Vorspiele zur ewigen Wiederkunft: Nietzsches Grundlehre 9783412215514, 9783412209391


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German Pages [200] Year 2012

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Vorspiele zur ewigen Wiederkunft: Nietzsches Grundlehre
 9783412215514, 9783412209391

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Vorspiele zur ewigen Wiederkunft

Collegium Hermeneuticum Deutsch-italienische Studien zur Kulturwissenschaft und Philosophie Begründet von Manfred Riedel und Fulvio Tessitore Herausgegeben von Fulvio Tessitore und Jürgen Trabant Wissenschaftlicher Beirat: Tilman Borsche, Giuseppe Cacciatore, Gunter Gebauer, Antonello Giugliano, Matthias Jung, Michele Lenoci, Giancarlo Magnano San Lio, Harald Seubert Band 14

Manfred Riedel

Vorspiele zur ewigen Wiederkunft Nietzsches Grundlehre

Herausgegeben von Harald Seubert unter Mitarbeit von Friedemann Sprang

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Nietzsche-Stein bei Silvaplana/Engadin mit folgendem Text: „Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder, bei einem mächtigen, pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“ Ecce homo: Also sprach Zarathustra. KSA 6, S. 335. Foto: F. Sprang.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Czech Republic ISBN 978-3-412-20939-1

Inhalt

Vorwort..................................................................................................... 9 Präludium: Das Dunkel des gelebten Augenblicks .... 11 Einleitung................................................................................................. 21 Erster Teil: Konzeptionen....................................................... 35 I. Aus der Erfahrung des Denkers........................................................... 35

Der Kampf mit Gedanken-Personen ...................................................... 35 Denkerfahrungen: Vorentwürfe zum Wiederkunftsgedanken ................... 45

II. West-östliches Gelände: Die Einheit von Lehre und Leben.................. 60

Begründungsform des Gedankens oder Kants Zoroaster und Nietzsches Zarathustra................................................................... 60 Personifikationen des Gedankens oder die Lehre als Lebensform .............. 73

III. Zwischen den Zeiten........................................................................... 82

Janus, der Gott mit den zwei Gesichtern, oder die Wiederkunft des Ungleichen...................................................................................... 82 Vermenschlichung der Geschichte........................................................... 89

IV. Der Zwiespalt in der Gedankenkonzeption ........................................ 103

Willensfreiheit und Fatum: Gedankenkeime am Anfang von Nietzsches Denkweg ....................................................................... 103 Zwischen naturwissenschaftlichen und pantheistischen Denkformen......... 109

V. Das Doppelgesicht der Grundlehre..................................................... 116 Denken, Dichten, Schaffen: Lob der Vergänglichkeit............................... 117 Wiederkunft oder Wiederkehr? Der Gedanke in seiner sprachlichen Doppelform.......................................................................................... 129

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Inhalt

Zweiter Teil: Ursprünge ........................................................... 137 I. Alltägliches und Mythisches in Nietzsches Zeitverständnis ................. 137

Zeitlichkeit und absolutes Werden ......................................................... 137 Einkehr ins Verschiedene oder Rückkehr ins Gleiche? .............................. 141

II. Hören auf den Gesamtklang der Welt: Interpretationen anfänglicher Denkerfahrungen ........................................................... 150

Das Sein und das Werden: Die volle Differenz........................................ 150 Präluzenz der ewigen Wiederkehr ......................................................... 153

Epilog: Goethe-Verwandtschaft und Faust-Parodie .................................................................................. 157 Nachwort von Harald Seubert .................................................................. 173 Literatur ................................................................................................... 189 Personenverzeichnis .................................................................................. 193

„Ich selber bin über Versuche und Wagnisse, über Vorspiele und Versprechungen aller Art nicht hinausgekommen.“ (Nietzsche an P. Gast, 13. 2. 1888,

KSB 8, S. 250f.)

„ Ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ich’s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Augenblick aushalten? der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen – Ach!“ (Nachgelassene Fragmente, Winter 1882/83, 4 [81], KSA 10, S. 137)

Vorwort

Dieses Buch ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die ich seit Anfang der 80er Jahre zu dem Thema: ‚Nietzsche und die Griechen‘ an der Universität ErlangenNürnberg gehalten habe. Ihr Grundgedanke wurde auf einem der letzten Seminare vorgetragen, die im Rahmen des ‚Inter-University Center of Postgraduate Studies‘ unter der Leitung von Michailo Djurič und Josef Simon 1988 in Dubrovnik stattfanden. Seither bin ich den Vorgestalten von Nietzsches Wiederkunftslehre und ihren Vorspielen in west-östlichen Denkerfahrungen am Anfang unseres Kulturkreises des öfteren nachgegangen, zuletzt auf dem diesjährigen Kongress der Stiftung Weimarer Klassik zum Thema: „Die ewige Wiederkehr“. In der vorliegenden Fassung geht das Buch zurück auf Vorarbeiten zu einer Vortragsreihe an der Universität Madrid im Frühjahr 1995. Ich danke Teresa Oñate de Segovia für die Einladung, vorliegenden Deutungsversuch von Nietzsches Wiederkunftslehre auf dem gemeinsam mit dem Museo Nacional Reina Sofia veranstalteten Symposion: „Die Künste denken“ („Pensar las Artes“) zur Diskussion zu stellen. Mein Dank gilt zugleich den Künstlern und Philosophen dieses alteuropäischen Kulturlandes für ihr lebhaftes Interesse, das sie dem Versuch entgegengebracht haben. Manche Anregungen aus den Madrider Gesprächen sind in die Schlussredaktion eingegangen. Um dem Leser das Verständnis von Nietzsches Grundlehre zu erleichtern, werden die dazu einschlägigen Textstücke im Kontext interpretiert. So sind weite Partien dieses Buches Textexegesen im hermeneutischen Sinne dieses Wortes. Es sei jedoch zur Vermeidung naheliegender Missverständnisse angemerkt, dass Nietzsches Philosophie nicht mit philosophischer Hermeneutik zusammenfällt. Und am wenigsten erschließt sich der Wiederkunftsgedanke dem Zugriff des Verstehens, das sich an philologischer Texthermeneutik orientiert. Einen Gedanken verstehen, das heißt nach Nietzsche, seiner Bewegung bis hin zum Grund unseres Gefühlslebens zu folgen: „Er regt eine Vorstellung, diese regt Wahrnehmungen, diese regen Gefühle auf, so gibt endlich der Stein einen dumpfen Ton, wenn er unten im Grunde angelangt ist: diese Erschütterung des Grundes nennen wir ,verstehen‘.“ Von jener Gedankenbewegung etwas mitzuteilen, das ist die Aufgabe, der sich unser vorliegender Interpretationsversuch verpflichtet weiß. Ob er an den Grund der Lehre rührt, darüber mag der Leser selbst urteilen. Eine „systematische“ Rekonstruktion, wie sie im Anschluss an das Buch meines Lehrers Karl Löwith über ‚Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ (19351, 19562) während der letzten Jahrzehnte mehrfach versucht wurde, ist nicht be-

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Vorwort

absichtigt. Unser Versuch orientiert sich am experimentellen Verstehensbegriff von Nietzsches Selbstinterpretation und der darin vorausgesetzten Abweisung des Systemgedankens der neuzeitlichen Metaphysik, der einst Löwiths erstmalige Interpretation des Wiederkunftsgedankens auf den Spuren der phänomenologischen Hermeneutik seines Freiburger Lehrers Martin Heidegger inspirierte (in seiner ungedruckten Dissertation von 1923). Ich kann nur wünschen, dem Impuls einer hermeneutischen Phänomenologie ursprünglicher Denkerfahrungen gerecht geworden zu sein, der nach der Kehre in Heideggers (und Löwiths) systematisierender Nietzsche-Interpretation nur gebrochen zur Geltung kommt. Der Titel unterstreicht das Vorläufige, Provisorische, Tastende in Nietzsches Gedankenexperiment. Ihr erster Teil widmet sich Konzeptionen, der zweite den Ursprüngen der Wiederkunftslehre. In beiden Teilen kommt es mir darauf an, Nietzsches Grunderfahrung herauszuarbeiten: sein Erstaunen über das Werden als alltägliches Phänomen, jenes unhintergehbare Widerfahrnis der immer kommenden und gehenden Zeit, um das sich das Pathos abendländischen Denkens von Anbeginn dreht. Dies ist, um mit Nietzsche zu sprechen, das wahre Kennzeichen einer philosophischen Natur: die Verwunderung über das Alltägliche, was vor aller Augen liegt und dennoch kaum gesehen wird. Es wäre schon einiges erreicht, wenn dem Nietzsche-Leser von heute nach dem Ende linear progredierender Zeitideologien diese Erfahrung wieder zugänglich würde. Und viel wäre gewonnen, wenn ihm an Nietzsches versuchtem Gedankenspiel aufginge, warum seine Philosophie über die abgeschlossene Epoche der Moderne und die darin anvisierte Endgeschichte der abendländischen Metaphysik hinausweist. Der Verfasser kann für sich nur hoffen, dem Maßstab einer wahrhaft kritischen Hermeneutik gerecht geworden zu sein, die sich davon Rechenschaft gibt, dass am Verstehen immer etwas Unverständliches haften bleibt und jede Erschütterung seines Grundes auf ein neues großes Unbekanntes hindeutet. Halle-Wittenberg, im August 1995 Manfred Riedel

Präludium: Das Dunkel des gelebten Augenblicks1

Nun, das Thema klingt so schön akademisch. Ich halte gar nicht so viel vom Akademisieren und möchte das Thema auf die heutige Erfahrungssituation, vor allem auf die Stellung zu Nietzsche nach dem Krieg, insbesondere in Ostdeutschland, beziehen. Lassen Sie mich dennoch mit Max Weber beginnen, denn ich komme damit direkt zur Sache: Max Weber war der Heidelberger Lehrer von Georg Lukács und der Lehrer von Ernst Bloch, meines Lehrers in Leipzig ... Der Satz, mit dem ich beginne, ist ein Leitsatz auch für das, was ich im Nachdenken niedergeschrieben habe. Ich habe diesen Satz von Weber erst vor wenigen Tagen kennengelernt, er ist sehr bemerkenswert. – Sie wissen: 1918 war das große Buchereignis Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘; ein Buch, das einen Riesenerfolg hatte, weil seine Untergangsprognosen übereinstimmten mit der deutschen Niederlage am Ende des 1. Weltkrieges. Spengler, der sonst ein zurückgezogener Gelehrter war, wurde mit einem Schlag ein bekannter Mann: in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt. Nach einer Podiumsdiskussion zwischen Spengler und Weber in München hat Max Weber beim Nachhausegehen das Folgende zu dem Studenten gesagt, der ihn begleitete: „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten und vor allem eines heutigen Philosophen kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und zu Marx stellt. Wer nicht zugibt“, so Weber im nächtlichen München des Jahres 1918, „daß er gewichtige Teile seiner Arbeit nicht leisten könnte ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere.“ Die Begründung dafür lautete: „Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.“ Marx und Nietzsche, die Antipoden des 19. Jahrhunderts, sind sozusagen die Doppelköpfe des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie haben alle wesentlichen Denker zu dieser Zeit prägend beeinflusst. – Den Kern der Lehre von Nietzsche hat Max Weber in der „Moral der Vornehmheit“ gesehen, in Nietzsches Kampf gegen die Vermassung und Vermittelmäßigung des Menschen im modernen Kapitalismus, in der modernen maschinellen Produktion. Davon unterschied Weber die „Schale“ von Nietzsches Lehre, den Versuch des späten Nietzsche, seine „Moral der Vornehmheit“ biologisch zu begründen. – Es gibt eine biologistische 1 Anlässlich der Nietzsche-Werkstatt des Europäischen Kulturzentrums in Thüringen (1993) hielt Manfred Riedel folgenden Vortrag auf dem Kolloquium „Friedrich Nietzsche – Karl Marx – Max Weber“. Er wird hier als Präludium des Manuskriptes aufgenommen.

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Präludium

Umkleidung für die moralische Botschaft, die er mitteilt. Im Unterschied zur „Schale“ sah Weber aber den „Kern“ von Nietzsches Theorie darin, die Art von Mensch, die sein kann, nicht mit der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Mittelmäßigkeit des 19. Jahrhunderts zu identifizieren. Doch diese kleinbürgerliche Mittelmäßigkeit, die Vermassung und Egalisierung, ist auch zum Leitbild der Arbeiterbewegung geworden. Darin hat Weber das eigentliche Verhängnis des Kampfes zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft um 1900 gesehen. Diese Diagnose von Weber geht also direkt auf Nietzsche zurück: dass das Ideal des kleinbürgerlichen Menschen, der nach Glück strebt und in jedem Falle sein Glück materiell verwirklichen will, – ohne zu wissen, dass unsere Bedingungen nicht so sind, dass die Conditio humana nicht so ist, um in jedem Falle dieses Glücksverlangen auch verwirklichen zu können, – dass also das „Glück“, als ein allgemeines Leitbild der Vermassung zur Geltung gebracht, die eigentliche Krankheit des Zeitalters sei. Es ist Nietzsches Unterscheidung zwischen dem „höheren Menschen“, den er den Übermenschen nennt, und dem letzten Menschen. Der Übermensch ist das Kontrastbild zum letzten Menschen, der sich anpasst und als kleines funktionierendes Rad im Getriebe das tut, was der gesellschaftliche Mechanismus von ihm verlangt. Der Übermensch bezeichnet Nietzsches Versuch, im Zeitalter der Massendemokratie zu fragen, ob die Art von Mensch, welche die Massendemokratie braucht und gezüchtet hat, diejenige ist, zu der wir Ja sagen können; ob wir alle Normen der demokratischen Massengesellschaft übernehmen dürfen, unter anderem die Vorstellung der Emanzipation, dass alle frei und gleich sind und alle das gleiche Glücksbedürfnis haben, das dann auch durch die Zukunftsgesellschaft für alle befriedigt werden wird. Weber übernimmt von Nietzsche nicht den Kampf gegen Marx und die marxistisch geprägte Sozialdemokratie. Hier muss man unterscheiden. Für Nietzsche ist die Arbeiterschaft im Kapitalismus der „unmögliche Stand“. Das ist seine Bezeichnung für die Arbeiterschaft, weil dieser „unmögliche Stand“ unter Bedingungen einer unpersönlichen Verknechtung lebt. – Es ist die sachliche Verknechtung, die den modernen Arbeiterstand ausmacht. Das heißt, er hat kein Gegenüber in der Gestalt eines Herrn, der für diejenigen aufzukommen und zu sorgen hat, die mit ihm in Lebensverbundenheit sind, sondern sein Gegenüber ist das Kapital, der Kapitaleigner. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft (nach der Diagnose von Marx), das heißt, die Arbeit ist frei. Das bedeutet aber im Kern, dass die Arbeit und damit alle sozialen Beziehungen Sachbeziehungen geworden sind. Sie regulieren sich alleine über das anonyme Geldverhältnis und über die Anonymität der maschinellen Produktion. Darin also besteht die „Unmöglichkeit“ des Arbeiterstandes, dass er in einer unpersönlichen Verknechtung lebt. Max Weber hat daraus den entscheidenden Anstoß zur Diagnose des



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modernen Zeitalters empfangen, und er hat dieses unter den Leitgedanken der Rationalisierung gebracht. Die Rationalisierung ist der Gegenzug zu einer Welt, die einmal persönlich herrschaftlich gegliedert war, damit aber auch Verantwortung kannte und ein Ethos der Verantwortung für diejenigen, die nicht eigenverantwortlich ihr Leben führen konnten. Im modernen Kapitalismus hat sich diese Verantwortung für die Arbeiterschaft gleichsam in sachlichen, dinglichen Beziehungen aufgelöst. Die „Rationalisierung der Welt“ – das heißt: die Aufklärung – bedeutet eine Versachlichung der menschlichen Sozialbeziehungen, und diese Versachlichungen sind das „Unmögliche“ an der Arbeiterschaft. Sie ist damit den Sachlichkeitsbedingungen der sozialen Reproduktion in der Moderne ausgesetzt. Das heißt, dass dieser „unmögliche Stand“ dazu beiträgt, eine Art von Mensch gesellschaftlich allgemein zu machen, die nur eine Verlängerung des bürgerlichen Arbeitsmenschen ist, des Menschen also, der der rationalen Gelderwerbung und der Vermehrung des Geldes nachgeht. Nietzsche hat die berühmte Lehre vom asketischen Ideal entwickelt: Zur Rationalisierung der Sozialverhältnisse gehört die Berufsaskese, die Arbeitsaskese. Sie führt zu Triebverzicht, damit aber auch zur Verkümmerung der Lebensmöglichkeiten des Menschen, und es entsteht gesamtgesellschaftlich in der modernen Welt eine Art von Mensch, die Nietzsche den letzten Menschen nennt. Für Webers Soziologie ist die Frage ein oberster Maßstab für alle sozialen Ordnungen: Welchen Typus Mensch bringen sie hervor? Und die moderne Sozialordnung – das ist Webers These, die sich Nietzsche verdankt – bringt einen mittelmäßigen Menschen hervor, einen Menschen der Egalisierung, der allgemeinen gesellschaftlichen Gleichheit, der nicht mehr die ganzen Bedingungen des Menschseins zu erfahren vermag. Dies ist kein Mensch, der mit sich und seinesgleichen noch ein Abenteuer riskiert, der unterwegs bleibt, der Erfahrung zu machen sucht im Fahren, sondern für den alles sozial ausdefiniert ist. Und diese soziale Ausdefinierung der menschlichen Lebensmöglichkeiten ist eben in der modernen Arbeiterbewegung – zu Webers großem Bedauern – erfolgt. Für Nietzsche war es unwürdig, dass der Arbeiterstand, die Arbeiterschaft, für ihre unpersönliche Verknechtung nur via Gewerkschaftsbewegung immer mehr Geld bekommen sollte. Nietzsche fand es unmöglich, diese soziale Situation dadurch verbessern zu wollen, dass man mehr Geld für die Arbeiterschaft erkämpfte. Nietzsche war der Auffassung, es müsse ein Zustand der Gesellschaft angestrebt werden, in welchem der Arbeiter wie der Angestellte und Beamte unter bürgerlichen sozialen Bedingungen ein Gehalt, ein Honorar, empfängt, damit seine Menschenwürde nach außen gleichsam bezeugt werden kann. Nietzsche blickte auf einen sozialen Zustand aus, in welchem durch die Entfaltung moderner, wissenschaftlich gesteuerter Erzeugungsmöglichkeiten so viele Güter

