nur deshalb weiter die Schule, weil sein Vater darauf beharrte.10

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Tagebuch von Nicholas Gilman, Connecticut Historical Society, 16. Jan. 1742, S. 101. 9 L. Jesse Lemisch (Hg.) 1961, Benjamin Franklin: The Autobiography and Other Writings, New York, S. 22-35, 42. 10 L.H. Butterfield (Hg.) 1961, Diary and Autobiography of John Adams, Cambridge, MA, Bd. 3, S. 258.

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Anders als für John Adams’ Vater stand allerdings für die meisten amerikanischen Männer dieser Zeit fest, dass ihre Söhne Farmer werden sollten. Schließlich war die wesentliche väterliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass insbesondere die Söhne in der Lage waren, wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen, wenn sie erwachsen waren. Mangelte es einem Mann an einer solchen Unabhängigkeit, so würde er als Knecht oder Pächter eines anderen Mannes leben müssen, einen niedrigen sozialen Status sowie eine geringe Lebensqualität haben. Das Gesetz verbot Knechten zu heiraten, und arme Männer hatten geringe Heiratschancen, da sie keine Familie versorgen konnten. In England waren die wirtschaftlichen Möglichkeiten für junge Menschen sogar so begrenzt, dass ein Viertel unverheiratet blieb. Entsprechend nutzten Eltern sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ihren Söhnen zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu verhelfen. Sie ermutigten ihre heranwachsenden Söhne zur Lohnarbeit oder zu Handelsgeschäften, um ein zusätzliches Einkommen zu erwirtschaften, und sie legten den größeren Jungen sogar nahe, als Knechte in die nordamerikanischen Kolonien auszuwandern, wenn sie keine anderen Optionen hatten. Auch in Amerika gab es arme Väter, die ihren Söhnen keine Perspektive bieten konnten, außer in die Knechtschaft einzutreten und darauf zu hoffen, eines Tages genug gelernt zu haben, um ein unabhängiges Leben führen zu können. Im Gegensatz zu England gab es in Nordamerika aber das weite Land, so dass die meisten Väter ihren Söhnen dabei helfen konnten, ihren eigenen Grund und Boden zu erlangen. Dies war das zweite Element, das Vaterschaft im Amerika des 17. und 18. Jahrhunderts besonders machte. Die väterlichen Strategien, den Söhnen zur Unabhängigkeit zu verhelfen, waren recht unterschiedlich. In Neuengland mit seinem kühlen Klima und schlechten Boden waren die meisten Väter zu arm, um Land für ihre Kinder zu kaufen. Stattdessen arbeiteten Väter und Söhne oft Hand in Hand, um Land zu kultivieren, das der Familie bereits gehörte, bislang aber brach gelegen hatte. Oder Väter und erwachsene Söhne taten sich zusammen, um Schritt für Schritt neuen Besitz zu erwerben, bis dieser groß genug war, so dass jeder seinen Teil haben konnte. Die Väter versuchten dann, so lange wie möglich Respekt, Prestige und Autorität zu bewahren, und daher überschrieben sie den Söhnen ihren Anteil zumeist erst im Augenblick des eigenen Todes. Doch auch schon vorher lebten die Söhne ihr Leben, heirateten und bekamen Kinder noch auf der Farm ihrer Eltern, denn sie wussten ja genau, welche Parzelle mal ihre eigene werden würde. In wohlhabenderen Agrargebieten wie z.B. in Pennsylvania und New Jersey, konnten Väter häufig Überschüsse verkaufen, um mit dem erwirtschafteten Geld Land für ihre Kinder zu erwerben. Oft übergaben Väter ihren Söhnen eine Farm, wenn diese heira77

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teten, und ihren eigenen Betrieb hielten sie mit Lohnarbeitern am Laufen. (Greven 1966; Vickers 1994; Levy 1978; Main 2001 zu competence auch in fortgeschrittenem Alter) Jede dieser Strategien wirkte unterschiedlich auf das Verhältnis von Vätern und erwachsenen Söhnen. Arme junge Männer waren vergleichsweise unabhängig von ihren Eltern, weil diese ihnen wenig bieten konnten. Junge Männer aus wohlhabenderen Farmerfamilien hatten ebenfalls ein vergleichsweise hohes Maß der Unabhängigkeit, da die familiären Ressourcen ihre Existenz sicherten, bis sie in den Zwanzigern waren. Jugendliche aus Neuengland und aus den kargen landwirtschaftlichen Regionen des Hinterlandes, die nur durch die enge Zusammenarbeit mit ihren Vätern unabhängig werden konnten, waren am stärksten mit dem Elternhaus verwoben. Wir müssen uns aber vor Augen führen, dass letztlich in den meisten Regionen des kolonialen Amerika die Mehrzahl der Farmen Familienbetriebe waren. Die Väter hatten dann enge und lange Beziehungen insbesondere mit ihren Söhnen, die sie nicht fort zur Schule oder zum Broterwerb schickten, sondern im eigenen Betrieb hielten. Wenn wir in Betracht ziehen, wie sehr Vater-Sohn-Beziehungen ab dem vierzehnten Lebensjahr wirtschaftlich geprägt waren, so kann es kaum verwundern, dass die entsprechende Rhetorik Ausbildung und Disziplinierung stärker in den Vordergrund rückte als Zärtlichkeit. Männer waren dafür verantwortlich, Ordnung in ihren Familien zu halten, und Jugendliche waren immer ein potenzieller Herd von Unordnung. Von Vätern wurde erwartet, das Verhalten ihrer Kinder so zu regulieren, dass diese weder tranken, noch kämpften, noch faul oder unzüchtig lebten. Auf der einen Seite war die Disziplinierung heranwachsender Kinder Teil der familiären Privatsphäre: Väter sorgten sich um das Seelenheil ihrer Kinder und hofften, diese vor sündhaften Neigungen schützen zu können, indem sie sie straften – und zwar moderat und mit Bedacht, wie Reformer immer mahnten. Auf der anderen Seite erfüllten diese Väter als Erzieher ihrer Kinder eine gewissermaßen öffentliche Funktion, wurde sie doch im Sinne von Staat und Gesellschaft ausgeübt. Im kolonialen Amerika gab es weder eine Polizei, wie es sie in modernen Gesellschaften ab dem fortschreitenden 19. Jahrhundert geben sollte, noch gab es, wie in der europäischen frühen Neuzeit, einen Adel, der kontrollierende Funktionen ausübte. Die soziale Kontrolle lag also im Wesentlichen in den Händen der Haushaltsvorstände. Männer nahmen diese Verantwortung insbesondere in protestantisch reformierten Regionen sehr ernst. Nachbarn wiesen solche Männer zurecht, deren Frauen und Kinder die sozialen Lebensregeln brachen. Verschiedene Gesetze sahen Strafen für Männer vor, die ihren Haushalt nachlässig führten. Außerdem übergaben die Gerichte minderjährige Gesetzesbrecher in die Hän78

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de ihrer Väter mit der Mahnung, dass sie für die Bestrafung zuständig waren. Väter handelten folglich im Sinne von Staat und Gesellschaft und nicht nur als Privatmänner, wenn sie ihre Familien und andere Anhängige disziplinierten. (Morgan 1966, S. 149-150) Insgesamt sind es also mindestens zwei Faktoren, die zu einer ungewöhnlich starken Präsenz amerikanischer Väter im Leben ihrer Kinder beitrugen, die häufig bis weit in das Erwachsenenalter hinein andauerte. Erstens war es der reformierte Protestantismus, der die Sorge schürte, die Kinder könnten nicht fähig sein, ihr Seelenheil zu erlangen, und der außerdem Mütter unter eine Art Generalverdacht stellte. Väter waren aktiv in das Leben ihrer Kinder eingebunden, weil sie glaubten, nur der Einfluss erwachsener Männer könne die richtige moralische und psychische Entwicklung der Kinder befördern. Zweitens war es die spezifische Wirtschafts- und Sozialstruktur, in der das Wohlsein von Vätern und Söhnen für eine ungewöhnlich lange Zeit voneinander abhängig war. Weil in weiten Teilen des kolonialen Amerika agrarische Familienbetriebe dominierten, brauchten Väter ihre Kinder als Arbeitskräfte, um Unabhängigkeit zu erreichen und zu erhalten. Wenn Männer also ihre Identität über ihren ökonomischen Erfolg definierten, so war diese männliche Identität untrennbar mit ihrer väterlichen Identität verknüpft. Weil in Amerika Land zwar reichhaltig vorhanden war, für gewöhnlich aber nur mit Hilfe des Vaters erlangt werden konnte, waren Söhne in einem ungewöhnlich hohen Maße von ihren Vätern abhängig. Die meisten jungen Männer wurden also nur mit der Hilfe ihrer Väter unabhängig. Das Ausmaß der Kontrolle, das Väter über die Leben ihrer erwachsenen Söhne ausübten, variierte regional. Väter in Neuengland blieben mächtig. Beide Elternteile, insbesondere jedoch die Väter, erwarteten, dass sie gefragt wurden, wenn die Söhne oder Töchter heiraten wollten, auch wenn die Eltern nur höchstselten die Eheschließungen ihrer Kinder arrangierten. Gleichwohl haben Eltern ihre jüngeren Söhne manches Mal gedrängt, eine geplante Eheschließung so lange aufzuschieben, bis ältere Geschwister versorgt waren. Dieses Muster langandauernder Verbindungen zwischen den Generationen war unter den ärmeren Familien im Hinterland des Südens und der Middle Colonies gegeben. Weil die Farmen bestenfalls niedrige Profite abwarfen, mussten Eltern und Kinder gemeinsam der Wildnis Ackerland abringen, um so Ressourcen für die ökonomische Unabhängigkeit der nächsten Generation zu schaffen. In Pennsylvania und New Jersey, wo Farmen höhere Profite abwarfen, auf den Plantagen des Südens und in den städtischen Regionen, schauten Väter hingegen häufig zu, wie ihre Söhne aus- und auch fortzogen, so dass man nur noch durch Briefe und einen gelegentlichen Besuch im Abstand von vier oder fünf Jahren in Kontakt blieb. 79

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Es ist ein lohnendes Unterfangen zu spekulieren, wie diese unterschiedlichen regionalen Muster familiären Lebens wohl die psychologischen Erfahrungen von Männern und Frauen beeinflusst haben.11 War es etwa Zufall, dass Menschen in Neuengland und im Hinterland im Verlauf des 18. Jahrhunderts besonders von evangelikal protestantischen Sekten angezogen wurden, die Gott als allmächtige Vaterfigur konzeptionalisierten, der das Geschehen im Universum lenkte und von einem Moment zum anderen von furchteinflößendem Zorn in zärtliche Liebe umschlagen konnte? Genau so haben in den Gegenden, wo Familienbetriebe dominierten und in der Regel nur niedrige Profite erwirtschaftet wurden, viele Menschen die Beziehungen mit ihren eigenen Vätern wahrgenommen. War es Zufall, dass Menschen in wohlhabenderen Agrarregionen, Mitglieder der so genannten southern gentry und Stadtbürger im frühen 18. Jahrhundert häufig aufgeklärten religiösen Konzeptionen anhingen, die von einem wohlmeinenden, aber distanzierten Gott getragen waren, der zwar die Welt entworfen hatte, sich aber aus ihren alltäglichen Geschäften weitestgehend heraushielt? Auch hier waren die Erfahrungen, die Menschen mit ihren eigenen Vätern gemacht hatten, durchaus ähnlich: Diese Väter stellten ihren erwachsenen Kindern die Ressourcen zur Verfügung, die sie brauchten, um vergleichsweise früh unabhängig zu werden (und oft weit entfernt zu leben). Die außergewöhnliche Bedeutung von Vater-Sohn-Beziehungen mag noch andere kulturelle Konsequenzen gehabt haben. Die Historikerin Lynn Hunt hat auffallende Unterschiede zwischen den familiär konnotierten Symboliken ausgemacht, der sich Revolutionäre in den USA und in Frankreich bedienten. Amerikanische revolutionäre Rhetorik war voll von Analogien über das Vater-Sohn-Verhältnis.12 Die Rebellen nannten sich selbst Sons of Liberty, Sons of Freedom oder Liberty Boys. Während des Unabhängigkeitskrieges begannen sie, Regierungen zu bilden, und fortan nannten sie sich Founding Fathers. Die französischen Revolutionäre beseitigten im Gegensatz dazu die Vaterfigur symbolisch, als sie Ludwig XVI. enthaupteten. Sie betonten ihre brüderliche Bande, und Väter wurden gar nicht mehr erwähnt. (Hunt 1992, S. 69-74) Spiegelte dieser Unterschied der rhetorischen Strategien (der dazu beitrug, dass die Französische Revolution einen wesentlich radikaleren 11 Greven 1977 hat die Frage aufgeworfen, wie Strukturen der Kindererziehung die Muster religiöser Erfahrung im kolonialen Amerika beeinflusst haben. Greven schlug vor, dass drei Modelle der Familienführung mit drei Modellen religiösen Temperamentes korrelierten. Er hat in seinem Modell allerdings weder regionale Zuordnungen unternommen, noch hat er den Einfluss unterschiedlicher wirtschaftlicher oder demografischer Bedingungen auf Familienstrukturen untersucht. 12 Siehe auch den Beitrag von Jürgen Martschukat in diesem Band.

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Weg einschlug als die amerikanische) die größere Intensität und ökonomische Bedeutung, die Vater-Sohn-Verbindungen in den vormodernen amerikanischen Gesellschaften im Gegensatz zu ihren europäischen Pendants einnahmen? Warum also war Vaterschaft so bedeutend für das Mannsein in den amerikanischen Kolonialgesellschaften? Die Vorstellung, dass Haushaltsvorstände männlicher waren als andere Männer, half Menschen dabei, ihren eigenen ökonomischen und familiären Lebensumständen einen Sinn zu geben. Haushalte hingen von der Arbeit aller ihrer Mitglieder ab, aber die Autorität über die Ressourcen des Haushaltes lag in den Händen der männlichen Führungskraft. Besonders in solchen Regionen, wo Arbeits- und Kapitalmärkte noch nicht sehr ausgeprägt waren, kontrollierten Haushaltsvorstände den Zugang zu Beschäftigung und Kapital wesentlich stärker, als dies in späteren Jahrhunderten der Fall sein sollte. Jungen und junge Männer waren der väterlichen Autorität unterworfen, bis sie wirtschaftlich unabhängig waren, und erst dann konnten sie heiraten und eine voll ausgeprägte Sexualität für sich reklamieren. Gleichzeitig blieb in weiten Teilen des 18. Jahrhunderts der wirtschaftliche Erfolg eines Vaters von seinen Söhnen abhängig. Söhne profitierten von diesem Arrangement, zumindest im Vergleich zu ihren europäischen Gegenübern. Dafür neigten sie dazu, ihre Väter sowohl als wohlmeinend wie auch als mächtig anzusehen. In der heutigen Welt sind wirtschaftliche Axiome dieser Art seit langem verschwunden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, finden die ökonomischen Aktivitäten von Vätern außerhalb des Heims statt. Väter sind nicht mehr diese mächtigen Figuren, die zu Hause herrschen. Sie treten eher als Partner ihrer Frauen und Kinder auf und beweisen ihre Männlichkeit woanders. Vatersein und Maskulinität gehen nicht mehr so eng Hand in Hand, wie dies noch vor gut zwei Jahrhunderten der Fall war. Deutsche Übersetzung von Jürgen Martschukat

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Vaterfigur und Gesellschaftsordnung um 1800 JÜRGEN MARTSCHUKAT

I. Allerorten löse die Revolution die traditionellen Banden der Regierung, schrieb am 14. April 1776 John Adams, einer der „Gründerväter“ und später der zweite Präsident der USA, in einem Brief an seine Gattin Abigail: „Our struggle has loosened the bonds of government everywhere.“1 Man sah sich an einem historischen, aber auch schwierigen Augenblick in der Geschichte angelangt, an dem der zentrale Leitsatz der Aufklärung, nämlich dass der Mensch frei geboren sei und sich selbst bestimmen und regieren könne, in der politischen und gesellschaftlichen Realität auf die Probe gestellt wurde. Durch die Revolution der Amerikaner gegen das englische Mutterland zerfielen bestehende, autoritär strukturierte Herrschaftsverhältnisse. Eine neue freiheitliche Gesellschaftsordnung werde angestrebt, betonte Adams, die nur dann tatsächlich stabil sein und auf Dauer existieren könne, wenn andere Formen des Regierens und der Kontrolle forciert würden. Auch wenn diese neue gesellschaftliche Ordnung frei von imperativem Zwang war, so musste es doch Regeln und Konventionen geben, die weithin respektiert wurden, sollte sie Bestand haben können. Um dies zu erreichen, mussten die Menschen zu einer selbstbeherrschten, verantwortlichen,

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Letter from John Adams to Abigail Adams, 14 April 1776, http://www. masshist.org/digitaladams/aea/letter/ (8. Juli 2005). Kann 1999, S. 71; McCullough 2001.

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eben republikanischen Lebensführung angeleitet werden.2 Damit gewann in zunehmendem Maße ein Verständnis des Regierens, des „governing“, an Bedeutung, das um die Führung seiner selbst kreiste, und somit auch um die Fähigkeit, anderen als Vorbild zur Führung ihrer selbst zu dienen. Es hieß also, der Erfolg des historischen Experimentes, einen Staat und eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, die den Prinzipien der Aufklärung verpflichtet waren, war vor allem von der „virtue“ und der „self-subjection“ seiner Bürger abhängig. (Bailyn 1967; Bloch 1987; Shalhope 1990; Matson 2001; siehe auch Trees 2004) Die den folgenden Ausführungen und auch schon den zeitgenössischen Erörterungen zu Grunde liegenden Konzepte von Regierung und des Politischen greifen also über eng gefasste Vorstellungen staatlicher Lenkung und ihrer Mechanismen hinaus. Die Gründerväter diskutierten über die Notwendigkeit und Brisanz einer facettenreicheren Form des Regierens, die sich trefflich in den Worten Michel Foucaults fassen lässt, Regieren heiße „in diesem Sinne [...], das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren“, und zwar nicht nur durch äußere Regulierungen, sondern bis in das Selbstverständnis der Subjekte hinein. Zeitgenössische Rationalitäten und Handlungsweisen sollten einander wechselseitig tragen und sich in Form einer kulturell adäquaten Selbstführung artikulieren. (Foucault 2005, S. 286-287; Foucault 2003, Foucault 2000, S. 7-45; Krasmann 2002; Bröckling u.a. 2000) Jener sich selbst führende und sich selbst gestaltende Mensch avancierte nicht bloß zur zentralen Figur dieses spezifischen historischen Momentes US-amerikanischer Geschichte, sondern der freiheitlich gedachten und demokratischen Gesellschaften überhaupt. Als Ideal hat er über zweieinhalb Jahrhunderte hinweg das Denken und die gesellschaftliche Ordnung geprägt und sich in deren Zentrum etabliert. Komplementär entstanden damit Zonen am Rande dieser Gesellschaften, in denen diejenigen Menschen verortet wurden, die zu einer solchen Selbstregierung aus verschiedensten Gründen nicht fähig schienen. Entsprechende Ein- und Ausschlüsse wurden vor allem – und werden immer noch – entlang der Achsen „Rasse“, „Klasse“, „Geschlecht“ und „Sexualität“ vorgenommen. Die historische Forschung hat trefflich herausgearbeitet, wie zwar das Postulat einer freiheitlichen, gleichen und selbstbestimmten Gesellschaft formuliert wurde, damit aber zugleich vielfältige Ausschlüsse vorgenommen wurden. (Pateman 1988; Mills 1997; Kerber 1998; Schloesser 2002) Im Falle der USA wurde dieses Auseinanderklaffen der Postulate einerseits und ihrer mangelnden Umsetzung in der 2

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Hemphill 1998, S. 36, schreibt, der junge Adams habe ein „obsessives“ Verhältnis zur Selbstkontrolle gehabt.

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politischen, sozialen und kulturellen Geschichte und Gegenwart andererseits nicht zuletzt in dem Konzept der „unvollendeten Revolution“ gefasst. (Hoff-Wilson 1987; Foner 1988; Engel 2001) In jüngster Zeit haben Geschichtsschreibende von den Schultern dieser historischen Forschung aus wieder vermehrt auf das normative Ideal im Zentrum der Gesellschaftsordnung geschaut. Dank der kritischen Historiografie der letzten Dekaden ist dieser Blick so geschärft, dass er die Normativität und Historizität des hegemonialen Ideals herauszupräparieren und auch der letzten Spuren von Evidenz zu berauben vermag. Diese Geschichten zeigen nun ihrerseits, wie Männlichkeit, Heterosexualität und „Whiteness“ in der vermeintlich so egalitären Gesellschaft mit historisch-spezifischen Bedeutungen ausgestattet wurden, so dass sie einen hegemonialen Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen ermöglichten. (Nelson 1998; Traister 2000; Martschukat und Stieglitz 2005, S. 6793; Wickberg 2005) Auch der folgende Beitrag will diese Perspektive einnehmen und zeigen, wie die Kernkompetenz der neuen amerikanischen Republik, nämlich sich selber zu führen und andere zur Führung ihrer selbst anleiten zu können, eng an die Figur des Vaters geknüpft wurde. Dies war in den konkreten Familien wie auf der weiträumigeren politischen Ebene gleichermaßen von Relevanz. Nun hatte der (weiße und besitzende) Familienvater bereits in den amerikanischen Kolonialgesellschaften spätestens des 18. Jahrhunderts als Verkörperung politischer Rationalität und Selbstbestimmtheit gegolten, doch in der Gesellschaft, die sich als freiheitlich und erwachsen geworden entwarf, wurde dies noch prononciert.3 Entsprechend kam der Familie in dem Projekt, eine freiheitliche und zugleich stabile Gesellschaftsordnung zu kreieren, eine Schlüsselfunktion zu. Wie zu sehen sein wird, bildete sie das Relais zwischen Gesellschaft und republikanischen Individuen. Dies werde ich in einem ersten Teil des folgenden Aufsatzes vor allem mit Blick auf die väterlichen, aber auch auf die mütterlichen Funktionen und Attribute ausführen. In einem zweiten Teil soll dann genauer betrachtet werden, welche gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert wurden, wenn Familien, und hier insbesondere Familienväter, nicht so funktionierten, wie dies eigentlich notwendig schien und vorgesehen war – wenn sie also den Anforderungen an eine gute Lebensführung in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht genügten, wie dies ab dem frühen 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße beklagt wurde. Es sei bereits hier vorweggeschickt, dass dann spezifische gesellschaftliche Institutionen greifen und die Familien und Väter aus Fleisch 3

Vgl. zu Familienvätern in den Kolonialgesellschaften den Beitrag von Anne Lombard in diesem Band; vgl. weiterführend Wilson 1999; Lombard 2003.

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und Blut ersetzen sollten. Besonders bemerkenswert scheint mir dabei zu sein, dass diese Institutionen ebenfalls innerhalb der Muster des familiär-väterlich geprägten Ordnungskonzeptes standen und gewissermaßen bessere „Familienstrukturen“ bieten sollten, als die leiblichen Eltern dies in so vielen Fällen zu leisten vermochten. Das Konzept von Familie, Elternschaft und der Anleitung zur Selbstführung wurde nicht in Frage gestellt, sondern griff somit über die Individuen hinaus und strukturierte die politische Ordnung der jungen US-amerikanischen Republik.

II. Als die Revolutionäre die britische Herrschaft beendeten und ein unabhängiges Amerika ausriefen, sprachen Zeitgenossen immer wieder von der Mannwerdung der ehemaligen Kolonien. Die Emanzipation eines erwachsen gewordenen Jungen war ein prägendes Bild für die Revolution. „We look to manhood – our muscles swell out with youthful vigour“, schrieb der Revolutionär Richard Wells aus Pennsylvania bereits 1774 in seinen „Political Reflections“, und er fuhr mit Nachdruck fort, „the day of independent manhood is at hand.“4 Thomas Paine, einer der führenden intellektuellen Köpfe seiner Zeit, schlug vor, die häufiger aufgeworfene, skeptische Frage, ob der Umsturz in den Kolonien überhaupt zum Besten der Amerikaner sei, mit einer simplen Gegenfrage vom Tisch zu wischen, die nichts mehr offen ließ: „Is it in the interest of a man to be a boy all his life?“5 In den Augen der Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts waren ein solches Ringen um ein Ende patriarchalischer Tyrannei und der Widerstand gegen einen despotischen Vater mehr als legitim. Wie Melvin Yazawa und Anne Lombard in ihren Arbeiten zeigen, hatten sich die Entwürfe schlechten und guten Vaterseins, auf die die Revolutionäre rekurrierten, bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in den kolonialen Gesellschaften vor allem des Nordostens herausgebildet. (Lombard 2003, S. 146-169; Yazawa 1985, S. 85-110) Ein guter Vater war demnach kein puritanischer Despot, der seine Autorität von Gott herleitete, sondern qualifizierte sich vielmehr durch seine Fähigkeit, ein vorbildhaftes Leben zu führen, competence zu haben und seinen Pflichten

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Richard Wells 1774, A Few Political Reflections Submitted to the Consideration of the British Colonies, by a Citizen of Philadelphia, Philadelphia, S. 33. Yazawa 1985, S. 95. Fliegelman 1982. Nelson 1998, S. 22, S. 33ff. Thomas Paine 1777, The American Crisis. Number III, Philadelphia, S. 33; Dorsey 2002, S. 14.

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nachzukommen – gegenüber sich selbst und anderen.6 Und in den Augen der Amerikaner, die koloniale Konflikte traditionell in familiärer Metaphorik gefasst hatten, benahm sich der englische König George III. ab der Mitte der 1760er Jahre wie ein solcher despotischer Vater, als er sie im Nachgang des „French and Indian War“ enger an die Kandare nehmen und ihnen liebgewonnene Freiheiten und Selbständigkeiten wieder entziehen wollte. Im Gegensatz dazu repräsentierten die neuen politischen Führungsfiguren des unabhängigen nordamerikanischen Staatenbundes das Ideal des guten Vaters, und die politische wie publizistische Rhetorik dieser Zeit nannte sie regelmäßig die „political fathers“, die „fathers of the Republic“ oder auch die „founding fathers“ von Revolution und Republik. Als zum Beispiel der Staat Pennsylvania die neue US-Verfassung ratifizieren sollte, argwöhnten die Delegierten zunächst voller Skepsis, der zukünftige US-Präsident würde womöglich ein despotischer Patriarch sein. James Wilson, der für Pennsylvania an der US-Verfassung mitgearbeitet hatte, beruhigte seine Landsleute, indem er die andere, gute Vaterfigur akzentuierte: „The President will watch over the whole with paternal care and affection.“7 Freiheit und Unabhängigkeit sollten demnach nicht durch patriarchalische Macht begrenzt, sondern durch sanfte väterliche Führung begünstigt und in eine stabile Form gegossen werden. Dabei waren der koloniale Reifungsprozess, Unabhängigkeit und die Fähigkeit zur Selbstführung (individuell wie kollektiv) ohne Zweifel männlich gedacht, wie bereits die Zitate von Thomas Paine oder Richard Wells zeigen konnten. Eine entsprechende Gesellschaftsordnung musste sich auf Menschen und insbesondere auf Männer stützen können, die trotz des Rechtes auf ein „Streben nach Glück“ nicht dem Egoismus frönten, sondern ihre persönlichen Vorteile dem Wohl des Kollektivs unterordneten. Tugend, Moralität und Selbstkontrolle avancierten zu Kernkompetenzen, die in der jungen US-Republik noch wichtiger waren, als in den Kolonialgesellschaften oder auch am „bürgerlichen Wertehimmel“ der europäischen Gesellschaften. (Hettling und Hoffmann 2000) Schließlich hatte man in den jungen USA mehr gewagt, und es stand mehr auf dem Spiel. Sollte das republikanische Experiment Erfolg haben können, so musste in der Bevölkerung die Fähigkeit zur Selbstführung jedes Einzelnen breit verankert sein. 6 7

Siehe auch den Beitrag von Anne Lombard in diesem Band. James Wilson 1993, Address to the Pennsylvania Ratifying Convention, in: Bernard Bailyn (Hg.), The Debate on the Constitution. Federalist and Antifederalist Speeches, Articles, and Letters During the Struggle over Ratification, 2 Bde., New York, Bd. 1, S. 825; Kann 1999, S. 98, S. 121; Cott 2000, S. 9-23; Hunt 1992.

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Folglich waren Fragen der Erziehung, Ausbildung und Charakterbildung in der frühen Republik von neuartiger und von höchster politischer Brisanz und Bedeutung. Mit der politischen Revolution müsse eine „revolution in our principles, opinions, and manners“ einhergehen, schrieb etwa Benjamin Rush, Arzt, Philosoph, Politiker und Gründervater aus Philadelphia, im Juli 1789 an John Adams. Das politische System und die Kreation guter republikanischer Subjekte bedingten sich gegenseitig, und in einem zentralen Text über die Gestaltung der frühen Republik betonte eben besagter Rush, Männer müssten in „republican machines“ verwandelt werden, damit die neue Gesellschaft bestehen könne. Schließlich, so unterstrich er, hätte jeder einzelne Amerikaner mit der neuen Regierungsform auch ganz neue Pflichten übernommen: „The form of government we have assumed has created a new class of duties to every American.“8 Das Bewusstsein um die Notwendigkeit der Formgebung seiner selbst und der anderen US-Amerikaner sprach nicht nur aus politischen und staatstheoretischen Schriften. Es ist in zahllosen Texten der unterschiedlichsten Genres dieser Zeit nachzulesen, so auch in Selbstzeugnissen, Briefwechseln oder Ratgebern. (Vgl. etwa Frank 1998 oder Johansen 2001) Insofern war es naheliegend, dass in den verschiedenen nordamerikanischen Staaten nach der Unabhängigkeitserklärung umfassend über den Aufbau eines mehrstufigen Ausbildungssystems diskutiert wurde, das die jungen Menschen zu einer entsprechenden, republikanischen Pflichterfüllung befähigen sollte. Von Virginia über Pennsylvania bis Massachusetts debattierte man, wie ein Bildungs- und Erziehungssystem für die junge Republik gestaltet werden solle. (Ellis 1991; Nash 2001) Die Auseinandersetzungen über die richtige Schulbildung waren kontrovers, unstrittig war jedoch, dass die Familie das Herzstück der republikanischen Arbeit am Individuum leisten musste und leisten konnte. „The foundations for national morality must be laid in private families“, notierte John Adams bereits 1778 in sein Tagebuch, und er fuhr fort: „In vain are Schools, Accademies [sic], and Universities instituted, if loose Principles and licentious habits are impressed upon Children in their earliest years.“9

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Benjamin Rush 1786, Of the Mode of Education Proper in a Republic, Philadelphia. John Adams, Autobiography, Teil 2, Travels, and Negotiations, 17771778, Blatt 27 von 37, 30. Mai bis 3. Juni 1778, hier nach: http://www. masshist.org/digitaladams/aea/cfm/doc.cfm?id=A2_27 (12. Juli 2005); Mintz 1983, S. 28 diagnostiziert eine wachsende Bedeutung der Familie gerade wegen der aufweichenden autoritären Strukturen.

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Politische wie pädagogische Experten betonten, am noch unverformten kindlichen Charakter müsse der Hebel angesetzt werden, so dass schon in frühester Kindheit und Jugend gesät würde, was der Mensch als Mann dann ernten könne. Wieder und wieder wurde betont, dass vor allem die soziale Durchlässigkeit der neuen US-amerikanischen Gesellschaft eine gute und breite Erziehungsarbeit notwendig mache, die alle Menschen erfasse. Schließlich könne in einer solchen Gesellschaft jeder Junge später einmal politische Verantwortung übernehmen und vielleicht sogar Präsident werden, wenn er nur die rechte Charakterbildung erführe. Da familiäres und gesellschaftliches Zusammenleben dieselben Qualitäten erforderten, nämlich Vor- und Voraussicht, Tugendhaftigkeit und Religiosität, Fleiß und Selbstkontrolle, waren die Familien die ersten und wichtigsten Orte für die Ausbildung guter republikanischer Staatsbürger, die, um dies abermals zu betonen, zuvorderst männlich gedacht waren. Die Familie sollte demnach der privilegierte Ort für die Vermittlung staatsbürgerlicher Tugenden und Kompetenzen sein, und somit war sie aufgrund ihrer Erziehungs- und Anleitungsaufgaben zugleich Teil der privaten wie der politischen Sphäre. Die frühe Geschlechtergeschichte hat herausgestellt, dass die bürgerlichen Gesellschaften das Leben in eine private weibliche Sphäre des Heims und eine öffentliche männliche Sphäre von Politik und Wirtschaft auftrennten. Zeitgenössische normative Texte trieben die geschlechtliche Zuordnung der Sphären voran, behaupteten sie doch, dass die Aufteilung mit den „natürlichen“ Wesensarten von aktiven, rationalen, dominanten Männern und passiven, emotionalen, fügsamen Frauen korrespondierte. (Welter 1966; Hausen 1976) Seit den 1980er Jahren hat die Geschichtsschreibung nun betont, dass in der Lebenspraxis niemals eine derart scharfe Trennung existierte, wie sie auf der normativen Ebene suggeriert wurde. (Siehe etwa Kerber 1989 u.a.) So gab es Frauen, die öffentlich auftraten oder Geschäfte führten. Weiterhin darf eben nicht übersehen werden, dass Familien zentrale Schaltstellen der Early Republic waren und wesentliche Funktionen für das Gemeinwesen erfüllten. Hier lag auch die politische Funktion der Frau als republican mother begründet. Formalrechtlich in politischer Unmündigkeit verankert und in Abhängigkeit vom Ehegatten gehalten (Hartog 2000), entfaltete die Ehefrau und Mutter durch die Erziehung ihrer Söhne, aber auch ihrer Töchter, eine politische Wirkung. Als Mütter erzogen Frauen die republikanischen Subjekte, und damit war ihnen trotz ihrer subordinierten Position eine eminent wichtige Funktion für die Festigung der neuen Gesellschaft zugewiesen, wie unter anderem Linda Kerber und Rosemarie Zagarri herausgestellt haben. (Kerber 1976; Kerber 1980; Baker 1984; Lewis 1987; Zagarri 1992) 89

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Ebenso wie der Wirkkreis von Frauen in der Lebenswirklichkeit der neuen Republik nicht auf das Heim beschränkt war, waren Väter nicht nur außerhäusig als Politiker und „breadwinner“ aktiv. Vielmehr war der Republikaner auch und vor allem fürsorglicher Familienvater. Vatersein war ein wesentliches Element des zeitgenössischen Männlichkeitsentwurfes. (Kann 1999, S. 51, S. 83-85; Frank 1998; Johansen 2001) Der Vater sollte an der Seite der republican mother stehen und, mehr noch, ähnlich wie ein republikanischer Staatsmann das große Ganze der Familie steuern. Letztlich konnte diese Funktion nur ihm obliegen, verfügte doch nur der erwachsene weiße Mann über die angeblich „natürlichen“ Anlagen, sich selber zu führen und die Kontrolle über sich und sein Leben auszuüben. Somit erfüllte er als einziger die Grundvoraussetzung, um andere zu regieren. William Alcott etwa, eine Koryphäe der damals boomenden Familien- und Männerratgeber, betonte in diesem Sinne, dass solche Anlagen geschult werden mussten, damit sie die sozial und politisch gewünschten Wirkungen entfalten konnten: „How utterly unqualified to govern others will he be found who has never yet learned to govern himself!“10 Väter und Familien standen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Es war allgemeiner Konsens, dass Familien nur unter männlicher Führung funktionierten. Diese väterliche Kompetenz speiste sich aus geschlechtsspezifisch gedachten Fertigkeiten und dem erreichten Grad männlicher Vollkommenheit, der sich durch den Erfolg in Beruf und Familie bemaß. Ein solcher Erfolg wiederum galt als Indikator dafür, Impulse kontrolliert, Leidenschaften diszipliniert und Energien entsprechend kanalisiert zu haben. Daher war das Vatersein Zeichen höchster Männlichkeit, und die Familie war zugleich der privilegierte Ort, um männliche Vollkommenheit erreichen zu können. (Kann 1999) Dabei galt es als Ausdruck höchster väterlicher Qualitäten, wenn die Familie derart subtil gelenkt wurde, dass diese die Lenkung gar nicht als solche empfand. Denn so konnten die Prinzipien von Freiheit und Individualismus gewahrt werden, während zugleich ihren möglicherweise sozial destabilisierenden Effekten entgegengewirkt wurde. Der bereits erwähnte William Alcott betonte entsprechend, dass sich die Prinzipien der Familienführung nicht von denen der Staats- und Gesellschaftsführung unterschieden – ein eminent wichtiger Punkt: „The art of bearing rule, in the family circle, if not elsewhere, is to govern as if we governed not.“ In diesem Sinne notierte auch William Alcotts Cousin Amos Bronson Alcott in einer Erziehungsanleitung für seine Gattin, dass die Freuden 10 William A. Alcott 1972, The Young Husband; or, Duties of Man in the Marriage Relation (1838), New York, S. 257-258.

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tugendhaften Handelns nur dann empfunden werden könnten, wenn die Regierten die Regierung gar nicht verspürten und sie folglich meinten, ganz aus freien Stücken tugendhaft gehandelt zu haben, „‚for without freedom there is no such thing as [true] virtue.‘“11 Ein autoritärer Patriarch daheim galt jedenfalls als ebenso schädlich für eine Familie (und damit auch für das größere Gemeinwesen), wie ein Tyrann für die Republik. „Government by gentle methods“ lautete die Losung, das koloniale Prinzip äußerer Unterwerfung musste durch eine aus freien Stücken erarbeitete innere Selbstdisziplinierung ersetzt werden, zu der Familienmitglieder wie Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von prädestinierten weißen Männern in väterlich gedachten Führungsfunktionen angeleitet wurden.12 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass mit der Gründung der Republik eine Vaterfigur noch mehr an Prominenz gewann, die sich vor allem durch die Fähigkeit zum Gouvernement ihrer selbst und anderer auszeichnete. Diese Figur diente einerseits zur Charakterisierung politischer Führungskompetenz in der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung, wurde aber auch für die realen Familien zum prägenden Modell. Dabei hatte die gute Regierung der Familien unmittelbar politische Bedeutung, denn schließlich sollten in den Familien gute Republikaner heranwachsen. Stabile Familien unter gelungener väterlicher Führung galten als essenziell für das Überleben der freiheitlich gedachten Gesellschaft.

III. Für republikanische Familien wie für das große politische Ganze waren nur führungs- und richtungslose Taugenichtse noch schlimmer als patriarchalische Tyrannen. Und die Sorgen ob der offensichtlichen Vermehrung der Taugenichtse nahmen in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts zu. Würden sich die individuellen wie gesellschaftlichen Defizite nicht vervielfachen, wenn so viele Väter an den republikanischen An11 Alcott 1972, Young Husband, S. 234. Bronson Alcott hat das Mansukript „Observations on the Spiritual Nurture of My Children“ zwischen Oktober 1834 und Februar 1835 erstellt; hier zit. nach Strickland 1969, S. 22; vgl. auch Nelson 1998 zu den Bedingungen soziopolitischer Führungskompetenz. 12 Gewalt war zunehmend als Kontrollverlust konnotiert und somit als unmännlich und wider die Prinzipien der bürgerlich-republikanischen Gesellschaftsordnung. Dies bedeutete jedoch keineswegs das Ende der Gewalt, sondern ein intensives Ringen um ihre Codierung; vgl. dazu etwa Halttunen 1998.

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forderungen der Führung zur Selbstführung scheiterten? Und: Wie sollten diese Defizite aufgefangen werden, fragte eine dynamisierte Reformbewegung? Vor allem dieser zweiten Frage werde ich im Folgenden nachgehen und dabei zeigen, wie die „political fathers“ auf den Plan traten, wenn die leiblichen Väter versagten. (Coontz 2000, S. 128-130) Auf diesem Weg soll die Bedeutung des Vaterkonzeptes für die Gesellschaftsordnung der Early Republic noch deutlicher herauspräpariert werden. Die wachsende Sorge um den Erfolg des republikanischen Projektes und die Dynamik der Reformbewegung stehen im Kontext einer Phase zahlreicher Veränderungen, die die USA in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts durchliefen: Das Terrain vervielfachte sich, die Bevölkerung wuchs zwischen 1790 und 1830 von vier auf rund dreizehn Millionen Menschen, eine erste industrielle Revolution setzte ein, der massive Ausbau der Infrastruktur führte zu einer weiter steigenden geografischen wie sozialen Mobilität. Auch das Wahlrecht, das in der Gründungszeit zunächst noch an einen bestimmten materiellen Besitz gebunden gewesen war, wurde in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts peu à peu in fast allen Staaten des Bundes sämtlichen weißen Männern übertragen. (Keyssar 2000, S. 26-52) Die Dynamik und das Wachstum der amerikanischen Gesellschaft können als Zeichen ihres Erfolges gewertet werden. In den Augen vor allem der bürgerlichen Zeitgenossen waren sie jedoch auch Indikatoren krisenhafter Entwicklungen, und das Vertrauen in die einwandfreie Funktionsfähigkeit einer derart dynamisierten Republik, in der alle weißen Männer Führungsqualitäten beweisen mussten, begann zu schwinden. Die aufkommende Industrialisierung nagte an dem Ideal einer Gesellschaft selbstständiger yeoman-Farmer, und gemeinsam mit dem Bevölkerungsschub und der zunehmenden Urbanisierung brachte sie vor allem in den städtischen Zentren neue Formen von Armut, Kriminalität und Gewalt mit sich. Weite Teile der bürgerlichen Schichten waren verunsichert ob der politischen und sozialen Verschiebungen und ihrer möglichen Folgen. Wie sollten, wie konnten unter solchen Bedingungen überhaupt gute, tugendhafte, selbstkontrollierte Republikaner entstehen? (Allg. Kimmel 1996, S. 13-78) Ab den 1810er Jahren mehrten sich die Warnungen, insbesondere in den unteren Segmenten der Gesellschaft herrsche bisweilen nur wenig Gouvernement. Offensichtlich kamen viele Männer mit den republikanischen Freiheiten nicht zu Rande: Von einer Regierung ihrer selbst konnte nicht die Rede sein, und damit scheiterten sie zwangsläufig auch an der väterlichen Mission, ihre Familienmitglieder zu einer adäquaten republikanischen Lebensführung anzuleiten. Statt ihrer familiären Ver92

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antwortung nachzukommen, gaben sich diese Männer den urbanen Versuchungen des Glücksspiels, der Prostitution und des Whiskeys hin. Insbesondere der Alkohol wurde als Quelle männlichen Versagens ausgemacht – und Alkohol wurde in der Early Republic massenhaft konsumiert. Hatte das gemeinsame Trinken zunächst noch als respektables Ritual auch ehrbarer Männer gegolten (etwa nach dem Abschluss eines guten Geschäftes), so wandelte es sich im frühen 19. Jahrhundert im Kontext der aufkeimenden sozialen Krisenmomente und der zugleich immer wichtigeren Ethik der Selbstkontrolle zum Indikator des Kontrollverlustes und eines schichtspezifisch gedachten Mankos verantwortungsbewusster Männlichkeit. Alkohol, so warnten nun mehr und mehr Ratgeber und Reformer, zerstörte den Mann und mit ihm das geordnete Heim und die Familie, wodurch wiederum das Bestehen der Republik im Ganzen gefährdet war. Eindringlich wurde gewarnt, dass dysfunktionale Familien Folgen väterlichen Scheiterns waren und durch die schlechte Führung ihrer Kinder zu Brutstätten von Disziplinlosigkeit, Gewalt und Verbrechen würden. John Adams’ oben zitierte Erwägung aus dem Jahr 1778, dass letztlich nur stabile Familien dem Sittenverfall vorbeugen könnten, war rund vierzig Jahre später zu einer brennenden sozialen und gesellschaftspolitischen Diagnose geworden. Insbesondere Frauen und ihr Nachwuchs waren durch versagende und pflichtvergessene Väter sozial gefährdet. Schließlich war es für alleinstehende Frauen innerhalb der damaligen Gesellschaftsordnung nur schwerlich möglich, ein eigenes Auskommen außerhalb der Prostitution zu erwirtschaften. Der Historiker Bruce Dorsey zeigt am Beispiel Philadelphias, wie die städtische Armenfürsorge nach 1810 massiv ausgeweitet werden musste und zu 90% solche Frauen mit ihren Kindern unterstützte, die von ihren Männern verlassen worden waren. (Dorsey 2002, S. 50-89 zu Armut, S. 90135 zu Alkohol; Parsons 2003) Offensichtlich war es unerlässlich, an den Instruktions- und Führungsmechanismen und ihrer vielfältigen kulturellen und gesellschaftlichen Verankerung zu feilen, damit die Menschen lernten, sich freiwillig in ein Regelsystem einzufügen und ein geordnetes Leben zu leben. Die immer breitere gesellschaftliche Reformbewegung war vor allem darauf ausgerichtet, die entsprechende Bildung republikanischer und selbstkontrollierter Individuen zu fördern und zu diesem Zweck die beklagten Defizite von Vätern und Familien aufzufangen. Die nun vermehrt publizierten Ratgeber, auf die ich oben bereits verwiesen habe, bildeten ein Element in dieser Bewegung, die darauf ausgerichtet war, den Willen zur Pflichterfüllung zu kultivieren, ohne in Zwang, Furcht und blinder Unterwerfung zu gründen. Motiv sollte vielmehr die Einsicht in den besten Weg der Selbst-, Familien- und Gesellschaftsführung sein. 93

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Häufig waren die Ratgebertexte und ihre Autoren religiös geprägt, wie die gesamte Reformbewegung überhaupt. Das so genannte Second Great Awakening dieser Jahre erfasste weite Teile der Bevölkerung, brach es doch mit kalvinistisch elitärem Prädestinationsdenken und puritanisch hierarchischen Strukturen. Es betonte stattdessen die Kraft eines jeden Menschen, Veränderung herbeizuführen. Der Wille dazu sei, so meinte man, häufig Folge einer spezifischen Erweckungserfahrung. Die Erweckungslehre verkündete, dass Gott sich in jedem Menschen zu zeigen vermochte, der sein Leben richtig lebte. Ein solcher Glaube stand folglich nicht im Widerspruch zu einer republikanischen Gesellschaftsordnung, sondern beide bekräftigten sich gegenseitig und waren auf die gleichen Prinzipien ausgerichtet, nämlich die tugendhafte Lebensführung jedes Einzelnen und die Verinnerlichung einer entsprechenden Werteordnung zu fördern. Benjamin Rushs Diktum von 1786, „[that] a Christian cannot fail of being a republican“, kann als Leitmotiv der Reformer gesehen werden. Wer Seelen rettete, der stabilisierte zugleich die Republik und handelte damit patriotisch.13 Wie Reform, Religion und Republik ineinander griffen, wird besonders deutlich, wenn man auf die frühen Abstinenzler schaut. Stark von den neuen Evangelikalen geprägt, bildeten sie in den 1820er Jahren eine der tragenden Reformbewegungen und organisierten sich 1826 in der American Society for the Promotion of Temperance. Acht Jahre später hatte die Organisation bereits über eine Million Mitglieder (bei rund 14 Millionen Einwohnern in den USA), und sie wurde wesentlich von Frauen getragen. Deren erklärtes Ziel war, den Mann vor dem Dämon Alkohol zu retten – und zwar erstens als individuellen Menschen, zweitens für die Familie und drittens für die Republik. Der Kampf gegen den Alkohol war durchweg ein Kampf um die Bewahrung zeitgenössischer Entwürfe „guter“, nobler Männlichkeit. Er war an einer Werteordnung ausgerichtet, in deren Zentrum das republikanische Konzept des „governing“ stand: Charakterbildung, Selbstkontrolle und die Unabhängigkeit des männlichen Individuums. (Rorabaugh 1979; Alexander 1988; Pegram 1998; Frank 1998, S. 29-30; Dorsey 2002, S. 90-135) Das Versagen und die Autorität des Familienvaters standen nicht nur im Zentrum der Temperenzbewegung, sondern auch des breiteren Sozialdiskurses. So verdeutlichte auch die Gestaltung des Armenwesens, wie sehr die Reformbewegung um das männliche Individuum kreiste. Zeitgenössische Untersuchungen und Beobachtungen aus dem Umfeld von Reformgesellschaften und Armenfürsorge verdeutlichten, dass wenn 13 Rush, Of the Mode of Education proper in a Republic; Dorsey 2002; Morone 2003, S. 123-131; Smith-Rosenberg 1971.

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nicht der Tod, dann die Unzuverlässigkeit und der Alkoholkonsum des männlichen Haushaltsvorstandes die Familie in die Armut und Bedürftigkeit stürzten.14 Eine Möglichkeit, auf diese Missstände zu reagieren, wäre gewesen, die gesellschaftliche und familiäre Position von Frauen, deren Selbstständigkeit und somit deren Überlebenschancen im Falle männlichen Scheiterns zu stärken. (Moroney 2000) Die Sozialreformer schlugen aber vielmehr eine andere Richtung ein und fokussierten den männlichen Haushaltsvorstand. Dessen Unzuverlässigkeit sollte beseitigt werden, um die Position des Vaters in der Familie zu festigen und auf diesem Wege Familien wie Gesellschaftsordnung zu stabilisieren. Es wurde nun moniert, dass die Unterstützung bedürftiger Frauen durch Almosen, die ja bis in das frühe 19. Jahrhundert die Armenpolitik prägte und (wie oben bereits erwähnt) in den zurückliegenden Jahren deutlich zugenommen hatte, letztlich die Gesellschaft wie die väterliche Position schwäche. Erstens verleite sie zur Untätigkeit, und zweitens mindere sie die Abhängigkeit der Frau von einem Mann an ihrer Seite. Entsprechend wurde die Vergabe von Almosen zunehmend durch Maßnahmen zur Charakterbildung und durch die Anleitung zur Arbeit ersetzt – Maßnahmen, die vornehmlich auf Männer ausgerichtet waren.15 Neue Armenhäuser wurden als Arbeitshäuser eingerichtet, wie etwa 1828 in Philadelphia. Die neuen Armenhäuser waren Teil einer institutionellen Verschiebung auf breiter Front, die dafür Sorge tragen sollten, dass gestrauchelte Bürger in funktionsfähige Bürger umgewandelt wurden. Diese waren nicht ausschließlich, aber doch hauptsächlich männlichen Geschlechts. Während also Familien als „natürlicher“ Raum für die Ausbildung guter Republikaner galten, kamen die nun allerorten entstehen14 Vgl. etwa: Report of the Library Committee of the Pennsylvania Society for the Promotion of Public Economy. Philadelphia 1817, wo Alkoholkonsum als eine Hauptursache familiärer Armut beschrieben wird; oder: The New York Society for the Prevention of Pauperism, Report of a Committee on the Subject of Pauperism. New York 1818; oder: Examination of Subjects Who Are in the House of Refuge in the City of New-York, Albany 1825; oder: Documents Relative to the House of Refuge, Instituted by the Society for the Reformation of Juvenile Delinquents in the City of New-York in 1824. New York 1832. 15 Die zeitgenössischen Debatten skizzieren Dorsey 2002, S. 50-89, und Meranze 1996, S. 253-292. Die Langlebigkeit dieser Struktur zeigen die Ausführungen von Bradford Kinney Peirce 1869, A Half Century With Juvenile Delinquents; or, the New York House of Refuge and Its Times, New York, etwa S. 83, S. 105, S. 106, wo auch Peirce väterliches Versagen als Hauptgrund für die Verwahrlosung der Jugend anführt. Auch die gegenwärtigen US-amerikanischen Debatten über verantwortungslose Väter, die Bewahrung des heterosexuellen Eheprivilegs oder „workfare“ zielen sämtlich darauf ab, Ehegatten und Väter, deren Verantwortungsbewusstsein und deren Position in Familie und Gesellschaft zu stärken.

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den Armenhäuser oder Gefängnisse „künstlichen“ „laboratories of virtue“ gleich, wie der Historiker Michael Meranze schreibt. (Meranze 1996; vgl. auch Rothman 1971; Christianson 1998) Doch selbst in einem ausgefeilten Laboratorium der Regierungskünste schien es schwierig, Erwachsene in die richtige Richtung zu führen, da sie bereits stark vorgeprägt waren. Kinder und Jugendliche hingegen galten als formbar, gestaltbar und empfänglich für positive wie negative Einflüsse.16 Weiterhin waren die Kinder nicht nur das Kapital der Republik, sondern auch die Opfer derjenigen Eltern, die ihren Pflichten nicht nachkamen. Es hieß, diese Eltern seien wiederum selber Produkte ihrer eigenen vernachlässigten Kindheit, weshalb sie zum Gärboden sozialen Übels geworden waren, wie Ratgebertexte herausstellten: „Is a father a drunkard, a libertine, a neglecter of his family and of the duties he owes them? […] All may be traced to the neglect of proper training in youth.“ Ähnlich strich William Alcott in einer Lebensfibel für junge Männer heraus, die 1849 bereits in der 20. Auflage erschien, dass die Erziehung der Jugend die bedeutendste Aufgabe der Welt sei.17 Die Historiker Shawn Johansen und Stephen Frank haben in ihren Studien über Väter im 19. Jahrhundert außerdem verdeutlicht, dass dies nicht nur ein Thema für Politiker und Ratgeber war, sondern dass sich auch Eltern über die richtige Erziehung ihrer Kinder austauschten. (Frank 1998; Johansen 2001) Dysfunktionale Familien galten als das Damoklesschwert der frühen Republik, hieß es doch, ihre Effekte potenzierten sich über die Generationen hinweg. Am Ende, so befürchtete man, stand der Untergang der Republik. Es war demnach unerlässlich, zum frühestmöglichen Zeitpunkt gegenzusteuern, um dem kindlichen Charakter „manly and hopeful qualities“ zu vermitteln. Denn auf der Basis einer derart soliden Erziehung würden selbst schwierigste Pflichten leicht von der Hand gehen, hieß es zum Beispiel 1827 auf dem Jahrestreffen der noch jungen New York Society for the Reformation of Juvenile Delinquents: „The most difficult duty, the most rare virtue, may thus become easy.“18 16 Als Schallgrenze galt allgemein das 16. Lebensjahr, wie etwa der Leiter der Jugendreformanstalt Philadelphias, Edwin Young, betonte; vgl. dazu Alexis de Tocqueville und Gustave Beaumont 1833, On the Penitentiary System of the United States, Philadelphia, S. 230-231. Weitere Hinweise bei Rothman 1971, S. 213. 17 Vgl. Kirwan 1858, The Happy Home, New York, S. 21, und S. 23: „We may not reform the parents, but we may train up their children for heaven.“ William Alcott 1849, The Young Man’s Guide (1844), 20. Aufl., Boston, S. 32-33. 18 „Manly and hopeful qualities“ bei Peirce, A Half Century With Juvenile Delinquents, S. 83; Second Annual Report of the Managers of the Society

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Die New York Society war eine von vielen Gesellschaften, die sich in den zurückliegenden Jahren formiert hatten, um dem Problem einer führungslosen Jugend beizukommen. Eine entsprechende Erziehungsanstalt hatten die New Yorker bereits zwei Jahre zuvor eröffnet, Boston, Philadelphia und andere Städte vorrangig im Nordosten der USA zogen bald nach. Auf diesem Wege, betonte die New Yorker Gesellschaft, sollten diejenigen Kinder zurückgewonnen werden, die aufgrund ihres versagenden Elternhauses eigentlich schon verloren geschienen hatten. Die Bedrohlichkeit defizitärer Familien wurde wieder und wieder betont – und zwar nicht nur für die betroffenen Kinder, sondern für die amerikanische Gesellschaft wie für die gesamte Menschheit. Bemerkenswert ist, wie sehr die Jugendreformer innerhalb der dominanten Ordnungsmuster väterlicher Männlichkeit und familiärer Fürsorge dachten und agierten. So fügte sich die New York Society in das Konzept einer gutmeinenden väterlichen Gesellschaftsführung, indem sie betonte, die Stadtregierung und die Reformgesellschaft seien die obersten Wächter der Gemeinde und ihrer Tugendhaftigkeit, und „they may be justly regarded as the political fathers of the unprotected.“19 Daraus leitete sich für die politischen Väter nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht her, in die Geschäfte der Familien einzugreifen und „in loco parentis“ zu treten, wenn die biologischen Eltern offenbar an ihren Aufgaben scheiterten. Wie dicht dieser Diskurs war, vermag ein wichtiges Urteil zu verdeutlichen, das der Oberste Gerichtshof Pennsylvanias einige Jahre später in einem entsprechenden Konflikt zwischen einer Mutter und einer Erziehungsanstalt fällte. Die Justiz befand, dem „parens patriae“, dem „common guardian of the community“ und somit den Vertretern der bürgerlich-republikanischen Führungszirkel obliege die Aufgabe, Kinder gegebenenfalls dem Einfluss der leiblichen Eltern auch gegen deren Willen zu entziehen und in die Obhut einer Erziehungsanstalt zu verweisen. Wichtig für unsere Betrachtung ist dabei nicht zuletzt, dass hier abermals deutlich wird, wie Verantwortlichkeit auf den verschiedensten Ebenen in väterlich-elterlichen Kategorien konzeptionalisiert wurde.20 Betrachtet man nun die konkrete Organisation einer solchen Anstalt genauer, so zeichnet sich das Bemühen ihrer Koordinatoren ab, auch for the Reformation of Juvenile Delinquents in the City and State of New York, New York 1827, S. 12; Sutton 1988. 19 Nach Peirce, A Half Century with Juvenile Delinquents, S. 56. 20 Im Fall „Ex Parte Crouse“ von 1838 stellte die Mutter Mary Crouse die Verfassungskonformität des House of Refuge Philadelphias in Frage, da es nach ihrer Ansicht eine Form der Haft ohne gerichtliche Verurteilung darstellte; vgl. dazu Meranze 1996, S. 291-292, sowie Mintz 1989, S. 395.

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dort ein Abbild familiärer Grundstruktur zu schaffen. Die New Yorker Erziehungsanstalt setzte sich zum Ziel, denjenigen Kindern ein republikanisches Heim unter Führung eines guten Vaters zu geben, in deren biologischen Familien es an den entsprechenden Strukturen und der entsprechenden väterlichen Kompetenz mangelte. Auf diesem Wege könne bei den Kindern eine Veränderung der Geisteshaltung erzeugt werden, die von Dauer und hoher Wirksamkeit sei, betonte die New York Society in ihrem Bericht des Jahres 1827.21 Als erster „house father“ stand Joseph Curtis dem New York House of Refuge vor. Unterstützt von einer „house mother“ sollte er seinen Schützlingen „the government of a wellordered Christian household“ bieten. (nach Rothman 1971, S. 214-215, S. 235) Es hieß, er lenkte die Entwicklung republikanischer Fertigkeiten und Tugenden, die Bildung und Ausbildung, die religiöse Unterrichtung und die rigide Disziplin seiner Schützlinge, die übrigens zu ca. 80% männlichen Geschlechts waren, „with paternal goodness, care, and affection“. Väterliche Zuneigung sollte die Faulheit und Untugend der Jungen in Liebe zur Arbeit und „manly self-restraint“ verwandeln und eine dauerhafte Verbesserung ihrer Geisteshaltung und Tugendhaftigkeit erreichen. Zum Zweck ihrer Entwicklung wurden die Kinder in ein vierstufiges System eingebunden, das ihr Vorwärtskommen auf dem Weg zur Selbstführung abbildete. Individuelle Ausbildung sollte soziale Stabilität sichern. Während Jungen nebst Selbstkontrolle und Disziplin auch konkrete Fähigkeiten zum Broterwerb vermittelt bekamen und das ultimative Ziel ein Ausbildungsplatz war, wurden die vergleichsweise wenigen Mädchen insbesondere in Haushaltstätigkeiten instruiert.22 Die Figur des fürsorglich-väterlichen Anstaltsleiters, der sogar dann nur das Beste und das Fortkommen seiner „Kinder“ im Sinn hatte, wenn er sie züchtigte, wurde in den folgenden Dekaden zu einer prominenten Aussage des sozialreformerischen Diskurses. Texte wie die 1858 veröffentlichten Memoiren von Joseph Curtis oder die 1869 von Bradford Kinney Peirce publizierte Geschichte der Jugendreformbewegung in 21 Second Annual Report of the Managers of the Society for the Reformation of Juvenile Delinquents in the City and State of New York, S. 11. 22 Second Annual Report of the Managers of the Society for the Reformation of Juvenile Delinquents in the City and State of New York, S. 11, und: Appendix to Second Annual Report. Rules and Regulations for the Government of the House of Refuge, Adopted January 2nd, 1827. New York 1827, S. 50ff.; vgl. auch Peirce, A Half Century With Juvenile Delinquents, S. 77, S. 81, S. 256. „We will be like fathers to them if they obey our rules,“ schrieb Nathaniel Hart, zweiter Leiter des New Yorker House of Refuge, am 17. Dezember 1834 an den ehemaligen New Yorker Bürgermeister und Präsidenten der Society for the Reformation of Juvenile Delinquents, Stephen Allen, nach Pickett 1969, S. 144.

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New York trugen dazu bei. Andere Berichte, Aussagen sowie Anstaltsbücher zeigen allerdings, wie häufig die Knute in den Erziehungsheimen benutzt wurde. (Rothman 1971, S. 231) Joseph Curtis hat über die ersten Jahre des New York House of Refuge eine Art Tagebuch geführt, das dokumentiert, wie regelmäßig bei Verstößen wie Bettnässen, Autoritätsmissachtung, Schweigen oder Reden zum falschen Zeitpunkt, Fluchen bis hin zum Fluchtversuch die Peitsche geschwungen wurde. Auch Curtis‘ Nachfolger Nathaniel Hart, David Terry und Samuel Wood haben nicht gezögert zu strafen, indem sie Handflächen und -rücken, Füße oder Gesäß schlugen. (Rothman 1971, S. 231-232; Pickett 1969, S. 144145, S. 160-161) Dabei schienen sie sich selbst durchaus in Einklang mit den Prinzipien der Führung zur Selbstführung zu empfinden, und auch die New Yorker Reformgesellschaft lobte in ihrem Jahresbericht von 1843 ihren Anstaltsleiter David Terry als guten väterlichen Lenker: „He exercises a moral influence over the children, and treats them as one family, over which he is the head.“23 Was dies wiederum über die Lebensrealität in den Familien andeutete, muss hier offen bleiben.

IV. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich mit dem Entstehen einer neuen Gesellschaftsordnung die Anforderungen an ein erfolgreiches Regieren veränderten. Vor allem die Anleitung der Individuen zu einer gelungenen Führung ihrer selbst sollte die Stabilität der freiheitlich gedachten Ordnung sichern. Dabei kam den Familien und insbesondere den Vätern eine zentrale Funktion zu, und die Väter ihrerseits avancierten zur ultimativen Verkörperung des republikanisch-rationalen Subjektes. Entsprechend prägte die Figur des vorbildlichen und fürsorglichen Vaters auch über die konkreten Familien hinaus die republikanische Ordnung, sie war in der politischen Metaphorik gleichermaßen verankert wie in der gesellschaftlichen Konzeptualisierung. Dies wurde einerseits dann deutlich, wenn gesellschaftliche Führungsfiguren charakterisiert wurden, andererseits aber auch, wenn konkrete Väter und Familien versagten. Dann traten politische Väter an deren Stelle, und die sich im frühen 19. Jahrhundert ausbreitenden Reformeinrichtungen waren darauf ausgerichtet, die Defizite dysfunktionaler Familien und versagender Väter zu kompensieren. Am Konzept der Familie und der väterlichen Führung als Kern der republikanischen Gesellschaftsordnung wurde aber 23 Eighteenth Annual Report of the Managers of the Society for the Reformation of Juvenile Delinquents to the Legislature of the State, and the Corporation of the City of New York, New York 1843, S. 10.

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nicht gerüttelt. Im Gegenteil, die Institutionen und Strukturen, die etabliert wurden, sollten eine bessere väterliche Führung bieten, als leibliche Väter dies zu tun vermochten. Das Prinzip väterlich-familiärer Führung war und blieb gesellschaftlich strukturbildend. Die Betrachtung wirft weitere Fragen auf, die in diesem Beitrag nicht mehr verfolgt werden konnten. Wie sich das Konzept der Führung zur Selbstführung und die Erfahrungen in Familien und Reformanstalten unterschieden, habe ich lediglich punktuell angedeutet. Hier wäre nachzuhaken und etwa genauer nach der Rolle von Gewalt in der Erziehung und im zeitgenössischen Selbstentwurf als zivilisatorisch fortentwickelte Gesellschaft freier und gleichberechtigter Menschen zu fragen. (Daniels 1999 u.a.) Weiter fällt auf, dass dysfunktionale Familien und somit republikanische Unordnung vorwiegend bei den unterbürgerlichen Schichten diagnostiziert wurden. Hier müssten Differenzierungsmechanismen an Hand der Kategorie „Klasse“ genauer in den Blick genommen werden, und dabei ist zu fragen, wie diese im Verbund mit „Geschlecht“ wirkten. Zudem wäre die Kategorie „race“ in die Analyse einzubinden: Die Debatten um die „black family“ und das angebliche Versagen afroamerikanischer Väter werden seit den Zeiten der Sklaverei und bis heute intensiv geführt, und sie sind seit jeher an das Recht auf politische Teilhabe gekoppelt. (Vgl. etwa Finzsch 2002) Diese Debatten deuten zudem an, wie wichtig und hochpolitisiert „family values“ in der US-Gesellschaft sind, was sich zudem in oft erbitterten Kämpfen um Sozialpolitik, Abtreibungsrechte oder homosexuelle Ehen artikuliert, um hier nur einige wenige weitere Aspekte aufzuwerfen. (Chauncey 2004)

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3. G R E N Z G Ä N G E R I M 19. J AH R H U N D E R T

Männlichkeiten, territoriale Expansion und die amerikanische Frontier im 19. Jahrhundert AMY S. GREENBERG

The American people [...] have, while scarce ‚hardened into manhood,‘ swept across the ‚impassable‘ mountains, overspread the great valleys, and penetrated in immense numbers through the wilderness of the Oregon, the Sacramento, and the Gila, to the very shores of the Pacific Ocean. De Bow’s Review, Juli 1849

Nur wenige Ikonen der US-amerikanischen Geschichte sind so aggressiv maskulin konnotiert, wie die Männer der Frontier des 19. Jahrhunderts. Dem weiblichen Einfluss entzogen, konnte der frontiersman jagen, kämpfen, große Bäume fällen und auf andere Weise die Wildnis „zähmen“, um so den Westen für der Besiedelung zu öffnen. Er war geistiger Vater des Cowboys, dessen Insignien – Pferd, Ranch und eine raubeinige Unabhängigkeit – immer wieder von den Präsidenten des 20. Jahrhunderts zu politischen Zwecken instrumentalisiert wurden – von Theodore Roosevelt über Ronald Reagan bis zu George W. Bush. So blieb der frontiersman für die amerikanische Kultur und die Konstruktion amerikanischer Männlichkeit von unvergleichbarer Bedeutung. Gemeinsam mit anderen Exemplaren ausgeprägter Maskulinität, wie dem Goldgräber, dem Soldaten des US-amerikanisch-mexikanischen Krieges oder dem Pelztierjäger, machte er besonders aggressive Geschlechterpraktiken zur Grundlage einer räumlich expandierenden Nation. (Connell 1995, S. 194; Smith 1950, S. 81-111; Slotkin 1973)

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Entsprechend wurde James Fenimore Cooper mit seiner Darstellung des fiktiven frontiersman Natty Bumppo in dem Roman The Pioneers (1823) Amerikas erster Schriftsteller von internationalem Rang. In späteren Romanen wie The Last of the Mohicans (1826) und The Deerslayer (1841) entfaltete Cooper Bumppos Leben für ein begeistertes Publikum. Bumppo, der Inbegriff des selbstverantwortlichen Individuums, wurde so zum Vorbild unzähliger fiktiver frontiersmen. (Taylor 1995, S. 409-412; Slotkin 1973, S. 484-506) 1856 nominierte die neu gegründete Republikanische Partei mit John C. Frémont Amerikas berühmtesten frontiersman (auch als „the pathfinder“ bekannt) als ihren Spitzenkandidaten für die Präsidentschaftswahl. Dadurch sollten die Pläne der politischen Gegner durchkreuzt werden, die soziales Reformstreben (besonders den Abolitionismus und die Frauenrechtsbewegung) als unmännlich diskreditierten. Frémont hatte 1846-48 eine entscheidende Rolle im Krieg gegen Mexiko gespielt und somit die Expansion der USA vorangetrieben, und seine leidenschaftlichen Darstellungen der Erforschung des amerikanischen Westens, die übrigens größtenteils von seiner Frau verfasst waren, trugen in den 1840er Jahren maßgeblich dazu bei, die Manifest Destiny im kollektiven Bewusstsein zu verankern: eine Ideologie, die suggerierte, dass Amerikas Ausbreitung über den nordamerikanischen Kontinent und sogar darüber hinaus von Gott vorherbestimmt sei. (Chaffin 2002) Die Manifest Destiny war ein wesentliches Instrument, den blutigen Krieg von 1846 gegen die südlichen Nachbarn der USA zu legitimieren und die so plötzliche und rasche Vergrößerung der Nation in ein plausibles Narrativ einzubinden. Militärisch erzwungene Konzessionen Mexikos im Südwesten und diplomatische Konzessionen Großbritanniens im Nordwesten ermöglichten es den Vereinigten Staaten, ihre geografische Ausdehnung zwischen 1840 und 1860 zu verdoppeln. Vor 1840 lebte noch der Großteil der amerikanischen Bevölkerung östlich des Mississippi – nur zwanzig Jahre später siedelten über vier Millionen Amerikaner westlich dieses Flusses, und mit Ausnahme Alaskas (erst 1867 von Russland gekauft) hatten die kontinentalen Vereinigten Staaten ihre noch heute bestehende Form angenommen. Natty Bumppo und Frémont repräsentieren nicht nur Charaktere eines amerikanischen territorialen Expansionismus, sie waren auch die vordersten Vertreter einer tatkräftig und körperlich definierten Männlichkeit. Als Frederick Jackson Turner 1893 in seiner berühmten Frontierthese den amerikanischen (männlichen) Charakter, „that restless, nervous energy; that dominant individualism“ auf den positiven Einfluss der Frontier zurückführte, hätte er den fiktiven Bumppo und den mythischen Frémont als direkte Beweise anführen können. 104

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Freilich war gar kein Beweis notwendig, wenn man einen solchen Zusammenhang zwischen Frontier, Expansion und Mannsein behauptete: Ohnehin gingen viele Amerikaner davon aus, dass das Ende der Frontier im Jahr 1890 zerstörerische Auswirkungen auf das amerikanische Mannsein haben würde. Schließlich waren territorialer Expansionismus und Männlichkeit in der US-amerikanischen Geschichte seit über einem Jahrhundert eng miteinander verknüpft. (Billington 1961, S. 3762; Drinnon 1990, S. 272) Amerikas Ideologie der Manifest Destiny, die zu den Zeiten Bumppos und Frémonts ihren Höhepunkt erreichte, war ebenfalls explizit geschlechtlich codiert. Geschlechterdiskurse prägten sowohl das gesellschaftliche Verständnis der Manifest Destiny und ihrer Bedeutung als auch die Erfahrungen der Männer und Frauen, die den Spuren der Trapper folgten und gen Westen zogen. Auch versprach die Manifest Destiny, in Zeiten dramatischen sozialen und ökonomischen Wandels die Männlichkeit der Daheimgebliebenen zu stärken.1 Dieses Kapitel wird zunächst einen Überblick über das Verhältnis von US-amerikanischer, territorialer Expansion und Männlichkeitsentwürfen geben. Besonders berücksichtigt werden dabei die entscheidenden Dekaden vor dem Bürgerkrieg, als die USA ihre heutige Form annahmen und außerdem militante Abenteurer, so genannte filibusters, verschiedene benachbarte Staaten, wie auch Kuba und Nicaragua, überfielen.2 Zuvorderst soll dabei betrachtet werden, wie sich territorialer Expansionismus und Geschlechterentwürfe wechselseitig bedingten und prägten. Mit der Umgestaltung der US-amerikanischen Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verschoben sich auch die Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Menschen in den USA erlebten vor dem Bürgerkrieg eine Vielzahl an Veränderungen: die europäische Massenimmigration, das Second Great Awakening, das Ende der bound labor im Norden sowie die Anfänge einer Marktrevolution, mit der Produktionsspezialisierungen sowie Abhängigkeiten von größeren Märkten auch in ländlichen Regionen einhergingen. Weiterhin kam es zu Fort1

2

Die Begriffe „Geschlecht“ und gender werden hier im Sinne einer „ongoing construction that shapes identities and the social practices of women and men over time“ benutzt (Morrissey 1992, S. 308, Fußnote 4). Joan Scotts Beobachtung, gender sei „a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes, and gender is a primary way of signifying relationships of power“, soll auch für diesen Beitrag als grundlegend gelten; vgl. Scott 1986, S. 1067. Weitere Ausführungen finden sich bei Greenberg 2005. „Filibusters“ waren Charles H. Brown zu Folge „adventurers taking part in forays against friendly nations to foment revolution or capture the government.“ Brown 1980, S. 3; siehe auch May 2002, S. xi.