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Präludium

da sind, dass sich der Arbeiter- und der Bürgerstand gleichsam zu einem Stand vereinigen können, den er den „Mittelstand“ nannte. Und seine Hoffnung war, dass sich durch die soziale Entwicklung ein solcher Mittelstand bilden würde, der die alten Kämpfe zwischen Bürgertum und Proletariat hinter sich ließe. Denn diese Kämpfe waren für Nietzsche dysfunktional, weil der Emanzipationskampf der Arbeiterschaft sich an das bürgerliche Ideal der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung hielt, also sich an der Vermassung und der Vergewöhnlichung des menschlichen Lebens orientierte. Wenn es einen solchen Mittelstand geben wird – das war Nietzsches Prognose – und das scheint für seine Zeit eine enorme Scharfsicht gewesen zu sein, dann wird der Sozialismus vergessen sein wie eine Krankheit, die man hinter sich lässt, denn das Emanzipationsideal des Sozialismus war für Nietzsche ein pseudobürgerliches, ein Nachahmungsideal der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Lebensform. Und der Typus Mensch, der hier gesamtgesellschaftlich geworden wäre, wäre für ihn das Ende des europäischen Menschen gewesen, eben jenes Menschentyps, der sich über verschiedene Wurzeln – jüdische, griechische, römische, christliche – an Lebensmöglichkeiten der vielfältigsten Art orientierte, die sich zu eigenen Typen ausgestalteten; Menschentypen, die ihr Leben immer schon für sich und andere verantwortlich zu führen suchten, ohne Idealen einer letzthinnigen Einebnung aller menschlichen Lebensmöglichkeiten nachzuhängen. Der europäische Mensch ist für Nietzsche gleichbedeutend mit der Vielgestaltigkeit eines Typus Mensch, der, nachdenklich auf die Bedingungen des Menschseins blickend, sein Leben verantwortlich für sich und andere zu führen sucht. Das steckt hinter Nietzsches ,,Moral der Vornehmheit“, nachdem die Aristokratie abgewirtschaftet hatte in der Französischen Revolution und den ihr vorhergegangenen Revolutionen in den Niederlanden und in England; nachdem das Bürgertum abgewirtschaftet hatte mit seinen sozialen Vorstellungen und nachdem die Arbeiterschaft den kleinbürgerlichen Weg gegangen ist. Nachdem alle diese Emanzipationsmöglichkeiten durchprobiert sind, wird alle Hoffnung auf die Herausbildung eines Mittelstandes in der Gesellschaft gesetzt. Es sind die Ideale der Griechen, denn für Aristoteles sind diejenigen Verfassungen die besten, die einen Mittelstand hervorbringen und diesem zu leben erlauben. Alle Extreme sind nach Aristoteles schlecht: Es lebe die Mitte, es lebe nicht das Mittelmaß, sondern der Maßstab eines Menschen, der den Menschen in der Vielgestaltigkeit seiner Möglichkeiten sein lässt. Damit bin ich bei meinem Lehrer Ernst Bloch, der ein deutscher Jude war, einer der letzten Vertreter der deutsch-jüdischen Kultursymbiose, die es seit Kant und Mendelssohn gab und die die Nazis kaputtgemacht haben. Bloch war ein vornehmer Mensch; nicht in dem Sinne, dass er besonders herausgehobene Ansprüche gestellt hätte, sondern er war einer, der um die Vielgestaltigkeit der



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Lebensmöglichkeiten des Menschseins wusste und diese bedroht sah durch die Entwicklung in Ostdeutschland nach dem Krieg.2 Darin sehe ich den Kern des Blochschen Festhaltens an Nietzsche, der in Ostdeutschland nach dem Kriege zum Tabu geworden war. Die große Konstellation von Weber: wir sind alle geistig geprägt durch Marx und Nietzsche, sie war hier in Ostdeutschland unterbrochen, zerschnitten. Das hängt damit zusammen, dass Nietzsche in die Hand seiner Schwester fiel, nachdem er selber nicht mehr verantwortlich sein Leben führen konnte. Und die Schwester hat das Nietzsche-Archiv gegründet, sie hat seine Werke vermarktet, sie hat damit viel Geld gemacht und ihr Leben auf der Kreide von Nietzsche bestritten. Sie hat die Schale, die biologistische Umkleidung des Kerns, zur Lehre selbst gemacht. Damit konnte sie sich nationalsozialistischen Rassentheorien anähnlichen – und sie hat es getan. Sie hat die Gunst der Stunde genutzt, sie hat zuerst Ende der zwanziger Jahre mit Mussolini Fäden gesponnen und dann später mit Hitler. Hitler hat sie auch finanziell unterstützt. Das MDR-Studio Weimar – die Nietzsche-Halle neben dem Nietzsche-Archiv – wurde mit Hitlers Geld gebaut. In gewisser Hinsicht kann man die ostdeutschen Kommunisten verstehen, dass sie die Konstellation abbrachen. Aber sie verwechselten die biologistische Umkleidung, die Schale der Lehre, die die Schwester zur Lehre erklärte, mit dem Kern von Nietzsches Lehre. Ich möchte einiges von der Konstellation Webers, der Einsicht, dass uns Marx und Nietzsche geistig geprägt haben, nun auf die DDR-Situation der frühen fünfziger Jahre beziehen. Dies geschieht vor meinem Erfahrungshintergrund als Student 1954 in Leipzig. Ich war zunächst Germanistikstudent und wusste gar nicht, dass es Bloch gibt. Aber es gab ihn, und ich war von ihm gefesselt, denn da sprach einer als Schüler von Weber und brachte die ganze Vielfalt des europäischen Geisteslebens im Hörsaal 40 in Leipzig zur Sprache. Bloch hatte mit seinem Freund und Weggefährten Georg Lukács vor dem 1.  Weltkrieg als Nietzscheaner zu philosophieren begonnen, ohne sich dem Nietzsche-Kult und dem Mythos des Nietzscheanismus zu verschreiben. Damit meine ich die Philosophie des Nietzsche-Archivs, die Schwester Elisabeth und die vielen Anhänger, die sie um sich gesammelt hatte. Auch der junge Thomas Mann war zeitweilig in diese Nähe geraten. Bloch hat zu einer Zeit, als im Weimarer Nietzsche-Archiv die erste Kompilation am System des „Willens zur Macht“ gerade abgeschlossen war, auf die Unabgeschlossenheit von Nietzsches Philosophie hingewiesen. Das tat er in einem Aufsatz, den er als Student im zweiten Semester schrieb. Sein erster Aufsatz galt dem Problem Nietzsche – 1906 2 Vgl. dazu M. Riedel, Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung. Frankfurt/Main 1994.

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Präludium

erschienen, vor ein paar Jahren wieder ausgegraben und im Bloch-Archiv 1987 erneut abgedruckt. „Nicht in seinen Werken“, sagt der junge Bloch, „sondern in seinen Wünschen besteht das Große dieses Denkers“, der nach einem kategorischen Optativ als Kompass uneingeschränkter Lebensbejahung gesucht und dabei dem Begriff des Individuums, des Subjekts, die stärkste qualitative, das heißt, in die Tiefe führende Bestimmung gegeben habe. Der junge Bloch ist sofort am Kern der Lehre: Man kann nicht aufhören, über das Menschsein nachzudenken, in seinen Kleinheiten, Erbärmlichkeiten und in der möglichen Größe, die immer wieder aufscheint auf dem Lebensgang eines jeden Einzelnen von uns. Blochs Frage, ob das menschliche Leben aus seiner Entfremdung durch Wissenschaft und Technik herausgeführt und auf eine Höhe gebracht werden könne, wo Seele und Sinne eins werden, nimmt die Problemstellung von Lukács’ Schrift ‚Die Seele und die Formen‘ vorweg, welche sie nach dem Vorbild des frühen Nietzsche mit dem Rekurs auf eine tragische Metaphysik des Scheiterns auf diesem Weg zu beantworten sucht. Das ist der spätere romantische AntiKapitalismus des jungen Lukács, sein Nietzscheanismus. Seele und Sinne, Leben und Form, kann man nach Lukács nicht vereinigen. Wer das versucht, der wird daran scheitern! Bloch bleibt dabei nicht stehen. Im ‚Geist der Utopie‘ (1918), seinem großen Frühwerk, erscheint Nietzsche als der wollende, zielhafte Denker an sich, dem es zur Überwindung der Tragödie der Rationalisierung, der Entzauberung der modernen Welt zu folgen gilt. Denn die Tragödie der Rationalisierung besteht ja eben darin, dass es zur unpersönlichen Herrschaft kommt, dass die Sachen die Menschen beherrschen und nicht umgekehrt. Nicht kritiklos folgt Bloch Nietzsche, denn Nietzsche hat – nach Bloch – fast jede Schranke zwischen dem Letzt und dem Nu außer Acht gelassen, sodass seine Lehre eine zwischen der niederen praktischen Gegenwart und der letzten mystischen Gegenwart schwankende und unreine Aktualität verkünde. – Bloch bringt den ganzen Nietzsche in den Blick, seinen Kampf gegen den kalten, undionysischen, unmystischen Menschen. – Das ist der „Fachmensch“, wie ihn Weber nennt; der Fachmensch ohne Geist, der Berufsmensch, der Teilmensch, auch der Sinnen- und Genussmensch, der sich nach dem Beruf des Tages am Abend der Sinneslust hingibt, der Sinnenmensch ohne Herz. Das sind die Antithesen, die alle von Nietzsche herstammen. Bloch erkannte Nietzsches Kampf gegen den kalten, undionysischen, unmystischen Menschen, gegen das Daseinsrecht und die Wahrheit der „wissenschaftlichen Wahrheit“ überhaupt, ohne Subjekt und Traum, obwohl er der Auffassung war, dass die gedanklichen Mittel zum Sturm auf den zögernden Himmel, der „Wille zur Macht“, wie das Bild einer aus endloser Wiederholung imitierten Ewigkeit allzu zeitliche, halb aus der Welt und Überwelt gebildete Optative



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enthielten, die – ich zitiere nochmals Bloch – „nur den missglückten Versuch eines dritten Testaments darstellen, das an seinen zu niedrig und dann wieder als abstrakt angelegten Apriori zugrunde geht“. Das Entscheidende an Blochs Sicht auf Nietzsche ist, dass für ihn Nietzsche der Denker der Hoffnung auf den künftigen Menschen ist, der Denker auch der Hoffnung auf das Kommen eines „Mittelstandes“, der Sozialismus und Kapitalismus der alten Art wie eine Krankheit hinter sich gelassen haben wird. Bloch spricht sehr eindrucksvoll davon, dass Nietzsche den „Essay-Raum der Hoffnung“ aufgeschlagen habe. Der Essay ist der Versuch, das Experiment, das Erfahren, das Durch-Erfahren menschlicher Lebensmöglichkeiten. Und zugleich ist der Essay die philosophische Kunstform, in der man Gedanken, die die Nähe zur menschlichen Lebenserfahrung bezeugen, auszuformulieren versucht. So ist Blochs These zu verstehen, dass also Nietzsche den Essay-Raum zur Hoffnung aufgeschlagen habe, neben der Brücke zur Zukunft. Diese Einsicht hat Bloch nicht nur gegen seine neukantianistischen Lehrer Windelband und Rickert verteidigt, die vom Dichter Nietzsche als von einem „nervösen Professor“ sprachen, der „gerne einmal Tyrann“ sein möchte, was Bloch an Nietzsche einen Skandal nennt. – Das ist die Stimme der bürgerlichen Professoren von 1900! Und man sieht, wie Max Weber sich von diesen seinen Freunden unterscheidet. – Bloch hat diese Einsicht auch gegenüber der marxistischen Nietzsche-Kritik von Mehring über Hans Günther bis hin zum späten Lukács aufrechterhalten, die ähnlich herablassend über Nietzsche urteilten. Dies ermöglichte es Bloch, den reduktionistischen Nietzsche-Mythos zu durchschauen, der die Grunderfahrung des Dionysischen, des Subjekts, des Individuums in all seiner Gefährdung verfälscht. Nach Bloch umschreibt der Name des Dionysos, des griechischen Gottes, jenes historisch verdrängte, unterschlagene und geschwächte – mindestens abgelenkte – Subjekt der modernen Massengesellschaft. Das ist ein Zeichen: die Anrufung des griechischen Gottes. Sie erfolgt gegen die Abschwächung, Ablenkung, Versachlichung und Rationalisierung des Individuums in der modernen Massengesellschaft. Ein Subjekt, das für den Menschen – als fernes Wunschwesen – und für seine Sehnsucht nach Lebensnähe zugleich steht. Bloch nennt dies „das Dunkel des gelebten Augenblicks“. – Im Dunkel des gelebten Augenblicks ist gleichsam der Gott nahe, der Gott des Lebens: Dionysos. Dieser Gott ist der Gott des Einzelnen. Denn Leben ist erfahrbar einzig an uns selbst, an unserer Leibhaftigkeit. Wir wüssten in Gedanken nicht, was Leben wäre, wenn wir diese Erfahrung des Gelebtseins und des Gelebtwerdens, des Erlebens und des Lebensversuches nicht zugleich an uns machten. Wieder also Webers Problem! Hinter dieser Akzentuierung steht NietzscheDeutung: das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ als Faktum des Gelebtwerdens

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Präludium

und Gelebtseins, das faktisch unverständlich ist. Und wenn wir gewissenhaft und aufrichtig sind, wissen wir: Wir verstehen unsere Abgründe nicht, wir können immer nur versuchen, uns zu verstehen. In dieses Dunkel, in dieses Universum, in das getriebene Leben, das wir sind, schlägt der utopische Blitz des Gedankens der „Wiederkehr des Gleichen“ ein; in das Dunkel des Jetzt und Hier bringt er Licht in dem Sinne, dass das Jetzt und Hier als das Eigentliche gefasst wird, das es zu fassen und zu bejahen gilt. Der Ausdruck der Bejahung ist nicht allein der Goethe’sche Wunsch „Verweile doch“, der zum Augenblick gesprochen wird, sondern Nietzsche hat dazu mehr gesagt. Nietzsche hat zum Augenblick gesagt „Komme doch wieder“! – Das ist die höchste Form der Lebensbejahung. Bloch nennt das mit Recht utopisch. Das ist die Lehre von der Wiederkehr des Gleichen, die ja nur der Ausdruck der höchsten Lebensbejahung ist: da capo – noch einmal. Ich blicke nicht zurück und bin nicht resignativ und gehe in die Depression, sondern ich sage: Es gibt immer wieder Lebensmöglichkeiten im Hier und Jetzt, Leben kommt auf mich zu, und ich sage Ja dazu, dass es kommt. Und das höchste Ja-Sagen ist, dass es wiederkommen möge, nicht nur einmal und im Jenseits und dann stillgestellt, sondern immer wieder. Das ist sicherlich sehr mystisch, aber ein Fingerzeig zur Verständigung darüber, wie wir leben könnten. Das Goethe’sche „Verweile doch“ ist sozusagen ästhetisch immanent, man kann es verstehen. Nietzsches „Komme doch wieder“, das ist mystisch, philosophisch. Es ist tiefer. Ich will nicht sagen, dass ‚Zarathustra‘ tiefer ist als der ‚Faust‘, aber ‚Zarathustra‘ steht auf der Höhe des ‚Faust‘. ‚Zarathustra‘ ist – recht verstanden – die Vertiefung des faustischen Problems des „Verweile doch, du bist so schön“. Nietzsche erhellt das Dunkel des gelebten Augenblicks im utopischen Blitz des Gedankens der Wiederkehr des Gleichen, der in dieses Dunkel einschlägt und dann zum Eingedenken führt, das noch einmal „da capo“ sagt, und zwar im Bunde mit dem Vorschein des gelungenen Werks der Kunst wie auch mit dem Nachschein erlebter Frömmigkeit durch den Stifter der Religion, die beide zur Wiederholung und Nachfolge aufrufen. Ich meine den, der Buddha nachfolgt, und ich meine den, der Christus nachfolgt, denn auch die Nachfolgenden sagen „da capo“; auch sie versuchen, diese Antwort zu geben: „Noch einmal! – ER hat gelebt, wir leben es nach, denn er hat richtig gelebt.“ Das also ist der philosophische Impetus im ‚Prinzip Hoffnung‘, Blochs großem Werk, in der DDR erschienen, woran dem Leser in der damaligen frühen DDR ein unbekannter Nietzsche aufging. Für uns war das alles in der Schule und in der allgemeinen Öffentlichkeit tabu, weil die Schwester mit Hitler zusammen Nietzsche zum Staatsphilosophen zu machen versucht hatte. Wenn man aber angesichts dieser Tabuisierung das