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schritten in der Drucktechnologie, zum Rückgang der kleinen Handwerksbetriebe, zu einer zunehmenden Klassenbildung und zum universellen Wahlrecht für weiße Männer. (Greenberg 2005, S. 1-17) Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbruch dieser Zeit hatte tiefgreifende Auswirkungen auf das Geschlechterleben. Wettbewerb und ökonomische Transformationen unterminierten die traditionellen Wege wirtschaftlichen Fortschritts, die Männer bis dahin hatten beschreiten können, und machten den Prozess von Berufswahl und -erfolg fordernder und kompetitiver. In den 1830er Jahren kam es zu einer Spaltung patriarchalischer Männlichkeitskonzepte, als, um hier Robert Connell zu zitieren, „practice organized around dominance was increasingly incompatible with practice organized around expertise or technical knowledge.“ Männliche Erfahrungen in Bezug auf Arbeit und häusliches Leben, soziale Wechselwirkungen und sogar Staatsbürgerschaft unterliefen zwischen 1830 und 1850 einem dramatischen Wandel. (Connell 1995, S. 193) In den frühen Jahren der Republik umfasste das Verständnis von Männlichkeit Tugend, Ehre und den Dienst für die Gemeinschaft – das Ideal männlichen Verhaltens beruhte hier vor allem auf der inneren Formgebung. Historikerinnen und Historiker haben gezeigt, dass sich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts das dominante männliche Ideal hin zu einer „primitiven Männlichkeit“ verschob. Männer der gesellschaftlichen Mittelschicht wurden ermutigt, ihre „animalische Natur“ zu begrüßen, ihre physische Stärke zu vergrößern und ihre martialischen Eigenschaften zu kultivieren, so dass sie sich erfolgreich mit Männern angeblich weniger fortgeschrittener Klassen und „Rassen“ würden messen können. Die Nostalgie des späten 19. Jahrhunderts für die Opfer und die Verzichte, die die Bürgerkriegsgeneration geleistet hatte, stützte die so virulente Wahrnehmung, die Männer der Mittelklasse seien zwischenzeitlich verweichlicht und bedürften einer Reanimierung ihrer vermeintlich essenziellen männlichen Tugenden. (Bederman 1995; Gorn 1986; Rotundo 1993; Tosh 1994, S. 182) Die mittleren Dekaden des Jahrhunderts waren eine Periode des Übergangs: Eine Mittelklasse war gerade im Begriff, sich im Zuge der Industrialisierung und der sich verändernden Arbeitswelt herauszubilden, und sowohl Klassen- als auch Geschlechternormen befanden sich im Fluss.3 Clyde Griffen betont für diese Zeit, „markedly divergent conceptions and styles of masculinity coexisted, not only between the social classes but within them.“ In den 1850er Jahren existierte kein konkretes,

3

Stuart Blumin 1989, S. 13, hat betont, „a middle class was not fully formed before the [Civil] war.“

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alleingültiges Männlichkeitsideal, wie etwa die „primitive manhood“ der 1890er oder die „gentry masculinity“, die die Erwartungen an die Männer des 18. Jahrhunderts bestimmte. (Griffen 1990, S. 185; Connell 1995, S. 191) Stattdessen war die Ära der Manifest Destiny von zwei sehr verschiedenen und miteinander konkurrierenden Konzepten von Männlichkeit geprägt: Einer „zurückhaltenden“ und einer „martialischen“ Männlichkeit.4 Eine „zurückhaltende“ Männlichkeit wurde von solchen Männern gelebt, die ihre Identität in der Familie begründet sahen, ihrem christlich-evangelikalen Glauben und dem Erfolg in der Arbeitswelt. Für diese Männer war das Heim das moralische Zentrum der Welt, mit der Ehefrau und Mutter als Verkörperung der true womanhood und als moralischer Kompass. Dem Beispiel Jesu Christi folgend versuchten sie, ein sündenfreies Leben zu führen. Die gewalttätigen Sportarten beispielsweise, die die Arbeiter in den Städten so fesselten, lehnten sie prinzipiell ab. Auch tranken sie nie im Überfluss und unterstützten häufig die Temperenzbewegung, die den Alkohol als Quelle allen Übels zu verbannen trachtete. Die „zurückhaltenden“, selbstkontrollierten Männer waren weder schwach, noch verweiblicht, obwohl Anhänger martialischer Männlichkeit ihnen diese Attribute zusprachen. Sie waren sowohl im Berufsleben erfolgreich (wo auch sie durchaus aggressive Taktiken anwandten) als auch in anderen Lebensbereichen. Männer dieser Art waren in sämtlichen politischen Parteien vertreten, jedoch übten die reformerischen Ansätze der Whigs, Know-Nothings und der Republicans besondere Anziehungskraft auf sie aus. Die Whigs unterstützten die Frauenrechtsbewegung stärker als die Demokraten und forderten offen die Beteiligung von Frauen an ihren Kampagnen. In den Augen der Zeitgenossen waren diese „zurückhaltenden“ Männer überaus männlich. Deren Männlichkeit resultierte aus moralisch aufrichtigem Verhalten, Zuverlässigkeit und Mut. (Griffen 1990, S. 187-188; Varon 1998; Ronald and Mary Saracino Zboray 2000, S. 413-446) „Martialische“ Männer widersetzen sich den moralischen Standards, denen die „zurückhaltenden“ Männer folgten. Sie tranken häufig exzessiv – und das mit Stolz – und zelebrierten ihre physische Stärke und damit die Möglichkeiten, andere Männer und Frauen zu dominieren. In einer Zeit struktureller ökonomischer Veränderung und wachsender Bedeutung des Expertentums strebten sie mit ihren männlichen Verhaltensformen immer noch wesentlich nach Dominanz. Vorstellungen einer 4

Im englischen Original benutzt die Verfasserin die Begriffe „restrained manhood“ und „martial manhood“.

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moralischen Überlegenheit von Frauen sowie die Werte der Häuslichkeit waren ihnen fremd. „Martialische“ Männer waren im Gegenteil der Ansicht, dass maskuline Qualitäten wie Stärke, Aggression, ja sogar Gewaltausübung den wahren Mann besser definierten, als die standhafte und moralisch korrekte Männlichkeit der „zurückhaltenden“ Männer. Bisweilen verehrten sie das Rittertum und alles, was damit assoziiert werden konnte, sowie andere maskuline Ideale der Vergangenheit. (Isenberg 1998, S. 141-147). Auch solche kriegerischen Männer waren in allen politischen Parteien zu finden, doch vor allem der aggressive expansionistische Diskurs der Democrats sprach sie an. Zugleich aber waren sie keineswegs grundsätzlich rüpelhaft, auch wenn „zurückhaltende“ Männer sie so bezeichnet hätten. Die martialische Männlichkeit ebenso wie die „primitive Männlichkeit“, die im späten 19. Jahrhundert aufkommen sollte, idealisierten Eigenschaften wie Stärke und Mut und heroisierten den abenteuerlustigen Außenseiter. Doch in dieser vordarwinistischen Zeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts existierte noch keine Basis für eine männliche Identifikation mit „primitiven Völkern“ oder einer „bestialischen Natur“, wie dies dann im ausgehenden 19. Jahrhundert der Fall sein sollte. (Rotundo 1993, S. 227-231; Smith-Rosenberg 1985, S. 92-108) Aggressiver Expansionismus, hier als Unterstützung des Krieges zur Gewinnung neuen amerikanischen Territoriums definiert, wurde besonders in der Zeit der Manifest Destiny von den martialischen Männern befürwortet. Debatten über die Ideologie der göttlichen Vorsehung reflektierten fast immer auch Auseinandersetzungen mit den Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, denn es waren geschlechtlich codierte Praktiken, durch die Männer das aggressive Streben nach neuem Territorium vorantrieben. Wie zeitgenössische Briefe verdeutlichen, erhofften junge Männer, vor allem durch ein Leben als Soldat und Söldner ihre Männlichkeit demonstrieren zu können. Aber nicht nur die martialischen Männer, sondern auch die zurückhaltenden Männer, die in Opposition zum aggressiven Expansionismus standen, glaubten an eine amerikanische Manifest Destiny. Doch strebten sie deren Entfaltung nicht durch Waffengewalt an, sondern durch den Handel und die Verbreitung amerikanischer sozialer und religiöser Institutionen. So forcierte das Ringen um die Manifest Destiny die Frage, wie Männlichkeit und Weiblichkeit auf dem eigenen Kontinent und darüber hinaus zu gestalten seien. Vor allem durch Konfrontationen mit Lateinamerikanern entwickelten USAmerikaner die Vorstellung ihrer selbst als „angelsächsische Rasse“ und so auch ihr eigenes männliches Ideal. Konflikte an der Frontier führten dazu, dass so manche Amerikaner Männlichkeit und martialische Eigenschaften gleichsetzten, und dies in einer Zeit, in der andere Männer dar108

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auf insistierten, dass sich Männlichkeit am Besten im häuslichen Bereich bewährte. Diese gegenläufigen Männlichkeitsentwürfe und -praktiken trafen im Ringen um die Ausformung des amerikanischen Expansionismus aufeinander. (May 2002, S. 104; Horsman 1981, S. 208) Das Ideal des frontiersman und die Anziehungskraft der Frontier waren mit wirtschaftlichen Veränderungen verbunden, die Erfolg für martialische und zurückhaltende Männer unterschiedlich definierten. Ob im Westen jenseits der Appalachen in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts, dem Westen der Vereinigten Staaten in den 1830ern und 1840er Jahren, in Lateinamerika oder im Pazifik zwischen 1890 und 1900 – immer lockte die Frontier die martialischen Männer mehr als die zurückhaltenden. Robert Connell hat diesbezüglich zutreffend betont, dass im Zuge der Rationalisierung männlichen Lebens in den Städten „violence and license, were, symbolically and to some extend actually, pushed out [to the frontier].“ Die ökonomischen Umstände der Handwerker verschlechterten sich deutlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie verloren einen Großteil ihrer finanziellen Unabhängigkeit, als das Wachstum der Fabrikproduktion zur Schließung der kleineren Werkstätten führte. Damit verringerten sich der Verdienst wie auch das Ansehen fachlich qualifizierter Arbeit. Die Anziehungskraft der Frontier, wo Stärke, Wille und Mut mehr zählten als Manieren und gutes Auftreten, wirkte verständlicherweise stark unter denen, die in einer zunehmend industrialisierten Gesellschaft für ihre männlichen Leistungen immer weniger öffentliche Beachtung erfuhren. Auch das Aufkommen der Klassengesellschaft beförderte zusätzlich die Idee, dass die unzivilisierte und angeblich „unbevölkerte“ Frontier (bestehende Siedlungen von Indianern wurden wiederholt und stupide ignoriert) unvergleichliche Möglichkeiten für eine persönliche und nationale Verjüngung darstellte. Der Weg zum Imperium hatte in diesem Sinne auch tiefgreifende Implikationen für die Männlichkeitsentwürfe der Daheimgebliebenen. (Connell 1995, S. 194) Geschlecht und nationales Wachstum waren seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts miteinander verknüpft. Obwohl der Begriff Manifest Destiny erst ab dem 19. Jahrhundert gebräuchlich wurde, entsprang das Konzept der puritanischen Vision einer city upon a hill, die einem Licht gleichkam, das für all die weniger glücklichen leuchten würde. Der Sieg der Amerikanischen Revolution (ein Krieg gegen den britischen Imperialismus, der sich jedoch nicht prinzipiell gegen imperialistisches Bestreben selbst wandte) wurde von der amerikanischen Bevölkerung als schicksalhaft angesehen. Die republikanische Ideologie bot dem Gedanken, dass Amerikaner ein von Gott auserwähltes Volk seien, säkulare Unterstützung. Auch schon in den frühen Jahren der Republik akzeptier109

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ten viele Amerikaner die Expansion über den Kontinent als natürlich und unvermeidlich. So schrieb Jedediah Morse 1789 in seinem Geografiebuch für Kinder, „we cannot but anticipate the period, as not far distant, when the American Empire will comprehend millions of souls, west of the Mississippi.“ (Smith-Rosenberg 1992, S. 848; Morse 1970, S. 469; Harvey 2001, S. 26-36; Livingstone 1992, S. 146) Während der ersten Jahre der jungen Republik bemühten sich Amerikaner gleichzeitig darum, sich von Europäern zu unterscheiden und die Indianer zu entmenschlichen, um deren Vertreibung zu rechtfertigen. Verleger und Journalisten publizierten zahllose Artikel, in denen die militärischen Helden gefeiert wurden, um die Männlichkeit „of the American Republican, the Son of Liberty, the frontiersman, the empire builder“ zu bestätigen und zu bestärken. Durch eine weibliche Attributierung der Indianer konnten sich die weißen Amerikaner ihrerselbst als legitime Besitzer des Landes versichern. Diese Gender-Dynamik half, die amerikanische Expansion über die Appalachen hinaus voranzutreiben. (Smith-Rosenberg 1992, S. 869, Drinnon 1990) Thomas Jefferson entwarf sein „empire of liberty“ im kontinentalen Rahmen und wurde von den Expansionisten des Gilded Age als erster Imperialist der Republik verehrt. Die so genannten Jeffersonian Republicans sahen den Krieg von 1812 gegen England gleichzeitig als Wiedererstarkung martialischer Tugenden in einer postrevolutionären Generation und als Möglichkeit, Zugang zu neuem Land weiter westwärts und in Kanada zu erlangen. (Heiss 2002, S. 516-519; Onuf 2000; Watts 1987, S. 154, S. 168-169; Hoganson 1998, S. 206) Nach dem Krieg von 1812 wandten sich die USA zwar stärker innenpolitischen Entwicklungen zu, der drastische Bevölkerungszuwachs im Zusammenhang mit dem weitverbreiteten Gefühl des amerikanischen exceptionalism forderte jedoch weiteres territoriales Wachstum. Mit der Monroe-Doktrin von 1823 wurden die europäischen Mächte davor gewarnt, sich in amerikanische Belange einzumischen – eine Loslösung vom Kolonialismus allgemein fand allerdings nicht statt. In späteren Jahren wurde die Doktrin von den Expansionisten im Namen der nationalen Sicherheit benutzt, und sie sollte die Dominanz in der gesamten westlichen Hemisphäre rechtfertigen. Um 1830 bestärkte die aufkommende Amerikanische Romantik die Idee, dass Amerikas Wachstum grenzenlos seien könnte. Gleichzeitig prägten die Vertreter evangelikalen Glaubens, in Kombination mit der zunehmenden Immigration, die Sichtweise der protestantischen Amerikaner auf die katholischen Nachbarstaaten im Süden und Westen als eindeutige Bedrohung ihrer Religion und Sicherheit, ihrer kommerziellen Aktivitäten und Kultur. (Horsman 1981, S. 82-86;

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Weinberg 1963, S. 63 und S. 388; Stephanson 1995, S. 3-27; Johannsen 1997, S. 7-20; Schoonover 2003, S. 2) Der Begriff Manifest Destiny erschien erstmals gedruckt 1839 in dem politischen Journal Democratic Review. Wenn auch nie als strategische Doktrin fungierend, wurde die Manifest Destiny nichtsdestoweniger zu einer institutionellen Kraft von bestimmender Kraft. Nach Anders Stephanson war sie „of signal importance in the way the United States came to understand itself in the world [...]. Not a mere rationalization, it appeared in the guise of common sense.“ (Stephanson 1995, xiv)5 Während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren viele Amerikaner der Ansicht, dass der Expansionismus Fortschritt und Aufklärung für die gesamte Menschheit bringen würde und sich Amerikas Manifest Destiny durch die Kraft des Einflusses und der Überzeugung offenbaren würde. Folgte man den expansionistischen Visionen der 1830er Jahre, so fielen Amerika die neuen Territorien wie reife Früchte in den Schoß. Um 1840 hatte der Diskurs um die Manifest Destiny einen weitgehend martialischen Ton angenommen, ideologisch unterstützt von einer wissenschaftlichen Rassentheorie und der zunehmend fest etablierten Annahme, dass die imaginäre „Rasse“ der Anglo-Saxons zur Dominanz bestimmt sei. In der Vision wie in der Realität wurde die territoriale Expansion mit der Gewalt der Waffe umgesetzt. Obwohl die Ideologie der Manifest Destiny vom frontiersman bis zum Pelztierjäger Männlichkeit heroisierte, waren Frauen an der Frontier sowie auch im Konzept der Manifest Destiny alles andere als peripher. Zumindest theoretisch war territoriale Expansion ein politisches Thema und eng mit Krieg verbunden, weshalb es in der Mitte des 19. Jahrhunderts als außerhalb der weiblich definierten häuslichen Sphäre gedacht wurde. Wie jedoch Lynnea Magnuson gezeigt hat, legitimierte die domestizierende Kraft der Frauen die territoriale Expansion in den Jahren vor dem US-amerikanisch-mexikanischen Krieg. Sie rechtfertigte Gewalt gegenüber Indianern unter dem Vorwand, die „weiße Weiblichkeit“ zu schützen und ermöglichte es den US-Amerikanern, westliche Besiedelung als zivilisierendes Unterfangen auszugeben. Frauen der Mittelklasse aus dem Norden, die westliche Gebiete besiedelten, sahen ihr Handeln als patriotisch, und sie verstanden sich selbst als Agentinnen der amerikanischen „Zivilisierung“, während Politiker das Bild der weiblichen Besiedelung benutzten, um für die Manifest Destiny zu werben. Auf diese Weise kam es zu einer „symbiotic gender relationship

5

The Great Nation of Futurity, in: United States Magazine and Democratic Review 6 (Nov. 1839), S. 426-430.

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between male and female agents of Manifest Destiny expansion on the frontier.“ (Magnuson 2000, S. 129) Die Erkenntnisse Magnusons unterstützen Amy Kaplans These, dass sich Domestizität und Manifest Destiny in den 1840er Jahren wechselseitig bedingten. Wie Kaplan betont, entwickelten sich die Ideologien gleichzeitig und beriefen sich beide auf „a vocabulary that turns imperial conquest into spiritual regeneration in order to efface internal conflict or external resistance in visions of geopolitical domination as global harmony.“ Domestizität wurde als Argument zur Rechtfertigung der nationalen Expansion herangezogen, während die Ideologie der Manifest Destiny wiederum die Domestizität unterstützte. Die Repräsentation von Häuslichkeit in den Frauenromanen des Antebellum America trug zum Narrativ der Nationsbildung bei, und eine Vision der „beweglichen Häuslichkeit“ konzipierte das Zuhause als mobilen Raum, welcher andere Länder umfasste, während er gleichzeitig das Fremde vertrieb. (Kaplan 2002, S. 23-50, Zitat S. 31) Magnusons und Kaplans Erkenntnisse der sich wechselseitig unterstützenden Natur von Domestizität und Manifest Destiny begründen überzeugend den territorialen Expansionismus der 1830er und 1840er Jahre in Gegenden, die wesentlich von Familien besiedelt wurden: Hier ist an den Oregon Trail zu denken, an die Migration in den oberen Mittleren Westen und in das mexikanische Texas. In den geschlechtlich getrennten Migrationsbewegungen der Antebellum Periode, wie der 1849 begonnene Californian Gold Rush oder das illegale Söldnerengagement der Amerikaner in benachbarten Ländern, waren Frauen in jedem Fall weniger bedeutend. Auch waren weibliche Reisende in den noch-nichtannektierten Regionen nur wenig präsent. Gleichwohl machte es das Konzept der „reisenden Domestizität“ den Amerikanern in den westlichen Gebieten der Vereinigten Staaten möglich, dieses Areal als Teil eines nationalen „Zuhauses“ zu sehen, auch wenn die Bezeichnung der indianischen Stämme als „domestic dependent nations“ (wie sie 1831 vom Obersten Gerichtshof im Fall Cherokee Nation v. State of Georgia genannt wurden) die einfache Unterscheidung zwischen Fremdem und Eigenem erschwerte. Während Amerikaner gelegentlich für sich beanspruchten, dass ihre Präsenz in Lateinamerika aufgrund der schlechten Behandlung lateinamerikanischer Frauen durch die dortigen Männer gerechtfertigt sei, verwendeten amerikanische Expansionisten dieses Argument weitaus seltener, als es die europäischen Kolonialmächte taten.

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(Faragher 2000, S. 195; Wald 1995, S. 23-35; Sinha 1995; Enloe 1990, S. 48) 6 Amerikas erster Imperialkrieg, der Krieg gegen Mexiko, war von maskulinen Praktiken getragen. Der Glaube an eine rassische Überlegenheit der Angelsachsen und an die Unterlegenheit der „gemischtrassigen“ Bevölkerung Lateinamerikas wurde mit dem Bild des dominanten amerikanischen Mannes auch auf der Geschlechterebene verhandelt. Wie Frederick Pike herausgefunden hat, waren aus Sicht der Amerikaner des 19. Jahrhunderts „Latin Americans, regardless of gender, [...] stereotyped as feminine and destined by nature to satisfy Yankee lust.“ Diese Sichtweise drückt ein Zitat des New York Herald mit der weitverbreiteten Gleichsetzung von lateinamerikanischen Nationen und Frauen aus, in dem suggeriert wird, dass „like the Sabine virgin, she [Mexico] will soon learn to love her ravisher.“ (Pike 1992, S. 13) 7 Die geschlechtlich codierte Rhetorik nahm während des Krieges der USA gegen Mexiko zu. Bis 1844 vermieden Whigs und Demokraten gleichermaßen, Texas zu annektieren, das 1836 seine Unabhängigkeit von Mexiko erklärt hatte. Mexiko hat eine texanische Souveränität nie anerkannt, und der Disput über die südlichen Grenzen der Republik machte es praktisch unumgänglich, dass eine amerikanische Annexion von Texas in einen Krieg münden würde. Während der Wahlkampagne um die Präsidentschaft von 1844 zeichneten die demokratischen Annexionsbefürworter Texas als verletzliches europäisches Mädchen und verunglimpften ihre politischen Gegner als unmännliche Moralisten, die nicht willens seien, einem „Mädchen in Not“ zu helfen. Die Aggressivität der Demokraten sollte mit einem Mantel ritterlicher Sprache verhüllt werden. Sicher war die geschlechtlich strukturierte Rhetorik nicht allein für den Krieg verantwortlich, aber der neu gewählte Demokratische Präsident, James K. Polk, provozierte diesen Krieg weniger als zwei Jahre nach seiner Wahl. Bilder von attraktiven mexikanischen Frauen und unmännlichen, schwachen mexikanischen Männern in der Populärliteratur der Kriegszeit halfen, die Aggressionen gegen Mexiko zu schüren und zu rechtfertigen. So konstatierte die Southern Quarterly Review 1847, mexikanische Frauen seien beinahe unwiderstehlich, „but the mass of the male sex is selfish, false, reckless and idle.“ (Johannsen 1985, S. 169-170, S. 189-191; Streeby 2002; Sundquist 1995, S. 162) 6

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John M. Letts, A Pictorial View of California: Including a Description of the Panama and Nicaragua Routes, with Information and Advice Interesting to All, Particularly Those Who Intend to Visit the Gold Region, by a Returned Californian, New York 1853, S. 157. New York Herald, 8. Oktober 1847.

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Auch die Kriegsgegner stützten sich auf Geschlechterbilder, wenn sie ihre Kritik formulierten. Der Kongressabgeordnete der Whigs und spätere Vizepräsident der Konföderation, Alexander Stephens aus Georgia, unterstütze die Manifest Destiny im Sinne eines friedlichen Expansionismus, während er, wie viele andere seiner Partei, den Krieg als selbstsüchtige Ausübung antiquierter Aggressionsformen verurteilte. 1846 erklärte er den Krieg als „downward progress. It is a progress of party – of excitement – of lust of power – a spirit of war – agression – violence and licentiousness.“8 Auch Aktivistinnen der Frauenbewegung der 1840er Jahre verurteilten den Krieg dafür, dass er Aggression und Stärke als notwendige Charakteristika des amerikanischen Bürgers kennzeichnete. Für Feministinnen des Antebellum America unterminierte der Aufstieg der martialischen Männlichkeit ihr eigenes Streben nach voller Staatsbürgerschaft. Die Vorstellung, Aggression sei eine bewundernswerte Qualität eines Mannes (oder einer Nation), wurde von den Gegnern des Krieges abgelehnt, während seine Befürworter gleichzeitig Gewalt als Beweis ihrer Männlichkeit zelebrierten. (Isenberg 1998, S. 105) Die geschlechtlich konnotierte zeitgenössische Rassetheorie hatte tiefgreifende Implikationen auf das Kriegsende 1848, als manche USAmerikaner das gesamte mexikanische Gebiet als Kriegsbeute forderten. Die all-Mexico-Bewegung fand zwar nie die mehrheitliche Unterstützung der US-Amerikaner, die eine Annexion der dichtbesiedelten Gebiete des mexikanischen Südens in einem anderen Licht sahen, als die Annexion des weniger bevölkerten Nordens. Aber die Rassetheorie ermöglichte es den Befürwortern der Bewegung, Einwände gegen die problematische Assimilierung der lateinamerikanischen Bevölkerung zurückzuweisen. So konnte der Democratic Review die Bedenken von Expansionsgegnern wie dem Ideologen der Pro-Sklaverei-Bewegung, Senator John C. Calhoun aus South Carolina, offen anerkennen. Calhoun vertrat die Ansicht, dass Mexikaner sozial, politisch und insbesondere rassisch den angelsächsischen US-Amerikanern unterlegen seien, vertraute aber eben darauf, dass sich die Eigenschaften der „überlegenen Rasse“ letzten Endes durchsetzen würden. Im Februar 1847 schrieb das Magazin, „the Mexican race now sees, in the fate of the aboriginies of the north, their own inevitable destiny. They must amalgamate and be lost, in the superior vigor of the Anglo-Saxon race, or they must utterly perish.“ Befürworter der Bewegung, die ganz Mexiko annektieren wollte, argumentierten, dass durch sexuelle Verbindungen von „tatkräftigen“ amerikani8

Congressional Globe, 29th Congress, 1st. Sess, 1846, Appendix, S. 949950.

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schen Männern mit mexikanischen Frauen acht Millionen Mexikaner gewissermaßen in die „Anglo-Saxon race“ absorbiert werden könnten. (Horsman 1981, S. 165-166, S. 233, S. 246)9 Auch nach Kriegsende lebte die Geschlechterrhetorik fort, und einige martialische Männer forderten nach 1848 weiterhin ausdrücklich ein territoriales Wachstum. Ungeachtet der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten mittlerweile vom Atlantik im Osten bis zum Pazifik im Westen, vom Golf von Mexiko im Süden bis zu den Great Lakes im Norden reichten, waren die aggressiven Expansionisten mit dem Erreichten unzufrieden und strebten nach mehr: nämlich nach territorialen Außenposten in Kanada, in Zentralamerika, in der Karibik und auf den pazifischen Inseln. Das internationale Recht missachtend, begannen US-Amerikaner mit erschreckender Regelmäßigkeit, andere Länder anzugreifen. Zwischen 1848 und 1860 war es nicht ungewöhnlich, wenn mehrere Söldnerexpeditionen in Vorbereitung oder in Gang waren. (May 2002, S. 20) Ungeachtet dessen, dass der Krieg 13.000 Amerikanern und 20.000 Mexikanern das Leben gekostet hatte und 1.193.061 Quadratmeilen mexikanischen Gebietes (inklusive Texas) an die Vereinigten Staaten übergegangen waren, entfachte der Sieg über Mexiko in vielen US-Amerikanern erst recht ein expansionistisches Verlangen. Die Verkündungen der fanatischsten Ideologen der Manifest Destiny schienen sich zu erfüllen, und gleichzeitig war ein Präzedenzfall für weitere enorme Gebietszuwächse geschaffen. Das Ende des Krieges leitete in den USA eine wahre Expansionsepidemie ein: Ehemalige Soldaten, Arbeiter aus den Städten, Anhänger des Südens und leidenschaftliche Nationalisten fanden sich in militärischen Aktionen wieder, die darauf ausgerichtet waren, immer neue Territorien von Lateinamerika abzupressen. Rund 5.000 Männer nahmen an solchen Aktionen teil, viele weitere wären gern dabei gewesen oder unterstützten die Bewegung auf andere Weise. Vor dem Krieg schrieb die Democratic Review regelmäßig, „the whole of this vast country is destined one day to suscribe to the Constitution of the United States.“ Gegen Ende der 1850er Jahre schrieb das Journal emphatisch, „Mexico and Cuba [will] be numbered among the United States of America. That is to be the certain destiny of this people, notwithstanding the delay occasioned by diplomacy, no well-informed person entertains the shadow of doubt.“ (May 2002, S. 18, S. 91-101, S. 52)10 9

The War, United States Magazine and Democratic Review 20 (Februar 1847), S. 99-102. 10 Territorial Aggrandizement, in: United States Magazine and Democratic Review 17 (Okt. 1845), S. 247; The Line of Political Knowledge, in: United States Magazine and Democratic Review 32 (März 1853), S. 280;

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Wie Shelley Streeby schrieb, verbreitete die während des Krieges produzierte Populärliteratur eine „ideology of imperial U.S. American manhood that promised to transcend internal divisions such as class and region.“ Darstellungen des amerikanischen Expansionismus nach dem Krieg dienten dem gleichen Zweck. Klassenunterschiede sollten so nivelliert werden, während zugleich an männlich Vereinendes appelliert wurde. Expansionisten trommelten in Reden auf öffentlichen Versammlungen oder in feurigen Leitartikeln die Unterstützung für ihre Agenda unter verschiedensten Männern zusammen. Die Groschenblätter in den amerikanischen Großstädten waren insbesondere in ihrer Unterstützung des territorialen Expansionismus und der Demokratischen Partei geeint. Mit der Hervorhebung Zentralamerikas, Hawaiis oder Mexikos als Gebiete, in denen weiße Männer auch ohne exzessiven Wettbewerb Erfolg haben könnten, kreierten die Vertreter des aggressiven Expansionismus einen fiktionalen Raum, der nicht nur die Kriegsführung rechtfertigte, sondern wahrscheinlich auch das Aufkommen von regionalen, ethnischen und sozialen Spaltungen in den USA selbst abwenden konnte. (Streeby 2002, S. 91; Slotkin 1998, S. 173-190; Schriber 1997, S. 86-87; Leverenz 1989, S. 72) Die in den 1840er und 1850er Jahren zunehmenden Reiseberichte über Lateinamerika verbreiteten Geschlechterstereotypen, die den amerikanischen Expansionismus weiter anheizten. Am häufigsten vertreten waren die Behauptungen, dass lateinamerikanische Männer faul und unmännlich, lateinamerikanische Frauen hingegen sowohl fesselnd als auch leicht zu erobern seien. Es scheint, dass amerikanische Reisende in Zentralamerika von diesen Klischees geprägt waren. Für viele von ihnen ging mit dieser Reise durch Lateinamerika die Aufnahme martialischer Praktiken einher, wie sie daheim nicht möglich gewesen waren. Männer in Zentralamerika tranken, unterdrückten und kämpften und nahmen dieses Verhalten mit nach Kalifornien, wohin sie zumeist unterwegs waren. Manchmal brachten sie es auch mit zurück in den Osten der Vereinigten Staaten, wo sie dann eine martialische Männlichkeit propagierten. Geschlechterspezifische Erwartungen an das richtige Verhalten von Männern und Frauen waren sowohl für die Konstitution der martialischen Männlichkeit an der neuen lateinamerikanischen Frontier zentral als auch für die allgemeine Repräsentation der Region im Kontext von Manifest Destiny. Durch die Dominanz von Männern und Frauen in Lateinamerika konnte selbst derjenige amerikanische Mann, der in den

Abrogation of the Clayton-Bulwer Treaty, in: United States Magazine and Democratic Review 42 (Dez. 1858), S. 442.

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MÄNNLICHKEITEN, TERRITORIALE EXPANSION UND FRONTIER

Vereinigten Staaten nur begrenzt Erfolg hatte, beweisen, wie dynamisch und männlich er war. (Greenberg 2005, S. 88-134) Die Koppelung von Männlichkeit und Expansionismus wurde in der Mitte des Jahrhunderts auch von Afroamerikanern hergestellt, die auf der Suche nach einem Land waren, das frei von amerikanischer rassistischer Unterdrückung war. Der schwarze Abolitionist Martin Delany argumentierte Mitte der 1850er Jahre nachdrücklich, dass afroamerikanischer Männlichkeit am besten durch die Emigration in neue Staaten, möglicherweise nach Lateinamerika oder in die Karibik, gedient sei. In The Condition, Elevation, Emigration, and Destiny of the Colored People of the United States (1852) schuf Delany eine Vision von Klima und Agrarkultur in Zentralamerika, die in ihrem Überschwang der Reiseliteratur über diese Region in nichts nachstand. Er suggerierte, Nicaragua biete zahlreiche Gelegenheiten, sich je nach seinen individuellen Möglichkeiten zu vervollkommnen. Doch ganz gleich, ob seine Leser Nicaragua oder einen anderen Staat Zentral- oder Südamerikas als ihr Ziel auswählten – für Delany stand fest: „That country is best, in which our manhood can be best developed.“ (Harvey 2001, S. 194-241; Sundquist 1995, S. 306-307)11 Die Bewegung befreite Sklaven in Richtung Liberia in Afrika vor dem Bürgerkrieg beurteilte Delany jedoch kritisch, wie viele andere afroamerikanische Männer auch. Gleichwohl waren auch positive Einschätzungen zu vernehmen. Historiker haben darauf verwiesen, dass vor allem Männlichkeitsentwürfe bedeutsam waren für die Art und Weise, in der afroamerikanische Männer aus dem Norden die Emigration nach Liberia deuteten. Einige unter ihnen sahen in Liberia die Möglichkeit zur Neuerfindung schwarzer Männlichkeit. Der Künstler Augustus Washington aus New England war der Ansicht, dass Liberia das perfekte Land sei für „the development of their manhood and intellect“, während er sich den „Busen“ Afrikas als einen Ort vorstellte, an dem „all the fruits of [...] a tropical clime [repose] in exuberance and wild extravagance.“ (Dorsey 2002, S. 154-186, Zitat Washington S. 157; Moses 1998) Letztendlich allerdings scheiterten sowohl die Kolonisationsbewegungen in Zentralamerika als auch in Liberia. William Walker aus Tennessee gelang es zwar 1855, für fast ein Jahr die Kontrolle über Nicaragua zu erlangen, kein anderer Söldner jedoch konnte einen solchen „Erfolg“ verzeichnen. 1861 beendete dann der Ausbruch des Bürgerkrieges zwischen Nord- und Südstaaten das territoriale Expansionsfieber radikal. 11 Martin Delany, The Condition, Elevation, Emigration, and Destiny of the Colored People of the United States, Philadelphia 1852, S. 184, 189.

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Hatte der einfache militärische Sieg über Mexiko zwischen 1848 und 1860 die martialische Männlichkeit unter den Zeitgenossen gerechtfertigt und bekräftigt, so führten die Schrecken des Civil War die Amerikaner 1865 zu veränderten Schlüssen über die Qualitäten martialischer und zurückhaltender Männlichkeiten. Die endlos scheinende Langeweile der Lagerroutine, zahllose Todesfälle durch Krankheiten und die Bedingungen auf den Schlachtfeldern waren Faktoren, auf die zunächst enthusiastische Rekruten nicht vorbereitet waren. Die Männer, die das Glück hatten, nach dem Bürgerkrieg zu ihren Familien zurückkehren zu können, waren nun viel mehr gewillt, eine zurückhaltende Männlichkeit als Tugend anzusehen, als dies noch in dem Moment der Fall gewesen war, als sie erstmals ihre Uniform anlegten. (Linderman 1987) Zu eben der Zeit, als vier Jahre des Kriegs und seiner Realität die Werte der martialischen Männer in vielfacher Hinsicht ad absurdum führten, erfuhren die Praktiken zurückhaltender Männlichkeit eine Aufwertung. Romantischer Idealismus machte einem bürokratischen Pragmatismus unter den Intellektuellen Platz, Erfahrung und technisches Wissen waren wieder gefragt, als Amerikaner sich auf wissenschaftliche Studien, Professionalisierung und gesellschaftliche Ordnung konzentrierten. Die soziale Schichtenbildung marginalisierte die martialischen Praktiken, die sich nur mehr in migrantischen und proletarischen Subkulturen hielten, während die Praktiken zurückhaltender Männlichkeit zu Kennzeichen mittlerer und höherer Klassen wurden. Mit den 1870er Jahren hatte die zurückhaltende Männlichkeit einen nahezu hegemonialen Status erreicht. (Fredrickson 1965; Connell 1995, S. 193) Ebenso triumphal war nach dem Bürgerkrieg der Aufstieg des Ideals kommerzieller Expansion. In den Nachkriegsjahren konzentrierte sich Washington darauf, in der westlichen Hemisphäre eine Interessensphäre durch wirtschaftliche Beziehungen zu etablieren. Man hatte dort erkannt, dass es möglich sein konnte, mit Voraussicht und Glück die Früchte des Imperialismus zu ernten, ohne seine gesamten Kosten zu tragen. James G. Blaine, der in den 1880er Jahren Außenminister unter zwei Republikanischen Präsidenten war, erklärte, die Vereinigten Staaten suchten „annexation of trade“, nicht „the annexation of territory“. Doch die USA stellten ebenso ihren Willen unter Beweis, Handel durch Waffengewalt zu verteidigen, in dem sie extensiv militärische Ressourcen aufwandten, um Investitionen in der Karibik und in Lateinamerika zu schützen. So intervenierten Streitkräfte der Vereinigten Staaten zwischen 1865 und 1873 allein dreimal in Panama. (Smith 2000, S. 25-29; Heiss 2002, S. 526; Harrison 1999, S. 91) Während weiße amerikanische Frauen in den 1840er und 1850er Jahren im Streben nach territorialer Expansion eher marginalisiert gewe118

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AMY S. GREENBERG

besonders die heldenhafte Vision von Teddy Roosevelts Rough Riders, einer freiwilligen Kavalleriedivision aus Harvard-Intellektuellen und Frontier Cowboys, stärkte militante Entwürfe von Männlichkeit und stützte die Vorstellung, dass das leichte Leben der amerikanischen Mittelklasse deren Söhne entmännlichte. Darwinistische Konzeptionen des Lebenskampfes suggerierten zusätzlich, dass dieser Prozess der Entmännlichung zu einem „Selbstmord“ der weißen Mittelklasse führen könne – zugunsten von tatkräftigen, nicht-weißen und hart arbeitenden Männern. Gleichzeitig interpretierten Imperialisten die Rolle weißer Frauen der Mittelklasse überaus konservativ, die ihrer Nation angeblich durch hohe Geburtenraten viel besser dienten, als durch eigenes politisches Engagement. (Hoganson 1998, S. 201, S. 202; Bederman 1995) 1898 nahmen die Vereinigten Staaten Kuba, Puerto Rico, Wake Island und Guam in Besitz. Der Krieg gegen die Philippinen von 1899 bis 1902 endete in der amerikanischen Besetzung des Landes – und in dem Tod von über 4.000 amerikanischen und 16.000 bis 20.000 philippinischen Soldaten sowie wahrscheinlich 200.000 philippinischen Zivilisten. Die Annexion von Hawaii, zuvor von den Präsidenten als zu kontrovers blockiert, passierte während des Spanisch-Amerikanischen Krieges problemlos den Kongress. 1903 unterstützte Präsident Theodore Roosevelt – ein ehemals schwächlicher Junge, den sein Jingoismus bis in das Weiße Haus getragen hatte – die panamesischen Separatisten gegen Kolumbien, so dass der Bau eines Schifffahrtskanals durch Panama möglich werden konnte. Zwischen 1898 und 1934 landeten die Vereinigten Staaten mehr als dreißig militärische Interventionen in Lateinamerika. (Wiley 1990, S. 489; Karnow 1989, S. 125; Hoganson 1998, S. 7; Stephanson 1995, S. 75-78; LaFeber 1963, S. 5; Smith 2000, S. 50) Während die amerikanische territoriale Expansion mit dem 19. Jahrhundert endete, schritt das imperiale Wachstum Amerikas fort. Dabei sind die Ähnlichkeiten von Vergangenheit und Gegenwart bisweilen frappierend. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts führten die USA eine streitsuchende Außenpolitik, die einen göttlichen Auftrag für bewaffnete Interventionen im Ausland für sich beanspruchte. In politischen Auseinandersetzungen versuchen heute wie damals die Kandidaten mit geringer oder ohne militärische Erfahrung ihre behütete Vergangenheit zu verbergen und stattdessen martialische Tugenden zu beweisen. Der Präsident besitzt eine Ranch, und wenn er auch nicht als Trapper bekannt ist, so kultiviert er doch die Charakteristika des frontiersman. Viele Amerikaner glauben noch immer an die Überlegenheit ihrer Nation, und die politische Führung rechtfertigt präventive Militäreinsätze gegen andere Länder auf Basis einer vermeintlichen Überlegenheit amerikanischer Kultur, Wirtschaft und Regierungsform. Die Ära der 120

MÄNNLICHKEITEN, TERRITORIALE EXPANSION UND FRONTIER

Manifest Destiny ist lange vorbei, aber die geschlechterspezifische Natur des Expansionismus schreibt sich nach wie vor in der US-amerikanischen Außenpolitik fort. (DeConde 2000, S. 286-295) Deutsche Übersetzung von Nina Witjes

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Grenzgänge: Hautfarbe, Geschlecht und die Ma c ht de r Ka te gorie n im späten 19. Jahrhundert MARTHA HODES

I. In diesem Aufsatz möchte ich die historischen Verbindungen zwischen Hautfarbe, Geschlecht und der Macht der Kategorien untersuchen, um so der Konstruktion und der Instabilität geschlechtlich strukturierter Identitäten auf die Spur zu kommen. Um herauszuarbeiten, wie geschlechtliche Identitäten mit Bedeutung angereichert werden und schließlich einen Status der Faktizität erlangen, werde ich eine Geschichte erzählen, die teilweise fiktiv, aber dennoch fest im historischen Kontext verankert ist. Ich habe diesen Weg gewählt, weil die ganz spezifischen Fragen nach Wahrnehmungen von Hautfarben, nach Systemen rassischer Klassifizierung und nach Konstruktionen von Männlichkeit in unseren Quellen oftmals schwer zu fassen sind und eine besondere historische Imagination erfordern. Lassen Sie mich mit der Vorstellung meiner Hauptcharaktere beginnen, die sämtlich wirkliche historische Akteure waren. Unser Protagonist ist ein Mann namens Smiley Connoly, 1833 auf den British West Indies geboren und von afrikanisch-europäischer Abstammung. Smiley wuchs in einer Siedlung von ehemaligen Sklaven auf den Grand Cayman Inseln auf und hatte als Seemann ein ordentliches Auskommen. 1869 heiratete er eine weiße Amerikanerin namens Eunice Richardson, unsere zweite Protagonistin. Eunice stammte aus der Arbeiterklasse 123

MARTHA HODES

Neuenglands. Ihr erster Ehemann war während des amerikanischen Bürgerkriegs gefallen, und sie brachte sich und ihre beiden Kinder als Dienstmädchen und Wäscherin durch. Wir wissen nicht, wie oder wo der Seemann Smiley der Witwe Eunice begegnete, aber ihre Hochzeit fand in Massachusetts statt, und eine Woche später segelte Smiley mit Eunice und deren beiden Kindern zu den Grand Cayman Inseln. Dort sollte die Familie fortan ihr Leben verbringen, und über die Jahre brachte Eunice zwei weitere Töchter zur Welt. Wir kennen die Geschichte von Smiley Connoly und seiner Heirat mit der weißen Frau Eunice aus einer Sammlung von Briefen, unter denen sich auch einige befinden, die von den West Indies nach Neuengland geschickt wurden. Die Lektüre dieser Korrespondenz lässt erkennen, wie oft das Paar über eine Rückkehr in die Vereinigten Staaten nachdachte. 1873 schrieb Eunice aus den Tropen, wie gern sie mal wieder mit dem Schlitten fahren würde. „I want to take her back to America“, war Smileys Reaktion, „but she is afraid that the change of climate will be too severe.“1 Smiley und Eunice sollten niemals in die Vereinigten Staaten zurückkehren, trotzdem aber werde ich in diesem Kapitel beschreiben, wie eine solche Reise hätte aussehen können. Sie würden im späten Herbst die Segel setzen, wenn die Zeit der Hurrikane vorüber wäre, noch rechtzeitig, damit Eunice ihre Schlittenfahrt machen könnte. Oder vielleicht würden sie auch zu Beginn des nordamerikanischen Frühlings starten, um den Schock eines Neuenglandwinters zu vermeiden. Wie auch immer, in unserer Erzählung wären sie im Juni 1890 in Neuengland. Ich habe dieses Datum gewählt, damit die Familie in die US-amerikanische Volkszählung von 1890 eingeht, als Regierungsbeauftragte ab dem 1. Juni durch das gesamte Land zogen. Smiley und Eunice wären zu diesem Zeitpunkt beinahe 60 Jahre alt gewesen, ihre Kinder in den Zwanzigern oder kurz davor. Ich will mit dieser fiktiven Reise aufzeigen, wie Vorstellungen von Männlichkeit ebenso wie die gelebte Erfahrung des Mannseins tiefgreifend mit Hautfarbe und Klassifizierung verschränkt waren. Wir wissen, dass Wahrnehmungen der Hautfarbe und Systeme rassischer Klassifizierung immer arbiträr und mehrdeutig sind. Wenn Zeitgenossen nationale Grenzen überschreiten – in diesem Fall zwischen den Vereinigten Staaten und der britischen Karibik – verstärken sich Willkür und Ambiguität 1

Eunice Connolly an Lois Davis, East End, Grand Cayman, 5. Jan. 1873, ein Teil vom 2. Jan.; William Smiley Connolly an Lois Davis, East End, Grand Cayman, 2. Feb. 1874, beide in Lois Wright Richardson Davis Papers, Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library, Duke University, Durham, NC.

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GRENZGÄNGE

noch. Indem ich nun meine Protagonisten diese fiktive Reise unternehmen lasse, will ich zeigen, dass der US-Zensus von 1890 in seiner Gestaltung und Ausführung dazu diente, die Autonomie und Handlungsfähigkeit farbiger Männer zu kompromittieren, und – allgemeiner gesagt – dass die Konfusion, die dem Bemühen um rassische Klassifizierung inhärent ist, die Unterordnung nicht-weißer Männer verstärkte. Unser fiktives Zusammentreffen von Smiley Conolly und seiner Familie mit dem Zensusbeauftragten wird dies herausstellen. (Ausführlicher bei Hodes 2006) Die Verbindung von Männlichkeit und Autonomie hat eine lange Geschichte. Seit der Amerikanischen Revolution knüpften schwarze Männer ihre Forderungen nach Freiheit und Gleichberechtigung an Männlichkeitsentwürfe. In dieser Hinsicht ist die historische Überlieferung aufschlussreich. Als beispielsweise im Jahr 1800 die Planungen zu einem Sklavenaufstand in Virginia im Gange waren, fragten die Organisatoren die potenziellen Mitaufständischen: „Are you a true man?“, um sie dann zu informieren: „The negroes are about to rise and fight white people for our freedom.“ Wahre Männlichkeit äußerte sich in dem Verlangen nach Freiheit – Versklavung stellte daher das direkte Gegenteil von Männlichkeit dar. (Egerton 1993, S. 57; Bloch 1987, S. 37-58) Frederick Douglass bezeichnete die Peitsche des Sklavenhalters als ein Werkzeug, um die „Männlichkeit“ der Sklaven zu „zerstören“, und während des Bürgerkrieges setzten schwarze Männer militärische Erfahrungen mit dem Gewinn ihrer manhood gleich, die auch hier mit Freiheit und Gleichheit verknüpft wurde. Nach dem Krieg verbanden schwarze Männer vor allem bürgerliche und politische Rechte mit den Qualitäten des Mannseins. Als zum Beispiel Henry McNeal Turner von politischen Ämtern ausgeschlossen wurde, weil er Afroamerikaner war, betonte er: „I am here to demand my rights and to hurl thunderbolts at the men who would dare to cross the threshold of my manhood.“ Die Sprache ist unmissverständlich.2 Es war in der Tat diese Gleichsetzung von schwarzer Männlichkeit und politischer Freiheit, die zentral für die rassisch begründete Gewalt des späten 19. Jahrhunderts wurde. Mit der Emanzipation, den Bürgerrechten und dem Wahlrecht besaßen schwarze Männer die gleichen Rechte wie weiße Männer, die diese neu erworbenen Rechte mit dem 2

Frederick Douglass, Lecture on Slavery No. 1 (1850), in: Philip S. Foner 1950-1955 (Hg.), The Life and Writings of Frederick Douglass, New York, Bd. 2, S. 135; Cullen 1992; Black 1993 – unveröffentlicht; Henry McNeal Turner, I Claim the Rights of a Man (1868), in: Philip S. Foner 1972 (Hg.), The Voice of Black America: Major Speeches by Negroes in the United States, 1797-1971, New York, S. 358.

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Zugang zu weißen Frauen und der Vergewaltigung weißer Frauen gleichsetzten. Die Lynchings schwarzer Männer erreichten 1892 ihren Höhepunkt, und sie dauerten bis weit in das 20. Jahrhundert an. Wie Frederick Douglass pointiert formulierte, waren die falschen Beschuldigungen der Vergewaltigung darauf ausgerichtet, „to blast and ruin the Negro’s character as a man and a citizen“. Auch Ida B. Wells drängte die schwarzen Männer regelrecht, ihre Männlichkeit vor dieser abscheulichen Beschuldigung zu verteidigen. Wieder ist die Sprache unmissverständlich.3 Wenn schwarze Männer der Vergewaltigung beschuldigt wurden, so nahm die Wortwahl häufig auf ihr Schwarzsein Bezug. Ein schwarzer Editor in North Carolina schrieb 1898, „every negro lynched is called a ‚big, burly, black brute‘, when in fact many [...] had white men for their fathers, and were not only not ‚black‘ and ‚burly‘ but were sufficiently attractive for white girls [...] to fall in love with them.“4 Die Aussage, dass weiße Frauen sich in schwarze Männer verliebten, bringt uns zurück zu der Geschichte von Smiley und Eunice Connolly. Eunice schrieb über die glückliche Ehe einer ihrer Schwestern, „I would not change Husbands with her, if hers has got a white skin. I know mine has not.“ Und sie fügte hinzu, „but I do not look at that when I look at him. I look for a loving glance of his eye which I always meet.“5 Bevor wir uns mit der Familie auf die fiktive Reise von den West Indies in die Vereinigten Staaten begeben und den Zensusbeauftragten zu dem Haus der Connollys begleiten, möchte ich noch ein Wort zu dem nationalen Zensus von 1890 sagen. Das Zensusformular von 1890 beinhaltete eine Spalte, die mit „race or color“ überschrieben war. Weiterhin musste zwischen „white, black, mulatto, quadroon, octoroon, Chinese, Japanese, or Indian“ ausgewählt werden. Das war der erste und einzige US-Zensus, der Menschen afrikanischer Abstammung in vier Kategorien unterteilte, die durch den Anteil schwarzer Vorfahren definiert waren. Die Anleitungen lasen sich wie folgt:

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Douglass, Why is the Negro Lynched? (1894), in: Foner 1950-1955 (Hg.), Life and Writings of Frederick Douglass, New York, Bd. 4, S. 503; Ida B. Wells, A Red Record. Tabulated Statistics and Alleged Causes of Lynchings in the United States, 1892-1893-1894 (1895), in: Jacqueline Jones Royster (1997), Southern Horrors and Other Writings. The Anti-Lynching Campaign of Ida B. Wells, 1892-1900, Boston, S. 78; Hodes 1997. Alexander Manly, Mrs. Felton’s Speech, in: Wilmington Daily Record, 18. August 1898. Eunice Connolly an Lois Davis, East End, Grand Cayman, 7. März, 1870, Davis Papers.

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GRENZGÄNGE

The word ‚black‘ should be used to describe those persons who have threefourths or more black blood; ‚mulatto,‘ those persons who have three-eights to five-eights black blood; ‚quadroon,‘ those persons who have one-fourth black blood; and ‚octoroon,‘ those persons who have one-eighth or any trace of black blood.

Diese Unterteilungen leiteten sich ausdrücklich aus dem Geschlechtsverkehr zwischen Menschen afrikanischer und europäischer Abstammung her. Sie implizierten eine präzise Genealogie, doch die letzte Klassifizierung „or any trace“ deutet auf den subjektiven Aspekt der äußeren Erscheinung hin, welcher das ganze Projekt durchzog. (Gauthier 2002, S. 27)6 Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Unterteilungen von Menschen afrikanischer Abstammung in vier rassische Kategorien keine Auswirkungen auf den rechtlichen Status einer Person hatten: Jemand, der als „octoroon“ bestimmt wurde, besaß nicht mehr Rechte als jemand, der als „black“ klassifiziert war. Stattdessen dienten die Unterteilungen insgesamt dazu, die color line aufrecht zu halten. Zur Jahrhundertwende spitzten sich diese Differenzierungen in der so genannten one-drop Regel zu: der Idee, dass jede afrikanische Abstammung, ganz gleich, wie entfernt sie war, eine Person zu einem „Negro“ mache. Als die color line im späten 19. Jahrhundert stetig rigider wurde, verwendete der föderale Zensus mehr Kategorien denn je, um Menschen afrikanischer Abstammung zu beschreiben. Mit anderen Worten: Die Erschaffung der rigidesten binären Segregation in den Vereinigten Staaten erforderte zunächst die detaillierte Artikulierung von Untergruppen, um auch gewiss alle Menschen afrikanischer Abstammung zu erfassen. Durch die Einrichtung der verschiedenen Gruppen hofften die Abgeordneten des US-Kongresses zu verhindern, dass Menschen afrikanischer Abstammung in die Kategorie der Weißen diffundierten. Eine Generation nach der Sklavenemanzipation waren diese unterteilenden Bezeichnungen dazu bestimmt, afroamerikanische Männer von den Rechten der Staatsbürgerschaft auszuschließen, und zwar in direkter Opposition zu der Tatsache, dass sie diese Rechte nach dem Bürgerkrieg erlangt hatten. (Davis 1991; Williamson 1980, S. 1-2, S. 62, S. 73-75, S. 109) Es ist ebenso signifikant, dass der Zensus Menschen, deren Abstammung zu einem Viertel europäisch war, als „black“ zählte (man erinnere sich, dass „three-fourths or more black blood“ reichte, um als „black“ zu gelten). Im Gegensatz dazu war der Kategorie „white“ die absolute Reinheit vorbehalten: die Absenz jedweder afrikanischer Vor6

Carroll D. Wright 1990, The History and Growth of the United States Census, Washington, DC, S. 177, S. 187.

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MARTHA HODES

fahren. Geschlechtsverkehr über die color line hinweg war deshalb von Bedeutung, weil hellhäutiger Nachwuchs afrikanischen Ursprungs versehentlich als weiß gelten konnte – „versehentlich“ deshalb, weil „Weißsein“ nur über absolute „Reinheit“ definiert wurde. Zugleich war diese Konstruktion durch und durch geschlechtlich codiert und eng verwickelt mit den Befürchtungen der Weißen, dass politische Rechte schwarzer Männer sexuelle Beziehungen mit weißen Frauen fördern würden. Gemäß dieser Logik konnten weiße Männer weiter schwarze Frauen vergewaltigen, denn wenn eine schwarze Frau das Kind eines weißen Mannes zur Welt brachte, würde dieses Kind vermutlich in der afroamerikanischen Gemeinde verschwinden und die Vorstellungen weißer Reinheit nicht gefährden. Hatte aber eine weiße Frau mit einem schwarzen Mann sexuellen Kontakt, sah das Ganze anders aus, da weiße Frauen als Trägerinnen rassischer Identität galten. Ein Verfechter der weißen Vorherrschaft erachtete die Grenzüberschreitungen weißer Männer als individuell, wohingegen die Grenzüberschreitungen weißer Frauen sich zerstörerisch auf das Bestehen der Familie und des Kollektivs auswirkten, da an sie das gesamte Schema rassischer Klassifizierung gebunden war. Daher mussten die weißen Frauen, nicht aber die weißen Männer, daran gehindert werden, hellhäutige Kinder afrikanischer Abstammung zu zeugen. 1890, also genau während dieses spezifischen historischen Moments zwischen der Emanzipation einerseits und der vollen Verankerung der Jim Crow Segregation und der one-drop Regel andererseits, galt es, Menschen afrikanischer Herkunft mit akribischen Unterteilungen zu beschrieben, um schwarze Männer daran zu hindern, die Rechte weißer Männlichkeit auszuüben, und dies beinhaltete eben auch, sexuelle Beziehungen zu weißen Frauen zu haben.7 All das führt uns zurück zu der Hochzeit von Smiley und Eunice Connolly im Jahr 1869. Die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen war in Massachusetts bis in die 1840er Jahre illegal. Diejenigen, die in Opposition zu so genannten „gemischtrassigen“ Ehen standen, beriefen sich auf Ideen von weißer Reinheit und bezeichneten diese Vereinigungen als unnatürlich und abstoßend. Sie predigten, dass eine solche vermeintliche Schwächung der weißen Rasse verhindert werden müsse. Gegner von schwarz-weiß-Beziehungen beklagten immer wieder den Geschlechtsverkehr zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern, indem sie über „the blue-eyed daughters of the Anglo-Saxon lineage“ und den „dark African“ schrieben und ständig wiederholten, dass „every parent 7

William Benjamin Smith 1969, The Color Line. A Brief in Behalf of the Unborn (1905), New York, S. 10. Einen Blick auf diese Denkweise wirft Gunnar Myrdal 1944, An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy, New York, Bd. 2, S. 589-590.

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would rather follow his daughter to the grave, than to see her married to a black man.“8 Dass die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen 1840 in Massachusetts legalisiert wurde, bedeutete nicht, dass weiße Menschen solche grenzüberschreitenden Beziehungen fortan akzeptierten. Einerseits gingen Eunice Richardsons Armut und ihre Romanze mit Smiley Connolly Hand in Hand: Weiße Frauen, die im Norden während des 19. Jahrhunderts schwarze Männer heirateten, waren meistens mittellos. Eunices sinkendes gesellschaftliches Ansehen hatte sie bereits in Grenzgebiete weißer Weiblichkeit geführt. Als sie 1869 in die Ehe mit Smiley Connolly einwilligte, gab sie auch die letzten Reste ihrer Respektabilität auf, die sie zuvor trotz ihrer Mittellosigkeit und ihrer Dienstmädchenstelle noch hatte bewahren können. (Hodes 2003, S. 84-118) Als Eunice mit ihrem neuen Ehemann in die Karibik segelte, erfuhr sie einen enormen Wandel ihres sozialen Status. Smiley Connolly, als wohlhabender Seemann afrikanischer wie europäischer Abstammung, gehörte einer elitären Klasse der West Indies an, die sich selbst als „colored“ bezeichnete und sich von denen distanzierte, die als „black“ galten. In den USA hatte Eunice als Dienstmädchen gearbeitet, in den West Indies hatte sie selbst ein Dienstmädchen – in ihren Worten ein „black girl“, die die Hausarbeit für sie erledigte.9 Obwohl Eunice sich selbst wahrscheinlich nie als etwas anderes als „white“ bezeichnet hätte, könnten ihre Nachbarn sie gut in der zwischenliegenden Kategorie „colored“ eingeordnet haben, also in derselben wie ihr Mann. So wie in den Vereinigten Staaten die Kategorie „mulatto“ in die des Schwarzseins übergehen konnte, konnte in den West Indies die Kategorie „colored“ in die des Weißseins übergehen. In einer Siedlung ehemaliger Sklaven in den West Indies lebend, verheiratet mit einem elitären Mann aus der Kategorie „colored“, konnte Eunice all die Privilegien weißer Weiblichkeit in Anspruch nehmen, wie sie es in den Vereinigten Staaten niemals hätte tun können. (Hodes 2003)

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Acts and Resolves Passed by the Legislature of Massachusetts, Boston 1843, S. 4; Ruchames 1955, S. 250-273. Zu den Debatten um Heiratsgesetzgebung siehe: The Liberator, 10. März 1843, 21. Mai 1831, 25. Feb. 1842, 15. März 1839. Gegner des Verbots bezeichneten es als Relikt und nannten es unpraktikabel. Paare konnten sich ohne Probleme in benachbarten Bundesstaaten trauen lassen, da kein anderer Staat in Neuengland entsprechende Gesetze erlassen hatte. Eunice Connolly an Lois Davis, East End, Grand Cayman, 25. August, 1870 (Teil eines Briefes vom 16. Mai), Davis Papers.

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II. Kehren wir nun zu unserer fiktiven Reise im Sommer des Jahres 1890 zurück: Auf der Fahrt von den British West Indies nach Neu England werden Smiley und Eunice Connolly von Eunices dort geborener Tochter aus erster Ehe (ein Sohn starb in den 1870er Jahren in den West Indies) sowie den beiden gemeinsamen, in den West Indies geborenen Töchtern begleitet. Der Zensusbeauftragte würde sich zuerst Smiley zuwenden, als dem männlichen Haushaltsvorstand, aber wie er Smiley und seine Familie klassifizieren würde, hinge davon ab, wo sie wohnten. Nehmen wir zuerst an, dass die Familie sich in der Umgebung von Lowell, Massachusetts, niedergelassen hätte, dort, wo das Paar zwanzig Jahre zuvor geheiratet hatte. Eunice hat den Skandal, den ihre Beziehung 1869 dort ausgelöst hatte, in ihren Briefen festgehalten. Mit Blick auf eine feindlich gesonnene Nachbarin schrieb sie: „I can’t quite get over of her slurs.“ Gleichwohl könne sie ihre Liebe zu Smiley niemals aufgeben, „even though public opinion was against him and against me on his account.“10 In der weißen Nachbarschaft, die Smiley vor zwanzig Jahren so schlecht behandelt hatte, würde er jetzt wahrscheinlich im Umgang mit dem Zensusbeauftragten sehr vorsichtig sein. Wir wissen von der Heiratsurkunde des Paares, dass Smiley als weiß hätte durchgehen können, da der Priester die Spalte „Color“ für beide, Braut und Bräutigam, freigelassen hatte. Es mag sein, dass Smiley den Regierungsbeauftragen immer gesagt hatte, er sei weiß, was durch seinen irischen Namen und seinen englisch klingenden Akzent bekräftigt wurde. Wenn Smiley weiß war, dann waren es auch seine Kinder, und der Zensusbeauftragte wäre im Nu verschwunden.11 Bleiben wir noch ein wenig im Bereich der Fantasie: Wenn die Connolly-Familie auf Nachbarn getroffen wäre, die sich an den Skandal erinnerten, so hätte Smiley besser daran getan, etwas zu sagen, was als Unwahrheit im Sinne der rassischen Kategorisierungen gegolten hätte. Es wäre für ihn selbst immer der leichtere Weg gewesen, irgendeine der Kategorisierungen des Zensus von 1890 zu wählen. Allerdings hätte es die Kategorisierung seiner Gattin Eunice sehr verkompliziert, wenn Smiley sich selbst als „mulatto“, „quadroon“ oder „octoroon“ bezeichnet hätte. Um die Möglichkeit einer böswilligen oder gefährlichen Reaktion von Seiten des Zensusbeauftragten zu vermeiden, hätte Smiley möglicherweise für seine Ehefrau dieselbe rassische Kategorie gewählt, wie 10 Eunice Connolly an Lois Davis, East End, Grand Cayman, 7. März, 1870, Davis Papers. 11 Massachusetts Vital Records, Marriages, Dracut, 1869, Band 218, S. 166, Massachusetts State Archives, Boston.

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für sich selber, oder sie eventuell als ein oder zwei Stufen heller bezeichnet: Wenn Smiley z.B. ein „mulatto“ wäre, könnte Eunice eine „quadroon“ sein. Auch hier würde es kein Problem geben, und der Zensusbeauftragte wäre wieder verschwunden. Vielleicht aber wollte Eunice als nichts anderes als eine weiße Frau im Zensus registriert werden. In diesem Fall (unser imaginäres Szenario weiterführend) würde Smiley, nachdem er sich selbst als einen man of color bezeichnet hätte, dem Zensusbeauftragten sagen, dass Eunice eine Weiße sei. Wäre der Zensusbeaufragte nun verwirrt gewesen, so hätte er wohl seine Arbeitsanweisungen zu Rate gezogen, um dort zu erfahren, dass er keine Antworten akzeptieren solle, „which he knows or has reason to believe are false.“ An diesem Punkt bestärkte die der rassischen Klassifikation inhärente Unsicherheit die Autorität des Staates über einen nicht-weißen Mann. Bei genauerem Hinschauen hätte der Zensusbeauftragte sehen können, dass Eunices Haut dunkel war – von der Reise über den Ozean zum Beispiel, oder weil ihre Haare dunkel waren oder auch einfach nur, weil ihr Ehemann kein Weißer war. Von der einen zum anderen schauend könnte es schwierig gewesen sein zu sagen, wessen Hautfarbe dunkler war. Seine Instruktionen würden dem Zensusbeauftragten nachdrücklich versichern, dass „no statement should be accepted which he believes to be false.“ „Diese Frau versucht, die letzte Spur schwarzen Blutes auszulöschen“, könnte der Zensusbeauftragte daraufhin gedacht haben und sie als „octoroon“, vielleicht sogar als „quadroon“, registrieren. Obendrein wies er damit die Autorität Smiley Connollys als Haushaltsvorstand zurück, für sich und seine Frau hinsichtlich ihrer rassischen Klassifizierung sprechen zu können. In der Tat, je dunkler Smileys Haut erschien (vielleicht war auch er von der zurückliegenden Reise gebräunt), desto wütender und angewiderter würde der Zensusbeauftragte werden, indem er möglicherweise Klischees über lüsterne und gewalttätige schwarze Männer, die weiße Frauen misshandelten, heraufbeschwor.12 Andererseits, wenn die Familie sich in einem der afroamerikanischen Viertel Bostons niedergelassen hätte, vielleicht in der Nähe von Smileys Handelspartnern aus den West Indies, könnte es für das Paar noch schwieriger gewesen sein zu behaupten, sie seien weiß. „Should any person persist in making statements which are obviously erroneous“, 12 Wright 1990, History and Growth, S. 179. Diese Anweisungen betrafen zwar, rein formal gesehen, andere Bereiche, es erscheint aber klar, dass sie auch auf Fragen „rassischer“ Klassifizierung angewandt wurden. In diesem Zusammenhang wurden falsche Angaben mit Strafen bis 100 Dollar Strafe belegt. Permanent Census Bureau, 52d Cong., 2d sess., HR Rept. 2393, 1. Feb., 1893, S. 14.

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führten die Anleitungen hier weiter aus, „the enumerator should enter upon the schedule the facts as nearly as he can ascertain them by his own observation.“ Weil sie unter farbigen Menschen leben, müssten folglich auch die Connollys als farbig gelten. Jede Kombination von „mulatto“, „quadroon“ oder „octoroon“ würde hinreichend sein und der Zensusbeauftragte wäre auch in diesem Fall wieder verschwunden. Wieder hätte er die staatliche Autorität gegenüber einem männlichen Familienvorstand, einem farbigen Mann, bestärkt. Aber es besteht auch noch die Möglichkeit, dass Smiley Connolly die Frage nach der Rasse ohne eine eindeutige Antwort belassen hätte. Er war nie zuvor in einem US-Zensus registriert worden, und die Verwirrung, die er eventuell gezeigt hätte, wäre dem Beamten möglicherweise als Ausflucht erschienen. Glücklicherweise beinhalteten die Anweisungen einen letzten Ratschlag: wenn die „eigenen Beobachtungen“ des Zensusbeauftragten keine ersichtliche Antwort bezüglich der rassischen Klassifizierung ergaben, konnte dieser die Fakten durch „Befragung der Nachbarn“ zusammentragen. Diese Möglichkeit, die Nachbarn zu konsultieren, eröffnet ein weiteres Spektrum möglicher Szenarien. Noch immer rachsüchtige Nachbarn könnten sich hämisch freuen, Eunice als „colored“ zu bezeichnen, schließlich hatte sie alle Privilegien weißer Frauen über Bord geworfen, als sie vor Jahren die Nachbarschaft durch ihre Ehe über die color line hinweg entehrte. Umgekehrt könnte eine Befragung der Immigranten aus den West Indies über die rassischen Klassifizierungen zu unterschiedlichen Antworten führen: Einige könnten zugestimmt haben, dass Eunice eine „colored woman“ sei, während andere, den hohen gesellschaftlichen Status der Connollys berücksichtigend, die ganze Familie als „white“ erachten würden. Wieder könnte sich der Zensusbeauftragte diese Verwirrung zu Nutzen machen und die staatliche Autorität dadurch bestärken, dass er diejenigen rassischen Kategorien wählte, welche er selbst als passend erachtete. Damit würde er auch das amerikanische Rassensystem unterstützen, indem er die Art, wie ein farbiger Mann sich und seine Familie klassifizierte, ignorierte.13 Nachdem der Zensusbeauftragte Smiley und Eunice erfasst hatte, musste er sich den Kindern zuwenden. Wir wissen aus den Briefen, dass Eunices Tochter Clara Smiley „father“ nannte. Würde der Beamte diese Anrede hören (wir können uns vorstellen, dass Clara die Stufen hinunter laufend fragt: „Wer ist an der Tür, Vater?“), so wäre dieser kurze Austausch von hoher Bedeutung. Wenn Smiley weiß war, dann war es auch seine Tochter; ist er ein „negro“, ganz gleich welchen Grades, trifft dies auch auf sie zu. Hätte Smilley versucht, dem Zensusbeauftragten zu er13 Wright 1990, S. 179.

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klären, dass er der Stiefvater des Mädchens sei, könnte dieser hierin wieder den Versuch sehen, von einer Rasse zur anderen zu wechseln und somit Smileys Behauptungen in seiner eigenen Einschätzung nicht weiter berücksichtigen.14 In der Tat brachte die Präsenz der Kinder eine andere Art von Zweifel an Eunices Weißsein hervor, betrachtet man ein rassistisches Pamphlet, das im Jahr 1900 in den Vereinigten Staaten unter dem Titel „The Negro A Beast“ veröffentlicht wurde. Eine Illustration zeigt ein dunkelhäutiges Kind, das zwischen einem gut gekleideten weißen Paar läuft, und der Ehemann wirft einen mißtrauischen Blick auf seine Frau. Die Bildunterschrift lautet: „Would you believe that the above negro was the daughter of pure whites?“ Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Illustration zu interpretieren. Die eine besagt, dass der Ehemann die verbotene Liaison seiner Frau mit einem schwarzen Mann aufgedeckt hat, als das dunkelhäutige Baby geboren wurde. Die andere Interpretation würde bedeuten, der Ehemann fand heraus, dass seine Frau zwar als weiß galt, ihre afrikanische Abstammung sich aber nun in ihrem Nachwuchs offenbarte. Wenn der Zensusbeauftragte in unserem imaginären Szenario den Gedanken, dass Eunice eine weiße Frau war, die Kinder mit einem farbigen Mann gezeugt hatte, nicht ertragen konnte, so könnte er sie zu einer farbigen Frau machen, die versuchte, als weiß durchzugehen. Auch hier bestärkt die Verwirrung über die rassische Klassifizierung die Macht des Staates, nicht nur über farbige Männer allein, sondern auch über die weißen Frauen, mit denen sie eine intime Beziehung hatten.15 Aber nehmen wir mal für einen Moment an, dass der Zensusbeauftragte Smiley Connollys Status als Nicht-Weißer und Eunices Status als Weiße akzeptierte. Die Historikerin Barbara Fields hat trefflich festgehalten, dass es gemäß der seltsamen US-amerikanischen rassischen Kategorisierungen möglich war, dass eine weiße Frau ein schwarzes Kind gebar, aber nicht, dass eine schwarze Frau ein weißes Kind gebar. Nach dieser Regel würden die Kinder von Smiley und Eunice als „mulatto“, „quadroon“ or „octoroon“ bezeichnet werden müssen, je nachdem, wie Smileys Klassifizierung ausfallen würde. Es ist erwiesen, dass die Kongressabgeordneten, die den Zensus von 1890 entwarfen, sich mit dem lightening und dem möglichen passing von Menschen afrikanischer Abstammung befassten, aber Eunice Connolly und ihre Kinder würden Fragen in die andere Richtung aufwerfen: Über das darkening von Wei-

14 Clara Stone an Lois Davis sowie William Smiley Conolly an Lois Davis, East End, Grand Cayman, 16. Okt., 1872, Davis Papers. 15 Charles Carroll 1900, The Negro A Beast, or, In the Image of God, St. Louis, MO, S. 196.

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ßen, oder genauer, über das darkening der Kinder weißer Frauen und schwarzer Männer. (Fields 1982, S. 149) Ehen zwischen weißen Frauen und farbigen Männern waren problematisch, und zwar insbesondere deshalb, weil sie eine Trennung von Müttern und ihren Kindern in unterschiedliche rassische Kategorien verursachten. Ruft man sich die Idee in Erinnerung, dass weiße Frauen die „Reinheit der weißen Rasse“ garantieren sollten, so bedeutete dies, dass sie gleichermaßen dazu fähig waren, die Rasse auf eine Weise zu verunreinigen, wie weiße Männer es nicht tun konnten. In der Tat impliziert die oben beschriebene Illustration ja, dass die Frau als weiß durchgegangen war und dass dies der Anlass für den misstrauischen Blick des Ehemanns war. Dabei hätte ebenso gut der Mann das so genannte passing vollzogen haben können, weshalb die Frau dann ein dunkelhäutiges Baby zur Welt brachte. Um unser imaginäres Treffen zusammenzufassen: Wenn Smiley Connolly 1890 als weiß durchging, würde der Zensusbeauftragte zufrieden gewesen sein. Wenn Eunice sich selbst als eine Farbige bezeichnete, wäre das ebenso akzeptabel gewesen. Aber wenn das Paar sich und seine Kinder korrekt nach den Regeln des US-Rassensystems klassifiziert hätte (das würde bedeuten, Smiley als teilweise schwarz, Eunice und ihre Tochter als weiß und die Kinder von Smiley und Eunice ebenso als teilweise schwarz), dann würde die Familie (in den Köpfen der Weißen) zur Schwächung der weißen Rasse beitragen. Smiley Connolly, der Mann afrikanischer Abstammung, war der Verschmutzer, der die Reinheit einer weißen Frau und somit die Reinheit der gesamten weißen Rasse gefährdete. Als farbiger Mann wäre Smiley von dem Zensusbeauftragten womöglich auch als unfähig erachtet worden, sich selbst zu klassifizieren, wodurch seine Autonomie, Selbständigkeit und Freiheit kompromittiert worden wären. Lassen Sie uns kurz die Möglichkeiten des Widerstandes gegen dieses System rassischer Kategorisierung betrachten. Mit der Verwirrung und eventuellen Täuschung des Zensusbeauftragten konnte eine grenzüberschreitende Familie wie die Connollys die ineinander verwobenen nationalen Projekte weißer Reinheit, weißer Vorherrschaft und der Verleugnung nicht-weißer Männlichkeit gefährden. Tatsächlich lässt die inhärente Instabilität rassischer Kategorien immer einen Raum für deren Missachtung, besonders offensichtlich in der Form des passing. Folglich zeigt das fiktive Zusammentreffen der Connollys mit dem Zensusbeauftragten, wie die Unsicherheit der rassischen Klassifizierung wirkte, indem sie nicht nur Räume zur Entfaltung von Widerständen eröffnete, sondern solche Möglichkeiten auch ausgrenzte.

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Da nun gerade willkürliche Macht von großer Kraft sein kann, vermag insbesondere die Willkür der Zensuskategorien die staatliche Autorität zu bestärken. Man bedenke, dass die ultimative Autorität der Klassifizierung in der Hand des Zensusbeauftragten lag. Tatsächlich hätten die verschiedenen imaginären Szenarien, die ich hier angeführt habe, wohl überhaupt nicht stattgefunden, wenn der Zensusbeauftragte die Formulare entsprechend seiner eigenen Wahrnehmung ausgefüllt hätte, ohne Smiley Connolly, den männlichen Haushaltsvorstand, überhaupt danach zu fragen, wie er sich und seine Familie klassifizieren würde. Es ist folglich wichtig zu beobachten und zu erfassen, wie die Ambiguitäten rassischer Klassifizierung die Unterordnung farbiger Männer und ihrer Familien förderten. (Hodes 2003) An diesem Punkt will ich mich von dem Bereich der Imagination abund den historischen Archiven zuwenden. Es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, wie Smiley Connolly in den Vereinigten Staaten 1890 klassifiziert worden wäre, weil nur so wenige Informationen über seine Abstammung oder Erscheinung dokumentiert sind. Weder Smiley noch Eunice noch irgendein Mitglied der Familie haben jemals etwas dazu vermerkt, und es existieren auch keine Fotografien. Die einzigen archivierten Anhaltspunkte liegen in Eunices impliziter Unterscheidung zwischen Smiley und ihrem Dienstmädchen auf den West Indies, die sie als „black“ bezeichnete. Weiterhin existiert die Heiratsurkunde des Paares, in der der Priester die Spalte „color“ freigelassen und somit die Möglichkeit geschaffen hat, dass Smiley in den Vereinigten Staaten als weiß durchgehen konnte. Gleichwohl zeigen die Verunglimpfungen durch die Nachbarn, die Eunice in ihren Briefen festgehalten hat, dass Smiley seine afrikanische Abstammung nicht durchgängig verborgen hat. Während meiner Forschungen hatte ich das Glück, Nachkommen der Connollys zu treffen, die ihr Wissen über die Familiengeschichte mit mir teilten. Obwohl niemand viel über Smiley selbst sagen konnte, wussten die Nachkommen viel über die Abstammung von Smileys Vater, Jarrett Conolly zu berichten (verschiedene Familienmitglieder schreiben den Namen alternativ mit einem oder zwei „n“). Als der Gründer der Familie auf den Cayman Islands anerkannt, zeigt sein Testament (im Cayman Island National Archive aufbewahrt), dass er am Ende seines Lebens ein Großgrundbesitzer war.16 Jarrett Conollys Herkunft ist jedoch weniger sicher. Ein Nachkomme behauptete, dass Jarrett einer der „three old brothers from Africa“ gewesen sei und der Sklave eines Herren namens Conolly. In dieser Version der Familiengeschichte

16 Testament von John Jarrett Conolly, 1878, Public Recorder’s Records, XH5/5, S. 187-189, Cayman Islands National Archive, Grand Cayman.

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war Smiley eines von fünf Kindern mit „brown-skin“, deren Mutter (in den Worten eines anderen Nachkommen) „of fair complexion, probably white“ war. Gleichzeitig betonen andere Nachkommen, dass Smileys Vater Jarrett nicht aus Afrika, sondern aus Irland nach Amerika gekommen sei. Jarret Conolly war in dieser Geschichte kein Sklave, der eine weiße Frau heiratete, sondern ein weißer Mann, der eine farbige Frau heiratete.17 Diese Frage nach afrikanischer oder irischer Herkunft wurde während eines Familientreffens auf Grand Cayman im Sommer 2000 aufgeworfen, als eine Gruppe von ca. 40 Nachkommen die beiden Möglichkeiten diskutierte. Jede Version der Familiengeschichte hat auf unterschiedliche Weise etwas für sich, und verschiedene Konzepte des Mannseins sind beiden implizit. Auf der einen Seite haben wir die reizvolle Geschichte eines ehemaligen Sklaven, der im Laufe der Jahre ein enorm wertvolles Areal erwarb und schließlich an seine Erben weitergab; eine Geschichte, deren Reiz vielleicht noch zusätzlich durch die Tatsache genährt wird, dass ein ehemaliger Sklave eine weiße oder „fair-skinned“ Frau geheiratet hat. Andererseits scheint es besonders wichtig, dass der Familienpatriarch ein freier Mann war und kein Sklave, selbst wenn dies die weibliche Familiengründerin zu einer Sklavin oder der Tochter von Sklaven gemacht hätte. Alles in allem machen es die Unsicherheiten des familiären Gedächtnisses unmöglich, die korrekte Genealogie Smiley Connollys in Bezug auf den US-Zensus von 1890 zu bestimmen. Wenn Smileys Vater aus Afrika stammte, so bleibt unklar, ob seine Mutter eine sogenannte „reine“ Weiße war oder eine hellhäutige Frau gemischter Abstammung. Wenn Smileys Vater aus Irland kam, dann muss seine Mutter afrikanischer Herkunft gewesen sein, auch wenn niemand sagen kann, zu welchem „Anteil“.18 Keiner der Nachkommen kann sich heute gut an Smiley Connolly erinnern, weil er und Eunice mit ihren vier Kindern bei einem Hurrikan vor der Mosquito Coast 1877 ertranken. Selbst wenn Nachkommen Geschichten über Smileys Erscheinung gehört und weitergegeben haben, 17 Interview mit Aurellia Conolly (1903 geboren), East End, Grand Cayman, 12. Feb. 1990, von Heather McLaughlin, Memory Bank, Cayman Islands National Archive, Grand Cayman, S. 2-3. Warren Conolly an die Autorin, East End, Grand Cayman, gestempelt am 18. Jan. 2000. Aufnahme und Transkript des Interviews der Autorin mit Lou Connolly Coleman, West Medford, Massachusetts, 11. März 2000, und mit Cleopathra Conolly, Morritt’s Tortuga Club, East End, Grand Cayman, 27. Aug. 2000. 18 Familiendiskussion bei der Conolly-Connolly Familienzusammenkunft, Morritt’s Tortuga Club, East End, Grand Cayman, 27. Aug. 2000 (Notizen der Autorin). Zum Verhältnis von Symbolik, Erinnerung und Genauigkeit siehe Portelli 1991; siehe auch Hodes 2004.

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würden diese Beschreibungen von Hautfarbe und Klassifizierung („brown“, „fair“, „mulatto“) wenig erhellend wirken, da sie sehr instabil und arbiträr sind, besonders wenn sie außerdem von der Unsicherheit der Erinnerung getrübt sind. Selbst Fotografien (wenn wir welche hätten) würden wegen variierenden Lichtes und Grauabstufungen keine wirklich verlässliche Auskunft geben. Hätten Smiley Connolly und seine Familie den Hurrikan von 1877 überlebt und wären sie tatsächlich in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt und dort in den Zensus aufgenommen worden, so würde uns auch dieses Dokument aus den gleichen Gründen sehr wenig über Smileys Abstammung und Erscheinung sagen. Schließlich sind die Zensuskategorisierungen ebenfalls arbiträr und willkürlich, und sie basieren auf den Auffassungen, Vorurteilen und der Autorität des Zensusbeauftragten. Das Ziel meiner Betrachtungen war, geschlechtlich geprägte Identitäten zu erforschen, deren Konstruktionen, Wechselwirkungen und Bedeutungen. Rassische Kategorien neigen dazu, den Status von Wahrheit anzunehmen, aber freilich sind es nicht die rassischen Kategorien selbst, die in den Szenarien, die ich hier vorgestellt habe, von Bedeutung sind. Viel entscheidender sind das Bemühen und der Versuch, rassische Kategorien an bestimmte historische Akteure anzubinden. Mit dem Gedankenspiel der imaginären Reise von den West Indies in die Vereinigten Staaten und der Darstellung der willkürlichen und verwirrenden Natur rassischer Kategorisierung hoffe ich, einige der Wege erhellt zu haben, in denen Vorstellungen von Männlichkeit ebenso wie die gelebte Erfahrung des Mannseins mit dem System der rassischen Klassifizierung verbunden sind. Für Smiley Connolly und andere farbige Männer in den Vereinigten Staaten in den 1890er Jahren war es sehr schwer, sich der willkürlichen Macht der rassischen Klassifizierung in den gewalttätigen Dekaden nach der Emanzipation zu widersetzen. Ich möchte mit einer etwas optimistischeren Bemerkung schließen: Vielleicht konnten Männer, die weiße Frauen liebten, mit ihnen lebten und Kinder zeugten, zumindest so erfolgreich die Autoritäten verwirren, dass sie dadurch auch ein wenig Macht für sich gewannen. Schließlich erlebten sie so einen kurzen Moment der Autonomie. Gleichwohl bedeuteten solche Momente keineswegs die Freiheit und die Gleichheit, nach denen men of color seit der Gründung der Nation strebten, besonders nicht während der schrecklichen Jahre um die Wende zum 20. Jahrhundert, als weiße Amerikaner hofften, dass akribische Unterteilungen in rassische Klassifikationen eine dauerhafte color line zwischen Weißsein und den politischen Rechten schwarzer Männer etablieren würden. Deutsche Übersetzung von Nina Witjes

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Nationale Identität, Männlichkeit und amerikanisches Stude ntenleben an deutschen Universitäten im späten 19. Jahrhundert ANJA BECKER1

I. Am 25. Oktober 1893 immatrikulierte sich Andrew C. McLaughlin, Geschichtsprofessor der University of Michigan in Ann Arbor, als Student an der Universität Leipzig. Die detaillierte Beschreibung der Immatrikulationszeremonie in seinem Tagebuch endet mit dem Verweis auf den Handschlag des Rektors „as a pledge of good behavior + as admission to the brotherhood.“2 Dieser ‚offiziellen, akademischen‘ Initiation in die ‚Brüderschaft‘ der deutschen Universität ließ McLaughlin gemeinsam mit einem Kollegen aus Ann Arbor, Ernst Voss, der ebenfalls als Student eingeschrieben war, eine weitere folgen: „Voss and I marched out + tried Baarman’s restaurant – + found the Münchner ausgezeichnet.“ Indem McLaughlin auf die ‚Brüderschaft‘ der Angehörigen einer deutschsprachigen Universität verwies, akzeptierte er diese als eine rein masku1

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Dieser Aufsatz beruht auf meiner Dissertation, in der die nachstehend aufgeführten Beispiele ausführlicher und mit Referenzen versehen nachzulesen sind. Anja Becker 2006, For the Sake of Old Leipzig Days. Academic Networks of American Students at Leipzig University, 1781-1914, Dissertation, Universität Leipzig. Tagebuch, A.C. McLaughlin, 25. Okt. 1893. McLaughlin Papers, 85536Aa2, Box 1, Bentley Historical Library University of Michigan Ann Arbor (Bentley). Folgendes Zitat ebenda.

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line Sphäre, obwohl an seiner amerikanischen Alma Mater Frauen bereits seit zwei Jahrzehnten zum Studium zugelassen waren. Diese unterschiedlichen nationalen Vorstellungen von Bildung scheinen dem amerikanischen Studenten an einer deutschen Universität keine Bauchschmerzen bereitet zu haben. Die Wahrnehmung nationaler Unterschiede bedeutete jedoch nicht automatisch, dass die deutsche Universität in jeder Hinsicht als hochwertiger angesehen wurde. Im Dezember 1877 schrieb Calvin Thomas, der ebenfalls aus Ann Arbor nach Leipzig gereist war, an seine zukünftige zweite Frau Eleanor Allen, die er als ihr Nachhilfelehrer kennen gelernt hatte: „I am glad that our own University throws open its doors to all, but the German need cleansing in more ways than one before they are fit to teach ladies. – Oh, I am proud of my fatherland.“3 Zwar akzeptierten amerikanische Studenten deutsche Lehrer als weltführend, sahen aber keinen Grund, deutsche Bildung deswegen unkritisch über alle Maßen zu loben. Tatsächlich betrachtet Thomas die Tatsache, dass in den USA Frauen vergleichsweise unproblematisch höhere Bildung erlangen konnten, als eine die Deutschen übertreffende Leistung. Der Widerspruch zwischen Begeisterung für deutsche Bildung einerseits und Stolz auf das Frauenstudium in den USA andererseits schien kein Konfliktpotenzial zu bieten. Die obigen Zitate deuten an, dass amerikanische Studenten in Deutschland bestrebt waren, das deutsche Universitätsleben zu erfahren und zu hinterfragen. Allerdings stellte Walter Lippmann 1922 fest, dass im Kontakt mit fremden Kulturen, „[f]or the most part we do not first see, and then define, we define first and then see. In the great blooming, buzzing confusion of the outer world we tend to perceive that which we have picked out in the form stereotyped for us by our culture.“ (Lippman 1965, S. 54-55) Kontakt mit deutschen Universitäten bedeutete also auch, mehr oder weniger bewusst vorgefertigte Erwartungen bestätigt zu finden. Die intensive Lektüre von Reise- und Studentenführern dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben, auch wenn Amerikaner dennoch darum bemüht waren, nicht alles lobend hinzunehmen. Tatsächlich versuchten Amerikaner in Deutschland, sich trotz großen Enthusiasmus für deutsche Forschung, Lehre und geselliges Biertrinken unter Akademikern von deutscher Studentenkultur abzugrenzen. McLaughlins Tagebuchaufzeichnungen verweisen allgemein auf eine stets eingehaltene Distanz

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Brief, C. Thomas an Miss Allen, 3 Dez. 1877. C. Thomas Papers, 86180Aa2A, Box 1, Bentley.

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zu seinen Erlebnissen in Leipzig. So schrieb er über einen Theaterbesuch: „It’s all too passionate for a cold blooded American.“4 Neben dem exzellenten Ruf deutscher Forschung und Lehre erweckte das ‚deutsche Studentenleben‘ des 19. Jahrhunderts großes Interesse, wobei sich die Frage stellt, was genau darunter zu verstehen ist. Die deutschstämmige amerikanische Schriftstellerin Elfrieda Hochbaum verarbeitete ihre Leipziger Studententage um 1900 in dem autobiografischen Roman „Burning Arrows“ (1963). Sie beschrieb die Aktivitäten deutscher Studenten wie folgt: [The] German students […] indulge not only in the physical duel, but in the intellectual one. While they are improving their fencing, they are not neglecting to sharpen their minds. While they are half-intoxicated, they extemporize poems in Latin. While they sit at their beer-tables, they discuss the foundations of society, the origins of religion, the influence of science on philosophy, and the political significance of the development of the navy. Most of them are under twenty-one.5

Deutsches Studentenleben – vor allem bekannt für Duelle und Trinkgelage – war gleichzeitig geprägt von geistiger Aktivität. Wie auch in McLaughlins Tagebucheintrag angedeutet, bestanden enge Verknüpfungen zwischen den Ritualen im Lehrbetrieb und in der Freizeit. Besonders offensichtlich wurde dies in akademischen Verbindungen, in denen intellektueller Austausch zwischen Studenten und Professoren eine bedeutende Rolle spielte. Amerikanische Studierende nahmen dies wahr, entfalteten aber gleichzeitig eigene Aktivitäten. Amerikanisches Studentenleben an deutschen Universitäten unterlag den Erfordernissen örtlicher Gegebenheiten. 1976 wurde das Manuskript der American Colony in Göttingen, welches die Jahre 1855 bis 1888 umspannt, veröffentlicht. In der Einleitung verweist der Herausgeber Paul G. Buchloh auf Daniel B. Shumways Publikation von 1910, in der für den Zeitraum von 1782 bis 1910 amerikanische Studenten aus dem Colony Book und aus der Göttinger Matrikel aufgelistet und Angaben zu zumeist akademischen Karrieren gemacht sind. Damit reduzierte Shumway die Colony auf rein fachliche Aspekte.6 Allerdings, so Buchloh, lässt sich die Colony nur dann wirklich verstehen, wenn man an das Konzept der deutschen Burschenschaften erinnert, die seit 4 5 6

Tagebuch, A.C. McLaughlin, 1. Nov. 1893. McLaughlin Papers, Box 1, Bentley. Elfrieda Hochbaum (1963), Burning Arrows, Boston, S. 263-264. Buchloh 1976, S. 10-11; Daniel Bussey Shumway 1910, The American Students of the University of Göttingen, in: German American Annals/Americana Germanica, 8.5/6, S. 171-254.

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Ende des 18. Jahrhunderts entstanden waren und ursprünglich als radikale, politische Untergrundorganisationen die Einigung Deutschlands anstrebten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war Radikalität allerdings in Bürgerlichkeit umgeschlagen, so dass 1855 die Verfolgung der Burschenschaften seitens deutscher Regierungen ein Ende gefunden hatte. 1855 war ebenfalls das Jahr, in dem formal die Göttinger American Colony geboren wurde. (Buchloh 1976, S. 11-12) Mit der Legalisierung der Burschenschaften konstituierten sich amerikanische Studenten offiziell als amerikanischer Verein an einer deutschen Hochschule. Amerikanisches Studentenleben in Deutschland erlebte folglich im Laufe des 19. Jahrhunderts einige grundlegende Veränderungen. Doch auch in Amerika wandelte sich das Studentenleben. Die wesentlichsten Ausprägungsformen der College Culture in den USA lassen sich bis ins 18. Jahrhundert hinein zurückverfolgen. Die frühe Zeit war geprägt von Studentenrevolten, (Hessinger 1999; Jackson 2000) einer Art der Aggressionsbewältigung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend durch College Sports ersetzt wurde; allein 1905 starben 18 Amerikaner bei Footballspielen. (Rudolph 1990, S. 375) Helen Lefkowitz Horowitz bemerkte dazu Folgendes: This male world was violent. College men battled each other in interclass rivalries and outsiders in town-gown conflicts. […] Students confronted each other in ‚rushes‘, violent free-for-alls that pitted sophomores and freshmen against each other. To enter college the freshman endured the physical and psychological pain of initiation. (Horowitz 1987, S. 42, 44)

Bemerkenswert ist hierbei die Feststellung, dass universitäre Initiation mit Schmerz in Verbindung gebracht wurde, sowohl im physischen als auch im psychischen Sinne. In seiner grundlegenden Studie American Manhood verwies E. Anthony Rotundo ebenfalls darauf, dass Kraft und Stärke im späten 19. Jahrhundert hoch geschätzt wurden, weswegen es verständlich wäre, dass Männer Kampf als Tugend bewunderten und Gewalt billigten. (Rotundo 1993, S. 225) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheinen Gewaltexzesse und -rituale zunehmend durch Sportspiele kanalisiert worden zu sein, die von festen Regeln bestimmt waren. Amerikanische Studenten in Leipzig trieben ebenfalls Sport; den Aufzeichnungen nach zu urteilen, kam es dabei allerdings zu keinerlei Gewaltexzessen. In den USA entwickelte sich darüber hinaus u.a. ein System von Fraternities (an Frauencolleges als Sororities bezeichnet), außerdem

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NATIONALE IDENTITÄT, MÄNNLICHKEIT UND STUDENTENLEBEN

Literary Societies und Greek Letter Societies.7 Bereits die Namensgebung in „Bruderschaften“ und „Schwesternschaften“ deutet genderspezifische Gruppenbildung an; den deutschen „Burschenschaften“ liegt offensichtlich derselbe Gedanke zugrunde. Zur Entwicklung des deutschen Studentenlebens des 19. Jahrhunderts gibt es ebenfalls Studien, die sich auch mit Ritualen, Duellen und politischer Einmischung deutscher Studenten auseinandersetzen. (Jarausch 1984; Jarausch 1982; McClelland 1980) Trotz der offensichtlichen Überschneidungen wie der Betonung von gleichgeschlechtlichen Gruppierungen, Rebellion, der Bewältigung von Aggression, der Transformation, Geheimhaltung und auch Wissenschaftlichkeit, wurde bis heute keine tiefschürfende Analyse des Aufeinanderprallens von amerikanischer und deutscher Studentenkultur im 19. Jahrhundert unternommen. Im Folgenden möchte ich einen ersten Beitrag leisten, diese Forschungslücke zu schließen.

II. Ziel und Zweck einer deutschen Universität im 19. Jahrhundert war die Ausbildung von Männern, wie das Bildungsministerium in Dresden der etwas liberaler eingestellten Leipziger Universität mehrfach im Zusammenhang mit der Problematik des Frauenstudiums mitteilte.8 Da die deutschen Universitäten den besten Ruf hatten, wurde hier die Idee des exklusiven Männerstudiums rigider verfolgt als anderenorts – je elitärer, umso männlicher. Studentinnen mussten den Eindruck erwecken, besonders männliche Eigenschaften zu besitzen. Edith Hamilton, Absolventin des Bryn Mawr College, schrieb 1895 aus Leipzig: Then when I get to the university there is the ordeal of walking through the corridors to my lecture room, which even three weeks has not accustomed me to. To have [unleserlich] stop talking as you come up to it, and every man in it turning round to look at you as you pass, – I think it will take me long not to notice it.9

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John Robson (Hg.) 1977, Baird’s Manual of American College Fraternities (1879, 19. Ausgabe, Menasha, WI; Carnes 1989. Brief, Ministerium Dresden an Dr. Lange (Rektor, Leipzig), 20. Dez. 1879; Brief, Ministerium Dresden an Akademischen Senat Leipzig, 16. Feb. 1900. Rep. II/IV Nr. 35, 14 und 56-62, Universitätsarchiv Leipzig (UAL). Brief, E. Hamilton an Jessie Hamilton (Cousin), 24 Nov. 1895. Hamilton Family Papers, MC 278, Mikrofilm 27, Folder 595/596, Schlesinger Library Harvard University.

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Hamilton erlebte ihr Eindringen in die von Männern bevölkerte deutsche Universität als Tortur, der sie sich entgegen ihrer „passiven weiblichen“ Natur stellen musste, sofern sie an der von ihr begehrten höheren Bildung teilhaben wollte. Calvin Thomas hatte sehr zwiespältige Gefühle gegenüber den wenigen Studentinnen, die ihm in Leipzig begegneten. Er schrieb 1877 an seine zukünftige Frau: Among […the] audience of perhaps three hundred is one solitary lady. They say she is a Russian: but whether she be Jew or Gentile, bond or free, she is a courageous body. Imagine yourself entering a large audience room where perhaps twenty or thirty students were smoking, passing up the aisle and being generously stared at – German students are distinguished starers – and finally losing your identity in a promiscuous crowd on a long bench. Do you think you are equal to that? Has your hunger for learning reached those heights yet? I think if I were a lady I should eschew the University of Leipzig, and be content to take my Bildung from my big brother or some one else who could get it under less embarrassing circumstances. Still tastes differ and there are ladies who pride themselves doing anything that men can do and doing it all the same time and place.10

Für Frauen bedeutete der Besuch einer deutschen Universität ein Identitätsverlust, genauer gesagt ein Verlust ihrer „weiblichen“ Identität. Studentinnen mussten besonders „männliche“ Eigenschaften zur Schau stellen, die nicht dem Stereotyp des viktorianischen Ideals der in der Privatsphäre beheimateten Mutterfigur entsprachen. (Green 2003; Welter 1966 mit Bezug auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) Thomas gestand sich selbst ein, dass er, wäre er eine Frau, nie den Mut finden würde, der geballten Männlichkeit einer deutschen Universität ins Auge zu blicken; die vermännlichte Studentin stellte die Maskulinität ihrer Kommilitonen in Frage. Frauen sollten sich damit begnügen, in der privaten Sphäre der Familie vom „großen Bruder“ deutsche höhere Bildung zu erlangen. Der ältere und somit übergeordnete amerikanische Bruder würde sich gern als idealer Mittler zwischen deutscher Bildung und amerikanischer Frau sehen. Folglich erkennt Thomas nicht nur deutsche Bildung als vorangestellt an, sondern er akzeptiert auch, dass die ultimativ höchste Bildung Männern vorbehalten bleiben sollte. Dennoch bedeutet Thomas’ Einstellung keine Abkehr von seiner Identifikation mit Amerika als großartiger Nation. Im Oktober 1877 hat-

10 Brief, Calvin Thomas an Eleanor Allen, 3. Dez. 1877. Thomas Papers, Box 1, Bentley.

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te er in seinem Tagebuch vermerkt, dass er keine Veranlassung sah, es mit dem Enthusiasmus für Deutschland zu übertreiben: The Germans have their great lights, but there is a chasm not to be sounded and not to be spanned between these and the lower classes. The women are treated shamefully, and I look upon the condition of the women as an important indec [sic] to the culture of a country. […] yet when a German gets off his time honored common-place about the want of culture in America, it is hard to convince him of error. My confidence in Republican institutions and my love of my country increase as I remain longer in Germany.11

Thomas betrachtete die Einstellung zu Frauen als einen Indikator für die kulturellen Leistungen eines Landes, wobei die USA deutlich besser abschnitten als Deutschland. Gleichzeitig stellte er sein Vertrauen in staatliche amerikanische Institutionen heraus. Er schlussfolgerte, dass er mit zunehmender Länge seines Deutschlandaufenthaltes eine stärkere Bindung an die amerikanische Heimat fühlte. Frei nach Lippmann interpretiert – der Kontakt zur fremden Kultur bestärkte Thomas’ nationales Selbstbewusstsein. Obgleich die deutsche Universität ein Hort der Männlichkeit war, ist das deutsche Wort „Universität“ weiblichen grammatischen Geschlechts. Findet der Student an der Universität sein weibliches Ideal, dem kein irdisches Frauenzimmer das Wasser reichen kann und es daher auch nicht versuchen sollte? Ein Student erwartet eine intellektuelle Bewusstseinserweiterung von seiner Alma Mater, die – zur Mutterfigur stilisiert – dem (jungen) Mann Wissen einflößt. Universität ist Initiation und führt am Ende der Studienerfahrung zur Wiedergeburt als Wissender. (Sollors 1986, S. 80) Wie sich auch in McLaughlins Vermerk zur Aufnahme in die „Bruderschaft“ andeutete, wurde im 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen Student und (deutscher) Universität dem Verhältnis von Sohn und Mutter gleichgesetzt. Universitäre Initiation war im amerikanischen Verständnis des 19. Jahrhunderts mit Schmerz verbunden; Geburt und Veränderung bedeuten auch Qual. Eng verknüpft mit dem Gedanken des „männlichen“ Studenten an einer deutschen Universität ist die Vorstellung des Staatsbürgers im Verhältnis zu seiner eigenen wie anderen Nationen. Es ist der Staat, der für das die Gesellschaft regulierende, konkrete Gesetzeswerk steht, aber es ist die Nation, eine ideale und nicht leicht fassbare Idee der Zusammengehörigkeit, der zum Ende des 19. Jahrhunderts hin immer stärkere Bedeutung beigemessen wurde. Im 19. Jahrhundert sollte die Frau in Deutschland nichts mit der Universität zu tun haben, so wie sie auch mit 11 Tagebuch, C. Thomas, 20. Okt. 1877. Thomas Papers, Box 3, Bentley.

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dem Staate nichts zu tun haben sollte. (Theweleit 1977, S. 71) Die Nation wird allerdings gern bildlich mit idealisierten Frauengestalten gleichgesetzt; so ist die Lady Liberty ein Ideal, das im späten 19. Jahrhundert die Idee der amerikanischen Nation gegenüber den neuen Einwandererwellen behaupten sollte. (Banta 2003, S. 140-141) Vergleicht man die Universität mit der Nation, so lassen sich beide als Ideale erkennen – die Universität als Bildungsideal, die Nation als idealisierte Gemeinschaft. Die Universität bildet die administrativen Gestalter des Staates von morgen aus. Organisatorische Fragen sind dem Mann vorbehalten, wobei hier nicht wirklich ein signifikanter Unterschied zwischen den USA und Deutschland zu bestehen scheint. Der Mann strebt nach dem höchsten Ideal – der höchsten Bildung wie der idealen Nation. Studium und Konstruktion von Nationalcharakter sind eng miteinander verbunden, denn Studium bedeutete Vorbereitung auf eine Position in Politik und Gesellschaft. Dieser prospektive deutsche Arbeitsmarkt schloss vor 1900 eine weibliche Studentenschaft aus, da die Studentin auf Staatskosten für einen nicht vorhandenen weiblichen Arbeitsmarkt vorbereitet werden würde.

III. Die ersten Eindrücke eines Amerikaners von deutscher akademischer Kultur bezogen sich auf bürokratische Formalitäten, seine ersten Aktivitäten zielten auf Spracherwerb hin. (Becker 2006) In zahlreichen Tagebucheintragungen und Briefen lässt sich trotz nüchterner, aber detaillierter Beschreibungen eine gewisse Aufregung über den ersten Kontakt mit deutschen Universitätsautoritäten aufspüren. So führte der zukünftige Professor für Griechisch der Yale University, Thomas Day Seymour, während seines Aufenthaltes in Leipzig im Herbst 1870 ein Tagebuch, in dem er in nicht mehr als drei oder vier Sätze pro Tag schilderte, was ihn besonders beeindruckt hatte. Am 26. Oktober 1870 notierte er: Went this morning to ‚inscribirt lassen‘ – Received our first papers, left our passport, paid our fees, inscribed our names and residences. PM. Went at 3. Recorded our full names, residences, birth places, country, age, religion, profession of father, where previous education was received, our lander etc. Signed a promise to be good. Received the handschlag of the Rector.12

12 Tagebuch, Thomas D. Seymour, 26. Okt. 1870. Seymour Papers, Box 25, Folder 200, Yale University Library (YUL).

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Das Versprechen, sich gut zu führen, sowie der Handschlag des Rektors besiegelten die Aufnahme in die Universität, womit ein erstes Ritual deutschen Studentenlebens vollzogen war. Dies erschien auch späteren amerikanischen Studenten erzählenswert. Im Dezember 1891 berichtete der zukünftige Harvard Zoologe George Howard Parker: „My name was called out, I received a hand shake from the rector, a large piece of paper and my student’s card and thus became a member of this famed University.“13 McLaughlin vermerkte 1893 am Ende seiner Beschreibung der Immatrikulationszeremonie, die mittlerweile aufgrund gewachsener Studentenzahlen deutlich mehr Zeit in Anspruch nahm: Each student was then given his little students card + his large paper, shook hands with the Rector as a pledge of good behavior + as admission to the brotherhood + then marched out – or waited longer as he chose. Voss + I marched out + tried Baarman’s restaurant – + found the Münchner ausgezeichnet – 14

Durch den Handschlag wird ein Ehrenwort gegeben, das zumindest laut McLaughlin Bestandteil einer rein männlichen akademischen Kultur war. Seymour verwies zudem darauf, dass die Einschreibung durch Angabe des Vaterberufs komplettiert wurde. Interessanterweise wurde in Leipzig vor 1840 nach dem „Amtlichen oder Bürgerlichen Standes Verhältnis der Eltern (z.B. dem Stand des Vaters)“ und seit 1914 nach dem „Stand der Eltern“ gefragt; zwischen 1840 und 1914 hingegen sollten Studenten explizit den „Stand des Vaters“ angeben.15 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand somit der Leipziger Student ausdrücklich in einer exklusiv männlichen Nachkommenslinie. Die Aufnahme in das deutsche Studentenleben und gleichzeitig in jene Körperschaft, die deutsche Forschungsuniversität, die mit ihrem Ideal der Freiheit von Forschung und Lehre im 19. Jahrhundert eine besondere Anziehungskraft ausübte, erfolgte durch ein Ritual. Nach der Einschreibung und dem Beginn der Vorlesungen entdeckten amerikanische Besucher nach und nach das deutsche Studentenleben. Doch verlagerten sich im Laufe der Jahrzehnte die Schwerpunkte. Duelle fanden im letzten Drittel des Jahrhunderts bei Amerikanern kaum mehr als Kuriosum Beachtung. Thomas erregten sie als Anachronismus.16 Parker ver13 Brief, George H. Parker an Familie, 13. Dez. 1891, S. 29. Parker Papers, HUG 4674.12, Harvard University Archives (HUA). 14 Tagebuch, A.C. McLaughlin, 25. Okt. 1893. McLaughlin Papers, Box 1, Bentley. 15 Leipziger Matrikel, Rektor M, M12-M29, UAL. 16 Tagebuch, 15. Okt. 1877, Thomas Papers, Bentley.

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wies lediglich in einem Nebensatz auf die vernarbten Gesichter vieler Studenten.17 Somit war amerikanisches Studentenleben in Deutschland offensichtlich weniger gewalttätig als American College Culture oder deutsches Studentenleben. Fehlendes Interesse an Duellen lässt sich mit dem im Durchschnitt höheren Alter amerikanischer Studenten, Geheimhaltung und fehlendem Zugang erklären – um einem Duell beizuwohnen, ohne sich selber einer schlagenden Verbindung anzuschließen, war ein deutscher Insider von Nöten. Von nur einem von über 1.600 amerikanischen Studenten in Leipzig ist mir bekannt, dass er einer schlagenden Verbindung beitrat. Der erst 18jährige Wymberly De Renne aus Georgia, der eine vorbereitende Schule in der Schweiz besucht hatte, immatrikulierte sich im Oktober 1871 und hörte während der nächsten zwei Jahre Vorlesungen zu Logik, Philosophie und internationalem Recht. Außerhalb der Lehrveranstaltungen engagierte er sich in der Saxonia Verbindung. Als er 1873 Leipzig verließ, hatte er nicht nur eine Studienbescheinigung in der Tasche, sondern auch eine riesige Narbe an der linken Schläfe. (Bragg 1999, S. 187-191) Es wäre interessant zu erforschen, inwiefern sich die regionale Herkunft auf das amerikanische Studentenleben in Deutschland auswirkte. (Fischer 1989, S. 298-306; aktuell zu Männlichkeit im Süden Friend 2004, Thompson und Glover) In einem anderen Fall beschreibt ein Amerikaner ein Duell, zu dem ihn ein Mitarbeiter des Zoologischen Instituts zu Leipzig mitgenommen hatte: Oh! I went to Halle + saw a mensur. Went with Dr. Zur Strassen. He was to be the Umpire on one – a sabre case. I tell you it was no joke. I was told that I was probably the only American who ever saw such an occasion. Nobody but the seniors of their own societies were permitted to remain and I gave my word to keep mum for a definite time which is now past. Well they were two good men + equally well trained and I was pretty glad to see them through (they fought 15 min. the allotted time) without any mortal wound each had a little cut down over the right eye but the frontal bones protected the eyeball and a few little scratches on the body. Its [sic] surprising what it takes to kill a man – how these fellows did their best or worst and each closed in at all risk to himself in order to reach his opponent and yet only sight cuts were inflicted. Of course the rules of distance + the way of striking make it harder. Two green untrained men would not fight many seconds I imagine where they had no rules to observe.18 17 Brief, G.H. Parker an Familie, 13. Dez. 1891. Parker Papers, Box 2, HUA. 18 Brief, Joseph Stafford an Rodney Howard True, 14. Juli 1895. Rodney Howard True Papers, BT763, Series II, Box 8, American Philosophical Society.

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Geheimhaltung könnte also ein Grund für die wenigen verfügbaren Quellen sein. Weiterhin ist es bemerkenswert, wie distanziert der angehende Zoologe den Kampf und die entstandenen Verletzungen beschreibt. Seine Begeisterung gilt vor allem der Widerstandsfähigkeit des menschlichen Körpers. Auch klingt ein wenig Stolz an, womöglich der einzige Amerikaner zu sein, dem es erlaubt war, einem solchen Spektakel beizuwohnen. Moralische Fragen wurden nicht aufgeworfen – Joseph Stafford beobachtete und notierte in wissenschaftlicher, unemotionaler Art. In ähnlich distanzierter Weise berichtete der zukünftige Muckraker Joseph Lincoln Steffens seinem Vater von der „Kneipe“ eines akademischen Vereins im November 1890: Last night (Saturday night) I was on a „bust.“ […] But you need not be shocked, for a German student bust (or Kneipe) is very different from one in America. It was at the club of the Philological Students. We went in at about 8:30 and a professor had begun to deliver a lecture. He had just returned from a trip through Roumania and Bulgaria, and for an hour and a half he related his adventures and instructed us on the political and social conditions of these mixed-up people. […] In the meantime we sat among the students (about 200, counting professors) who drank beer and smoked the room blue. After that we popped questions at the lecturer, and then the student professor declared the official meeting closed. Up to this time every-body had had only one pot of beer. Now began a social meeting, introducing, etc., and about 10:30 the president called „Silentium!“ and opened the Kneipe proper with a general song. Then the lecturer was toasted, and we drank to him a Salamander. A salamander is thus: Everyone rises, the president counts one-two-three and the glasses are rubbed about on the table, then we drink so long as he counts 1, 2, 3; then 1, 2, 3, and the Krüge (stone-glasses) go bang, bang, bang, on the table; then 1, 2, 3, and the lids are slapped to; then we sit down and applaud. Then the lecturer answered the toast by telling the drinking customs of the Roumanians, Greeks, Servians, and Bulgarians and ordered another salamander. […] We left early because beer doesn’t agree with me except in limited quantities. The Germans may be there yet, but I’ll guarantee that not one is drunk […], for it is a disgrace to get intoxicated in public among the students and all gentlemen. Then too the Germans drink so slowly that the beer has time to settle. […] Our young Americans simply don’t know how to drink or else drink the wrong stuff.19

19 Brief, Lincoln Steffens an Vater, 23. Nov. 1890. Nachdruck in Ella Winter und Granville Hicks (Hg.) 1938, The Letters of Lincoln Steffens, Bd. 1: 1889-1919, New York, S. 54-55.

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Steffens bringt in seiner Beschreibung sowohl Faszination als auch Distanz zum Ausdruck. Obwohl er seinen Spaß gehabt haben wird, nahm er detailverliebt verschiedenste Eindrücke auf, um sie später in einem Brief zu notieren. Es sollte dabei bedacht werden, dass der Brief an seinen Vater und nicht an einen Kommilitonen adressiert war. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Steffens die feucht-fröhliche Atmosphäre nicht dazu verleitet hatte, seine eigenen Grenzen zu überschreiten. Er schlussfolgerte, dass ritualisierter Biergenuss unter deutschen Studenten nicht dem Zweck diente, sich maßlos zu betrinken. Er diente eher dazu, eine spezielle Atmosphäre zu schaffen, Wissenschaft zu ritualisieren, aber auch aufzulockern und es so zu ermöglichen, weniger ernsthaft wissenschaftliche Themen wie die Trinkgewohnheiten anderer Völker zu diskutieren. In seinem Bericht gab Steffens seinerseits ein Bild der Trinkgewohnheiten deutscher Studenten und Professoren. Das Vereinsleben bot den Amerikanern in Deutschland die Möglichkeit, auch scheinbar weniger wissenschaftliche Lebensbereiche zu beobachten. Steffens war nicht allein mit seinem Interesse für die Trinkgewohnheiten deutscher Universitätsangehöriger.20 Einige Amerikaner gingen so weit, solch geselliges Beisammensein nach ihrem Ruf an eine Universität in den USA dort ebenfalls einzuführen. Thomas Marc Parrott, Professor für Englisch an der Princeton University, schreckte selbst während der Prohibition nicht davor zurück, mit jüngeren Kollegen und Studenten Bierkrüge zu leeren.21 Alice Hamilton, Ediths jüngere Schwester, erinnerte sich später, dass es vor dem Ersten Weltkrieg an vielen amerikanischen höheren Bildungseinrichtungen German Clubs gegeben hatte, in denen man sich zum Biertrinken, Singen von deutschen Liedern und nostalgischen Reminiszenzen an Studientage in „Heidelberg, Bonn oder Jena“ zusammenfand. Französische oder englische Klubs habe es nicht gegeben.22 Hamilton, die 1895/96 in Leipzig Medizin studiert hatte, wurde 1919 als erste Frau an die Harvard University berufen und erstürmte damit diese amerikanisch-universitäre Männerbastion. In ihren Memoiren ist nicht beschrieben, inwiefern sie selbst mit German Clubs verbunden war. Im Deutschland der 1890er Jahre blieb ihr der Zugang zu Kneipen offiziell verwehrt, denn diese standen nur immatrikulierten

20 Z. B., Arthur B. Lamb beschreibt einen Komers (Kneipe) zu Ehren des sächsischen Königs. Brief an „Dear ones at Home,“ ohne Datum (ca. Washingtons Geburtstag 1904/05). Arthur B. Lamb Papers, HUG 4508.50, Box 2, „Correspondence with Parents, 1903-1905,“ HUA. 21 Obituary, S. 2. Faculty File Thomas Marc Parrott ’88, Princeton University Library (PUL). 22 Alice Hamilton 1943, Exploring the Dangerous Trades, Boston, S. 163.

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Studenten offen. Frauen konnten daher erst nach 1900 am studentischen Vereinsleben in Deutschland teilhaben.23

IV. Eingangs hatte ich bemerkt, dass sich in Göttingen erst mit der Legalisierung der Burschenschaften ein offizieller amerikanischer Studentenverein gründete; diese American Colony ist die am häufigsten beschriebene. Dennoch organisierten sich Amerikaner auch andernorts entsprechend den deutschen Universitätsstatuten. Es bestand sogar ein reger Kontakt zwischen American Colonies in verschiedenen deutschen Universitätsstädten. Solche Kontakte lassen sich einerseits durch Universitätswechsel amerikanischer Studenten innerhalb Deutschlands nachvollziehen, aber auch durch Besuche und durch Kontakte mit ehemaligen Kommilitonen an einer amerikanischen Alma Mater. Mason Cogswell Weld, der in Leipzig seine Studien der Chemie fortsetzte, bat im Sommer 1853 seinen jüngeren Bruder Lewis, ihn mit Neuigkeiten aus New Haven (d.h. von der Yale University) zu versorgen, da sich Freunde aus Göttingen danach erkundigt hätten.24 Arthur Becket Lamb, ein zukünftiger Chemiker an der Harvard Universität, teilte seiner Familie im Oktober 1904 mit, dass er mit Freunden aus Göttingen, die für ein paar Tage in Leipzig zu Besuch waren, zu Abend gegessen hätte.25 Obwohl es in Leipzig lange zuvor eine spürbare amerikanische Präsenz gegeben hatte, nahm die amerikanische Studentenpopulation hier erst seit den 1860 Jahren Größenordnungen an, die eine Herausbildung von Organisationsstrukturen lohnenswert machten. Die beiden wichtigsten Schritte hierzu waren die Etablierung einer amerikanischen Kirche sowie die Schaffung eines amerikanischen Studentenklubs. Beides sind Einrichtungen, die typisch für amerikanische Kolonien in deutschen Universitätsstädten jener Tage waren. So berichtete Lane Cooper am 3. Juli 1900, dass er während eines Besuches in Berlin an einem patriotischen amerikanischen Gottesdienst in Einstimmung auf den 4. Juli teilgenommen hätte; der amerikanische Botschafter und ehemalige Präsi-

23 Eine weitere amerikanische Studentin an der Universität Leipzig, Eva Channing, hatte sich bereits 1879 in einem Zeitungsartikel spöttisch beschwert, dass Studentinnen die Welt der Klubs und Kneipen verschlossen blieb. [Eva Channing] 1879, The Contributors’ Club, in: The Atlantic Monthly 44, S. 789. 24 Brief, Mason Cogswell Weld an seine Familie, 24. Juli 1853. Lewis Weld Family Papers, Group 559, Box 1, Folder 2, YUL. 25 Brief, A. B. Lamb an Familie, 17. Okt. 1904. Lamb Papers, Box 2, HUA.

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dent der Cornell University, Andrew D. White, sei samt Gattin ebenfalls zugegen gewesen.26 Die amerikanische Kirche in Leipzig wurde Anfang der 1870er Jahre maßgeblich unter Beteiligung von Studenten des Amherst College aufgebaut. Der wohl erste Prediger war Samuel Ives Curtiss, der später in Chicago Theologie lehrte.27 Allerdings war die Aufgabe der Kirche nicht bloß der Gottesdienst. Wenigstens genauso wichtig war es, einen Ort der Versammlung zu finden, an dem man Amerikaner (wieder-) treffen konnte. Charles Rockwell Lanman teilte im Oktober 1875 erfreut seiner Tante mit: „This P.M. I went to the American chapel and enjoyed the service very much, indeed. Met Mr. Sloane, an old Berlin friend and Semitic student.“28 Auch war der Gottesdienst nicht auf eine bestimmte Glaubensgemeinschaft zugeschnitten; an erster Stelle stand die Tatsache, dass es sich um einen amerikanischen Gottesdienst handelte. Volney Morgan Spalding aus Ann Arbor schrieb im Dezember 1893 an eine Freundin: In the afternoon of Sunday I generally attend the American Church, where several hundred people, of various denominations, and no denomination, come together and unite in a common worship. The leader, or pastor, Mr. Edwards, is a man of much ability, working here on a pittance for the good he can do, and the whole organization and its methods and purpose are strikingly like the New Testament Church, with little form, hardly more than the voluntary association of a body of disciples, but as it seems to me a remarkable example of the powerful influence of Christianity in the simple form in which it first took shape.29

Spalding war Zoologe, der in Leipzig oft mit McLaughlins Ehefrau Lois Gottesdienste besuchte. Die amerikanische Kirche (ebenso wie lokale Kirchen) wurde damit zu einem universitätsfernen Ort, an dem Frauen ins Blickfeld rücken konnten. Allerdings ist Religiosität wiederum ein Ausdruck idealer Weiblichkeit. (Welter 1966) McLaughlin verwies in seinem Tagebuch auf die Kirchenbesuche seiner Frau gemeinsam mit 26 Brief, Lane Cooper an Vater, 3. Juli 1900. Lane Cooper Papers, 14/12/680, Box 18, Kroch Library Cornell University (Kroch). 27 Amherst College Biographical Record, Centennial Edition (1821-1921) – Samuel Ives Curtiss [Online]. 27. Nov 2000. URL: http://www.amherst. edu/~rjyanco/genealogy/acbiorecord/1867.html#curtiss-si [5. Okt. 2001]. Wagner 1978, S. 117. 28 Brief, Charles Rockwell Lanman an Tante, 24. Okt. 1875. Charles R. Lanman Papers, HUG 4510.67, Letters from Europe, Bd. 3, May 1875 to August 1876, HUA. 29 Brief, Volney Morgan Spalding an Miss Southworth, 10. Dez. 1893. Volney Morgan Spalding Papers 1849-1918, Bentley.

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Spalding; er selbst scheint sie nicht begleitet zu haben, besuchte jedoch deutsche Kirchen.30 Die amerikanische Kirche war indes eng mit der amerikanischen Studienerfahrung in Deutschland verbunden, da deren Prediger oft auch als Studenten an der Universität eingeschrieben waren. Erst um 1890 wurde offiziell den Statuten der Universität Leipzig entsprechend ein amerikanischer Studentenklub gegründet. Seine Satzung legte vier Ziele fest: a) Besprechung aller Gegenstände die den Mitgliedern in ihrer Eigenschaft als Studenten oder Lehrer, von Interesse sind; b) Denjenigen, welche sich dem Lehrerberufe widmen, behülflich zu sein, dadurch, dass die in Verbindung mit Vorgesetzten von Lehranstalten gebracht werden, oder auf andere Weise; c) In Leipzig ankommende Studenten, oder Studenten in Amerika, die beabsichtigen die hiesige Universität zu besuchen, mit Rath beizustehen; d) Die Geselligkeit unter den hiesigen amerikanischen Studirenden zu pflegen.31

Damit war der Klub vor allem ein Vehikel zur Schaffung von Netzwerken im Bildungssektor, Geselligkeit rangierte in der Aufzählung an letzter Stelle. Politische Meinungsbildung war nicht erlaubt.32 Der Klub bestand nur wenige Semester, gründete sich aber um die Jahrhundertwende neu. Zwischen 1905 und 1909 bestand er als American and British Students Club fort, was auf abnehmende amerikanische Studentenzahlen hindeutet.33 Zwischen 1911 und 1914 existierte ein International Students Club unter amerikanischem Vorsitz im Gründungssemester, allerdings waren nur fünf der 49 Mitglieder Amerikaner, darunter eine Frau, Mathilde Margarethe Lange aus New York.34 Es gab regelmäßige Klubabende in einem Hotel der Stadt. Berichte über diese Sitzungen beinhalten aber im Gegensatz zu Steffens Be30 Tagebuch, A.C. McLaughlin, 29 Okt. 1893. McLaughlin Papers, Box 1, Bentley. 31 Klub der amerikanischen und englischen Stud., Rep. II/XVI/III, Nr. 16, Film 488/94, S. 0185 [2], UAL. 32 Verzeichnis der Verbindungen, Rep. II/XVI/II, Nr. 6 Bd. 5, Film 476/94, S. 0421 und ebenda Bd. 16, Film 478/94, S. 0191, UAL. Gesetz, die Studien auf der Universität Leipzig betreffend §3 und Disziplinar-Ordnung § 36, in: Immatrikulations und Disziplinar-Ordnung für die Studierenden der Universität Leipzig vom 8. März 1903, Leipzig 1903, S. 3, 20. 33 Klub der amerikanischen und englischen Stud., Rep. II/XVI/III, Nr. 17, Film 488/94, S. 0209, UAL. 34 Student. Körperschaften SS 1909, Rep. II/XVI/II, Nr. 6. Bd. 24, Film 479/94, S. 0280, UAL. SS 1911, ibid. Bd. 28, Film 480/94, S. 0149. WS 1914/15, ibid., Bd. 35, Film 481/94, S. 0405.

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schreibung des Philologenvereins keine Darstellung eindrucksvoller Trinkgelage sondern konzentrieren sich auf den wissenschaftlichen Austausch. Arthur Amos Noyes, zukünftiger Chemiker am MIT und CalTech, schrieb im Februar 1890 der Club bringe the fellows in all the different branches of study together, and gets them acquainted. […] Every night some member is selected who talks for half an hour or so on some subject he is interested in, and then a general discussion follows. Time before last, one of the zoologists described a summer stay in the Bahama Islands, where he went to study sea animals. He told a number of anecdotes about the life of the people there, especially the Negroes, and related a number of their stories in the dialect. Then another night a fellow gave us an account of a trip to Greece.35

Auch fanden Diskussionen über einzelne Studiengänge an amerikanischen Universitäten statt, wie dem idealen Kurs in Political Science36 oder der Germanistik an der Brown University.37 Dennoch waren nicht alle Aktivitäten des Klubs ernsthafter Natur. Noyes schrieb: Gill one night described a visit of his to a masked ball in Leipsic [sic]; they are not very respectable affairs, and yet he pretended to have seen most of the members of the club there. He usually asked them what they were doing there, and every one had some excuse. One of the ‚theologes‘ said he came there to study ‚total depravity‘. Our art student was there to study modern art as exemplified in female attire, so he told him.38

Alkoholischen Getränken wurde ebenfalls zugesprochen. Morris Tilley schrieb im März 1902 an Lane Cooper, der Leipzig bereits verlassen hatte: „Last night at the American Club we had our Schluss Kneipe and then afterward free choice spirits had an ex Kneipe until – well pretty early this morning. I wish you could have been along with us.“39

35 Brief, Arthur Amos Noyes an Harry Manly Goodwin, 20. Feb. 1890. Goodwin Papers, MC121, Box 1 „Correspondence 1888-1891“, MIT Archives. 36 Brief, Lightner Witmer an John Stewart, 16. Mai 1891. John Stewart Collection, Box 2 Witmer Folder, Annenberg Rare Book & Manuscript Library University of Pennsylvania Philadelphia. 37 Brief, A. B. Lamb an „Dear Ones at Home“, 23. bis 27. Nov. 1904. Lamb Papers, Box 2, HUA. 38 Brief A. A. Noyes an H. M. Goodwin, 20. Feb. 1890. Goodwin Papers, Box 1, MIT. 39 Brief, Morris Tilley an Lane Cooper, 2. März 1902. Cooper Papers, Box 16, Kroch.

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Der amerikanische Studentenklub entsprach den Statuten der Universität Leipzig und diente der Geselligkeit, wobei nicht bekannt ist, ob ritualisiertes Trinken praktiziert wurde. Der Hauptzweck des Klubs war eher pragmatisch, d.h. die Etablierung von akademischen Netzwerken. Frauen konnten offiziell bis zur Einführung des Frauenstudiums in Leipzig im Jahre 1906 nicht zugegen sein, da nur eingeschriebene Studenten zugelassen waren. (Becker 2004) Auf diese Weise konnten amerikanische Studenten in Leipzig eine maskuline amerikanische Sphäre schaffen, zu der amerikanische Studentinnen, die neben Russinnen die größte weibliche Ausländergruppe ausmachten, keinen Zutritt hatten.

V. Amerikanisches Studentenleben in Deutschland offenbart bei genauem Hinsehen einen Widerspruch, der sich in der Gegenüberstellung von universitärem Ideal und nationaler Identität äußert. Im eng verwobenen Dreigestirn von Studentenkultur, Männlichkeit und nationaler Identität, das im Kontext von Studentenmigration ein Aufeinandertreffen und somit eine Auseinandersetzung mit verschiedenen nationalen akademischen Kulturen heraufbeschwört, akzeptierten amerikanische Männer einerseits die Überlegenheit deutscher Bildung und somit den Ausschluss von Frauen. Andererseits kritisieren sie genau dies als rückschrittlich, weswegen Amerika trotz des damals weniger guten Bildungsrufs dennoch als gegenüber Deutschland überlegen wahrgenommen wurde. Letztlich stimmten somit auch amerikanische Männer der deutschen Idee einer rein männlichen höchsten Bildung zu. Allerdings setzten sie nationale Wertvorstellungen noch über die Wertigkeit von Bildung, womit sie sich nationale Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Deutschen und deren hochgerühmten Bildungsidealen ersparten.

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4. T R AN S F O R M AT I O N E N D E R M O D E R N E

Männer im Pe lz : Entblößunge n und Verhüllungen des natürlichen Körpers um 1900 RALPH J. POOLE

I.

„ E v e r y I n c h Am e r i c a n “ : Was macht (einen) Teddy zum Mann?

„I am convinced that he is the perfect type of the primitive man, born a thousand years or generations too late and an anachronism in this culminating century of civilization.“1 Humphrey Van Weyden, der Erzähler und Vertreter der viktorianischen Kulturelite aus Jack Londons Roman The Sea-Wolf, benennt in der Figur Wolf Larsens, die er hier beschreibt, einen Typus brachialer, animalischer Männlichkeit, der um 1900 eine erstaunliche und erfolgreiche Öffentlichkeit zukam. Es handelte sich hierbei um die Ablösung des bis dato favorisierten, hegemonialen Ideals viktorianischer Männlichkeit durch eine ursprüngliche, wilde Maskulinität, die der Historiker E. Anthony Rotundo als Masculine Primitive bezeichnet und die mit einer spezifischen Weltsicht einherging: „physical strength, powerful instincts, personal force. Life in the civilised world was seen as a wilderness struggle for survival.“ (Rotundo 1987, S. 41) Die Hinwendung zu einem solchen Ethos „primitiver Maskulinität“ gründete auf einem kulturellen Dilemma, das an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die amerikanische Gesellschaft in Sorge versetzte: die heraufgeschworene Gefahr einer weitgreifenden Feminisierung durch den Verlust kultureller Vitalität sowie nationaler Virilität. 1

Jack London 2000, The Sea-Wolf [1904], Oxford, S. 68.

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Der dieser Gefahr entgegenwirkende Rekulturierungsgedanke, dessen Wunschvorstellung einer Wiedererlangung verlorener Männlichkeit auf der radikalen Verwerfung und dem Ausschluss des Weiblichen basierte, markierte einen Paradigmenwechsel, den Gail Bederman als den Übergang vom viktorianischen Konzept der „Männlichkeit“ zur modernen Vorstellung von „Maskulinität“ benennt. Wenn man vor 1890 von „manly“ sprach, so verbanden sich damit viktorianische Tugenden, die im moralischen Kontext einer weißen, angelsächsischen Mittelklasse standen: Ehrbarkeit, Selbstkontrolle, Willensstärke, sexuelle Zurückhaltung. Nun aber schob sich ein anderes Männerbild in den Vordergrund, das vormals mit der Arbeiterklasse sowie den multiethnischen Immigrantengruppen verknüpft war und als rückständig und unzivilisiert galt: der muskulöse, rohe Mann. Auch terminologisch vollzog sich dieser Umschwung. Mit maskulin wurde nun nicht mehr wie zuvor ein moralisch positiv konnotierter Code der manliness bezeichnet, sondern generell alles, was das biologische Geschlecht eines Mannes ausmacht: ‚Manliness‘ comprised all the worthy, moral attributes which the Victorian middle class admired in a man. […]‚ masculine‘, more frequently than „manly‘, was applied across class and race boundaries; for, by definition, all men were masculine. […]‚ masculinity‘ had developed into the mix of ‚masculine‘ ideals more familiar to twentieth-century Americans – ideals like aggressiveness, physical force, and male sexuality. (Bederman 1995, S. 18-19)

Auch wenn dies zunächst klingt, als hätten sich mit dieser Redefinition Klassen- und Rassenschranken aufgehoben, so war dies jedoch keineswegs der Fall. Diese beiden Kategorien traten mit dem historischen terminologischen Wechsel in ihrer vormaligen Offensichtlichkeit lediglich zurück, und zum Vorschein kam nun um so mehr eine neuartige und sehr scharfe Demarkationslinie zwischen den Geschlechtern, die primär jede Assoziation von Männlichkeit mit Weiblichkeit – ob biologisch, sexuell oder kulturell – als negative Attribuierung kategorisch verwarf und somit sekundär alles Weibliche generell einer ablehnenden Umwertung unterwarf : „While ‚manhood‘ had historically been contrasted with ‚childhood‘, to suggest that manhood meant being fully adult, responsible, and autonomous, the new opposite of ‚masculinity‘ was ‚femininity‘, traits and attitudes associated with women, not children. Manhood was an expression of inner character; masculinity was constantly in need of validation, of demonstration, of proof.“ (Kimmel 1994, S. 21) Michael Kimmel – im Unterschied zu Gail Bederman – formuliert diese Umbruchsphase im (Selbst-)Verständnis einer Männlichkeit, die sich kaum überraschend damit einhergehend auch an einer veränderten männlichen Körperkonzep160

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tion am Ende des 19. Jahrhunderts manifestierte, als Krise. Bob Connell mahnt jedoch an, den systemischen Begriff der Krise in Bezug auf Maskulinität zu meiden und stattdessen von krisenhaften Tendenzen in der Geschlechterkonfiguration zu sprechen: As a theoretical term ‚crisis‘ presupposes a coherent system of some kind, which is destroyed or restored by the outcome of the crisis. Masculinity […] is not a system in that sense. It is, rather, a configuration of practice within a system of gender relations. We cannot logically speak of the crisis of a configuration; rather we might speak of its disruption or its transformation. We can, however, logically speak of the crisis of a gender order as a whole, and of its tendencies towards crisis.2

Das Geschlechterverhältnis der Jahrhundertwende fußte noch auf einer Praxis der strikten Trennung von Sphären: der häuslichen und privaten, den Frauen zugewiesenen Sphäre stand der politische und ökonomische öffentliche Handlungsraum der Männer gegenüber. Die aus dieser Trennung resultierende Verantwortung der Frauen für die Erziehung der Kinder beiderlei Geschlechts ließ ein Misstrauen gegenüber einer zu starken Einflussnahme der Mütter auf die jungen Männer aufkommen. Auch wenn die Frauen zwar im gesamtgesellschaftlichen Gefüge tatsächlich verschwindend wenig Macht hatten, so konnte dennoch der männlichhegemonialen Ideologie einer „natürlich“ gegebenen Geschlechterdifferenz zufolge die Notwendigkeit einer Transformation in der Geschlechterkonfiguration heraufbeschworen werden. Denn im Zuge wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Veränderungen sah sich der manly man von mehreren Seiten in seiner angestammten, hegemonialen Männlichkeit gefährdet. Streikende Arbeiter und Einwanderer stellten die von der Mittelklasse bestimmte Arbeitspolitik in Frage; die Frauenbewegung der New Women forderte Stimmrecht und Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt; Mediziner attestierten dem Mann der Mittelklasse eine körperliche Neigung zu der jüngst entdeckten Krankheit „Neurasthenie“, einer Nervenschwäche aufgrund von erfolgsstrebender Überbelastung; und die Psychologen „entdeckten“ die Homosexualität als ein Phä-nomen der Identitätskrise des Mannes, welche besonders die sich allmählich in ihrem Machtanspruch im Untergang begriffene Mittelklasse betraf. Dem-

2

Connell 1995, S. 84. Zu einer Kritik an Connells Geschlechtermodell und besonders seiner Gegenüberstellung von „personal“ und „political“ siehe MacInnes 2001. Zur Diskussion des Krisenkonzeptes siehe auch die Einleitung von Martschukat/Stieglitz sowie die Beiträge von Dorsey und Sielke in diesem Band.

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gegenüber rückte der gesunde, kraftvolle, potente „maskuline“ Körper ins Zentrum der neuen Ideologie revitalisierten Mannseins. Auf dem Gebiet der Politik repräsentierte Theodore – Teddy – Roosevelt am deutlichsten diesen fundamentalen Werteumschwung. Als er die öffentliche und höchst sichtbare Arena der Politik in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts betrat, war seine Karriere ernsthaft durch seinen unmännlichen Ruf gefährdet. Erreichte gleichzeitig der Oscar Wilde-Skandal seinen Höhepunkt (die notorischen Gerichtsverfahren fanden 1885 statt), so musste sich Roosevelt die Schmach und Beleidigung eines Vergleichs ausgerechnet mit dem als pervers, dekadent und weibisch verschmähten Wilde gefallen lassen. Denn Teddy – oder Teedie, wie er seit seiner Kindheit auch genannt worden war – figurierte als paradigmatisch effeminierte Männlichkeit seiner Ära. Er wurde öffentlich mit Spitznamen wie „Jane Dandy“, „Punking-Lily“ und für ihn am unerträglichsten mit „our own Oscar Wilde“ gehänselt. Innerhalb weniger Jahre gelang es Roosevelt jedoch, sich von der lächerlichen Figur einer amerikanischen Oscar Wilde-Inkarnation zum Cowboy of the Dakotas zu mausern und nun als offensichtlichstes Symbol der neu erstarkten Jahrhundertwende-Männlichkeit zu reüssieren. (Morris 1979, S. 349-353; Filene 1988, S. 69-93) Im Zelebrieren eines abenteuerlichen Daseins in freier Natur gelang es Teddy, als „Mann“ in jedweder Aufmachung zu gefallen, egal, ob in Cowboy-Kluft, SafariMontur oder in der Ausstattung eines soldatischen Rough Rider. Roosevelt war aber nicht nur ein Meister der Selbstvermarktung, sondern ihm gelang es, den zeitgenössischen Zivilisationsdiskurs für seine nationalistischen und imperialistischen Anliegen nutzbar zu machen: „As he saw it, the United States was engaged in a millennial drama of manly racial advancement, in which American men enacted their superior manhood by asserting imperialistic control over races of inferior manhood.“ (Bederman 1995, S. 171) Seine Überzeugung, zur von der Evolution auserwählten Rasse zu gehören, führte ihn zu einer hegemonialen Politik, die dezidiert unter dem Banner einer als überlegen deklarierten weißen Männlichkeit stand. Roosevelts zeittypisches Männlichkeitskonzept speiste sich aus zwei kulturell divergierenden Wurzeln. Einerseits wuchs er in einem Umfeld auf, das stark von der viktorianischen Ideologie bourgeoiser Männlichkeit geprägt war. Dementsprechend verschrieb auch er sich den viktorianischen „Tugenden“ wie Stärke, Altruismus, Selbstbeherrschung und Askese. Gleichzeitig jedoch fühlte er sich zu einer sehr viel gewaltsamer sich äußernden Männlichkeit hingezogen. Dieses Männlichkeitsideal, das Roosevelt schon als Junge durch die Lektüre von Abenteuerromanen wie Captain Mayne Reids The Boy Hunters; or Adventures in Search of 162

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a White Buffalo (1852) vermittelt wurde, war auf das engste mit der Vorstellung eines „natürlichen Mannes“ verbunden, der im heroischen Kampf gegen Indianer und wilde Tiere seine (weiße) Männlichkeit unter Beweis stellen konnte. Vorbilder aus dem nationalen Mythenkatalog des amerikanischen Westens waren hier Figuren wie Daniel Boone und Davy Crockett, deren politische Agenda auf der Basis kampferprobten Einsatzes in der Eroberung der Frontier fußte.

Abbildung 1: Theodore Rossevelt als Titelheld seines Hunting Trip of a Ranchman (1885) 163

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In seinen eigenen Büchern inszenierte sich Roosevelt auf der Folie seiner politischen und literarischen Vorbilder nun selbst als heroischer Mann des Westens: Hunting Trips of a Ranchman (1885), Ranch Life and the Hunting Trail (1888) und The Winning of the West (1889-96).3 Wie das Frontispiz seines ersten Buches über seine Erfahrungen als „ranchman“ verdeutlicht, gründete Roosevelts Vorstellung einer naturverbundenen Männlichkeit bereits auf einem äußeren Erscheinungsbild: Während steif-soldatische Haltung, grimmiger Gesichtsausdruck, Jagdgewehr und Fellmütze den weißen Jägersmann erkennen lassen, lässt die sonstige Lederkleidung eher auf indianische vestimentäre Einflüsse schließen. Roosevelts Modell zivilisierter weißer Männlichkeit beinhaltete demnach die von den Native Americans kopierte beziehungsweise inkorporierte Komponente „naturhafter Wildheit“ und setzte sich damit ebenso deutlich von der angelsächsischen Herkunft als einer rein „englischen Rasse“ ab.4 Die Virilität dieser Naturburschen war essenziell für ihre Rassenausprägung, wie Roosevelt vermerkte: „There was little that was soft or outwardly attractive in their character; it was stern, rude, and hard, like the lives they led; but it was the character of those who were every inch men, and who were Americans through to the very heart’s core.“5 Aus diesem Grunde genügten nach Ansicht Roosevelts die viktorianischen Tugenden nicht für eine Abwehr rassenbedingter Dekadenz, die für ihn gleichbedeutend mit dem Verlust von Männlichkeit war. Im Auf- und Ausbau der amerikanischen Nation war es die Zukunftsvision Roosevelts, einer überzivilisierten Rassendekadenz den Kampf anzusagen, und der sportlich sich betätigende Kerl nach dem Vorbild der rauhen, muskulären Frontier-Männlichkeit sollte als Muster hierfür gelten: In a perfectly peaceful and commercial civilization such as ours there is always a danger of laying too little stress upon the more virile virtues – upon the virtues which go to make up a race of statesmen and soldiers, of pioneers and explorers. […] These are the very qualities which are fostered by vigorous, manly out-of-door sports, such as mountaineering, big-game hunting, riding, shooting, rowing, football and kindred games.6 3

4 5 6

Siehe für eine Diskussion der Rassenargumentation in Roosevelts Schriften und besonders in „The Winning of the West“ Dyer 1980, S. 54-67, und Slotkin 1992, S. 42-51. Theodore Roosevelt (1889-1886), The Winning of the West, 4 Bde., New York, hier Bd. 1, S. 20-21. Theodore Roosevelt (1887), The Life of Thomas Hart Benton, Boston, S. 21. Theodore Roosevelt (1893), Value of an Athletic Training, in: Harper’s Weekly 37, 23. Dezember, S. 1236.

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tions- und Kulturationsfunktionen die Schnittstelle dieser Bedrohung des Patriarchats darstellt. Hier bekommt der Teddy Bear noch eine andere Bedeutung. Einer verbürgten Anekdote zufolge wurde Roosevelt 1902 bei einer erfolglosen Bärenjagd ein Bärenjunges zum Erschießen in den Weg gesetzt. Roosevelt brachte es aber nicht über sich zu schießen. In Form von Cartoons wurde diese Episode in Zeitungen verbreitet und gelangte so nach Brooklyn, wo das Händlerehepaar Mitchom mit Erlaubnis des Präsidenten einen Spielzeugbären anfertigte und ihm den Namen Teddy’s Bear gab. (Cockrill 1993) Die sogleich erfolgende Teddy Bear-Manie machte dieses Spielzeug nicht nur bis heute zu einem der beliebtesten Kinderartikel, sie zeugt auch von der speziellen Weise, wie Roosevelt das jungenhaft Kindliche mit dem Natürlichen gleichsetzte. Das kleine Felltierspielzeug symbolisiert Roosevelts Vision der Manufaktur eines NaturMannes, geboren aus dem Geiste einer erneut jung-maskulinen, agilen Nation. Roosevelt markiert ein diskursives Zentrum in der um 1900 kursierenden Debatte um die fundamentale Frage: „Was macht einen Mann zum Mann?“ Davon ausgehend sollen nun drei sehr unterschiedliche, jedoch distinkte Momente der Ausstellung des umstrittenen männlichen Körpers beleuchtet werden, denen gemeinsam ihre thematische und zeitliche Nähe zu Teddy Roosevelt und seinen Bemühungen der Remaskulinisierung sind. In der Männermode ist dies der Edwardianische Gentleman, in Kunst und Sport das Aktmodell und der Bodybuilder Eugen Sandow, und in der populären Literatur sind dies die Helden aus Jack Londons The Sea-Wolf. Analog zur Erfolgsgeschichte von Roosevelt interessieren mich hierbei die jeweiligen körperlichen Transformationen von der „verweiblichten“ viktorianischen Verkörperung mangelhafter Männlichkeit zur rauhen, muskulösen, natürlichen und vor allem augenfällig „weißen“ Maskulinität. Jedes dieser drei Momente fokussiert den weißen männlichen Körper in verschiedenen ikonografischen und symbolischen Varianten von pelziger Gewandung oder aber dem signifikanten Mangel ebensolcher. Der Körper erweist sich hierbei als prominentester Ort im Bemühen um eine Rekonstitution männlicher Geschlechtsidentität. Im breiten Feld dieser kulturellen, politischen und sportlichen Bemühungen bildet der phantasmatische Versuch, den männlichen Körper mit Emblemen einer wilden und primitiven – tierischen – Männlichkeit zu schmücken, ein herausragendes Moment. Mein Anliegen ist es, den weißen Mann im Pelz der vorhergehenden Jahrhundertwende in seiner paradoxen und widersprüchlichen Kreuzung des „Primitiven“ mit dem „Zivilisierten“ und des „Natürlichen“ mit dem „Kulturellen“ auf seine Körpertechniken der Entblößung und Verhüllung hin zu befragen 166

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und die inhärente Brüchigkeit des Remaskulinisierungsstrebens dieser Zeit aufzuspüren.

II.

Vollblüter: Der Edwardianische Gentleman im Pelzmantel

Die amerikanische Mittel- und Oberschicht des späten 19. Jahrhunderts folgte strikten Kleiderregeln. Normalerweise wechselten diese Männer dreimal täglich ihre Kleidung von einem dunklen Geschäftsanzug (tagsüber) zu einem legeren Freizeitanzug (spätnachmittags) zu einem formellen Abendanzug (zum Dinner). Die Männer der Arbeiterklasse trugen einfachere Versionen der Kleidung der oberen Schichten, was bedeutet, dass auch sie wie ihre wohlhabenderen Mitbürger ein hohes Maß an modischem Formbewusstsein wahrten und den als Leitbild verstandenen Habitus der höheren Schichten zu kopieren suchten. (Tompkins 1996, S. 177-178; Ginsburg 1982; Tyrrell 1986) Die Regeln zur Männermode des ausgehenden Jahrhunderts, die in Amerika befolgt wurden, stammten aus England. Dort war es Prinz Edward von Wales (ab 1901 König Edward VII), der die entscheidende Autoriät in Sachen Mode und damit auch hinter der modischen Wiederentdeckung des Pelzmantels für den Mann war. Oscar Wilde war einer der prominentesten Träger eines solchen Pelzmantels. Er trug ihn während seiner Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten 1882 und präsentierte damit diese Mode einer breiten amerikanischen Öffentlichkeit. Der Edwardianische Gentleman als symbolischer Repräsentant eleganten Lebensstils erachtete den Pelzmantel als absolute Notwendigkeit. Der Pelzmantel war wie schon in früheren Zeiten mehr als nur ein Kleidungsstück. Pelze wurden natürlich immer schon aus Gründen des Schutzes getragen. Aber seit Aristokraten wertvolle, seltene Pelze als exklusive Symbole für Prestige und Macht wählten, übernahmen Pelze die primäre Funktion, ihre Träger möglichst vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Der Pelz wurde zum Statussymbol: mit Pelzen konnte man(n) angeben und seine gesellschaftliche Position vestimentär ausstellen. Daher war der Edwardianische Pelzmantel, besonders aus kostspieligem Robbenfell, ein klares Statement zum sozialen Status des jeweiligen Trägers. Auch wenn behauptet werden konnte, dass sich die Träger mit Pelzen gegen Kälte zu schützen suchten, so war doch jenseits des Nutzwertes das ostenative Herzeigen ein offensichtlicher Bestandteil der eleganten Männermode um 1900. (Municchi 1988, S. 15)

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Abbildung 2: Oscar Wilde im Pelzmantel während der Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten 1882 Und doch beschritt die Mode in den Vereinigten Staaten während dieser Zeit einen Weg, der sich vom englischen Vorbild verabschiedete und den Edwardianischen Pelzmantel allmählich als Ausdruck effeminierter Dekadenz erscheinen ließ. Vor allem der technische Fortschritt und die damit einhergehenden neuen Werte der Modernität und Vitalität trugen zur Veränderung in der Einschätzung modischer Regeln und Einstellungen bei. In Folge wurde auch Gestalt und Aussage des Pelzmantels einer Neubewertung unterzogen. Während für den wohlhabenden amerikanischen Gentleman noch das Bedürfnis bestehen mochte, mit seinem edlen Pelzmantel nach Edwardianischem Vorbild zu protzen und damit seine angestammte gesellschaftliche Vormachtstellung zu demonstrieren, so resultierte der Erfolg eines neuen Pelzmodendesigns nun doch eher aus jenem anderen, jüngeren zeittypischen Phänomen des Modernitätsbe168

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wusstseins, was den modernen amerikanischen Pelzmantel daher schnell zum Wahrzeichen einer jungen, dynamischen und mobilen Männergeneration avancieren ließ. Das Automobil als ein völlig neuartiges und besonders aussagekräftiges männliches Statussymbol trug wesentlich dazu bei, dass eine wachsende Anzahl junger Männer, die ihrerseits Anteil an der wirtschaftlich aufstrebenden Nation haben wollten, sich in ihren offenen Wägen der Öffentlichkeit präsentierte – gehüllt in Felle von Murmeltier, Waschbär und Kojote. Jenseits des signifikanten Wechsels vom edlen Robbenfell zu günstigeren und derberen Pelzsorten wies die Pelzmode dieser jungen Männer nun noch eine modische Besonderheit auf, die deutlich von den Erkennungszeichen der vornehmen und distinguierten Edwardianischen Mode abwich: der Pelz wurde nun nicht mehr, wie noch bei Oscar Wilde, als modisches Understatement in Form eines edlen Innenfutters, sondern nach außen gekehrt und somit weithin sichtbar als Außenseite und Hauptelement des Kleidungsstückes getragen. Das somit offensichtliche und überdies rauhe, wilde Image dieser Pelzmode war hervorragend geeignet, nicht mehr wie zuvor (britische) Edwardianische Eleganz, sondern jetzt die erstarkte amerikanische Maskulinität des Trägers im Zeichen modisch-modernen Fortschritts zu unterstreichen. Der Edwardianische Pelzmantel entwickelte sich in dieser jüngeren Generation zu einem ironischen Zitat, das in verwandelter, durchaus populistisch-vulgarisierter Form eine neue Ära amerikanischer Männlichkeit anzeigte. In welchem Ausmaß der Pelzmantel als hochgeschätzter Bestandteil der männlichen Garderobe gehandelt wurde, lässt sich beispielsweise an den Werbungen des Sears-Katalogs ablesen, der in ganz Amerika sehr beliebt war und in großer Auflage die Funktion eines Modemagazins übernahm. Während daher in anderen Ländern die Beliebtheit des Männerpelzes um die Jahrhundertwende allmählich abnahm und der englische Pelzmantel à la Oscar Wilde bald als dekadent verschrien war, entstand in den Vereinigten Staaten nun als kulturelle Gegenbewegung ein distinkter und jenseits der Ostküstenelite weitverbreiteter amerikanischer Stil. Nach einer kurzen Blüte war der ursprüngliche Edwardianische Pelzmantel verpönt, doch in seiner rauheren, naturbelassenen Variante reüssierte er weiterhin. Nicht der Pelz an sich galt als Wahrzeichen von Dekadenz, sondern die Art und Weise des Designs und der Trageweise. Das bedeutet auch, dass sich das Männerbild hier von klassenbedingten Zuschreibungen zu lösen begann. Der Edwardianische Pelzmantel war noch dem Gentleman der gehobenen Klasse vorbehalten gewesen; sein modernisiertes amerikanisches Gegenstück war nun ein Kleidungsstück, das nicht mehr so sehr als Klassenstatement galt, sondern sich zu einer 169

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Selbstaussage des männlichen Trägers gestaltete, egal welcher Klasse dieser zugehörig war. Solange er sich einen solchen Mantel leisten konnte, signalisierte er damit ein – auch modisches – Bewusstsein um den Glauben an modernen Fortschritt und gesellschaftlichen Aufstieg. Das Leitbild, das von den Tierfellen ausging, war eine gleichzeitig virile und ungezähmte, abenteuerliche und augenfällige Symbolisierung. Anna Municchi nennt daher die amerikanische Variante des Männerpelzes „full-blooded kind of fur coat“. (Municchi 1988, S. 66) Was auf der einen Seite des Atlantiks also als höchst zweifelhaftes Merkmal effeminierter Dekadenz gehandelt wurde, galt auf der anderen Seite als sichtbares Zeichen von ultramännlichem Prestige. Die Diskrepanzen und Ambivalenzen, die sich um Vorstellungen zum Pelz rankten, wurden demnach am Modus der Bekleidung des männlichen Körpers festgemacht.

III.

Drapiert in Leopardenfell: Das erste männliche Pin-up

Galt der prestigeträchtige Pelzmantel als Wahrzeichen des sozialen Status wie des ausgewählten Geschmacks seines Trägers, so vermochte die Edelumhüllung doch nicht immer zu verdecken, was unter dem pelzigen Äußeren mangelhaft sein könnte. Besonders im Zuge des Aufkommens der „machine culture“, wie Thorstein Veblen sie nannte und die eine nationale Begeisterung für Technologie signalisierte,8 bekamen die Scharen von städtischen Angestellten und Verkäufern das Gefühl, Frauenarbeit zu verrichten, und fürchteten um ihre schwindende Männlichkeit. Der Historiker Elliot Gorn resümiert die gängigen Sorgen der Zeit: „What became of rugged individualism inside intensively rationalized corporations? How could a man be a patriarch when his job kept him away from home for most of his waking hours?“ (Gorn 1986, S. 192) Ernest Thompson Seton, einer der Gründer der Pfadfinderbewegung, beklagte sich 1910 in seinem ersten Handbuch Boy Scouts in America lautstark über „the system that has turned such a large portion of our ro-

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Thorstein Veblen 1953, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions (1899), New York. Siehe auch Mark Seltzer 1990, der vom doppelten Diskurs des Natürlichen wie Technologischen als einem „body-machine complex“ spricht; vgl. insg. auch den Beitrag von Ruth Oldenziel in diesem Band.