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‚Prinzip Hoffnung‘ aufschlug, dann konnte man über Nietzsche lesen: „Sein ‚Wille zur Macht‘ hat sich bereits vom Bismarck-Reich abgewandt, dem Zweiten Reich. Und das Dritte Reich wäre ihm vielleicht Gelächter und schmerzliche Scham gewesen!“ Bloch war also nicht bereit, diese Tabuisierung mit zu vollziehen, weil bei den Nazis der mittelmäßige Mensch im Sinne des letzten Menschen über die Rassenlehre und über die Konstruktion eines germanischen Endreiches alle menschlichen Probleme gelöst zu haben glaubte; weil die Nazi-Lösung der sozialen Fragen sich in der gleichen Verirrung und Verstrickung bewegte wie die kommunistischen Lösungsversuche der nationalen Frage. Die Nazis hatten ja einen bestimmten Typus Mensch, den „Germanen“, zum Normalmenschen erklärt und damit alle anderen Menschentypen, Menschenarten, menschlichen Lebensmöglichkeiten innerhalb und außerhalb Europas als nichtig erachtet; ja, sie hatten einzelne Rassen wie die Juden, die ganze Lebenswürdigkeit eines Volkes, das die älteste Geschichte hat, vernichtet. Dies beides muss im Zusammenhang gesehen werden. Das ist die Krankheit unseres Jahrhunderts gewesen, von der wir vielleicht genesen können, wenn wir weitsichtig genug sind und ins Weite hinaus und zurück zu blicken versuchen. Bloch war also nicht bereit, Baeumler und Rosenberg als authentische Nietzsche-Interpreten zu akzeptieren. Und obwohl er nicht übersah, dass Nietzsches Denken faschistisch missbrauchbar war, so hielt Bloch es doch für einen Fehler der Antifaschisten, Nietzsche dem Faschismus überlassen zu haben. Er sah darin etwas ungeheuer Schädliches, weil dadurch zu viel falscher Glanz auf den Nationalsozialismus fiel und Hitler für viele gerechtfertigt, zumindest interessant erschien. So habe ich es auch in Blochs Vorlesung zur Geschichte der Philosophie im Herbst 1956 gehört, der letzten, die Bloch in Leipzig gehalten hat. Sie nahm den Anstoß eines jugendlichen Nietzsche-Impetus auf – im bewussten Gegensatz zum Neukantianismus – dessen prägenden Einfluss der junge Lukács nie abzustreifen verstand. Als ich etwas später mit Bloch in Heidelberg darüber sprach, verwies er darauf, dass der Inhalt des Subjektiven, der Seele, eben nicht nur – wie im Neukantianismus – das allgemein Menschliche sei, die „Form der Gattungsmäßigkeit“, wie sich Lukács ausdrückte, sondern das Leben selbst. Der Ruf nach „Leben“ sei von Nietzsche zunächst über das Weiche gekommen, das sich später ins Harte verbog: zum „Supermenschen“, dem von Hitler und Rosenberg gebrauchten Nazi-Menschentyp, einem „Übermenschen“ ohne Gefühl des Mitleids. Nietzsche selbst meinte es nach Bloch anders. Er malte das Vornehme statt des Guten in zukünftiger Unbestimmtheit; das heißt: im Umriss, als Typus, an dem wir uns orientieren können. Wir Heutigen, die wir durch die Versachli-

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Präludium

chungsbedingungen der modernen Gesellschaft und jene Parteien, die diese Versachlichungsbedingungen umzuwälzen versuchten – durch die Nazis und die Kommunisten – zu leiden gehabt haben. Die Bestimmung des Vornehmen statt des Guten wäre nach Bloch möglich gewesen, wenn sich die Arbeiterbewegung der Kategorie der Vornehmheit angenommen hätte, die Nietzsche gegen die nationale Borniertheit des BismarckReiches eingeklagt und zugleich gegen die sozial- und liberal-demokratische Verkleinerung des Menschentums gewendet habe. Bloch ordnet Nietzsche der Unheilslinie der deutschen Philosophie von Schopenhauer bis Heidegger zu, was Nietzsche nicht abwertet, im Gegenteil: „Unheil“ ist für Bloch eine hohe Kategorie. „Unheil“ ist Anzeichen der Gefahr und Erfahrung des Rettenden zugleich. Es sei auf dieser Linie doch etwas auch bemerkt worden, sagt Bloch, „nämlich nicht ganz unwichtige Prinzipien der Wirklichkeit, die man durchaus auch zur Kenntnis nehmen muss und an die mit Nachdenklichkeit heranzugehen in unserer trüben und schwierigen Welt und auf dieser dunklen Erde immer Gelegenheit ist“. Bloch sprach diese, seine Hörer tief berührenden Worte Anfang November 1956 im Hörsaal 40 der Leipziger Universität, als die Unheilslinie des Stalinismus ihn selbst und Georg Lukács, der mit Stalin paktierte und dem diese Worte galten, einzuholen begann. Ohne über den Zusammenhang der verwandten Bürgerkriegsparteien der Nazis und der Kommunisten nachzudenken, hatte Lukács in seinem Buch ‚Die Zerstörung der Vernunft‘ die deutsche Unheilslinie auf die fatale Formel „von Nietzsche zu Hitler“ gebracht, die den gemeinsamen Nietzsche-Impetus der Jugend verleugnete. Lukács’ Breitenwirkung, erst in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR, wurde begünstigt durch die Kulturpolitik Johannes R. Bechers. In der von Becher in der Moskauer Emigration redigierten Zeitschrift ‚Internationale Literatur. Deutsche Blätter‘ erschien Lukács’ Aufsatz ‚Der deutsche Faschismus und Hegel‘, der den von meiner Generation viel gelesenen Sammelband mit dem Titel ‚Schicksalswende – Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie‘ eröffnete. Zusammen mit den ‚Studien über Kritik von rechts oder von links‘ und ‚Gehört Nietzsche dem Faschismus?‘ bildete er die Keimzelle von Lukács’ Nietzsche-Kritik, die im Keim eine Auseinandersetzung mit der rechten Nietzsche-Auffassung des Antifaschismus und ihrem Hauptvertreter Ernst Bloch war ...

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Musik als Fürsprecherin – so ist der vorletzte Aphorismus im 2. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ überschrieben. Er präludiert Gedanken einer Lehre, die Nietzsche merkwürdigerweise nicht näher erläutert, obwohl er sie einem „Neuerer“ zuschreibt.1 Wer er ist, wird beschwiegen. Merkwürdig genug ist auch jene angerufene Mittlerfunktion der Musik, die doch sonst nach Nietzsche nicht für anderes, Gedanken und ihre Mitteilung durch Worte, sondern für sich spricht: die Sprache des Lebens unmittelbar ausspricht.2 Und um des merkwürdigen Titels willen sei noch angemerkt, dass der darauf folgende Aphorismus (Nr. 107) nicht die Musik im Besonderen, sondern allgemein unsere Dankbarkeit gegen die Kunst behandelt: „Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine.“3 Es ist das Nietzsche-Thema der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘ (1871), figuriert durch den Moralisten Nietzsche, musiktheoretisch gesprochen: ein Vorwurf zu kompositorischen Abwandlungen des nach Schopenhauer- und Wagnermotiven ausgearbeiteten tragischen Gedankens, den der zu philosophischer Selbständigkeit Gereifte nach seiner Abkehr von den Musageten seiner Jugend Satz für Satz zu entfalten unternimmt. Der Grundsatz, wonach wir es „unserm Auge nicht immer verwehren, die Dinge auszurunden, zu Ende zu dichten“, scheint an der Prämisse der jugendlichen Artistenmetaphysik festzuhalten. Und mit der Folgerung, wir meinten dann gar in kindlichem Stolze, nicht mehr die ewige Unvollkommenheit über den Fluss des Werdens zu schaffen, sondern eine Göttin zu tragen, scheint es bei der alten Antwort auf die Frage nach einer Rechtfertigung der Welt zu bleiben. Wiederholt doch der letzte Aphorismus des 2. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ in abgeschwächter Form 1 Die fröhliche Wissenschaft (1882), II, Aph. 106, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/ Berlin/New York 1980 (= KSA), Bd. 3, S. 463. 2 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872), 16, KSA 1, S. 107. 3 Die fröhliche Wissenschaft (1882), II, Aph. 107, ebd., S. 464.

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Nietzsches alte Behauptung, dass uns das Dasein als ästhetisches Phänomen immer noch erträglich sei, ja, dass uns die Kunst ermöglicht und vor allem das gute Gewissen dazu gibt, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können.4 Wer genauer hinhört, wird die leise abgewandelten Töne gewahren, jene durch leichtes Verschieben von Leitmotiven herbeigeführte Veränderung des Themas, mit stetem Durchklingen der ursprünglich angestimmten Melodie. Musikalische Motive – Nietzsche hat darüber immer wieder nachgedacht – sind „Sätze“, die in einem Tonstück vorherrschen und darin regelmäßig wiederkehren. Durch lange Kunstübung ausgebildet, belegen und unterstützen sie die angestimmte Melodie und prägen sie in der Wiederholung ein. Und so klingen sie wie von selbst an, Stück für Stück, als Vorspiele zur Grundmelodie eines Stückes, in dem sie sich verströmen und ausklingen. Vielleicht, so bemerkt Nietzsche gelegentlich, sind Motive „Musik, die man nicht macht, sondern nimmt: Volks-Musik“; und das Leitmotiv, fügt er unter Anspielung auf die ZarathustraDichtung hinzu, „scheint mir auf musikalischem Gebiet das zu sein, was man ‚Sprichwort‘ nennt“.5 Musik als Fürsprecherin – in welchem Sinne, so möchte ich fragen, belegt und unterstützt sie das „Spiel der Gedanken“?6 Woran lässt sich erkennen, dass Nietzsche mit der hier ausgesprochenen Anerkennung der Kunst, zu runden und zu Ende zu dichten, darangeht, den Grundgedanken seiner Philosophie zu Ende zu denken? Das 2. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ sollte ursprünglich die Coda zur ‚Morgenröte‘ (1881) bilden, den passenden Schlusssatz zu jenem verheißungsvollen Tonstück, womit Nietzsches Denken nach der Verabschiedung von den Musageten seiner Jugend, Schopenhauer und Wagner, zugunsten eines historisch und kritisch aufgeklärten Philosophierens sprachlich neu anhebt und schließlich zu sich selbst findet. Hat doch Nietzsche eine Erhebung zur Sprache dieses Stückes gelegentlich selbst mit einer heiteren, lebensfunkelnden Symphonie verglichen, die es jenen älteren Musikern gleichtut, welche ihren ernsten, schwermütigen Satzauftakt wie mit einer Morgendämmerung beginnen: dem Vorspiel, das „uns ein wenig irre leiten soll“.7 Denn die Sprache der Morgenröte, das ist der das Dunkel brechende Farbton von Eos und Aurora, jenen Morgengöttinen der Griechen und Römer, die „den Musen Freund“ sind (aurora Musis amica). So bietet sich das Musikgleichnis wie von selbst an. Und je mehr Nietzsche daran fortkomponiert, läuft die Coda wie von selbst in ein Rondo zurück: zu 4 Ebd. 5 Brief an H. Köselitz vom 24. März 1883, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe in 8 Bdn., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/ New York 1986 (= KSB), Bd. 6, S. 349f. 6 Vgl. Nachgelassene Fragmente (= NF), Ende 1976–Sommer 1977, 25 [2], KSA 8, S. 485. 7 Brief an Ferdinand Laban, 19. Juli 1881, KSB 6, S. 106f.



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jenem Bogenstück der „Philosophie des Vormittags“ in zwei Teilen, worin das Hauptthema mehrmals wiederkehrt und am Ende als Vorspiel zur ewigen Wiederkunft anklingt. So konnte Nietzsche mit Recht bemerken, wie reich das Buch an „unausgesprochenen Gedanken“ sei, dass es „hier und dort und an allen Enden verborgene Thüren“ habe, die „weiter und oft sehr weit führen“.8 Wenden wir uns nach dieser musikalischen Zwischenbetrachtung zum Auftakt der ‚Morgenröte‘ dem vorletzten Aphorismus des 2. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ zu. Er wird in Dialogform vorgetragen und lautet: „‚Ich habe Durst nach einem Meister der Tonkunst‘, sagte ein Neuerer zu seinem Jünger, ‚daß er mir meine Gedanken ablerne und sie fürderhin in seiner Sprache rede: so werde ich den Menschen besser zu Ohr und Herzen dringen. Mit Tönen kann man die Menschen zu jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen: wer vermöchte einen Ton zu widerlegen?‘ – ‚Also möchtest du für unwiderlegbar gelten?‘, sagte sein Jünger. Der Neuerer erwiderte: ‚Ich möchte, dass der Keim zum Baume werde. Damit eine Lehre zum Baume werde, muss sie eine gute Zeit geglaubt werden: damit sie geglaubt werde, muss sie für unwiderlegbar gelten. Dem Baume thun Stürme, Zweifel, Gewürm, Bosheit noth, damit er die Art und Kraft seines Keimes offenbar mache; mag er brechen, wenn er nicht stark genug ist! Aber ein Keim wird immer nur vernichtet – nicht widerlegt!‘ – Als er das gesagt hatte, rief sein Jünger mit Ungestüm: ‚Aber ich glaube an deine Sache und halte sie für so stark, dass ich Alles, Alles sagen werde, was ich noch gegen sie auf dem Herzen habe!‘ – Der Neuerer lachte bei sich und drohte ihm mit dem Finger. ‚Diese Art Jüngerschaft‘, sagte er dann, ‚ist die beste, aber sie ist gefährlich und nicht jede Art Lehre verträgt sie.‘“9 Um welche Lehre es sich handelt, das verdeutlicht der Verfasser am vorletzten Aphorismus des 4. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, womit dieses Werk in der Erstausgabe von 1882 schließt. Er trägt den Titel: ‚Das größte Schwergewicht‘ und ist den Nietzsche-Kennern als Ankündigung der Wiederkunftslehre so vertraut, dass ich ihn gar nicht zu zitieren brauchte. Ich tue es dennoch, um seinen bisher kaum beachteten Bezug zum Aphorismus 106 über die ‚Musik als Fürsprecherin‘ herauszuarbeiten und dadurch an die Vorgestalten der Lehre und ihre Gestalt selbst heranzuführen: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsägliche Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in derselben Reihe und 8 Brief an Heinrich Köselitz, 25. Januar 1882, KSB 6, S. 160. 9 Die fröhliche Wissenschaft, II, Aph. 106, KSA 3, S. 463f.

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Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ‚du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘. Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem ‚willst du diess noch einmal und unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –“10 Das ist, sieht man von einigen Fragmenten aus dem Nachlass ab, eine der ausführlichsten Umschreibungen des Wiederkunftsgedankens, die Nietzsche gegeben hat.11 Und darauf folgt dann der letzte Aphorismus der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ mit dem beziehungsreichen Titel: Incipit tragoedia, der den Namen des Neuerers mitteilt: „Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimath und den See Urmi und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, – und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: ‚Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange; aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Ueberfluss ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind. Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn! – ich muss, gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will.‘“12 Es ist die Ankündigung einer Darstellung des Wiederkunftsgedankens, die im Auftakt des Zarathustra-Dramas wiederkehrt („Also begann Zarathustras Untergang“).

10 Die fröhliche Wissenschaft, IV, Aph. 341, KSA 3, S. 570. 11 Das bemerkt M. Montinari, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin 1991, S. 82. 12 Die fröhliche Wissenschaft, IV, Aph. 342, KSA 3, S. 571.