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bust, manly, self-reliant boyhood into a lot of flat-chested cigarette smokers, with shaky nerves and doubtful vitality.“9 Man muss sich fragen, warum der „natürliche Körper“, modelliert durch seine Erfahrungen in der wilden Natur, nun erst derart hoch geschätzt wurde. Frederick Jackson Turner zog den bedeutsamen Vergleich zwischen dem Schließen der Frontier und dem Ende der Regeneration der Männer durch, wie er es nannte, „the transforming influence of the American wilderness“.10 Männer, die bemüht waren, gegen den Schwund ihres Selbstbildes anzukämpfen, polsterten ihr Gefühl von Männlichkeit auf durch die Lektüre von Wildwestromanen, Burroughs’ Tarzan oder des National Geographic, durch das Konsultieren von Selbsthilferatgebern wie Kelloggs Man the Masterpiece (1886), durch die Verehrung von Sporthelden oder, in der Tat, durch Einhüllen in vollblütige Pelzmäntel. Meistens verblieben diese Fantasien, eine verlorene Männlichkeit wiederaufzurufen, jedoch innerhalb des Bereiches von Konsum. Die besorgten Männer wandten sich Requisiten und Hilfsmitteln zu, die produktive Männlichkeit lediglich symbolisierten. Wofür ein Mann stand, sein äußerlich sichtbarer Lebensstil, waren wichtiger als seine eigentlichen Taten, den weichen, effeminierten und nervösen männlichen Körper zu stärken. Mit dem Erscheinen jenes Mannes, der bald als „the World’s Most Perfectly Developed Man“ (Guttman 1998) gelten sollte, änderte sich einiges an der Fremd- und Selbstwahrnehmung der bekümmerten Männer Amerikas. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts bot sich in der Figur des preußischen Bodybuilders Eugen(e) Sandow (sein wirklicher Name lautete Friedrich Wilhelm Müller) der Öffentlichkeit ein zunehmend willkommener und geschätzter Anblick perfekter Maskulinität. Seit seinem vielbeachteten Auftritt bei der Chicagoer Weltausstellung 1893 wurde Sandow aufgrund seiner außergewöhnlichen Schönheit und Stärke vermarktet. Ein Star war geboren, und er 9

Ernest Thompson Seton 1910, Boy Scouts of America. A Handbook of Woodcraft, Scouting, and Life-Craft, New York; zit. in Seltzer 1990, S. 140. 10 Frederick Jackson Turner 1920, The Frontier in American History, New York, S. 1. 1893 hatte Turner, drei Wochen vor Sandows Auftritt in Chicago, dort seine berühmte Rede „The Significance of the Frontier in American History“ gehalten und die Frontier nicht nur als Schnittstelle von Wildnis und Zivilisation, sondern auch als historischen Ort im Entstehen amerikanischer Männlichkeit bezeichnet: „The wilderness masters the colonist. […] It strips off the garments to civilization and arrays him in the hunting shirt and moccasin. […] Little by little he transforms the wilderness, but the outcome is not the old Europe. […] The fact is, that here is a new product that is American.“ John Mack Faragher 1994 (Hg.), Rereading Frederick Jackson Turner, New York, S. 31-60, hier S. 33-34.

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wurde schnell und effektiv in eine Ware verwandelt. Fotografien seines muskulösen Torso mit Spiel der markant definierten Arm- und Bauchmuskeln wurden als Postkarten verkauft und als Werbeträger für Zigaretten und Bier eingesetzt. Der Gefahr, diese Bilder als Pornografie zu deuten, wurde entgegengewirkt, indem sein fast nackter Körper und seine aufreizenden Muskelspiele in heroische Posen stilisiert wurden. Und obwohl diese Bilder nicht unbedingt als Kunstwerke bezeichnet werden können, trug Sandows Beliebtheit entscheidend dazu bei, das Betrachten der männlichen Figur als eines erotischen Objekts zu legitimieren. Sandows muskulöse Zurschaustellungen förderten nicht nur „the sale of male nude photographs under a tacit social and artistic sanction.“ (Ellenzweig 1992, 16) Die Darbietung seines unbekleideten Körpers half auch zur Versicherung der „primacy of the white male body against a host of challenges that might weaken, confine, or tame it“, wie der Historiker John Kasson es formuliert hat (Kasson 2002, S. 8) Auffällig war besonders, dass der Rummel um Sandow zu einer Beschäftigung mit der Physis des Körpers führte, die auf einen weitgreifenden kulturellen Umschwung hindeutet. Der Körper wurde nicht mehr als eine Hülle gesehen, die die Männlichkeit darunter umkleidete. Der Körper war nun der Mann, und es war dies ein allzeit zum Kraftprotzen bereiter auftrainierter, muskelbepackter, hypermaskuliner Mann. (Kimmel 1994, S. 26) Galt vormals das ethische Ideal des self-made man, so verschrieb man sich nun der Doktrin des self-made body. Durch seine Auftritte in Vaudeville Theatern wie auch infolge der Zirkulation seiner Fotografien wurde Sandow zum sichtbarsten Darsteller einer neuen Maskulinität, die in den 1890er Jahren die Aufmerksamkeit sämtlicher sozialen Klassen erregte. Für alle repräsentierte er einen neuen Standard männlicher Fitness, Schönheit, Stärke und Kraft. Dabei muss beachtet werden, dass Sandow durch einen klugen und strategischen Marketingschachzug stets darauf insistierte, dass seine Stärke keinesfalls ein Geschenk der Natur, sondern durch Anstrengung und Ausdauer erzielt war. Sandow konnte sich hiermit auf Roosevelts Konzept des strenuous life beziehen, welches in Amerikas selbsternannten und selbstkonstruierten real man kulminierte. Der durchtrainierte Körper des Einzelnen spiegelte dieser Konzeption zufolge den gesunden, „natürlichen“ Volkskörper wider. Beide, Roosevelt wie Sandow, waren sich darin einig, dass der starke, muskulöse Körper ein Emblem starken Charakters und Befehlsgewalt war. Ein gestählter Körper wie der von Sandow war ein „achieved body, worked at, planned, suffered for.“ (Dyer 1997, S. 153) Roosevelt wie auch Sandow verkündeten die Maxime, dass Bodybuilding der wahre Triumph des Willens über die Materie bedeutete. 172

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Aber erst durch die Evokation und die beständige Kultivierung eines klassizistischen Kunstideals konnte Sandow – der europäische Immigrant – sicherstellen, dass sich „Klasse“ auf seinem Körper einschrieb. Seine Striptease-Auftritte auf der Bühne provozierten eine plötzliche Wertetransformation vom gutgekleideten, aber unbedeutenden Edwardianischen Gentleman zu einem modernen Apollo oder Adonis, vor allem aber Herkules. Die attestierte Schönheit Sandows stellt deshalb kein Problem für den männlichen Betrachter dar, weil sein Körper mit den Insignien maskuliner Kraft versehen ist. Was Wilhelm Trapp für das England des späten 19. Jahrhunderts konstatiert, trifft hier auch auf Amerika zu, dass nämlich der landläufig schöne Mann vor allem der starke Mann war: „Das Ideal ist nun definitiv und auch im körperlichen Sinne die kraftvolle Männlichkeit; dem – im tradierten, ästhetischen Sinn – schönen Mann hängt nun neben Femininität und Schwäche das Verdachtsmoment der Homosexualität an.“ (Trapp 2003, S. 133) Sandow wirkte dieser drohenden Gefahr durch das Spektakel herkulischer Kraft entgegen, „Strongmen posing as Greek statues“ nennt Budd diesen maskulinen ästhetischen Körperentwurf. (Budd 1997, S. 72) Sandow präsentierte für diese antikisierende Metamorphose einen blassen Teint, der fast an weiße Transparenz reichte. Er betonte den Doppeleffekt von Blässe und Muskulatur, indem er seinen gesamten Körper rasierte und sich mit weißem Puder bestäubte, damit sein Körper noch mehr einer griechischen Skulptur glich. Ein haarloser Körper signalisierte ein Streben nach etwas, das jenseits bloßer Natur lag, denn starke Körperbehaarung wurde gerne mit allzu Tierischem assoziiert. Sandows weiße Haut war somit ein Emblem in doppelter Hinsicht, wie John Kasson vermerkt: „Its whiteness testified to his status as a gentleman whose body had not been exposed to the sun. Still more important, it was a sign of racial purity.“ (Kasson 2002, S. 54) Schamlos protzte er mit seiner weißen Haut und betonte damit eine sonst unmarkierte, weil nicht gezielt beachtete Kategorie von whiteness. (Chambers 1997, S. 189) Lediglich über seinen Schnurrbart erzielte Sandow den Effekt einer athletischen Reife, die Kontrolle und Macht statt Ephebentum und Verletzlichkeit ausstrahlte, wie dies beispielsweise bei den antikisierenden Fotografien nackter Jünglinge des Baron Wilhelm van Gloeden der Fall war. Diese nackten schönen Jungs in klassizistischen Posen taugten schwerlich für das gesuchte identifikatorische Modell männlich-muskulärer Kraft. Sandows Körperinszenierung hingegen schuf einen „great metaphorical body that could be mistaken by thousands of others for their own, one in which specific individual desires might be diffused within an experience of the physique somehow anterior to its socially determined existence and being.“ (Budd 1997, S. 76) Paradoxerweise stellte 173

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Sandow für den amerikanischen Mann in Not nicht nur ein viriles Ideal dar, sondern ein weißes maskulines Ideal, das allerdings aus Europa stammte. Nur über die antikisierende Inszenierung und den sich daran anschließenden Starkult konnte das Publikum überzeugt werden, dass es sich hier um einen Prototyp handelte, dem es nachzueifern lohnt. Sandow verkörperte die große „weiße“ Hoffnung für den amerikanischen Mann seiner Zeit, weil er eine Vision des reintegrierten Körpers bot, „a modern conception of the body as an expression of individual desire and site of pleasure.“ (Kasson 2002, S. 75-76) Sandow avancierte zum exemplarischen Modell der triumphalen Wiederkehr des klassischen Ideals und lockte den amerikanischen Mann dazu, sich dem Spiegel zuzuwenden und seinen eigenen Körper privat zu inspizieren. Sandows zirkulierende Fotografien lösten Fantasien aus „about physical prowess, virility, strength, and eroticism across a broad spectrum of sexual orientation. […] Sandow became the first great male pinup in modern history.“ (Kasson 2002, S. 67-68) Sich Sandows Körper anzuschauen und seine Schrift „Bodybuilding, or Man in the Making“ (1904) zu studieren, erregte das Verlangen vieler amerikanischer Männer, diesen spektakulären Körperbau nachzuahmen. Trotzdem verursacht es einige schwerwiegende Probleme, einen fast nackten männlichen Körper zu betrachten. Ein nackter Körper hat keinen Schutz, sowohl in einem sehr fundamentalen Sinne – der bloße Körper ist nicht gegen die Elemente geschützt – wie auch in einem sozialen Sinne. Das Tragen von Kleidung und speziell, wenn es sich um kodierte Kleidung wie Pelze handelt, ist ein Kennzeichen von Prestige, sie verweist auf Reichtum, Status und Klassenzugehörigkeit. Ohne Kleidung zu sein bedeutet, dieses Prestige zu verlieren. Differenz, die durch das Tragen von distinguierender Kleidung garantiert bleibt, büßt dann ihre Macht ein, wenn der nackte Körper Inkonsistenzen mit den herrschenden kulturellen Idealen entblößt. Ein Körper ohne differenzierende Merkmale sieht einfach nur aus wie jedermanns Körper, und das ist sicherlich nicht im Sinne der Männer, die einflussreich und mächtig wirken wollen. Aber ein trainierter Körper – wie der von Sandow – präsentiert sich nicht als typisch, sondern als ideal. Wenn man die Arbeit, die Zeit und das Geld bedenkt, die es braucht, um einen Körper aufzubauen, so kann man sagen: „The built body is a wealthy body.“ Richard Dyer betont damit, ein durchtrainierter, kulturierter Körper suggeriere „vague notions of the Greek gods and the Übermensch. Organised as competition, bodybuilding encourages discussion of the best body.“ (Dyer 1997, S. 155, S. 151)

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Abbildung 3: Sandow auf Fellen beim Liegestütz Und doch – und zwar aufgrund seiner europäischen Herkunft paradoxerweise – darf nicht vergessen werden, dass sich hinter Sandows Auftritten und seinem Erfolg die Klage über einen Verlust der Naturnähe verbarg, die sich durch Großteile der weißen, männlichen amerikanischen Kultur zog. Als Ikone dieses Paradox posierte Sandow in verschiedenen pelzigen Arrangements und markierte seine Bezugnahme auf Natur wie Kultur. Er trug Pelz niemals in einer allzu wilden Fasson, sondern immer in stilisierter Drapierung. So hüllte er Lendenschurze und Trikots aus Leopardenfell um seinen nackten Körper oder posierte inmitten luxuriöser Felldrapagen und rief zitierend eine Wildnis in einem ansonsten klassischen Ambiente auf. Besonders wenn er zusätzliche antikisierende Accessoires wie Gürtel oder Sandalen trug, bedeutet der Pelz nicht so sehr das Primitive, sondern er betont die herkulische Virilität, Stärke und Potenz. Diese erotisierte maskuline Präsenz der Körperkraft unterstreicht einmal mehr Sandows europäische Herkunft: „If there was a truly representative male body in the period, it was the clichéd figure of the European strongman in leopard skin and sandals.“ (Budd 1997, ix) Auch Edgar Rice Burroughs’ lendenbeschürzter weißer, haarloser „Affe“ Tarzan beruft sich dezidiert auf diese Mischung aus vererbter reinrassiger europäischer – weißer – Aristokratie und erworbener, kulturierter Muskulatur und avanciert zu einer weiteren führenden amerikanischen Ikone im Ensemble der ambivalenten Pelzmänner. 175

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Neben Tarzan figuriert in der Zeit um 1900 aber noch ein anderer fiktionaler Held bzw. ein neues Heldenpaar: Jack Londons Wolf Larsen aus The Sea-Wolf und sein bedauernswert effeminierter Gefährte Humphrey Van Weyden. Sandow hatte die amerikanischen Männer gelehrt, sich selbst mit neuen Augen zu betrachten und das Bedürfnis zu entwickeln, den eigenen Körper nach dem Vorbild eines anderen Mannes zu modellieren. Die Beziehung zwischen Wolf und Humphrey in Londons Roman offenbarte die prekären (homo-)erotischen Spannungen, die bei einer solchen auf Bewunderung basierenden Nachahmung entstehen konnten.

IV.

Weiße Haut und nervöser Zusammenbruch: Das Schreckgespenst der sissy

Michael Kimmel bemerkt zum amerikanischen Mann des späten 19. Jahrhunderts: „Rapid industrialization, technological transformation, capital concentration, urbanization, and immigration – all of these created a new sense of an oppressively crowded, depersonalized, and often emasculated life.“ (Kimmel 1996, S. 83) Zu all diesen Nöten und Ängsten kam außerdem der Aspekt der Sexualität als zentraler Störfaktor in einer brüchig werdenden Männlichkeitskonzeption. In seiner Untersuchung zur aufstrebenden schwulen Subkultur in New York zeigt George Chauncy, dass der Auftritt des sichtbaren Homosexuellen sich zum Repertoire männlicher Angstvorstellungen gesellte. (Chauncey 1994, S. 5657) Die Panik vor einer Feminisierung der amerikanischen Kultur schlug hier um in eine Sorge um eine sissification der amerikanischen Männlichkeit. In einer Schimpfrede der Zeitschrift Cosmopolitan von 1902 gegen so genannte „sissies“ wurde die Öffentlichkeit gewarnt vor dem Schreckgespenst, das Männer verängstigte und der deutlichste Indikator jener Angst vor einer kulturellen Feminisierung war. Der Begriff „sissy“ umfasste alles, was der Mann nicht sein wollte, vor allem feminines Auftreten, Verhalten und Gebaren. Die „sissy“ war, gemäß der Zeitschrift, „flabby, feeble […] chickenhearted, cold and fearful“. (Zit. in Kimmel 1994, S. 24) Es mag kaum überraschen, dass Roosevelt sich bemühte, möglichst jeglichem Verdacht, er sei eine sissy, durch sein exzessives Auftreten als maskuliner Mann entgegenzuwirken. Nicht zuletzt deutet das Schreckgespenst der sissy auf die Konstruiertheit des Geschlechts hin. Nicht nur war die biologische Kategorie des Geschlechts unter Beschuss, auch die Geschlechtsidentität und das geschlechtlich kodierte Verhalten wurden einer kritischen Revision unterzogen. Das Spektakel von Sandows sexuell konnotiertem, muskulösem Körper führte bereits dazu, dass Männer 176

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ihren eigenen Körper anders wahrnahmen. Was passiert aber nun, wenn der männliche Blick von der eigenen, autoerotisch aufgeladenen Widerspiegelung anerkennend und erregt hin zu einem anderen männlichen Körper wandert? Die belletristische Literatur war – angesichts ihrer fiktionalen Möglichkeiten kaum überraschend – ein favorisiertes und populäres Medium für das Durchspielen solcher Blickwechsel. Und Jack Londons allegorische Tier- und Schiffsabenteuerromane zählten dabei zu den erfolgreichsten ihrer Zeit. London, in seiner jungenhaft rauhen Maskulinität selbst ein beliebtes fotografisches Pin-up, muss als eine zentrale Figur in der Darstellung und Ausformulierung maskuliner Fantasien um die Jahrhundertwende gelten. Sein Roman The Sea-Wolf von 1904 ist hierbei ein herausragendes Beispiel für die Gegenüberstellung verschiedener, im Umbruch begriffener männlicher Körper- und Charakterkonzepte. Anhand der beiden Protagonisten des Romans werden zwei zeittypische Männlichkeitskonzepte in extremis kontrastiert: der verklemmte, überzivilisierte und gelehrte Humphrey Van Weyden ist hierbei die Inkarnation der sissy, und Wolf Larsen verkörpert die männliche Quintessenz eines „human brute“. (London, S. 27) Humphrey, der von sich meint „I had not been called ‚Sissy‘ Van Weyden all my days without reason“ (London, S. 84), beschreibt sich selbst als „abnormal, an ‚emotionless monster‘, a strange bookish creature, capable of pleasuring in sensations only of the mind. […] though I had been surrounded by women all my days, my appreciation of them had been aesthetic and nothing more.“ (London, S. 194) Im Verlauf der Romanhandlung wird der Edwardianische Gentleman Humphrey vom Schiffskapitän Wolf, der „Bestie“, auf dessen Schiff entführt, von ihm gedemütigt, körperlich angegriffen und zu seinem ihm dienenden Kabinenjungen degradiert. Nicht nur zählt dies zu den niedrigsten Positionen an Bord eines Schiffes; die fürsorgliche Arbeit eines Jungen bzw. einer Frau zu verrichten, markiert Humphrey nun endgültig als einen nicht vollwertigen, effeminierten Mann und leitet die entscheidende Krise in seiner Mannwerdung ein. Im Zuge der erzwungenen Gefangenschaft an Bord des Schiffes verspricht Wolf Humphrey „this will be the making of you“ in genau jenem Sinne, wie Sandows Selbsthilfebuch „Bodybuilding, or the Man in the Making“ prophezeit. Wie Roosevelt und Sandow in ihren jüngeren Jahren, so scheint auch Humphrey – „over-civilized man that I was“ (London, S. 263) – den Einsatz seiner männlichen Kräfte vernachlässigt zu haben: „The doctors had always said that I had a remarkable constitution, but I had never developed it or my body through exercise. My muscles were small and soft, like a woman’s.“ (London, S. 37-38) Diese 177

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Fehler können behoben werden, wie auch seine Entwicklung im Roman zeigt, durch rigorose Unterwerfung einer äußerlichen muskulären Körperkultuierung. Doch ändert das auch Humphreys ambige Geschlechtsidentität? Auf der Oberfläche insistiert der Text mit großer Mühe, dass Humphrey ein typischer, überkultivierter – da exzessiver Frauengesellschaft ausgesetzter – Junggeselle ist und keinesfalls ein „Invertierter“ oder Homosexueller. Am Ende des Romans hat er sich gar zur maskulinsten aller männlichen Figuren entwickelt und selbst Wolf diesbezüglich den Rang abgelaufen. Doch es gibt verstörende Subtexte, die diese proklamierte Heterosexualität ständig unterlaufen, besonders wenn es um Blickökonomien geht. Der Roman inszeniert mehrere erotisch aufgeladene Begegnungen der beiden Kontrahenten, die aus Humphreys Perspektive den Körper von Wolf in den Blick nehmen. In einer Schlüsselszene, die beide Männer in der Privatheit der Kapitänskabine zusammenbringt, betrachtet Humphrey staunend Wolfs entblößten Körper: „The sight of his body quite took my breath away. […] I was fascinated by the perfect lines of Wolf Larsen’s figure, and by what I may term the terrible beauty of it. […] Wolf Larsen was the man-type, the masculine, and almost a god in his perfectness. […] I could not take my eyes from him. I stood motionless.“ (London, S. 128-129) Wolfs Erscheinung, von der Humphrey fasziniert und geblendet ist, bildet eine inkarnierte Kopie von Nietzsches vornehmer Raubtiervariante der „blonden Bestie“, von der dieser meinte: „Auf dem Grund all dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildnis zurück.“ (Nietzsche 1980, S. 275) In dem Maße, wie Wolf seine Kleider ablegt, entblößt er die darunter liegende „terrible beauty“ seiner Tiernatur. So scheint es zunächst. Doch erweist sich, dass etwas nicht ganz stimmt mit dem vermeintlichen Supermann Wolf: „His body, thanks to his Scandinavian stock, was fair as the fairest woman’s.“ Wolfs weißer Körper ist verräterisch, denn er vereint das Natürliche und das Weibliche; eine weibliche Haut umhüllt die männliche Natur der Bestie: „I remember him putting his hand up […] and my watching the biceps move like a living thing under its white sheath.“ (London, S. 129) Die zarte Hülle vermag das organische „lebende Ding“ kaum zu verdecken und zu bändigen – das Tier regt sich darunter. Zusätzlich zu dieser seltsamen körperlichen Geschlechtsambivalenz gesellen sich Wolfs depressive Migräneanfälle, die am Ende zu seinem völligen Zusammenbruch und Tod führen werden. Diese unverkennbare Anspielung auf jene ‚neue‘ amerikanische Männerkrankheit – 178

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Nervenschwäche oder Neurasthenie – wird wie sonst in Amerika zu dieser Zeit auch hier in der Person von Wolf als verdächtiger Marker kultureller Verweiblichung gehandelt. Der inszenierte dekuvrierende Blick Humphreys macht deutlich, dass der Kontrast der beiden Männer gar nicht auf An- oder Abwesenheit von Muskelkraft beruht, sondern subkutaner Natur ist. Mit dieser Szene der Entkleidung, die Humphrey eine verdeckte Schwäche bei Wolf erkennen lässt, schlägt die Handlung um, und Humphreys aufgezwungene Remaskulinisierung wird von nun an als selbstgewollter Prozess vorangetrieben, was in spiegelbildlicher Verkehrung wiederum Wolfs Effeminisierung zur Folge hat, die hier durch Humphreys Tiefenblick bereits vorausgeahnt wird. Londons Roman stellt eine doppelte, verschränkte und invertierte Transformation dar, die nicht nur aus der Vermischung verschiedener Rassen und Klassen, sondern aus geschlechtlich verschieden kodierten Männlichkeitskonzepten resultiert: der Tiermann und die sissy. Doch die „blonde Bestie“ Wolf, auch wenn er noch so weiß und maskulin scheinen mag, steht dennoch auch für jenen neuen, modernen Typus des amerikanischen Mannes, der wurzel- und geschichtslos die amerikanische Szene bevölkert. Er ist zwar eine beneidenswert muskuläre Erscheinung, verbirgt aber eine darunterliegende, nervös überhitze Konstitution. Humphrey, auf der anderen Seite, kann sich auf sein altes puritanisches Mayflower-Erbgut berufen. So wirkt seine äußere Erscheinung mit den überzivilisierten und unterkülten Manierismen zwar degeneriert; seine Verwandlung infolge rigider muskulärer Körperkulturierung beweist aber, dass seine grundlegende Konstitution stärker und ausdauernder ist im Vergleich zu seinem neurasthenischen Konkurrenten. Die Beziehung zwischen diesen beiden Männern variiert in signifikanter Weise Jack Londons berühmte Tiergeschichten wie Call of the Wild oder White Fang. Diese erzählten Geschichten von Disziplinierung und Freundschaft, oder, in Gilles Deleuzes Begrifflichkeit aus seiner Studie zu Sacher-Masochs Venus im Pelz, von „Kälte und Grausamkeit“.11 Das Tier bei London lernt den Schmerz lieben und unterwirft sich dem Herrn, und damit verwandelt sich tierische Natur in geordnete Kultur. Da es sich hierbei um Fabeln handelte, bezeichneten die Tiere die animalisch-menschliche Kreatur – Männer in Pelzen. Sea-Wolf ist jedoch keine Fabel, der Roman fokussiert nun buchstäblich erwachsene Männer. Aber dennoch wird auch hier zunächst am Beginn der Schiffsreise eine Herr-Knecht-Beziehung durchgespielt. Durch seine „masochistische“ Unterwerfung unter Wolfs sadistisches System der Disziplin

11 Für eine auf die sado-masochistische Beziehung zwischen den Männern zugespitzte Lesart des Romans siehe Seltzer 1990.

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und Bestrafung wird Humphreys schwacher und unterliegender Körper allmählich maskulinisiert und damit stark und erfolgreich. Wolf im Gegenzug erweist sich immer mehr als ein Herr ohne Kontrolle, eine männliche Circe, wie Humphrey ihn einmal nennt (London, S. 220), der Männer in Schweine verwandelt und damit den Vertrag bricht, der die Herr-Knecht-Beziehung reguliert. Humphrey, der zeitweise Gefahr lief, selbst zu einem blind gehorsamen Schwein zu mutieren, gelingt es am Ende des Romans, den finalen Kampf der konfligierenden Männermodelle zu gewinnen. So sehr er auch danach strebt, Wolf zu emulieren, es wird nie zu einer Imitation kommen. Symbolisch dient Wolf als eine Schutzhülle, die Humphreys schwachen, männlich dystrophischen Körper solange umhüllt, bis Humphrey „Mann“ genug ist „to walk on his own two legs“ – so eine vielzitierte Metapher des Textes. Humphrey, der Knecht, wächst schließlich über seinen Herrn hinaus und dementsprechend streift er Wolfs nunmehr überflüssige Schutzhülle ab. Hier wird eine verquere masochistische Logik evident: Indem die Erzählstimme deutlich Humphreys Fokus privilegiert, favorisiert sie dessen Werdegang von einem Spektakel deviant voyeuristisch-weiblicher Unterwerfung in eine letztlich siegreiche Ermannung.12 Humphreys masochistische Tendenz verhüllt somit geschickt das Verlangen nach dem exakten Gegensatz, nämlich „the wish to not be looked at too closely, so that when one’s degradation is overcome later, one appears all the more brilliant [and] powerful.“ (Uebel 2002, S. 396) Das bedeutet auf einer metatextuellen Ebene, dass Humphreys masochistische Rolle als Knecht lediglich eine Strategie des Widerstandes war, die ihn letztlich zur ultimativen Verwerfung des Herrn führen sollte. Die Funktion der maritimen Expedition kann demnach allegorisch gelesen werden. Erklärtes Ziel der Reise ist es, Robben zu fangen, um die kostbaren Felle zu verkaufen. Humphrey glaubt, dass die Jäger die Robben lediglich fangen „so that they might adorn the fair shoulders of the women of the cities. It was wanton slaughter, and all for woman’s sake.“ (London, S. 140) Während es für diese Frauen – zumindest aus Humphreys Sichtweise – anmaßend und sogar unnatürlich erscheinen mag, ihre zarte, weiße Haut mit Fellen wilder Tiere umhüllen zu wollen, so gilt es für den manly man noch durchaus als natürlich, seinen Körper 12 Siehe Kaja Silverman in ihrer Auseinandersetzung mit Freuds Masochismus-Konzept über den „femininen Masochismus“ und seine homosexuelle Implikation: „Feminine masochism […] always implies desire for the father and identification with the mother, a state of affairs which is normative for the female subject, but ‚deviant‘ for her male counterpart.“ Silverman 2002, S. 25.

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mit Pelz zu bedecken. Doch genau an dieser Stelle markiert der Roman anhand des Pelzmotivs jenen Paradigmenwechsel vom Edwardianischen Gentleman zur „full-blooded“ amerikanischen Männerspezies. Denn die Pelze, von denen Humphrey zunächst spricht, werden besonders vom Edwardianischen Gentleman begehrt, d.h. von eben jener „degenerierten“ gesellschaftlichen Schicht, zu der Humphrey selbst zu Beginn der Reise zählt. Der pelztragende Edwardianische Gentleman ist aus der Perspektive von Londons Roman kein manly man mehr, sondern eine bedrohte Spezies, die, will sie nicht zugrunde gehen, zu einer maskulinen Natürlichkeit zurückgebracht – renaturalisiert – werden muss. Dies beinhaltet das Ablegen des Edwardianischen Pelzes als modisch-dekadente Selbstaussage sowie zum Zwecke der Verhüllung des femininschwächlichen Körpers. Die zum Leitbild erhobene Körperkultu-rierung favorisiert nun den entblößten „natürlichen“ Männerkörper. Die Pelzsymbolik wird hier in doppelter Weise verhandelt: in der Person Humphreys als der sich mit äußerlichen Statussymbolen schmückende Edwardianische Gentleman und in der Figur Wolfs als eine Bestie in Menschengestalt. Am Ende sind Pelze nicht mehr nötig, weder in vestimentärer Form als Pelzmantel noch in sinngemäßer Form als Tierkennzeichen. Eine deutliche, doppelte Differenz tut sich auf: Wolf – der allegorisierte Mann im Pelz – regrediert aufgrund seiner „Rassenherkunft“ zu einer feminisierten „sadness as deep-reaching as roots of the race“. (London, S. 86) Sein nackter Körper erweist sich als nicht so „natürlich“, wie dies Humphrey bewundernd vermutete. Seine weiße – feminine – Haut ist das Zeichen eines unnatürlichen Körpers einer „geschwächten Rasse“. Als Zeichen der Schwäche ist Wolf Neuastheniker und damit als Vertreter jener Männerriege gekennzeichnet, die sich in ihrem Bestreben, aufzusteigen und Klassengrenzen zu überschreiten, zuviel zumutet und schließlich unter der Belastung kollabiert. Humphrey aber tritt heroisch regeneriert und vor allem körperlich gestählt aus seiner Persönlichkeitskrise hervor. Die Ängste der Amerikaner um ihre weiße Männlichkeit ließen sich in diesen beiden Figuren fassen, und damit offenbarte sich, wie Rassenund Klassenthematik nicht von einer Geschlechtsproblematik zu trennen war. Nicht nur für Jack London, auch für die breite amerikanische Öffentlichkeit galt es, das Schreckgespenst der Degeneration, verkörpert in der Figur der sissy, abzuwehren. Diese Abwehr wurde jenseits von rassen- und klassenbedingten Differenzen vorangetrieben. Alles, was Humphrey tun musste, um den verkümmerten Mann in sich zum Vorschein zu bringen, war, die eigene animalische Maskulinität kontrolliert auszubilden – mental wie körperlich. Was zunächst wie eine Regression zum Tierhaften anmuten mochte, war in Wahrheit als Veredlung des 181

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Mannes zu verstehen. Humphrey, als Vertreter der Spezies der weißen kulturellen Führungselite, die sich durch Modernisierung und Technologisierung als besonders bedroht erachtete, setzte die real existierenden Rassen- und Klassengrenzen außer Kraft durch sein universalistisch angelegtes Maskulinisierungsprogramm. Er gewann, weil er Kontrolle bewahrte, im Gegensatz zu dem in seinem unkontrollierten Sadismus ethische Regeln verletzenden Kapitän. Roosevelt, hierin der fiktionalen Gestalt Humphreys ganz ähnlich, hat die „Animalisierung“ des Mannes als eine Rückkehr zu seinen „tierischen“ Wurzeln befürwortet, indem er die Metapher des Wolfes für die Kampfbereitschaft des Mannes, weitergehend aber auch für die „maskuline“ Wehrhaftigkeit des Volkskörpers aufrief. So schrieb er in seiner Autobiography (1913), „every man who has in him any real power of joy in battle knows that he feels it when the wolf begins to rise in his heart.“ (nach Brandt 1997, S. 301) In dieser Vision, der sich auch Jack London mit seinem Sea-Wolf verschrieb, konnten verstimentäre Pelze als Ausdruck Edwardianisch-dekadenter Eleganz niemals den maskulinen Vollblüter bezeichnen und waren daher nicht mehr geeignet, eine „natürliche Männlichkeit“ auszustellen.

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Sportsmänner: Interpretationen des Fa us tkampfes um 1900 CHRISTOPH RIBBAT

I.

Die Geschichte des Billy Smith

Der Boxer war nach dem Ende seiner sportlichen Laufbahn Heilsarmeeprediger geworden. Nun, im Jahr 1940, verkaufte er ein Ölgemälde an die Walker Galleries in New York. Das Werk hieß Between Rounds, sein Maler Thomas Eakins, entstanden war es 1898. Das Bild zeigte ihn, den Boxer Billy Smith, in seiner aktiven Zeit, im Ring. Weil Ende des 19. Jahrhunderts ein ungleich prominenterer britischer Boxer gleichen Namens aktiv gewesen war, hatte der Mann aus South Philadelphia sich damals Turkey Point Billy Smith genannt, nach dem Stadtviertel, aus dem er stammte. Er boxte im Federgewicht, einer Gewichtsklasse, für die sich die öffentliche Aufmerksamkeit in Grenzen hielt. Der kurze Text, den Smith für die Walker Galleries über das Gemälde verfasste, handelte daher auch nicht von seinem eigenen Ruhm, sondern von dem des Malers Eakins. Smith pries den Künstler als Gentleman, der in seinen Werken nie etwas addiert oder subtrahiert habe. Während der Arbeiten an Between Rounds etwa habe er, Smith, Eakins gebeten, seinen Schnurrbart doch wegzulassen. Eakins habe jedoch gesagt, der Schnurrbart sei da und würde da bleiben. „You can see,“ folgerte der Ex-Boxer, „he was a Realist.“ (Beedenbender 1993, S. 134-135; Ribbat 2006)

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Abbildung 1: Between Rounds, Thomas Eakins, 1898 In der Untersuchung historischer Boxdiskurse ist es nicht zwingend notwendig, die enge Beziehung zwischen dem Boxer Smith und dem Maler Eakins all zu tief auszuloten. Eine breite Perspektive scheint produktiver als das Studium solcher Episoden: die Analyse der vielfältigen Beziehungen zwischen dem Faustkampf, den Künsten und Männlichkeitsdiskursen, der Bedeutungen des Boxers als symbolischer und historischer Figur im späten 19. und im 20. Jahrhundert. Die folgenden Überlegungen sollen daher in generellen Zügen die Kul-turgeschichte des amerikanischen Boxsports und ihre Verstrickungen mit Maskulinitätskonstruktionen vorstellen. Die Leitfrage lautet: Wie ist die Faszination 184

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für den Boxer in Kunst, Literatur, Alltagskultur zu erklären? Antworten sollen nicht im Spekulativ-Psychologischen gesucht werden, sondern in den neueren Arbeiten der amerikanischen Geschlechtergeschichte und in den von ihr eröffneten sozialen, kulturellen und medialen Kontexten. Das Gemälde Between Rounds allerdings, heute in der Sammlung des Philadelphia Museum of Art, bleibt auch dann ein Schlüsselwerk, wenn der historische Blick nicht nur Turkey Point Billy Smith erfasst, sondern auch die tiefgreifenden Wandlungen in Box- und Geschlechtergeschichte. Smith verwandte den Begriff „Realist“ – mit ‚großem R‘ – als Kompliment, um die Ehrlichkeit und die malerischen Fertigkeiten des Thomas Eakins zu unterstreichen. In den literatur- und kunsthistorischen Analysen der letzten Jahrzehnte jedoch gilt der Terminus natürlich längst nicht mehr als Ehrenbezeichnung; viel eher liegt die Aufmerksamkeit auf den problematischen Zusammenhängen mit sozialen, ethnischen und geschlechtlichen Hierarchien. Den literarischen Realismus etwa liest Amy Kaplan als Strategie, mit der Autoren um 1900 die von sozialen Transformationen ausgehenden Gefahren gleichzeitig vorstellbar und eingrenzbar machten. (Kaplan 1988, S. 8-10) Winfried Fluck spricht von der Maskulinisierung des amerikanischen Realismus im späten 19. Jahrhundert. (Fluck 1991, S. 71-76) Und Between Rounds kann als einschlägiges Beispiel dienen. Die Boxhalle wirkt als helle, straff organisierte Sphäre, in der die Protagonisten klar definierte Funktionen erfüllen und die Präzision der Darstellung die Exaktheit der Rollenzuschreibungen noch einmal verstärkt. Martin Berger argumentiert, dass Eakins visuelle Kommentare zu den Prozessen produzierte, die im Amerika des späten 19. Jahrhunderts das Identitätsmodell des autonomen „self-made man“ in Frage stellten. Traditionelle Lebensentwürfe von erfolgreicher männlicher Autonomie waren ins Wanken geraten, weil amerikanische Männer nicht mehr die wirtschaftliche Unabhängigkeit ihrer Väter erreichen konnten und sich neuen und extrem unübersichtlichen Institutionen und Märkten gegenüber sahen. (Berger 2000, S. 120) Between Rounds suggeriert: In der Welt der Boxer sind Männer noch sicher. Nach Berger reflektierten Eakins’ Bilder die sozialen Umbrüche nicht nur. Vielmehr schalteten sie sich in die Debatten um Männlichkeitskonzepte ein und konstruierten eigene, widerständige Darstellungen männlicher Autonomie und Identität. Turkey Point Billy Smith, ein kleingewachsener Athlet von weniger als 120 amerikanischen Pfund, wurde von Eakins weder als dumpfe Kampfmaschine noch als Heldengestalt porträtiert. Der Boxer ragt nicht über das Publikum hinaus. Im Gegenteil: Seine Bedeutung erhält er erst durch die Reaktionen kenntnisreicher Zuschauer. Between Rounds ist eher ein Bild des Boxens als 185

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des Boxers, gestaltet als Studie einer Männerwelt, deren Codes sich bewusst von der Mainstreamkultur absetzten, aber keine Gewaltexzesse programmierten. Die historische Untersuchung von Boxern und Männlichkeit, das belegt schon die oberflächliche Lektüre von Eakins’ Gemälde, hat es nicht mit archaischen Leerstellen innerhalb der Zivilisation zu tun, sondern mit komplexen Inszenierungen von Männlichkeit, Körperlichkeit und Individualität. Nach Joyce Carol Oates steht der Faustkampf für die pure Welt der Maskulinität. „Boxing is for men“, schreibt Oates in ihrem Essay On Boxing, „and is about men, and is men.“ Destillate sämtlicher männlicher Fantasien, Hoffungen und Strategien ließen sich hier beobachten. (Oates 1994, S. 72-74) Seriöses kulturhistorisches Nachdenken über den Sport kann sich mit solchen Axiomen schwerlich zufrieden geben. Historikerinnen und Historikern geht es weniger um die Ergründung einer imaginären Essenz von Maskulinität im Boxsport als um die Narrative von Männlichkeit, die durch das Boxen motiviert werden. Die historische Analyse des Sports führt zu aller erst zu einer Fülle journalistischer, literarischer und künstlerischer Interpretationen. Angesichts dieser Texte und Bilder fragt eine geschlechterhistorisch akzentuierte Untersuchung nicht nach „purer“ Männlichkeit im Ring, sondern nach dem Akt der Beobachtung, nach den Interpretationen des Faustkampfs und ihren Verbindungen zu Geschlechterdiskursen ihrer Zeit. Dabei ist die enorme Faszination des Boxens für Intellektuelle ein kaum zu ignorierender Aspekt. „Woher rührt diese Anziehungskraft?“ fragt Michael Kohtes in seiner Kulturgeschichte des Boxsports. „Was lockt feinsinnige Bleistiftathleten in die krude Welt des Faustkampfs?“ (Kohtes 1999, S. 12) Seine Fragen sind von diversen Positionen aus beantwortet worden. Boxer liefern laut Gerald Early heroische Stilisierungen der Rituale von Triumph und Niederlage. Der Kämpfer sei „hero and devil of absolute anarchy and of absolute absurdity.“ (Early 1999, S. 386) Kein anderes Thema sei so persönlich, so Joyce Carol Oates. Wer über das Boxen schreibe, schreibe stets über sich selbst und untersuche gleichzeitig die Zivilisation, ja das Menschliche an sich. (Oates 1994) Kohtes’, Oates’ und Earlys Essays zeigen, wie so viele andere Auseinandersetzungen: Die Geschichte des Boxsports ist auch eine Geschichte von Texten, die stets die besondere Intensität seiner Wirkung auf Publikum und Gesellschaft und seine spezielle ästhetische Kraft behaupten. Norman Mailer etwa vergleicht den Kampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman 1974 mit van Goghs Nachtwache und James Joyces Portrait of the Artist as a Young Man. (Mailer 1975, S. 210)

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Im späten 19. Jahrhundert begaben sich Künstler und Autoren mit besonderer Vorliebe an den Ring oder in seine Nähe, entfernten sie sich doch so von der als „verweiblicht“ und überzivilisiert wahrgenommenen Welt von Literatur und Kultur. In ihren Texten beschrieben sie eine brutale, vermeintlich hypermaskuline und tatsächlich illegitime Welt (das Boxen war in vielen Bundesstaaten der USA verboten). Mit der privilegierten Perspektive des Außenseiters blickte der Autor/Künstler auf die Gewaltakte im Ring. Er war durchaus privilegierter Zeuge, wurde aber allein durch den Akt des Beobachtens schon Teil der illegalen Boxszene. (Dudley 2004, S. 53) Historiker wie John Kasson erklären diese Faszination in größeren sozialhistorischen Zusammenhängen mit der „Herausforderung durch die Moderne“. (Kasson 2001) Gegen die deindividualisierenden Tendenzen von Wirtschaft und Gesellschaft setzte das Boxen Legenden des Einzelkämpfertums. Die Literaturgeschichte hält ähnliche Erklärungsmuster bereit. Realismus und Naturalismus, die dominanten literarischen bzw. künstlerischen Trends der Jahre zwischen 1880 und 1920, interessierten sich für Körperlichkeit, für jedes Zeichen von Härte, Echtheit, Konflikt, jede Geschichte oder Szene, die kontrastierte, was Kaplan „the growing sense of unreality at the heart of middle-class life“ nennt. (Kaplan 1988, S. 9) Was für Maler wie Thomas Eakins und George Bellows galt, traf auch auf Autoren wie Jack London, Frank Norris und James Weldon Johnson zu: Sie inszenierten sich als Verbindungsmänner zwischen der Welt der vermeintlich vergeistigten Mittelschicht und der des körperlichen Spektakels. (Dudley 2004, S. 53) Die literarische Bewegung des Naturalismus begeisterte sich für die nach festen Regeln ablaufende Brutalität von Sport im Allgemeinen und Faustkampf im Besonderen. (Dudley 2004, S. 222-23) Darwinismus und Alltag schienen sich im und am Ring auf besonders eindrucksvolle Weise zu verbinden. Auch dem boxenden Protagonisten von Jack Londons Kurzgeschichte A Piece of Steak (1909) geht es nicht um Ruhm und Ehre, sondern tatsächlich nur um das Geld, das er braucht, um für sich und seine Familie Fleisch zu kaufen: eben das „piece of steak“. Als „animal“ beschreibt Jack London den Boxer, als groteske Figur mit einem Gesicht voller Verletzungen – „all the marks of a fighting beast“. Gleichzeitig ist er aber „a professional“, wie London betont. All seine Brutalität ist für seine „professional appearances“ reserviert. (London 1993, S. 1629-1630) Es ist gerade diese Ambivalenz von Gewalt und Berufsehre, die die Autoren der Jahrhundertwende interessierte. Sie sahen sich selbst in einer ähnlich ambivalenten Rolle: als gelegentlich tabubrechende Professionelle, daheim gleichermaßen in der Brutalität der Moderne und der Sphäre von Kunst und Literatur. Zurück zum Animalischen, zurück zum 187

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primitiven Körper – diese Richtung schlug die Literatur auch ein, um traditionelle Männlichkeitsprofile in einer kommerzialisierten und bürokratisierten Gesellschaft zumindest symbolisch zu bewahren. (Kimmel 1997, S. 155) Die neuere amerikanische Kulturgeschichte untersucht die ambivalenten Geschlechterdiskurse um 1900 längst nicht mehr nur anhand von schreibenden und malenden Realisten. Der Blick geht über die eng fokussierte Geistesgeschichte hinaus und bezieht populärkulturelle und alltagshistorische Quellen mit ein. John Kasson etwa führt dies vor und rückt das Dschungelkind Tarzan und den Entfesslungskünstler Houdini ins Zentrum seiner Studien zu Maskulinität und Körperlichkeit. Dank solcher Methoden könnte auch ein ansonsten unauffälliger Kämpfer wie Turkey Point Billy Smith zu einer durchaus bedeutsamen Figur in der Historiografie amerikanischer Männlichkeiten werden, auch wenn er weniger als historischer Akteur auftauchen würde, denn als von Thomas Eakins vermittelte und von den Zeitgenossen „gelesene“ Symbolfigur.1 Diese Figur fügte sich ein in das von Anthony Rotundo beschriebene neue Vernunftkonzept der späten 19. Jahrhunderts. Männliche Rationalität wurde im amerikanischen Diskurs weniger als Fähigkeit zu logischer Reflektion definiert, sondern als Abwesenheit von Gefühlen, als Voraussetzung, impulsiv und kämpferisch zu handeln. Diese Wertschätzung von Instinkten, von Körperlichkeit und Aggressivität sorgte für eine extreme Bedeutungssteigerung des Sports. Athletik wurde zur Metapher, zum „Spiegel“ des Lebens. (Rotundo 1993, S. 224-242) Der Boxer stand für eine ursprünglichere, intensivere Form von Maskulinität. Und der Sport selbst wandelte sich: Körperertüchtigung stand bald nicht mehr allein im Vordergrund; Sport war auch Massenunterhaltung, Geschäft, Allegorie des Ethnischen und Nationalen. Mit den Diskursen über Männlichkeit verwoben sich die Professionalisierung und Heroisierung sportlichen Erfolgs und der politisierte Enthusiasmus für den gefeierten Athleten. Schmerz auszuhalten und andere physisch zu dominieren: Das, so Patrick McDevitt in einer Studie zu Sportdiskursen in Großbritannien und seinen Kolonien, erhielt einen zentralen Platz in nationalen Narrativen. Aufgrund ihrer medialen Präsenz, die sie in erster Linie dem frühen Film verdankten, wurden Boxer besonders aufmerksam wahrgenommen. (McDevitt 2004, S. 80)

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In den seltensten Fällen wird der Faustkämpfer als Autor rezipiert. Schwergewichtsweltmeister Floyd Patterson ist eine Ausnahme: Seine Essays über den Faustkampf hat Gerald Early interpretiert. Early 1994, S. 33-39.

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II.

Die neue Sportgeschichte

Kulturhistorische Arbeiten beschreiben den Faustkampf gern als mythisch, ahistorisch, unvergleichlich. „Die Historie des Pugilismus beginnt in der Menschheitsfrühe,“ dichtet etwa Michael Kohtes (Kohtes 1999, S. 12). Geschlechtergeschichtlich akzentuierte Studien des Boxsports allerdings profitieren enorm von den innovativen Beiträgen etwa der neueren amerikanischen Sportgeschichte. Längst stehen heroisierende Athletenbiografien und Liebhaberhistorien nicht mehr im Zentrum der Disziplin. Stattdessen haben Sporthistoriker die Entwicklungslinien von Baseball, Basketball, Football, von „Fitness“-Vorstellungen, Leichtathletik und Sporterziehung angeschlossen an Stadt- und Immigrationsgeschichte, Studien zu Ethnizität und Körperlichkeit, an neuere Sozial-, Kultur- und eben auch Geschlechtergeschichte. (Riess 1992) Wie S.W. Pope in einem grundlegenden Essay darstellt, hat sich das Feld parallel zu den „women’s studies“ entwickelt und wird von ähnlichen methodischen und theoretischen Entwicklungen beeinflusst. (Pope 1997, S. 9) Nach Dworkin und Messner geht es insbesondere darum, wie Sport an Männer Männlichkeit und an Frauen Weiblichkeit „verkauft“. Insbesondere durch die intensive Geschlechtssegregation von Athleten und vielfach auch Zuschauern würden sich traditionelle Geschlechterkonzepte im Sport erhalten. „Besides making money“, so die Autoren, „making gender may be sport’s chief function.“ (Dworkin und Messner 2002, S. 17) Was Sportlerinnen und Sportler den Kulturwissenschaftlern „erzählen“ sind also nicht nur die Geschichten ihrer Siege und Niederlagen. Die neuere Kulturgeschichte kann im Sport Rituale beschreiben, die Individuum und Moderne miteinander ins Spiel bringen, die eigene Öffentlichkeiten konstituieren und eigene Konzepte von sozialer Ordnung und Geschlecht. Soziale und wirtschaftliche Transformationen werden im Sport und durch den Sport verstärkt, reflektiert und vielfach auch in Frage gestellt. Kasson etwa spricht von seiner Systematisierung und Bürokratisierung in der Moderne, unterstreicht aber auch seine Vieldeutigkeit. Auch wenn die Welt der Leibesertüchtigung an der Wende zum 20. Jahrhundert unter die Kontrolle von Managern geriet, bot sie dennoch Geschichten, Figuren, Dramen an, die individuelle Kraft und Gemeinschaftlichkeit in den Vordergrund stellten und sich als entmännlichend wahrgenommenen Entwicklungen entgegensetzten. (Kasson 2001, S. 14) Der Boxsport scheint hier nur einen Aspekt unter vielen darzustellen. Dennoch ist es nicht ganz passend, ihn analog zu Baseball, Football und Basketball zu lesen. Zum einen ist der Boxsport, anders als diese 189

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Mannschaftssportarten, stets nur auf das Individuum fokussiert. Zum anderen, darauf verweist Gail Bederman, gilt der Schwergewichtsboxer um 1900 als die Verkörperung von Männlichkeit schlechthin, mit einer ungleich höheren Präsenz in der Alltagskultur und einem ganz anderen symbolischen Profil. (Bederman 1995, S. 4) Zwar dominieren auch in den kulturellen Repräsentationen von Baseball um 1900 Konzepte von Vitalität, physischer Kraft und Aggressivität. Um die Baseballfelder aber rankten sich Vorstellungen von der tugendhaften Kraft eines Sports, der die Immoralität der Moderne konterkarieren sollte. „Baseball takes people into the open air,“ so Präsident Howard Taft 1912, „it draws out millions of factory hands, of tradesmen and interior laborers of all kinds, who spend their afternoons […] in the warm sunshine and fresh air.“ (Kimmel 1997, S. 140-141) In Chicago gründeten die Inhaber von Warenhäusern Firmenteams und stellten ihre Angestellten für Training und Spiele frei, weil der Sport ideal erschien, um „respectable middle-class young men“ zu produzieren, die, wie Steven A. Riess formuliert, „sound of body and pure of heart“ waren. (Riess 1997, S. 184) Die selten tugendhafte Subkultur des Boxens entsprach solchen zentralen Werten des viktorianischen Amerika nicht – und übernahm deutlich differente Funktionen. (Riess 1997, S. 186) Gerade aufgrund der Bedeutung von Gewalttätigkeit und Verwundbarkeit hält der Faustkampf seine reiche diskursive Geschichte bereit, die sich mit einem engen sporthistorischen Zugriff nur unzureichend beschreiben lässt. Öffentliche Figuren wie John L. Sullivan und Jack Johnson haben weit über die Grenzen des Sports hinaus prominente Rollen in Inszenierungen von und Auseinandersetzungen über Männlichkeit übernommen. Gerald Early hat den Begriff der „preposterous masculinity“ – der grotesken bzw. absurden Maskulinität – geprägt, um den Faustkampf als Metapher zu beschreiben, die er sowohl als eine Art intellektuellen Kitsch wie auch als zentrale Allegorie auf die Moderne versteht. (Early 1994, S. xiii-xiv) Zwar bedarf es in der Epoche nach Mike Tyson einiger Vorstellungskraft, um die kulturelle Signifikanz der prominentesten Boxer um 1900 nachzuvollziehen. Jack London aber vertrat keine marginale Position, als er seinen Wunsch ausdrückte, lieber Schwergewichtsweltmeister zu sein als der König von England oder der Präsident der Vereinigten Staaten. (Perry 1981, S. 250)

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III.

Theater der Männlichkeiten: Der Boxring um 1900

Es ist offensichtlich, dass es im Boxring zu Performanzen von Männlichkeit kommt. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass Boxer um 1900 regelmäßig auch außerhalb der sportlichen Arena als Darsteller aktiv waren. Der schwarze Schwergewichtsboxer Peter Jackson spielte 1893 in einem Theater in San Francisco die Rolle des Tom in einer Bühnenversion von Uncle Tom’s Cabin – das Theater ging mit dem Stück auf eine Tournee durch die USA. (Wiggins 2002, S. 299) Jack Johnson trat während seiner gesamte Karriere in Varietés und Theatern auf. (Ward 2004) Auch der Schwergewichtsweltmeister John L. Sullivan wurde zum Schauspieler. In der Spielzeit 1890/91 gab er einen tugendhaften irischstämmigen Schmied in dem ihm auf den Leib geschriebenen Melodrama Honest Hearts and Willing Hands. Sullivans Autobiografie, 1892 erschienen, belegt, dass der professionelle Boxer schon vor 1900 auch jenseits der Bühne zum Selbstdarsteller in einer modernisierten Medienöffentlichkeit geworden waren. Die Vita mit dem Titel Life and Renaissance of a 19th Century Gladiator spielte zwar auf die Traditionen der Antike an – ganz wie der gängige Beiname des Boxers, Spartacus Sullivan. Tatsächlich jedoch, dies zeigt John Kasson, war das Boxen Ende des 19. Jahrhunderts eben kein altmodisches öffentliches Ritual, sondern ein Produkt des modernen Journalismus, der die Metropole (und die Nation) erst als Kulisse für die Dramen des Sports eröffnete. Die amerikanische Großstadtpresse – die Tageszeitung als „voice of the city“ – und der fest im urbanen Kontext angesiedelte Faustkampf „erfanden“ sich gegenseitig, hingen voneinander ab, wenn es darum ging, sich in der urbanen Öffentlichkeit zu etablieren. (Kasson 2001, S. 15) Box-Promoter wiederum verfolgten die Strategie, die enge Verbindung des Boxens zur als chaotisch wahrgenommenen Arbeiterkultur aufzulösen und den Sport als Freizeitvergnügen der Mittelschichten zu etablieren. (Kasson 2001, S. 69) Der Historiker Elliott Gorn hat den Modernisierungsprozess des Boxsports in einer wegweisenden Studie über die Ende des 19. Jahrhunderts zu Ende gehende Epoche des handschuhlosen Boxens beschrieben. Die in den 1860ern festgelegten Queensberry Rules sollten zur Humanisierung des Boxens beitragen: Die Kämpfer trugen fortan Handschuhe, Rundenzeiten wurden festgelegt, ebenso Bestimmungen zu Gewichtsklassen, Ring- und Kampfrichtern. Diese Neuerungen machten das Boxen allerdings nicht weniger gewalttätig, sondern in erster Linie spektakulär. Weil die Hände der Athleten geschützt waren, kam es zur einseitigen Betonung von Kopftreffern und Knockouts. Die höhere Wahr191

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scheinlichkeit, dass professionelle Boxer im Laufe ihrer Karrieren Gehirnschäden davontrugen, wurde in Kauf genommen, um die visuelle Dramatik des Sports zu steigern. (Gorn 1986, S. 205) Auch eine traditionelle Subkultur löste sich mit dem Wandel des Boxens auf: die so genannte fancy, eine Art Bruderschaft von Kämpfern und Kennern jenseits der respektablen Gesellschaft, die sich als Maskulinitätsmodell außerhalb sozialer Akzeptanz lesen lässt. Aus den eingeschworenen Connaisseuren wurden Mittelklasse-Fans – zahlende Zuschauer. (Gorn 1986, S. 254) Der fast nackte Körper des Boxers, scheinbar ein Garant für die archaische, universell gültige Dimension des Sports, konnte zum Hauptargument in rhetorischen Strategien um 1900 werden, wenn Hierarchien von Geschlechtern, Klassen und Rassen mit der angeblichen Überlegenheit des weißen Faustkämpfers begründet wurden. (Kasson 2001, S. 223) Hier zeigen sich auf breiter Ebene Parallelen zu den Entwicklungen in Literatur und Kunst: Im späten 19. Jahrhundert diente die Figur des Boxers als Idol für eine kultivierte Mittelschicht, die sich sowohl von dem als primitiv wahrgenommenen neuen industriellen Wohlstand wie auch von Massenimmigration und Arbeiterradikalismus bedroht fühlte. (Gorn 1986, S. 203) Ein neuer bürgerlicher Maskulinitätsstil machte sich die raue Körperlichkeit zunutze, die man einige Jahrzehnte früher lediglich mit nicht-weißen Männern und Arbeitern assoziiert hatte. Nun dienten diese Codes dazu, den auf Stärke und Unabhängigkeit fußenden Individualismus zu unterstreichen, der die bürgerlichen Männlichkeitsmodelle von denen konkurrierender sozialer und ethnischer Gruppen absetzte. (Snyder 1999, S. 25) Terminologien der Boxberichterstattung um 1900 verraten noch die engen Zusammenhänge zwischen Faustkampf und urbanem Alltagsleben: Boxen wurde als Handwerk beschrieben, als „craft“, als „trade“, die Leistungen der Boxer galten als „good work“, sie trainierten in „schools“, ihr Sport galt als „manly art“. (Kimmel 1997, S. 138-139) Einerseits also war Boxen urbanes Spektakel, exotisch und oft illegal, andererseits respektierte man die Faustkämpfer als Individuen, die als ursprünglich geltende Formen von Männlichkeit konservieren konnten, gerade zu dem Zeitpunkt, als diese in den anonymisierenden urbanen und wirtschaftlichen Kontexten des beginnenden 20. Jahrhundert verloren zu gehen schienen. Kommerzialisierung hatte die eng umgrenzte Box-Subkultur aufgebrochen. Für die urbanen Junggesellen, die bachelors, übte der Sport aber weiterhin eine besondere Faszination aus. Der Begriff des „strenuous life“, von Theodore Roosevelt eingeführt, spielte eine zentrale Rolle, um Männlichkeit als aggressiv und athletisch zu definieren. Neben Roosevelt, dem wohl einflussreichsten „Theoretiker“ von Männ192

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lichkeit um 1900, fungierte ein anderer Amerikaner als das schichtübergreifend zugänglichste Symbol von bewunderter Maskulinität: John L. Sullivan, der Schwergewichtschampion zwischen 1882 und 1892. Bilder von Sullivan hingen in jedem städtischen Saloon. Seine öffentliche Präsenz verdankte er nicht nur seinen sportlichen Leistungen, sondern auch den Presseberichten über sein privates Verhalten. Sullivan, so Howard Chudacoff, galt sowohl als Bonvivant wie auch als Schlägertyp. Seine Kneipenraufereien, sein Ruf als „wife-beater“, als Trinker, Zigarrenraucher, Angeber und großzügiger Geldverschwender machten ihn zu einem wirkungsvollen Vorbild für eine Subkultur junger Männer, die jede weibliche Einmischung in ihr Leben aggressiv bekämpften. (Chudacoff 2000, S. 240-244) Gleichzeitig spielte Sullivan eine Hauptrolle in dem Prozess, das Boxen zu transformieren, es in eine respektablere Attraktion für die Mittelklasse zu verwandeln. (Kasson 2001, S. 41) Sein Männlichkeitsstil war über soziale Grenzen hinweg attraktiv, als Modell männlicher Autonomie.

IV.

Boxen und visuelle Kultur

Auch wenn das Gesicht des Boxers Sullivan im späten 19. Jahrhundert auf den Verpackungen diverser amerikanischer Alltagswaren erschien und so die enge Beziehungsgeschichte von Sport und Werbung eröffnete (Chudacoff 2000, S. 240-244): Entscheidender für die mediale Entwicklung des Boxsports war der fast parallel verlaufende Aufstieg von modernisiertem Faustkampf und Film. Schon 1897 waren Filmaufnahmen eines Kampfs zwischen den Boxern Corbett und Fitzsimmons in amerikanischen Kinos zu sehen. Und der Eintritt des Faustkampfs in die moderne visuelle Kultur hatte auch Konsequenzen für das einst als rein maskulin definierte Bündnis zwischen den Athleten und ihren Zuschauern. Überrascht bemerkten die Produzenten des Films, wie viele Frauen zum zahlenden Publikum der Boxfilme zählten. (Berger 2000, S. 115) Schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wurden Boxkämpfe zu Ereignissen mit einem nationalen Publikum, dessen Diversität nichts mehr mit der sozial und geschlechtlich homogenen fancy früherer Jahre gemein hatte. Boxen wurde rasch in eine globalisierte visuelle Kultur eingegliedert – abzulesen etwa an dem von Hans Ulrich Gumbrecht analysierten Kampf zwischen Jack Dempsey und Gene Tunney 1926, einem ausufernd massenmedialen Ereignis. (Gumbrecht 1997, S. 47-50) So endete eine Entwicklung, die in den Vereinigten Staaten mit den Boxgemälden des Thomas Eakins begonnen hatte.

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In Eakins’ Oeuvre sind Boxer integrierte Figuren in einer Galerie von Repräsentanten einer demokratischen Gesellschaft, angeschlossen an den urbanen Kontext von Philadelphia. Wie die Dichter, die der Maler porträtierte, wie die von ihm dargestellten Wissenschaftler, Journalisten, Musiker, Geschäftsleute und Schauspielerinnen, verkörperte auch der Faustkämpfer Disziplin, Moral – und Intellekt. (Johns 1983, S. 150) In den 1880er und 1890er Jahren, in denen Eakins’ Boxgemälde entstanden, galt der Boxer nicht als ungeschlachte Kampfmaschine. Eher verkörperte er die Möglichkeiten maskuliner Metamorphosen, der Verwandlung des Körpers, der Transformation und Optimierung des Ichs. (Kasson 2001, S. 223) Wichtig war nicht grenzenlose Kraft, sondern die poise des Athleten, die Kontrolle, die er über seinen eigenen Körper ausübte, die Balance von Aggressivität und Selbstdisziplin. Auch wenn Eakins’ Gemälde also oberflächlich betrachtet das kulturelle Feld der bürgerlichen Kunst verließen (weil professionelles Boxen nach wie vor von zweifelhafter Legalität und Moral war): Tatsächlich liefern seine Bilder symbolische Bestätigungen für ein neues Männlichkeitsideal der Mittelschicht, in dem sich Selbstkontrolle, Individualismus und raue Körperlichkeit kombinierten.

Abbildung 2: Salutat, Thomas Eakins, 1898 194

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Zur symbolischen Überhöhung des Boxens trug zum einen die schiere Größe von Eakins’ Gemälden bei – sie spielte auf religiöse Kunst an. Statische Ruhe und die sorgfältige Studie anatomischer Details verliehen dem Sport und seinen Anhängern eine fast meditative Dimension. Auch das Bild als Objekt überschritt bei Eakins die Nüchternheit des Realismus und ermöglichte allegorische Lesarten. Der ursprüngliche Rahmen von Salutat (1898) erhielt vom Künstler die Inschrift „Dextra Vitrice Coclamantes Salutat“ („Mit seiner rechten Hand salutiert der Sieger denen, die ihm zujubeln“). (Simpson 2001, S. 166-167) Berger weist darauf hin, dass das Gemälde das Publikum mit ebenso großer Sorgfalt zeichnet wie den Boxer. Der Kämpfer erscheint nicht völlig autonom: Er wird mit den Beobachtern zusammen gesehen, etwa auch mit dem Reporter, dessen Darstellungen den Faustkämpfer erst sichtbar machen. (Berger 2000, S. 112-113) Smith, der spätere Heilsarmist, ist kein überlebensgroßer Held – und eben nicht der berühmteste oder talentierteste Boxer der Welt, sondern ein local hero, der innerhalb seiner Stadt zu Erfolg gekommen ist, ein Mann, der aus seinen limitierten körperlichen Möglichkeiten das Beste gemacht hat. Berger liest das Gemälde als Reflektion der Begrenzungen, die autonome Maskulinität im späten 19. Jahrhundert durch Institutionen erfährt. (Berger 2000, S. 120) Gleichzeitig besteht eine Wechselwirkung mit Eakins’ eigener ästhetischer Strategie, die Präzision, Wissenschaftlichkeit und Nüchternheit zentral setzt. (Wilmerding 1992, S. 2) Marc Simpson verweist in seiner Interpretation von Between Rounds und Salutat darauf, dass bei Eakins eben nicht Handlung bzw. Gewalt im Ring dargestellt wird. Selbst in einem Kontext, der wie kein anderer bloße Körperlichkeit zentral setzt, bemüht sich der Künstler um eine Darstellung des Emotionalen, der Gedankenwelt seiner Protagonisten. (Simpson 2001, S. 266-267) Boxen um 1900 symbolisierte zwei Aspekte von Männlichkeit: die traditionelleren Tugenden von Rationalität und self-reliance und die neueren Konzepte, die brutale, quasi-animalische Aggression legitimierten. (Berger 2000, S. 117-118) Thomas Eakins und George Bellows könnten als Repräsentanten dieser beiden Extreme gelesen werden: Eakins als Vertreter einer älteren Form von Männlichkeit, Bellows als Vertreter der neueren „Schule“ aggressiver Maskulinität. Die fast meditative Stimmung der Eakinsschen Gemälde ist in Bellows’ Boxdarstellungen nicht zu finden, statt dessen Energie und Dramatik, unterstrichen durch aufeinanderprallende Diagonalen, dramatisches Licht und die Konzentration auf entscheidende Kampfszenen. „I’m just paintin’ two guys trying to kill each other“ – mit dieser Selbstaussage pointierte der Künstler einige Jahrzehnte später sein Hauptinteresse. (Zitiert in: Brezzo 195

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1992, S. 19) Ein dramatisches Gemälde wie Dempsey and Firpo (1924) überzeichnete bewusst, zeigte Boxen als Massenspektakel, betonte Kraft, nicht Facettenreichtum. Als Schüler Robert Henris, des wohl einflussreichsten urbanen Realisten in der amerikanischen Malerei, pflegte Bellows die Abkehr vom Detail und die Hinwendung zu breiten Pinselstrichen, die kaum präzise Linienführung ermöglichten (Haskell 1999, S. 65) und in der Darstellung der Kämpfer selbst eine entsprechend athletische Ästhetik anzeigen. Kunsthistoriker ziehen daher auch eine Traditionslinie von Bellows’ Umgang mit Farbe zum maskulinen Ethos des action painting, wie es Jackson Pollock in den 1940ern und 50er Jahren als charakteristisch maskuline Praxis definierte. (Morris 1998, S. 142)

Abbildung 3: Dempsey and Firpo, George Bellows, 1924 Bei Eakins hatte sich das Ideal der Athletik mit Intellektualität und Insichgekehrtheit verbunden. Bellows wurde einer maskulinen Ästhetik zugerechnet, die Zeitgenossen gerade im Kontrast sahen zu einer konventionellen, nun als weiblich kodierten Kultiviertheit. „Never has anything like it been done,“ schrieb 1924 ein Journalist, „you’ll get a kick out of its brutal contrast to the long-haired arty stuff hung near it.“ (Zitiert in: Brezzo 1992, S. 18) Bellows’ Bilder schienen eine Art marginaler maskuliner Ästhetik auszustrahlen, die sich vom als weich empfundenen Kunst-Mainstream absetzte. Marianne Doezema verdeutlicht, dass 196

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Bellows’ Boxbilder ganz bewusst als Ausnahmen rezipiert wurden – und der Künstler als einziger Maler seiner Generation, der der Ödnis des Kunstbetriebs etwas Echtes, Vitales entgegensetzen konnte. „Two dozen heavyweight pictures and a knock-out punch in every one!“, pries ein Kritiker 1911 eine Bellows-Ausstellung. Mit der Darstellung der teils illegalen Boxkämpfe schien es dem Maler zu gelingen, einerseits gegen die akademischen, bürgerlichen Kunstkonventionen zu verstoßen, andererseits – etwa durch realistische Darstellung – diese Verstöße soweit im Rahmen zu halten, dass es sich um eine akzeptable Rebellion handelte. (Doezema 1992, S. 106-107) Barbara Haskell vergleicht die Arbeiten des Künstlers am Ring mit seinen Interpretationen von New Yorker Straßen, Hafenansichten und Großbaustellen (etwa der Pennsylvania Station). Die monumentale Kraft amerikanischer Ingenieurtechnik sei ebenso wie die Faustkämpfe als „brutal, explosive portrayal of violence“ kodiert, als nahezu darwinistischer Überlebenskampf. (Haskell 1999, S. 92) Durch die Illegalität des Boxens besaß der Akt der Darstellung selbst etwas Waghalsiges. Die Zeichnungen, die Bellows am Boxring produzierte (und die von der Tagespresse an prominenter Stelle reproduziert wurden), trugen vollends dazu bei, ihn als Reporter, als Beteiligten, als Mitglied der Boxwelt zu etablieren. (Brezzo 1992, S. 18) Nur einige Jahrzehnte nach Eakins’ Hauptwerken ist so ein Wandel in den kulturellen Männlichkeitsdiskursen festzustellen: von der kontrollierten Innerlichkeit des Billy Smith zu den Gewaltspektakeln der 1920er Jahre. Einiges an der fast grotesken Gewalttätigkeit von Bellows’ Bildern mag sich allerdings weniger aus der Geschlechtergeschichte erklären, als vielmehr durch die Absicht, mit der Medienkonkurrenz des frühen Films Schritt zu halten. Insbesondere in der Ära Jack Johnson, des ersten afroamerikanischen Schwergewichtschampions, war es die Filmkamera, die den Boxer als die zentrale Figur in Auseinandersetzungen über race und Maskulinität etablierte.

V.

Johnson gegen Jeffries

Dies zeigen die Filme: In der 15. Runde geht Jim Jeffries zu Boden, nach einer Serie von eingesteckten Treffern. Er wird angezählt, bis neun, kommt mühsam wieder auf die Füße, spuckt einen ganzen Mund voll Blut aus, versucht wieder in den Clinch mit Johnson zu gelangen. Der entwindet sich. Trifft mit der Linken. Bringt Jeffries wieder zu Fall. Sekundanten helfen ihm auf, schieben ihn in die Mitte des Rings. Johnson weicht aus, schlägt vier Mal zu, während sein Gegner torkelt, an den Seilen entlang, bis zur anderen Ringseite, wo er schließlich zusammen197

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bricht. Johnson steht über ihm, wartete darauf, noch einmal zuzuschlagen. Da jedoch haben die Sekundanten genug gesehen: Sie beenden den Kampf, werfen das Handtuch, erklären Johnson zum Gewinner. (Beschreibung in Ward 2004, S. 210-211) Warum diese Beschreibung? Wenn kultur- und geschlechtshistorisch akzentuierte Studien sich dem Boxsport widmen, ist der Kampf mit seinen blutigen Details doch eigentlich kaum von Interesse. Eher geht es um kulturelle Repräsentationen als um eine solche Ereignisgeschichte, die den konventionellen Historien von Schlachten, Triumphen und Heldentaten all zu sehr ähnelt. Weil sich der Boxsport aber nun einmal über diese Siege und Niederlagen definiert und weil sich die Repräsentationen um sie herum entfalten, ist es trotz aller methodischen Innovation kaum möglich, die zentralen Ereignisse der Boxgeschichte zu ignorieren. Dann geht es doch um spezifische Kämpfe – wie den hier skizzierten zwischen den Schwergewichtlern Jack Johnson und Jim Jeffries am 4. Juli des Jahres 1910 in Reno, Nevada, dem großen Meisterschaftskampf zwischen einem afroamerikanischen und einem weißen Boxer, dem Kampf, nach dem schwarze Amerikaner gern ihr Frühstück mit Kaffee „as strong and black as Jack Johnson“ und Rührei „as beat up as Jim Jeffries“ bestellten. (Ward 2004, S. 236) Die neueren Studien zur Geschichte amerikanischer Maskulinitäten schlagen natürlich vor, sich nicht allzu lange mit den rechten Geraden und linken Haken von Reno zu beschäftigen, sondern gesellschaftlichen und kulturellen Kontext in den Blick zu nehmen, Johnson-Jeffries also in seinen vielfältigen Bedeutungen und Interpretationen zu erfassen. Zu dieser Form der Analyse gehören die enthusiastischen Reaktionen vieler schwarzer Amerikaner auf die Nachricht von Johnsons Sieg ebenso wie die rassistische Gewalt, mit der diese Siegesfeiern beantwortet wurden. Gail Bederman etwa beginnt ihre Studie zu gender und race um 1900 mit einer detailreichen Interpretation von Jonhson-Jeffries und konzentriert sich auf die Praxis des Lynchmords, des US-Imperialismus, des Mythos von der Überlegenheit der angelsächsischen Rasse. Das, so Bederman, waren die zentralen Themen der relevanten Debatten über rassische Identität, die immer auch als Diskussionen über Männlichkeit geführt wurden. Da der Schwergewichtsboxer im viktorianischen Amerika als die Verkörperung von Männlichkeit schlechthin galt, war Johnson-Jeffries mehr als ein bloßes Sportereignis, sondern eine Auseinandersetzung um die Zukunft der Zivilisation. (Bederman 1995, S. 4) Weiße Beobachter waren der festen Auffassung gewesen, dass Jeffries aufgrund seiner rationaleren angelsächsischen Männlichkeit dem als unstet und emotional kodierten schwarzen Boxer überlegen sein würde. Jeffries

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SPORTSMÄNNER

– „the great white hope“ – hatte ein für alle Mal die Überlegenheit der weißen Rasse demonstrieren sollen. (Bederman 1995, S. 2) Der Kampf in Reno markiert nur den Beginn einer dynamischen Dreiecksgeschichte von race, Männlichkeit und Boxsport. Afroamerikanische Schwergewichtschampions wurden im 20. Jahrhundert stets – freiwillig oder unfreiwillig – für diverse politische, ästhetische, nationale Diskurse vereinnahmt. Muhammad Alis öffentliche Wirkung etwa ist nicht zu trennen von den Debatten um afroamerikanische Militanz im späten 20. Jahrhundert. Am anderen Ende des Spektrums wäre die Rolle von Joe Louis im Kontext politischer Diskurse zu untersuchen, insbesondere anhand seiner Kämpfe gegen Max Schmeling, auch aber, ähnlich wie Ali, mit Berücksichtigung seiner öffentlichen Wirkung auf die afroamerikanische community in Kriegszeiten. Jack Johnson schließlich stellte durch seine sportlichen Erfolge, sein öffentliches Auftreten und seine Beziehungen zu weißen Frauen Rassenhierarchien des frühen 20. Jahrhundert konsequent in Frage. Johnsons Auftreten, so argumentiert Sammons, kann als Einfluss gelten für den New Negro, der selbstbewussten Identitätskonzeption afroamerikanischer Intellektueller in den 1920er Jahren. (Sammons 1988, S. 46) Gerald Early hat wiederum herausgearbeitet, dass sich im weißen Boxdiskurs um 1900 die Beschreibungen schwarzer Faustkämpfer und ihrer Auftritte in der Öffentlichkeit immer wieder mit Verweisen auf Animalität und auf die mögliche Vergewaltigung weißer Frauen durch die vorgeblich unzivilisierten Athleten verschränkten. (Early 1994, S. 78) Johnson polarisierte also, wurde aber auch nie anders als in einer durch und durch polarisierenden Öffentlichkeit wahrgenommen. Als historische Episode macht Johnson-Jeffries besonders deutlich, dass weiße und schwarze Männlichkeit nie nur im Ring inszeniert wurde. Der Boxer war stets Darsteller seiner selbst, Repräsentant „seiner“ Rasse. Dies traf, in Abstufungen, auch auf den Kontext ethnischer Identitäten zu. Jüdische Boxer wurden im frühen 20. Jahrhundert zu symbolisch aufgeladenen Figuren, die „American success and Jewish toughness“ verkörperten. (Levine 1997, S. 262) Irisch-amerikanische Kämpfer spielten eine besondere Rolle, weil sie als Zwischengänger zwischen dem „racial Other“ und den protestantisch-angelsächsischen Amerikanern gesehen wurden. (Dudley 2004, S. 31) Natürlich verbanden sich Ethnizität und Maskulinität aber nicht nur in den Zuschreibungen durch den weißen Mainstream. Auch sozialhistorisch wird diese Verknüpfung im Boxsport bedeutsam. Die Geschichte des Faustkampfs ist ohne eine Berücksichtigung der multiethnischen Großstadt kaum zu verstehen. Johnson-Jeffries, von über 300 Reportern beschrieben, wurde zwar zu einem nationalen, ja globalen Ereignis. Rezipiert aber wurde der Kampf 199

CHRISTOPH RIBBAT

von spezifischen urbanen (und natürlich auch ländlichen) Öffentlichkeiten. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein waren die im Boxen entwickelten Maskulinitätskonzepte eben nicht nur Nebenprodukte überdimensionierter Heldensagen, sondern auch im und am Ring erkämpfte Optionen selbstbewusster Identität in der weißen und schwarzen working class. 1940 blickte der Boxer Turkey Point Billy Smith, ein Spross der urbanen Boxwelt, in einem kurzen Text auf ein fast 50 Jahre altes Gemälde zurück, das von der Wirkmächtigkeit des Boxsports und seiner Faszination für einen großen amerikanischen Künstler erzählte. Im Jahr 2005 wurde der Boxer Jack Johnson zur zentralen Figur eines ähnlich nostalgischen, jedoch ungleich ambitionierteren historischen Projekts. Auf der Basis der zahlreichen Bild- und Filmdokumente, die Johnsons Laufbahn begleiteten, produzierte Ken Burns den Dokumentarfilm Unforgiveable Blackness: The Rise and Fall of Jack Johnson. Der Jazzmusiker Wynton Marsalis komponierte den Soundtrack, als historischer Experte fungierte unter anderem Gerald Early, der Schauspieler Samuel L. Jackson übernahm die Sprechparts, in denen Ego-Dokumente Jack Johnsons verlesen wurden. Burns’ breit erzählter Film belegt noch einmal die kulturelle Signifikanz des Boxsports um 1900. Er thematisiert nicht nur das Leben von Jack Johnson (wenn auch im konventionellen rise and fall-Erzählmuster), sondern auch den Schwergewichtsboxer als emperor of masculinity und die enorme Bedeutung des Faustkampfs für Männlichkeitskonzepte des frühen 20. Jahrhunderts. Für das weiße Publikum sollten die Ideale des Boxens den Herausforderungen anonymisierender Modernität standhalten; für afroamerikanische Männer wurde Boxen zu einer Alltagserzählung, die sich sowohl Modernisierungsprozessen wie institutionalisiertem Rassismus entgegenstellte. Was Jack Johnson in Unforgivable Blackness erzählt, verweist allerdings auf den Wunsch, sich von all diesen Bedeutungen und Funktionen freizumachen und die scheinbar neutralste aller Identitäten zurück zu gewinnen. Anders als die Kulturhistoriker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts insistierte der erste afroamerikanische Schwergewichtsweltmeister auf einer Essenz des Männlichen jenseits der Diskurse. Kurz vor seinem Tod, so der Film in seiner Eröffnung, sagte der Ex-Champion einem jungen Reporter: „Just remember, whatever you write about me: that I was a man.“2

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Unforgivable Blackness. The Rise and Fall of Jack Johnson. Regie: Ken Burns, 2004.