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Davon hat Nietzsche im 4. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ zunächst mit höchster Zurückhaltung gesprochen. Man beachte den verhaltenen Ausdruck in der ursprünglich konzipierten Anrede an den Leser, der als „Geliebter Fremdling“ eingeladen wird, sich von einem Gedanken erzählen zu lassen, „der vor mir aufgegangen ist, gleich einem Gestirne und der zu dir und zu Jedermann hinunterleuchten möchte, wie es die Art des Lichtes ist“.13 Für diesen Gedanken, heißt es in parallelen Ankündigungen, „wollen wir nicht 30 Jahre Gloria mit Trommeln und Pfeifen und 30 Jahre Todtengräberarbeit und dann eine Ewigkeit der Todtenstille, wie bei so vielen berühmten Gedanken. Schlicht und fast trocken, der Gedanke muß nicht die Beredtsamkeit nöthig haben.“14 In ähnlicher Tonart abgefasst sind die Briefe aus jener Zeit. Man achte auf die leisen Nebentöne in Nietzsches erster Mitteilung an die engsten Freunde, am Horizont seien „Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehen habe – davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschütterlichen Ruhe erhalten“15. Mit der Gedankenbewegung heraufgekommen war auch die Zarathustra-Gestalt, der Name des Neuerers jener Lehre, den Nietzsche für sich behielt. Wie er auch sonst darüber nicht weiter nachgedacht zu haben scheint; denn erst sehr viel später (nach der Drucklegung des Buches) notiert Nietzsche, „Zarathustra“ sei die „ächte unverderbte Form des Namens Zoroaster, also ein persisches Wort“.16 Und so teilt der Philologe nachträglich die Etymologie mit: „Heute lernte ich zufällig, was ‚Zarathustra‘ bedeutet: nämlich ,Gold-Stern‘. Dieser Zufall machte mich glücklich. Man könnte meinen, die ganze Konzeption meines Büchleins habe in dieser Etymologie ihre Wurzel: aber ich wußte bis heute nichts davon.“ Einige Notizen zu diesen Gedankengesichten hatte Nietzsche in den Text des Buches eingearbeitet, den Zarathustra-Namen überall getilgt und andere Namen beiseite gelassen.17 Und nur die musikalisch instrumentierten, sorgfältig abgestimmten Schlussstücke des 2. und 4. Buches geben dem Leser zu verstehen, dass der Denkweg noch einmal zu seinem Anfang zurück- und damit ganz bei sich einkehren würde: in Gestalt einer tragischen Philosophie, die mit der Lehre von der ewigen Wiederkunft ihre Vorspiele aus dem Umkreis der ‚Geburt der Tragödie‘ einholt und sich darin auszurunden sucht – mit Hilfe der Kunst. So wie es der Aphorismus 107 in der Beschreibung eines neuen Standpunkts der Betrach13 NF Herbst 1881, 12 [215], KSA 9, S. 614. 14 12 [216], ebd. 15 Brief an H. Köselitz vom 14. August 1881, KSB 6, S. 112. 16 Brief an H. Köselitz vom 20. Mai 1883, ebd., S. 378. 17 Vgl. M. Montinari, Zarathustra vor ‚Also sprach Zarathustra‘, in: Nietzsche lesen. Berlin/ New York 1982, S. 85f.

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tung andeutet, den die Zarathustra-Dichtung einnehmen und mit ihrer hohen Sprachkunst erproben wird: „Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntnis steckt, wir müssen unsrer Torheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die Schelmenkappe: wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert.“18 Kein Zweifel: Die Abschlussaphorismen jener beiden Bücher der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ sind kompositorisch auf das Genaueste aufeinander abgestimmt. Und wenn wir bedenken, dass Nietzsche selbst den „ganzen Zarathustra“ unter die Musik rechnet und die „Vorausbedingung“ zu seinem Verstehen in einer „Wiedergeburt in der Kunst zu hören“ sieht,19 dann wird uns vielleicht auch der sonst kaum enträtselbare Zusammenhang zwischen der Musik als Fürsprecherin und jener rätselhaften Lehrform des philosophischen Neuerers verständlich, die der Aphorismus 106 mit ebenso verschwiegenen wie beredten Worten vor uns hinstellt. Ja, selbst die Notwendigkeit des Absprungs von den Musageten seiner Jugend, den die Lehre von der ewigen Wiederkunft im Zeichen der großen Bejahung des Daseins besiegelt, hat Nietzsche in das Musikgleichnis eingeschrieben. „Ich habe hoch über Wagner die Tragödie mit Musik gesehen –“, heißt es zur Zeit der Grundkonzeption des Gedankens, „und hoch über Schopenhauer die Musik in der Tragödie des Daseins gehört.“20 Die Musik spricht nach Nietzsche für den Grund der Lehre und ihre Wirkung auf das Menschenleben. Wir nennen sie Nietzsches Grundlehre21, die vom Grund der Wiederkunft auf seine Hintergründe in Vergangenheit und Zukunft blickt. Und im Ausblick vom Gipfel des Ganzen der Zeit öffnet sich ihr Abgrund: dass sich die Wiederkunftslehre nicht begründen lässt. Für Nietzsche beruht sie auf einer Grunderfahrung der Zeitlichkeit, die jedermann zugänglich ist, der sich niemand entziehen kann und die sich dem Men18 Die fröhliche Wissenschaft, 2. Buch, Aph. 107, KSA 3, S. 464f. 19 Also sprach Zarathustra, KSA 6, S. 335. 20 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [257], KSA 9, S. 538. 21 Vgl. K. Löwith, Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen, Phil. Diss. München 1923, S. 97 (der Wiederkunftsgedanke als die „konsequente Explikation von Nietzsches Grundproblematik“); M. Heidegger, Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken (1937), in: Gesamtausgabe, Bd. 44, Frankfurt/M. 1986, S. 2.



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schentum in seiner Geschichte immer wieder erschlossen und bezeugt hat. (Davon wird im Folgenden zu sprechen sein.) Dennoch stellt Nietzsche die ewige Wiederkunft nicht als Faktum vor, bei dem unsere Erfahrung zuletzt auf sicheren Grund kommt, auf ein Tatsächliches ohne jeden Hinter- und Abgrund. Darauf beruht die Lehre vom Willen zur Macht,22 die schon deshalb nicht, wie nur allzu lange unterstellt worden ist, Nietzsches Grundlehre sein kann. Die ewige Wiederkunft ist kein Faktum. Sie ist auch kein Prinzip im Sinne einer wissenschaftlichen Grundwahrheit (etwa vom Status des physikalischen Satzes über die Erhaltung der Energie im Weltall). Vielmehr ist sie eine Mutmaßung, die vielleicht nicht wahr ist, aber denkbar und mit unserem vorwissenschaftlichen, gewöhnlichen, alltäglichen Lebensverständnis verträglich erscheint. Deshalb spricht Nietzsche immer wieder vom Gedanken der Wiederkunft, das heißt: von ihrer Denkmöglichkeit. Und ausdrücklich notiert er während der Ausarbeitung des Gedankens im 3. Teil der Zarathustra-Dichtung: „An Stelle der Grundwahrheiten stelle ich Grundwahrscheinlichkeiten – vorläufig angenommene Richtschnuren, nach denen gelebt und gedacht wird, diese Richtschnuren nicht willkürlich, sondern entsprechend einem Durchschnitt einer Gewöhnung. Die Gewöhnung ist die Folge einer Auswahl, welche meine verschiedenen Affekte getroffen haben, welche sich alle dabei wohlbefinden und erhalten wollten.“23 Als Grundwahrscheinlichkeit hält der Gedanke nicht nur alternative Möglichkeiten zu denken, sondern auch einander komplementäre Lebensmöglichkeiten bereit. Der Wiederkunftsgedanke spricht gleichsam für eine andere Auffassung der Zeit, als wir sie gewohnt sind. Wenn wir zugunsten des Richtungssinns vom Vergangenen her über die Gegenwart und ihre Erstreckung in die unendliche Zukunft sprechen, folgen wir bestimmten Gewohnheiten, die eine Folge bevorzugter Affektlagen und ihrer Befriedigung sind. Wir sind dann Fürsprecher des Fortschritts, der Linie, des Ziels als erfüllter Zeit: Ausleger von Anschauungs- und Denkmöglichkeiten, die geschichtlich gewirkt haben und fortwirken, ohne die Vielfalt alltäglicher Zeiterfahrungen vollständig erschöpfen zu können. Wer gelebte Zeitgewohnheiten und Zeiterfahrungen auslegt, „interpretiert“ seine Gewohnheiten und Erfahrungen. Er ist, wörtlich genommen, ein „Zwischensprecher“ (Inter-pres), der sie von einer in die andre Sprache einlegt und darin hervorbringt. Und in diesem Zusammenhang fordert Nietzsche dazu auf, gewöhnliche und darum vielleicht verdeckte Seiten unserer Erfahrung zur Geltung zu bringen: zu prüfen, „wie der Gedanke, daß sich etwas wiederholt, bis jetzt gewirkt hat (das Jahr z. B. oder periodische Krankheiten, Wachen und Schlafen 22 Jenseits von Gut und Böse, 9. Hauptstück, Aph. 259, KSA 5, S. 207f. 23 NF Winter 1883–84, 24 [2], KSA 10, S. 644.

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usw.). Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammniß gewirkt!“24 Ähnliche Rückwirkungen auf das Leben erwartet sich Nietzsche vom Gedanken der ewigen Wiederkunft. Er entspricht unserem Vermögen, die Zeit nicht nur linear, sondern auch zyklisch zu denken: eine Lebensmöglichkeit des Menschentums der europäischen Frühzeit und außereuropäischer Kulturkreise, die einmal geschichtliche Wirklichkeit, Gewohnheit, ja Brauch war. Für Nietzsche bemisst sich der Gedanke einzig daran, dass er einmal vom Menschen geschaffen werden konnte, also schöpferisch wiederholt werden kann. Denn wo man nicht zu ergründen wusste, heißt es in der ‚Morgenröte‘ zu diesem Thema (Das Grübeln über Bräuche), da lernte man schaffen.25 Die Konzeption von Nietzsches Grundlehre hält sich der Einsicht offen, dass der Gedanke, statt von einem Grund umfangen zu werden, auf Abgründiges stößt: „[...] die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß, daß er nur das Symptom eines viel umfänglicheren Zustands ist; daß gerade er kommt und kein anderer, daß er gerade mit dieser größeren oder minderen Helligkeit kommt, mitunter sicher und befehlerisch, mitunter schwach und einer Stütze bedürftig, im Ganzen immer aufregend, fragend – für das Bewußtsein wirkt nämlich jeder Gedanke wie ein Stimulans – : in dem allen drückt sich irgend etwas von unserem Gesamtzustand in Zeichen aus.“26 Was stimuliert, „reizt“ weder nur, noch versetzt es in einen passiven, vorübergehenden Gefühlsrausch. Es bewegt den ganzen Menschen, macht ihn neugierig und lüstern nach Erkenntnis, regt dazu an, sich des Stachels im Fleisch als eines verlockenden Lebensantriebs bewusst zu werden. Dass ein Gedanke wie derjenige der Wiederkunft zu Bewusstsein kommt, ist selbst, wie sich zeigen wird, Stimulans vorgedanklicher Zustände, die Bestandteile der Grunderfahrung sind. Er ist Ausdruck von einem „Spiel und Kampf der Affekte: sie hängen immer mit ihren verborgenen Wurzeln zusammen“27. Im „Lichte“ dieser Erfahrungsgehalte entzieht sich dem Denken sein Grund, den die europäische Philosophie im Horizont des linearen Zeitverständnisses in Spätantike und Christentum einmal selbst als göttliche Lichtquelle der menschlichen Vernunft gefasst und zuletzt mit dem Anspruch der neuzeitlichen Wissenschaft gleichgesetzt hatte, überall und in allem nach Gründen zu forschen und die wissenschaftliche Gründeforschung zur Beherrschung der Natur und 24 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [203], KSA 9, S. 523f. 25 Morgenröte, 1. Buch, Aph. 40, KSA 3, S. 47. 26 NF Juni–Juli 1885, 38 [1], KSA 11, S. 596. 27 NF Herbst 1885–Frühjahr 1886, 1 [75], KSA 12, S. 29.



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zukünftigen Geschichte des Menschentums zu nutzen. Diesem zuletzt in Hegel und Marx verkörperten Gestus philosophischen Begründungsdenkens stellt sich der Wiederkunftsgedanke entgegen, den Nietzsche nicht zufällig seinen „abgründlichsten Gedanken“ nennt. Und von ihm gilt, was Nietzsche auch sonst von den zur Grundlehre gehörigen Gedankengängen gesagt hat: „Meine Gedanken sollen mir anzeigen, wo ich stehe, aber sie sollen nicht mir verrathen, wohin ich gehe – ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegnehmen verheißener Dinge zu Grunde gehen. Ich falle, bis ich auf den Grund komme – und will nicht mehr sagen: ‚ich forsche nach dem Grunde!‘“28 Nietzsche hat dieses Bekenntnis zwischen dem Stadium der Konzeption seiner Lehre und ihrer Ausführung wiederholt. Auf die Frage, ob er denn ein Forscher sei, hat Nietzsche geantwortet: „Ich bin nur schwer: ich falle, falle, immerfort – bis ich auf den Grund komme.“29 Das ist der Sinn der Grundlehre: sich in seiner ganzen Schwere auf gezeitigte Erfahrungen einlassen und durch seine Beschwerung mit immer neuen Erfahrungsfällen Grund zu finden: fallweise, nach dem Verfahren subjektiv reflektierender Urteilskraft. Sie gründet sich nicht auf Grundwahrheiten (Prinzipien, Regeln, Gesetze), sondern sucht Grund in Mutmaßungen und Meinungen zu fassen, die als „wahr“ angenommen und dann in weiteren Gedankenversuchen überprüft werden. Das ist, im groben Umriss, Nietzsches Denkverfahren in der prosaischen Darstellungsform seiner Aphorismen-Bücher, die in immer neuen Einfällen der verhandelten Sache auf den Grund gehen und doch auf Zustimmung durch Gründe verzichten.30 Und noch die Einformung des aphoristischen Stils in die poetisch gehobene Form der Darstellung des Wiederkunftsgedankens in der Zarathustra-Dichtung begnügt sich mit Mutmaßungen und Meinungen. „Du fragst warum?“, so wendet sich der Autor gelegentlich an seinen Leser, um danach fortzufahren: „Das ist lange her, dass ich die Gründe meiner Meinungen erlebte.“31 Der Gedanke der ewigen Wiederkunft begegnet als philosophische Grundlehre in der Form von Geschichten und Rätseln. Der Seher sieht im Spiegel von Bildern und Gleichnissen, die er ausdeutet. Denn sein Gesicht, so wird sich uns zeigen, ist kein theoretisch begründbarer, sondern ein „abgründlicher Gedanke“, der sich durch seine Wirkung auf das Menschenleben „beweist“ und darüber hinaus die für das traditionelle Begründungsdenken „absonderliche Tendenz“ 28 NF Herbst 1881, 12 [178], KSA 9, S. 606. 29 NF Winter 1882, 16 [5], KSA 9, S. 659. 30 Vgl. dazu B. Greiner, Friedrich Nietzsche: Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen, München 1972. 31 Also sprach Zarathustra, II: Von den Dichtern, KSA 4, S. 163.

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hat, die Menschen neu in ihren Affekten zu bestimmen. Seinem Schauen folgen Wissen und Liebe zur Weisheit, die den Seher zum Deuter der Hinter- und Abgründe des Gesichteten machen. So steht und fällt das Verständnis der Grundlehre mit der Einsicht, dass nicht ein logisch begründeter Gedanke der ewigen Wiederkunft die Weisheit auf den Grund kommen lässt, sondern der gefühlsmäßig bejahte Gedanke. Ja, die Lehre selbst enthält die „Formel der höchsten Bejahung“32, die abgekürzte Denkform für eine Entscheidung zwischen dem äußersten Ja oder Nein zum Leben. Das äußerste Nein, dies wäre der radikalste Nihilismus, der die Philosophie als Liebe zur Weisheit mit in den Sog des Nichts reißen würde. Weisheit ist nicht zu erreichen ohne Liebe zu ihrem Gedachten. Im Bejahen des Gedankens der ewigen Wiederkehr kommt die Weisheit auf ihren Grund. Warum? Weil dieser bejahte Gedanke der menschlichen Grunderfahrung entspricht, wonach alles wird. Was nicht auf die Bejahung moderner Ansichten vom „unendlich neue[n] Werden“ hinausläuft,33 die wir seit Lamarck und Darwin als Evolutionstheorien der Natur kennen. Diese naturwissenschaftlichen Theorien gehen an der allmenschlichen Erfahrung vorbei, die besagt: Es geschieht ewig, sodass nichts bleibt, weshalb es auch keine schließlichen Zwecke geben könne, worauf alles mittels fortwährender Vervollkommnung zusteure.34 Weil die modernen Evolutionstheorien solche Naturzwecke (das Überleben des Besten, des Stärkeren, des am meisten Angepassten) voraussetzen, sind sie als Vorläufer der Grundlehre ebenso abzuweisen wie ihre vermeintlich natürlichen Vorlagen in der Anschauung kosmischer Kreisläufe, des periodischen Wechsels der Jahreszeiten oder der Lebensrhythmik von Wachen und Schlafen. Was der Gedanke zu denken sucht, ist die Grunderfahrung des ewigen Werdens, traditionell gesprochen: des absoluten Flusses der Dinge als letzte Wahrheit.35 Sie geht uns am erfahrenen Fortriss der Zeit auf, plötzlich und immer wieder, ohne dass wir sie der uns zugänglichen Anschauung oder unseren Denkformen einverleiben können. Einzig im Wiederkunftsgedanken, so sieht es Nietzsche, kommt die Weisheit zur höchsten Einsicht, dass das ewige Werden sich selbst Grund ist: Abgrund des Denkens und der Anschauung. Seine Bejahung im Gedanken der Wiederkunft des Seienden im Ganzen wie im Einzelnen, das wäre die Einverleibung der letz32 Ecce homo: Die Geburt der Tragödie, 2, KSA 6, S. 311. 33 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [213; 292], KSA 9, S. 525 und 553f. 34 Vgl. Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge (1871/72, 1873/74), Werke Bd. XIX: Unveröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie, hrsg. v. O. Crusius und W. Nestle, Leipzig 1913 (= Philologica III), S. 265; NF November 1882–Februar 1883, 5 [1], 270, KSA 10, S. 219. 35 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [162], KSA 9, S. 503f.



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ten Wahrheit vom Fluss der Dinge durch das abgründliche Zusammendenken der gehenden mit der kommenden zur Einheit der bleibenden Zeit. Bevor wir auf den Ursprung dieser Konzeption eines ewigen Werdens zu sprechen kommen, gehen wir zunächst auf die dargestellte Denkform zurück und führen den begonnenen Vergleich ein Stück weit fort. Wir versuchen das in zwei Gängen, um die Zwiegestalt des Wiederkunftsgedankens im Zusammenhang seiner Entstehung auf Nietzsches Weg zur Zarathustra-Dichtung zu verdeutlichen; eine Gestalt, die oft als widersprüchlich verstanden, aber damit gründlich missverstanden worden ist, weil man den formalen Komponenten des Gedankens zu wenig Beachtung geschenkt hat. Und von hier aus wenden wir uns dann über das wiederkehrende Leitmotiv des ursprünglichen Nietzsche-Themas in der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘ (1872) den frühesten Anklängen der Lehre zu, die Nietzsche dem Hören auf das Zeugnis der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen entnimmt.



„Alles Vergangene ist eine Schrift mit hundert Sinnen und Deutungen und wahrlich! ein Weg zu v i e l e n Zukünften! wer aber der Zukunft Einen Sinn giebt, der bestimmt auch die Eine Deutung des Vergangenen.“



(NF Winter 1883, 22 [3], KSA 10, S. 624)

Erster Teil: Konzeptionen I. Aus der Erfahrung des Denkers Der Kampf mit Gedanken-Personen Nietzsches Vergleich der Gedankensprache und ihrer dichterischen Mitteilungsform mit der musikalischen Tonsprache ist von Anbeginn für sein Denken charakteristisch. Was die ‚Geburt der Tragödie‘ über das Leiden als metaphysischen Wesenszug der Welt mitzuteilen hat, teilt sie in Musikgleichnissen mit. Das fängt mit dem Gleichnis der musikalischen Dissonanz für den logisch unvermittelbaren Widerspruch an, der sich unserer Erfahrung des Entsetzlichen am Grunde der Welt als wiederkehrende Unlust eingräbt und sich in unserem Hang zur Weltverneinung ausspricht. Und der Anfang endet immer wieder im „Gleichnis der Gleichnisse“ von Nietzsches Erstlingsschrift, der Gleichnisrede vom „Geist der Musik“, der Unlust-Dissonanzen im zusammenklingenden Spiel der Töne in Lust umwendet und so einen Begriff davon gibt, was unter der philosophisch aufgegebenen Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens zu verstehen sei.1 Ja, die Musik präludiert der Erinnerung an den Wiederkunftsgedanken in seiner ursprünglich griechischen Form: als der „einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen“2. Denn die Kultur, so hatte Nietzsche in der frühen Abhandlung ‚Über das Pathos der Wahrheit‘ (1872) apodiktisch festgeschrieben, steht und fällt mit dem Gedanken der Wiederkehr menschlicher Größe und Daseinslust: dass, was einmal da war, um den Begriff „Mensch“ gegen alles Verneinende im Denkkampf zu heben und schöner fortzupflanzen, ewig vorhanden sein muss, dass die großen Momente der Geschichte eine Kette bilden und als Höhenzug die Menschheit durch Jahrtausende verbinden.3 Es sind Vorspiele zur Grundlehre, die in mancherlei Anspielungen Nietzsches Denkweg begleiten, seit er mit der Abkehr von Wagner und Schopenhauer seine 1 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 24, KSA 1, S. 152f. 2 Ebd., 19, S. 128. 3 Über das Pathos der Wahrheit, KSA 1, S. 756.

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Gedanken an aphoristische Formen zu knüpfen unternimmt. Kein Gedanke in Nietzsches Aphorismen-Büchern, das sei vorweg vermerkt, steht für sich, sondern auf dem Grunde von Gefühl und Empfindung. Gedanken sind ihre „Schatten“, denn sie erscheinen immer „dunkler, leerer, einfacher als diese“.4 Sie verweisen von sich her stets auf Nebengedanken mit verwandten Empfindungen und anklingenden Gefühlen. Und obwohl die Gedanken logisch so verknüpft sind, dass sie Reihen bilden, lässt sich keine der Gedankenreihen im dialektischen Sinne dieses Wortes „begreifen“. Sie werden begrifflich vorausgeworfen und mit dem Sensorium für Gedankenverwandtschaft und Gedankenherkunft konzipiert, das heißt: empfangen und zusammengefasst. Und im Zusammenfassen kommt es zu einer Gedankenmischung und Gedankenverbindung, werden von alters her zugeworfene, längst vergessene Gedanken wieder aufgefangen, in ihrer Grundbedeutung aufgefasst oder neu gefasst und erneut entworfen: in Grund-Konzeptionen zu einer Gedanken-Reihe, deren „Begreifen“ geistige Erfassungskraft ebenso voraussetzt wie entbindet.5 Konzeptionen (von lat. concipere, empfangen, trächtig werden, verfassen), das sind nicht nur logisch durchdachte Entwürfe zu philosophischen Lehren und deren „Abfassung“ in Schriften, sondern Gedankenwürfe, die mit dem Logos für das Pathos eines Gedankens und zugleich für sein Ethos empfänglich machen, den Ort und „Sitz im Leben“. Nietzsche kennt nur Gedanken, mit denen gerungen werden muss.6 Und er hat keinen gedacht, ohne ihn zuvor erlebt, und das heißt: erlitten zu haben. Nietzsche spricht von Gedanken-Erlebnissen und wendet dieses Wort sowohl auf die Grund-Konzeption der ‚Geburt der Tragödie‘ als auch auf die ZarathustraDichtung an; mit sachlichem Recht, wie wir sehen werden, weil sich beide Konzepte an ein und demselben Punkt, dem zuständlichen Erlebnis schmerzlicher Zerrissenheit der Zeit, berühren, um dann diesen uns nächsten Lebenszustand „jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen“7. Es ist die Umsetzung des Erlebten in den Gedanken; was Nietzsche die Kunst der Transfiguration nennt, jene Vergeistigung schmerzhaft erlittener Erfahrungen, die eben Philosophie selbst ist, ein Verlangen nach Weisheit, das uns das Dasein im Horizontlicht des Wissens vom Nächsten und Fernsten zu bejahen und zu leben lehrt. Wir sind, so sagt Nietzsche gegen zeitgenössische Verkehrungen philosophischer Weisheitslehre zu objektivierenden Wissenschafts- und Erkenntnistheorien, „keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, – wir 4 Vorrede zur 2. Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft, 3, KSA 3, S. 349f. und 502. 5 Vgl. dazu D. Henrich, Konzepte, Frankfurt a. M. 1967, sowie meine Besprechung in: Neue Deutsche Hefte 35 (1988), S. 3ff. 6 Das notiert mit Recht M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 132. 7 Vorrede zur 2. Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft, KSA 3, S. 349.



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müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben. Leben – das heißt für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders.“8 Die Geburt des Gedankens aus dem Geist, der ins Leben schneidet, das ist Philosophie. Sie kann nur dann wieder sein, was sie einmal war, wenn sich der Geist verleiblicht, der Gedanke leibhaft personifiziert: „Man hat nämlich, vorausgesetzt, dass man eine Person ist, nothwendig auch die Philosophie seiner Person.“9 Am Maßstab der Verleiblichung des Gedankens und seiner Personifikation durch einen Urheber hat Nietzsche seit seiner Erschließung des Anfangs abendländischer Denkerfahrung im tragischen Zeitalter der Griechen den Wahrheitsgehalt philosophischer Gedankenbewegung gemessen. Um das Lebendige einer Philosophie vom Toten, Widerlegten, Abgelegten zu unterscheiden, bedarf es der Reduktion ihres Systems auf „Personal-Akten“ des Philosophen,10 die es authentisch bezeugen. Was eingesehen werden muss, sind nicht die Akten zur Person, sondern zu der verhandelten Sache des Denkens, dem Gedanken, den sie in seinem Ursprung und Sinn „beurkunden“. Authentisch denken, das heißt nicht nur, Gedanken selbst bewegen, sondern von ihnen bewegt sein, sie in Leben zurückverwandeln und sich in seiner Bedingtheit durch einmal gelebte Weltgedanken der Philosophie erfahren. Diese Dinge, notiert Nietzsche gegen seine philosophiehistorisch gelehrten Zeitgenossen, „kennt ihr als Gedanken, aber eure Gedanken sind nicht eure Erlebnisse, sondern das Nachklingen von denen Anderer: wie wenn euer Zimmer zittert, wenn ein Wagen vorüberfährt. Ich aber sitze im Wagen, und oft bin ich der Wagen selber.“11 Als Auseinandersetzung mit Gedanken-Erlebnissen, die sein Leben selbst bedingen, so hat Nietzsche das Gespräch mit der philosophischen Überlieferung verstanden. Wir verdeutlichen uns das zunächst an der Grundstimmung, dem eigentümlichen Pathos seines Denkens. „Alle stärkeren Stimmungen“, heißt es in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, „bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich: sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hintereinander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden 8 Ebd. 9 Ebd., S. 347. 10 Vgl. den Brief an Lou von Salomé vom 16. September 1882, KSB 6, S. 259. 11 NF Herbst 1880, 6 [448], KSA 9, S. 314.

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werden.“12 Nietzsche denkt noch nicht an den Wiederkunftsgedanken. Was er im Sinn hat, sind Erfahrungsinstanzen wie das moralische Gefühl in ethischen Grundlehren oder Berufungen auf ein religiöses Gefühl in der Theologie. Beschränken wir uns auf das moralische Gefühl, das die empiristische Ethik von Shaftesbury bis hin zu Hutcheson und Hume einheitlich verstand und dabei dem Begriff des „moral sense“ ganz verschiedenartige Phänomene wie den künstlerischen Geschmack (taste) und Sinn für Maßverhältnisse, den Takt, die Zuneigung zum Nächsten (sympathy) und Wohlwollen gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht zuordnete, während es Kants kritische Moralphilosophie auf eine Verbindung gemischter Empfindungen mit dem vernünftigen Verpflichtungsgrund des Sittengesetzes zurückgeführt hatte: so zu handeln, dass die jeweilige Willensmaxime als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.13 Grundlage des moralischen Gefühls ist nach Kant einzig das Phänomen der Achtung vor dem Gesetz: eine intellektuell bewirkte Empfindung, die Tendenzen sittlich ausgezeichneter Instanzen wie der Liebesneigung und des Wohlwollens zu eingebildeter Selbstliebe und Arroganz hemmt und dadurch seinem Pflichtgedanken als Handlungstriebfeder in der Sinnenwelt des Menschen Platz schafft. Nach Kants Analyse des moralischen Achtungsgefühls ist Nietzsche gegenüber dem ethischen Empirismus völlig im Recht, wenn er daran festhält, dass unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns Gedanken „das Dauerhafteste und Haltbarste“ sind.14 Und gegen den ethischen Rationalismus kann Nietzsche mit sachlich guten Gründen die Komplexität des moralischen Gefühls geltend machen und behaupten, es sei ein Strom mit hundert Zuflüssen und Quellen. Daran schließt sich seine Warnung vor jenen Philosophen an, die gemeint hätten, man komme mit tiefen Gefühlen tief ins Innere der Natur. In Wahrheit erscheinen Gefühle uns nur insofern als tief, als mit ihnen kaum merkliche, komplizierte Gedankengruppen „regelmäßig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der tiefe Gedanke“, folgert Nietzsche, und diese Folgerung verdeutlicht die Ambivalenz des hier analysierten Problems, „kann dennoch der Wahrheit sehr ferne sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische [...]“.15 Die Gedanken der Metaphysik über das Eine und Viele, den Zweck und das „Ding an sich“ am Grunde der Erscheinungswelt setzen einzelne Erfahrungsinhalte in Beziehung zu Erfahrungen des Menschen von sich als lebendiger, zweckmäßiger Einheit von 12 Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, 1. Hauptstück: Von den ersten und letzten Dingen, Aph. 14, KSA 2, S. 35. 13 Kritik der praktischen Vernunft, I. Buch, 1. Hauptstück, § 7; 3. Hauptstück, Akad. V, S. 30 und 72f. 14 Menschliches, Allzumenschliches, Bd. II, Aph. 171, KSA 2, S. 452. 15 Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Aph. 15, KSA 2, S. 35.



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Vielem und erregen dadurch sein Selbstgefühl. Es sind Irrtümer, die einmal als „wahr“ geglaubt wurden. Zieht man vom menschlich gestärkten Selbstgefühl die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das starke Gefühl übrig: was die Philosophen „Subjekt“ oder „Selbstbewusstsein“ nennen; und dieses verbürgt nach Nietzsche „nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist“16. Gefühle, so lautet Nietzsches Fazit, sind nichts Letztes, nichts Ursprüngliches, hinter den Gefühlen stehen „Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind“17. Einem Gefühl zu vertrauen, das würde so viel heißen wie „seinem Großvater und seiner Großmutter mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung“. Was im Einklang steht mit Nietzsches gelegentlicher Bemerkung, nur Gefühle, aber keine Gedanken erbten sich fort. Daran scheint mir so viel richtig zu sein, dass eine rein logische Gedankenerzeugung oder gar ihre Übertragung von einer Generation auf die nächste ohne gemeinsamen Erfahrungsboden nicht möglich ist. Was schon der Vorgang verbietet, in dem sich unser Denken vollzieht, das niemals so linear abläuft, wie es die Lehre der Logik vorschreibt. Der Logiker ignoriert das Heterologische im Denkvollzug, das er im Allgemeinen der Psychologie zuschreibt. Ein Kurzschluss, der das Problem des logischen Denkens übersieht: seinen Antrieb, der nichts mit einer der Logik gleichgültigen Empfindungswelt empirischer Subjekte zu tun hat. Denn im Akt des Denkens, das von einem Gedanken zum nächsten übergeht und beide begründungsmäßig zu verknüpfen sucht, „waltet eine Zwischenwelt ganz anderer Art“, z. B. der Trieb zum Widerspruch oder der Unterwerfungstrieb. Vollends unmöglich ist jener Aberglauben der Logiker, ein Gedanke werde gedacht, wenn „ich“, der Denkende, „will“. Der wahre Tatbestand besteht nach Nietzsche vielmehr darin, dass ein Gedanke „kommt, wenn ‚er‘ will“, sodass es auf eine Verfälschung dieser „kleine[n], kurze[n] Thatsache“ hinauslaufe zu sagen: das Subjekt („ich“) sei hier die Bedingung des Prädikats („denke“).18 Gedanken sind Ereignisse. Und die „grössten Ereignisse und Gedanken – aber die grössten Gedanken sind die grössten Ereignisse – werden am spätesten begriffen: die Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, erleben solche Ereignisse nicht – sie leben daran vorbei.“19 Das ist im Rückblick auf seine Denkerfahrung mit dem Wiederkunftsgedanken niedergeschrieben, woran Nietzsche jene Verkehrung des wahren Tatbe16 Ebd. 17 Morgenröte, I. Buch, Aph. 35, KSA 3, S. 43f. 18 Jenseits von Gut und Böse, Aph. 17, KSA 5, S. 30f. 19 Jenseits von Gut und Böse, Aph. 285, KSA 5, S. 232.