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Technologie als Merkmal amerikanischbürgerlicher Männlichkeit, 1830-1978 RUTH OLDENZIEL

I.

Einleitung

Technologie und Männlichkeit haben eine Geschichte, und eine überraschend kurze Geschichte dazu. Die moderne Vorstellung, dass Männer Dinge tun, Brücken entwerfen und unsere Technologien entwickeln und Frauen diese dann nutzen, repräsentiert eine materiale, politische und kulturelle Ordnung relativ jungen Datums. Die geschlechtlich strukturierten Dichotomien sind Teil eines Narrativs, das seinen Ausgang am Ende des 19. Jahrhunderts nahm, als der Industriekapitalismus begann, die kulturellen Ressourcen für die neue industrialisierte Welt zu mobilisieren. Die Hervorbringungen dieses Narrativs finden wir in der Literatur, in Anzeigetexten, in Enzyklopädien, aber auch in Metaphern und Schlüsselbegriffen des modernistischen Diskurses in Amerika, in dem Ingenieure und Maschinen zentrale Orte einnahmen. Während Ingenieure schon zwischen den 1890er und 1920er Jahren zu den männlichen Helden der amerikanischen Populärkultur avancierten, wurden Maschinen erst nach dem Ersten Weltkrieg zum Maß westlicher Männlichkeit und zum prominentesten Schauplatz technologischer Fertigkeiten. Dies war eine bedeutende Veränderung. Während im 19. Jahrhundert ein breites Spektrum von Dingen von Korsett und Häubchen über Kunst, Musik und Sprache bis zum Handwerk als Erfindungen wahrgenommen wurde, waren ein knappes Jahrhundert später alle diese nichtmechanischen Produkte an den Rand modernistischer Klassifikation gedrängt. Im frühen 20. Jahrhundert wurden die materiellen Produkte der Ingenieurskunst zu den einzigen Kennzeichen wahrer Technologie. Innerhalb 201

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dieses neuartigen, produktionistischen Paradigmas wurden Maschinen zur Metapher, zum Modell und Mikrokosmos von Technologie – und insbesondere auch von amerikanischer Macht. Vor allem europäische Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller, die nach New York emigriert waren, während ihre Zeitgenossen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs litten, beschrieben einen solchen Konnex von Technologie, Männlichkeit und dem neuen amerikanischen Jahrhundert in größter Deutlichkeit. Die Geschlechterforschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass Geschlecht keine exklusiv weibliche Kategorie ist, sondern dass das weibliche Geschlecht lediglich sichtbarer ist, weil es häufig als das problematische „Andere“ markiert wurde. Männer galten im Gegensatz dazu lange als Norm, die keiner weiteren Erläuterung bedürfe. Nach all den Jahren der Geschlechterforschung erscheint mir immer noch die dreiteilige Anleitung der Sozialhistorikerin und Geschlechtertheoretikerin Joan Scott der trefflichste Weg, um zu verstehen, wie Technologie zur Säule der Männlichkeit der bürgerlichen Mittelklasse wurde. Als erstes gilt es zu ergründen, wie Geschlecht beispielsweise am Arbeitsplatz strukturell geformt wird, indem technologisches Wissen als männlich markiert wird. Zweitens gilt es, den Sozialisationsprozess etwa an Schulen oder anderen Orten wie Clubs unter die Lupe zu nehmen, wo Jungen lernen, Computer und Autos zu mögen, während Mädchen beigebracht wird, sich mit Barbies und BHs zu identifizieren. Der dritte Ort der Geschlechterformation ist die Politik der Repräsentation, die bisweilen die unmittelbare Lebensführung einzelner Männer oder Frauen nur geringfügig berührt, die aber nach wie vor mit großer Macht in der kollektiven semiotischen Aushandlung von Kategorien wie Klasse, Rasse, Geschlecht, Religion oder Nation wirkt. Es gibt außerdem noch eine weitere Dimension, die in Joan Scotts analytischem Werkzeugkasten nicht vorhanden ist. Forschende in den Bereichen Geschlecht und Technologie haben immer deutlicher und lauter gefragt, wie sich Geschlechterbilder in Artefakten materialisiert haben, die wiederum ihrerseits Geschlechterstrukturen geprägt haben. Bevor ich nun im Weiteren Joan Scotts Dreischritt folgen möchte, werde ich mich diesem vierten, materiellen Aspekt zuwenden, um zu verdeutlichen, wie sich technologisches Design und Geschlechterformation in ihrer konkretesten Ausgestaltung wechselseitig beeinflussten. (Siehe insgesamt für diesen Abschnitt Oldenziel 1999; Lerman, Oldenziel und Mohun 2003; Scott 1999)

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TECHNOLOGIE ALS MERKMAL AMERIKANISCH-BÜRGERLICHER MÄNNLICHKEIT

II.

„ M a k i n g T e c h n o l o g y, M a k i n g G e n d e r “

HistorikerInnen und SoziologInnen haben in den letzten Jahren deutlich herausarbeiten können, wie Geschlecht und Technologie sich wechselseitig in materialisierter Form prägen. Statt ihre Aufmerksamkeit auf Ingenieure, Designer und Industriellen selbst zu richten, haben sie begonnen zu untersuchen, wie Menschen in deren Produkten entworfen wurden. In der Welt der Erfindung existieren Probleme niemals in einem Vakuum, sondern immer auch in einem Rahmen, der von den Lösungsvorstellungen geformt wird, die die Erfinder mit ihrem Scharfsinn vorgeben. Erfinder erfinden Probleme ebenso wie deren Lösungen. Auf diese Konstellation hat die Geschlechterforschung der letzten Jahre ihre Aufmerksamkeit gerichtet und zu erklären versucht, wie Erfinder sowohl Gegenstände entwickeln als auch Bedeutungsstrukturen prägen, die einen Rahmen vorgeben, in dem ihre Schöpfungen hergestellt und vertrieben werden: sie lösen nicht nur Probleme, sondern schaffen zugleich einen Rahmen für deren Existenz. So investieren Geschäfte mehr in ihre Verkaufs- und Werbeabteilungen, als in die tatsächliche Herstellung ihrer Produkte. Dadurch versuchen sie, einen Bedeutungskontext für ihre Produkte zu schaffen, so dass potenzielle Käuferinnen und Käufer auch gewillt und bestrebt sind, den neuen Gegenstand in ihre tägliche Arbeitsroutine und Organisation einzubinden. Schließlich kann eine Technologie nur dann dauerhaft existieren, wenn sie von Menschen wiederholt, erfolgreich und täglich angewandt wird. Die jüngere historische Forschung hat außerdem gezeigt, wie Benutzerinnen und Benutzer einer Technik nicht nur in deren Design projiziert wurden, sondern wie diese auch aktiv an deren Ausgestaltung teilhatten, indem sie sie unterwanderten, veränderten, modifizierten oder deren originären Bestimmungszweck geradeheraus ablehnten. Diese Forschung zeigt, dass Produzierende wie Konsumierende wichtige Akteure in der Formierung von Technologien sind. Kurz gesagt: Technologie ist nicht technisch, sondern sozial, da Erfinder und Unternehmer mit trial and error als Methode operieren mussten. In den 1890er Jahren agierten die Erfinder-Unternehmer der Generation Edison innerhalb eines männlich produktionistisch geprägten Rahmens, wenn sie neue Technologien auf den Weg brachten. Dementsprechend gelang es dem ansonsten so geschäftstüchtigen Thomas Edison nicht, aus seinem Kinetoskop eine erfolgreiche Filminnovation zu machen, weil er seine Erfindung als Mittel zur Lösung eines Geschäftsproblems konzipierte. Edison sah weiße männliche Geschäftsmänner als Zielgruppe seiner Innovation, und nicht junge urbane Frauen und migrantische Jugendliche auf der Suche nach Unterhaltung. Andere technologische Artefakte des frühen 20. Jahrhunderts litten unter demselben produktionistischen Bias. Schallplatten wurden zunächst als Mittel vermarktet, gesprochene Geschäftsbriefe zu ver203

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senden, und Radioproduzenten richteten ihre Aufmerksamkeit auf männliche Tüftler, die all ihrer Zeit darauf verwendeten, die unterschiedlichen Teile so aufeinander abzustimmen, dass sie Radiowellen empfangen konnten, anstatt Familien anzusprechen, die in den guten Stuben saßen und lauschten. Ein weiteres Beispiel wären die frühen Autohersteller, die auf den männlichen Konsumenten der Oberklasse zielten, der an Tempo und Autorennen interessiert war, oder auf den Farmer, der die Pferdestärken des Fahrzeuges schätzte, nicht aber auf die Frauen der Ober- und Mittelklassen, die sich mit ihren Autos auf den Weg zu einer Stippvisite bei Freundinnen begaben. Das treffendste Beispiel jedoch stammt aus der frühen Zeit der Telefone und Telegrafen. Deren Entwickler hatten Geschäftsmänner wie sie selbst im Auge, die mit Hilfe dieser Geräte kurze, zielgerichtete, effiziente Geschäftsgespräche führten, und keine soziale Kommunikation betrieben. Sie glaubten, dass Frauen das Telefon daheim nicht richtig benutzten, betrachteten deren Art des Telefonierens als Zeitverschwendung und sogar als Akt der Subversion. Erst nachdem die Versuche, die Formen weiblicher Aneignung des Telefons zu unterbinden, gescheitert waren, änderte man die Marketingstrategie. Jetzt begann man, die Telefongewohnheiten von Frauen sogar zu fördern und sie als einen Weg zu vermarkten, soziale Verbindungen herzustellen, um dann von diesen zu profitieren: Telefongesellschaften verdienten nicht mehr nur daran, dass sie die Verbindung für ein (geschäftliches) Gespräch herstellten, sondern sie begannen nun die Gebühren danach zu berechnen, wie lange das (soziale) Gespräch dauerte. Dies war für sie deutlich einträglicher, und das Telefon wurde sogar erst ab dem Moment ein finanzieller Erfolg, als die Geschäftsmänner den kommerziellen Wert weiblichen Telefon- und Sozialverhaltens anzuerkennen und dadurch die Bedeutung des Telefons zu verschieben begannen. Amerikanische Geschäftsmänner wie Historiker und Historikerinnen mussten gleichermaßen lernen, dass die neuen technischen Güter des 20. Jahrhunderts – Schallplatten, Telefone oder Autos – sich erst dann durchsetzten, als Frauen in ihre Konfiguration einbezogen wurden. Doch es sind nicht nur die Geschlechterstrukturen, die die Richtung und den Erfolg oder Misserfolg von Technologien bestimmen, sondern auch umgekehrt formen und stabilisieren Technologien die Geschlechterstrukturen. Die Geschichte von Rasierklinge oder Fahrrad vermag diesen Punkt zu illustrieren. Während der 1880er Jahre entwickelten Mechaniker die ersten Fahrräder als Machomaschinen, die Schnelligkeit, Gefahr und Abenteuer betonten und auf die Lebensentwürfe junger urbaner Männer aus gehobenen gesellschaftlichen Kreisen ausgerichtet waren, und nicht auf die von Frauen oder älteren Menschen. Nur durch Zufall „entdeckten“ frühe ErfinderUnternehmer einen neuen weiblichen Massenmarkt, als Fahrzeughersteller eine neue Art Fahrrad einführten für Kinder und Behinderte, das bestimm204

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ten Sicherheitsansprüchen genügte und aus dem Machofahrrad ein Produkt machte, das sich mit Erfolg an eine breite Mittelklasse und an Konsumentinnen verkaufen ließ. Dieses neue Fahrrad der 1890er, mit gleich großem Vorder- wie Hinterrad, aufgepumpten Reifen und niedrigem Einstieg, traf die Bedürfnisse von Frauen mit langen Röcken und schuf für sie zugleich eine neue Form der Bewegungsfreiheit. Technologien können also Geschlechterbeziehungen sowohl verändern als auch stabilisieren. Sie können diese auch auf die Spitze treiben. Dieses neue Fahrrad wurde nämlich zugleich zu einem überspitzt geschlechtlilch codierten Artefakt, indem es Männer dazu zwang, ihr Bein über eine hohe Mittelstange zu schwingen, während bei Damenrädern durch eine tiefe Mittelstange ein bequemer Einstieg möglich war. Diese Differenz hielt sich noch lange nachdem die sozialen oder kulturellen Notwendigkeiten dafür verschwunden waren. Es gab keinerlei technische Notwendigkeit für den unbequemen Einstieg des Herrenrades, und auch nachdem Frauen aufgehört hatten, lange Röcke zu tragen, die eine spezifische Bauweise des Rades nahe legten, blieb das Fahrrad weiterhin ein Artefakt, das Frauen wie Männer spezifische Geschlechterrollen aufführen ließ. Jedes Mal, wenn ein Mann sein Bein über den oberen Holm schwang und wenn eine Dame fein ihr Rad bestieg, führten beide Geschlechter ihre Zuschreibungen auf. Sie hielten sie am Leben und reproduzierten sie jedes Mal, wenn sie dieses Artefakt benutzten, auch wenn dies aus praktischer Perspektive sozial wie kulturell obsolet geworden war. Eine ähnliche Reproduktion und Stabilisierung von Geschlechterstereotypen wird evident, wenn wir uns die Geschichte der Rasierklinge anschauen. King Camp Gillettes Erfindung der Rasierklinge im Jahr 1903 führte zur Entwicklung von solchen Rasierapparaten, die es Männern ermöglichten, sich selber zu Hause zu rasieren und nicht unbedingt zum Barbier gehen zu müssen. Als einige Jahrzehnte darauf elektrische Rasiergeräte auf den Markt kamen und Frauen außerdem begannen, sich die Achselhöhlen und Beine zu rasieren, da die Mode nun größere Teile des weiblichen Körpers offen legte, begannen die Hersteller, zwischen Rasierapparaten für Frauen und Männer zu unterscheiden. In den USA war das Rasieren auch von rassischen Stereotypen getragen. Eine wahre weiße Schönheit zu sein, bedeutete, unbehaart zu sein. Nicht zuletzt galt im Kontext der zeitgenössischen rassischen Klassifizierungen Haarwuchs als Kennzeichen nicht-westlicher, nicht-weißer „Völker“. Als das Ideal des Unbehaartseins an Stärke gewann, begannen mehr und mehr Amerikanerinnen der Mittelklasse ihre Körperbehaarung von Armen, Beinen, Gesichtern, Achseln, Brüsten und Gesäßen zu entfernen. Während die ersten Versionen elektrischer Rasierapparate für Frauen noch Variationen des männlichen Modells waren, entwickelte der PhilipsKonzern in den 1950er Jahren den Ladyshave als grundsätzlich unter205

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schiedliches, nämlich kosmetisches Gerät. Geformt wie ein Lippenstift war das neueste Modell auch mit Parfum ausgestattet, das den öligen Maschinengeruch überlagerte. Das neue Design machte aus dem Rasierapparat ein Schönheitsinstrument, verdeckte sichtbare Schrauben und positionierte Frauen so als Konsumentinnen und als technisch inkompetent gleichermaßen. Zur selben Zeit entledigte man das männliche Modell seiner rundlichen, plastischen und hygienischen Assoziationen, machte es zu einem schwarzen, metallischen Werkzeug mit mehr Knöpfen und Reglern, die die Technik in dem Gerät sichtbar werden ließen, anstatt sie zu verbergen. Der moderne männliche Rasierapparat brachte damit die Idee zum Ausdruck, die die Soziologin Cynthia Cockburn mit den Worten umschrieb, „to feel technical competent is to feel manly.“ In einer Zeit, als die amerikanische Kultur zu einer Massenkonsumgesellschaft wurde, in der sich auch die Geschlechterrollen verschoben, stand viel auf dem Spiel, wenn man das männliche Sein als Produzent akzentuierte und den Konsumenten vernachlässigte. Hersteller im Amerika des 20. Jahrhunderts produzierten nicht nur Autos, Fahrräder und Rasierapparate, sondern auch Geschlechter. Gleichzeitig benutzten Konsumierende nicht nur geschlechtlich codierte Gegenstände, sondern sie re-produzierten auch ihr Geschlecht, indem sie sie benutzten. (Siehe insgesamt zu diesem Abschnitt Oldenziel 2001; Oudshoorn und Pinch 2003)

III.

Geschlecht und Technologie strukturieren

Die Politik des Arbeitsplatzes bietet ein reichhaltiges zweites Forschungsfeld, um zu erschließen, wie Männlichkeit und Technologie konstruiert wurden. Amerikanische Labor Historians von David Montgomery bis Stephen Meyers haben gezeigt, welche Bedeutung technologische Kenntnisse in der Aushandlung von Klassenbeziehungen in den Fabrikhallen hatten. Selten nur haben sie allerdings das Mannsein problematisiert, bis sich Ava Baron dieser Frage annahm. Seitdem hat die Labor History maßgeblich dazu beigetragen, das Verhältnis von Männlichkeit und Klassenformation zu durchdringen. Gleichwohl taucht in diesen Geschichten der Arbeit Technologie nur selten auf. Tiefgreifende Betrachtungen von Technologie wurden häufig Spezialisten überlassen, etwa Soziologen oder Technikhistorikern, die sich ausgiebig dem Ingenieurwesen oder großen technologischen Systemen gewidmet haben, aber leider nur wenig über Klassenrelationen oder Männlichkeitsformationen im Spiegel technologischer Entwicklungen zu sagen haben. Im Zuge des 20. Jahrhunderts wurden Ingenieure zu den Her-

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ren einer Domäne, die wir Technologie nennen, und zwar sowohl in ihrer intellektuellen wie ihrer materiellen Ausprägung. Professionelle Männer, wie Ingenieure und ihre Historiker, geraten gleichermaßen in Unruhe bei dem Gedanken, ihre Identität über das Konzept der „Arbeit“ zu generieren. Dabei ist es äußerst ergiebig, die traditionelle „Arbeitergeschichte“ und die Forschung über die Professionalisierung des Ingenieurseins zusammenzuführen, um die Relationen von Geschlecht, Männlichkeit und Technologie herauszustellen. Als die USA ab den 1890er Jahren begannen, über den eigenen Kontinent zu expandieren, wandelte sich das Ingenieurswesen von einer elitären Berufsform zu einer Massenbeschäftigung mit der höchsten Wachstumsrate aller Berufszweige und vielen spezialisierten Bereichen. Amerikanische Ingenieure wurden zum Stoßtrupp der Moderne, indem sie Eisenbahngleise tief in den Westen hinein bauten, auf den Grund der südafrikanischen Minen vorstießen oder in den Kellern von New Yorker Zeichenbüros und den Labors von General Electric arbeiteten. In Amerika wurde das Ingenieurswesen nicht zu einer abgeschlossenen Profession, die wie in Frankreich mit Wissenschaft assoziiert wurde, wo der Staat eine kleine Elite für Führungspositionen hervorbrachte. Ebenso wenig ähnelte die amerikanische der britischen Ingenieurskultur mit ihren vielen kleinen Firmen, Handwerkstraditionen, Arbeitervereinigungen und Verwandtschaftsnetzwerken. Stattdessen schlug das amerikanische Ingenieurwesen einen Weg ein, der zwischen dem britischen und dem französischen Modell lag: Eine Massenbeschäftigung für die Mittelklasse mit einer recht unspezifischen Professionalität und einer beinahe automatischen Abneigung gegen Arbeiterorganisationen. Verglichen mit Frankreich und Russland und seiner spezifischen, mit Staat und Militär verknüpften männlichen Kultur, war das Ingenieursein in Amerika eine relativ unbestimmte Angelegenheit. Neulingen aus den unteren Klassen und mit anderen ethnischen Hintergründen wurden die Türen geöffnet, so dass die Nachfrage einer sich rapide industrialisierenden Gesellschaft befriedigt werden konnte. In den USA gab es weder eine spezifische staatliche Behörde, noch eine berufsständische Organisation, die die entsprechende Zulassung von Ingenieuren entsprechend regulierte, so wie es in Frankreich oder in Deutschland der Fall war. Es gab auch kein bundesweit standardisiertes Bildungssystem, sondern ein buntes Durcheinander von Ausbildungsinstitutionen und Trainingsprogrammen. Anders als in anderen Ländern war amerikanisches Ingenieurwesen ein sehr breites und segmentiertes Berufsfeld, ohne exakte Bestimmung. Ingenieure arbeiteten überall, von Vorstandsetagen über Zeichenbüros und Werkhallen bis zu Chemielabors. Sie arbeiteten als Geschäftsführer, Manager, Designer, Konstrukteure, Außendienstmitarbeiter, Aufseher, technische Zeichner und Testtechniker. Wenige Ingenieure konnten von sich selber behaupten, sie seien Cheftech207

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niker oder Berater. Die meisten arbeiteten in schlecht beleuchteten, überfüllten und dreckigen Zeichenabteilungen, wo sie Pläne, Profile, Stahlstrukturen, Fabrikanlagen oder Bergbauexpertisen erstellten, überprüften, kopierten, beschrifteten oder bemaßen. Doch die vergleichsweise hohe Offenheit des Berufsfeldes hatte ihre Grenzen. Es mag dem amerikanischen Ingenieurswesen des 20. Jahrhunderts an Kohäsion und distinkter beruflicher Identität gefehlt haben, und es mag ihm an den klassischen Professionalisierungsmechanismen gemangelt haben, die in anderen Ländern existierten, wo über Zeugnisse und andere Formen der Begutachtung Grenzen gezogen und Klassenverhältnisse geprägt wurden. Weiterhin mag das amerikanische Ingenieurwesen zwar Söhnen von Immigranten offen gestanden haben, zugleich aber war und blieb es der am deutlichsten männlich dominierte Berufszweig. Gender und race waren die Mechanismen, die das Feld strukturierten und Ausschlüsse erzeugten, wenn class prekär und porös war. Berufsständische Organisationen, Bildungseinrichtungen, Regierungsprogramme und technische Firmen griffen häufig auf Mechanismen geschlechtlicher und rassischer Diskriminierung zurück, um die immer instabilen Grenzen zu erzeugen, aufrecht zu erhalten und zu reproduzieren. Weil Amerika ein Einwanderungsland und sozialer Aufstieg ein Gegenstand des nationalen Glaubens war, waren Klassengrenzen niemals starr, sondern immer durchlässig und verhandelbar. Nicht zuletzt daher war die Bewahrung dieser flexiblen Entität „Mittelklasse“ als weiß und männlich eine so bedeutende Angelegenheit. Und so unpräzise die Gruppe der Ingenieure auch bestimmt war, was ihre Mitglieder teilten, war der Glaube der Mittelklasse an den sozialen Aufstieg. Das Ingenieurswesen, als das größte und am schnellsten expandierende Berufsfeld der Mittelklasse, stand sogar im Zentrum dieses Konzeptes. Und Frauen wie Afroamerikaner waren die Objekte ihrer Abgrenzung. Auch wenn Frauen niemals mehr als 3% der Ingenieursjobs besetzten und niemals eine echte Bedrohung der männlichen Dominanz darstellten, funktionierten sie als Instrumente der Grenzziehung für Klassen- und Rassenbeziehungen. Wann immer Frauen Computerräume oder Arbeitsbereiche als Designerin, Hackerin oder Ingenieurin betraten, bedurfte es einer Erläuterung. Über Jahrzehnte hinweg berichteten, kommentierten und erklärten Zeitungen die vielen weiblichen „Firsts“. Immer wieder wurden Ingenieurinnen als große Nachricht präsentiert, so etwa Emily Roebling (18411902), die als Geschäftspartnerin ihres Gatten den Bau der New Yorker Brooklyn Bridge überwachte, während er eine zwanzig Jahre währende berufliche Identitätskrise durchlief. Das Gleiche gilt für Kate Gleason (18651933), die oft als erste Ingenieurin gehandelt wurde, obschon viele weniger bekannte Frauen zu dieser Zeit bereits in dem Bereich arbeiteten. Oder denken wir an die vielen Frauen, die während des Ersten und Zweiten Welt208

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kriegs im Ingenieursberuf tätig waren, als die Regierung Frauen als technisches Personal für die Kriegswirtschaft zu rekrutieren suchte. Von New York bis Kalifornien berichteten Fachjournale, Firmennachrichten und lokale Zeitungen über solche Frauen, die die Grenzen der männlichen Ingenieursdomäne überschritten, und oft gaben sie den Berichten einen lokalen Touch und unterstrichen das besondere Ereignis mit Fotografien. Die große Publizität von Ingenieurinnen und die weit überhöhte Aufmerksamkeit, die ihnen geschenkt wurde, verdeutlichte, wie sehr Amerikaner den Eintritt von Frauen in die technische Domäne nach wie vor als exotisches und seltsames Ausnahmeereignis wahrnahmen. Als sich während der 1910er Jahre eine wachsende Anzahl von Frauen in dem neuen Bereich der technischen Chemie spezialisierten, da tat zum Beispiel das neue American Institute of Chemical Engineering alles in seiner Macht stehende, um Frauen auf den Bereich der Chemie festzulegen. In dem Bemühen, sich selber von der chemischen Laborarbeit zu unterscheiden, die um 1900 eben oft von Frauen mit dramatisch sinkendem Status und Bezahlung geleistet wurde, betonten die Chemieingenieure als Schlüsselkompetenz ihres Berufes insbesondere, andere Männer managen zu können. Der Nestor der Chemieindustrie, Arthur D. Little, förderte Frauen als Chemikerinnen, achtete zugleich aber genauestens darauf, dass Ingenieure den jeweiligen Betrieben vorstanden, die Managerfunktionen erfüllten und die Arbeit koordinierten. Es gelang ihm, die Position des chemischen Ingenieurs mit den männlichen Codes der Maschinenhalle und der Managementkontrolle zu verbinden anstatt mit dem niedrigen Status des Chemielaboranten. Chemieingenieure der Mittelklasse übernahmen die männlichen Codes des Arbeitskampfes, und sie nutzten Frauen zur Abgrenzung. Dies wiederholte sich während des Zweiten Weltkrieges, als die US-Regierung entschied, solchen Frauen, die einen Hochschulabschluss im Bereich des Ingenieurwesens oder der Naturwissenschaften hatten, die Berufsbezeichnung engineering aide zu geben. So wurden sie Zeichenabteilungen und Labors zugewiesen, während Männer Jobs im Produktionssektor erhielten, die es ihnen ermöglichten, in Managementpositionen aufzusteigen. Die Aufteilung der Arbeit in einen technischen Labor- bzw. Zeichensektor auf der einen und einen Leitungssektor mit Kontrolle über Bau-, Entwicklungs- und Produktionsstätten auf der anderen Seite, wurde zur wichtigsten Trennlinie zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Weißen und Schwarzen im US-amerikanischen Ingenieurswesen. Handwerkliche Fertigkeiten mögen von Nutzen gewesen sein, doch Afroamerikanern sollte es niemals gelingen, sie mit dem hohen Status in Verbindung zu bringen, den die angewandten Wissenschaften und das Ingenieurswesen in den Händen ihrer weißen Gegenüber hatten. Der ehemalige Sklave Booker T. Washington, eine führende Kraft im afroamerikanischen Bildungswesen, griff 209

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auf eine Art Tarnung zurück, indem er das nützliche Handwerk anstelle des Ingenieurswesens propagierte, um die technische Erziehung von Afroamerikanern zu befördern. Im Gegensatz dazu betonte der jüngere Harvardabsolvent W.E.B. DuBois, wahre Befreiung bedinge, dass schwarze genauso wie weiße Amerikaner das Recht hätten, Shakespeare-Experten oder Ingenieure zu werden. Afroamerikaner aber vermieden es in der Regel, sich selbst als Ingenieure zu bezeichnen. Stattdessen tarnten sie Expertise in dieser Zeit des sich verschärfenden Rassismus der 1890er Jahre, indem sie sich selbst technician nannten. Doch der Kampf um Männlichkeit und technische Expertise wurde noch an diversen anderen Fronten geschlagen. Die geschlechtliche Strukturierung technischer Arbeit zwischen Produktionsstätte und Zeichenbüros war auf dieselben (Klassen-)Distinktionen ausgerichtet, durch die weiße männliche Ingenieure sich von denen abgrenzten, die sich nach oben gearbeitet hatten. Ingenieure aus der Mittelklasse wollten sich die Praktiken und die Bedeutung der Technologie am Arbeitsplatz aneignen. Dahingegen beanspruchten elitäre akademische Ingenieure Technologie als exklusiven Wissensbereich, wenn sie nach kulturellen Ressourcen suchten, ihre eigene Beschäftigung gegenüber Ärzten und Rechtsanwälten aufzuwerten. Die meisten Mitglieder an der Ingenieursbasis konnten mit einem Profilierungs- und Professionalisierungsbestreben dieser Art wenig anfangen, lebten sie doch in unablässiger Furcht vor Entmännlichung und sozialem Abstieg. Sie kämpften um den Erhalt ihres Klassenstatus, als sich das allgemeine Versprechen des sozialen Aufstiegs am Anfang des 20. Jahrhunderts in Luft aufzulösen schien, da das korporative Amerika wie auch die Regierung nicht mehr die Möglichkeiten des Aufstiegs boten und außerdem 1917 die Angst vor der Revolution umging. Der durchschnittliche Ingenieur sah sich selber nicht mit Anwälten und Ärzten im Wettkampf um Status und gesellschaftliches Ansehen, sondern mit gut ausgebildeten und oft auch gut bezahlten Arbeitern, die die Rückendeckung starker Gewerkschaften hatten. Diese hochqualifizierten Arbeiter waren darauf bedacht, ihre Kontrolle über Maschinen und ihre Autorität am Arbeitsplatz gegenüber dem Management zu verteidigen. Eine raue Arbeitermännlichkeit, mit ihrer Betonung auf Trinken, Fluchen und Ungehobeltsein in Verschränkung mit Autonomie und ganz spezifischen Fertigkeiten, definierte sich in Opposition zur männlichen Autorität des Managers und den Respektabilitätsidealen der Mittelklasse. Die Frage, wer den maschinellen Produktionsprozess kontrollierte und über das technische Wissen verfügte, das die Maschinen arbeiten ließ, stand im Zentrum der Kämpfe am Arbeitsplatz. Männer der bürgerlichen Mittelklasse, die im Management tätig waren, wurden gelehrt, ihre Männlichkeit in den glänzenden Ober210

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flächen fein aufeinander abgestimmter Maschinen zu finden, und dabei befanden sie sich im Kampf mit Vertretern der Arbeiterklassen. Diese Politik bzw. berufsbedingte Taktik zog ironischerweise eine Grenze zwischen ausführend technischer Expertise (Frauen, Afroamerikaner) und Management (Männer), das letztendlich mehr mit sozialen Prozessen und Kontrollmechanismen zu tun hatte, als mit technischem Wissen. Klasse und Rasse waren mithin essenziell in der Formierung eines Männlichkeitsentwurfes, der an die Mittelklassen, technische Kompetenz und Wissen gekoppelt war. (Siehe insgesamt für diesen Abschnitt Montgomery 1987; Meyer 1981; Baron 1991; Pursell 2005)

IV.

Lernen, ein Mann zu sein: „ B o ys a n d T h e i r T o ys “

Soziale Clubs und Regierungsprogramme sind ein dritter Bereich, in dem die wechselseitige Imprägnierung von Geschlechteridentität und Technologie beobachtet werden kann. Verschiedene soziale Akteure waren in Amerika daran beteiligt, die Rollen von Männern und die Bedeutung von Technologie zu formen. So war das Regierungsprogramm des Civilian Conservation Corps (CCC) während Franklin D. Roosevelts New Deal etwa darauf ausgerichtet, junge Männer vor den Abgründen der Arbeitslosigkeit zu schützen, indem man sie davor bewahrte, als transient drifters oder dependent sissies zu enden. Das CCC war auch ein männerbildendes Programm, das die körperliche Leistungsfähigkeit junger Männer mit einem grundlegenden technologischen Verständnis in Einklang zu bringen suchte, das es ihnen ermöglichte, solche Maschinen zu führen, die das US-Baugewerbe sowie die Produktionshallen prägten. Dort konnten junge amerikanische Männer lernen, erwachsene männliche Arbeiter und selbstständige Brotverdiener zu werden, indem sie technische Fertigkeiten entwickelten. Offizielle Fotografien zeigten diese Männer in ihrem körperlichen Heldentum mit freiem Oberkörper, während sie einfache Werkzeuge wie Hammer und Schaufel benutzten. Als sich das Programm wandelte und zu einem Teil der amerikanischen Kriegswirtschaft wurde, erschienen die jungen Männer in vollem militärischem Outfit. Die meisten Rekruten des CCC stammten aus der Arbeiterklasse, und so wurde ihnen nahe gelegt, entsprechende Fertigkeiten zur geschulten Bedienung mechanischer Technologien zu erwerben, aber es war völlig klar, dass sie niemals Erfinder werden oder auf andere Art und Weise die Richtung technologischer Entwicklung vorgeben sollten. Mit anderen Worten: Es gab eine Hierarchie im Status technischen Wissens, das in Klasse, Rasse und Geschlecht verankert war. Männer aus der Arbeiterklasse, Frauen und Afroamerikaner sollten Geräte benutzen können, wäh211

RUTH OLDENZIEL

rend die Männer der bürgerlichen Mittelklasse die Technologien und ihre Werkzeuge erzeugten, deren Gebrauch sie kontrollieren sollten. Während der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre startete die US-amerikanische Konzernwelt ihr eigenes Ausbildungsprogramm für heranwachsende Männer, von dem Mädchen und Afroamerikaner ausgeschlossen waren. Die Initiative kam auf, als Amerikas Expansion stockte, die Männlichkeit der Mittelklassen und die Chancen des sozialen Aufstiegs schwanden und man den Konsum in Zeiten ökonomischer Krise ankurbeln wollte. General Motors’ Fisher Body Craftsman’s Guild Contest vermittelte komplexe technische Fertigkeiten, die in scharfem Kontrast zu den CCCCamps der Bundesregierung standen. Der Autogigant General Motors war Amerikas größter Konzern, und als solcher rief er im Jahr 1931 einen bundesweiten Wettbewerb ins Leben, der Jungen dazu aufforderte, ein eher seltsames technisches Artefakt zu konstruieren: eine Pferdekutsche aus napoleonischer Zeit. Dies war eine arbeitsintensive und schwierige Aufgabe, die nur wenig mit den Anforderungen des Industriekapitalismus zu tun hatte. Im Gegenzug würde der junge Gewinner des Wettbewerbes ein Stipendium an einer Ingenieursschule erhalten. Eine solche Hervorhebung eines komplexen, technologischen und handwerklich orientierten Wissens und der produktionszentrierten Ethik barg zahlreiche Ironien. Immerhin war die Autoindustrie das Symbol der Massenproduktion in der aufkommenden Massenkonsumkultur schlechthin, die die Anforderung an die Qualifikation der Arbeiter deutliche senkte und zudem eher für die amerikanische Mittelklasse als für den europäischen Adel produzierte. Doch in einer aufkommenden Konsumgesellschaft, in der Männer auch als Konsumenten gefragt waren, war die Symbolik klar: Junge Männer der Mittelklasse sollten mit der Komplexität technologischer Fertigkeiten verknüpft werden, nicht mit ihrem Gebrauch oder Konsum. (Siehe insgesamt für diesen Abschnitt Horowitz 2001; Stieglitz 1999)

V.

Politik der Repräsentation

Viertens kann das wechselseitige Bedingungs- und Herstellungsverhältnis von Geschlecht und Technologie an Hand der Politik der Repräsentation vorgeführt werden. Ingenieure erzeugten Güter nicht nur, während sie an den Produktionsstätten, auf den Baustellen oder in den Laboratorien aktiv waren. Sie schufen auch ihre eigenen literarischen Produkte, indem sie ihre Autobiografien verfassten – ganz gleich, wie sehr es ihnen an der entsprechenden Fertigkeit mangelte. Als Amerika um die Wende zum 19. Jahrhundert sein imperiales Projekt startete, als sich Ingenieure qua Professionalisierung auf die Suche nach Strategien kulturellen Autoritätsgewinns begaben, 212

TECHNOLOGIE ALS MERKMAL AMERIKANISCH-BÜRGERLICHER MÄNNLICHKEIT

und als junge Ingenieure in Scharen die herrschenden beruflichen Standards in Frage stellten, da begannen zahlreiche Ingenieure einer älteren Generation, ihre Autobiografien zu schreiben, um an das vergangene Jahrhundert der Pioniere und des entstehenden US-amerikanischen Nationalstaats zu erinnern. Diese schreibenden Ingenieure konzentrierten sich auf die technischen Details der Bauprojekte, und weniger auf die Arbeiter, die sie an dieser historischen Wendemarke trafen, als sich das Ingenieurwesen in Segmente aufteilte und zu einer Massenprofession der Mittelklassen wurde. Viele der Autobiografen sagten in ihren Erinnerungen auch nichts über ihre Familien sowie die Menschen, mit denen sie täglich zusammenarbeiteten. Sie schlossen brüderliche Bande über die Köpfe von Immigranten und afroamerikanischen Arbeitern hinweg, und sie löschten Frauen und Menschen nicht-westlicher Herkunft aus ihrem Narrativ. Schlussendlich war die Markierung von Technologie als männliche Domäne im Wesentlichen die Folge intensiver kultureller und symbolträchtiger Arbeit, geleistet von Vertretern verschiedener Berufszweige, die sich im 19. Jahrhundert herausbildeten. In zunehmendem Maße prägten professionelle Künstler und Intellektuelle die US-amerikanische Kultur. Und um 1900 wählten modernistische Schriftsteller, bildende Künstler und Sozialwissenschaftler, die sich auf der Suche nach ihrer eigenen beruflichen Identität befanden, immer häufiger Ingenieure als ihre weißen männlichen Vorbilder. Angelsächsische viktorianische Schriftsteller, wie Richard Harding Davis oder Rudyard Kipling, verfassten Bestseller, die der Figur und der Identität des männlichen weißen Ingenieurs zu größerer Verbreitung verhalfen, indem sie den Ingenieurhelden als Mann der bürgerlichen Mittelklasse und festen Bestandteil amerikanischer Expansion präsentierten. In ihren Geschichten knüpften die Schriftsteller enge Bande mit dem Ingenieurswesen, indem sie ihren männlichen Ingenieurshelden in scharfen Gegensatz zur viktorianischen Weiblichkeit positionierten. Dies war kein Zufall, schließlich markierten Schriftstellerei und Kunst ein Berufsfeld, in dem (unverheiratete) Frauen mit guter Erziehung und Bildung ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Als diese Frauen begannen, sich dort auszubreiten und so manche gar eine weibliche Dominanz fürchteten, avancierte dieses Feld zu einem umkämpften Terrain der Geschlechterordnung und -repräsentation. Bei ihrer Suche nach einer eigenen beruflichen männlichen Identität bauten populäre männliche Schriftsteller, wie Harding Davis oder Kipling, Ingenieure zu modernen männlichen Helden auf. Diese spezifisch weiße, klassenbasierte und geschlechtlich strukturierte Ingenieursidentität stand während der Dekaden der frühen US-amerikanischen Überseeexpansion im Wettbewerb mit weiblichen Berufsentwürfen aus dem Bereich der Kunst. Die Antwort kam von spätviktorianischen Kolleginnen 213

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wie Mary Hallock Foote und Willia Cather. Sie verdienten als Schriftstellerinnen ihren Lebensunterhalt, und sie forderten unmittelbar die Verbindung zwischen Ingenieurswesen und männlicher Autorschaft heraus, indem sie die antithetische Konzeption des Ingenieurs zu weiblichen Berufsmodellen in Frage stellten. Sie formulierten eine eigene weibliche Kultur, und so ermächtigten sich diese Frauen erstens als Schriftstellerinnen, verhärteten andererseits aber auch die dichotomische Konzeption einer männlich technischen und einer weiblich künstlerischen Welt. Eine modernistische Generation jüngerer Künstler und Schriftsteller, die sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg herauszubilden begann, festigte die Bestimmung von Technologie als männlich. Als sich die USA auf den Krieg vorbereiteten, begannen moderne Künstler und Schriftsteller, die scharfen Trennlinien in der männlich-viktorianischen Ikonografie der technischen Welt zu karikieren. Mit beißender Ironie und Übertreibung benutzte zum Beispiel Paul Haviland sexualisierte Maschinenmetaphern, um viktorianische Geschlechterkonzepte weiter zu dehnen und die Suche nach modernen Entwürfen voranzutreiben. Haviland und andere Vertreter seines modernistischen New Yorker Kreises flirteten auch mit harter manueller Arbeit und der Arbeiterklasse, indem sie sich mit dem Blaumann identifizierten. Einige Frauen, wie die Schriftstellerin Mina Loy oder die Malerin Frances Simpson Stevens, eigneten sich diese so männlich dominierte Maschinenwelt offensiv an, aber innerhalb der damaligen kulturellen Hierarchien mussten selbst solche Frauen, die die Grenzen überschritten, anders mit den Machtstrukturen zurechtkommen als ihre männlichen Gegenüber. Trotz aller ironischer Wendungen, und auch wenn sie die bürgerliche moralische Ordnung in Frage stellten, trugen moderne Künstler, wie die Dadaisten Marcel Duchamp, Francis Picabia oder Haviland, letztlich doch dazu bei, die männliche Ikonografie technischer Objekte eher zu bestärken, als zu unterwandern. Ihre grafische, oft sexuell wie geschlechtlich explizite Sprache und Bildersprache stellte eine Verbindung zwischen Männern und mechanischen Dingen im Amerika der Zwischenkriegsjahre her. Außerdem verknüpften sie die neue bildliche Sprache mit der aufstrebenden Kraft Amerikas zu einer Zeit, als sich Europa in zwei Weltkriegen aufrieb. Dies war die erste Generation, die der Verbindung von Maschinen, Männern und Amerika derart grafisch Ausdruck verlieh. In der amerikanischen Sprache zeigt sich die Verbindung von Ingenieuren und Männlichkeit als zentrales Kennzeichen von Technologie im Begriff technology selbst. Obgleich US-amerikanische Historiker und Historikerinnen den zeitgenössischen Begriff der useful arts und den modernen Begriff der technology wie selbstverständlich synonym be214

TECHNOLOGIE ALS MERKMAL AMERIKANISCH-BÜRGERLICHER MÄNNLICHKEIT

nutzen, ist der Begriff technology ein Neologismus, der eine analytische Kategorie eröffnet und nicht auf Handlungsweisen bezogen ist. Doch die Verschiebung der Terminologie von dem the useful arts des 19. Jahrhunderts zu dem scholastischen technology des 20. Jahrhunderts markierte eine profunde materielle wie linguistische Transformation in der amerikanischen Geschichte. Wie jung die modernen Bedeutungen des Technologiebegriffes sind, lässt sich vielleicht am trefflichsten aufzeigen, wenn wir den entsprechenden Eintrag in der Encyclopedia Britannica anschauen. Die Encyclopedia Britannica, die trotz ihres altehrwürdigen Namens ein durch und durch amerikanisches Unterfangen ist, seit Sears Roebuck 1911 den Verlag gekauft hat, verzeichnete erstmals in ihrer 15. Auflage von 1978 einen Eintrag „technology“. Dieser Eintrag versicherte, dass Technologie die exklusive Wissensdomäne von Ingenieuren ist, die am besten von Maschinen als Maß des Menschlich-Männlichen verkörpert wird. Die Autoren benutzten den Technologiebegriff, um das menschliche Wesen selbst zu beschreiben. Dabei umfasste „technology“ ein ganzes System von Menschen, Maßnahmen, Prozessen und Artefakten und repräsentierte die Idee, dass der Mensch im Wesentlichen ein Homo Faber ist, ein Produzent von Gütern. „Technology“, schloss der älteste Eintrag einer englischsprachigen Enzyklopädie, „is any means or activity by which man seeks to change or manipulate his environment.“ Wie verführerisch diese Metapher auch sein mag, so ist die Vorstellung des „menschlichen Machers“ (Homo Faber) ein mächtiges intellektuelles Konstrukt, das entsprechend diejenigen Erfahrungen und materiellen Praktiken ausschließt, die sich nicht in die Metapher fügen. Aussagekräftig ist auch, dass der 1978er Eintrag an die Stelle eines älteren Artikels über Engineering Schools rückte, der die Herausbildung amerikanischer Eliteinstitutionen wie des Massachusetts Institute of Technology beschrieb, die auf der Suche nach neuartigen Wissensformationen Ausnahmen darstellten, die auf Technologie anstelle eher erfahrungsorientierter, informeller, aus der Praxis generierter und impliziter Kenntnisse setzten. Schon in den 1830er Jahren hatten Vorkämpfer eines formalisierten, wissenschaftsbasierten Ingenieurswesens, so wie der Erzieher und Physiker Jacob Bigelow, darum gekämpft, den Begriff als Banner eines neuen Wissensfeldes zu befördern, und zwar sowohl gegenüber akademischen Wissensformen auf der einen als auch gegenüber erfahrungsbasierten, aus der praktischen Arbeit generierten, technischen Wissensformen auf der anderen Seite. Allerdings war der Begriff so wenig in Gebrauch, dass das Bemühen, ihn in das amerikanische Wörterbuch Webster einzuführen, später im 19. Jahrhundert aufgegeben wurde.

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Nach einem Jahrhundert gescheiterter Anstrengungen hielt der Begriff „technology“ dann doch in das amerikanische (und bezeichnenderweise nicht in das britische) Englisch Einzug, und zwar als ein Schlüsselbegriff US-amerikanischer Kultur der 1930er Jahre. Er wandelte sich dann in ein allumfassendes Konzept, das das menschliche Leben selbst zu erklären versprach und eine sinnvolle Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse zum Besten der Menschheit beschrieb. Ingenieure waren als die einzigen Träger dieser Wissensform definiert. Der Aufstieg des Be-griffes zum Schlüsselbegriff US-amerikanischer Kultur begann bezeichnenderweise erst, nachdem Frauen und Afroamerikaner seine Repräsentation akademischer Formen technischen Wissens, seine Verkörperung einer Maschinenästhetik und seine Verbindung mit Dingen, die fortgeschrittene westliche Männer tun, in Frage gestellt hatten. Frauenrechtlerinnen des 19. Jahrhunderts protestierten gegen den neuen Diskurs in dem immer bedeutenderen Feld des Industriekapitalismus, inklusive des amerikanischen Patentamtes oder der amerikanischen Segmente auf den internationalen Großausstellungen des 19. Jahrhunderts. Von der radikalen Theoretikerin Joslyn Gage bis zur konservativen Schriftstellerin Ida M. Tarbell kämpften amerikanische Frauen gegen die sich herausbildende Geschichte, die insbesondere technische Erfindungen als männlich festschrieb, als der Industriekapitalismus auf Hochtouren kam. Sie schöpften all ihre Möglichkeiten aus, um den Erfindungsreichtum der Frauen in dieses Narrativ einzubinden, und sie protestierten gegen eine Männergeschichte, die von Erfindungen als exklusiv männlicher Domäne und als Ehrenmedaille moderner Männlichkeit berichtete und entsprechend weibliches technisches Wissen ausklammerte. Um 1900 begannen weibliche Aktivitäten des Haubenmachens, Nähens, Brotbackens und Ähnliches in den modernen Klassifikationssystemen technischer Aktivitäten nach unten geschoben zu werden. Wer oder was als wahres Kennzeichen von Technologie gelten durfte, blieb aber auch nach 1900 umstritten. Einige Dekaden später argumentierte die US-Historikerin Mary Ritter Beard, dass Frauen niemals nur Zuschauerinnen der Geschichte, sondern vielmehr eine bildende Kraft mitten in deren Zentrum gewesen seien. Beard erachtete es als ihre Lebensaufgabe, solche Frauen vor der Vergessenheit zu bewahren, die als Erfinderinnen, Ingenieurinnen oder Stadtplanerinnen gearbeitet, Abwassersysteme überwacht, Häuser geplant oder andere öffentliche Arbeiten geleistet hatten. Sie verlangte auch, Frauen einen angemessenen Platz im modernen Kanon des Wissens von den Archiven bis zu den Enzyklopädien zukommen zu lassen, indem sie etwa in den 1930er Jahren ein World Center for Women’s Archives vorantrieb und in den 1940er 216

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Jahren die Encyclopedia Britannica drängte, „the story of woman’s original creativeness as inventor of the industries, arts, and as the first farmer“ aufzunehmen. Schlussendlich lehnten die Herausgeber der Britannica ihre bedeutenden Vorschläge ab, obgleich Beard offen für Veränderungen war. Der Eintrag in der Britannica des Jahres 1978 verdeckte zuvorderst Auseinandersetzungen dieser Art, während er die Rolle des Ingenieurs in neutral klingenden Tönen hervorhob. Wie wir sehen konnten, hatte sich das amerikanische Ingenieurswesen zu einer Angelegenheit gemausert, die ganz wesentlich der weißen Mittelklasse vorbehalten war, gebunden an Formen mittelständischen Managements und weniger an technische Expertise und Fertigkeiten. Der Begriff „Technologie“ hätte im 20. Jahrhundert zu einem äußerst umfassenden Sammelkonzept werden können, doch im 19. Jahrhundert hatte er nur wenig Zustimmung und Verbreitung im amerikanischen Alltag gefunden. In den 1930er Jahren aber wandelte sich Technologie von einem wenig definierten, wenig gebrauchten und engen Konzept der englischen Sprache zu einem Schlüsselbegriff der amerikanischen Kultur – ein durch und durch idiomatischer und machtvoller Ausdruck amerikanischer Stärke, der hinsichtlich von race, class, and gender ein scheinbar neutrales Bedeutungsgeflecht wiedergab, das allerdings nur auf Kosten des Ausschlusses anderer geknüpft wurde. In erster Linie drängte der Eintrag der Britannica die technischen Fertigkeiten und die entsprechenden Kenntnisse von Arbeitern, Frauen und Minderheiten an den Rand. Als Amerika als globale Macht die Weltbühne betrat, entwickelte sich Technologie zu einem machtvollen Symbol männlicher, moderner und westlicher Stärke, die Maschinen wie Computer, Autos, Brücken, Bahnen und Flugzeuge zu Maßstäben des Männlichen machte, von denen Frauen ausgeschlossen waren. Im Zuge dieses Wandels wurden auch Gegenstände wie das Korsett, ein technisch kompliziertes Artefakt, in die Unterwelten moderner Klassifikationssysteme der Technologie verbannt. In diesem Narrativ bildeten Frauen, wenn sie als Ingenieurinnen und Erfinderinnen auf der Bildfläche erschienen, die deae ex machina, also die Göttinnen, deren Leben wesentlich neben der Bühne stattfand, die aus dem Nichts zu kommen schienen und deren Plots an anderer Stelle entworfen worden waren. Der Begriff der Technologie und seine Inhalte, wie sie Fürsprecher des Ingenieurwesens im 19. Jahrhundert entwickelt hatten, wurde von gewöhnlichen Amerikanern fallen gelassen, um dann in den 1920er Jahren von Sozialwissenschaftlern gerettet und weiter theoretisiert zu werden und erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitergehende Verbreitung zu erfahren. Zu

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RUTH OLDENZIEL

diesem Zeitpunkt war er zu einem Schlagwort für alles Moderne, Männliche und Amerikanische geworden. (Siehe insgesamt für diesen Abschnitt Oldenziel 1999; Scott 1999) Deutsche Übersetzung von Jürgen Martschukat

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5. D AS F R Ü H E 20. J AH R H U N D E R T

Film, Vorbilder und männliche Sozialisation in den 1930er Jahren OLAF STIEGLITZ

I. Im Mai 1931 kam es in New York City zu einem Schusswechsel zwischen der Polizei und Francis „Two Gun“ Crowley, einem 19-jährigen Doppelmörder. Von Crowley erfuhr man später, es sei „the new sensation of the films“ gewesen, die ihn zu seinem kriminellen Leben inspiriert habe. Nur einen Monat darauf starb auf der gegenüber liegenden Seite des Hudson River, in Montclair, New Jersey, der 12-jährige Winslow Elliott an den Folgen einer Schussverletzung, die ihm ein 16-jähriger Freund versehentlich zugefügt hatte. Die beiden Jungen hätten, so die Presse, Szenen aus The Secret Six nachgespielt, einem der Kriminalfilme der Saison. (Maltby 2001, S. 117)1 Diese beiden Ereignisse sowie der sich anschließende Medienrummel markierten so etwas wie den Höhepunkt einer damals bereits seit einigen Jahren anhaltenden, sehr emotionalen Debatte in den Vereinigten Staaten, die um den Einfluss des Hollywood Kinos auf die amerikanische Jugend geführt wurde. Diese Kontroverse begleitete das Medium Film bereits seit seinen ersten Tagen, und sie verlief in Bahnen, die sich historisch mit jeder neuen populärkulturell einflussreichen Technologie zu wiederholen scheinen. (Springhall 1998) Gegenwärtig sind es Gewaltdarstellungen im Fernsehen, im Internet und vor allem in Videospielen, die Elternverbände und Kulturwächter auf den Plan rufen und in der 1

Siehe auch The New York Times, 8. Mai 1931, 29. Mai 1931 und 26. Juni 1931.

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OLAF STIEGLITZ

sozialwissenschaftlichen Forschung kontrovers hinsichtlich ihres Einflusses auf das Verhalten und insbesondere die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen diskutiert werden. (Zusammenfassend Barker und Petley 1997; Carter und Weaver 2003) Dabei stellt die Frage, inwieweit das in den Medien repräsentierte gewalttätige Verhalten bei den jugendlichen Konsumentinnen und Konsumenten zur konkreten Nachahmung des Gesehenen anregt, ein Leitmotiv der Auseinandersetzung dar. Während die Medien einen solchen mimetischen Effekt oft kritiklos postulieren und auch scheinbare Beispiele für solch Besorgnis erregendes copycat Verhalten offerieren, artikulieren sozialwissenschaftliche Studien häufig Zurückhaltung und verweisen auf ein multikausales Geflecht von Einflüssen. (Rafter 2000, S. 65ff.) Dieser Aufsatz will kein Beitrag zu dieser andauernden Debatte sein. Vielmehr soll gezeigt werden, inwieweit derlei Kontroversen geschlechterhistorisch aufschlussreich sein können. Es soll verdeutlicht werden, wie in den USA der 1920er und 1930er Jahre gesellschaftlich verbreitete Annahmen von Lern- und Nachahmungseffekten bei männlichen Jugendlichen, ausgelöst durch das Medium Film, wechselseitig mit historisch spezifischen Ideen über männliches Verhalten und die „richtige“ Geschlechtersozialisation verknüpft waren. Zu diesem Zweck wird der Aufsatz als erstes in einem historischen Längsschnitt zeigen, wie Vorstellungen von Entwicklung und Wandel in den USA stets in einem geschlechtlich strukturierten Rahmen artikuliert wurden und welche Rolle dabei die Anrufung bedeutsamer, männlicher Vorbilder spielte. Anschließend wird, ebenfalls in gebotener Kürze, dargestellt, welche Funktion Theorien von Beeinflussbarkeit und Verhaltensimitation bei der Erklärung von Jugendlichkeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatten. Dies mündet, drittens, in eine Auseinandersetzung mit der lebhaften Debatte um den Einfluss von Hollywood Filmen auf Jugendliche allgemein und junge Männer im Besonderen, die schon vor den „Roaring Twenties“ begann und ihren Höhepunkt schließlich zwischen 1930 und 1932 erreichte, als eine Reihe populärer Kriminalfilme wie Little Caesar, The Public Enemy und Scarface die Kinosäle füllten und zugleich eine besorgte Öffentlichkeit mobilisierten. Schließlich wird dieser Beitrag viertens beleuchten, wie Hollywood selbst mit seinen ureigensten Mitteln, nämlich mit Spielfilmen, in die Kontroverse eingriff. Dazu werden zwei bedeutsame Produktionen aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre analysiert werden, Dead End und Angels with Dirty Faces, die beide die gesellschaftlich aufgeworfenen Fragen nach jugendlichmännlicher Gewalt, geschlechtsspezifischer Sozialisation sowie der Bedeutung positiver wie negativer Vorbilder aufgriffen und sich an ihnen abarbeiteten. Mit der Analyse dieser social problem films kann veran222

FILM, VORBILDER UND MÄNNLICHE SOZIALISATION

schaulicht werden, wie Spielfilme einerseits als Spiegel gesellschaftlicher Debatten funktionieren, sie darüber hinaus zugleich aber auch als Produzenten tiefer liegender Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster auftreten.2 In beiden Filmen wurden unterschiedliche Vorbilder für differente Männlichkeitsentwürfe verwandt, welche sozial- und kulturhistorisch wertvolle Hinweise für die Konstruktion von Geschlecht offenlegen. Damit wird nicht allein die Uneinheitlichkeit und Fragilität dessen angedeutet, was Mannsein historisch bedeuten kann, sondern darüber hinaus wird auch gezeigt, wie differente Entwürfe männlicher Geschlechtlichkeit „ausgewählt“ und „getragen“ werden konnten. Die feministische Filmtheorie legte eines ihrer Hauptaugenmerke auf die politischen und ideologischen Implikationen der Darstellung von Geschlechterverhältnissen in Filmen und unterstrich dabei, wie sehr als „natürlich“ angenommene Auffassungs- und Denkweisen gesellschaftlich konstruiert und somit historisch wandelbar sind. Diese Forschung hätte sich jedoch, so jedenfalls die These Steven Cohans und Ina Rae Harks, lange zu sehr auf die Untersuchung von Weiblichkeiten konzentriert. (Cohan und Hark 1993) Dabei seien zwar bedeutende Erkenntnisse gewonnen worden, die jedoch mit dem Festhalten an der Illusion eines stabilen Männerbildes einen ungewünschten Nebeneffekt hatten. Erst in den letzten Jahren sind eine Reihe solcher Studien entstanden, die sich Männlichkeitsrepräsentationen im Kino zuwenden, wobei der Blick inzwischen auch häufiger auf Jugendliche und damit auf Fragen der Sozialisation, Generationalität und dem Transfer von geschlechtlich codierter Macht gerichtet ist. (Vgl. Pomerance und Gateward 2005) Die meisten dieser Studien beschäftigen sich jedoch primär mit neueren und neuesten Filmen, in denen die Darstellung von Männlichkeiten bereits durch die Frauen- bzw. Schwulen- und Lesbenbewegungen einerseits sowie durch die Theoriedebatten andererseits beeinflusst sind. (Kirkham und Thumim 1993) Einige Autorinnen und Autoren haben diesen Rahmen historisch erweitert und sich insbesondere dem Kino der 1950er Jahre zugewandt (Cohan 1997; Corber 1993; Bruzzi 2005), während ausdrücklich geschlechterhistorische Arbeiten zu Männlichkeiten und Film vor dem Zweiten Weltkrieg noch eher rar sind. (LaSalle 2002) Der folgende Beitrag will einerseits die entsprechenden Debatten zusammenfassen und andererseits die vorhandene Lücke zu schließen helfen. 2

Filme werden hier als Teil des damaligen Geschlechterdiskurses begriffen und damit gleichzeitig als Orte, wo dieser Diskurs in seinem notwendig mehrfach relationalen Bezug auf andere Zusammenhänge produziert worden ist und sich die Effekte dieser Aushandlungsprozesse im Vorgang der Rezeption durch die KinobesucherInnen gesellschaftlich entfalten konnten.

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II. Im Verlauf der amerikanischen Geschichte haben Eltern, Politiker, Sprecher aus Religion und Bildung sowie junge Menschen selbst immer wieder über die Bedeutung der Übergangsperiode zwischen Kindheit und Erwachsenenalter debattiert. (Vgl. Stieglitz 2003, S. 7-9; Carroll 2003b und Richardson, S. 65-68) Die Ansichten waren dabei stets von wirkungsmächtigen, wenn auch changierenden Geschlechterideen getragen. Dabei wurden Jungen und unverheiratete Männer einerseits wegen der ihnen zugeschriebenen Kraft und Vitalität als Garanten einer auch zukünftig starken Nation gefeiert. Zugleich wurde ihnen aber auch eine Neigung zu Rebellion und anti-sozialem Verhalten vorgeworfen. Schon in der Kolonialzeit brachten soziale wie kulturelle Krisenwahrnehmungen einen immer wieder reproduzierten Diskurs hervor, der die jüngere Generation mit Verantwortlichkeiten für den Erhalt bzw. die Weiterentwicklung der Gemeinschaftsideale betraute. Wie Glenn Wallach gezeigt hat, spielten Geschlechtervorstellungen in diesem Diskurs eine wesentliche Rolle. (Wallach 1997) Nach der Revolution war das republikanische Ideal von Staatsbürgerschaft männlich bestimmt: „Tretet in die Fußspuren der glorreichen Gründer, haltet den Kurs, reicht das starke Erbe unbeschädigt weiter“, lautete die Botschaft an die Jugend. (Kann 1998, 1999)3 Inwieweit dieser Elite- bzw. später Mittelklassediskurs tatsächlich mit der Lebenswelt junger Männer korrespondierte, zumal wenn sie aus unterbürgerlichen Klassen stammten oder Afroamerikaner waren, ist bislang nur unzureichend erforscht. Seine Wirkung als idealisiertes Leitbild darf allerdings nicht unterschätzt werden. Wie in der jüngeren Forschung deutlich wurde, nutzten Autoren von Ratgeberliteratur – etwa Sylvester Graham oder William Alcott – sowie Eltern und Erzieher neben einer stark religiösen Sprache auch regelmäßig die Ausstrahlung weltlicher Vorbilder, um ihre männlichen Zöglinge anzuleiten. Es waren die Gründerväter der Republik, die immer wieder herangezogen wurden; und vor allem Benjamin Franklins Autobiografie mit ihren detaillierten Handlungsanweisungen und dreizehn Tugenden für ein erfolgreiches und charaktervolles Leben erfüllte hier ihren Zweck. (Vgl. Traister 2003, S. 175-176) Daneben boten in den Jahrzehnten zwischen Revolution und Bürgerkrieg vor allem der enge familiäre Zusammenhang und die Institution des handwerklichen apprenticeship Vorbilder aus dem unmittelbaren Umfeld der jungen Männer, nämlich Väter und Meister. (Zur Rolle des apprenticeship als Institution männlicher Sozialisation 3

Siehe auch den Beitrag von Jürgen Martschukat in diesem Band.

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FILM, VORBILDER UND MÄNNLICHE SOZIALISATION

vgl. Baron 1990, S. 152-163, 256-261) Der Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865 schließlich und die Idee einer zweiten nationalen Geburt erhoben die kriegsführende Generation an die Seite der Revolutionäre des späten 18. Jahrhunderts. Beschleunigte Industrialisierung, Urbanisierung und andere parallele Entwicklungen veränderten schließlich die Rede über Jugend, und differente Modelle erfolgreicher Männlichkeit traten in das Blickfeld. Prominente Beispiele finden sich etwa in den zahlreichen rags-to-riches Romanen, die Horatio Alger für sein jugendliches Publikum publizierte und in denen zumeist ein erfolgreicher erwachsener Mentor seinem Schützling als Ersatzvater und Vorbild in der urbanen Umgebung des Gilded Age diente. (Nackenoff 1994) In ihrer Auswertung so genannter success manuals der Dekaden vor der Jahrhundertwende konnte Judy Hilkey zeigen, dass die Autoren dieser Bücher gleichfalls bevorzugt auf berühmte role models aus Politik, Militär und vor allem Wirtschaft zurückgriffen, um das Streben nach Erfolg als männliches Ideal in breiteren Bevölkerungsschichten zu etablieren. (Hilkey 1997) Doch jenseits solch normativer Entwürfe sahen diese Jahre auch einen sozialhistorischen Wandel in der Lebenswelt junger Amerikanerinnen und Amerikaner, der einen neuen Expertendiskurs hervorbrachte.

III. Jugendlichkeit war ein neues Phänomen an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert, das eine Reihe geschlechtlicher Annahmen in sich trug. Die zunehmend urbanere und auf Lohnarbeit basierende Wirtschaftsweise der Vereinigten Staaten in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg förderte die Konzentration jugendlicher Erfahrungen auf die altershomogene peer group und ließ somit so etwas wie Jugendlichkeit als eigenen Lebensabschnitt erst sichtbar werden. In diesem Prozess, in dem die Familie sowie andere traditionelle Orte geschlechtsspezifischer Charakterbildung an Einfluss verloren, erlangte ein Expertendiskurs an Relevanz, der durch die zunehmende Etablierung oder Ausformung alterstrukturierter Institutionen wie Schulen und Jugendorganisation zusätzlich verstärkt wurde. (Kett 1977, v.a. S. 243) Während die Spezialisierung der Industriearbeit und die Einführung von Gesetzen zur Schulpflicht in nahezu allen Bundesstaaten das Eintrittsalter von Kindern der Arbeiterklasse in die Berufswelt hinauszögerten, verlangten die Anforderungen und Chancen der neuen white collar-Berufe auch eine längere und qualitativ höherwertige Ausbildung für die Mittelschicht. Der ehemals frühe und vergleichsweise eindeutige Über-gang von der Kindheit zur Erwachsenenwelt verzögerte sich dadurch 225

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für immer weitere Teile der Bevölkerung. Eine Koalition zum Teil recht unterschiedlicher Expertengruppen versuchte, dieser Reklassifizierung der Altersstruktur einen Sinn zu verleihen. Reformbegeisterte Philanthropen und JugendarbeiterInnen, die Schulbürokratie und die Psychologie, PädagogInnen und Eltern – sie alle entdeckten um 1900 den Jugendlichen als ein lohnenswertes Objekt ihrer Überlegungen. (Kett 1997, S. 216-217) Eine der zentralen Stimmen in diesem Diskurs gehörte dem Psychologen G. Stanley Hall (1844-1924), dessen Ideen eine ganze Generation von Expertinnen und Experten beeinflussen sollten.4 In dem Bereich der organisierten Kinder- und Jugendgruppen etwa fielen Halls Gedanken auf fruchtbaren Boden. Die bekanntesten dieser Organisationen, die Young Men’s Christian Association (YMCA) und die Boy Scouts of America, tragen bereits in ihren Namen eine Konzentration auf männliche Kinder und Jugendliche in sich, weshalb die erwachsenen Funktionäre und Leiter dieser Verbände, meist Mitglieder der angloamerikanischen, protestantischen Mittelschicht, als boy workers bekannt wurden. (Macleod 1983; Hantover 1980, S. 285-301; Putney 2001) Es waren nicht zuletzt die Bemühungen dieser Gruppen, welche der zeitgenössisch weit verbreiteten Sorge einer zunehmenden Feminisierung (und somit womöglich Existenz bedrohenden Schwächung) der amerikanischen Gesellschaft mit einem ausdrücklichen Erziehungs- und Sozialisationsauftrag begegneten.5 Nicht wenige HistorikerInnen haben die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert unter der Prämisse einer „Männlichkeitskrise“ untersucht und den Boy Scouts sowie ähnlichen Gruppierungen eine bedeutsame Funktion dabei zugesprochen, dieser angeblichen Krisenhaftigkeit mit Blick auf zukünftige Generationen zu begegnen. (Vgl. zum Krisenbegriff Martschukat und Stieglitz 2005, S. 81-90) Dabei spielte der Vorbildcharakter der Ausbilder, Trainer oder Gruppenleiter gegenüber ihrem jungen Klientel eine explizit wichtige Rolle. Hall arbeitete in seinem Standardwerk aber auch an einem Konzept von jugendlichem Verhalten, das sich aus der Nachahmung und Übernahme vorgefundener Muster und Vorbilder ergab: Every peculiarity is mimicked, and parodied, whether of phraseology, manner, or mood. Every youth has a more or less developed stock of phrases, acts, and postures, expressive of mimetic love, anger, fear, many occupations or vocations of infancy and old age, of the other sex, and he is plastic and suggestible

4

5

G. Stanley Hall 1969, Adolescence: Its Psychology and its Relations to Anthropology, Sociology, Sex, Crime, Religion, and Education. 2 Bde., New York (erstmals 1905). Zu Hall und seinen Krisenwahrnehmungen siehe das entsprechende Kapitel in Bederman 1995, S. 77-120.

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to an amazing degree to everything of this kind in his environment. He catches the idiosyncrasies, accents, and inflections of teachers and fellow pupils, and reenacts incidents; a little older, he is bemastered by the style of great authors he has read, and is an adept at dialect and the personation of national types. (Hall 1969, S. 316)

Es sind mehrere verschiedene, indes zusammenhängende Aspekte, die in den nächsten Jahrzehnten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss im pädagogischen Diskurs entfalten sollten. Als erstes ist hier der Gedanke zu nennen, es bei Jugendlichen mit formbarer Masse zu tun zu haben. Die plasticity of young minds oder, wie es die Sozialreformerin Jane Addams formulierte, ihre „imprecionable minds“,6 barg sowohl Gefahren wie auch Chancen. Denn dadurch wurde zweitens der sozialen Umwelt des Jugendlichen eine bedeutende Rolle beigemessen, und sie vermochte sowohl in eine positive wie negative Richtung zu beeinflussen. Junge Menschen, so die Annahme, seien also durch Umwelteinflüsse prägbar, und dieser Zusammenhang äußere sich nicht zuletzt in mimetischem Verhalten: Kinder und Jugendliche kopieren das, was ihnen täglich begegnet. Der Gedanke, dass dieser mimetische Einfluss durch Beispielhaftigkeit und Vorbilder sowohl im positiven wie im negativen Sinne gelenkt werden könne, stellt den beinahe logischen Abschluss dieser Gedankenkette dar. Diese Überlegungen von boy workers und anderen „Praktikern“ wie Addams korrespondierten mit allgemeinen Trends in den neuen, sich nun in einer gesellschaftlichen Leitfunktion durchsetzenden Sozialwissenschaften. So entstanden zu dieser Zeit die Vorläufer dessen, was heute als Rollentheorie in Soziologie, Psychologie oder Anthropologie bekannt ist. (Biddle 2000)7 Wissenschaftler wie Ralph Linton, George Herbert Mead und Jacob Moreno verglichen dabei soziales Verhalten mit dem Theater. Imitation, so das Argument, habe eine wichtige Funktion beim Erlernen „richtigen“ Rollenverhaltens inne. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Entdeckung der Jugendlichkeit an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert einen dichten Diskurs hervorbrachte, der Umweltprägung, Beeinflussbarkeit und Nachahmung sowohl in sozialpädagogisch-praktischer wie sozialwissenschaftlicher Logik als zentrale Konzepte zur Charakterisierung und Einschätzung jugendlichen Verhaltens etablierte. Dies geschah im Zusammenhang mit der verbreiteten Diagnose einer krisenhaften amerikanischen Männlichkeit in einer zumeist impliziten, bisweilen aber auch 6 7

Jane Addams 1930, The Spirit of Youth and the City Streets. New York (erstmals 1909), S. 79. Ihren eigentlichen Durchbruch hatte die Rollentheorie freilich erst später durch die Publikationen Talcott Parsons.

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expliziten, Geschlechterrhetorik, welche die Sorge um den jungen Mann mit der Sorge um die Zukunft der Nation verknüpfte. In der Auseinandersetzung mit dem Medium Film entfaltete dieser Diskurs seine größte Wirkungsmacht.