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stands erkannt haben mag. Dass die mitlebenden Geschlechter von GedankenEreignissen unberührt bleiben, erscheint zwar ebenso verkehrt; dennoch ist es „in Ordnung“. Denn Gedanken, das sind stille Ereignisse, es „geschieht da etwas wie im Reich der Sterne“, fernab vom lauten Tageslärm, der die „historisch“ genannten Ereignisse „stürmisch“ und „zeitig“ macht. Das Licht der fernsten Sterne, so lautet die klare Erfahrung des Denkers, die uns zugleich das dunkle Kapitel des Scheiterns seiner Gedanken am Unverständnis der Zeitgenossen erhellt, „kommt am spätesten zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der Mensch, dass es dort – Sterne gibt“20. Bevor wir diese Anspielungen auf das Schicksal der Wiederkunftslehre weiter ausdeuten, setzen wir unsere Charakterisierung von Nietzsches ursprünglicher Denkerfahrung fort. Sie gründet auf einem poetischen Verfahren, das dem klassischen Philologen aus seiner Kenntnis der griechischen Literatur unter dem Titel: Prosopopöie (gr. prósopon, das Gesicht, die Maske, die Person) vertraut ist: die poetische Umbildung einer Sache zu einer Person, „Personendichtung“. Nach spätantiker Rhetorik handelt es sich um die Sinnfigur (figura sententiarum) als Bestandteil der Redekunst: die einer fingierten oder historischen Person in den Mund gelegte Rede, wodurch Gedanken anderer in der Form von Selbstgesprächen ans Licht gebracht werden. In der Philosophie tritt sie uns als sprachlich bewusst gehandhabtes Stilmittel in den Platonischen Dialogen entgegen. Man erinnere sich an den Schluss des ‚Kriton‘, wo die Gesetze reden, um gegenüber den rhetorisch unverbindlichen Wortspielen der Sophistik das Ethos der Sokratischen Dialektik zu erhellen: ihre Bindung an die überlieferte Polissittlichkeit.21 In ursprünglich dichterischer Form handelt es sich um das unbewusst geübte Verfahren der Personifikation im griechischen Mythos, wo Vorgänge und abstrakte Beschaffenheiten zugleich als Person und Sache dargestellt werden, nämlich im Umkreis der Wirkung eines Gottes, seines Herrschaftsbereichs. Man denke an Erde und Himmel, die als mythische Personen (in der Großschreibung von Gaia und Uranos) durch „heilige Ehe“ verbunden sind: aneinander liegend, so, wie sie menschlicher Anschauung erscheinen. Oder man denke an das anschauliche Bild von Okeanos, den Ringstrom um die Erdscheibe, der in Flüssen Söhne und Töchter mit Thetys hat, der Meeresgöttin. Bewusst gehandhabte Methode wird das Verfahren bei den Philosophen des tragischen Zeitalters der Griechen, die abstrakte Substantive wie „das Sein“ und „den Schein“ solchen PersonenHerrschaftsbereichen zuordnen: so Parmenides „das Sein“ dem Bereich der (groß geschriebenen) Wahrheit (Aletheia), während „der Schein“ Aphrodite untersteht,

20 Ebd. 21 Kriton, 50a–54c.



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der Göttin der Liebe, des Lebens, der Natur im griechisch gedachten Sinne der Physis. Nietzsche hat dieses Verfahren am Rande seiner Baseler Vorlesungen über ‚Die vorplatonischen Philosophen‘ (1872) und ‚Die Rhetorik der Griechen und Römer‘ (1872/73) gestreift. Am Schluss der Rhetorik-Vorlesungen (1874) wird die Bildung und Sprachmacht der abstrakten Substantive auf „Eigenschaften in uns und außer uns“ zurückgeführt, die ihren Trägern in Gedanken entrissen und als selbständige Wesen mit eigenständiger Wirkung hingestellt werden: Die Kühnheit (audacia) bewirkt, dass die Männer kühn (audaces) sind. Nach Nietzsche ist das im Grunde eine Personifikation, die in der Konsequenz zur Entstehung von „Begriffsgöttern“ wie „Tugend“ (Virtus) und „Sorge“ (Cura) bei den Römern führt: „Jene Begriffe, die lediglich unserer Empfindung ihr Entstehen verdanken, werden als das innere Wesen der Dinge vorausgesetzt: wir schieben den Erscheinungen als Grund unter, was doch nur Folge ist. Die Abstrakta erregen die Täuschung, als seien sie jenes Wesen, welches die Eigenschaften bewirkt, während sie nur in Folge jener Eigenschaften von uns bildliches Dasein erhalten.“22 Es wäre jedoch verfehlt zu meinen, dass Nietzsches historisch-kritische Sicht auf das Verfahren der Personifikation als Schlüssel zum Verständnis von Begriffsgenealogien innerhalb der Klasse jener sprachmächtigen Allgemeinbegriffe von „Sein“ und „Schein“ und ihres problematischen Zusammenhangs mit der „Wahrheit“ auf eine Ablehnung des philosophischen Denkens hinausläuft. So folgert der zeitgenössische Empirismus, der die Philosophie mit den Mitteln szientistischer Begründungsrhetorik kritisiert. Womit sich die Kritik auf einen rhetorischen Nebenschauplatz begibt und die sprachlichen Wurzeln von Begriffsgenealogien abschneidet. Nicht so in Nietzsches Sicht, dessen genealogisches Denken dazu die Kehrseite darstellt. Nietzsche hat das Verfahren der Prosopopöie bewusst gehandhabt und zugleich „verinnerlicht“. Und er hat es mit der Sache des Denkens identifiziert, das authentisch zu sprechen und Rechenschaft zu geben sucht: „Aus der innersten Erfahrung des Denkers.“ Das ist der programmatische Titel eines Aphorismus im 2. Band von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, der mit dem Satz beginnt: „Nichts wird dem Menschen schwerer, als eine Sache unpersönlich zu fassen: ich meine, in ihr eben eine Sache und keine Person zu sehen; ja man kann fragen, ob es ihm überhaupt möglich ist, das Uhrwerk seines personenbildenden, personendichtenden Triebes auch nur einen Augenblick auszuhängen. Verkehrt er doch selbst mit Gedan22 Darstellung der antiken Rhetorik (1874), § 8, in: Werke Bd. XVIII: Unveröffentlichtes zur Literaturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik, hrsg. von O. Crusius, Leipzig 1912 (= Philologica II), S. 268.

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ken, und seien es die abstractesten, so, als wären es Individuen, mit denen man kämpfen, an die man sich anschliessen, welche man behüten, pflegen, aufnähren müsse.“23 Es ist die Einsicht des Philologen, der sich gesteht, wie er als Philosoph im Umgang mit überlieferten Gedanken zu verfahren pflegt: kämpferisch, solidarisch, liebend, als seien sie ihm persönlich zum Gebrauche anvertraut. Der Aphorismus steht in der Mitte von Nietzsches Denkweg. Er blickt nach vorwärts und zurück. Nietzsche spricht mit dem kritischen Gestus des Historikers (im Horizont der Erinnerung an „Wir Philologen“) und verzichtet doch auf alle historische Distanz, indem er überlieferte Gedanken wie Personen behandelt. Und überdies fordert er auf, sie im Akt des Denkens wahrzunehmen und im konkreten Gedankengebrauch ihre Bedeutung zu klären: „Belauern und belauschen wir uns selber, in jenen Minuten, wo wir einen uns neuen Satz hören oder finden. Vielleicht missfällt er uns, weil er so trotzig, so selbstherrlich dasteht: unbewusst fragen wir uns, ob wir ihm nicht einen Gegensatz als Feind zur Seite ordnen, ob wir ihm ein ‚Vielleicht‘, ein ‚Mitunter‘ anhängen können; selbst das Wörtchen ‚wahrscheinlich‘ giebt uns eine Genugthuung, weil es die persönlich lästige Tyrannei des Unbedingten bricht.“24 Umgekehrt verfahren wir, wenn der Gedanke schwach auf die Welt kommt. Dann braucht er Stützen, Erziehungshilfe und Wohlwollen. Und wenn er sich verselbständigt, ist Unterstützung durch andere Gedanken, Ehestiftung, Gedanken-Kinderzucht, GedankenArmen- und Krankenpflege nötig. Kann man aber, folgert Nietzsche, „weder auf dem Weg des Trotzes und Uebelwollens, noch auf dem des Wohlwollens jenem Gedanken etwas anhaben (hält man ihn für wahr –), dann unterwirft man sich und huldigt ihm als einem Führer und Herzoge, giebt ihm einen Ehrenstuhl und spricht nicht ohne Gepränge und Stolz von ihm: denn in seinem Glanze glänzt man mit. Wehe dem, der diesen verdunkeln will; es sei denn, dass er selber uns eines Tages bedenklich wird: – dann stoßen wir, die unermüdlichen ‚Königsmacher‘ (king-makers) der Geschichte des Geistes, ihn vom Throne und heben flugs seinen Gegner hinauf.“25 Die Folgerung bezieht sich im ersten wie im zweiten Schritt auf den Platonischen Gedanken an die Unsterblichkeit und den christlichen Glauben an die Auferstehung der Toten, nach Nietzsche der „hochmütigste und trotzigste Gedanke, den es gibt“. Warum? Weil er um persönlicher Erlösungswünsche willen den Einsturz der ganzen Welt in Kauf nimmt (pereat mundus, dum ego salvus sim). Nietzsches Stellung zum Unsterblichkeitsgedanken ist ambivalent. Er erkennt an, dass dieser Gedanke dem europäischen Menschentum über die 23 Menschliches, Allzumenschliches, II, Aph. 26, KSA 2, S. 389. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 390.



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christlichen Jahrhunderte hinweg ein Schwergewicht gegeben habe, um auf der anderen Seite darauf hinzuweisen, dass sein endzeitlicher Horizont die menschliche Zeiterfahrung in einem Punkt enden lässt und damit verengt. Wird auf der anderen Seite die Unsterblichkeit geleugnet, so kann das eine Verflachung des Lebens bis hin zu seiner vollständigen Entwertung bedeuten, die den Kampf um philosophische Sinndeutung vielleicht einmal ganz zum Erliegen bringt. Der Streit um die Deutung des Sinngehalts der Unsterblichkeitshoffnung kann aber auch dem Menschen Mut machen, mit sich selbst gedanklich zu experimentieren. Die größten Opfer, so wird Nietzsche später in der ‚Morgenröte‘ schreiben, „sind der Erkenntnis noch nicht gebracht worden, – ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserem Thun jetzt voranlaufen“26. Es sind Vorahnungen eines gedanklichen Gegenspiels zum Unsterblichkeitsgedanken, der freilich in dem uns interessierenden Zusammenhang noch nicht als innerste Denkerfahrung gerechtfertigt wird. Was Nietzsche hier durchvariiert, ist das uns bekannte Vorspiel zum Wiederkunftsgedanken aus der Abhandlung ‚Über das Pathos der Wahrheit‘ (1872), jenes pathetischen Denkkampfs um menschenmögliche Verewigung und Hebung des Lebens auf dem Weg ins Hohe, Große, die den „heimlichen Kampf mit Gedanken-Personen“ in seiner langen Geschichte seit den Griechen begleitet. Und die Antwort auf die Frage, weshalb der Mensch in der meist versteckt bleibenden Gedanken-Ehestiftung, Gedanken-Staatenbegründung, Gedanken-Kinderzucht, Gedanken-Armenund Krankenpflege, die sich „Philosophie“ nennt, das Wahre dem Unwahren vorziehe, entspricht im Wesentlichen dem Stand der grundsätzlichen Fragestellung in der gleichzeitigen (aber geheim gehaltenen) Abhandlung ‚Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘ (1872/73): „Aus dem gleichen Grunde, aus dem er die Gerechtigkeit im Verkehre mit wirklichen Personen übt.“27 Ursprünglich tat er es, weil das Wahre, wie das Gerechte, nützlicher und ehrebringender ist als das Unwahre, jetzt tut er es aus Gewohnheit, Vererbung und Anerziehung. Im Reich des Denkens, mit diesen Worten schlägt Nietzsche die Brücke zwischen beiden Abhandlungen, sind „Macht und Ruf schlecht zu behaupten, die sich auf dem Irrthum oder der Lüge aufbauen: das Gefühl, dass ein solcher Bau irgend einmal zusammenbrechen könne, ist demüthigend für das Selbstbewusstsein seines Baumeisters; er schämt sich der Zerbrechlichkeit seines Materials und möchte, weil er sich selber wichtiger als die übrige Welt nimmt, Nichts thun, was nicht dauernder als die übrige Welt wäre [...] Sein unermesslicher Stolz

26 Morgenröte, V, Aph. 501, KSA 3, S. 294. 27 Menschliches, Allzumenschliches, II, Aph. 26, KSA 2, S. 390.

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ist es, der nur die besten, härtesten Steine zum Werke verwenden will, Wahrheiten also oder Das, was er dafür hält.“28 Das klingt wie eine verspätete Rechtfertigung des Heraklitischen Stolzes auf „seine“ Wahrheit, ein Wahrheitspathos, das dem jungen Nietzsche angesichts des niederschmetternden Fazits der geheimen Abhandlung, im Namen der Wahrheit vom sprachlichen Lügenwesen ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein,29 aus den „Mienen der Menschheit“ geschwunden scheint. Denn an die Stelle des ästhetischen Glaubens im Umkreis der ‚Geburt der Tragödie‘ (die „zutrauensvoll sich nahende Illusion“) tritt jetzt ein „Moralisches höchster Gattung“, das aus der Schwarzwurzel der Eigenliebe und des Hochmuts herauswächst. „Mit Recht“, so behauptet Nietzsche, „hat man zu allen Zeiten als ‚das Laster des Wissenden‘ den Hochmuth genannt – doch würde es ohne dieses triebkräftige Laster erbärmlich um die Wahrheit und deren Geltung auf Erden bestellt sein.“30 Es gäbe nicht, was Nietzsche „intellectuale[s] Gewissen“ oder philosophische „Redlichkeit“31 nennt, die jüngste (und seltenste) unserer Tugenden, würden wir uns nicht vor unseren eigenen Gedanken, Begriffen, Worten fürchten und darin gleichursprünglich ehren, ihnen unwillkürlich die Kraft zuschreiben, uns belehren, verachten, loben und tadeln zu können und so „mit ihnen wie mit freien geistigen Personen, mit unabhängigen Mächten verkehren, als Gleiche mit Gleichen“32. Die Erfahrung des Denkers ist nichts anderes als sein Sensorium für jenen „heimlichen Kampf mit Gedanken-Personen“, den Nietzsche fortsetzt. Er führt ihn in dem Bewusstsein, dass er sich auf der „Hadesfahrt“ der Gedanken als Lebender mit jenen Schatten aus dem Reich der Toten unterrede, die sich einem persönlichen Gespräch nicht versagen. Im Umkreis der von uns behandelten Aphorismen-Folge aus ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ bilden nur Gedankenpaare den beständigen Gesprächsuntergrund: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Platon und Rousseau, Pascal und Schopenhauer.33 Nietzsche führt den Denkkampf in dem Wissen, dass die geschichtlich überlieferten Gedanken fortleben, weil und sofern sie einmal personifiziert waren; dass die meisten von ihnen längst widerlegt und sachlich überholt sind, sodass im Grunde nur noch das Persönliche daran interessieren kann, denn „dies ist das ewig 28 Ebd., S. 390f. 29 Über das Pathos der Wahrheit, KSA 1, S. 760. 30 Menschliches, Allzumenschliches, II, Aph. 26, KSA 2, S. 391 31 Vgl. Morgenröte, V, Aph. 456: „Eine werdende Tugend“, KSA 3, S. 275. 32 Menschliches, Allzumenschliches, II, Aph. 26, S. 391. Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, I, Aph. 2, KSA 3, S. 373f. 33 Menschliches, Allzumenschliches, II, Aph. 408, KSA 2, S. 533f.



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Unwiderlegbare“34. Und am Leitfaden einer „Reduktion“ der philosophischen Lehrsätze und Systeme auf „Personal-Acten ihrer Urheber“35 hatte Nietzsche ursprünglich das Geistergespräch unter den vorplatonischen Philosophen als einer „zusammengehörigen Gesellschaft“ paarweise darzustellen versucht: von Thales über Anaximander bis hin zu Parmenides und Heraklit.36 Im Gespräch mit diesen Gedankenpaaren hat Nietzsche erfahren, was der Wanderer in der Unterredung mit seinem Schatten von den Griechen wie von sich selbst bekennt: „Es fehlt ihnen jede unpersönliche Theilnahme an einem Problem der Erkenntniss: wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Theile voneinander abhängen, in einander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat.“37 Es ist das Selbstbekenntnis des Philosophen, der sich nicht mehr als „Angestellter der Wissenschaft“ versteht; ein Bekenntnis zu jenen unvergleichlichen Naturen und ihren „personenhaften ErkenntnissGebilden“38, die der Philologe und Historiker aus vergessenen Zeugnissen der vorplatonischen Philosophie zurückzugewinnen unternimmt, um schließlich daran den „Gedanken der Gedanken“ zu erinnern.