IV. Wenn Erwachsene die Voraussetzungen für das Verhalten Jugendlicher einschätzten, so hatten sie nicht selten ein wachsames Auge auf die Unterhaltungsindustrie. Gerade in den USA der Jahre zwischen 1900 und der Weltwirtschaftskrise, als kommerzialisiertes Entertainment sich rasch zu einem klassenübergreifenden Massenphänomen entwickelte, wurden urbane Vergnügungsgeschäfte für die angebliche moralische Korruption der Jugend verantwortlich gemacht. (Kasson 1978; Peiss 1986; Ross 1998) Der Kinobesuch gehörte schon bald zu den beliebtesten Gewohnheiten vieler Kinder und Jugendlicher in den Städten. Die Darstellungen von Sexualität und Gewalt in den Programmen wurden zu einem breit und ausführlich diskutierten Komplex, dessen Vermengung mit einer beobachteten Kommerzialisierung von Freizeitverhalten als besonders problematisch empfunden wurde. (Modell 1989, S. 73-74) Die Debatte über die Einflüsse von Filmen auf ihr Publikum und vor allem auf Kinder und Jugendliche ist so alt wie das Medium Kino selbst. Mehr noch, seit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA aus dem Jahre 1915 waren Spielfilme nicht durch den Verfassungszusatz über die Redefreiheit geschützt – ein Urteil, das Filmzensur für die nächsten fast vierzig Jahre möglich machte. (Jowett 1989; Sklar 1975, S. 127-128) Anders als Gedrucktes, so die Urteilsbegründung, sei das Medium Film an sich (und nicht allein der Inhalt eines einzelnen Films) „capable of evil“. (Gunning 2004, S. 22) Des weiteren verwies die Entscheidung des Gerichts ausdrücklich auf die besondere Zusammensetzung des Kinopublikums, in dem Frauen und Kinder der arbeitenden Klassen, mithin vornehmlich ImmigrantInnen, in der Mehrheit seien, und deren Beeinflussbarkeit sei aufgrund ihres geringen Bildungsstands und ihrer biologischen Unreife besonders hoch. Dies sowie der Vorführsaal als Ort seiner Präsentation – dunkel, bequem und verführerisch – trügen entscheidend zur Gefährlichkeit des neuen Mediums bei.8 Ein wesentlicher Aspekt der Zensurkontroverse war von Beginn an die Frage, ob es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Dar8

So z.B. Hugo Münsterberg 1916, The Photoplay: A Psychological Study, New York (repr. New York 1970); vgl. auch Addams, Spirit of Youth, S. 86.

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stellung von Gewalt und Kriminalität in Filmen und dem angenommenen Anstieg jugendlicher Straftaten in den Städten gebe. Und diese jungen Verbrecher, so hatten erste soziologische Studien argumentiert, waren zumeist männlichen Geschlechts.9 In zahllosen Veröffentlichungen während der 1920er Jahre, in Büchern, Artikeln und Kommissionsberichten war die Rede von den Filmen als crime schools allgegenwärtig. Reverend William H. Short, ein langjähriger und mit missionarischem Eifer ausgestatteter Verfechter eines „sauberen“ Kinos, dokumentierte 1928 die Debatte um den schädlichen Einfluss des Kinos in einem fast vierhundert Seiten starken Buch.10 Darin sind sich die meisten angeführten Experten einig, „I do not think, I know that criminals are made in the picture houses“,11 wird ein Gefängnisoffizieller aus dem Jahre 1915 zitiert, und knapp eine Dekade später heißt es in einem anderen Kontext: It is no longer necessary to say their influence is evil. It is a self-evident fact which we find in the schools, in the home, in the penal institutions, in the correctional institutions, in the church life; in even our government statistics we find our students of crime saying that some eighty to ninety per cent. [sic] of crime is due to the impressions received in the motion pictures.12

Das diesen und anderen Aussagen zugrundeliegende erkenntnistheoretische Modell orientiert sich an den dominanten Vorgaben popularisierter Pädagogik und Sozialwissenschaft und beschreibt das Verständnis eines Films als einen eindimensionalen Prozess der Wahrnehmung von Realität und ihrer bewussten Nachahmung. Obwohl die Formulierungen dabei selten explizit nach Geschlechtern unterscheiden, macht allein schon die Gliederung von Shorts Sammlung die Trennung zwischen männlichen und weiblichen Zuschreibungen von Kriminalität deutlich. Zwar ist im Kapitel „Movies and Child Delinquency“ das (männliche) Geschlecht der Jugendlichen oft nur zwischen den Zeilen auszumachen, doch es wird zweifelsfrei deutlich, dass die vorgebrachten Expertenstimmen sich auf männlich codierte Merkmale und Verhaltensweisen beziehen, etwa dort, wo eine Verbindung zwischen Delinquenz und Abenteuerlust gezogen wird.13

9 10 11 12 13

J. Adams Puffer 1927, The Boy and His Gang, Cambridge 1912; Frederic M. Trasher, The Gang. A Study of 1,313 Gangs in Chicago, Chicago. William H. Short 1928, A Generation of Motion Pictures. A Review of Social Values in Recreational Films, New York (repr. New York 1978). Report of Pennsylvania State Board of Censors for 1915; zitiert nach Short 1928, S. 199. Beitrag auf einer Konferenz in Chicago im Februar 1926; zitiert nach Short 1928, S. 153. Vgl. etwa Short 1928, S. 41.

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Dagegen richtet sich der Blick auf Mädchen und junge Frauen vor allem auf sexual delinquency als weibliches Vergehen. Obwohl der Filmhistoriker Robert Sklar die Sammlung Shorts ob ihrer augenscheinlichen Parteilichkeit als unbrauchbar verurteilt hat, kann ihr zeitgenössischer Einfluss durchaus als nennenswert eingeschätzt werden; die zusammengetragenen Zitate tauchen auch noch Jahre später in ähnlichen Texten auf.14 Der Reverend selbst war sich der entscheidenden Schwäche seines Werks bewusst. Zwar war die Fülle der gesammelten Expertenstimmen groß, doch es fehlten schlicht „harte“ Daten.15 Die Ergebnisse der modernen Sozialwissenschaften mit ihren Statistiken und methodisch hergeleiteten Belegen waren in öffentlichen Debatten derart wichtig geworden, dass ohne ihren ausdrücklichen Beitrag keine im Sinne Shorts erfolgversprechende Änderung der Kinopolitik zu erwarten war. Entsprechend wurde Short zur entscheidenden Person bei der Planung und Realisierung der so genannten Payne Fund Studien. (Jowett, Jarvie und Fuller 1996; Spring 1992, S. 58ff.) Zwischen 1929 und 1932 untersuchten Psychologen, Soziologen und Pädagogen die Bedeutung von Spielfilmen für Kinder und Jugendliche und publizierten ihre Ergebnisse in einer Serie separater Darstellungen. Neben statistischem Material zur Häufigkeit und Dauer von Kinobesuchen unter Jugendlichen, beschrieben diese Studien zum Beispiel, welche physischen Reaktionen Jugendliche während und nach Filmvorführungen gezeigt hatten. Neben diesen Laboruntersuchungen wurden aber auch Feldstudien in urbanen Zentren durchgeführt. Im Zusammenhang mit Jugendkriminalität sind vor allem die beiden Bände Herbert Blumers bedeutsam, eines Schülers von George Herbert Mead und Soziologen an der damals in diesem Fach führenden Universität von Chicago.16 Seine Arbeiten basieren auf Interviews und so genannten movie autobiographies, kurzen, nach festgelegten Regeln verfassten Ego-Texten von Jugendlichen, zumeist Insassen von Jugendgefängnissen. (Zentral Jowett/Jarvie/Fuller 1996, S. 15ff., S. 133-216)17 Im Großen und Ganzen bestätig14 Vgl. etwa John R. Rice 1938, What is Wrong with the Movies? 10. Auflage, Grand Rapids, MI. 15 Short 1928, 69-70. 16 Herbert Blumer 1933, Movies and Conduct, New York; sowie ders. und Philip Hauser 1933, Movies, Delinquency, and Crime, New York. 17 Eine weitere zentrale Studie zu dieser Frage mit dem sprechenden Titel „Boys, Movies, and City Streets“, von Paul G. Cressey und Frederic M. Trasher, ist zwar niemals veröffentlicht worden, sollte aber trotzdem immense Bedeutung erlangen, weil sie in den popularisierenden Darstellungen mitberücksichtigt wurde. Siehe Jowett 1996, Jarvie u. Fuller, S. 125ff., dort findet sich auch der Abdruck einer Entwurffassung, S. 133216.

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ten die Studien die im Diskurs dominanten Vorannahmen, was FilmhistorikerInnen zumeist ihrem Auftragscharakter und der Finanzierung durch die Kreise um William Short und dem konservativen Payne Study and Experimental Fund zuschreiben. (Sklar 1975, S. 135ff.; Spring 1992, S. 58ff.) Die Payne Fund Studien sorgten allerdings vor allem dadurch für eine Dynamisierung des Diskurses, dass ihnen eine populäre Zusammenfassung für ein breites Lesepublikum an die Seite gestellt wurde. Verfasst von Henry James Forman, einem Journalisten, wurde Our Movie Made Children zwischen 1933 und 1935 sieben Mal aufgelegt und avancierte zu der Referenz für alle diejenigen, die eine fundamentale Reform der Filminhalte anstrebten.18 Forman hatte keine Bedenken, die komplexen Ergebnisse der sehr unterschiedlichen Einzelstudien in einfache und vor allem eindeutige Formulierungen zu übersetzen, die an der Evidenz eines fundamentalen und schier katastrophalen Einflusses der Filmindustrie auf junge Menschen keinen Zweifel mehr ließen. Die Payne Fund Studien hatten erstmals in dieser Deutlichkeit auch auf Geschlechterunterschiede in diesem Feld geachtet. Wenn Blumer und Philip Hauser etwa darlegen, wie sehr sich die Jugendlichen selbst der negativen Vorbildfunktion Hollywoods bewusst seien und wie das impersonating und copying des in den Filmen Gesehenen vonstatten ging, dann war dies stets eindeutig auf junge Männer bezogen. Weibliche Delinquenz und ihr Verhältnis zu Filmen wird in eigenen, deutlich knapperen Kapiteln behandelt und bezieht sich dann beinahe ausschließlich auf Sexualität.19 Forman verfährt genau so, dadurch offenbart sich der Bezug auf Männlichkeitsvorstellungen in besonderer Schärfe. Er beginnt seine Schilderung mit der hinreichend eingeführten und eingängigen Metapher der Schule: „Quite definitely emerges the fact that the movies are a school, a system of education virtually unlimited, untrammelled and uncontrolled.“20 Ausgehend von der Aussage, „the boy of [the] community can with ease identify himself with the character portrayed,“ sind die nachfolgenden Seiten mit aus ihrem Zusammenhang herausgelösten Belegen aus den verschieden Studien gespickt.21 18 Henry James Forman 1933, Our Movie Made Children, New York. Dies war nicht die einzige popularisierende Darstellung der Payne Fund Studien, siehe z.B. auch Arthur Kellogg (1933), Minds Made by the Movies, in: Survey Graphic 22,5, S. 245-250, 287, 290. 19 Wobei allerdings dem Aspekt der Imitation des Gesehenen gleichfalls eine wichtige Rolle zugesprochen wird und die Zuschreibung hoher weiblicher Emotionalität zusätzlich bedeutsam ist; vgl. Blumer und Hauser 1933, S. 80-112. 20 Forman 1933, S. 179. 21 Forman 1933, S. 187.

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In ihrer Charakterisierung des angenommenen Zusammenhangs von Kriminalität und jugendlicher Männlichkeit lassen sich bei Forman und den anderen Autoren drei Argumentationsstränge ausmachen: erstens das Verhalten junger Männer innerhalb homosozialer Gruppen, also namentlich der Bande; zweitens eine Betonung der emotionalen wie materiellen Reize eines kriminellen Lebens sowie deren Zurschaustellung nach außen; und schließlich drittens das konkrete Erlernen bestimmter krimineller Handlungsweisen und Techniken. Mit Blick auf den ersten Aspekt tritt nun auch der männliche Filmstar selbst als role model in Erscheinung. Die Denunziation von Hollywoodschauspielern ob ihrer angeblichen Charakterlosigkeit und mangelhaften Moral gehörte stets zum Repertoire der Befürworter einer strengen Filmzensur.22 Den bekannten Darstellern der Kriminalfilme wurde wegen ihrer immensen Popularität (und ihren augenscheinlich überzeugenden schauspielerischen Leistungen) eine besonders unmittelbare und nachhaltige Wirkung als Negativvorbild vorgeworfen: In a single group of twenty boys in their teens, thirteen declared that they preferred gangster pictures to all others and ten of the twenty were observed to imitate Cagney in dress and mannerism on the ground that he was ‚tougher‘ (on the screen) than Edward G. Robinson. They absorbed even the language of the films in which their heroes appear. Phrases like ‚You can dish it out but you can’t take it,‘ from Robinson’s dialogue in ‚Little Caeser“ [sic] regularly entered into their speech. Almost all of those in this group used Cagney’s friendly ‚One, two‘ punch to the rib, chin and shoulder. They imitated his little jig, his big Cagney swagger. They smiled like Cagney and even wore spearhead shirts like Cagney.23

Sprache, Kleidung und Gesten fanden mithin nach Ansicht der Autoren ihren Weg von der Leinwand über die Stars als Vorbilder in die exklusiv männliche Welt der Jugendbanden. (Maltby 2005) Zahlreiche Belege sollen diese Erkenntnis untermauern. Hierbei fällt zum einen die regelmäßige Benutzung von Attributen einer rauen Unterklassenmännlichkeit auf, die auf Aggression und Gewaltbereitschaft basiere: „In one penal institution twenty-six per cent of the inmates answered that pictures taught them to act ‚tough,‘ or to act like a ‚big guy.‘ They call it, some of them, feeling ‚brave‘!“24 Es ist diese Prädisposition der jungen Män22 „Character is the important thing in influence over people, and the character of screen stars is sadly lacking in the qualities that make them fit to be the teachers, examples, associates, and ideals of our young people,“ heißt es etwa bei Rice 1938, S. 23. 23 Forman 1933, S. 265. 24 Forman 1933, S. 189.

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ner durch soziale Herkunft und Umwelteinflüsse, die das Manipulationspotenzial dieser Filme fatal zur Entfaltung bringe: „A smouldering flame is fed and encouraged.“25 Die hierarchische Binnenstruktur der Bande, oft in den Filmen portraitiert, biete schließlich den idealen Rahmen dazu, Aggression und Gewaltbereitschaft umzusetzen. Alles in allem sei es der Wunsch nach raschem Aufstieg an die Spitze der Hierarchie innerhalb der Bande, der viele junge Straftäter antreibe. Forman zitiert einen Jugendlichen: „They would all bow down to him and give him the dough that was taken from different rackets. When I would see pictures like this I would go wild and say that some day I would be a Big Shot that everybody would be afraid of, and have big dough.“26 „Big dough“ – der Ausspruch verweist bereits in den zweiten wesentlichen Argumentationsrahmen, in den die Autoren der Payne Fund Studien ihren Männlichkeitsentwurf stellen. Das große Geld, der Ruhm und Luxus sowie die Macht über unterlegene Männer und Frauen ließen den kriminellen Mann aus seinen rein homosozialen Bezügen heraustreten. In den Worten des bereits oben von Forman zitierten Jugendlichen heißt es: „I would see the ‚Big Shot‘ come in a cabaret. Everyone would greet him with a smile. The girls would all crowd around him. He would order wine and food for the girls. Tip the waiter $ 50.00 or more. After dining and dancing he would give the girls diamond bracelets, rings and fur coats.“27 Es ist mithin die Repräsentation sozialen Aufstiegs, verbunden mit Anerkennung sowie materieller wie sexueller Gratifikation, die in den Augen der Payne Fund Autoren die Vorbildfunktion der Kinogangster weiter steigert. Hier lag freilich eine besondere Gefahr der Kriminalfilme. Wie der Filmhistoriker Jonathan Munby zeigen konnte, war es eben die Einbindung dieses Genres in die ethnischen Millieus der amerikanischen Metropolen sowie deren offenkundige Analogie zu Vorstellungen vom American Dream, die seinen Erfolg mitbegründete. (Munby 1999) Einen dritten Aspekt devianter Sozialisation in Kriminalfilmen sahen die Autoren darin, dass Jugendliche in ihnen konkrete Handlungsanweisungen und Techniken zur „erfolgreichen“ Durchführung von Straftaten fänden. Die Beherrschung von „handwerklichen“ Fähigkeiten zur befriedigenden Ausführung von Arbeiten sind bereits in anderen Zusammenhängen als konstituierende Merkmale in Geschlechterdiskursen angesprochen worden. (Horowitz 2001) Auch die filmkritische Diskussion der frühen 1930er Jahre verweist nachdrücklich auf diesen Punkt. Der 25 Forman 1933, S. 195. 26 Forman 1933, S. 188. 27 Forman 1933, S. 188.

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„richtige“ Gebrauch von Waffen, der gekonnte Einsatz von Werkzeugen an Türen und Fenstern sowie nicht zuletzt der Einblick in die Methoden der Polizei – hier wurde die crime school der Filme offenkundig: „‚I learned from the movies,‘ as one young reformatory bird puts it tersely, ‚the scientific way of pulling jobs.‘“28 Blumer und Hauser offerieren eine Liste mit etwa 30 verschiedenen crime techniques, und die dokumentierten Textbelege sollten verdeutlichen, dass viele der befragten jungen Männer die Beherrschung solcher Techniken aus Filmen abgeschaut hatten. Diese technischen Kompetenzen seien indes nicht allein Mittel zum Zweck eines „erfolgreichen“ Raubs oder Einbruchs, sondern steigerten darüber hinaus auch die Bedeutung des Betreffenden innerhalb der Gruppe, mithin seine Position in der Männerhierarchie.29 Mit Veröffentlichung der Payne Fund Studien und nicht zuletzt durch ihre Popularisierung wurde nicht allein die Debatte um den Einfluss des Kinos auf junge Menschen intensiviert. Mit ihnen wurde darüber hinaus auch die bis dahin nur indirekt thematisierte Geschlechterdimension dieser Kontroverse deutlicher konturiert. Namentlich die Frage, ob nicht zuletzt durch die Gewaltdarstellung in den Filmen eine antisoziale Generation junger Männer heranwächst, wurde nun vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftkrise breit diskutiert. (Stieglitz 2001)

V. Hollywood und die Verantwortlichen der amerikanischen Filmindustrie reagierten in vielfacher Weise auf die Auseinandersetzung um die Darstellung von Gewalt und Unmoral in ihren Produkten. Hier ist an erster Stelle die verschärfte Durchsetzung des so genannten Production Codes zu nennen. Dieses Instrument der Selbstzensur wurde bereits in den zwanziger Jahren eingeführt und beinhaltete eine ausführliche und detaillierte Liste mit nicht-präsentablen Themen und Inhalten, wobei unter anderem auch explizit auf die Gefahr möglicher Nachahmung des Gezeigten verwiesen wurde.30 Aber erst nach der Veröffentlichung der Payne Fund Studien und der beinahe gleichzeitigen Kampagne der katholischen Legion of Decency, und somit auch nach der Welle der Krimis um Little Caesar von 1930 bis 1932, setzte William H. Hays, Vorsitzender der Motion Pictures Produ28 Blumer und Hauser 1933, S. 33. 29 Blumer und Hauser 1933, S. 63-68. 30 Der Production Code existiert in einer Vielzahl von verschiedenen Textvarianten, ich beziehe mich hier auf den Abdruck einer Fassung aus dem Jahr 1930 in Martin Quigley 1937, Decency in Motion Pictures, New York, S. 52-70, hier v.a. S. 66.

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cers and Distributers Association und in dieser Funktion für die Selbstzensur der Industrie zuständig, eine rigide Anwendung der Zensurbestimmungen durch. (Spring 1992, S. 33ff; Maltby 2001; Black 1994) Die Filmstudios versuchten ein Gegengewicht zu bilden, und sie griffen direkt in die publizistische Debatte ein. 1936 erschien eine von der Industrie geförderte Sammlung von kinofreundlichen Stellungnahmen bekannter Persönlichkeiten.31 Der seinerzeit wohl bekannteste Experte in Fragen der Jugendkriminalität, Richter Ben B. Lindsey, stellte in seinem Beitrag einen allzu direkten Einfluss der Filme auf Jugendliche klar in Frage.32 Als eine weitere Konsequenz änderte sich das Genre der Kriminalfilme nach 1932 dahingehend, dass nun der Kriminelle nicht mehr als heroischer Individualist, sondern als soziales Problem dargestellt wurde, das in einer krisenhaften Gesellschaft wurzele. (Roffman und Purdy 1981, S. 135-144; Bergman 1971, S. 149-165; Shadoian 2003) In einer Welle von Filmen wurde dieser „sozialkritische“ Ansatz durch die Einbeziehung jugendlicher Straftäter zugespitzt, die als Produkte einer Negativumwelt dargestellt wurden. War die Großstadt bis dahin nur Kulisse für Gangster-Plots, wurde nun das Wohnviertel als Nährboden für Kriminalität entdeckt. Ihren Höhepunkt, sowohl bei der Filmkritik als auch an den Kinokassen, erreichte diese Welle dann mit Dead End33 und Angels with Dirty Faces.34 Dead End gilt als eine der sozial engagiertesten Hollywoodproduktionen dieser Zeit. In seiner Darstellung konzentriert sich der Film auf einen einzigen Tag in einer einzigen Straße in New Yorks Lower East Side, und er versucht zu zeigen, wie deren BewohnerInnen von dieser Umwelt geprägt sind. Tommy (Billy Halop) ist Anführer einer Jugendgang, die immer wieder in Konflikt mit der Macht gerät. Das Leben der jungen Männer besteht aus „sinnlosen“ Beschäftigungen wie Raufereien oder Glücksspiel, aber auch aus weniger unschuldigen Aktivitäten. So 31 William J. Perlman (Hg.)1936, The Movies on Trial. The Views and Opinions of Outstanding Personalities Anent Screen Entertainment Past and Present, New York. 32 Ben B. Lindsey, The Movies and Juvenile Delinquency, in: Perlman (Hg.) 1936, S. 50-63. 33 Dead End. Erstaufführung August 1937, Produziert von Samuel Goldwyn unter der Regie von William Wyler. Drehbuch von Lillian Hellman nach dem Theaterstück von Sidney Kingsley. Cast: Sylvia Sidney, Joel McCrea, Humphrey Bogart und die Dead End Kids: Billy Halop, Bobby Jordan, Leo Gorcey, Bernard Punsley, Gabriel Dell und Huntz Hall. 34 Angels with Dirty Faces. Erstaufführung November 1938. Produziert von Warner Bros. unter der Regie von Michael Curtiz. Drehbuch von John Wexley u. Warren Duff nach einer Story von Rowland Brown. Cast: James Cagney, Pat O’Brien, Ann Sheridan, Humphrey Bogart und die Dead End Kids (s.o.).

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verletzt Tommy während einer Auseinandersetzung einen einflussreichen Mann mit einem Messer, muss fliehen, wird aber zum Ende des Films gefasst und dem Jugendgericht überstellt. Tommy und den übrigen Dead End Kids werden zwei unterschiedliche Vorbilder angeboten. Dave (Joel McCrea), in derselben Nachbarschaft aufgewachsen, ist ein arbeitsloser Architekt, der von einer humaneren Stadtplanung und einem ehrlichen, arbeitsamen Weg aus der Armut träumt. Dave ist das moralische Zentrum des Films, ein zorniger Utopist mit Mitgefühl und Verständnis für die Jungen, die ihn an seine eigene Kindheit erinnern. In einem Dialog mit Drina (Sylvia Sidney), Tommys älterer Schwester, fragt er: What chance have they got against all this? They got to fight for a place to play, fight for the likes of something to eat, fight for everything. They got used to fighting. ‚Enemies of Society‘, it says in the papers. Why not? What have they got to be so friendly about?35

Das gegenteilige role model ist „Baby Face“ Martin (Humphrey Bogart), ein „berühmter“ Gangster, der im gleichen Slum aufwuchs und zurückkehrte, um seine alte Mutter und seine Ex-Geliebte wiederzusehen. Doch dieser Besuch in seiner Vergangenheit gerät zur Enttäuschung: Die Mutter wendet sich von ihrem kriminellen Sohn ab, und aus der Jugendliebe des Mörders ist eine Prostituierte geworden. Schließlich will „Baby Face“ diese Rückschläge durch die Entführung des Sohns eines Millionärs kompensieren. Im Verlauf dieser Aktion wird er von Dave im Kampf getötet. Doch das Ende bleibt offen: Dead End schließt mit Tommys Inhaftierung wegen Körperverletzung. Eine Lösung der sozialen Spannungen kann der Film nicht anbieten. Dead End war ein riesiger Erfolg. Zudem geriet das erstmalige Auftreten der Dead End Kids, deren Darstellung der Bande als sehr realistisch eingeschätzt wurde, zu einer Sensation, und eine ganze Reihe von ähnlich angelegten Filmen versuchte auf dieser Welle mitzureiten. (Sklar 1992, S. 71ff., 84ff.) Der bekannteste und wohl auch beste dieser Art ist Angels with Dirty Faces. Im Zentrum steht erneut eine Bande junger Männer, die aus Zeitvertreib in kleinere Gaunereien verstrickt ist. Wieder bietet ihnen ihre Umwelt unterschiedliche Modelle für ihre Zukunft: Diesmal sind es die zwei ehemaligen Jugend- und Bandenfreunde, der Priester Father Jerry Connolly (Pat O’Brien) und Rocky Sullivan (James Cagney), der Gangster, den sich die Bandenmitglieder wie selbstverständlich zum Vorbild nehmen. Alle Bemühungen des Geistlichen, den Jugendlichen moralische Werte mit auf den Lebensweg zu ge35 Dead End, 00:57.

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ben, scheitern kläglich, bis er zu einem Medienkreuzzug gegen das Netz des organisierten Verbrechens in der Stadt aufbricht, in dem Rocky Sullivan eine Größe darstellt. Am Ende muss sich Rocky in einem Lagerhaus der übermächtigen Waffengewalt der Polizei ergeben. Zum Tode verurteilt stirbt er auf dem elektrischen Stuhl, und die Jugendlichen geben ihr kriminelles Leben auf. Beide Filme sind auf vielfache Weise in den Diskurs um Kino, Kriminalität und Männlichkeit eingebunden; sie nahmen Elemente auf, verarbeiteten sie und formulierten so wiederum neue Aussagen, die wirkungsmächtig Eingang in kulturelle Sinngebungsprozesse fanden. Hier ist an erster Stelle die offensive Zurschaustellung von Vorbildern selbst anzusprechen. Zahlreiche Autorinnen und Autoren hatten in ihren Kommentaren die Filmindustrie immer wieder aufgefordert, „bessere“, edukative Filme zu produzieren. Edgar Dale etwa, ein weiteres Mitglied der Payne Fund Gruppe, hatte in diesem Zusammenhang explizit die Präsentation positiver role models gefordert.36 Die dichotome Gegenüberstellung von Vorbildpaaren sowohl in Dead End als auch in Angels kann als Antwort hierauf verstanden werden, vor allem wenn man sich die simplistischen Annahmen über das „learning by seeing“ dieser Zeit vor Augen führt. Dabei ist interessant, wie der Vorbildcharakter der vier betreffenden Personen eingeführt wird. Es dominiert jeweils zunächst die negative Variante, was besonders prägnant in Szenen zum Ausdruck gebracht wird, in denen die antagonistischen Figuren aufeinanderprallen. Dead End zeigt Dave als Opfer der Häme „Baby Face“ Martins: „Six years o’ workin’ at college and all you get out of it is handouts. That’s a good one. I’m glad I ain’t like you saps. Starvin’ and freezin’. For what? Peanuts! I got mine. I took it.“37 Das erste Treffen der beiden etabliert zwei unterschiedliche Entwürfe von Männlichkeit. Dabei werden die Pole abgesteckt: gut und böse, anständig und verdorben. Oder: rough masculinity vs. noble masculinity. Dave wird über den ganzen Film hinweg große Mühe aufwenden müssen, um diese negative Konfrontation zu kompensieren. Nur unwesentlich später in der Geschichte spielt eine weitere Szene mit der Attraktivität und dem Erfolg von Martin als Vorbild für die Jugendlichen. Nachdem die Jungen von einer rivalisierenden Bande zum Kampf herausgefordert wurden, erklärt er ihnen nicht nur seine Regeln des Fairplay im Bandenkampf, sondern unterweist sie auch in not-

36 Vgl. Edgar Dale 1933, The Content of Motion Pictures, New York; siehe auch Kellogg 1933, S. 247. 37 Dead End, 00:14 – 00:18.

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wendigem Knowhow beim Umgang mit dem Messer. Währenddessen muss Dave hilflos zusehen.38 Auch Rocky Sullivan, in Angels, wird beim Publikum auf eine Art eingeführt, die ihn eindeutig als gefährliches Negativvorbild markiert und dabei Versatzstücke des filmkritischen Diskurses aufgreift: Sein Erfolg und seine selbstbewusste Aura etablieren eine beinahe natürliche Autorität gegenüber den Jugendlichen, wohingegen die Bemühungen des Priesters zunächst beinahe lächerlich erscheinen. Schließlich bringt dieser die Vorbildrolle Rocky Sullivans prägnant zum Ausdruck: „The hoodlum and the gangster is looked up to with the same respect as the successful businessman and the popular hero ... Don‘t encourage them to admire you.“39 Zwar endet Dead End nicht völlig glücklich, doch der Tod Martins bedeutet zumindest den Verlust des Negatividols – das jedoch für einige der Jugendlichen auch nach der Ermordung wirkungsmächtig bleiben kann. Rocky Sullivans Demontage in Angels ist noch vollständiger: Er stirbt unter Tränen und Flehen auf dem elektrischen Stuhl. Seine Männlichkeit scheint vollständig aufgelöst; er verliert auch noch den Status eines potenziellen Märtyrers. Doch ist dies nur die halbe Wahrheit, schließlich hatte Connolly ihn darum gebeten, „wie ein Feigling“ zu sterben, damit die Jugendlichen ihn nicht länger als Vorbild betrachten: „They got to be ashamed of you.“40 Weil das Publikum im Kino in dieser entscheidenden Szene des Films die eigentliche Exekution nicht sieht, sondern sie nur durch Schattenbilder und Schreie aus dem off erahnen kann, bleibt ungewiss, aus welchen Motiven Rocky tatsächlich um sein Leben „bettelt“. Diese finale Schwäche kann also auch als eine Quelle männlich markierter Stärke gelesen werden: Indem Rocky Sullivan sich selbst demontiert, hilft er dem Priester, dessen Auffassung von Männlichkeit durchzusetzen. Sein Opfer unterstreicht aber auch das maskuline Potential seines eigenen Charakters. Im Hinblick auf die Platzierung der Filme im Diskurs ist es weiterhin interessant festzuhalten, wie selbstreflexiv sie beide mit ihrer eigenen Rezeption umgehen. Auch hier ist der unmittelbare Rückbezug auf das Nachahmungsdenken präsent. Angels beispielsweise unterstreicht seine eigene edukative Funktion im ersten Dialog des Films, in der der junge Rocky Sullivan mit seinem Freund Jerry, also dem späteren Priester, über das Kino redet. Doch statt sich einen bekannt „toughen“ Film anzusehen, entscheiden sich die beiden Freunde dazu, selbst Güterwaggons aufzubrechen. In Dead End ist das Zuschauen und anschließende 38 Dead End, 00:28. 39 Angels with Dirty Faces, 01:07 – 01:09. 40 Angels with Dirty Faces, 01:30.

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Kopieren ein durchgehendes Leitmotiv: Jüngere Kinder beobachten die Gang, diese schaut sich das Verhalten der Erwachsenen an und verfolgt aufmerksam das Auftreten Martins. Beide Spielfilme sind darüber hinaus auch an anderen Stellen in den Diskurs um männliche Jugendkriminalität verwoben. In gewisser Hinsicht geben sie sich sogar Mühe, die entsprechenden Charaktere mit allen positiven wie negativen Merkmalen zu überfrachten, um die dichotome Gegenüberstellung so wenig ambivalent wie möglich werden zu lassen. So ist beispielsweise die Zurschaustellung von Erfolg, Reichtum und Macht sowohl bei „Baby Face“ als auch bei Sullivan ein zentrales Element ihrer Persönlichkeit. Gerade Kleidung fungiert hier als Signifikant für gesellschaftlichen Erfolg, was in Dead End besonders in einer Szene deutlich wird, in der Martin gegenüber Dave mit dem Preis seines Anzugs sowie seinen dames angibt.41 Rocky erkauft sich die Loyalität der Kids mit einem Bündel Geld, das diese ohne zu zögern in teure Anzüge investieren.42 Ferner ist der Bereich männlichen Handelns in beiden Filmen nicht unwesentlich mit Initiation in der homosozialen Gruppe verbunden. Diese ist zunächst durch Ausschluss gekennzeichnet. Die Feminisierung des Nicht-Mitglieds durch seine Handlungen wird bereits zu Beginn von Dead End deutlich, als der neue Junge in der Nachbarschaft seine jüngeren Geschwister beaufsichtigen muss, was ihn in den Augen der ingroup zu einem Objekt von Verachtung degradiert. Die Mitgliedschaft muss regelrecht erkauft werden, sowohl mit Geld als auch mit dem verprügelten Körper.43 Einmal aufgenommen, ist es die Männerfreundschaft, die den Status in der Gruppe sichern hilft. Wie dauerhaft und wertvoll eine solche Beziehung sein kann, wird am Beispiel Rocky und Father Connolly deutlich. Ihnen fällt es nicht schwer, nach 15-jähriger Trennung bekannte Riten sowie ein funktionsfähiges Band für Kommunikation abzurufen. Hierbei ist erneut Körperlichkeit ein konstituierendes Merkmal dieser Form von male bonding: Die Hand auf der Schulter, der angedeutete Leberhaken sind Zeichen männlichen Einverständnisses, welche obendrein noch auf die homoerotischen Aspekte von Männerfreundschaften verweisen.44 Zuletzt sei noch auf die plakative Präsentation von unterschiedlichen Männlichkeiten im Verhältnis zu Frauen hingewiesen. Zweimal an einem Tag wird Martins Ego durch Frauen tief zerrüttet. Das Wiedersehen mit seiner alten Mutter gerät zu einer traumatischen Begegnung: „You 41 42 43 44

Dead End, 00:17. Angels with Dirty Faces, 00:58. Dead End, 00:04 – 00:11. Angels with Dirty Faces, 00:11 – 00:14.

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no good tramp! You dog – you dirty yellow dog you! Don’t call me Mom! You ain’t no son of mine.“45 Statt aggressiv reagiert „Baby Face“ mit Innerlichkeit – und schon die Namengebung ist hier aufschlussreich. Die Feststellung, dass aus seiner ehemaligen Geliebten inzwischen eine tuberkulosekranke Prostituierte geworden war, lässt ihn zunächst in ähnlicher Weise reagieren. Schließlich drängen aber wieder eingespielte Verhaltensmuster an die Oberfläche, und seine Enttäuschung schlägt in Härte um.

Abbildung 1: Aus „Dead End“: Baby Face Martin trifft seine Mutter und wird zurückgewiesen Rocky indes, in Angels, kann seine Idee von Männlichkeit mit schönen Frauen an Spieltischen für alle ersichtlich zelebrieren. Demgegenüber bleibt Connolly, dem katholischen Priester, allein die moralische Instanz. Doch im Verlauf des Films und vor allem durch seinen Kreuzzug am Ende entsteht ein Alternativkonzept, in dem die Ratio den Körper als männliches Charakteristikum zu überbieten trachtet. In Dead End übernimmt Dave einen ganz ähnlichen Part. Sein hohes kulturelles Kapital in Form überdurchschnittlicher Schulbildung misst sich mit der Macht der physischen Gewalt, auf die er letztendlich jedoch zurückgreifen muss, um seinen Antagonisten „Baby Face“ in der Auseinandersetzung um die rechte Interpretation von Männlichkeit zu besiegen.

45 Dead End, 00:34 – 00:36.

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FILM, VORBILDER UND MÄNNLICHE SOZIALISATION

VI. In der ersten Hälfte der 1930er Jahre bereiste die Journalistin Maxine Davis die Vereinigten Staaten, um die Auswirkungen der Great Depression auf amerikanische Jugendliche zu dokumentieren. Dabei stieß sie immer wieder auf das Argument der angeblich schädlichen Suggestionskraft des Kinos. Schließlich zog sie in ihrem 1936 publizierten Buch aber ein anderes Fazit: „The movies are innocuous enough, goodness knows. They do not present labor struggles. They do not picture starvation and suffering and death. They neither glorify the gangster any more, nor do they exhibit the filth and the fear and the dinginess of the criminal career.“46 Dieses aus zeitgenössisch-journalistischer Perspektive so überaus positiv geschilderte Ergebnis war, das sollte dieser Beitrag zeigen, das Produkt eines dichten, kontinuierlichen und regulierenden Diskurses, der sich seit den Anfängen des Kinos um Fragen von filmischer Darstellung, Männlichkeit und Kriminalität entspann, der sowohl von populärkulturellen wie wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen geprägt war.47 Thesen aus Sozialwissenschaften verbanden sich mit Annahmen von „Praktikern“ aus Jugendarbeit und Fürsorge und fanden im Film eine Angriffsfläche, der aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Position (urbanes, kommerzielles Massenphänomen) und ihres spezifischen medialen Charakters (die hohe Realitätssuggestion filmischer Darstellung) eine außergewöhnliche Gefährlichkeit zugesprochen wurde. Zentraler Bestandteil dieses Diskurses war seine geschlechtliche Codierung; er fügte sich dabei in eine Tradition, in der gesellschaftliche bzw. kulturelle Krisenwahrnehmungen und Geschlechtervorstellungen immer wieder dynamisch zueinander ins Verhältnis gestellt wurden, wenn es um Jugend und ihren Platz im nationalen Gefüge der USA ging. Die 1920er und 1930er Jahre markieren eine Phase beschleunigten Wandels im sozialen und kulturellen Selbstverständnis der Vereinigten Staaten, und wie in den Jahrzehnten nach der Revolution oder während der Incorporation of America im Gilded Age erlaubt der Blick auf die diskursive Aufladung junger Männlichkeiten besondere Einblicke in gesellschaftliche Sinnstiftungsprozesse. Die Sorge um die „richtige“ Sozialisation junger, amerikanischer Männer musste sich wie selbstverständlich auf das populärste und „realistischste“ Medium der Zeit konzentrieren und schaffte es nicht zuletzt durch Hollywoods Bereitschaft zur Mitarbeit, Vorstellungen von devianter und rechtschaffener Männlichkeit kulturell zu verfestigen. 46 Maxine Davis 1936, The Lost Generation. A Portrait of American Youth Today, New York, S. 134-135. 47 Eine weitere Spielart dieses Diskurses verband jugendliche Weiblichkeit mit (Un-)Moral und Sexualität.

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Dem Vorbild – dem role model – kam dabei eine vielschichtige und bedeutsame Funktion zu: in ihm, seinen Handlungen wie seinem Auftreten, verdichteten sich normative Entwürfe ebenso wie Bedrohungspotenziale. Es wurde als Instanz konstruiert, die Generationen übergreifend und stabilisierend performativ wirksam sein konnte und somit unmittelbaren Einfluss auf jugendlich-männliches Verhalten haben musste, namentlich dann, wenn es mit der Autorität und Aura des Filmstars auf der Leinwand auftrat.

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Kampfbereite Männerkörper und der Weg in den Zw eiten Weltkrieg CHRISTINA JARVIS1

„Muscles will win this war.“ – Charles Atlas, in Yank, 6. Juni 1942

I. Vergleicht man männliche Körperbilder der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkrieges miteinander, so wird deren Wandel selten so deutlich, wie durch die Gegenüberstellung der Lithografie Idle Hands (Abb. 1) von Will Barnet, die 1936 im Rahmen des Federal Art Projects (FAP) entstanden ist, und des Plakates Man the Guns (Abb. 2) von McClelland Barclay aus dem Jahr 1942, das Rekruten für die Marine anwerben sollte. Angefertigt im Abstand von lediglich sechs Jahren, repräsentieren diese beiden Bilder amerikanischer Männlichkeit zwei völlig unterschiedliche, aber dennoch eng miteinander verbundene Epochen. Barnets Druck zeigt einen arbeitslosen Mann, der in kauernder Haltung seinen Kopf auf die verschränkten Arme gelegt hat. […] Wie viele andere FAP-Werke Barnets verweist Idle Hands nicht nur auf eine allgemeine Verzweiflung in den Zeiten der Great Depression, sondern auch auf eine spezielle Krise der Männlichkeit, die die 1930er Jahre mit sich gebracht hatten. Mit einer Arbeitslosenquote von ungefähr einem Viertel der männlichen Arbeitnehmerschaft und vielen weiteren Millionen, die gezwungen waren, mit Teilzeitjobs und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der federal relief-Agenturen auszukommen, hatte die De1

Dieser Beitrag ist eine Übersetzung von Teilen des ersten Kapitels aus Jarvis 2004.

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pression nicht nur Millionen von „untätigen Händen“ hervorgebracht, sondern auch zahlreiche Zweifel hinsichtlich amerikanischer Männlichkeit aufkommen lassen. […] In der Tat repräsentiert der männliche Körper in Idle Hands eine zutreffende Darstellung von Männlichkeit in einer von der Depression stark gezeichneten Nation.

Abbildung 1: Idle Hands, Will Barnet, 1936 Im Kontrast dazu zeigt Barclays Plakat das Bild einer amerikanischen Männlichkeit, die für den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg neu aufgerüstet wurde. Der Soldat hat den Arbeiter als zentrales Symbol von Männlichkeit ersetzt, und die Stärke, der Tatendrang und die Zielstrebigkeit der Figur im Bild verkörpern die Charakteristika einer Nation, die tief in den Vorbereitungen zu einer umfassenden Mobilisierung steckt. Die Hände des Mannes sind nicht länger tatenlos. Stattdessen halten sie eine sechs Inches lange Granate für das Hauptge244

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schütz eines Zerstörers. Während die linke Hand den Boden der Granate packt, ruht die Spitze auf dem rechten Arm, so dass die rechte Hand frei bleibt um sich zu einer Faust zu ballen. Die Faust, wie auch der Rest des muskelgestählten Körpers des Matrosen, deutet Stärke und Macht an. Aber der Mann ist keinesfalls lediglich ein Modell aus einem Muskelmagazin der 1940er Jahre. Vielmehr unterstreichen die energischen diagonalen Linien im Bild sein Engagement in einer heroischen Unternehmung und suggerieren, dass er seinen Teil dazu beiträgt, den Krieg zu gewinnen. Anders als bei seinem Gegenpart aus der Depression wird die Männlichkeit des Matrosen nicht in Frage gestellt. Als seien der muskulöse Oberkörper des Mannes und seine Handhabung der phallisch anmutenden Granate nicht ausreichend, unterstreicht Barclay die unzweifelhafte Männlichkeit seiner Figur, indem er das Wort man in kühnen, roten Buchstaben in das Zentrum des Posters setzt. Auf dem Plakat tritt ein transformierter symbolischer männlicher Körper in Erscheinung, der nahe legt, dass Männlichkeitsentwürfe, die während der Depression beschädigt worden waren, nun mit voller Kraft aufpoliert wurden.

Abbildung 2: Man the Guns, McClelland Barclay, 1942

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Als zwei gegensätzliche Pole in einer weiten Spanne von Bildern aus der Zeit der Depression und des Zweiten Weltkrieges erlauben uns die Werke Barnets und Barclays einen kleinen Einblick in die symbolische Transformation männlicher Körper, die den tatsächlichen Wiederaufbau diverser amerikanischer Körperschaften (vom Militär bis zur Volkswirtschaft) begleiteten, als die Vereinigten Staaten in die Phase der Kriegsmobilisierung eintauchten und die Depression hinter sich ließen. Obwohl verschiedene New Deal-Programme bereits während der Depression wichtige Schritte zu einer Rekonstruktion von Männlichkeitsbildern und zur Stärkung des Vertrauens der Amerikanerinnen und Amerikaner in ihre Nation unternommen hatten, brachten sie nicht den kohärenten und stark geschlechtlich strukturierten Kollektivkörper hervor, der für die schnelle und weit reichende Kriegsmobilisierung von Nöten war. Militärisch waren die Vereinigten Staaten schlecht auf ihren Kriegseintritt am 8. Dezember 1941 vorbereitet. (Nash 1992, S. 111, 120) […] Um die benötigte manpower zu mobilisieren und in Übersee die amerikanischen Muskeln spielen zu lassen, war es folglich essentiell, das Männlichkeitsbild auf nationaler Ebene zu rekonstruieren. Zwar warteten auch verschiedene New Deal-Programme wie etwa das Civilian Conservation Corps (CCC) und die Works Progress Administration (WPA) mit heroischen Bildern männlicher Arbeiter auf, doch es war eine deutlich nachhaltigere Kampagne erforderlich, um Millionen von weiterhin arbeitslosen Männern mit schmalem Körperbau in muskelbepackte, leistungsfähige Soldaten zu verwandeln. Eine solche Rekonstruktion des symbolischen männlichen Körpers war keinesfalls auf die einzelnen Bürgerinnen und Bürger beschränkt. Vielmehr musste das Land Maßnahmen ergreifen, um den kollektiven Körper neu zu gestalten. Das Konzept des „Kollektivkörpers“ soll hier keinesfalls so verstanden werden, als habe es jemals eine singuläre Verkörperung der Vereinigten Staaten gegeben, wie es etwa für das europäische Mittelalter der stark idealisierte Körper von Monarchinnen und Monarchen der Fall war. Vielmehr wird der Ausdruck hier in dem Sinne gebraucht, wie ihn der Kunsthistoriker Nicholas Mirzoeff verwendet, um darzustellen, dass sowohl in einer Monarchie als auch in einer Republik oder Diktatur die metaphorischen Repräsentationen einer Nation durch verkörperlichte Bildlichkeiten immer „site(s) of exchange“ (Mirzoeff 1995, S. 88) seien, die anhand von optisch wahrnehmbaren Symbolen vermittelt würden. Diese Orte des Austauschs zwischen Bevölkerung und Nation stünden auch in einem ständigen Dialog mit sich wandelnden Konzepten von Geschlecht, Kultur und Politik. Verkörperlichte Symbole einer Nation reflektieren und beeinflussen demzufolge kulturelle Normen, in denen 246

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unter anderem die Kategorien race und gender von größter Bedeutung sind. Obwohl männliche wie weibliche Körper und Symbole zu dem neu erstarkenden US-amerikanischen Kollektivkörper des Zweiten Weltkrieges beitrugen, waren männliche Körper von besonderer Bedeutung, wenn US-Regierungsagenturen und Medien den menschlichen Körper symbolisch nutzten, um die Nation zu repräsentieren. Da sich die künstlerische Darstellung des heroischen männlichen Körpers aus Jahrhunderte alten Traditionen speiste (Dutton 1995; Mirzoeff 1995), bot der muskulöse und jugendliche Körper des Soldaten ein wesentlich leichter zu interpretierendes Bild nationaler Stärke und Macht als sein weibliches Gegenstück, und er deckte sich eher mit den Selbstbildern einer Nation, die tief in den Vorbereitungen eines Krieges steckte. […] Wenn nun eingehender untersucht wird, auf welche Art und Weise […] kulturelle Ikonen wie Uncle Sam in Verbindung mit den idealisierten Körperbildern „gewöhnlicher“ Soldaten dargestellt wurden, so bringt dies für die Zeit vor und während des Krieges eine umfassende, ideologisch aufgeladene amerikanische Rhetorik von Muskeln und Gesundheit zutage. Bevor wir uns allerdings diesem Themenfeld zuwenden können, müssen wir zunächst untersuchen, mit welchen Folgen die Depression auf die Körper und Psychen der Amerikanerinnen und Amerikaner einwirkte. Dabei soll im Besonderen gezeigt werden, wie in den 1930er Jahren amerikanisches Mannsein in Frage gestellt wurde. Die Great Depression bot nicht nur einen wichtigen Kontext und Anstoß für den Wiederaufbau des kollektiven Körpers während des Zweiten Weltkriegs, sondern sie brachte auch wichtige kulturelle und künstlerische Programme sowie Techniken der Massenproduktion hervor, die letztlich dazu beitrugen, dass sich die Wahrnehmung öffentlicher Bilder in den USA änderte. Außerdem trugen zahlreiche New Deal-Darstellungen mutiger Arbeiter dazu bei, Ideale zu etablieren, die während des Krieges in den Abbildungen von Soldaten und anderen Helden aufgegriffen wurden.

II.

„Unmaking Men“: Herausforderungen amerikanischer Männlichkeit in den 1930er Jahren

Die verheerenden und weit reichenden Auswirkungen der Depression können nicht oft genug betont werden. „What is frequently overlooked and frequently forgotten is this: when the stock market crashed in October 1929, America stopped growing and did not really get moving again until the attack on Pearl Harbor […] mobilized our resources,“ bemerkt 247

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die Journalistin und Expertin für die Geschichte der 1930er Jahre, Caroline Bird (Bird 1966, S. xiv). Der offensichtlichste Hinweis auf die Stagnation Amerikas waren die Arbeitslosenraten, die während der zwölf Jahre währenden Depression fast unverändert hoch blieben. (Badger 1989, S. 18) […] Den meisten Menschen mit Arbeit ging es zudem nicht wesentlich besser als jenen, die erwerbslos waren. Zwischen 1929 und 1932 verloren Arbeiterinnen und Arbeiter fast ein Drittel ihres Realeinkommens. […] Während statistische Angaben einige der ruinösen Effekte der Depression auf die amerikanische Wirtschaft und den Lebensstandard der Menschen andeuten, sagen sie nichts über die psychologischen Auswirkungen aus, die die harten Zeiten der 1930er Jahre auf viele amerikanische Männer hatten. Zahlreiche Geschichten von männlicher Verzweiflung über den Verlust der Arbeit sind in Briefen und mündlichen Überlieferungen festgehalten. (Terkel 1970) […] Das Anwachsen der bundesweiten Selbstmordrate während der allerersten Jahre der Depression erzählt von einer gewaltigen Krise der Männlichkeit. Michael Kimmel erklärt diesbezüglich, „for most men the Depression was emasculating both at work and at home. Unemployed men lost status with their wives and children and saw themselves as impotent patriarchs.“ (Kimmel 1996, S. 199) Mit einer Rate von 35% der Gesamtbevölkerung (mehr als 46 Millionen Menschen), die in irgendeiner Form zu irgendeinem Zeitpunkt in den 1930er Jahren bundesstaatliche Hilfe in Anspruch nahmen (Badger 1989, S. 190-191), waren Millionen von Männern gezwungen, ihren Stolz herunterzuschlucken und sich von der Vorstellung zu verabschieden, das zeitgenössische Männlichkeitsideal des unabhängigen Familienernährers weiterhin erfüllen zu können. […] Um den vielen Formen der Skepsis entgegenzuwirken, die die Massenarbeitslosigkeit an das Männlichkeitsmodell des Familienernährers herantrug, erweiterten Magazine und populäre Zeitschriften der 1930er Jahre ihren Begriff von Männlichkeit um innerliche und äußerliche Werte, die nicht unbedingt an einen Status als Geldverdiener geknüpft waren. Collier´s oder American Magazine begannen neue Formen moderner Maskulinität zu forcieren, die es Männern erlaubte, sich durch ihre Persönlichkeit, ihre physische Vitalität und ihre Fähigkeit, Freizeit zu genießen, zu definieren. (Pendergast 2000, S. 163). Trotzdem blieb der Impuls, Männlichkeit mit dem Status des erfolgreichen Familienernährers gleichzusetzen, während der gesamten 1930er Jahre sehr stark. In der Tat zielte die Werbung gerade in den Zeitschriften, die die oben erwähnten neuen Formen von konsumbetonter Männlichkeit vorantrieben,

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oft bewusst auf die Angst der Männer, ihren Job und den damit verbundenen Status zu verlieren. Die Werbung definierte nicht nur den Broterwerb als männlich, sondern sie beschrieb auch die spezifischen Pflichten, die damit für den Mann als Ernährer seiner Familie einhergingen. So musste er den Respekt seiner Ehefrau einfordern und die laufenden Ausgaben des Haushaltes begleichen können. Zum Beispiel forderte eine Anzeige des Versicherungshauses Fidelity Investment Association von 1938 dazu auf, genügend Geld zu haben „to see [him] through the sunset years, to educate [his] children, to take advantage of business opportunities, to travel, [and] meet unforeseen emergencies.“2 Obwohl die Anzeige verspricht, Männern bei der Erfüllung ihrer Pflichten zu helfen, reproduziert sie doch zugleich die Vorstellung, es sei die männliche Hauptverpflichtung, regelmäßig einen Gehaltsscheck nach Hause zu bringen und einen Teil davon anzusparen. Als Folge der tief greifenden Zweifel am männlichen Familienernährer, gingen einige Autoren so weit, die Vereinigten Staaten als eine „verweiblichte“ Nation zu bezeichnen. (Huyssen 1986; Felski 1995) Während der 1920er und 1930er Jahre hatten Frauen zuhauf Einzug in die Arbeitswelt gehalten, und auch die Arbeitsaufgaben als solche wurden zunehmend als „verweiblicht“ angesehen, da sie immer weniger reine Körperkraft und als „männlich“ bezeichnete Fähigkeiten erforderten. Der Sozialhistoriker Stephen Meyer äußerte sich folgendermaßen: „Removing the male traits of brawn and brain from workplace skills, Taylorism and Fordism redefined skill as the endurance of repetitious and monotonous tasks and their speedy and dexterous performance. For both craftsmen and laborers, their work became unmanly.“ (Meyer 2001, S. 17) 1940, gegen Ende der Depression, artikulierte Roy Helton in dem Artikel „The Inner Threat. Our Own Softness“ in der Zeitschrift Haper’s die Sorge, Amerika habe sich in eine verweichlichte und damit verweiblichte Nation verwandelt. Helton behauptete, dass die größte Gefahr für das Überleben Amerikas nicht von der Kriegsmaschinerie der Nazis ausgehe, die sich bereits große Teile Westeuropas einverleibt hatte, sondern von dem „feminizing influence on Western life that has mounted into dominance over every area.“3 Aufgrund von Fortschritten in der kommerziellen Massenkultur und der Technologie beklagt Helton, „we live in a far daintier world than our fathers, but also a far less virile world.“ Sogar die letzten Hochburgen „echter Männlichkeit“ – Bereiche 2 3

What would happen to us, John, if you lost your job? In: Life, 18. April 1938, S. 59. Helton, Roy, The Inner Threat. Our Own Softness, in: Harper’s Magazine, September 1940, 337-43.

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etwa wie der Bergbau und die Industrie – seien vom technologischen Fortschritt bedroht: „The male economic function is taken over by Uranium 235, and there is nothing left for men to do but grow long hair or shake their fists at the planets. A Mr. Lipstick is the end product of our modern industrial romancing.“ Trotz des Umstandes, dass Amerika eine Frau als nationales Symbol auserkoren habe und amerikanische Männlichkeit offenkundig überflüssig werde, hegte Helton Hoffnungen, dass die USA in der Lage sein würden, den femininen Einfluss aufzuhalten, bevor die Nation schließlich von zu viel „comfort, and in its sequel, degeneration“ befallen werde. Die Lösung des Problems sei, so Helton, „to tie a male purpose to democracy.“ Junge Männer und Frauen müssten „work and weather“ ausgesetzt werden, um sie so für „every possible storm“ zu rüsten. Heltons Artikel liegt eine eugenische Rhetorik zugrunde, die den Körper auf eine Schlüsselposition in dem Streben nach „a more masculine purpose“ für Amerika setzt. Tatsächlich forderte Helton eine „resolution to raise up on this continent the strongest, ablest, hardiest, and most intelligent race of men and women that ever inhabited the world.“ Obwohl er großen Wert darauf legt, sich und seine Pläne eines neu erstarkten, körperlich gesunden Amerika von Adolf Hitler und seinen maschinenhaften Menschen zu distanzieren, bewundert er dennoch Deutschlands Disziplin und die Betonung physischer Stärke und gestählter Körper. Um Amerikas Erfolg im bevorstehenden Krieg und eine Verbreitung der Demokratie in der Nachkriegswelt sichern zu können, sei es für die Vereinigten Staaten unablässig, so Helton, ihren Kollektivkörper neu zu definieren und die individuellen Körper der Bürgerinnen und Bürger zu bestärken und zu erneuern. Obgleich Heltons Forderung nach einer Stärkung amerikanischer Körper auf heutige Leserinnen und Leser, die um die Folgen von Hitlers „rassenhygienischen“ Programmen wissen, verstörend wirken mag, muss sie im Kontext der Depression mit ihren teilweise erheblichen Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Nation verstanden werden. Caroline Birds Bezeichnung der zwölf Krisenjahre als „invisible scar“ verbildlicht zutreffend, wie die Depression die Körper vieler Amerikaner zeichnete. Oftmals waren die Auswirkungen der Depression allerdings durchaus „visible“. Während die Anzahl der Amerikanerinnen und Amerikaner, die tatsächlich eines Hungertodes starben, äußerst niedrig war, nahmen Krankheit und Unterernährung besonders unter den Erwerbslosen dramatisch zu. Die Krankheitsrate von Familien, in denen alle Mitglieder arbeitslos waren, war um 66% höher als in solchen Familien, in denen zumindest eine Person vollbeschäftigt war. (McElvaine 1983, S. 18) Oft waren erwerbslose Arbeiterinnen und Arbeiter stark unterernährt. Viele, die schließlich doch in Arbeitsbeschaffungsmaßnah250

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men des New Deal angestellt wurden oder anderweitig Arbeit fanden, hatten erhebliche Probleme, die gleiche körperliche Arbeit zu leisten, die sie bereits vor der Depression verrichtet hatten. Und nirgendwo zeichnet sich die Geschichte der angeschlagenen Gesundheit amerikanischer Männer in den 1930er Jahren so eindeutig ab, wie in der Anzahl der Ablehnungsbescheide, die das Militär vor und während des Krieges ausstellte. Zwischen November 1940 und August 1945 musterte die Armee fast 6,5 Millionen Personen aus; dies entsprach 35,8% aller für den Militärdienst gemusterten Männer. […] Diese Zahlen spiegeln die enorme Belastung wider, die auf die Körper und die Psychen amerikanischer Männer und Jungen während der Depression eingewirkt hatte. Angesichts der erheblichen Herausforderungen, denen sich die Konstruktionen amerikanischer Männlichkeit während der 1930er Jahre auf den unterschiedlichsten Ebenen stellen mussten, verwundert es nicht, dass Präsident Franklin D. Roosevelts New Deal-Programme zum einen ganz allgemein auf eine Verbesserung der Situation der amerikanischen Bevölkerung abzielten, und zum anderen das angekratzte Modell von Männlichkeit aufzupolieren versuchten.

III.

„Heroic Workers“: Civilian Conservation Corps und New Deal-Kunst

Als Teil von Roosevelts groß angelegten Plänen zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität sollten Organisationen wie die Civil Work Administration (CWA, 1933-34), die Works Progress Administration (WPA, 1935-43) und das Civilian Conservation Corps (CCC, 1933-1942) vor allem Familien aus der größten Not helfen, indem sie Menschen Arbeit gaben. Obwohl niemals genügend Arbeitsplätze bereit gestellt wurden, um das Problem der Arbeitslosigkeit in Amerika vollständig zu beseitigen, wurden vormals „untätige Hände“ in einer Vielzahl verschiedener öffentlicher Projekte, wie etwa dem Anlegen von Parks, Reparieren von Straßen, Pflanzen von Bäumen und der Verschönerung öffentlichen Raumes, recht schnell wieder tätig. Die CWA zum Beispiel beschäftigte bereits zwei Monate nach dem Start des Programms im November 1933 vier Millionen Menschen. Die WPA gab während ihres insgesamt achtjährigen Bestehens mehr als acht Millionen Amerikanern und Amerikanerinnen Arbeit. (Nash 1992, S. 44) Während diese Programme zum einen unmittelbare wirtschaftliche Hilfe bedeuteten, trugen sie auch erheblich zur Wiederherstellung des männlichen Status als Ernährer bei. Es waren hauptsächlich Männer, die auf diesem Wege wieder zu Arbeit kamen, da viele ABM-Jobs von ihrer Anlage her 251

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geschlechtlicht strukturiert waren. Weiterhin galten Restriktionen, die die Einstellung lediglich eines Familienmitgliedes erlaubten. Eine Beschäftigung beim CCC war sogar explizit jungen Männern zwischen 17 und 25 Jahren vorbehalten. Durch Präsident Roosevelts Verfügung Nr. 6101 am 5. April 1933 ins Leben gerufen, beschäftigte das CCC während seines neunjährigen Bestehens mehr als 2,9 Millionen ledige arbeitslose Männer, die hauptsächlich aus der Arbeiterklasse stammten. Als eines der populärsten New Deal-Programme trug das CCC zur Erhaltung der Naturressourcen der Vereinigten Staaten bei. Männer des CCC pflanzten 2.356.000.000 Bäume, installierten Feuerschutzwälle von insgesamt 66.000 Meilen Länge, bauten 122.000 Meilen kleinere Straßen, siedelten 1.000.000.000 Fische in Teichen und Wasserläufen an und errichteten mehr als 300.000 permanente Dämme und 45.000 Brücken. (Merrill 1981, S. 196) Darüber hinaus half das CCC Not leidenden amerikanischen Familien, indem es seine Rekruten dazu verpflichtete, mindestens $ 22 eines Monatsgehaltes in Höhe von $ 30 nach Hause zu schicken. Zudem waren die 1.500 Lager des CCC Orte, an denen, wie die Historiker Olaf Stieglitz und Jeffrey Ryan Suzik bemerken, amerikanische Männlichkeit konstruiert wurde. (Stieglitz 1999; Suzik 1999) Anders als die übrigen New Deal Arbeitsbeschaffungsprogramme, bei denen die Rekonstruktion des männlichen Status des Ernährers lediglich einen Nebeneffekt in einem größeren Projekt darstellte, war das CCC explizit mit dem Auftrag des man-building gegründet worden. Werbebroschüren, Poster, offizielle geschichtliche Darstellungen und Berichte über das CCC erwähnten häufig, dass eine der wichtigsten Aufgaben des Programms darin bestünde, es den Teilnehmern zu ermöglichen, sich wie Männer zu fühlen und zu solchen zu werden. Entsprechend nannte der Direktor des Corps, James McEntee, sein 1940 erschienenes Buch über das Programm Now They are Men, um so die wichtige Rolle des CCC bei der Mannwerdung seiner Teilnehmer zu unterstreichen. Bei seinen Ausführungen zur Bedeutung des CCC erklärt McEntee, dass in der damals siebenjährigen Geschichte des Programms „two and a half million boys have had the opportunity to grow into men.“4 […] Sowohl Programmbroschüren als auch andere Veröffentlichungen betonten den gesellschaftlichen Nutzen der von CCC-Boys verrichteten ungelernten und angelernten Arbeitsaufgaben. Das Werbeheft The CCC

4

James J. McEntee 1940, Now They are Men. The Story of the CCC, Washington, DC.

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at Work5 wartet mit zahlreichen Fotografien junger Männer auf, die die unterschiedlichsten Arten manueller Arbeit verrichten. In Uniformen, oft aber auch mit nacktem Oberkörper werden die abgelichteten Männer bei der Verrichtung ihrer kollektiven Arbeitsaufgaben wie etwa dem Ausbau von Straßen, der Konstruktion von Dämmen oder dem Anlegen von Landschaftsterrassen dargestellt: Äxte schwingend, Rohre tragend oder bei der Arbeit mit Hacken und Schaufeln. Um den gesellschaftlichen Nutzen dieser körperlichen Arbeit zu unterstreichen, verspricht eine der Bildunterschriften, dass die Jungen im CCC lernten, „how to do something useful.“6 An anderer Stelle werden die Leserinnen und Leser daran erinnert, dass viele Projekte des CCC „an important bearing on the community’s health“ hätten.7 […] Die Fotografien der CCC-Teilnehmer bestärken auch die offiziellen Behauptungen, das Programm erschaffe gesunde junge Männer, indem es ihre Körper durch Arbeit und Gymnastikübungen konditioniere. Die Abbildungen schlanker Männer bei der Verrichtung von Aufgaben, die offensichtlich körperliche Stärke voraussetzen, unterstützen McEntees Versicherung, das CCC verursache „a striking change in [a young man’s] physical appearance.“8 Tatsächlich nahmen Jugendliche während ihres Campaufenthaltes aufgrund der harten Arbeit, der Gymnastikübungen und des nahrhaften Essens durchschnittlich zwölf Pfund zu und wuchsen um ein halbes Inch. (Salmond 1967, S. 129) Die Äußerungen McEntees und ehemaliger Teilnehmer des CCC halfen dabei, sowohl vor dem Kongress als auch bei künftigen Teilnehmern für das Programm zu werben, und die physische Verwandlung der CCC-Männer vermittelte eine wichtige Symbolik. Das CCC habe eine Schlüsselfunktion im Aufbau von „strength and vigor of society“, betonte entsprechend der New Dealer Paul McNutt in der Einleitung zu McEntees Buch. Nachdem er die Great Depression in Krankheitsmetaphorik zur „Tuberkulose“ parallelisiert hat, stellt McNutt fest, „the creation of the CCC was one of the first strong measures taken by the government of the United States to combat the ills of the depression.“ Der Heilungsprozess einer Gesellschaft, so McNutt, gründe auf der Förderung von „health and character and skills of young men.“9 McNutts Bemerkungen, die die Gesundheit und Stärke der Nation mit der körperlichen Fitness und Vitalität von Männern gleichsetzen, zeigen bereits die wachsende symbolische 5 6 7 8 9

Federal Security Agency 1941, The CCC at Work. A Story of 2.500.000 Young Men, Washington, DC. Federal Security Agency 1941, S. 70. Federal Security Agency 1941, S. 70. McEntee 1940, S. 58. McEntee 1940, S. xii.

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Bedeutung des männlichen Körpers, die sich später während der Kriegsmobilisierung Amerikas noch erheblich verstärken sollte. […] „Bessere“ Männer hervorzubringen, war das erklärte Ziel des CCC. Lange bedeutete dies auch, den Teilnehmern „respektable“ Werte zu vermitteln, die vor allem das Ideal des Familienernährers der Mittelklasse kultivierten. Wie Jeffrey Suzik bemerkt, wandelte sich das Männlichkeitsideal des CCC nach 1939, als die USA begannen, sich für den Krieg zu rüsten, vom Arbeiter zum Soldaten. Obwohl während des Antimilitarismus und Isolationismus der 1930er Jahre großer Wert darauf gelegt worden war, das CCC als ziviles Programm darzustellen, setzte es während des gesamten Bestehens in den Lagern zugleich 225.000 Veteranen des Ersten Weltkriegs und Offiziere der Reservearmee als Befehlshaber ein und kultivierte ein Modell von Männlichkeit, das mit dem Militärdienst durchaus kompatibel war. […] Im Zentrum der von McEntee und anderen favorisierten „respektablen“ Männlichkeit lag der Gedanke einer „guten“ Arbeitsethik. Um zu einem guten Arbeiter zu werden, bedurfte es laut McEntee mehr, als physische Kraft zu entwickeln und gesellschaftlich nützliche Aufgaben zu erledigen. Es bedeutete, sowohl diszipliniert zu sein als auch sich selbst motivieren zu können. Ähnlich wie von den „gelehrigen Körpern“ in Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ wurde von den Teilnehmern des CCC erwartet, dass sie in der Lage waren, im Angesicht ihrer Arbeitsaufgaben Selbstdisziplin zu entwickeln und kontinuierlich an sich zu feilen. […] Diese „anständige“ Arbeitseinstellung orientierte sich stark am Militärdienst, der sowohl zum Befehlsgehorsam als auch zur selbstständigen Ausführung von Arbeitsaufgaben erzog. Neben der Kultivierung einer guten Arbeitsmoral unter den Teilnehmern der Camps zielten die Führungskräfte des CCC darauf ab, den jungen Männern die Prinzipien eines „clean living“ zu vermitteln und sie zu so genannten respektablen Persönlichkeiten zu formen. Um als Symbole amerikanischen Potenzials zu dienen, war es laut McEntee und anderen unabdinglich, dass die Männer reinlich, gepflegt und frei von Krankheiten waren. Neben einer ärztlichen Erstuntersuchung beim Eintritt in das Programm wurden die Körper der Teilnehmer monatlich auf Geschlechtskrankheiten inspiziert. Außerdem kontrollierte das Personal die Wohnbaracken, um sicherzustellen, dass die jungen Männer die vom CCC gesetzten sanitären Maßstäbe aufrechterhielten und „proper habits of personal hygiene“10 an den Tag legten. Um die Teilnehmer zu körper-

10 Kenneth Holland und Frank Ernest Hill 1942, Youth in the CCC, Washington, DC, S. 198.

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licher Reinheit zu erziehen, wurden in vielen Camps Kurse zu Themen wie Gesundheit, Sicherheit und Erster Hilfe angeboten. […] Das Leben in den Camps war nicht nur darauf ausgerichtet, die Körper der Rekruten zu formen und zu regulieren, sondern auch deren Gewohnheiten und Moral zu fördern. […] Angemessenes Sozialverhalten, eine Berufsausbildung und gesundheitsfördernde Freizeitaktivitäten sind in den Texten verschiedener Autoren untrennbar daran gekoppelt, gute Bürger heranzuziehen. McEntee berichtet von den mehr als 85.000 CCC-Teilnehmern, die in Unterrichtsprogrammen Lesen und Schreiben lernten, und er bemerkt: „Their ability to participate as citizens in a democracy has been substantially improved.“11 […] Mit der Ausbildung und Anstellung von mehr als 2,9 Millionen Männern schaffte das CCC einen wichtigen Ort sowohl für die buchstäbliche als auch für die symbolische Rekonstruktion von Männlichkeiten, die durch die Depression Schaden genommen hatten. Das Corps brachte einen eindeutig erkennbaren Typen von Arbeiter hervor, der sich durch Heldenhaftigkeit und Nützlichkeit auszeichnete. Mit der Anerziehung von „respektablen“ Werten bewahrte und verklärte das CCC Vorstellungen von Männlichkeit, die mit dem Mittelklasseideal des Familienernährers verbunden waren. Offizielle, von der Regierung gesteuerte Diskurse verknüpften die Gesundheit und Vitalität der Nation als solche mit der Kraft und Fähigkeit der Teilnehmer der CCC-Arbeitscamps. Die enorme symbolische Aufladung der jugendlichen Körper läutete bereits jetzt einen Gebrauch männlicher Symbolfiguren ein, der während des Zweiten Weltkriegs noch bedeutend weiter reichen sollte. In der Praxis wurden CCC-Camps während der Vorbereitungen der Vereinigten Staaten zum Eintritt in den Krieg dann tatsächlich zu wichtigen Trainingslagern für Soldaten und Defence Workers umfunktioniert. Obwohl das CCC ursprünglich als zivile Einrichtung gegründet und als solche auch in der Öffentlichkeit dargestellt worden war, gelang es sehr schnell, das Corps in eine Organisation umzuwandeln, die der nationalen Verteidigung diente. Der Kongress beschloss im Juni 1940 ein Gesetz, welches das CCC verpflichtete, die Teilnehmer des Programms in Aufgaben auszubilden, die sie zwar nicht unmittelbar am Kampf beteiligten, die aber als essenziell für die Operationen der Marine und des Militärs erachtet wurden. Ohne dass größere Veränderungen an der Struktur der CCCProgramme stattgefunden hätten, waren „over 70 per cent of the jobs the CCC do […] the same kinds that engineer troops perform in wartime,“12 wie McEntee 1940 stolz verkünden konnte. Aufgrund jahrelanger Erfah-

11 McEntee 1940, S. 51. 12 Ebenda, S. 67.

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rung in den Bereichen der beruflichen Ausbildung und der Einübung militärischer Disziplin gelang es dem CCC ohne weiteres, einen neuen Schwerpunkt auf die Ausbildung von dringend benötigten Defence Workers und Soldaten zu legen. Einmal mehr boten die Lager des CCC einen Ort, an dem nationale Bilder von Männlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes neu aufgerüstet wurden. Repräsentationen gestählter Soldaten ersetzten bald den heroischen Arbeiter. Das CCC war bei weitem nicht das einzige Programm des New Deal, das Bilder von heldenhaften Arbeitern und starken männlichen Körpern hervorbrachte. Auch Künstler, die für verschiedene bundestaatlich finanzierte Kunstprojekte wie etwa das Public Works of Art Project (PWPA, 1933-34), das Treasury Relief Art Project (TRAP, 1935-43), die Section of Painting and Sculpture (1934-43) oder das Works Progress Administration’s Federal Art Project (WPA/FAP, 1935-43) arbeiteten, leisteten ihren Beitrag zur Kreation des Bildes vom muskelbepackten männlichen Arbeiter. Eben dessen künstlerische Inszenierung war unentbehrlich für die Programme des New Deal, deren Aufgaben vor allem darin lagen, den Amerikanerinnen und Amerikanern neuen Mut zuzusprechen. Anders als beim CCC, das ausdrücklich Männlichkeiten kultivieren sollte, waren die Ziele der Kunstprogramme des New Deal erheblich weiter gesteckt. Während die Programme zum einen Tausende von Künstlerinnen und Künstlern in den Bereichen der bildenden, darstellenden und schreibenden Künste beschäftigten und so die American Scene dokumentierten, versuchten sie zum anderen, Kunst zu demokratisieren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen, indem so genannte community art centers eingerichtet wurden. Wandgemälde und Poster wurden zum festen Bestandteil der Ausstattung von Schulen, Postämtern, Regierungsgebäuden, Bibliotheken, Krankenhäusern, Gefängnissen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Sie eröffneten den Amerikanerinnen und Amerikanern ein völlig neues Verhältnis zur Kunst, das nicht zuletzt durch die Vermittlung ideologisch aufgeladener Darstellungen geprägt war. Obwohl es nicht möglich ist, die Inhalte und Stilrichtungen der New Deal-Kunst mit einem einzelnen Begriff zu charakterisieren, diente öffentliche Kunst im Allgemeinen dazu, die Menschen zu Optimismus und Patriotismus anzuregen und das Gefühl eines gemeinsamen kulturellen Erbes und einer gemeinsamen Bestimmung zu vermitteln. (Park und Markowitz 1984, S. 31) Dabei zeichnen sich verschiedene zentrale Themen deutlich ab. Die Künstlerinnen und Künstler zelebrierten die Würde der kleinen Leute, die New Deal-Programme, die amerikanische Geschichte, sozialen Aktivismus, den praktischen Nutzen der Kunst und

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ihren Stil der American Scene.13 Egal ob sie die Vergangenheit oder Gegenwart porträtierten, Farm oder Fabrik, Stadt oder Land, die Künstlerinnen und Künstler des New Deal versuchten häufig, das Heldentum des Alltags einzufangen. Oft stellten ihre Werke Amerikanerinnen und Amerikaner bei der zielstrebigen Verrichtung von Arbeit dar, […] wie etwa im Bergbau, in der Konservenfabrik, beim Fischen, beim Melken, bei der Ernte, beim Reparieren von Kanälen und dem Errichten von Dämmen. Diese Darstellungen arbeitender Amerikanerinnen und Amerikaner übermittelten ein Gefühl von Hoffnung und Optimismus und kommunizierten wichtige Botschaften über Geschlechterrollen, demokratische Ideale, und die Aufteilung der Arbeitssphären in männlich und weiblich. […] Angesichts der schweren Krise der Männlichkeit, die durch die weit verbreitete Arbeitslosigkeit verursacht worden war, überrascht es nicht, dass auf den meisten Darstellungen von Lohnarbeit Männer zu sehen sind. Obwohl einige Werke Frauen in traditionell weiblich belegten Berufen wie etwa in Lehrtätigkeiten oder der Krankenpflege abbilden, porträtierten die meisten künstlerischen Darstellungen weibliche Arbeit als Hausarbeit. Indem sie eine überholte Aufteilung der Arbeitsbereiche in männlich und weiblich wieder aufnahmen und die entlohnte Berufstätigkeit ganz klar männlich markierten, trugen diese Bilder dazu bei, Ängste vor dem Statusverlust der Männer als Familienernährer zu beschwichtigen. Die Kunst des New Deal legte einen Schwerpunkt auf die Darstellung von körperlich fordernder blue collar work und zeigte Männer häufig in Arbeitsbereichen wie etwa der Schwerindustrie. Wie bei den Bildern des CCC, waren auch hier zumeist sehr muskulöse Arbeiter in heroischer Art und Weise abgebildet. William Groppers Wandgemälde Construction of the Dam (Abb. 3) ist ein hervorragendes Beispiel für das Bemühen, das Heldentum männlicher Industriearbeit bildlich festzuhalten. Die Ausmaße des Triptychons, das Szenen der Dammkonstruktion durch die Tennessee Valley Authority zeigt, tragen zu dem epischen Gesamteindruck des Bildes bei. Es sind aber vor allem die muskulösen Körper und die Furchtlosigkeit der Arbeiter, die Heldentum vermitteln. Ihre körperliche Leistungsfähigkeit und Stärke wird nicht nur durch die breiten Schultern und den kräftigen Körperbau der Arbeiter angezeigt, sondern auch durch die beeindruckenden Aufgaben, die sie erledigen. […] Obwohl Hochleistungsmaschinen und moderne industrielle Vorgehensweisen ganz offen13 Als inoffizieller Stil der New Deal-Kunst zeigten Bilder der American Scene kleinstädtisches Leben und ländliche Identität und zelebrierten dabei Ideale wie Gemeinschaft, Demokratie und harte Arbeit; vgl. Bustard 1997, S. 22-24.

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sichtlich in der Konstruktion des Dammes zum Einsatz kommen, betont Gropper mit Nachdruck die menschlichen Dimensionen des Projektes. […]

Abbildung 3: Ausschnitt aus dem Triptychon Construction of the Dam, K. William Gropper, 1939 Obwohl die Ziele und Thematiken vieler öffentlicher Kunstprojekte des New Deal einander ähnelten, verhinderten die bloße Vielfalt der Projekte und die breite Streuung von Wandgemälden und Skulpturen in den 1930er Jahren, dass diese Bilder männlicher New Deal-Körper ebenso weit reichende kulturelle Effekte hatten, wie jene, die während des Krieges entstanden. Die Kunst des New Deal leistete einen wichtigen Beitrag zur Rekonstruktion von Männlichkeitsbildern während der Depression, die Effekte der einzelnen Bilder blieben aber weitestgehend lokal begrenzt. Eine kohärente, bundesstaatlich kontrollierte Bildkampagne, wie wir ihr in Filmen und Postern des Zweiten Weltkriegs begegnen sollten, gab es nicht. Nichtsdestoweniger waren die Repräsentationen heroischer männlicher Arbeiter in der Kunst des New Deal und in den Materialien über das CCC von maßgeblicher Bedeutung für die Etablierung einer bestimmten symbolischen Funktion und ästhetischen Idealisierung männlicher Körper, die dann während des Krieges zur Basis für die Rekonstruktion amerikanischer Männlichkeit auf nationaler Ebene werden sollte. (Harris 1995, S. 150)

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IV.

Uncle Sam wird verjüngt

[…] Verkörperlichte Repräsentationen einer Nation formen nicht nur Vorstellungen von gender, race und anderen kulturellen Konstruktionen, sondern sie werden wechselseitig auch von diesen beeinflusst. Angesichts des Nachdrucks, mit der amerikanische Männlichkeit während des Krieges neu aufgerüstet wurde, überrascht es kaum, dass das wichtigste Symbol der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg männlich war: der allzeit präsente Uncle Sam. Die Tatsache, dass Uncle Sam während des Krieges als allegorische Schlüsselfigur diente, ist an sich kaum verwunderlich, denn schließlich war er eines der wichtigsten nationalen Symbole Amerikas, seitdem er im frühen 19. Jahrhundert als Verkörperung der jungen Republik eingeführt worden war. Indes ist bezeichnend in Hinblick auf die Dekodierung amerikanischer Körperpolitik während des Zweiten Weltkrieges, dass Uncle Sam nicht nur weibliche nationale Symbolfiguren wie etwa Lady Liberty und Lady Columbia völlig von der Bildfläche zu verdrängen vermochte, sondern dass er selbst außerdem eine radikale Umgestaltung seines Äußeren erfuhr. Das Auftauchen eines neuen, gestählten Uncle Sam als äußerst männliches Nationalsymbol im Zweiten Weltkrieg markiert den Moment, an dem die USA begannen, sich selbst immer umfassender in männlichen Dimensionen zu entwerfen. Untersucht man amerikanische Poster aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, so wird schnell klar, dass sich Uncle Sam zu dieser Zeit die Rolle des Superstars der nationalen Symbolfiguren noch mit Lady Liberty und Lady Columbia teilen musste. Trotz der Berühmtheit und Popularität Uncle Sams, den James Montgomery Flagg 1917 für das berühmte I want you-Rekrutierungsposter der US-Armee gezeichnet hatte, waren weibliche und männliche allegorische Figuren während des Ersten Weltkrieges weitgehend ausgeglichen verteilt. Es scheint in der Tat so zu sein, dass Lady Columbia ebenso häufig zum Militärdienst aufrief wie ihr männliches Pendant. Beliebte Poster, wie etwa Kenyon Coxs The Sword is Drawn und Francis Halsteads Columbia Calls zeigen Columbia als edle, in eine Robe gehüllte Figur, die ein Schwert in der Hand hält, von Symbolen wie etwa einem Adler und der amerikanischen Flagge begleitet wird und so ganz ohne Zweifel als die Verkörperung Amerikas verstanden werden muss. Columbias Allgegenwart in der Ikonografie des Ersten Weltkriegs passt allerdings nur zu einem Krieg, der, so der Historiker O.W. Riegel, als ein Krieg rivalisierender Imperialismen bezeichnet werden könnte. (Riegel 1979, S. 9) Als ein beständiges nationales Symbol seit dem frühen 18. Jahrhundert hatte Columbia im späten 19. Jahrhundert begonnen, ein immer imperialistischeres 259

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Amerika zu repräsentieren. Sie war daher ein ideales Symbol für eine Nation, die sich anschickte, es mit mächtigen imperialistischen Staaten aufzunehmen. Lady Columbia mit ihrem Schwert und der damit implizierten Stärke fungierte auch als treffliche Verkörperung einer Nation, die einen „neuen“ Typ von Frau hervorgebracht hatte, die im Begriff war, das Wahlrecht zu erlangen und sich einen größeren Handlungsspielraum in der Öffentlichkeit zu erkämpfen. Columbias Schwester Lady Liberty dagegen stand oft sinnbildlich für das, was es zu beschützen galt.

Abbildung 4: America Calls, Joseph Christian Leyendecker, 1917 In Joseph Leyendeckers Werk America Calls zum Beispiel hängt das Überleben Lady Libertys sowohl vom Einsatz des abgebildeten jungen Matrosen als auch von allen zukünftigen Marinerekruten ab. (Abb. 4) In vielerlei Hinsicht fungierte Lady Liberty als klassisches öffentliches weibliches Symbol. Sie erinnerte an die Vergangenheit und verkörperte „weiblich“ belegte Tugenden wie etwa Keuschheit oder repräsentierte mütterliche Qualitäten der Nation. (Mosse 1996, S. 8) Die Gründe für den Einsatz sowohl männlicher als auch weiblicher Nationalsymbole während des Ersten Weltkriegs sind offensichtlich komplex. Repräsentationen von Uncle Sam, Lady Liberty und Lady Co260

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lumbia müssen immer in einem weiten Kontext imperialistischer und republikanischer Bildersprache verstanden werden. Es ist anzunehmen, dass der gemeinsame Einsatz von Uncle Sam mit seinen weiblichen Pendants die romantische Konstruktion von Männlichkeit widerspiegelt, die während des Ersten Weltkriegs mit Kriegsführung in Verbindung gebracht wurde. Inmitten des Überschwanges und der kreuzzüglerischen Begeisterung, die die Poster des Ersten Weltkriegs prägten (Riegel 1979, S. 11), stellten Abbildungen von Soldaten oft den Bezug zu Entwürfen noblen Mannseins her, die Ehre und Tugend ebenso als Zeichen von Männlichkeit verstanden wie etwa körperliche Stärke. […] Als die USA in den Zweiten Weltkrieg zog, hatten sich sowohl die Vorstellung als auch die Rhetorik der Kriegsführung verändert, „most of the pretentious nobility and near-literary qualities in national posters were replaced by bolder and simpler images.“ (Gregory 1993, S. 7) Oft wurde der Zweite Weltkrieg als heftige Schlacht antagonistischer Ideologien und unterschiedlicher Nationsentwürfe dargestellt, in der sich die Vereinigten Staaten als Demokratie im Kampf gegen die faschistischen Achsenmächte stellen mussten. Im Kampf mit einem hypermaskulinisierten, „vaterländischen“ Deutschland erschien es den US-amerikanischen Zeitgenossen offensichtlich, dass eine weibliche Symbolfigur fehl am Platz gewesen wäre – besonders da feindliche Militärs wie etwa Hideki Tojo Amerika als soft bezeichneten. Das Aufpolieren angekratzter Männlichkeiten auf nationaler Ebene und die gleichzeitige Demonstration amerikanischer Muskelkraft in Übersee führten dazu, dass weibliche Nationalsymbole völlig in Vergessenheit gerieten und zugleich Uncle Sam während des Zweiten Weltkriegs körperlich radikal umgestaltet wurde. Die Vielzahl der Darstellungen Uncle Sams macht es unmöglich, die Schritte seiner Verwandlung hier im Detail nachzuvollziehen. Es lässt sich aber klar ausmachen, dass Uncle Sam als Nationalsymbol immer jünger, stärker und männlicher dargestellt wurde, je mehr internationalen Einfluss und Macht Amerika während des Krieges gewann. Bereits zu Beginn des Krieges wurde Uncle Sam mit einer fünf Millionen Kopien starken Neuauflage von James Montgomery Flaggs populärem I Want You-Poster (Abb. 5) aus dem Zweiten Weltkrieg zu einer allgegenwärtigen Figur. Das Motiv orientierte sich an Alfred Leetes Plakat aus dem Jahr 1914, das Lord Kitchener zeigt, der die britischen Männer dazu auffordert, sich mustern zu lassen. Flaggs Uncle Sam strahlt die Autorität und die Würde und Weisheit eines Gründervaters aus. Zugleich ist er jedoch beinahe körperlos, denn lediglich ein Teil seines Oberkörpers ist sichtbar, und vor allem der strenge Gesichtsausdruck und die auf uns weisende rechte Hand fallen ins Auge. Nicht zuletzt durch die Schlichtheit und Direktheit des Plakats werden die Be261

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trachter an ihre patriotische Pflicht erinnert, auch wenn der abgebildete Uncle Sam noch nicht in ausreichendem Maße die angestrebte und wachsende Stärke Amerikas verkörpert.

Abbildung 5: I Want You, James Montgomery Flagg, 1917 Tom Woodburns Poster Defend Your Country (Abb. 6) von 1940 führte schließlich einen neuen, für den Krieg gerüsteten Uncle Sam ein. Zwar ist Woodburns Uncle Sam kaum zu vergleichen mit dem kräftigen Matrosen in Barclays Man the Guns, er markiert aber zweifellos eine bedeutende Veränderung in der öffentlichen Darstellung Sams. In den meisten Bildern aus der Zeit des Ersten Weltkrieges erinnert Uncle Sam an einen dünnen, ältlichen Mann mit Falten, beinahe einer Vogelscheuche ähnlich. Im Kontrast dazu ist Woodburns Uncle Sam bereit zu handeln. Er hat sich seines Mantels und Hutes entledigt und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Seine gerade Haltung, das aufgeknöpfte Hemd und die ge262

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ballte Faust signalisieren, dass er kampfeswillig ist. Der schreiende Adler hinter ihm verstärkt noch die Bellikosität der Darstellung. Seine muskulösen Unterarme lassen die Härte seiner Schläge erahnen. Haare, Bart und Augenbrauen sind weiterhin weiß, doch sein Gesicht ist weniger faltig und wirkt energischer. Woodwards Sam ruft nicht nur die Amerikanerinnen und Amerikaner zum Kriegsdienst auf; offensichtlich wird auch er aktiv am Krieg teilnehmen.

Abbildung 6: Defend Your Country, Tom Woodburn, 1940

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Vielleicht am eindeutigsten zeigt sich die Bereitschaft Uncle Sams, selbst am Gefecht teilzunehmen, in Ernest Hermlin Bakers Plakat You’ve Got What It Takes Soldier (Abb. 7). Sam nimmt darin mit ausgestecktem Arm und spitzem Zeigefinger eine ähnliche Pose ein wie auf Flaggs Plakat. Doch Bakers Nationalsymbol ist härter und tatkräftiger. Statt eines Zylinders, eines Mantels und einer Krawatte hat dieser Sam einen Armeehelm, eine Weste und ein Gewehr angelegt. Mit aufgerollten Hemdsärmeln und aufgeknöpftem Hemd scheint er bereit zum Kampf. Der bemerkenswerteste Unterschied zwischen Bakers Figur und Flaggs früherer Darstellung ist aber der Körper, der in dieser Kleidung steckt. Bakers Sam wirkt wie gemeißelt, sein Gesicht scheint aus Stein gehauen. Auch auf seinem Unterarm zeichnen sich stark definierte Muskeln ab, die glauben machen, dass Sam, obwohl er nicht mehr im wehrfähigen Alter ist, auf dem Schlachtfeld durchaus eine gute Figur abgeben könnte. […] Und wenn er sich nicht für die Schlacht vorbereitete oder gar im Kampf befand, so nutze Uncle Sam seine neue Stärke an der Heimatfront in der zivilen Industrie und der Rüstungsindustrie. […]

Abbildung 7: You’ve Got What It Takes, Soldier! Ernest Hermlin Baker, 1943 264

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Vielleicht kann der Erfolg, mit dem ein solcher stärkerer, aktiverer Uncle Sam in zahlreichen öffentlichen und privaten Plakatkampagnen als wichtigste nationale Symbolfigur etabliert wurde, am besten daran gemessen werden, wie und in welchem Maße Amerikanerinnen und Amerikaner diese neue Version Sams in ihrer visuellen Imagination reproduzierten. Wie sehr die Menschen den neuen Sam verinnerlicht hatten, lässt sich gut an einem Beispiel aus dem Magazin Yank zeigen. Yank druckte 1943 in seiner Septemberausgabe eine Reihe von Zeichnungen ab, die der Soldat Frank Mack seiner Frau nach Hause geschickt hatte. In einem der Briefe, der einen Poststempel vom April 1943 trägt, hatte Mack von allen Darstellungen der Figur während des Krieges den vielleicht jüngsten und muskulösesten Uncle Sam gezeichnet. Sam lehnt mit ausgestreckten Armen an den Seilen eines Boxrings, um sich von einem Kampf auszuruhen, bei dem er das durch Tojo verkörperte Japan k.o. geschlagen hat. Sein nackter Oberkörper strotzt vor Muskeln; Sam könnte ohne Bart und die typische Hose und Jacke leicht mit einem von Barclays kraftvollen Matrosen verwechselt werden. Die Zeichnung spiegelt Macks eigenes Konzept des neuen amerikanischen Kollektivkörpers wider und deutet zugleich die wachsende Zuversicht der Nation mit Blick auf die Kriegshandlungen im Pazifik an. Während der ersten Jahreshälfte 1942 waren die Vereinigten Staaten zunächst in der Defensive gewesen, doch im August 1942 begann für die Amerikaner mit der siegreichen Schlacht um die Insel Guadalcanal eine Reihe von Gegenangriffen auf Japan. Es überrascht daher kaum, dass zu diesem Zeitpunkt des Krieges Macks Zeichnung Amerika durch einen extrem starken, männlichen Uncle Sam repräsentiert. Darstellungen Uncle Sams spielten zwar eine zentrale Rolle in der Imagination Amerikas als starke, maskuline Nation, sie waren aber doch nur ein kleiner Teil einer weit reichenden wörtlichen und figurativen Aufrüstung Amerikas während des Zweiten Weltkrieges. Für ein besseres Verständnis der körperlichen Veränderung Uncle Sams im Besonderen und dem allgemein weit verbreiteten Einsatz muskulöser Körper in den Bildkampagnen des Krieges ist eine weiträumigere Untersuchung verschiedener Körpermetaphern und Körperideale und ihrer jeweiligen kulturellen und politischen Kontexte notwendig.

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V.

E i n e R h e t o r i k d e r M u s k e l n : Am e r i k a n i s c h e kontra nationalsozialistische Ideale

Die oben besprochenen Darstellungen Uncle Sams und ausgewählter Bilder des New Deal haben gezeigt, dass muskulöse Körper in den 1930er und 1940er Jahren Stärke, Vitalität und Heldentum symbolisierten, und tatsächlich vermitteln bis zum heutigen Tag muskulöse Körper in der Geschichte der westlichen Kunst Ideale dieser Art. Keinesfalls sollte aber davon ausgegangen werden, dass Darstellungen muskulöser Körper generell und beliebig austauschbar sind. Auch sind Muskeln, je nachdem an welchen Körpern sie auftauchen (z.B. männlich, weiblich, jung, alt, „rassisch“ markiert), mit einer Reihe ganz unterschiedlicher Bedeutungen aufgeladen. Während des Zweiten Weltkriegs gab es erhebliche Unterschiede darin, wie einzelne Staaten bildliche Darstellungen menschlicher Figuren – und hier im Besonderen männlicher Körper – einsetzten, um ihre Vorstellungen eines Kollektivkörpers zu verwirklichen. Eine Analyse der Art und Weise, wie die US-Regierung und die amerikanischen Medien symbolkräftige männliche Körper etwa im Vergleich zu nationalsozialistischen Idealen konstruierten, lässt mehrere äußerst wichtige Unterschiede im Einsatz muskulöser Körperbilder für propagandistische Zwecke erkennen. Bereits vor dem Krieg war das nationalsozialistische Deutschland als eine sehr männlich definierte Nation wahrgenommen worden. Die hypermaskulinisierte Körperpolitik Deutschlands veranlasste die Vereinigten Staaten noch mehr als zuvor, starke männliche Körperbilder in ihrer nationalen Selbstrepräsentation zum Einsatz zu bringen. Aufgrund der unterschiedlichen Ideologien und Geschlechterpolitik dieser beiden Nationen differierte die Symbolik ihrer Muskelkörper jedoch erheblich. Vergleiche von amerikanischen und nazi-deutschen Körperidealen und ihres jeweiligen Umgangs mit Symbolfiguren offenbaren sowohl die Gemeinsamkeiten im Gebrauch von muskelbepackten Körpern als auch die erheblichen Abweichungen in Ästhetik und politischer Ideologie. Während die faschistischen Körper Nazi-Deutschlands in zahlreichen Studien untersucht worden sind (Ades 1996; Mangan 1999; Mirzoeff 1995; Mosse 1996; Theweleit 1977), hat die Repräsentation männlicher Körper im Amerika des Zweiten Weltkrieges bisher eher wenig Beachtung erfahren. Historikerinnen und Historiker haben den nationalsozialistischen Einsatz bewaffneter männlicher Körper als „the most emblematic of all representations of the body politic“ (Mirzoeff 1995, S. 88) bezeichnet. Ein Grund für die enorme wissenschaftliche Beachtung der faschistischen Körper des „Dritten Reiches“ liegt ohne Zweifel in der Tatsache, dass Deutschland stark vereinheitlichte staatli266

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che Richtlinien zur Kunst erlassen hatte und die Einhaltung dieser Vorgaben scharf kontrollierte. […] Ein zentraler Aspekt der nationalsozialistischen Kunstpolitik war die Vorstellung, dass Kunst sich an die Bevölkerung richten und die neuen Ideale des nazi-deutschen Reiches repräsentieren sollte. Dies führte sowohl zur Entstehung neuer Kunstwerke als auch zu der Zerstörung so genannter „entarteter“ Kunst. Die künstlerische Darstellung menschlicher Figuren – dabei vor allem von männlichen Körpern – boten dem von der Idee der „Rassenhygiene“ besessenen Hitler und seiner Partei einen idealen Ort, um nationalsozialistische Ideale zu manifestieren. […] Die Arbeiten von Joseph Thorak, der zahlreiche Skulpturen im Berliner Olympiastadion geschaffen hatte, und Arno Breker, dem offiziellen staatlichen Bildhauer des „Dritten Reiches“, zeigen, dass die nationalsozialistischen Vorstellungen von idealisierten faschistischen Körpern sowohl auf Körperideale aus der Zeit des Ersten Weltkriegs als auch auf klassische griechische Vorbilder zurückzuführen sind. […] Ihre Skulpturen verkörperten Stärke und „Rassestolz“ und standen für einen neuen Typ Mann: den ultimativen stählernen Mann, der, nachdem er im Ersten Weltkrieg geschlagen worden war, im nächsten Krieg ohne Zweifel siegreich sein würde. […] Obwohl die gestählten Idealkörper anderen Nationen den Eindruck deutscher Stärke und militärischen Heldentums vermitteln sollten […], dienten sie doch vor allem dem Zweck, „Entartung“ und Abweichung im Inneren zu unterdrücken. […] Oft wurden die so genannten „entarteten“ Bevölkerungsgruppen, wie etwa Juden, Roma und Sinti ebenso wie psychisch Kranke mit Körpermetaphern belegt. So beschrieben nationalsozialistische Werke zum Thema „Rassenhygiene“ zum Beispiel Juden als personifizierte Krankheit, als Parasiten und Krebsgeschwüre „in the body of the German Volk.“ (Proctor 1988, S. 196) Aufgrund der Eindringlichkeit dieser Körpermetaphern und der eugenischen Politik der Nationalsozialisten ließ sich eine Neuerfindung Deutschlands und seiner Zukunft am besten über den Körper kommunizieren. Frei von jeglicher Behaarung und ohne physische Defekte verkörpern Thoraks und Brekers männliche Figuren ein neues, diszipliniertes, „rassisch“ sauberes Deutschland. […] Mit ihren maschinengleichen Körpern und unbewegten Gesichtsausdrücken zeigen die beiden Skulpturen nicht nur keine Zeichen von Schwäche, sondern sie scheinen auch fast jeglicher Menschlichkeit entglitten zu sein, unempfänglich für Angst oder Emotion. Wie Klaus Theweleith im zweiten Band seiner „Männerphantasien“ beschreibt, ist der Zweck dieser „Stahlnaturen: alles zu verfolgen, einzudämmen, zu unterwerfen, was sie zurückverwandeln könnte in das schrecklich desorganisierte Gewimmel aus Fleisch, Haaren, Haut, Kno267

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chen, Därmen, Gefühlen, das Mensch heißt.“ (Theweleith 1977, hier nach der Ausgabe von 1993, Bd. 2, S. 161) Ohne all diese menschlichen Elemente, ist dieser stählerne Mensch auch frei von jeglichen Parasiten oder Geschwüren, die dem „Volkskörper“ Schaden zufügen könnten. In diesem Sinne verkörpern Brekers und Thoraks Skulpturen das Ideal der rassistischen nationalsozialistischen Körperpolitik. Neben den Prinzipien der Rassenhygiene manifestierten sich in den Werken von Thorak, Breker und anderen Künstlern weitere wichtige Elemente der Nazi-Ideologie. Auch wenn die männlichen Körper der Nazikunst als Nordeuropäer identifiziert werden können, so scheinen sie doch niemals individuelle, reale Gesichtszüge aufzuweisen. Die Skulpturen wirken anonym und austauschbar. Der Historiker George Mosse folgert in The Image of Man, dass diese Anonymität die Vorstellung unterstreichen solle, der Körper des faschistischen Mannes gehöre nicht ihm selbst, sondern seinem „Volk“. (Mosse 1996, S. 170) […] Der faschistische Idealkörper war nicht nur jeglicher individueller Identität, sondern trotz seiner Nacktheit auch jeglicher Sinnlichkeit beraubt. Zwar verboten die Nazis [das zuvor so populäre] nackte Sonnenbaden und lehnten Nacktheit in der Kunst ab, wenn sie keinen symbolischen Zweck erfüllte. Der symbolische männliche Körper allerdings war fast immer nackt. […] Durch Abstraktion der Gesichtszüge und seine stahlgleiche Darstellung vermittelte der muskulöse faschistische Körper den Eindruck von Stärke und Leistung, von Kontrolle und Disziplin, die sich den Anordnungen des Staates fügte, sowie von Schönheit ohne Sinnlichkeit. Im Gegensatz zu Deutschland gab es in den Vereinigten Staaten weder zentrale künstlerische oder darstellerische Richtlinien, noch gab es einen einzelnen Typus des männlichen Körpers, der die Nation und ihre Ideale symbolisch repräsentierte. Ähnlich wie Deutschland setzten die Vereinigten Staaten auf sinnbildliche männliche Figuren, um die Nation vor und während des Krieges neu zu erfinden. Eine gründliche Untersuchung von amerikanischem Bildmaterial aus der Zeit des Krieges zeigt allerdings, dass die USA im Vergleich zu Deutschland eine viel breiter angelegte Rhetorik der Muskeln verwendeten, die sich auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Körper berief. Bevor wir uns den Unterschieden in der amerikanischen und nazideutschen Verhandlung muskulöser Körpern zuwenden, sollen hier zunächst wichtige Gemeinsamkeiten der beiden Nationen im Gebrauch gestählter Männerfiguren aufgezeigt werden. Obwohl die USA siegreich aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren, gaben die Depression und militärische Niederlagen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges genug Anlass, den amerikanischen Kollektivkörper aufzumotzen. Navy und Army büßten zu Beginn des Krie268

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ges gegen Japan immens an Stärke ein, und so kann es nicht erstaunen, dass einige Werbekampagnen und Plakate Japaner zu ihrem imaginären Publikum machten. „Ask a Jap what it feels like to be up against men who are fortified with ‚Victory Vitamin C‘,“ fordert zum Beispiel eine Werbeanzeige (Abb. 8) für Grapefruit Saft aus Florida die Leserinnen und Leser des Life Magazines vom 9. August 1943 auf. […]

Abbildung 8: Victory Vitamin C, abgedruckt in Life, 9. Aug. 1943 Der dazugehörige Text verknüpft Soldatenkörper assoziativ mit Begriffen wie iron, steel und nails, was durch die Abbildungen der Männer auf dem Bild der Anzeige noch bestärkt wird. Sie sind entweder mit nacktem Oberkörper abgebildet oder lediglich mit einem Unterhemd bekleidet, und so fallen sofort die stark definierten Muskelpakete der Soldaten ins Auge. Ähnlich der Figuren Thoraks beißt der Soldat im Zentrum der Abbildung die Zähne zusammen und signalisiert mit einem strengen, 269

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kriegerischen Gesichtsausdruck, dass er jegliche Emotionalität ausgeschaltet hat. Es sind mehr als nur sein Mienenspiel und seine Muskeln, die den Mann stahlhart erscheinen lassen. Auf der Abbildung verschmilzt die Darstellung seines nackten Oberkörpers mit dem Flugabwehrgeschütz, das er umfasst und mit dem er in den Himmel feuert. Die Abbildung deutet an, dass auch Amerika mit maschinengleichen Männern aufwarten kann, die ihren Beitrag zur Kriegsmaschinerie des Landes leisten. Die Fusion von Mann und Maschine bei der Darstellung gestählter amerikanischer Körper zeigt sich vielleicht am häufigsten in den Rekrutierungskampagne der Marine und Küstenwache. Ob in Barclays Postern Man the Guns oder Dish it Out with the Navy, oder in J.A. Wisinskis Rekrutierungsposter für die Küstenwache mit dem Titel Ready Then, Ready Now: das Motiv sind immer extrem muskulöse Männer, die enorme Kanonen mit Granaten bestücken. Die Härte der Granaten und Kanonen verleiht dem Aussehen der Männer eine Aura von Stärke und Uneindringlichkeit und erweitert die ohnehin männlichen Körper um eine zusätzliche phallische Dimension. Es ist wichtig festzustellen, dass die Männer im Dienste der amerikanischen Kriegsmaschinerie zwar meist zusammen arbeiten, sie aber keinesfalls zu einem anonymen Volk14 verschmelzen. Während der männliche nationalsozialistische Körper, der jeglicher individueller Kennzeichen beraubt war, die Betrachterin und den Betrachter geradezu dazu zwang, sich seiner Macht hinzugeben (Mirzoeff 1995, S. 91), interagierten amerikanische männliche Symbolfiguren oft mit den sie betrachtenden Personen und bewahrten trotz ihres häufig sehr harten Gesichtsausdrucks ihre individuellen Gesichtszüge. Weiterhin erfuhren die amerikanischen Männer aus Stahl im Gegensatz zu ihren deutschen Pendants keine „rassenhygienischen“ Zuschreibungen. Wie aus der Anzeige für Florida Grapefruit Juice deutlich wird, richtete sich die Stärke des amerikanischen Muskelmannes symbolisch eher nach außen als nach innen, obwohl das tatsächliche Publikum solcher Darstellungen die amerikanische Bürgerin und der amerikanischer Bürger an der Heimatfront waren. Zwar hielten es sowohl die amerikanische Regierung als auch die Medien für dringend notwendig, durch die Depression verursachte körperliche softness abzuhärten und internal weakness aufzuhalten. Es gab aber weder offizielle Stellungnahmen, noch bundesstaatliche Programme, um so genannte „rassische Degeneration“ in Amerika zu kontrollieren. Vielmehr zielte das Bildmaterial des Zweiten Weltkriegs oft darauf ab, das Thema unity built on diversity zur 14 Im US-amerikanischen Original in deutscher Sprache.

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Geltung zu bringen, und manchmal portraitierte es sogar Schwarze und Weiße bei der gemeinsamen Arbeit für den Sieg. Obwohl die meisten Poster, die populäre afroamerikanische Persönlichkeiten wie Dorie Miller und Joe Louis zeigten, sich gezielt an schwarze communities richteten, waren Bilder von African Americans ein wichtiger Teil der größeren nationalen Körperpolitik. Die Tatsache, dass zum Beispiel die Werbekampagne von Zion Kosher Meat Products einen „black Uncle Sam“ (Roeder 1993, S. 69) abbildete, deutet einmal mehr darauf hin, dass männliche Symbolfiguren nicht ausschließlich weiß waren. Zwar wurden schwarze und weiße Soldaten aufgrund der amerikanischen Segregationspolitik niemals zusammen abgebildet, aber es zeigten doch viele Poster, wie etwa Alexander Libermans berühmtes Plakat United We Win von 1943, schwarze und weiße Menschen, die gemeinsam an der Heimatfront arbeiteten. Die gemeinsame Arbeit von African Americans und European Americans wurde auch in politischen Cartoons wie etwa Alstons Let’s Go to Work, Brother (Abb. 9) verarbeitet. Amerika wird hier von den beiden Figuren Paul Bunyan und John Henry verkörpert.

Abbildung 9: Let’s Go to Work, Brother!! Charles Alston, 1943 Der Comic zeigt die beiden Männer als gigantische, sehr muskulöse Figuren. Sie stehen auf einem Globus, ragen hoch über die zwergenhaften Führer der Achsenmächte empor und sichern Amerikas Sieg in diesem Krieg. Indem der Künstler John Henry und Paul Bunyan als männliche Symbolkörper einsetzt, schildert er amerikanische Stärke nicht nur als ethnisch facettenreich, sondern er bedient sich auch amerikanischer 271

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Folklore und des Frontiermythos, um zu zeigen, dass sowohl Schwarze als auch Weiße zu Amerikas Größe beigetragen haben. Bunyan, ein berühmter Holzfäller, tut sich mit dem Eisenbahnarbeiter Henry zusammen, der aufgrund seiner unglaubliche Stärke und Leistungsfähigkeit beim Verlegen von Eisenbahnschienen zur Legende geworden war. So werden die Amerikanerinnen und Amerikaner an ihre vergangenen heroischen Erfolge an der Frontier und in der Arbeitswelt erinnert. Obwohl die amerikanische Körperpolitik den weißen Körper als normativ darstellte, arbeitete sie also auch mit Bildern „rassischer“ Verschiedenartigkeit, die allerdings die wirklichen Umstände der race relations während des Krieges nicht reflektierten. Ein weiterer bedeutender Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen und dem amerikanischen Gebrauch männlicher Symbolkörper ist die Präsentation und die Ästhetik der Körper. Während der faschistische Körper meist nackt ist und in seiner Gesamtheit dargestellt wird, zeigt sich die amerikanische Symbolfigur fast immer lediglich mit nacktem Oberkörper, und sie wird häufig nur von der Hüfte aufwärts abgebildet. Die Auswahl der Körperteile auf Postern und Werbeplakaten […] zeigt, dass Arme und Brustkorb visuell und symbolisch am wichtigsten waren. […] Die Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Darstellungen sind darin begründet, dass die Repräsentation des amerikanischen Männerkörpers sich nicht direkt auf die klassische griechische Tradition bezog, sondern sich eher an zeitgenössischen Vorgaben aus den Bereichen des Bodybuilding, der Darstellung muskelbepackter Arbeiter in den 1930er Jahren und vor allen Dingen an Superhelden aus Comicbüchern orientierte. (Savage 1990) […] Da amerikanische Vorstellungen von Muskelmännern sich eher auf die Darstellung in Comics beriefen, als auf klassische Ideale von männlicher Schönheit, war es möglich, Muskeln auch außerhalb des Kontextes des männlichen Körpers zu denken und dennoch einen Teil ihrer symbolischen Bedeutung beizubehalten. Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Phänomen ist J. Howard Millers berühmtes Poster We Can Do It!, das Rosie the Riveter zeigt, die ihren rechten Hemdsärmel aufrollt, um einen muskulösen Unterarm und mächtigen Bizeps zu entblößen. (Abb. 10) Der entschlossene, ernste Gesichtsausdruck und die implizierte Stärke der Frau zeigen, dass auch die Körper amerikanischer Frauen in dieser neuen Körperpolitik eine Veränderung erlebten. […]

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KAMPFBEREITE MÄNNERKÖRPER

Abbildung 10: We Can Do It! J. Howard Miller, 1942 Die symbolische Darstellung amerikanischer Frauenkörper durfte sich zu einem gewissen Grad die muskulösen Formen männlicher Figuren zu eigen machen, und sie verkörperten manchmal auch den Heroismus, der mit starken männlichen Körpern assoziiert wurde. Wonder Woman, die zum ersten Mal 1941 auftrat und ab dem Sommer 1942 in einer Comicbuchserie erschien, zeichnete sich in der Arena der populären Vorstellungswelt durch heldenhafte Körpermerkmale aus, nämlich „a strong, well-defined chin, and the slim, muscular body of an Olympic swimming champion“, wie Trina Robbins in ihrer Studie beschreibt. (Robbins 1999, S. 8) Diese körperlichen Merkmale und ihr scharfer Verstand halfen ihr bei der Erfüllung heldenhafter Aufgaben, die sie auf sich nahm, um die Welt vom Hass und vom Krieg der Männer zu retten. (Hartmann 1982, S. 190) Trotz der scheinbaren Härte weiblicher Symbolfiguren wie Rosie the Riveter und Wonder Woman ist offensichtlich, dass diese amerikanischen Frauen ihre Weiblichkeit nicht 273

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eingebüßt hatten. Die sorgsam manikürten Nägel, die gezupften Augenbrauen und ihr Makeup deuten an, dass Millers Rosie mit wichtigen kulturellen Markierungen von Geschlecht aufwartet. Ganz sicher wird sie nicht mit einem männlichen Arbeiter oder einem von Barclays starken Matrosen verwechselt werden. Auch Wonder Woman findet zwischen ihren Abenteuern immer noch Gelegenheit, Makeup aufzutragen und die passenden Ohrringe auszusuchen. Ob weibliche Rüstungsarbeiterinnen, Superheldinnen oder Hausfrauen – das Bildmaterial des Zweiten Weltkriegs ließ zu, dass Frauen im Besitz von Muskeln, Kraft und Heroismus sein durften, solange ihre Muskeln kleiner waren, als die ihrer männlichen Gegenstücke, und keine geschlechtlichen Grenzlinien dauerhaft überschritten wurden. Der allgemeine Trend zur Maskulinisierung Amerikas führte keineswegs dazu, dass Bilder von Frauen gemieden wurden. Stattdessen wurden, während Amerika seine Selbstrepräsentation für den Krieg rüstete, typisch „männliche“ Merkmale auf weibliche Figuren quasi als Leihgabe übertragen. Die Great Depression hinterließ viele tiefe Narben im amerikanischen Kollektivkörper und konfrontierte das männliche Ideal des Familienernährers mit erheblichen Zweifeln. Das CCC und Kunstprogramme des New Deal […] trugen zwar dazu bei, die angekratzten Vorstellungen von Männlichkeit wieder aufzupolieren und den amerikanischen Kollektivkörper der 1930er Jahre zu bestärken. Doch erst mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine radikale Transformation. Die Kriegsmobilisierung brachte einen jüngeren, stärkeren Uncle Sam hervor, und eine weit gefasste Rhetorik platzierte eine Muskelästhetik, die vor allem durch Comicbücher inspiriert war, im Zentrum der Körperideale der frühen 1940er Jahre. Diese Entwicklung hatte ihren Ursprung nicht in einer einzelnen zentralen Bildkampagne, sondern sie vollzog sich in einer ganzen Bandbreite verschiedener Medien, wie etwa Postern, Comics, Werbekampagnen, Propagandaheften und anderen künstlerischen Bereichen. Im Resultat konstruierte das Bildmaterial der Kriegszeit, in dem der Soldat als Schlüsselfigur sowohl Männlichkeit als auch eine nationale Identität verkörperte, die USA vor allem als starkes, maskulines Land. Die privilegierte Position des Soldaten blieb während des Krieges nicht zuletzt deshalb stark, weil die militärische Klassifikation und Kontrolle des amerikanischen männlichen Körpers einen enormen kulturellen Einfluss auf die diskursive Verhandlung von Gesundheit, Sexualität und körperlicher Fitness ausübte. Deutsche Übersetzung von Nora Kreuzenbeck

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6.

VOM ZWEITEN WELTKRIEG BIS ZUR J AH R T AU S E N D W E N D E

Da vid Rie s ma n und die „ Kris e “ de r Männlichkeit nach dem Zw eiten Weltkrieg JAMES GILBERT

I. Eine der zentralen Arbeiten der US-amerikanischen Soziologie der 1950er Jahre, wenn nicht des gesamten 20. Jahrhunderts, ist David Riesmans The Lonely Crowd aus dem Jahr 1950.1 Das Buch mag heute befremdlich anmuten, mit einem Stil, der nach all den Jahren seltsam klingt, und mit Gedankengängen, die nicht besonders bemerkenswert erscheinen. Gleichwohl geht von dem Text nach wie vor eine beständige und gewissermaßen subkutane Kraft aus, die zumindest partiell von amerikanischen Historikern genährt wurde, die Riesmans Erklärungsmechanismen ebenso übernommen haben wie einen Ton moralischen Missfallens, der seine Arbeit durchzieht. Trotzdem ist es heute kaum 1

David Riesman 1950, The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, mit Reuel Denney und Nathan Glazer, New Haven; die Taschenbuchausgabe erschien 1953. Die 1950er Jahre sind von der Geschichtsschreibung umfassend bearbeitet worden, und auch die Geschlechterforschung zu dieser Dekade hat sich rasant entfaltet. Die vielleicht beste Gesamtdarstellung ist Halberstam 1993. Eine andere Perspektive bietet Nash 1998; vgl. auch Foreman 1997. Eine Darstellung der Intellektuellen dieser Zeit bietet Pells 1985. Vgl. auch Diggins 1988; Wills 1997; Horowitz 1994. Ausgangspunkt für geschlechterhistorische Zugänge ist May 1988, deren Erkenntnisse vor allem Meyerowitz 1994 kritisch diskutiert; vgl. außerdem Meyerowitz 2002. Das Thema Männlichkeiten diskutiert der Artikel von Traister 2000; vgl. auch D’Emilio/Freedman 1997; Kimmel 1996; Savran 1998; Faludi 1999; Davidson 2004, und Gilbert 2005.

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mehr vorstellbar, dass dieses Buch innerhalb einer Dekade beinahe eine Million Mal verkauft worden ist und dieses Konvolut dichter soziologischer Prosa eine breite und offensichtlich überaus interessierte Leserschaft beschäftigte und faszinierte. Riesmans Konzepte wurden während der 1950er Jahre diskutiert und zitiert, sie durchzogen das Vokabular vieler Amerikaner und waren Teil des Common Sense dieser Dekade. Auf den folgenden Seiten soll Riesmans Buch aus geschlechterhistorischer Perspektive betrachtet werden. Wie, so möchte ich fragen, gelang es David Riesman, das dominante Narrativ amerikanischer Geschichte umzuschreiben und das Schwergewicht der historischen Erzählung von einer wirtschafts- und politikhistorischen Frontiergeschichte auf die Beobachtung veränderlicher psychologischer Charaktere zu lenken? Darüber hinaus will ich zeigen, wie Riesman eine Reihe historischer Verschiebungen formulierte, die Geschlecht in das Zentrum moderner Erfahrung rückten. Aus dieser Perspektive betrachtet, trug The Lonely Crowd dazu bei, den Dialog über eine Krise der Männlichkeit während der 1950er Jahre auf den Weg zu bringen. Sicherlich hat Riesman das historiografische Narrativ, das den Fokus auf die Aktivitäten und Probleme von Männern richtete, nicht „erfunden“. Schließlich glaubten in den 1950er Jahren nur wenige US-Historiker, dass die Meistererzählung der amerikanischen Geschichte überhaupt jemand anderen betraf, als den Meister selbst: den Politiker, Soldaten, Unternehmer, Eroberer, den männlichen Autoren, Erfinder, Künstler, Architekten, Wissenschaftler, Doktor, Farmer, Arbeiter, Einwanderer, Vater – all jene männlichen Akteure eben, die die Seiten der Geschichtsbücher füllten. Doch Riesman veränderte den Gang dieser Erzählungen auf eine bemerkenswert kreative und einflussreiche Art, indem er an die Stelle der politischen und ökonomischen Kämpfe den moralischen, sozialen und psychologischen Charakter amerikanischer Männer und dessen historische Veränderlichkeit rückte. Ein genauerer Blick auf seine Arbeit vermag folglich auch zu zeigen, wie er eine geschlechterspezifische Perspektive in die Debatten über die amerikanische Nachkriegsgesellschaft einbrachte. Riesman stand an vorderster Stelle einer ganzen Gruppe brillanter public intellectuals, und er argumentierte überzeugend, dass Amerikaner – und mit „Amerikaner“ meinte er genauso wie seine Kollegen „amerikanische Männer“ – in einer Kultur der Konformität, Schwäche und Manipulation lebten. Derart injizierte er, gestützt auf eine kritische Analyse zeitgenössischer Kultur, ein Gefühl der Gefährdung und der Unsicherheit in die Debatten über den amerikanischen Charakter. (Zu public intellectuals siehe Posner 2001)

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II. Um den unmittelbaren Einfluss und die längerfristige Wirkung von The Lonely Crowd zu verstehen, bedarf es einer knappen Darstellung seiner Entstehungsgeschichte. Riesman war ein Kind der 1930er Jahre, als er die Harvard Universität besuchte und wo ihm nach seinem Examen an der Harvard Law School eine sehr prestigeträchtige Stelle als Assistent des herausragenden Juristen Louis Brandeis angeboten wurde. Riesman jedoch nahm eine Position an der Buffalo Law School an. Nach drei Jahren erhielt er ein Stipendium der Columbia Law School, das ihn aber letztlich nur von seiner juristischen Karriere wegführte. Das Wichtigste an seinem Aufenthalt in New York City war wohl, dass ihm die Anfahrt zu den alle zwei Wochen stattfindenden psychoanalytischen Sitzungen mit Erich Fromm erspart blieb, da er nun bereits vor Ort war. Die Verbindung mit Fromm war entscheidend für Riesman, übernahm er doch zentrale Gedanken von ihm. Riesman erhielt ein Angebot der Universität von Chicago, nachdem er einen bedeutenden Artikel über bürgerliche Freiheiten publiziert hatte, und er sollte dort bis zu den späten 1940er Jahren Sozialwissenschaften lehren. Beinahe ein Neuling und sicherlich nicht spezialisiert auf diesem Gebiet, las er gewissenhaft die Schriften Sigmund Freuds, Max Webers und Alexis de Tocquevilles, und er befasste sich mit der Fragebogenmethodik Helen und Robert Lynds, deren Untersuchung über „Middletown“ das Feld der empirischen Soziologie in den 1920er Jahren in heftige Schwingungen versetzt hatte.2 Alle Arbeiten Riesmans verschränkten zwei unterschiedliche Forschungsansätze ineinander: Ambitionierte soziologische Thesen und psychologische Generalisierungen gründeten auf umfassendem empirischen Material, das über Fragebögen und Meinungserfassungen erschlossen worden war. In Chicago begann Riesman, an zwei Projekten zu arbeiten: Das eine befasste sich mit politischer Apathie und das andere mit den Analysemethoden Sigmund Freuds. Er konnte außerdem zwei junge Soziologen zur Mitarbeit gewinnen, Reuel Denny und Nathan Glazer, die später selbst große Karrieren machen sollten. Das Team führte eine Reihe von Meinungsumfragen durch, die sie zu unerwarteten Ergebnissen führten, indem sie auf die Relevanz zeitgenössischer sozialer und psychologischer Charaktere hinwiesen. Um diese Befunde verstehen zu können, griffen Riesman und seine Mitarbeiter auf die interpretativen Kategorien von Erich Fromms Escape from Freedom zurück.3 Sie gingen von der An2 3

Robert Lynd/Helen Merrell Lynd 1929, Middletown, A Study in Contemporary American Culture, New York. Erich Fromm 1941, Escape From Freedom, New York.

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nahme aus, dass Amerikaner (ebenso wie Deutsche, die Fromms Untersuchungsgegenstand darstellten) zwei historische Stufen der Charakterentwicklung durchlaufen hätten, nämlich die mittelalterliche und die protestantische Stufe. Diese würden nun von einem neuen Charakterbild überformt, das Riesman unter dem Begriff „market orientation“ fasste. Später „amerikanisierte“ er diese Kategorien, indem er sie in „traditional“, „inner-directed“ und „other-directed“ umbenannte, wodurch sie analytischer und weniger historisch klangen. Diese Verschiebungen der Charakterstruktur bildeten die Basis seiner Betrachtung der amerikanischen Gesellschaft. Die Suche nach einem passenden Titel für die Studie gestaltete sich nicht einfach, und nachdem Vorschläge wie The Peers in Their Power: Changing Modes of Conformity in American Life keine Zustimmung finden konnten, entschied man sich für The Lonely Crowd. Das Buch erschien 1950 bei der Yale University Press, 1953 kam eine erste Taschenbuchauflage auf den Markt. Es war einer der ersten amerikanischen Paperbackbestseller und blieb wohl der größte Erfolg, den die Yale University Press jemals verzeichnen sollte.4

III. Um die zentrale Rolle Riesmans für das amerikanische Denken der 1950er Jahre erfassen zu können, müssen wir nun einen Schritt zurücktreten und unseren Blick auf die amerikanische Kultur während dieser Dekade richten. Vor allem der sich entfaltende Kalte Krieg prägte das Leben, und er verlieh den von Riesman diskutierten Problemen eine große Dringlichkeit und Notwendigkeit. In dieser krisenhaften Atmosphäre breitete sich das deutliche Gefühl aus, dass ein neues Verständnis und eine neue Form der Verteidigung der amerikanischen Zivilisation mehr als notwendig seien. Eine umfassende Theorie schien gefordert, um deren Erfolge, Beschränkungen und Zukunftsaussichten bemessen zu können. Weiterhin war schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich erkennbar, dass sich die USA an der Schwelle zu einer Wohlstandphase befanden, wie man sie bis dahin noch nicht erlebt hatte. Daher lautete die dringlichste Aufgabe amerikanischer Intellektueller zu bestimmen, ob – und wenn ja, wie – Amerikaner auf die Gefahren, die von einer Gesellschaft des Überflusses ausgingen, im Kontext ideologischer Mobilisierung reagieren konnten.

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Dieser Beitrag stützt sich im Wesentlichen auf die „David Riesman Manuscripts“ in den University Archives, Pusey Library, Harvard University.

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Die 1950er Jahre waren eine großartige Dekade für Gesellschaftsdiagnostiker. Es war das Zeitalter des öffentlichen Intellektuellen. Diese Männer (und einige Frauen wie Mary McCarthy und Margaret Mead) waren Schriftsteller und Kritiker, Akademiker und freie Soziologen, Theologen und politische Kommentatoren. Viele von ihnen konzentrierten sich auf die Auseinandersetzungen über Sozialismus, Kommunismus und Kapitalismus und verfolgten sowohl die Repressionen des McCarthyism als auch die Effekte der Kulturpolitik der 1930er Jahre besonders aufmerksam. Andere konzentrierten sich auf die Entwicklung der amerikanischen Zivilisation, und hier avancierte Riesman zum führenden Denker seiner Zeit. Er war der primus inter pares. Zu den bedeutendsten kulturkritischen Journalen dieser Tage gehörten The Partisan Review, Dissent und Commentary, wo Schriftsteller, Journalisten und Akademiker vor allem aus New York, aber auch aus dem gesamten Land, publizierten. Einige von ihnen waren ehemalige Linke (Kommunisten oder Trotzkisten wie Dwight Macdonald, C. Wright Mills oder die Herausgeber der Partisan Review), andere wie Riesman, Mead und William H. Whyte hatten einen gemäßigteren Weg der politischen Meinungsbildung beschritten. Doch unabhängig von ihrer ideologischen Verankerung als Akademiker, Herausgeber, Journalisten oder freie Schriftsteller, nahmen diese Intellektuellen eine Position von neuartiger Relevanz in der amerikanischen Gesellschaft ein, die erst mit dem Bedeutungsverlust meinungsbildender Journale und mit der Zerreißprobe, die die USA in den späten 1960er Jahren infolge des Vietnamkrieges durchliefen, erschüttert wurde. Für viele dieser Beobachter war die wichtigste Aufgabe nach dem Zweiten Weltkrieg, den amerikanischen Charakter und seine historische Bedeutung für die Formierung einer einzigartigen amerikanischen Zivilisation neu zu bestimmen. Diese neuerliche Suche nach dem amerikanischen exceptionalism nahm mit einem Revival Alexis de Tocquevilles und seiner berühmten Erzählung von der Demokratie in Amerika ihren Anfang. Wichtig waren auch die Studien, die Margaret Mead und andere Anthropologen während des Zweiten Weltkrieges über den deutschen, japanischen und amerikanischen Charakter angestellt hatten. Zudem etablierte die damals junge akademische Disziplin der American Studies einen Kanon von Schriftstellern, Malern, Architekten und Philosophen. Nach dem Krieg wurden neue Journale wie The American Quarterly publiziert, die darauf ausgerichtet waren, eine spezifisch amerikanische Kultur zu bestimmen, die losgelöst war von den Einflüssen Großbritanniens und Europas. War eine solche Unabhängigkeitserklärung auch das erste Ziel der Zeitschrift und amerikanische Literatur ihr wichtigstes Vehikel, so publizierte sie in ihren Anfangstagen doch auch bedeutende 281

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Artikel von David Riesman und anderen public intellectuals. Erst später wurde American Quarterly zu dem akademischen Forum, das wir heute kennen. Zu den American Studies gesellten sich die Historiker, die nun ebenfalls nach dem amerikanischen Charakter spürten. Deren Publikationslisten aus dieser Zeit sind voll mit Titeln und Untertiteln, die auf die Suche nach der Besonderheit des amerikanischen Wesens und nach einem exceptionalism verweisen. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Arbeiten war, dass sie Frederick Jackson Turners Frontierthese mit ihrer darwinistischen Kampfmetaphorik und ihrer Betonung von Wirtschaft und Umwelt ablehnten oder zumindest kritisch modifizierten.5 Die Vorstellung eines Klassenkampfes oder einer ökonomisch determinierten Gesellschaftsordnung lehnten diese Akademiker und öffentlichen Intellektuellen keineswegs rundherum ab. Zugleich aber waren sie deutlich stärker daran interessiert, die Rolle zu bestimmen, die Charakter und Psychologie in der Geschichte spielten. Und genau hier entfaltete Riesman seinen stärksten Einfluss, indem er ein Modell historischer Entwicklung anbot, das psychologischen Verschiebungen den Vorrang vor wirtschaftlichen Erklärungen einräumte. In The Lonely Crowd verknüpfte er Charakterwandlungen mit demografischen Verschiebungen. Vor allem aber waren seine Leserinnen und Leser von dem Konzept psychosozialer Persönlichkeit beeindruckt, in welcher er den vermeintlichen Grad der Zivilisation, das Ökonomische und das Psychologische verband, dem Letzteren aber den Vorrang gab. Der zeitgenössische amerikanische Charakter, so Riesman, gründe in einer postindustriellen Zivilisation, die von Wohlstand und Überfluss geprägt sei.

IV. Wie Erich Fromm (und Karl Marx) organisierte Riesman seine Vision um ein dreiteiliges Schema historischer Periodisierung. Laut Riesman hing jede dieser drei Perioden von einer sich verschiebenden Bevölkerungsdichte ab – ein Ansatz, den die meisten Leser schlechthin übersahen, wodurch die Ursache, die Riesman für die gesellschaftliche Ent5

Turner 1950. Diese immer wieder aufgelegte Aufsatzsammlung beinhaltet auch Turners berühmten Vortrag, den er 1893 im Rahmen der Weltausstellung in Chicago hielt. Turner beschrieb das Ende der amerikanischen Frontier, die er nicht zuletzt als metaphorischen, psychologischen Raum konzeptionalisierte, ebenso wie die Möglichkeit, die gesamte Welt jenseits des nordamerikanischen Kontinentes als Frontier zu fassen. In diesem Sinne hat auch Turner über den „Charakter“ geschrieben, obschon der Akzent seiner Ausführungen auf Politik, Wirtschaft und Umwelt lag.

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wicklung angab, unklar und vielleicht sogar unsichtbar blieb. Doch obschon dieses scheinbare Defizit Kritik hervorrief, trat dadurch letztlich der wesentliche Punkt in Riesmans Denkgebäude noch deutlicher hervor, nämlich dass der „Charakter“ das Zentrum von Gesellschaft und Zivilisation bildete. Wie sahen diese Stadien historischer Entwicklung aus? Zunächst, so spekulierte Riesman, hatte eine „tradition orientation“ bestanden, in der Menschen durch unveränderliche, bei der Geburt zugewiesene Momente bestimmt wurden, etwa durch die Zunft, den Orden, die Klasse, das Königreich, den Stamm, und innerhalb des Haushaltes wiederum als Vater, Mutter, Kind, Diener usw. In den frühneuzeitlichen Gesellschaften begannen sich Vorstellungen von Persönlichkeit zu wandeln. Eine neue, flexiblere soziale Ordnung wurde etabliert und internalisiert, die sich vor allem in Form religiöser Instruktionen darstellte, die primär die Eltern leisteten. Das Ergebnis war ein Mensch, der – um Riesmans Metapher zu verwenden – von einer Art innerem Gyroskop gesteuert wurde. Aufgrund angeblich fehlender äußerer Zwänge lebte dieser „inner-directed man“ gemäß seines Gewissens und seiner Ambitionen. Der intern regulierte Charakter sei dann in den Tagen des unternehmerischen Kapitalismus aufgeblüht und habe sich unter den Entdeckern und Siedlern, den Großkapitalisten, Erfindern und den berühmtesten Helden der US-Geschichte entfaltet. Gleichzeitig aber, so Riesman, habe sich seit der Frühen Neuzeit eine neuartige Persönlichkeitsstruktur entfaltet, die unter dem Label der „other-direction“ zu fassen sei. Der Mann, so spekulierte Riesman, habe die Anerkennung seines Umfeldes gesucht, und im Zuge dieses Wandels hätte eine zunehmende Zahl an Erziehungseinrichtungen neue Techniken der Gruppenkonformität, -führung und -anpassung vermittelt. In Riesmans Zeiten waren solche fremdgesteuerten Männer schließlich allerorten anzutreffen, von den Aufsichtsräten der Großunternehmen bis zu den Grillplätzen in den Gärten der neuen Vorstadthäuser. Der fremdgesteuerte Mann war darauf ausgerichtet, anderen zu gefallen, und um dies zu leisten, hatte er angeblich einen regelrechten inneren „Radar“ entwickelt. Obschon diese Darlegungen wie ein aufziehender Alptraum erschienen, stritt Riesman immer ab, die amerikanische Utopie durch eine Dystopie des Konformismus ersetzen zu wollen. Er betonte, dass diese Lesart seines Textes wohl durch seine starke und einprägsame Metaphorik begründet sei, durch die Prägnanz von Begriffen wie „lonely crowd“, „inner-“ und „other-directedness“. Außerdem wies Riesmann immer wieder darauf hin, dass er zum Ende seiner Studie das Aufkommen einer neuen Persönlichkeit prophezeit habe, die hoffentlich den fremdgesteu283

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erten Mann ersetzen würde. Dieser „autonomous man“ vereinte die besten Facetten der Fremd- und Selbststeuerung synthesenhaft in sich. Diesen Darlegungen über die menschlich-männliche Autonomie als Synthese seiner Arbeit wurde jedoch kaum Beachtung geschenkt, und es bleibt unbestritten, dass Riesmans Vorliebe für prägnante Begrifflichkeiten starke Konnotationen hatte und Assoziationen auslöste. Zu prägnant war das Label des „Konformismus“, und es traf die Amerikaner seiner Tage im Mark. Welcher Mann wollte schon als fremdbestimmt gelten? Hatte es, ganz im Gegenteil dazu, nicht schon immer geheißen, die essenziellen Qualitäten des amerikanischen Mannes seien Selbstbestimmtheit, Risikobereitschaft und Schöpfungsdrang? Riesmans Ausführungen nährten das kollektive Bedürfnis, nach einer individualistischen Vergangenheit zu spüren. Nicht zuletzt dadurch stimulierten sie zugleich eine geschlechtlich strukturierte Vision der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft. Unzweifelhaft waren die Subjekte seiner Erzählung männlich. Waren Frauen jemals „inner-directed“ gewesen? Hatten sie jemals über dieses Gyroskop aus der Hochzeit des unternehmerischen Kapitalismus verfügt? War ihre Welt nicht immer schon eine Welt der „other-directedness“ gewesen, von den Bedürfnissen der Familie und der Haushaltung geprägt? Riesman formulierte solche Fragen nicht explizit, und tatsächlich werden Frauen in The Lonely Crowd nur ein einziges Mal ausdrücklich erwähnt. Dort berichtet er von einer Lehrerin, die eine Kindergeschichte über eine widerborstige Dampfmaschine nutzt, um die Regeln und Vorteile der Konformität zu erläutern. Riesman hat das Geschlecht seiner historischen Prototypen ebenso wenig zum Gegenstand seiner Erörterungen gemacht, wie etwa Frederick Jackson Turner vor ihm. Turners Ausführungen über politische Freiheiten und Selbstbestimmung, die sich an der Frontier herausbildeten, waren für Frauen, die in dem „jungfräulichen Land“ kaum politische Rechte und nur geringe wirtschaftliche Optionen hatten, kaum von Belang. Riesmans Darstellung der amerikanischen Geschichte war ähnlich geschlechtlich strukturiert: An die Stelle jener selbstbestimmter Charaktere des Erfindergeistes, der harten Arbeit und des Individualismus, die Amerika zu einer großen und mächtigen Nation geformt hatten, rückten effeminierte, fremdbestimmte Konformisten. Diese geschlechtliche Dimension seiner Konzeptualisierung hat Riesman niemals explizit thematisiert, doch deren zentrale Rolle in seinen Ausführungen zum amerikanischen Charakter ist unübersehbar. Zudem war es für die zeitgenössischen Leserinnen und Leser ein Leichtes, seine Ideen zu anderen Arbeiten in Beziehung zu setzen, die die Vitalität des amerikanischen (männlichen) Charakters in Frage stellten.

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Riesmans The Lonely Crowd bot nicht bloß eine geschlechtlich strukturierte Interpretation der amerikanischen Geschichte. Der Text trug außerdem dazu bei, dass immer mehr öffentliche Intellektuelle in den 1950er Jahren an dem Narrativ einer männlichen Krise strickten. Riesman war eine der Hauptfiguren in dieser Krisendiskussion, denn schließlich boten seine Arbeiten eine Erklärung dafür, wie sich eine Welt angeblich feminisierter Männer und kollektivistischer Institutionen historisch formiert hatte. Er war der Prophet und der Analytiker einer Dekade, die sich heftigst vor dem Untergang des Individualismus fürchtete.

V. Riesmans Arbeit verknüpfte das Problem der Charakterbildung mit verschiedenen anderen, damals drängenden kulturkritischen Fragen. Vor allem drei Themen beschäftigten die public intellectuals der 1950er Jahre, und The Lonely Crowd schien eine bessere Erklärung für ihre Herkunft zu bieten, als alle anderen Arbeiten seiner Zeit: Vervorstädterung, Konsum und Massenkultur. Man kann sogar sagen, dass Riesmans Arbeit den Kontext definierte, in dem die culture wars der 1950er Jahre ausgefochten wurden. Jedes einzelne dieser Themen wurde so heiß debattiert, dass eine radikale Kritik an der amerikanischen Zivilisation mitschwang. Damals, und dies gilt partiell auch noch heute, war allerdings weniger offensichtlich, dass dieser Kritik eine starke geschlechtliche Komponente innewohnte. Schließlich wurden Vorstädte, Massenkonsum und Massenkultur als Teil einer Feminisierung der Gesellschaft gedacht. Im Kern der Sache lag die Sorge, dass die moderne amerikanische Gesellschaft verweiblichte Männer schaffte und dass der Verlust männlicher Selbstbestimmtheit den Verlust von Kreativität bedeutete und damit Amerika als Ganzes in seinem Kern beträfe. Blieb die Furcht vor der Feminisierung Amerikas, die die Sozialkritik der 1950er Jahre durchzog, einerseits subkutan, so wurden Frauen andererseits auch direkt und explizit beschuldigt, die Unterwerfung des Mannes zu betreiben. Diesen Vorwurf formulierte 1942 erstmals Philip Wylie in seinem berühmten Buch A Generation of Vipers.6 Wiley richtete seinen Zorn gegen Frauen, die er „Moms“ nannte und als frustriert, besitzergreifend, selbstbezogen, narzistisch und fordernd beschrieb. Diese Frauen erzögen Söhne, die niemals zur psychologischen Unab-

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Philip Wylie 1942, A Generation of Vipers, New York; weitere Auflagen erschienen 1955, 1979 und 1996.

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hängigkeit und folglich auch niemals zur Reife gelangen könnten. Sie würden vielmehr zu schwachen und konformistischen Männern werden, zu Kriminellen und Homosexuellen. Wylie machte den so genannten „Momism“ für beinahe jedes Übel verantwortlich, das er in der amerikanischen Gesellschaft zu entdecken glaubte. Wylie formulierte sicherlich eine extreme Position, die in dieser Schärfe nicht weit geteilt wurde. Gleichwohl hatte seine Interpretation in den 1950er Jahren große Konjunktur, und sie wurde häufig in Journalen oder auf Symposien zitiert, wo die angeblichen Probleme amerikanischer Männlichkeit verhandelt wurden. Wylie selbst erschien ab 1956 wieder auf der Bildfläche, und zwar als regelmäßiger Kommentator amerikanischer Geschlechterfragen für das Playboy Magazine. Seine Ide-en bahnten sich sogar den Weg in den berühmtesten und einflussreichsten feministischen Text seiner Zeit, Betty Friedans The Feminine Mystique von 1963.7 Friedan hat den Gedanken, dass amerikanische Männer durch die kulturellen Verschiebungen der 1950er Jahre und insbesondere durch den Momism feminisiert worden seien, beinahe unverändert übernommen, auch wenn sie gänzlich andere Reaktionen darauf forderte, als Wylie dies tat. Man(n) war in den 1950er Jahren verwirrt, ob der angeblichen Fülle weiblicher Macht, und die Orte dieses weiblichen Imperialismus wurden zunehmend suspekt. Vorstädte und Aufsichtsräte, so hieß es, standen unter dem Banner der Feminisierung. William H. Whyte etwa trat in die Fußstapfen Riesmans, als er mit seinem Buch The Organization Man von 1956 die Vorstädte als konformistische und verweiblichte AntiGemeinden verwarf. Whyte fand ähnliche Makel in den Büroetagen, wo Unternehmertum und Innovation von Managementtechniken und Manipulation verdrängt worden waren. „Bossism“, eine parallele soziale Formation zum „Momism“, prägte den Arbeitsplatz. Dies beschleunigte abermals den Verfall des amerikanischen Individualismus, und das Opfer war der traditionelle Erneuerer, der unabhängige Geschäftsmann.8 Whytes doppelter Schlag gegen die Welten der Vorstädte und der Korporationen wurde von anderen Autoren wie Vance Packard oder C. Wright Mills unzählige Male wiederholt, variiert und optimiert.9 Sym7

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Betty Friedan 1963, The Feminine Mystique, New York. Friedan griff die Vorstellung auf, überprotektive Mütter produzierten schwache Söhne. Als Beispiel verwies sie auf das Verhalten der wenigen amerikanischen Kriegsgefangenen in Korea, die zur Kollaboration mit ihren Kriegsgegnern neigten. William H. Whyte 1956, The Organization Man, New York. Vance Packard 1957, The Hidden Persuaders, New York. Packard publizierte in den 1950er Jahren zahlreiche Studien, die suggerierten, die dunkelsten und traurigen Geheimnisse des amerikanischen Lebens aufzude-

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posien, Zeitschriftenartikel, psychologische und soziologische Kommentare, Hollywoodfilme, Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke befassten sich gleichermaßen mit diesen Gedanken wie der politische Diskurs. Die amerikanischen Vorstädte als trostlose Orte, die ohne jedwede Kultur waren und lediglich als Schlafstätten für die Drohnen dienten, die tagsüber zu den Arbeitsplätzen schwärmten, wo sie bedeutungsleeren Aufgaben nachgingen, wurden zum Klischee der Dekade. Der starke amerikanische Charakter vergangener Tage, den die public intellectuals und Akademiker so sehr beschworen hatten, schien im Begriff zu sein, sich in einen verweichlichten, übervorsichtigen Mann zu verwandeln, der ganz bewusst seine Persönlichkeit so gestaltete, dass er anderen gefiel. Im Jahr 1956 war es wie so oft Hollywood, das dieses Phänomen auf den Punkt brachte und sogar zuspitzte, und zwar mit seiner brillanten Karikatur des Konformismus in The Invasion of the Body Snatchers.10 Weniger klar trat in dieser ganzen Diskussion zum Vorschein, wie sehr die Kritiker den Verfall traditioneller Formen der Männlichkeit postulierten: den tiefen Fall der Männer in feminisierte Vorstadtsphären, die beherrscht waren von Kaffeekränzchen in Kleingärten, sowie in durchorganisierte Korporationen, wo möglicherweise sogar Frauen die Personalabteilungen beherrschten und Persönlichkeitstests durchführten, die darauf ausgerichtet waren, denjenigen Geschäftsmann auszuwählen, der am zurückhaltendsten und fremdgesteuertsten war. Eine genaue und präzise Lektüre der entsprechenden Texte vermag jedoch zu zeigen, wie sehr die zeitgenössischen Kommentatoren ihre Skepsis gegenüber der Nachkriegskultur in geschlechtsspezifischer Metaphorik zum Ausdruck brachten. Die Schwächen, die sie diagnostizierten, waren auf den Verfall von männlichem Individualismus und Unabhängigkeit einerseits und den Aufstieg der weiblichen Masse und Macht andererseits bezogen. Die Massenkultur der modernen Gesellschaft war ein weiterer zentraler Aspekt der Nachkriegskritik an der amerikanischen Zivilisation. Die Theoretiker der Frankfurter Schule, die ab den 1930er Jahren zahlreich in Amerika weilten, vereinten sich mit kritischen amerikanischen Eigengewächsen, und sie verdammten die Kultur als Massenware in Form von Film, Fernsehen und Unterhaltung. Kritiker, die in den Spuren Theodor W. Adornos wandelten, warnten vor den abstumpfenden Effekcken; vgl. etwa „The Status Seekers, The Pyramid Climbers und The Waste Makers. C. Wright Mills 1953, Character and Social Structure. The Psychology of Social Institutions, New York. 10 Der Film vereinte Fragen der Konformität und des drohenden nationalen Verfalls mit Sorgen über den McCarthyism. Er konnte ebenfalls als eine Karikatur des Kommunismus gelesen werden. In diesem Beitrag kann ich lediglich darauf hinweisen, dass eine solche politische Kritik Teil des damaligen Diskurses war.

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ten der Massenkultur, deren Verbindung mit Propaganda und totalitärer Indoktrination nach den Jahren des Faschismus nicht mehr übersehen werden konnte. Weiterhin zirkulierte der mächtige Vorwurf, dass Massenkultur durch Nachahmung Delinquenz, Verbrechen und unmoralisches Verhalten begünstige.11 Demnach unterminierte die Massenkultur Tradition, Gemeinschaft und Charakter. Es kann insgesamt kaum überraschen, dass sich die public intellectuals der 1950er Jahre intensivst mit dem Phänomen der Massenkultur auseinandersetzten.12 Die Regierung initiierte sogar Anhörungen, um zu klären, ob Comic-Hefte mit Verbrechergeschichten die Jugendkriminalität unmittelbar beförderten. Doch letztlich stand noch vielmehr auf dem Spiel, als „nur“ die Täuschung und Verführung der Masse, nämlich das Geschlecht der Kultur insgesamt. Die Vorstellung, dass ein Verfall der Kultur die Folge ihrer Verweiblichung sei, ist mehr als seltsam, aber doch tief in der amerikanischen Geschichte verwurzelt. Im 20. Jahrhundert war der Begriff „feminine“ oft recht unspezifisch auf eine elitäre Kultur bezogen worden. Die public intellectuals der 1950er Jahre sorgten hier für mehr Klarheit. Sie konnotierten die Massenkultur eindeutig negativ, indem sie sie als effeminiert beschrieben und die elitären Kulturgüter in der Regel als hart, modern und maskulin. So hieß es von konventioneller Literatur und populären Romanen, sie seien oberflächlich und etwas für Frauenbuchclubs, während moderne Poesie und abstrakter Expressionismus in der Kunst als Verdinglichungen des Maskulinen galten. Ob solche Positionen nun überzeugend waren oder nicht, soll hier offen bleiben. Sie wurde jedenfalls von renommierten Kritikern wie Clement Greenberg oder Dwight Macdonald vehement vertreten. Die dritte Säule der Fremdbestimmtheit neben Vervorstädterung und Massenkultur war der Konsum und damit eine Aktivität, die traditionell als weiblich assoziiert wurde. Die 1950er Jahre barsten vor sarkastischen Beschreibungen von Männern, die lernten zu konsumieren und sich in den unmännlichen Bereichen der Körperpflege, der Mode und der Ernährung zu bewegen – in anderen Worten, äußerlich etwas herzumachen und Oberflächlichkeiten zu kultivieren. Zahllose Journalisten mokierten in populären Zeitschriften, dass Männer nun Deodorants kauften, Diät hielten und Pastellfarben trugen, während sie in ihren Vorstadthäusern „loungten“. Diese neuartige männliche Neigung zum Konsum war zwar gut für das Geschäft, und ganze Industriezweige verlagerten entsprechend ihre Produktion, um der neuen Aufmerksamkeit für das männliche Selbst und dessen Wohlbefinden gerecht zu werden. Die Schreiberlinge 11 Siehe dazu auch den Beitrag von Olaf Stieglitz in diesem Band. 12 Bernard Rosenberg/David Manning White (Hg.) 1957, Mass Culture. The Popular Arts in America, Glencoe, IL.

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dieser Tage warnten jedoch wieder und wieder vor den schädlichen moralischen und psychologischen Effekten dieser Transformation. Konsum war immer die Domäne der Frauen gewesen. Wie würden Männer sich verändern, wenn sie den Frauen an die Frontier der Eitelkeiten folgten? Welche Implikationen hätte dieser Wandel von der Produktion zum Konsum, von „inner-“ zu „other-direction“? Schon viele Jahre zuvor, nämlich 1889, hatte Thorstein Veblens berühmte Theory of the Leisure Class die angeblich geschlechterspezifischen Effekte des Konsums auf Amerikas Elite aufgeworfen.13 Um wie viel gefährlicher war die Konsum- und Prunksucht für die Männer der Mittelklasse der 1950er Jahre! Warnende Stimmen betonten, die Verwandlung vom Produzenten zum Konsumenten hätte gefährliche Auswirkungen auf die Kreativität der amerikanischen Gesellschaft und auf die Maskulinität ihrer Schöpfer. Amerika, so meinten manche Beobachter, drohte, seine Energie und seine Antriebskraft in den Ablenkungen der Konsumwelt zu erschöpfen. Der Historiker Warren Susman griff Riesmans Konzept der Selbst- und Fremdbestimmtheit auf, und die Verschiebungen des typischen Charakterprofils, wie Riesman sie diagnostiziert hatte, erachtete er als eine der bedeutendsten kulturellen Veränderungen des 20. Jahrhunderts. Während Männer des 19. Jahrhunderts für ihre inneren Qualitäten der Moral und Rechtschaffenheit geschätzt werden wollten, war der moderne Mann mehr von Oberflächlichkeiten geprägt. Der männliche Produzent, der sich durch seine Fähigkeit, etwas herzustellen, definiert hatte, war zu einem effeminierten Konsumenten mutiert, der von den Dingen abhängig war, mit denen er sich umgab. (Susman 1984)

VI. Ich hoffe in diesen kurzen Ausführungen deutlich gemacht zu haben, wie zentral David Riesmans Erwägungen für die Entstehung einer wirkmächtigen sozio-psychologischen Interpretation der amerikanischen Nachkriegskultur waren. Besonders wichtig war mir zu zeigen, dass diese Kritik zutiefst mit der Angst vor einem Verfall amerikanischer Männlichkeit verbunden war. Nicht mehr und nicht weniger als eine radikale Umkehrung der Geschlechterverhältnisse schien zu drohen, die Riesman in dem Begriff der „other-directedness“ auf den Punkt brachte und die 13 Thorstein Veblen 1899, An Economic Study in the Evolution of Institutions, New York. Riesman verfasste einen biografischen Kommentar zu Veblens Theorien in Riesman 1960, Thorstein Veblen. A Critical Interpretation, New York.

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sich offenkundig in den sozialen und kulturellen Trends der Zeit manifestierte: Vervorstädterung, Massenkultur und Konsum. Diese Trends, so hieß es, forderten sämtlich die amerikanische Männlichkeit heraus, indem sie traditionelle männliche Vorrechte und Domänen beschnitten und Charakterstärke als Wert unterminierten. Männer waren dem Gutdünken des „Momism“ und „Bossism“ ausgesetzt sowie dem Konformitätszwang und den versteckten Überzeugungskräften unterworfen, etwa in Form von Persönlichkeitstests, die entwickelt worden waren, um sie für ein Leben in „togetherness“ bereit zu machen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma sah Riesman im „autonomous man“, und nicht umsonst feierte der Historiker Arthur M. Schlesinger, Jr., das Auftauchen John F. Kennedys als die Rückkehr des selbstbestimmten Individuums, das die Auferstehung des traditionellen amerikanischen Individualismus zelebrierte.14 Dies beförderte einen seltsamen Widerspruch. Die Rhetorik der öffentlichen Intellektuellen klang sehr kritisch und bisweilen sogar radikal, wenn sie die Mentalitäten des Herdes, der Manipulation im Sinne der großen Korporationen und der ebenso formlosen wie gefährlichen Kultur des Konsums verurteilten. Gleichwohl hatte deren Sorge um einen Verlust des Individualismus doch auch andere Implikationen, die nicht zuletzt in den konservativen Stimmen der 1960er Jahre und danach zum Ausdruck kamen. Tatsächlich teilten sich die public intellectuals nach den 1950er Jahren recht gleichmäßig in radikale Kritiker und NeoKonservative auf. Der Aufstieg einer aggressiven feministischen Bewegung nach 1963 verschärfte die Bedeutung von Geschlechterfragen in diesen Debatten. Ich möchte nicht schließen, ohne auf die Fallstricke meiner Riesman-Lektüre hinzuweisen. Wenn es für Riesman und die anderen Kritiker der Vervorstädterung auch schwierig war, unter den Bedingungen der Nachkriegsgesellschaft eine kreative Form von Männlichkeit zu entdecken, so bedeutete dies doch keineswegs, dass in den 1950er Jahren keine kreativen und aktiven Formen des Mannseins existierten. Und: Nicht alle teilten ihre Befürchtungen. Ganz sicher sogar durchliefen Millionen von amerikanischen Männern den Wandel zur Nachkriegsgesellschaft, ohne offensichtlichen psychischen oder moralischen Schaden zu erleiden. Sie akzeptierten die neuen Geschlechterordnungen, die im Kern dieser Gesellschaft bestanden, und so manches Mal genossen sie

14 Schlesinger verfasste 1960 einen Wahlkampftext für John F. Kennedy, in dem er die Persönlichkeit Richard M. Nixon als „other-directed“ analysierte; Schlesinger 1960, Kennedy or Nixon: Does it Make a Difference? New York; vgl. dazu auch den Beitrag von Robert Dean in diesem Band.