Denkerfahrungen: Vorentwürfe zum Wiederkunftsgedanken Furcht und Ehrfurcht, das sind die beiden Affekte, die Nietzsches Erinnerung an den Wiederkunftsgedanken im Sommer 1881 auslöst. Es ist eine Denkerfahrung, die an die Wurzel seines intellektuellen Gewissens rührt und mit Erschütterung und tiefem Selbstzweifel einhergeht. Wir legen zunächst die wichtigsten Briefzeugnisse vor. „An meinem Horizonte“, heißt es am 14. August 1881 in einem Brief an Heinrich Köselitz, „sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehen habe – davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschütterlichen Ruhe erhalten [...] Ach, Freund, mitunter läuft 34 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Vorrede (1879), KSA 1, S. 803. Vgl. meinen Aufsatz: Ein Seitenstück zur ‚Geburt der Tragödie‘. Nietzsches Abkehr von Schopenhauer und Wagner und seine Wende zur Philosophie. In: Nietzsche-Studien 24 (1995), S. 45ff. 35 Vgl. Brief an Lou von Salomé vom 16. Sept. 1882, KSB 6, S. 259. 36 Vgl. mein Nachwort zur Reclam-Ausgabe von Nietzsches ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘, Stuttgart 1994. 37 Menschliches, Allzumenschliches, II, 2, Aph. 171, KSA 2, S. 625f. 38 Das ist eine von Nietzsches Bestimmungen der Philosophie. Vgl. Menschliches, Allzumenschliches II 2, Aph. 171, KSA 2, S. 624ff.

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mir die Ahnung durch den Kopf, daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können.“39 Dass der Kampf all seine Kräfte aufs Höchste beansprucht, davon berichtet Nietzsche immer wieder. So noch im gleichen Monat, als er die bisherigen Werke als Abbilder eines leidenden, unvollständigen, der nötigsten Organe kaum mächtigen Geschöpfs, sich selber als Autor wie ein „Krikelkrakel“ versteht, den „eine unbekannte Macht über’s Papier zieht, um eine neue Feder zu probiren“.40 Und dann ein halbes Jahr später, als Nietzsche während seiner Arbeiten an der ‚Morgenröte‘ feststellen muss, er sei noch nicht reif genug für eine Konzeption „elementarer Gedanken“, die er in den Schluss-Büchern darstellen wolle: „Ein Gedanke ist darunter, der in der That ‚Jahrtausende‘ braucht, um etwas zu werden. Woher nehme ich den Muth, ihn auszusprechen!“41 In der Gestaltung dieses Grundgedankens hat Nietzsche die „schwerste“ aller seiner Aufgaben gesehen.42 Sie war nicht von der Gedanken-Kette loszulösen, die sich mit der Gedanken-Konzeption der Zarathustra-Dichtung verbindet: der Lehre vom Übermenschen und vom Willen zur Macht. Ja, diese beiden Lehren sind geradezu der Ausdruck jenes heimlichen Kampfes mit Gedanken-Personen, der sich in Nietzsches innerster Denkerfahrung als Ringen um die Ausgestaltung des Wiederkunftsgedankens bekundet. In Bezug auf seine „Gedanken“, gesteht Nietzsche dem Freund, sei es nichts, sie zu „haben“. Aber sie „loswerden“, wenn er sie los sein wolle, werde ihm immer schwer.43 Aus Furcht, der Darstellung des Gedankens nicht gewachsen zu sein, hat es Nietzsche vorgezogen, ihn in der Fortsetzung der ‚Morgenröte‘ zu beschweigen, und das Thema der Wiederkunft nur zwischen den Zeilen angeschlagen. Sehr vieles, was in der ersten Hälfte des Buches steht, so konnte Nietzsche den nahestehenden Freunden andeuten, „ist nur der Unterbau und die Vorbereitung von etwas Schwererem, Höherem (ja! es wird auch manches ‚Schauderhafte‘ noch gesagt werden müssen [...])“44. Und die ‚Fröhliche Wissenschaft‘, die das Thema mit seinen Hauptmotiven wie in einem Übungsstück durchfiguriert und am Ende zur Fuge eines einzigen Satzes zusammenführt (Incipit tragoedia), konnte dann als „Schluß jener Gedanken-Kette“ verstanden werden, die Nietzsche nach dem Abschied von Wagner in Sorrent zur langen Reihe seiner Aphorismen zu knüpfen anfing.45 39 KSB 6, S. 112. 40 Brief an H. Köselitz von Ende August 1881, ebd., S. 121f. 41 Brief an H. Köselitz vom 25. Januar 1882, ebd., S. 159. 42 Brief an F. Overbeck vom 29. Januar 1882, ebd., S. 162. 43 Brief an H. Köselitz vom 29. Januar 1882, ebd., S. 161. 44 Brief an Ida Overbeck, 19. Januar 1882, ebd., S. 156. 45 Vgl. Brief an Malwida von Meysenbug vom 13. Juli 1882, ebd., S. 223.



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Welche Motive es sind, darüber unterrichten uns die nachgelassenen Fragmente vom Spätsommer und Herbst 1881. Während dieser Zeit liest Nietzsche neben Spinoza und Ralph Waldo Emerson naturwissenschaftliche Schriften: J. R. Mayer, ‚Mechanik der Wärme‘ (schon im Frühjahr 1881), W. Roux, ‚Der Kampf der Teile im Organismus‘, J. G. Vogt, ‚Die Kraft‘. Aus der Menge von Notizen zum Wiederkunftsgedanken ragen zwei als „Entwürfe“ heraus, die den Gedanken konzeptualisieren. Der erste Entwurf trägt den Titel: „Die Wiederkunft des Gleichen. 1. Die Einverleibung der Grundirrthümer. 2. Die Einverleibung der Leidenschaften. 3. Die Einverleibung des Wissens und des verzichtenden Wissens. (Leidenschaft der Erkenntnis) 4. Der Unschuldige. Der Einzelne als Experiment. Die Erleichterung des Lebens, Erniedrigung, Abschwächung – Übergang. 5. Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen’s, Irren’s, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens – wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben? Wir lehren die Lehre – es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben. Unsre Art Seligkeit, als Lehrer der größten Lehre. Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen! – “46 Der Entwurf des Wiederkunftsgedankens spitzt die erörterte Frage, weshalb denn das Wahre gegenüber dem Unwahren in jenem heimlichen Kampf mit „Gedanken-Personen“ vorgezogen werde, auf das prinzipielle Problem des Wahrheitsanspruchs philosophischer Grundlehren und ihren „Nutzen“ (oder Schaden) für das Leben zu. Was den Kampf antreibt und in Gang hält, ist die Grunderfahrung des „ewigen Werdens“. Sie umfasst das Seiende im Ganzen, Natur und Sitte im Sinne geschichtlich gezeitigten Menschseins eingeschlossen, sodass der Gedanke die Dimension von „Erlebnissen“ überschreitet. Er ist „Ereignis“ und muss, so das neue Leitwort, „einverleibt“, nämlich gelebt werden. Zu bedenken ist seine Rückwirkung auf das ganze Menschenleben. Und zu durchdenken sind 46 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [141], KSA 9, S. 494.

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damit überlieferte Deutungen seines Gehalts, die alle mehr oder weniger zurückgehen auf die Heraklit zugesprochene Lehre vom „ewigen Fluss der Dinge“ als letzter, einzig zugänglicher Wahrheit für das Menschentum. Seit Platons Kampf gegen die sogenannte Flusslehre des Heraklit befindet sich die traditionelle Philosophie im Stand des „Irrtums“. Mit ihren begrifflich verfestigten Unterscheidungen zwischen „Ding“ und „Eigenschaft“, „Substanz“ und „Subjekt“, „Gleichheit“ (Identität) und „Beharrung“ (Kontinuität) ist sie in die Irre gelaufen und hat diese zeitlichen Irrtümer in der Zuschreibung zu einem überzeitlichen Bewusstsein als ewige Wahrheiten verinnerlicht. Das ist der Auftakt zum Entwurf, die am Beginn der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ programmatisch formulierte „Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“47. Nach Nietzsche wird sie nur von denen gesehen, die begreifen, dass „bisher nur unsere Irrthümer uns einverleibt waren und dass alle unsere Bewusstheit sich auf Irrthümer bezieht“48. Wie er sich die Lösung der dreifachen Aufgabe einer Einverleibung der Grundirrtümer (1), der Leidenschaften (2) und des Wissens bis hin zur neuzeitlichen Erfahrungswissenschaft mit ihrem Verzicht auf alles philosophische Wissen vom Seienden im Ganzen (3) denkt, hat Nietzsche in diesem Werk mehrfach skizziert. Hier beschränke ich mich darauf, den Hauptpunkt (4) zu verdeutlichen, die durch wissenschaftliche Aufklärung über die Relativität von Zeitvorstellungen herbeigeführte Situation des Übergangs, worin das Experiment mit der gedanklichen Annahme einer ewigen Wiederkunft unter geschichtlich gezeitigten Bedingungen praktischer Lebenserleichterungen stattfinden und in seiner Erfolgsaussicht abgeschätzt werden kann. Der Gedankengang stellt sich im Umriss folgendermaßen dar. Nietzsche variiert die Ausgangsthese seiner jugendlichen Kunst-Metaphysik im Umkreis der ‚Geburt der Tragödie‘, wonach die Illusion (hier: der Irrtum) dem gezeitigten Daseinsvollzug des geschichtlichen Menschentums nötig sei. Die anfänglich fixierten Grundbegriffe von Ding und Eigenschaft, Gleichheit und Beharrung waren falsch, aber lebensnotwenig, um dem Fortriss des Zeitflusses zu widerstehen; und im Widerstand empfingen sie ihre Überzeugungs- und Glaubenskraft, sodass sie zu Prädikaten von Grundsätzen über die Erkenntnis des wahrhaft Seienden, ja, der einzig „wahren“ Welt im Gegenüber zur menschlichen Scheinwelt erhoben und mit dem Wahrheitspathos philosophischer „Ausnahme-Denker“ wie Parmenides und Platon „einverleibt“ werden konnten. Sehr spät trat ihnen die Wahrheit im Namen der Skepsis entgegen, jener „unkräftigsten Form der Erkenntnis“, die sich durch kritische Forschung und „feinere Redlichkeit“ erst aufhelfen musste. Der intellektuelle Kampf, so sieht Nietzsche den nun einsetzen47 Die Fröhliche Wissenschaft, I, Aph. 11, KSA 3, S. 383. 48 Ebd.



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den Gang zur Stärkung des wissenschaftlich begründeten Erkennens in Europa, „wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde“. Und das Pathos des Wahren ordnete sich als Bedürfnis in die übrigen Lebensbedürfnisse ein; es wurde, ohne länger überschwänglich zu sein, zum Wahrheitsstreben und „Trieb“, womit über Glauben und Überzeugung hinaus die Prüfung, die Zeugung, das Misstrauen, der Widerspruch Macht gewannen. Kurzum: Das Erkennen selbst wird auf dem neuzeitlich ausgebauten Erfahrungsboden der Wissenschaft zur „Leidenschaft“, es wird ein Stück Leben und als Leben eine immerfort wachsende Macht, bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrtümer der traditionell-metaphysischen Philosophie aufeinanderstoßen, „beide als Leben, beide als Macht, beide in dem selben Menschen“49. Das ist die Situation des Kampfes der Aufklärung gegen die Irrtümer der platonisch-christlichen Metaphysik, die einmal den europäischen Menschen ein Lebensschwergewicht „jenseits“ der Zeitgrenzen, dem Einzelnen Identität und Dauer, Halt und Aufenthalt in einem ewigen Leben verhießen. Die „Erleichterung des Lebens“, seine Befreiung zu Schein und Spiel durch Skepsis und Wissenschaft, bedeutet zugleich eine Verflachung: „Erniedrigung“ und „Abschwächung“ von Lebenslust und Verzicht auf umfassende Weltdeutung. Darin besteht der „Übergang“, die große Herausforderung der Zeit an den Denker. Die entscheidende Frage betrifft ihn selbst und die Wahrheitsbedingungen, unter denen das Gedankenexperiment stattfindet. Sie lautet, ob er im Stande einer „Philosophie der Gleichgültigkeit“ gegenüber allen Lebensinhalten und ihrer vormals metaphysischen Ausdeutung verharrt oder ob er sich gedrängt fühlt, nach der Erkenntnis des Irrtums der Metaphysik den Denkkampf mit der „letzten Wahrheit“ vom ewigen Fluss der Dinge erneut aufzunehmen. Denn der Denker, „das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenserhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenserhaltende Macht bewiesen hat. Im Verhältnis zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.“50 Wenn ich richtig sehe, sind es zwei Instanzen, auf die sich das Gedankenexperiment im ersten Entwurf der Wiederkunftslehre stützt. Wir nennen sie mit Nietzsche ihre Vorausbedingungen: Bedingungen noch einmal und immer wieder bei jedem Experiment.51 Wie wir dem Abschlussaphorimus zum 4. Buch der 49 Die Fröhliche Wissenschaft, III, Aph. 110, KSA 3, S. 469ff. 50 Ebd., S. 471. 51 Vgl. Ecce homo, KSA 6, S. 335.

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‚Fröhlichen Wissenschaft‘ entnehmen konnten (vgl. Einleitung), folgt es in seiner Struktur und Richtung der uns von Kants Ethik her vertrauten Prüfungsfrage an die jeweilige Maxime einer Handlung, ob sie zugleich als allgemeingültiges Gesetz, das heißt: von jedermann immer wieder gewollt werden könnte; womit es im bejahenden Fall zur „Einverleibung“ des Sittengesetzes kommt. Bei Nietzsche fordert das Experiment über die Einzelhandlung hinaus zur Prüfung des Lebens im Ganzen auf. Und seine Fragestellung ist schon im Kontext des Vorentwurfs eindeutig ethisch begründet, obwohl sie sich im Unterschied zu Kant mehr an den Handlungsfolgen für das Leben im Ganzen als an der gewissenhaften Prüfung einer sittlich guten Gesinnung durch richtige Maximenwahl hier und jetzt orientiert. Dennoch beruft sich auch Nietzsche gegen den Empirismus mit seinem kurzschlüssigen Tatsachen- und Milieu-Aberglauben auf die Würde des praktischen Vernunftglaubens, den universellen Wert von Gedanken und Meinungen: „Du sagst, daß Nahrung Ort Luft Gesellschaft dich wandeln und bestimmen? Nun, deine Meinungen thun es noch mehr, denn diese bestimmen dich zu dieser Nahrung Ort Luft Gesellschaft. – Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: ‚ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?‘ ist das größte Schwergewicht.“52 Die zweite Instanz liegt in der Ästhetik; genauer gesagt: im Zusammenrücken der „Leidenschaft der Erkenntnis“ mit dem Geschmack. Er macht den „Grund“ unserer Gütertafel aus: von „wahr“ und „falsch“, „gut“ und „böse“, „nützlich“ und „schädlich“. Dass etwas „schön“ oder „ekelhaft“ sei, dieses Geschmacksurteil ist das ältere Urteil, das den ganzen Menschen bewegt. Wird es verabsolutiert, schlägt es in moralisches Fordern um und zerschlägt die Tafel menschlicher Güter zugunsten eines allzumenschlichen Bildes vom höchsten Gut, ja, von der Wahrheit und dem Sein selbst (summum ens). Sobald wir sie leugnen, müssen wir nach Nietzsche „alles absolute Fordern aufgeben und uns auf aesthetische Urtheile zurückziehen. Dies ist die Aufgabe – eine Fülle aesthetischer gleichberechtigter Werthschätzungen zu creieren: jede für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge.“53 Kein Zweifel: Wir stoßen hier auf den Horizont von Nietzsches früher Kunstmetaphysik, die seinen Denkweg begleitet und mit dem Horizontgedanken der Grundlehre verschmilzt. Es ist eine hermeneutische „Horizontverschmelzung“54, die den Wahrheitsanspruch des Wiederkunftsgedankens und seinen Sinn-Gehalt betrifft: das traditionelle Theorem vom „Fluss der Dinge“, womit die Grund52 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [143], KSA 9, S. 496. 53 11 [78–79], ebd., S. 471. 54 Ich beziehe mich hier auf den Leitbegriff von H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge der philosophischen Hermeneutik, Tübingen 19601, 19754, S. 289f.