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sie sogar. Für viele Männer und Frauen dieser Zeit existierte diese Krise der Männlichkeit gar nicht. Zahlreiche amerikanische Historiker, die aus den 1950er Jahren heraus geprägt wurden, haben sich die kritischen Weisheiten dieser Tage zu Eigen gemacht und die Skepsis gegenüber den Qualitäten des Vorstadtlebens, der Konsumgesellschaft und der Massenkultur in ihre Arbeiten integriert. Eigentlich aber sollten diese Annahmen in historischen Analysen herausgefiltert und kritisch diskutiert werden. Wir sollten uns meines Erachtens davor hüten, unbewusst die Grundzüge einer Geschichte des Charakters zu übernehmen, wie sie in den 1950er Jahren entworfen worden ist. Ansonsten laufen wir Gefahr, die geschlechterspezifischen Implikationen zu reproduzieren, obgleich wir eigentlich vorhatten, sie zu kritisieren. Deutsche Übersetzung von Jürgen Martschukat

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Flugreisen und Männlichkeit nach dem Zw eiten Weltkrieg ANKE ORTLEPP

Als Frank Sinatra im Jahr 1958 seinen Song Come Fly With Me einspielte, erlebte die zivile Passagierluftfahrt in den Vereinigten Staaten einen bislang nie da gewesenen Boom. Immer mehr Menschen wählten das Flugzeug als Transportmittel für lange Reisestrecken und flogen zur Hochzeitsreise oder auf einen Drink „runter nach Peru“ oder „zur Acapulco Bay“, wie Sinatra in seinem Lied sang.1 Eine Reise mit dem Flugzeug war attraktiv, weil sie Touristen wie Geschäftsreisenden gleichermaßen die Möglichkeit bot, Distanzen schnell und bequem zu überwinden und weil Flugreisen zudem seit den frühen 1960er Jahren durch den einsetzenden Preiskrieg zwischen den Fluggesellschaften immer preiswerter wurden. Eine Reise mit dem Flugzeug war aber darüber hinaus auch deshalb erstrebenswert, weil sie dem oder der Reisenden eine Teilhabe am Lebensstil des Jetset zu ermöglichen schien. Sinatra musste dabei als Personifizierung dieses Lebensstils erscheinen. Als international bekannter Sänger und Schauspieler war er überall auf der Welt gefragt und schien beständig zwischen solch schönen und aufregenden Orten wie Las Vegas, Atlantic City, Cancun oder Nizza zu pendeln, wo er sich mit Menschen umgab, die ebenso reich und berühmt waren wie er. Inspiriert von den Reiseliedern Sinatras, die zum größten Teil auf der 1958 bei Capitol Records erschienenen und nach dem Titelsong benannten Langspielplatte Come Fly With Me eingespielt wurden, unter-

1

Frank Sinatra, „Come Fly With Me“, Come Fly With Me, Capitol 1958.

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sucht dieser Beitrag die Verbindungslinien zwischen Flugreisekultur und Konstruktionen von Männlichkeit in der amerikanischen Nachkriegszeit. Nach einer kurzen Einführung in die Entwicklung der zivilen Passagierluftfahrt steht die Betrachtung dreier Männlichkeitsideale im Zentrum der folgenden Seiten: des Flugkapitäns, des Geschäftsreisenden und des abenteuerlustigen Touristen. Darstellungen dieser Ideale finden sich vor allem in Marketing- und Public Relations-Materialien, mit denen Fluggesellschaften für das Luftreisen warben. Wie zu sehen sein wird, wurden dabei attraktive Modelle von Männlichkeit konstruiert und konsumiert, die gegen das verbreitete Krisenszenario weißer Mittelschichtsmänner angingen. Neu definierte Männlichkeitsideale sollten positive Identifikationsbezüge herstellen in einer Gesellschaft, die neben der Kriegserfahrung weitreichende strukturelle Wandlungsprozesse – wirtschaftlicher, demografischer und sozialer Natur – zu bewältigen hatte. Die zivile Luftfahrt gewann ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts neben dem Auto für Reisen im Inland und besonders ins Ausland an Bedeutung und verschaffte vielen Amerikanern einen erneuten Mobilitätsschub. Gesellschaften wie American, United und Delta Airlines nahmen ihren Passagierbetrieb in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren auf. Einige, wie zum Beispiel Delta oder United Airlines, hatten bereits ein Jahrzehnt zuvor als Unternehmen angefangen, die mit Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft oder dem Transport von Luftpost ihr Geld verdienten. (Garvey und Fisher 2002, S. 18-34; Bedwell 1999, S. 20-31) Nur wenige Airlines hatten zu diesem Zeitpunkt schon repräsentative Bodeneinrichtungen – meist gab es einen Hangar und eine mehr oder minder gut ausgebaute Start- und Landebahn. Häufig beschränkte sich das Streckenangebot auf eine Flugroute. Seit 1929 boten zum Beispiel Delta Airlines eine Flugverbindung zwischen Dallas, Texas und Jackson, Mississippi, an. Zwei Jahre zuvor hatte Pan American World Airways (kurz Pan Am) seinen Flugbetrieb zwischen Key West, Florida, und Havanna, Kuba, aufgenommen. (Conrad III 1991, S. 41) Um die Flugreise für ihre Passagiere so angenehm wie möglich zu gestalten – die ersten Maschinen waren extrem laut, zugig und den Wetterbedingungen ausgesetzt – boten die meisten Gesellschaften bald Mahlzeiten sowie ein Unterhaltungsprogramm an Bord an. Zudem stellten sie junge, unverheiratete Krankenschwestern als Flugbegleiterinnen ein, die sich um das Wohlergehen der Passagiere kümmern sollten. Diese junge Frauen ersetzten die männlichen Flugbegleiter – auch stewards genannt – die in den ersten Jahren des Passagierbetriebes – ähnlich wie in den Pullman Zügen – die Versorgung der Gäste übernommen hatten. (Omelia und Waldock 2003; Bomar 2001) Das stetige Anwachsen der Passagierzahlen sowie die Expansion der Flugindus294

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trie wurden dann für einige Jahre von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges unterbrochen. Der Krieg beeinflusste sowohl das Reiseverhalten innerhalb als auch außerhalb der USA negativ. Zudem kam es zu einer Einschränkung des Flugreiseangebotes, weil die meisten Airlines der Armee einen Teil ihrer Flugzeugflotte für Truppentransporte oder für Versorgungsflüge zur Verfügung stellten. (Mangan 1990) In der Nachkriegszeit erlebte die zivile Passagierluftfahrt eine Phase rapiden Wachstums. Neue Fluggesellschaften entstanden und auch kleinere Städte investierten nun in den Bau von Flughäfen. (Szurovy 2000; Szurovy 2003) Die Einführung von Flugzeugen mit Düsenantrieb machte es den Fluggesellschaften zudem möglich, ihre nationalen wie internationalen Streckennetze auszubauen, da weit entfernt gelegene Ziele in ständig abnehmender Reisezeit angeflogen werden konnten. (Bilstein 1993; Bilstein 2001; Corn 2002) Dies führte zu einem explosionsartigen Anstieg des Passagieraufkommens. Immer mehr Menschen, Touristen wie Geschäftsreisende, wählten das Flugzeug, um Distanzen schnell und bequem zu überwinden. Während im Jahr 1950 17,3 Millionen Passagiere mit dem Flugzeug reisten, waren es 1970 bereits 153,2 Millionen und im Jahr 1990 lag ihre Zahl bei 456,7 Millionen. Zu diesem Anstieg trugen auch sinkende Ticketpreise bei, die zu einer Demokratisierung der Flugreiseerfahrung beitrugen und einer zunehmenden Zahl von Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe eine Reise mit dem Flugzeug ermöglichten. (Gottdiener 2001, S. 85) Dennoch behielt die Flugreise bis in die sechziger Jahre ihre Faszination als Erlebnis, das eine Teilhabe am Lebensstil des Jetset versprach, den bekannte Künstler und Schauspieler wie Frank Sinatra oder Sean Connery alias James Bond verkörperten. (Stern 1990 und Stern, S. 35-57) Da Fluggesellschaften während der fünfziger und sechziger Jahre vor allem eine männliche Öffentlichkeit anzusprechen versuchten, in der sie ihre wichtigste Zielgruppe erkannten, warben sie mit männlich kodierten Leitthemen für das Flugreisen, wie zum Beispiel Technik, Professionalität und Abenteuer. Diese wiederum wurden mit einer Reihe von Leitfiguren verknüpft, die stets wiederkehrende Erscheinungen in den Werbeanzeigen dieser Zeit waren und eine Reihe von Eigenschaften mit den genannten JetsetFiguren teilten: der „Flugkaptiän“, der „Geschäftsreisende“ sowie der „abenteuerlustige Tourist“. Flugkapitäne wurden als das wertvollste Kapital einer Fluggesellschaft präsentiert. In Zeichnungen oder auf Fotos erscheinen sie in der Regel als weiße Männer mittleren Alters, deren tadellose Uniformen ihr gutes Aussehen unterstreichen. Betont wurden ihre persönlichen und professionellen Qualitäten als hoch qualifizierte Piloten, die modernste Technik perfekt beherrschten und ihre Passagiere pünktlich und sicher 295

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zu ihrem Zielort beförderten. Eine Pan Am Anzeige aus dem Jahr 1957 reduzierte die Figur des Flugkapitäns auf seine Hände: „It’s good to know that Uncle Sam is your skipper when you fly overseas“ (Abb. 1).2 Hier wurde der Kapitän zum einem mit dem amerikanischen Nationalsymbol Onkel Sam gleichgestellt. Dies implizierte, dass sich der Reisende mit Pan Am der amerikanischsten aller Fluggesellschaften anvertraute und damit bei Reisen ins (nicht-amerikanische) Ausland nur richtig liegen konnte. Zum anderen fokussierte das Bild auf die maßgebliche Fähigkeit eines jeden Kapitäns, nämlich das Steuer ruhig und gekonnt zu führen, um seine Passagiere sicher ans Ziel zu bringen. Die vier goldenen Streifen am Ärmel der dargestellten Uniform unterstreichen die große Erfahrung des abgebildeten Händepaars: jeder Streifen steht für eine Million geflogener Meilen. Um hohe Qualifikation, gute Ausbildung und Erfahrung ging es auch in einer American Airlines Anzeige aus dem Jahr 1960. Auf die in der Anzeige abgedruckte, handschriftlich verfasste Anfrage des Kunden Harry Hillard hin hieß es: Our Pilots, Mr. Hillard, are another of the reasons, why American Airlines is first choice of experienced travellers. There are 1,750 of them; many are 15 and 20-year veterans – multi million mile Captains. Each follows a rigid apprenticeship with continuing company and government examinations. They are the elite of the Jet Age.3

Der Flugkapitän bestach zudem durch seine Qualitäten als zuverlässiger Arbeitskollege und fairer Leiter einer jeden in-flight crew. Auch wenn semi-fiktionale Autobiografien wie Coffee, Tea or Me? der beiden ehemaligen Stewardessen Trudy Baker und Rachel Jones Flugkapitänen eine gewisse Freizügigkeit im Umgang mit dem weiblichen Bordpersonal unterstellen, stellte die Werbung sie dar als Personen dar, die den Reisenden ihren Aufenthalt an Bord so angenehm wie möglich gestalten wollten.4 Dabei war es unerheblich, ob es sich bei diesen um eine Gruppe Geschäftsreisender, um alleinreisende Kinder oder Großeltern auf 2 3 4

Pan American Werbeanzeige, Printkampagne 1957. American Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1960. Trudy Baker kommentiert ihre Beobachtungen wie folgt: „On the other hand, there are some captains, not many of them, who think the whole point of taking a plane from one city to another is to make a lunge for a stewardess two minutes after landing. Sister stews have told us some pretty horrendous tales about captains. You could begin to think that some of the most over-sexed males in the country are right up front in the cockpit of your super-powered, fan-jet, dyna-lift, whisper-quiet airplane. Waiting for only one thing – to paw their way into your chaste chamber at the hotel.“ Trudy Baker und Rachel Jones 1967, Coffee, Tea or Me? The Uninhibited Memoirs of Two Airline Stewardesses. New York, S. 90.

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dem Weg zu ihren Enkelkindern handelte. Denn in seinem Herzen war der Kapitän ein Familienmensch, der sich nichts mehr wünschte, als am Ende eines langen, anstrengenden Arbeitstages zu Frau und Kindern zurückzukehren.

Abbildung 1: Pan American Werbeanzeige, Printkampagne 1957 Darüber hinaus wurde er als gebildet und patriotisch dargestellt. Der American Airlines Captain Willie Proctor, so verlautbarte eine Anzeige aus dem Jahr 1953, habe seine zurückliegenden Sommerferien nicht im Ausland, sondern im Südwesten der Vereinigten Staaten verbracht. Freiwillig habe er sich dafür entschieden, dort Orte und Menschen zu besuchen, um nachher seinen Passagieren von diesen erzählen zu können: „Good morning, ladies and gentlemen, this is your Flagship Captain speaking.“ „From high in the sky,“ so der Anzeigentext, „his detailed descriptions of points of interest made the whole trip seem like a personally guided tour. Scenic highlights and historic landmarks – Indian chiefs and pioneer heroes – Proctor wove them all into one fascinat297

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ing American history lesson that thrilled thousands of travellers.“5 In diesen Ausführungen, so die Anzeige weiter, komme die Wertschätzung des Kapitäns für seine Passagiere zum Ausdruck. Er wolle diesen das überflogene Land nicht allein als abstrakte Materie, sondern als erlebbaren Raum nahe bringen und sie damit – so ist zu vermuten – zu weiteren Reisen mit der gleichen Fluggesellschaft animieren. Jenseits des Cockpits war jeder Kapitän an seiner strahlenden Uniform zu erkennen, die fast alle Fluggesellschaften ähnlich gestalteten. In den Farben schwarz oder dunkelblau gehalten, bestand sie aus einer schlichten Hose, einer Jacke mit Gold- oder Silberknöpfen, den Dienstinsignien wie Ärmelstreifen und Abzeichen, einer verzierten Schirmmütze sowie schwarzen Lackschuhen. Als Symbol des Prestiges, mit dem der Beruf des Flugkapitäns behaftet war, verleitete sie deren Betrachter zu Bekundungen von Respekt und Bewunderung wie zuletzt der Spielfilm Catch Me If you Can in ironisierender Weise vor Augen geführt hat.6 Der Film erzählt die Geschichte des Hochstaplers Frank Abignale (gespielt von Leonardo DiCaprio).7 Abignale, der einem zerrütten Elternhaus zu entkommen sucht, sichert sich mit gefälschten Pan Am-Gehaltsschecks seinen Lebensunterhalt und wechselt mühelos seine Identität, wann immer er sich seine unter recht dubiosen Umständen erworbene Pan Am-Kapitänsuniform überstreift. Vom gejagten Verbrecher wird er plötzlich zu einer Person, die Aufmerksamkeit auf sich zieht, der Kollegen und Reisende mit Respekt begegnen und die sich vor eindeutig zweideutigen Angeboten weiblicher Flugbegleiter kaum retten kann. Streift er die Uniform wieder ab, wird er zum quasi unsichtbaren Niemand. Für viele amerikanische Männer aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse stellte die Notwendigkeit, in der Nachkriegsgesellschaft ihren Platz zu finden und die Rückkehr vom Leben im Militär in ein ziviles Dasein sinnvoll und erfolgreich zu gestalten, angesichts vielfältiger struktureller Probleme eine Herausforderung dar. (Gilbert 2005; May 1988, 58-91) Der Flugkapitän lässt sich als Ideal interpretieren, wie sich ein solcher Übergang bewerkstelligen ließ. Während des Krieges hatten viele Piloten für die amerikanische Luftwaffe gearbeitet oder waren von der Air Force ausgebildet worden. Nach dem Krieg bot die stark expandierende zivile Passagierluftfahrt diesen Piloten eine Weiterbeschäftigung in einem prestigeträchtigen Tätigkeitsfeld. Bei allen großen Airli5 6 7

American Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1953. Catch Me If You Can, Dir. Steven Spielberg, Perf. Leonardo DiCaprio, Tom Hanks, Christopher Walken. Umvd/ Dreamworks, 2002. Vgl. auch Frank Abignales autobiografische Aufzeichnungen: Catch Me If You Can. The True Story of a Real Fake, New York 2000.

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nes setzte sich das Kapitänspersonal fast ausschließlich aus ehemaligen Militärs zusammen. (Bilstein 2001, S. 195; Courtwright 2003, S. 209222, hier S. 213-214). Zudem waren am Kapitänsberuf Prozesse der Geschlechterintegration, wie sie in anderen Berufen zum Teil während des Krieges stattgefunden hatten, vorbei gegangen. Anders als viele ihrer männlichen Zeitgenossen hatten sich Flugkapitäne daher nicht mit weiblicher Konkurrenz auseinanderzusetzen. (Gluck 1987; Merryman 1998) Stattdessen bot ihr Beruf ihnen die Möglichkeit, einige als spezifisch männlich konnotierte Fähigkeiten zur Schau zu stellen: Sachkenntnis, Durchsetzungsvermögen, Selbständigkeit und Abenteuerlust. Wie der Soziologe Michael Kimmel aufgezeigt hat, waren es diese Qualitäten, über die sich der euro-amerikanische self-made man seit dem Beginn der Besiedlung Amerikas definiert hatte und über die er sich als überlegen von anderen weißen und nicht-weißen Ethnien abgrenzte. (Kimmel 1996, 13-78) Flugkapitäne waren daher ein Ideal, dessen Nachahmung eine Identifikation mit ihren persönlichen und professionellen Qualitäten möglich zu machen schien. Der „Geschäftsreisende“, der aus den Anzeigen hervortritt, teilte nur einige Eigenschaften mit dem Flugkapitän. Auch er war ein weißer Mann, der sich altersmäßig zwischen dreißig und vierzig bewegte, Erfolg hatte und sowohl Vorstandsmitglieder von Unternehmen als auch Handlungsreisende einschloss. Beide entschieden sich für die Reise mit dem Flugzeug, weil sie bequem und schnell war, aber auch, weil sie für Modernität im Verkehrswesen stand. Eine American Airlines Anzeige aus dem Jahr 1952 stellte Don, „who relied on the train, made the trip – to late again,“ neben seinen jüngeren Kollegen John, „who made the sale – he took the Plane.“8 Für Geschäftsreisende war es leicht, einander zu erkennen. Sie alle trugen graue Flanellanzüge, Hüte und Aktentaschen (Abb. 2). Zudem konnten sie einander auf Flügen wie dem „New York Executive“ treffen, einer United Airlines Flugverbindung zwischen Chicago und New York, die zwischen 1953 und 1970 angeboten wurde, allein männlichen Reisenden offen stand und ein Serviceangebot von Cocktails, Steaks, Wirtschaftszeitschriften und Zigarren umfasste.9 An Bord dieser Maschinen wurden Reisende von Flugbegleiterinnen verwöhnt, ohne sich mit weiblichen Mitreisenden auseinandersetzen zu müssen. Immerhin, so versprach United in einer Anzeige aus dem Jahr 1967, erkannte jede Stewardess „a Friday night face when she sees one. It’s the tired face of a businessman who’s put in a hard week and just wants to go home […] Extra care is different for every passenger. But 8 9

American Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1952. Vgl. „United History: Timeline 1946-1958“, http://www.united.com/page/ article/0,6722,2734,00.html (13. Februar 2006).

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they all get it.“10 Diese Befähigung zur Fürsorge war es wohl auch, die American Airlines dazu bewogen, ihren Kunden das weibliche Flugpersonal als Ersatzmütter anzubieten. „Think of her as your mother,“ war eine Anzeige aus dem Jahr 1968 überschrieben.11 Interessanterweise gab es diese Anzeige in unterschiedlichen Versionen für Zeitungen, die entweder eine hauptsächlich weiße oder eine hauptsächlich schwarze Leserschaft bedienten, wie etwa die Zeitschrift Ebony.12 Für die eine wie die andere junge Frau auf dem Poster galt, dass sie vielleicht ein wenig zu jung für eine Mutter sein mochte – wäre sie eine gewesen, hätte sie nicht als Stewardess arbeiten können – aber wen störte das schon: „She only wants what’s best for you.“13 Für Geschäftsreisende wie United Airlines Kunde Don Richards, so stellte es die Fluggesellschaft 1973 dar, war die Zeit an Bord eines ihrer Flüge wie ein Kurzurlaub. Sein Alltag bestehe aus einem vollen Terminkalender, fremden Städten und Menschen, hektischen Taxifahrten und verpassten Mahlzeiten. „Often the only time he has to relax and unwind is in flight. So for a few hours when Don flies with us, we try to make it up to him with the kind of service he’d like. A place to lean back. Some peace and quiet. A cocktail. Maybe two. Soothing music. Magazines to read. Or just friendly conversation.“14 Annehmlichkeiten, die Don Richards vielleicht auch mit zu Hause in Verbindung brachte. Denn folgt man den Kampagnen, so konnte es auch der Geschäftsreisende kaum erwarten, am Ende eines langen Arbeitstages oder einer anstrengenden Arbeitswoche zu seiner Familie zurückzukehren, weil er sich danach sehnte, Zeit mit seiner Frau und seinen Kindern zu verbringen. TWA ging 1951 mit einer Anzeige auf dieses Bedürfnis ein und zeigte „Dad“ in seinem Lieblingssessel, einem Sitz an Board eines TWASkyliners. Dad mochte diesen Sitz und „lots more. He’s found the key to covering territory [and] arriving fresher [...] Best of all – and how the family loves this – a Skyliner lets Dad spend most of his evenings where he wants to be most – in his other favorite chair – at home.“15

10 11 12 13 14 15

United Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1967. American Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1968. American Airlines Werbeanzeige, Printkampagne Ebony 1968. Ebd. United Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1973. TWA Werbeanzeige, Printkampagne 1951.

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Abbildung 2: United Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1950 Der Geschäftsreisende profitierte auch von sinkenden Flugtarifen. Wie American Airlines 1953 vorschlugen, konnte Vater einen Teil seiner Ersparnisse in zusätzliche Weihnachtsgeschenke investieren und die Weihnachtsfeiertage zwischen zwei Terminen zu Hause verbringen.16 Besonders attraktiv aber mussten Angebote erscheinen, die für das Mitnehmen von Ehefrauen auf Geschäftsreisen warben. United Airlines beispielsweise konzipierten eine umfangreiche Werbekampagne mit dem Motto „Take Me Along“, die sich sowohl an ein männliches berufstätiges als auch an ein weibliches vornehmlich nicht-berufstätiges Zielpublikum richtete und das Reisen zu zweit anpries. Inspiriert war diese Kampagne vom gleichnamigen Broadway Musical, dessen Titelsong in einigen Anzeigen (teils mit Noten) abgedruckt wurde. Darin heißt es: „Take me along if you love me./ Take me along if you love me./ Take 16 American Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1953.

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me along with you –./ My heart will ride, sweet’n glorious high above the throng if you will./ Take me along with you –.“17 Der „Take Me Along“-Tarif umfasste neben dem regulären Flugticket ein um die Hälfte des Preises reduziertes weiteres Ticket für den weiblichen Fluggast (die Ehefrau), nebeneinander gelegene Sitzplätze sowie vergünstigte Raten in ausgewählten Hotels und bei Mietwagengesellschaften. Damit war es so gut wie überflüssig, sich für ‚entweder – oder‘ zu entscheiden. Die Trennung von Arbeit und Familie schien überwunden, zumindest dann, wenn das Familieneinkommen auch für die Betreuung der zu Hause gebliebenen ausreichte. Die Figur des erfolgreichen, reiseerfahrenen Handelsreisenden wurde sicherlich deshalb in den fünfziger und sechziger Jahren als Werbeträger entwickelt, weil sie besonders für die vielen Tausend kleinen Angestellten, die die Büros der in der Nachkriegszeit stark expandierenden Industrie- und Dienstleitungsunternehmen bevölkerten, nachahmenswert erscheinen musste. Wie Michael Kimmel und James Gilbert aufgezeigt haben, fühlten sich gerade viele Männer aus der amerikanischen Mittelschicht eingezwengt in einer Existenz, die sich zwischen einem 9 to 5job als Angestellter ohne nennenswerte Aufstiegsmöglichkeiten und dem Privatleben in den amerikanischen Vorstädten, den suburbias, bewegte – mit all ihrer engen Fokussierung auf das Familienleben, ihrer Langeweile und Geschlechtertrennung. (Kimmel 1996, 223-258; Gilbert 2005) Zeitgenössische Filme oder Fernsehserien wie Leave it to Beaver oder Father Knows Best vermitteln einen Eindruck von suburbanen Lebensstilen.18 (Leibman 1995) Darin scheint Alltagserfahrung weitgehend standardisiert zu sein, was zum einen an der Verfügbarkeit massenproduzierter Konsumgüter lag, die Differenz nivellierte und den Eindruck von Uniformität inner- und außerhalb des Hauses entstehen ließ. (Clarke 1996) Zum anderen trugen starr definierte Geschlechterideale dazu bei, Verhalten jenseits der Norm als wenig erstrebenswert erscheinen zu lassen. Gleichwohl repräsentierten Ideale wie die des individualistischen Geschäftsreisenden, der sich wie selbstverständlich des modernsten Transportmittels bediente, in gewissem Sinne einen Gegenentwurf zum Leben in gesellschaftlicher Enge, fußten sie doch auf dem Prinzip der Selbstbestimmung und boten Männern die Möglichkeit positiver Identifikation. Familie und Beruf erscheinen zwar noch immer als die Säulen einer mittelständischen, männlichen Nachkriegsexistenz. Die Möglich17 United Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1967. 18 Leave it to Beaver, TV Serie 1957-1963 (CBS 1957-1959, NBC 19591960, ABC 1960-1963); Father Knows Best, TV Serie 1954-1963 (CBS 1954-1955, 1958-1963, NBC 1955-1958).

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keit aber, auf Reisen kurzfristig aus dem Alltag auszubrechen und an einer völlig neuen Reisekultur zu partizipieren, vermochte wohl den ein oder anderen mit den strukturellen Veränderungen auszusöhnen, die die amerikanische Nachkriegsgesellschaft in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht kennzeichnete und die sich mit den Konzepten der feminine mystique und der Entmännlichung umschreiben lassen.

Abbildung 3: TWA Werbeanzeige, Printkampagne, 1953 Und der Tourist? Die Werbung konzipierte ihn als abenteuerlustigste Figur. Er flog zum Vergnügen und brauchte sich weder um die Beherrschung von Technologie noch um das pünktliche Erscheinen bei einem Geschäftstermin zu bemühen. Auch er war ein weißer Mann, allerdings, im Unterschied zum Flugkapitän oder dem Geschäftsreisenden, eher der materiell gut ausgestatteten amerikanischen Oberschicht zuzurechnen. Reisen stellte für ihn eine Möglichkeit dar, kurzfristig mit Freunden zusammen zu kommen, zum Beispiel, um mit seinem besten Freund ein Wochenende angeln zu gehen, wie eine TWA Werbeanzeige aus dem Jahr 1951 vorschlug: „That special ‚somewhere‘ you dream about – 303

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don’t let earthbound concepts of time and distance block it out of your thoughts.“19 Flugreisen machte aber nicht allein exklusive Formen des male bonding möglich – als solches ließe sich ein Angelwochenende interpretieren –, sondern rückte aufregende amerikanische Reiseziele in ebenso erreichbare Nähe, wie solche, die weit entfernt im Ausland lagen. Mit jeder neuen Generation von Landstreckenflugzeugen schienen Europa, die Karibik, Mittel- und Südamerika sowie pazifische Inselparadiese wie Hawaii näher an die Vereinigten Staaten heranzurücken. Spätestens mit der Einführung der Boeing 747, des Jumbojets, den fast alle großen amerikanischen Fluggesellschaften zwischen 1969 und 1971 in ihre Flugzeugflotten integrierten, war die halbe Welt innerhalb weniger Stunden non-stop erreichbar. (Bedwell 1999, S. 89; Conrad III 1999, S. 27) Mit Pan Am war Europa nur 6 Stunden und 55 Minuten entfernt.20 Rom, London und Paris lagen praktisch um die Ecke. All diese Reiseziele erkundete der Tourist nicht mit seiner Familie, sondern mit einer attraktiven weiblichen Begleiterin. Diese war vielleicht seine Frau, vielleicht aber auch seine Freundin oder Geliebte. Fröhliche Pärchen durchziehen denn auch die Werbekampagnen der Fluggesellschaften in den fünfziger und sechziger Jahren als Leitmotiv. TWA bewarb mit einer solchen Kampagne zum Beispiel Reisen in europäische Großstädte. „Overnight oversees“, verkündete 1953 eine Anzeige für Parisreisen (Abb. 3).21 Und bei Pan Am hieß es 1966 über die Metropole an der Seine, die als Traumziel auch und gerade für Hochzeitsreisen vermarktet wurde: „Just as you’ve always remembered her, or just as you’ve always dreamed she would be. Paris. A world of highlife and haute couture, a world of lights and sounds. Above all a world of romance that will endure long, long after you’ve come home again.“22 Sie zeigte ein modisch gekleidetes Paar vor einer abendlichen Pariser Kulisse mit Eiffelturm. Diesseits des Atlantiks gab es das Reiseziel Lateinamerika. „We thought we’d seen everything. But then we saw Punta del Este (Uruguay)“, bemerkte 1965 ein leger gekleideter Tourist in einer Pan AmWerbeanzeige, der seine Begleiterin an den Schultern umfasst hielt.23 Punta del Este hatte traumhafte Strände, das Meer, perfekte Wetterverhältnisse, einen Yachthafen, die richtige Gesellschaft und ein abwechslungsreiches Nachtleben anzubieten. Etwas abenteuerlicher mutete eine Reise nach Peru an, wo Tourist und Begleiterin in die Berge vorstoßen mussten, um die architektonischen Wunder eines Ortes wie Macchu 19 20 21 22 23

TWA Werbeanzeige, Printkampagne 1951. Pan Am Werbeanzeige, Printkampagne 1959. TWA Werbeanziege, Printkampagne 1953. Pan Am Werbeanzeige, Printkampagne 1966. Pan Am Werbeanzeige, Printkampagne 1965.

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Picchu oder die Schönheit des Titicacasees bestaunen zu können. Während Peru und Bolivien in den fünfziger und sechziger Jahre touristisches Neuland waren, galten Chile und Argentinien als relativ erschlossen. „So it goes (and we went with it) down the coast from Lima to Santiago then over to Buenos Aires – all with Panagra [der lateinamerikanischen Partnergesellschaft von Pan Am],“ beschrieb ein Pärchen aus einer Pan Am-Panagra-Werbeanzeige seine Lateinamerikaerfahrung 1965.24 Als ebenso exotische Ziele, die jedoch reines Strandund Badevergnügen versprachen, kamen daneben für den anspruchsvollen Touristen die karibischen Inseln in Frage. United Airlines empfahl seinen Kunden 1973 deren Vielfalt, die vor allem in ihrer kolonialen Vergangenheit begründet lag: „Head for Barbados and Antigua for British accents. Mark down Martinique and Guadeloupe for French flavor. Go Latin in Puerto Rico. Or try our Dutch treat – Curaçao and Aruba.“ Und schließlich gab es das Urlaubsziel Hawaii, das schon in den fünfziger Jahren eine Mischung aus amerikanischem Komfort und pazifischem Flair bot und allzu schnell für den Massentourismus erschlossen wurde. (Blackford 2001) Der kosmopolitische Globetrotter besuchte all diese Orte und genoss den Luxus, der sich ihm dort bot. Er war das abgehobenste Ideal, das die Fluggesellschaften mittelständischen Männern in ihrer Werbung zur Nachahmung anboten. Anders als der Geschäftsreisende sollte er ihnen nicht helfen, ihre farblose Existenz zu bejahen und positive Identifikationsbezüge herzustellen. Vielmehr half der abenteuerlustige Tourist ihnen, ihre Identitätskrise zu vergessen und eine alternative Lebenswelt wenn nicht zu erleben, so doch immerhin zu erträumen. Nur eine Woche Hawaii für $ 298 inklusive Hawaiihemd mochte zwar den Alltag nicht auf Dauer vergessen machen, versprach dem Durchschnittsmann aber eine Teilhabe an der Erkundung der Jetset-Frontier, die ihn an die Wurzeln seiner Männlichkeit zurückführte und ihn für die Verluste männlicher Prärogative in der Nachkriegszeit wappnete. Ausgangs- und Zielpunkte von Flugreisen waren in den fünfziger und sechziger Jahren moderne, neu gestaltete Gebäude wie das TWAoder das Pan Am-Flugterminal am John F. Kennedy International Airport in New York. An diesen Orten bewegten sich männliche Touristen, Geschäftsreisende und Flugkapitäne gleichermaßen ins Flugzeug oder aus dem Flugzeug heraus zur Ankunft oder Weiterreise. Dennoch waren Terminals, anders als beispielsweise Flugzeugcockpits oder Hangars, nicht allein männlich konnotierte Räume, auch wenn Männer in den beiden Nachkriegsjahrzehnten das Gros der Flugpassagiere ausmachten. 24 Pan Am – Panagra Werbeanzeige, Printkampagne 1965.

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(Courtwright 2005, S. 125-128) Vielmehr boten sie Männern wie Frauen die Möglichkeit, ob als Reisende oder diejenigen, die Reisende brachten oder abholten, ästhetische Anknüpfungspunkte zum Thema Flugreise oder zur Flugreiseerfahrung herzustellen. Das TWA-Terminal wurde vom finnisch-amerikanischen Architekten Eero Saarinen zwischen 1958 und 1961 errichtet, als der Flughafen noch den Namen Idlewild trug. (Román 2003, S. 42-67; Merkel 2005, S. 205-229; Stoller 1999) Das Gebäude galt bei seiner Fertigstellung als architektonische Meisterleistung und als gelungener Ausdruck einer neuen Ära der Mobilität. Um großzügige Raumbezüge herzustellen zu können und dem Bau den Anschein von Leichtigkeit und Dynamik zu verleihen, hatte Saarinen mit einer neuen Gußbetontechnik experimentiert. Sie machte es möglich, dem Terminal die Form eines landenden Vogels zu verleihen, die stark an die eines Adlers erinnerte. Saarinen stellte damit nicht nur einen Bezug zu einem der amerikanischen Nationalsymbole her, sondern ihm gelang es zugleich, die Idee des Fliegens auf unnachahmliche Weise in Architektur zu übersetzen. Neben seiner außergewöhnlichen äußeren Form bestach und besticht das TWA-Terminal durch die Ausgestaltung seines Innenraumes. Das von Saarinen gewählte Design verrät bis heute seine Inspiration durch die Formensprache von Luft- und Raumfahrt, die eine starke Faszination auf ihn ausübten. In seinem schnörkellosen Umgang mit Form und seinem Blick für Funktionalität schuf Saarinen einen scharfen Kontrast zum Jugendstil, der die Flughafenarchitektur der Zwischenkriegszeit maßgeblich geprägt hatte. (Gordon 2004) Zugleich kreierte er eine Formensprache, die eine Alternative zum International Style des International Arrivals Buildings oder des American Airlines Terminals bot. Saarinens Terminal empfing die Reisenden am Bürgersteig und nahm sie, nachdem sie Auto oder Bus verlassen hatten, quasi unter seine Fittiche. Mit dem Eintritt in das Terminal vollzogen sie den Wechsel von einem Transportmittel zum anderen, von den Bodentransportmitteln zum Flugzeug. Zugleich begaben sich die Reisenden bei ihrem Eintritt in die Abfertigungshalle und ihre dahinter liegenden Servicebereiche in einen liminalen Raum, an einen Ort des Losgelöstseins, der als Übergangsplattform von der Alltags- zur Flugreiseerfahrung fungierte. Mark Gottdiener hat Flughafenterminals als „transition spaces“ bezeichnet, ein Begriff, der genau diese Erfahrung des Übergangs vom Alltag hin zu einer nicht-alltäglichen Aktivität bezeichnet, die das Fliegen in den fünfziger und sechziger Jahren noch darstellte. (Gottdiener 2001, S. 9-11) Die Architekten des Pan Am-Terminals, das 1963 eröffnet wurde, gestalteten den Übergang von einem Erfahrungshorizont in den anderen ohne visuelle Marker bzw. räumliche Abtrennun306

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gen. Reisende betraten das Terminal nicht durch Türen, sondern einen offenen, lediglich durch eine Luftschleuse („air curtain“) markierten Eingangsbereich. Dieser, so die Presseerklärung zur Einweihung des Terminals, „removes congestion caused by funneling passengers through several doors and confusion as to which doors are ‚in‘ and which are ‚out‘.“25 Die Überlegungen zur Beschaffenheit der Luftschleuse schlossen geschlechterspezifische Nutzungsprobleme ein. „The entrance is the world’s largest air curtain […], yet has a downdraft so gentle it can’t muss a lady’s hair. (And since the direction of the air is down, there’s no skirt problem),“ hieß es in den Pressematerialien zur Eröffnung des Gebäudes.26 Im Inneren des Terminal fanden die Aktivitäten statt, die für Reisende den Beginn oder das Ende einer Reise mit dem Flugzeug markierten: Flugscheinverkauf, Check-in sowie Gepäckaufgabe und -ausgabe. Diese waren im TWA-Terminal im Erdgeschoss des Gebäudes angesiedelt. Im ersten Geschoss oder dem Gallery Level, befanden sich Warte- und Aufenthaltsbereiche. Hier konnten Reisende zwischen verschiedenen Arealen wie der International Lounge, dem Ambassadors Club oder der VIP Lounge auswählen. Und während dort so unspektakuläre Aktivitäten wie Warten, Essen und Trinken oder Besprechungen stattfanden, deuten die Namen der Lounges die Besonderheit oder Exklusivität dieser Aktivitäten an, wenn sie mit dem Flugreisen in Verbindung standen. (Román 2003, S. 56-57) Um zu ihren Flugzeugen oder von dort ins Terminal zu gelangen, hatten Reisende lange, fensterlose Betonröhren zu passieren, die an Gänge im Raumschiff von Stanley Kubrick’s Film 2001: Odyssey im Weltraum erinnern.27 Für den Hochstapler Frank Abignale aus dem Film Catch me if you can ist eine solche Betonröhre der letzte Ort, an dem er seine Pan Am Uniform zu Schau stellen kann, bevor er von FBIAgent Carl Hanratty (gespielt von Tom Hanks) verhaftet wird. Dieser nimmt ihm seine Uniform, bevor er ein Gerichtsverfahren gegen Abginale einleiten lässt, und beraubt ihn damit auch und vor allem seiner Männlichkeit. Dass das Flugreisen als kulturelle Praxis der Nachkriegszeit Männlichkeitsideale hervorbrachte sowie seinerseits durch gesellschaftliche Normvorstellungen von Geschlecht geprägt wurde, lässt sich auch am 25 „Worlds Largest Air Curtain Eliminates Congestion and Confusion at Terminal Entrance“, Box 162, Folder 2, Pan American World Airways, Inc., Records, Otto G. Richter Library, University of Miami (PAWAR). 26 Bildunterschrift zu Foto des Terminaleingangsbereiches, Pressemappe zur Eröffnung des Terminals 1963, Box 162, Folder 2, PAWAR. 27 2001: Space Odyssey, Dir. Stanley Kubrick, Perf. Keir Dullea, Gary Lockwood u.a. Warner Brothers, 1968.

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Fehlen bestimmter Figurenentwürfe zeigen: den männlichen Flugbegleitern. Sie tauchen in der Werbung ebenso selten auf wie sie in der Realität eingesetzt wurden. Hatten Fluggesellschaften in den ersten Jahren der zivilen Passagierluftfahrt noch männliche Flugbegleiter eingestellt, entwickelte sich der Beruf in der Nachkriegszeit zu einem fast ausschließlich weiblichen. (Santino 1986) Fluggesellschaften rekrutierten unverheiratete junge Frauen, die in firmeneigenen Stewardess Colleges auf ihre Tätigkeit vorbereitet wurden. Neben Sicherheitstraining und einer Einführung in den Serviceablauf an Board konzentrierte sich die Ausbildung auf die Vermittlung von Fähigkeiten, die der Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes dienten. Auszubildende lernten Frisier- und Maniküretechniken, wurden in Kosmetikkunde und den corporate look der jeweiligen Fluggesellschaft eingeführt, der sich im Design der Arbeitsuniform widerspiegelte. Stewardessanwärterinnen lernten zudem, strenge Regeln einzuhalten, was ihr Gewicht anbetraf. Während des Fluges taten Flugbegleiterinnen das, wofür sie prädestiniert schienen. Sie umsorgten die Passagiere in der Flugkabine, wie sie zu Hause als Mütter ihre Familien umsorgen würden. Sie bereiteten Mahlzeiten zu, servierten das Essen, verteilten Lesematerialien und Wolldecken und kümmerten sich um diejenigen, denen das Fliegen nicht gut bekam. Erreichten Flugbegleiterinnen das Alter von 31 Jahren, mussten sie ihren Beruf aufgeben, da sie „zu alt“ waren und spätestens zu diesem Zeitpunkt den Übergang in die nachberufliche Phase – Ehe und Familie – in Angriff nehmen sollten, galt doch der Flugbegleiterinnenberuf wie einige anderen Tätigkeiten im Dienstleistungssektor als Möglichkeit, die Zeit zwischen Schulabschluss und Ehe zu überbrücken.28 In den Tätigkeiten, die Flugbegleiterinnen zugetraut und den Attributen, die ihnen zugesprochen wurden, spiegelte sich die Rückkehr zu traditionellen weiblichen Rollenentwürfen, die die beiden Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges kennzeichneten. Hatte die Frauenbewegung in der Zeit zwischen den Kriegen unter anderem mit der Erlangung des Wahlrechts Erfolge im Kampf um die Gleichberechtigung verzeichnen können, gelang es Frauen während des Krieges, wie oben bereits angedeutet, neue Berufsfelder zu erschließen und damit althergebrachte Vorstellungen von der Zuständigkeit der Geschlechter für bestimmte Lebensbereiche (weiblich/privat – männlich/öffentlich) in Frage zu stellen. Die Heimkehr des Millionenheers von Soldaten jedoch, die Notwendigkeit, ihre Wiedereingliederung in ein ziviles Dasein zu be28 Vgl. zu diesem Thema zum Beispiel Mary F. Murray 1951, Skygirl: A Career Handbook for the Airline Stewardess, New York, oder Johni Smith 1966, How to Be a Flight Stewardess: A Handbook and Training Manual for Airline Hostesses, North Hollywood. Siehe auch Kolm 1995.

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werkstelligen sowie sich als Gesellschaft mit den neuen Bedrohungsund Konfliktpotentialen des Kalten Krieges auseinanderzusetzen, führten einerseits zur Rückkehr zu alten Beschäftigungsmustern – allerdings ohne die Vorkriegsstandards der Geschlechtertrennung zu erreichen – und andererseits zu einer Wiederbelebung konservativer Geschlechterzuschreibungen. Sie reduzierten Frauen wiederum auf ein Dasein als Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter und überforderten Männer mit einer Festschreibung auf die Rolle der leistungsfähigen Brotwerber, Beschützer und Familienoberhäupter. (Kimmel 1996; Gilbert 2005; Ehrenreich 1983; May 1988; Breines 1992; Evans 1989; Kessler-Harris 1982) Erst die Gesetzesinitiativen der frühen siebziger Jahre, mit denen Formen von Geschlechterdiskriminierung am Arbeitsplatz unterbunden wurden, führten dazu, dass Männer erneut Zugang zum Beruf des Flugbegleiters fanden. (Barry 2002) Zugleich brachten die siebziger Jahre Verschiebungen in den gesellschaftlichen Diskursen über Männlichkeit (und Weiblichkeit) mit sich. Auch nicht-weiße Männer, Männer, die nicht dem Mittelstand entstammten, sowie solche mit nicht-heterosexueller Orientierung forderten nun ihr Recht ein, sich an den Debatten darüber zu beteiligen, wer ein Mann war und was Konzepte von Männlichkeit eigentlich bedeuteten. (Kimmel 1996, S. 261-290) In Anlehnung an sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse schienen nun auch die Fluggesellschaften neue Zielgruppen für sich zu entdecken. Dies schlug sich am deutlichsten sichtbar in dem Auftauchen von afroamerikanischen Männern in Werbeanzeigen nieder. Auch sie konnten abenteuerlustige Touristen sein, Geschäftsreisende und sogar Flugkapitäne (Abb. 4). Wie in den beiden Nachkriegsjahrzehnten war es ein idealisiertes Image, das die Fluggesellschaften verkauften. 1973 konstatierten zum Beispiel United Airlines in einer Anzeige, auf der Walt Frazier und Jerry Lucas, die beiden Stars des Basketballclubs New York Knickerbockers, zu sehen waren: „United knows that business people come in all shapes and styles. Each in his own way. The next time you’re going out of town, call your travel agent, or United.“29 In den Nachkriegsjahrzehnten entwickelte sich das Reisen mit dem Flugzeug zur bevorzugten Art der Bewältigung von Langstrecken. Flugreisen erlebten einen enormen Boom und eine sich ständig vergrößernde Zahl von Menschen entdeckte das jet age für sich und partizipierte an der neuen Form von Mobilität. Männer und Frauen sprachen in unterschiedlicher Art und Weise auf das Flugzeug an, was sich in unterschiedlichen Nutzungsmustern, Geschlechterstereotypen und spezifischen Formen sozialer Interaktion manifestierte. Ähnliches ließe sich für 29 United Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1973.

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Menschen unterschiedlicher Klassen und ethnischer Zugehörigkeit sagen. Attraktiv gemacht wurde das Reisen von der Werbung, die an eine als männlich verstandene Öffentlichkeit gewandt, die drei beschriebenen Leitfiguren entwarf. In ihrem Entwurf von Männlichkeit boten sie positive Identifikationsbezüge für Männer aus der amerikanischen Mittelschicht, für die eine Wiedereingliederung in die zivile Nachkriegsgesellschaft nicht problemlos verlief und die sich ihren Platz in der entstehenden neuen Wirtschaftsordnung anders vorgestellt hatten.

Abbildung 4: Delta Airlines Werbeanzeige, Printkampagne 1973 Seit dem Beginn der Preiskriege zwischen den Fluggesellschaften in den siebziger Jahren, die zu einem stetigen Abbau des Services am Boden und in der Luft führten und in der Einführung von so genannten Billigfluggesellschaften ihren Höhepunkt fanden, hat das Reisen mit dem 310

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Flugzeug viel von seiner Anziehungskraft verloren. „Echte“ Männer steigen heutzutage wieder verstärkt um auf alternative Verkehrsmittel – das Fahrrad, das Auto, die Eisenbahn –, wie ein Blick in einschlägige Männermagazine und Reisezeitschriften verrät. Fast ergibt sich der Eindruck, als käme es zu einer Wiederentdeckung der Langsamkeit, die mit dem Flugzeug verloren ging. In jedem Fall aber ist das Reisen eine Gelegenheit, das Spannungsverhältnis zwischen hier und dort, dem Eigenen und dem Anderen zu erkunden und dabei auch Entwürfe von Männlichkeit zu überdenken.

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Queere Geschichten aus der Provinz: Mississippi in der zw eiten Hälfte des 20. Jahrhunderts JOHN HOWARD

I. Die Geschichte der Homosexualität ist bislang eine Geschichte der Stadt gewesen. Der dominante Entwurf US-amerikanischer lesbischer und schwuler Historiografie hat die Formierung homosexueller Identitäten eng mit Urbanisierung und Industrialisierung verknüpft. Die vier wesentlichen Betrachtungsgegenstände „Begehren“, „Identität“, „Gemeinschaft“ und „politisches Engagement“ werden derart miteinander verbunden, dass sich die Geschichte des Individuums analog zur Geschichte des Kollektivs entfaltet und folgendes Narrativ des „coming-out“ beschreibt: Mit Beginn des späten 19. Jahrhunderts, vielleicht auch ein wenig früher, ziehen Menschen mit uneindeutigen Sexualitäten und undefinierten Gefühlsregungen („Begehren“) aus der Provinz in die Stadt, zumeist vordergründig angetrieben von der Suche nach Arbeit. Dort, in der Stadt, finden sie nicht nur die Freiheit von familiären Beschränkungen, sondern auch sich selbst („Identität“), zumal sie sich gemeinsam mit anderen in den urbanen „gay ghettoes“ zusammenfinden („Gemeinschaft“). Dort werden sie ihrer kollektiven Unterdrückung gewahr und beginnen, sich aktiv gegen diese zu wehren („politische Bewegung“). Eine solche lineare, modernisierungstheoretisch strukturierte Erzählung bringt eine Vielzahl von Ausschlüssen mit sich, insbesondere von Frauen, Afroamerikanern und all denjenigen, deren soziale und physische 313

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Mobilität stärker eingeschränkt war. Dies gilt gleichermaßen für die Menschen auf dem Land und mithin für diejenigen, die bei der „great gay migration“ zurückgeblieben sind. (D’Emilio 1983a; D’Emilio 1983b; Foucault 1978, S. 43; Sedgwick 1990, S. 44-48; Smith 1997) Im Gegensatz zu den zahlreichen stadtzentrierten und identitätsfokussierten Studien homosexueller Historiografie spürt meine Geschichte nach queerem Begehren in Kleinstädten, Dörfern und in der ärmlichen Provinz, mal mit Anbindung an Mechanismen der Identitätsbildung, mal ohne. Es geht um „men like that“. Diese umgangssprachliche Äußerung steht idiomatisch für die beiden Facetten meiner Betrachtungen: „Men like that“ sind erstens „besondere“ Männer, Männer wie diese, nämlich selbsterklärte homosexuelle Männer, und zweitens „men who like that“ – also Männer, die queeren Sex mögen, die homosexuell oder nicht geschlechterkonform aktiv sind, sich selber aber nicht notwendigerweise als homosexuell identifizieren. Auf der Basis von queerer Theorie und von Raumtheorien werde ich argumentieren, dass Vorstellungen und Erfahrungen mann-männlichen Begehrens in einem fortwährenden, dialektischen Verhältnis zu den Räumen stehen, in denen sie auftreten, und dass Begehren und Räume sich wechselseitig prägen und formen. Dieser Beitrag, ebenso wie das Buch, auf das er sich stützt, untersucht sexuelle und geschlechtliche Non-Konformitäten, insbesondere männliche Homosexualitäten und mann-weibliche Transgenders in Mississippi zwischen 1945 und 1985 – vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Aufkommen von AIDS. (Howard 1999) Meine Untersuchung stützt sich auf ein breites Spektrum von Quellen, das von Straßenkarten bis zu künstlerischen Darstellungen reicht. Zuvorderst jedoch gründet sie auf menschlichen Erfahrungen, die in über fünfzig Oral History-Interviews mit zumeist älteren Südstaatlern aufbereitet wurden und die zu nicht unbedingt erwarteten Schlussfolgerungen geführt haben: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war mann-männliches Begehren in Mississippi – und ich gehe davon aus, dass dies in weiten Teilen des ländlichen Amerika so war – eng in die Strukturen des alltäglichen Lebens verwoben. Männer, die intime und sexuelle Beziehungen zu anderen Männern suchten, fanden viele entsprechende Gelegenheiten, und zwar an den Orten und innerhalb der Institutionen ihres Lebensumfeldes – zu Hause, in der Kirche, in den Schulen und am Arbeitsplatz. Diese Orte und Institutionen schlossen homosexuelle Handlungen niemals grundsätzlich aus, sondern haben diese ganz im Gegenteil bisweilen sogar befördert. Nun soll hier aber nicht ignoriert werden, dass homosexuelle Lebensformen mit verschiedenen Widerständen und Hindernissen zu ringen hatten. So beschrieben Medien wie medizinische Ratgeber von den 314

QUEERE GESCHICHTEN AUS DER PROVINZ

1940er bis zu den 1960er Jahren Homosexualität als verworfen und pathologisch. Im protestantisch evangelikalen Mississippi bestand außerdem weithin Einigkeit, dass homosexuelle Aktivitäten sündhaft waren. Außerdem waren sie durch das Sodomiestatut von 1839 gesetzlich verboten. Gleichwohl, wie dies auch bei anderen Formen abweichenden Verhaltens bisweilen der Fall ist, wurden Homosexualität und geschlechtliche Uneindeutigkeiten häufig ignoriert oder schlichtweg übersehen. Als queer bezeichnet zu werden, bedeutete in der Mitte des Jahrhunderts ganz einfach, auf die eine oder andere Art anders zu sein – etwa durch die Sprache, durch das Verhalten, durch die täglichen Gewohnheiten oder eben durch geschlechtliche und sexuelle Non-Konformität. Diese Uneindeutigkeit in der Benennung kam häufig denjenigen entgegen, die die Konventionen dehnten oder durchbrachen, denn es schützte sie vor Anklagen eindeutig sexueller – und somit gefährlicherer – Art. Der Staat Mississippi ist ein Kompendium der Superlative: Als ärmster Staat der USA mit dem niedrigsten Bildungsniveau und als nur dünn besiedelte Region mit unzureichenden Verwaltungsstrukturen zog Mississippi oft beißenden Spott auf sich. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner empfanden die Bigotterie und Rückständigkeit Mississippis als einzigartig. Unter sämtlichen Staaten der USA schien Mississippi derjenige zu sein, der den geringsten Raum für homosexuelle Lebensund Handlungsformen bot – eine (populär)wissenschaftliche Binsenweisheit über sexuelle Differenz in der Provinz, die auch Gayle Rubin in ihrem ansonsten so brillanten Artikel Thinking Sex reproduziert: „Dissident sexuality is rarer and more closely monitored in small towns and rural areas. Consequently, metropolitan life continually beckons to young perverts, [who become] sexual migrants […] instead of being isolated and invisible in rural settings.“ Aber: Queerer Sex in Mississippi war gar nicht selten. Männerbegehrende Männer waren weder völlig isoliert noch unsichtbar. Von den abgelegensten Farmen in Smith County bis zu den dicht besiedelten Bezirken in der Hauptstadt Jackson bestanden homosexuelle Beziehungen zwischen engen Freunden und entfernten Verwandten. Selbst Androgynität, obwohl doppelt suspekt, gab es, und beiläufiger Sex zwischen Fremden fand zwar im Verborgenen statt, war aber durchaus nicht unüblich. (Rubin 1993, S. 23-24) Warum überraschen solche Schlussfolgerungen? Wegen der dominanten Narrative der großen homosexuellen Wanderungsbewegung und der Politik des closet. In der gewöhnlichen Geschichte des persönlichen Coming-Out ist das closet die Trope der Repression und der Selbstverleugnung. Es ist ein Ort des Verbergens, dunkel und moderig. Wer schwule Selbstverwirklichung erreichen will, der muss dem closet ent315

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fliehen. In der Geschichte des kollektiven Coming-Out – der theoretische Entwurf, auf dem die US-amerikanische lesbische und schwule Geschichte gründet – fungiert der ländliche Raum als Gegenraum. Die Provinz muss zurückgelassen und überwunden werden, damit sich eine homosexuelle Kultur und Community in den Städten herausbilden kann. Der Süden, die Inkarnation der ländlichen und provinziellen USA schlechthin, fungiert als Amerikas homosexuelles closet.1 In dem folgenden Aufsatz will ich diese etablierte Version der homosexuellen US-Geschichte in drei Schritten erweitern. Erstens werde ich eine Kritik an den gängigen Prämissen lesbischer und schwuler Geschichte formulieren. Zweitens werde ich eine Alternative zu dieser Geschichte anbieten, indem ich queere Sexualitäten auf dem Land betrachte. Drittens werde ich ländliche queere Bewegungen untersuchen: Dabei soll es nicht nur um Praktiken des Zusammenkommens gehen, sondern auch um die aktive Verbreitung des queeren Lebensstils. So hoffe ich, mögliche historiografische Alternativen zu dem etablierten Narrativ aufzuzeigen. (Vgl. für ähnliche und anregende Perspektiven Howard 2003; Duggan 2000; Halberstam 2005; Rydström 2003)

II.

Geschichten der Homosexualität

New York, San Francisco, Los Angeles, Philadelphia, Washington, Buffalo: Die frühe schwule und lesbische Geschichte der USA liest sich wie ein Verzeichnis ihrer Großstädte. Peu à peu wich die Konzentration auf die Ost- und Westküste einer breiteren Betrachtung von Städten generell. Neuere Studien homosexueller Gemeinden untersuchen das Le1

Auch Betskys 1997, S. 14, 17 zentrales Narrativ ist das der Stadt. Seine Geschichte impliziert, dass queere Lebensmöglichkeiten nur in der Stadt gegeben sind, oder bestenfalls in „our suburbs and now our exurbs.“ Ähnliche Stereotype hinsichtlich des ländlichen Lebens finden sich auch in einer bahnbrechenden Arbeit queerer Geografie von David Bell und Gill Valentine 1994. In ihrer Einleitung halten die Herausgeber fest, wie beschränkt die Lebens- und Liebesmöglichkeiten für Lesben und Schwule in der Provinz gewesen seien: „The only openings for expressing their sexuality may come from episodic encounters in public toilets or highway rest areas or infrequent trips to neighboring towns’ bookstores and porn cinemas.“ (S. 8) Meine Forschungen haben die Bedeutung dieser Begegnungsorte bestätigt, sie aber keineswegs als einzigartig herausgestellt. Ähnlich gibt Jerry Lee Kramers Beitrag zu dem Band eher die vorgestanzten Wahrnehmungsmuster der Forschung wieder denn das Leben von Amerikanern und Amerikanerinnen in der Provinz. Vermutlich sind es eher Kramer und seine Kollegen als deren Untersuchungsobjekte, die sich in einer frustrierten Suche „for identity and community“ verstrickt haben.

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ben in Atlanta, Birmingham, Chicago, Detroit, Flint, Louisville, Memphis und New Orleans. Wo viele Menschen zusammentreffen, ist auch der Historiker nicht weit. (Chauncey 1994; Newton 1993; Stein 2000; Beemyn 1997; Kennedy 1993 und Davis; für ebenfalls urban ausgerichtete Überblicksarbeiten vgl. D’Emilio 1993; Faderman 1991; Marcus 1992; Russell 1993; Shilts 1982; Timmons 1990; Weston 1991; eine wichtige Ausnahme ist Berube 1990; vgl. auch Howard 1995 sowie die Beiträge in Beemyn 1997 sowie Howard 1997) Auch wenn die Geschichtsschreibung den Eindruck erweckt, als bestünde eine genuine Beziehung zwischen Urbanisierung und der Herausbildung einer homosexuellen Kultur, so stellt sich doch die Frage, ob die große Aufmerksamkeit, die die Forschung der Urbanität gewidmet hat, nicht eher den Umständen ihrer eigenen Gegenwart geschuldet ist. Soziologische Studien zeigen, dass Stadtbewohner gegenüber sexueller Nonkonformität in der Regel ein höheres Maß an Toleranz äußern. Heutzutage kennzeichnet die allermeisten Autorinnen und Autoren homosexueller Geschichte eine ausgeprägte lesbische oder schwule Identität. Wir sprechen von unseren eigenen politischen Verpflichtungen, von unserer politisch aktivistischen Forschung. Eine solche Forschung findet oft in urbanen Colleges und Universitäten ihr zu Hause, wo die entsprechende Arbeit Bestätigung findet, die Unterstützung von Universitätsleitungen und Archivaren stärker ist und traditionell historische Dokumente mit Bezug zu tabuisierten Sexualitäten aufbewahrt und archiviert wurden. Deshalb schreiben Historiker aus New York auch über New York, und fortgeschrittene Studierende erforschen die Geschichten der Städte, in denen sie leben und lernen. (Greenberg 1988, S. 468) Die Methode, die diesen Geschichten oft zu Grunde liegt, ist die der Oral History. Homosexuelle, die die stereotype Biografie durchlaufen haben (vom Land in die Stadt und aus der Dunkelheit des closet in das Licht des Bewusstseins), die hoch politisiert sind und sich deutlich als schwul identifizieren, sind exzellente Interviewpartner. Sie verstehen die Bedeutung solcher Studien, und sie fühlen sich berufen, an entsprechenden Oral History-Projekten teilzuhaben, wie sie etwa in Boston, Buffalo, San Francisco und Toronto schon sehr früh initiiert wurden. Schlüsselfiguren der Bewegung, Geschäftsleute, Schriftsteller und andere Berühmtheiten tauchen in mehr als einer Studie auf. Populärwissenschaftliche Geschichten folgen den wissenschaftlichen und politischen Projekten auf den Fuß. Das generelle Projekt der Oral History, den Stimmlosen eine Stimme zu geben und diese mit Kassettenrekordern aufzuzeichnen und sich gegenseitig vorzuspielen, deckt nicht bloß eine verallgemeinerbare persönliche Geschichte auf – eine unvermittelte Erzählung, die da ist, um 317

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weitergegeben zu werden. Vielmehr wird diese Erzählung in diesem Verfahren erst produziert und reproduziert. Wir berichten einander, wie sich die Geschichte abgespielt hat und wie sich die Elemente der individuellen Coming Outs – wieder und wieder zitiert – zu einem Narrativ und einem kollektiven Coming Out montieren. Welche Ausschlüsse werden auf diesem Wege vorgenommen? Scott Bravmann weist darauf hin, dass die Konzentration auf urbane Enklaven und auf traditionelle schwule politische und kulturelle Institutionen als Repräsentanten queeren Lebens insgesamt Ausschlüsse entlang der Achsen „race, class, gender“ reproduzieren. Beispielsweise verfügten Weiße über eine deutlich größere physische und soziale Mobilität als Schwarze, die sie an dieser klassischen Geschichte von Urbanisierung und Kulturbildung leichter teilhaben ließen. Nichtsdestoweniger gelingt es Kevin Mumford, in seiner Geschichte der Rotlichtbezirke Chicagos und New Yorks zu zeigen, wie die Great Migration, also die massenhafte afroamerikanische Wanderung aus dem Süden in die nördlichen Metropolen, die sexuellen Strukturen der urbanen Kultur verändert hat. (Bravmann 1997; Mumford 1997, S. 100-101, S. 115) Andere rassisch und ethnisch gedachte Minoritäten waren ähnlich eingeschränkt in ihrer Mobilität. Wenn sie diese Einschränkungen überwanden, so sahen sie sich in ihrer Loyalität häufig zwischen den heimatlichen Bindungen und der lesbischwulen Kultur hin- und hergerissen, die sie eben als im Wesentlichen „weiß“ wahrnahmen. Frauen jeder Hautfarbe waren in vielen Fällen ähnlichen Begrenzungen unterworfen. Gleichwohl haben Historikerinnen wie Madeline Davis und Elizabeth Kennedy vorgeführt, wie sich lesbische Arbeiterinnen auf den Straßen und in den Bars ihre eigenen Räume geschaffen haben, und die Anthropologin Esther Newton zeigt, wie sich lesbische und schwule Immobilienbesitzer und Touristen ihren Platz im Umland von New York City wortwörtlich gekauft haben. Die Beweglichkeit oder die Starre sozioökonomischer Kategorien zeigte sich über alle diese gesellschaftlichen Gruppen hinweg. Zugang zum öffentlichen Raum, eine wesentliche Bedingung, um Begegnungen haben zu können, war oft durch die Kategorie „Klasse“ reguliert.2

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Essex Hemphill 1991, xix, schreibt: „There was no gay community for black men to come home to in the 1980s.“ Jewelle Gomez 1993, S. 176, hält fest, „the fallacy that homosexuality is ‚white‘ has been used frequently to try to shame Blacks into ‚recanting.‘“ Für weitere Ausführungen über die Spannungen zwischen imaginären sexuellen Gemeinschaften, die sich auf Entwürfe von „Rasse“ oder „Ethnizität“ stützen, siehe Leong 1996; Roscoe 1988; Kennedy 1993; Newton 1993.

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QUEERE GESCHICHTEN AUS DER PROVINZ

Der regionale Bias, also der weitreichende Ausschluss der Landbevölkerung von der US-amerikanischen lesbischen und schwulen Geschichte, verdeutlicht, wie mit bestimmten Methoden bestimmte Begrenzungen einhergehen, die wiederum bestimmte Ergebnisse wahrscheinlich machen. Beispielsweise brachten nur wenige meiner mehr als fünfzig Interviewpartner die Sprache auf ihre Heterosexualität, wenn sie von der Vergangenheit berichteten. Die große Mehrheit meiner Gesprächspartner waren und sind homosexuelle Männer. Sie nur über ihre „schwulen“ Erfahrungen sprechen zu lassen, würde Sexualität vom alltäglichen Leben isolieren, was aber eben für gewöhnlich ihr Kontext war. Außerdem würde es ihre schwulen Identitätserfahrungen privilegieren und ihre Teilhabe an der Gay Community und in homosexuellen Organisationen, von denen eben nur wenige in Mississippi existierten. Demzufolge habe ich meine Gesprächspartner ganz einfach gebeten, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und dadurch habe ich ihnen die Möglichkeit gegeben, dasjenige hervorzuheben, welches für sie die größte Bedeutung hatte (dabei war ich mir sehr wohl darüber im Klaren, dass meine Interviewpartner von meinem Erkenntnisinteresse wussten und dass dieses Wissen deren Berichte ebenfalls steuerte). Weiterhin habe ich mich bemüht, so spärlich wie möglich zu fragen, um die Antworten so wenig wie möglich vorzustrukturieren. Wenn wir unser Garn fast ohne Unterbrechung spinnen können, dann, so erscheint es mir, benutzen wir am ehesten unser eigenes Vokabular, um die Zeiten zu beschreiben, von denen wir sprechen. Queer ist eine hilfreiche Rubrik für dieses Projekt. Heutzutage wird der Begriff häufig eingesetzt, um eine Vielzahl von Personen aufgrund ihrer vielschichtigen Erfahrungen der Differenz und des Außenseiterseins zusammenzubinden. Eine solche Koalition der Marginalisierten zu schaffen, ist freilich nicht unproblematisch. Ich denke allerdings, dass queer weitere Interpretationsmöglichkeiten für das Studium der Vergangenheit eröffnet. Von einer homosexuellen Geschichte zu sprechen, homosexuelle Quellen zu konsultieren und homosexuelle Individuen zu befragen, trägt häufig dazu bei, die Kategorie der Homosexualität zu perpetuieren. Nach dem Queeren zu spüren, wie es in der Vergangenheit in seiner Vielfalt und Uneindeutigkeit auftauchte, könnte stattdessen dazu führen, die Geschichte der „Devianz“ und der „Normalität“ differenzierter zu schreiben sowie deren gegenwärtige Iterationen zu denaturalisieren. Ein Fokus auf queeres Begehren (hier mann-männlich) lässt einen weiteren Trend der amerikanischen lesbischwulen Geschichte erkennbar werden. Oft geht sie über die erotischen Interaktionen queerer historischer Subjekte hinweg. Auf Identität, Kultur und Politik fokussiert, wird 319

JOHN HOWARD

das wesentliche definierende Kriterium der ganzen Angelegenheit übergangen: Homosex. Es scheint, als wenn das Begehren nach Respektabilität und der unbedingte Wille, unsere Forschung zu legitimieren, uns Historiker lesbischer und schwuler Sexualität davon abhalten, über sexuelle Handlungen zu schreiben. Es scheint, als wenn die Erfahrung von AIDS und der Status schwuler männlicher Promiskuität als Sündenbock sowie die homophoben Angriffe gegen ausdrückliche Anleitungen zu Safe Sex auch die historischen Monografien in dieser Hinsicht zum Schweigen gebracht hätten. Außerdem entgleitet von den vier Schwergewichten der Forschung (Begehren, Identität, Gemeinschaft, Politik) das Begehren am ehesten den traditionellen historischen Methoden. Es besteht ein Mangel an Werkzeugen für die historische Re-Konstruktion des Begehrens und seiner Ausdrucksformen. Martin Duberman hat Zweifel daran geäußert, „that historians are very good at dealing with motivation. I don’t think psychologists are very good at it. Since we get it second hand, we are probably worse.“ So wie Duberman, versuche auch ich stattdessen, das Bild aus einer Beschreibung des Verhaltens, des Lebenslaufes, der Ereignisse heraus entstehen zu lassen. Die Erzähler von Mississippis queerer Geschichte haben sich nicht gescheut, detailliert über historische sexuelle Praktiken zu sprechen. Auch meine Geschichte wird sich nicht davor scheuen, in der Hoffnung, dass der Blick auf die Praktiken der Vergangenheit die Begrenzungen der Gegenwart sichtbar macht. (Crimp 1988; Duberman 1991, S. 408. Eine wichtige Ausnahme ist D’Emilio 1988, wo eine Vielzahl sexueller Praktiken diskutiert wird.)

Queere Orte in der Provinz

III.

Im Mississippi der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war für heranwachsende Jugendliche das Zuhause der wichtigste Ort queerer Erfahrungen. In den eigenen vier Wänden wurde geübt, wie man sich gegebenenfalls zu verhalten hatte, fiktive Szenarien wurden durchgespielt. Darüber hinaus war das Zuhause auch der Ort, an dem echtes Begehren ausgedrückt werden konnte, das Männer spürten und in Handlung umsetzten. Im Schlafzimmer und dort insbesondere im Bett konnte an die Stelle autoerotischer Routine leicht eine alloerotische Erfahrung rücken. Wenn, wie Aaron Betsky formuliert, der Orgasmus das Ziel des „queer space“ ist, dann verwandelten die Menschen Mississippis als erstes ihr Zuhause in einen queeren Raum.3 3

Betsky 1997, S. 17. Auch wenn Betsky diese reduktionistische Formulierung weiter erläutert, so beschreibt er queere Identitätsbildung wenig später auf S. 20 doch wie folgt: „The purpose of queer space is again ulti-

320

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JOHN HOWARD

closet herauswagte, war das Wissen um ihr Schwulsein verbreitet – ein besonderer Gang, „a fine voice“ zeichnete sie aus. Ein Student des Holly Springs Campus betonte, die beiden jungen Männer seien keineswegs anders behandelt worden, als ihre Klassenkameraden. Die Verwaltung stellte sogar sicher, dass sie während ihrer gesamten Zeit an dem College gemeinsam untergebracht wurden – im Interesse des Paares und wohl auch im Interesse besorgter möglicher Zimmergenossen. An einer anderen südstaatlichen Universität in den späten 1950er Jahren stolperten zwei andere junge Männer übereinander: „[It was] love at first sight. We met in class, and our eyes kept meeting, too.“ Ebenso wie dem Paar am Rust College gelang es diesen beiden Liebenden, mit Beginn des folgenden Semesters ein gemeinsames Zimmer zu beziehen.7 Queere Männer versammelten sich regelmäßig in bestimmten Zimmern, Schlafsälen oder Gebäudetrakten, die damals in aller Regel nach Geschlechtern getrennt waren. Bisweilen gelang es ihnen auch, nebeneinander gelegene Zimmer zu bekommen, so dass sie größere räumliche Einheiten belegten. An der Jackson State University hatten die Männerwohnhäuser in den 1970er Jahren voneinander getrennte und klar erkennbare schwule und straighte Bereiche. Sicher überwogen die letzteren, doch dafür war der Zusammenhalt in den ersteren oft stärker. Auf kleinen wie großen Campusgeländen, vom Millsaps College in Jackson bis zum Mississippi Southern College in Hattiesburg, gab es ganze Wohntrakte, die sich den Ruf als queer erwarben. Obwohl solche Zuschreibungen häufig von Seiten der Bruderschaften als homophobe Verleumdungen unabhängiger Studenten gedacht waren, wählten viele von denen, die außerhalb des Burschenschaftssystems standen, bereitwillig queere Schlafsäle.8 An der Mississippi Valley State University in Itta Bena waren in den 1970er Jahren Schwule und Transgenders überaus präsent. Bonita Garrett, die in Louisville, Mississippi, aufwuchs, fand ihre queeren Freunde an der Valley Universität faszinierend: „They had a world of language all their own. They had a code going.“ Und, folgen wir Garrett, so wendeten sie jede Verballhornung und Diskriminierung durch ihren Humor in ihren eigenen Vorteil: „They used to dance around, make jokes, right out in the open. If a good looking guy passed 7 8

Lottie Tillman, Interview mit dem Autor, Jackson, MS, 13. Januar 1996. Stearn 1962, S. 150. Dies sind persönliche Erinnerungen. Einer meiner Kollegen in Jackson während der 1980er Jahre berichtete mir über das Schlafsaalleben an seiner Alma Mater, Jackson State, während der 1970er Jahre. Ich konnte ähnliche Beobachtungen 1981am Millsaps College machen und als ich während der 1980er Jahre zu diversen Gelegenheiten die University of Southern Mississippi besuchte.

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QUEERE GESCHICHTEN AUS DER PROVINZ

by, they’d say ‚Oooh, gotta have that,‘ or ‚I sure want that guy with the big butt.‘ [...] They rolled their stomachs. It was entertaining.“ Für Garrett war urbane Kultiviertheit keine Vorbedingung für die Akzeptanz von Differenz. Ganz im Gegenteil, gerade weil die Kleinstädter so wenig über Homosexualität wussten, nahmen sie das Anderssein oft einfach hin, „because we were not conditioned to hate it [...], we were able to form our own opinions.“9 In Mississippi sahen sich sogar diejenigen mit einer schwierigen Jobsituation konfrontiert, die einen Highschool-Abschluss oder ein Universitätsexamen besaßen. Daher waren queere Arbeiter für gewöhnlich in besonders prekären Positionen. Der Wettbewerb um Arbeitsstellen war hart, und der Druck, sich konform zu verhalten, war am Arbeitsplatz besonders groß. Obschon viele Homo- und Transsexuelle als Barmänner, Hotelpagen, Büroangestellte, Juweliere, Krankenpfleger, Platzanweiser und Imbissköche Beschäftigung fanden, waren sie generell am Arbeitsplatz nicht sonderlich beliebt. Rickie Leigh Smith erinnerte sich, dass sowohl der Boss als auch die Kollegen diejenigen vertreiben wollten, die einen abweichenden Geschlechterentwurf lebten. Am Arbeitsplatz wurde zwar viel über Homosexualität gesprochen, in der Regel handelte es sich dabei jedoch um einen „ridiculing or threatening discourse“.10 Trotzdem ist der Arbeitsplatz der Ort, an dem viele Menschen die meiste Zeit des Tages verbringen, und als solcher war er auch ein Ort des homosexuellen Begehrens und Verhaltens, der Kontakte und Identitätsbildung. Insbesondere in größeren Arbeitsumfeldern war es möglich, kleinere queere Gruppen zu formen, die Nichteingeweihte nicht unbedingt bemerkten. Bisweilen bildeten sich regelrechte queere Netzwerke, und bestimmte Arbeitsbereiche wurden zu queeren Bastionen. Einer meiner Gesprächspartner erinnerte sich etwa wie folgt: „The small post office located in the lobby […] hired only gays. Not purposely. But if one gay quit his job there, he always recommended a person to take his place, who was always gay! I worked [at that agency] for the state […] for twenty-six years and I saw literally hundreds of gays coming and going in that small cell at the end of the lobby. It was an accepted thing. […] Every employee there, eight hundred and fifty, knew but turned their backs and kept their mouths shut. Of course that was [the sixties and seventies], not the Depression thirties.“11

9 Bonita Garrett, Interview mit dem Autor, Atlanta, GA, 24. Februar 1996. 10 Rickie Leigh Smith, Interview mit dem Autor, Pearl, MS, 14. Januar 1996. Carl Corley, Brief an den Autor, Zachary, LA, 27. März 1998. 11 Carl Corley, Brief an den Autor, Zachary, LA, 27. März 1998.

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48((5(*(6&+,&+7(1$86'(53529,1=

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-2+1+2:$5'

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