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lehre oft identifiziert wird. Das ist ein Missverständnis. Denn der Rückgriff auf den ästhetisch gerundeten Horizont der Kunst bringt ja gerade zum Ausdruck, dass die Lehre von der ewigen Wiederkunft die Flusslehre zu „überwinden“ sucht. „Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war“, so hält Nietzsche noch einmal fest, „konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden – ja zuletzt kann der Grundirrthum eingesehen werden worauf alles beruht [...] die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet. So entsteht im Weisen der Widerspruch des Lebens und seiner letzten Entscheidungen; sein Trieb zur Erkenntniß hat den Glauben an den Irrthum und das Leben darin zur Voraussetzung.“55 Die folgenden Sätze gehören zum Tiefsten, was Nietzsche in diesem Zusammenhang gedacht hat, weshalb sie hier unverkürzt zitiert werden mögen: „Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres! Wir müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des Wahnes – unser Cultus. Um des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, unseren Geschmack an ihm mehren, ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß.“56 Der Argumentationszusammenhang erklärt uns, warum der ästhetische Horizont von Nietzsches ‚Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘ den ganzen Gedankengang abrundet und umschließt. Ist doch die Wahrheit der Wiederkunftslehre nichts anderes als die bekräftigte Wahrheit des tragischen Gedankens, der das Leben trotz seiner grausamen Züge inmitten des ständigen Geborenwerdens und Sterbens bejaht, der „Ja“ zum eignen Schicksal im gezeitigten Unglück und Untergang sagt. Die tragische Wahrheit wird durch die ästhetische Wirkung dem Kunstwerk der Tragödie „einverleibt“. Und die großen Werke der Kunst wirken auf uns in der Weise, dass wir sie „immer wieder“ zu erleben wünschen. Das ist der ästhetische Optativ, den Nietzsche gleichsam als Ausgangsbedingung des Experiments formuliert: „So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies der Hauptgedanke! Erst am Ende wird dann die Lehre von der Wiederholung alles Dagewesenen vorge-

55 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [162], KSA 9, S. 503f. 56 Ebd., S. 504.

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tragen, nachdem die Tendenz zuerst eingepflanzt ist, etwas zu schaffen, welches unter dem Sonnenschein dieser Lehre hundertfach kräftiger gedeihen kann.“57 Die Lehre von der Wiederholung alles desjenigen, was schon einmal da war, will sagen: „des Gleichen“, ist also nach dem ersten Entwurf der Wiederkunftslehre keineswegs die Hauptsache. Im Vordergrund steht die ethisch und ästhetisch inspirierte Konzeption einer neuen Lebenserziehung, die das europäische Menschentum aus dem Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber der Natur und Geschichte herausreißen und verhindern soll, dass sich die Menschen den Zielen der modernen Arbeitsgesellschaft opfern, indem sie „Einer ausschließlichen Neigung verfallen und zum Organ werden, gegenüber der natürlichen Tendenz zur Arbeitstheilung“58. Es geht gerade nicht um „das Gleiche“ im Sinne des Gleichgültigen, unabhängig vom Lebensinhalt, sondern um einen Wandel des Lebens von Grund auf. Was Nietzsche für die Lehrer der größten Lehre vorschwebt, ist der Platonische Philosophenstand, eine Sopho-Kratie, aber ohne pseudophilosophische Herrschaftselite mit diktatorischen Neigungen. Vielmehr sollen „herrschende überschauende Wesen geschaffen werden, die dem Spiel des Lebens zuschauen und es mitspielen, bald hier, bald dort, ohne allzu heftig hineingerissen zu werden“. Ihnen muss schließlich die Macht zufallen, ihnen wird sie anvertraut, weil sie keinen heftigen, ausschließlich auf ein Ziel gerichteten Gebrauch davon machen. Ihr einziges Ziel ist, den Wiederkunftsgedanken zu lehren. Und dazu knüpfen sie an die allgemein zugängliche Erfahrung an, dass der Widerwille gegen das Leben höchst selten auftritt. „Wir“ – und an diesem Punkt bezieht sich Nietzsche wie selbstverständlich in das nachfolgende Argument ein – „Wir erhalten uns darin und sind selber am Ende und in schweren Lagen einverstanden damit.“ Das sind „wir“ nicht etwa aus Furcht vor Schlimmerem oder aus Hoffnung auf Besseres, auch nicht aus Gewohnheit oder gar wegen gelegentlicher Lust, sondern „wegen der Abwechslung und weil im Grunde nichts eine Wiederholung ist, aber an Erlebtes erinnert. Der Reiz des Neuen und doch an den alten Geschmack Anklingenden – wie eine Musik mit vielem Häßlichen.“59 Die Argumentation gesteht zu, was wir alle erfahren haben und wissen: dass sich im Leben niemals etwas so wiederholt, wie es einmal gewesen ist; ein Zugeständnis der Lehre an die Lebenserfahrung, die uns fragen lässt, weshalb sie dann die strikte Lehrform in der Doppelformel: „die ewige Wiederkunft“ bzw. „Wiederkehr des Gleichen“ angenommen hat. Darauf wird im Folgenden näher einzugehen sein. An dieser Stelle muss der Verweis auf die dritte Instanz genügen, die Nietzsche in seine Konzeption des Gedankens einbezieht: die neuzeitliche 57 11 [165], ebd., S. 505. 58 11 [145], ebd., S. 497. 59 11 [146], ebd., S. 497.



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Erfahrungswissenschaft. In den beiden Entwürfen von August 1881 finden wir Spuren der Lektüre von J. R. Mayers Schriften über das mechanische Wärmeäquivalent, dessen kühne Verallgemeinerung zum Erhaltungsgesetz der Energie im Weltall Nietzsche schon im Frühjahr 1881 zu dem merkwürdigen Ausspruch veranlasste, hier gäbe es „eine Harmonie der Sphären zu hören; eine Musik, die nur für den wissenschaftlichen Menschen bereitet ist“60. Wir resümieren dazu die Notizen zum ersten Entwurf, der an seinem Anfang Mayers physikalische Theorie unter drei Gesichtspunkten rekapituliert: 1. Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung, sonst hätte sich die Kraftmenge in der unendlichen Zeit erschöpft; 2. Sie kennt keinen Stillstand, sonst wäre er erreicht worden und die „Uhr des Daseins“ abgelaufen; 3. Sie kommt demnach nie in ein Gleichgewicht, sondern Kraft und Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Woraus Nietzsche folgert: „Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist. Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen.“61 Diese Folgerungen verallgemeinern nicht naturwissenschaftliche Erfahrungserkenntnisse, die ihnen vorhergehen. Und ihre anschließenden Verdichtungen zum mächtigsten Gedanken philosophischer Erkenntnis finden keinen Anhalt in Prämissen einer erfahrungswissenschaftlichen Theorie. Sie sind rein spekulativ gewonnen und haben ihren Halt einzig in den ethischen und ästhetischen Vorausbedingungen des Gedankenexperiments, das Nietzsche nicht zufällig mit der Anrede an den „experimentierenden“ Menschen beschließt: „Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrthum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt giebt [es] immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann Allen der mäch-

60 Brief an H. Köselitz, 16. April 1881, KSB 6, S. 84. Die pythagoreisierenden Worte charakterisieren den Lektüre-Eindruck von Mayers ‚Mechanik der Wärme‘ (1878). Etwa gleichzeitig mit der Konzeption des Wiederkunftsgedankens bestellt sich Nietzsche bei seinem Verleger Schmeitzner Literatur zum neuesten Erkenntnisstand der Physik (Brief vom 21. Juni 1881, ebd., S. 94). Vgl. ferner den Brief an F. Overbeck vom 20./21. August 1881, ebd., S. 117f. 61 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [148], KSA 9, S. 498.

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tigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge – es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags.“62 Damit begegnet uns das Stichwort zum zweiten Entwurf der Wiederkunftslehre von Ende August 1881, der mit „Mittag und Ewigkeit“ überschrieben ist. Sein Auftakt ist uns aus dem Abschlussaphorismus (342) der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ vertraut: „Zarathustra, geboren am See Urmi, verließ im dreissigsten Jahre seine Heimat, ging in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta. Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – – es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!“63 Der Satz nach der Zarathustra-Erzählung vereinigt in einem Zug Erinnerungen an das Platonische Sonnengleichnis als Sinnbild der Philosophie mit dem Gleichnis des Wiederkunftsgedankens in der Vergleichung von Mittag und Ewigkeit, den Sinnbildern für das Ganze der Zeit. Nietzsches Grunderfahrung, die Verwunderung über das alltäglichste Phänomen des „absoluten Werdens“, spricht sich hier zum ersten Mal in voller Klarheit aus, begrifflich und anschaulich. Dass die Sonne der Erkenntnis wieder einmal im Mittag steht und die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte liegt, das bedeutet: Wenn das Denken ganz frei geworden ist von dem Vorurteil der platonisch-christlichen Metaphysik über das Verhältnis des „Werdens“ zum „Sein“, dann wird die Philosophie im Zugehen auf das volle Zeitphänomen das Ursprungsproblem im Rekurs auf vorplatonische Erfahrungen der alltäglichen Zeit lösen. Man hat versucht, das Bild vom Mittag, das Nietzsche zu einer Art Symbol der Wiederkunftslehre macht, auf kosmische Veranschaulichungen der Sinnbilder für die Objektivation des Willens zum Willen unter dem formalen Gesichtspunkt ständiger Gegenwart der ,Welt als Wille und Vorstellung‘ (1818) zurückzuführen: „Die Erde wälzt sich vom Tag in die Nacht; das Individuum stirbt: aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß im ewigen Mittag.“64 Aber die Form der Gegenwart bestimmt Schopenhauer als ausdehnungslosen Punkt, der die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und unverrückbar feststeht, „gleich einem immerwährenden Mittag, ohne den kühlenden Abend“, wäh-

62 Ebd. 63 11 [195–196], ebd., S. 519f. 64 Die Welt als Wille und Vorstellung, I. Band, IV. Buch, § 54, hrsg. von E. Grisebach, Leipzig o. J., S. 367.



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rend Nietzsche Mittag und Ewigkeit unterscheidet und mit dem Vormittag und Abend zusammenzudenken sucht. Der Mittag ist die Mitte der alltäglichen Zeit, der Lebensmitte und einer noch unbestimmten (durch den Wiederkunftsgedanken zu bestimmenden) Geschichtsmitte zugleich. So hatte Nietzsche das Wort zur Charakterisierung seines Denkwegs am Ende von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ gebraucht: „Wem ein thätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die Monden und Jahre lang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab.“65 Auf diese Weise redet Nietzsche mit sich selbst: im Gespräch des Wanderers mit seinem Schatten. Und Nietzsches Umschreibung der hohen Mittagsstimmung ruft mit dem Naturbild des höchsten Sonnenstands wie beiläufig das antike Bild der ewigen Natur herauf: „Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den grossen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesicht.“66 Ein Nachklang des pantheistischen Natur-Erlebnisses in der Nachfolge von Goethe, wie es scheint. Aber das scheint nur so, und Nietzsche hat den Goethes Naturapotheose anhaftenden Schein eines antikisierenden Bildungs-Erlebnisses nicht erst mit seiner Spinoza-Lektüre genährt: „Der große Pan ist tot!“ Dieser aus hellenistischer Spätzeit überlieferte Satz musste auf dem Hintergrund des mechanistischen Weltbildes der neuzeitlichen Physik auch Goethes Spinoza-Formel: „Deus sive Natura“ treffen. Nietzsche spielt mit den antiken wie mit den neuzeitlichen Bildreminiszenzen, sodass im Kolumbus-Gedicht aus dem Umkreis der ‚Morgenröte‘ statt des großen Pan auch der große Mittag für das grenzenlose Ganze stehen kann (Alles glänzt mir neu und neuer, / Mittag schläft auf Raum und Zeit: / Nur dein Auge – ungeheuer / Blickt mich’s an, Unendlichkeit!). Und beide Male umspielen das Gleichnis von Mittag und Ewigkeit antike Motive des Ganges der Lebenden zum unterirdischen Schattenreich, „Hadesfahrten“: Erfahrungen der Neuzeit, dass Gott und die Natur „tot“ sind und nicht mehr zum Menschen „reden“.67 Was das Gleichnis mit all seinen Spannungselementen für den geschichtlichen Ort des Wiederkunftsgedankens besagt, bestimmt sich aus der anschließenden Darstellungsdisposition. Sie trägt die Überschrift:

65 Menschliches, Allzumenschliches, II, 2, Aph. 308, KSA 2, S. 690. 66 Ebd. 67 Vgl. Morgenröte, V, Aph. 423 mit Fröhliche Wissenschaft, III, Aph. 109 und 125, KSA 3, S. 259f., 467f. und 480ff.

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„Zum ‚Entwurf einer neuen Art zu leben‘. ERSTES BUCH im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive natura: ‚von der Entmenschlichung der Natur‘. Prometheus wird an den Kaukasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit des Krτς, der ‚Macht‘. ZWEITES BUCH Flüchtig-skeptisch-mephistophelisch. ‚Von der Einverleibung der Erfahrungen‘. Erkenntnis = Irrtum, der organisch wird und organisirt. DRITTES BUCH Das Innigste und über den Himmeln Schwebendste, was je geschrieben wird: ‚vom letzten Glück des Einsamen‘ – das ist der, welcher aus dem ‚Zugehörigen‘ zum ‚Selbsteigenen‘ des höchsten Grades geworden ist: das vollkommene ego: nur erst dies ego hat Liebe, auf den früheren Stufen, wo die höchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, giebt es etwas anderes als Liebe. VIERTES BUCH Dithyrambisch-umfassend. ‚Annulus aeternitatis‘. Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben. Die unablässige Verwandlung – du musst in einem kurzen Zeitraume durch viele Individuen hindurch. Das Mittel ist der unablässige Kampf. Sils-Maria 26. August 1881“68 Wie wenig die Grund-Konzeption des Wiederkunftsgedankens auf das östliche Gelände der Zarathustra-Figur festgelegt war, bezeugt die überraschende Nennung von Prometheus, Sohn des Himmels und der Erde, der Zeus das Feuer entwendet und es zusammen mit der Schrift, der Heil- und Baukunst und allen Künsten den Menschen überbringt: was im westlichen Gelände als Licht der Erkenntnis gedeutet und mit der Philosophie identifiziert wurde.69 Eine Reminiszenz an die ‚Geburt der Tragödie‘, die im Titelblatt den seiner Fesseln ledigen Prometheus zeigt;70 vielleicht auch an das in ihrem Gedankenkreis geplante Prometheus-Drama, womit Nietzsche an den Untergang der griechischen Kultur durch das Christentum und die spätantike Verwandlung des Zeussohnes Dionysos in Hades erinnern wollte, der das irdische Dasein des Menschen umdüstert.71 In Nietzsches Prometheus-Disposition des Wiederkunftsgedankens mischt sich Ältestes mit Neuem, das westliche Motiv des Kampfes gegen Zeus, den ersten Bezwinger der Zeit, mit östlichen Motiven des Seelenwanderungsglaubens und dem spezifisch modernen Problem der „Entorganisierung“ menschlicher Naturerfahrung, die diesem uralten Glauben der Menschheit widersprechen. 68 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [197], KSA 9, S. 519f. 69 Aischylos, Prometheus, 442ff. und Theophrast Frg. 50. 70 Vgl. den Brief an E. W. Fritzsch vom 27. November 1871, KSB 3, S. 249. 71 NF Ende 1874, 38 [1–7], KSA 7, S. 835ff.



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Der Kontrast könnte nicht größer sein, und Nietzsche hat alles getan, um ihn zusätzlich zu vergrößern. Ich denke an seine Verneinung der von Goethe bejahten Spinoza-Formel: „Deus sive Natura“ in der Formulierung: „Chaos sive Natura“. Es ist Nietzsches Formel für die „Wahrheit“ vom Fluss der Dinge, jene „furchtbare“ Erkenntnis der modernen Wissenschaft, dass die Menschheit mit der aus ihr entbundenen Technik dem Chaos am nächsten wohnt und „alles fließt“, das heißt: nichts existiert, was an sich Wert hat und befiehlt, was zu tun oder zu lassen sei.72 Ich erwähne ferner Nietzsches Einspruch gegen den pantheistischen Glauben, als ob das All ein lebendiger Organismus sei; jenes wissenschaftliche Seitenstück der Moderne zum altchristlichen Gottesglauben, womit das „ganz Seltene, unsäglich Abgeleitete“, das uns nur auf der Erdkruste begegnet, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen gemacht wird: eine „Vermenschung der Natur“ und verkappte Vielgötterei dazu mit der phantastischen Annahme von individuell organisierten Einheitspunkten, die nach Leibniz’ Monadologie durch göttlich vorausgesehene Eigentätigkeit das Seiende im Ganzen als universalen Zweckzusammenhang von Natur und Geschichte konstituieren.73 Der Wiederkunftsgedanke kann nur in der Leugnung jeder Zwecktätigkeit einen Anhalt finden. Darum der Anfang mit dem „Chaos des Alls“, das nicht im Widerspruch steht zum Gedanken des Kreislaufs. Nietzsche radikalisiert diesen Ansatz, indem er unterstreicht, dass es sich hierbei eben um „eine unvernünftige Nothwendigkeit handelt, ohne irgend eine formale ethische ästhetische Rücksicht. Das Belieben fehlt, im Kleinsten und im Ganzen.“74 Wenn wir den vorliegenden Entwurf mit dem Vorentwurf von Anfang August 1881 vergleichen, so lassen sich die Kontrapunkte zu den dort formulierten Ausgangsbedingungen des Gedankenexperiments nicht verkennen. Nietzsche wird nicht müde zu betonen, wie uns das „Unorganische“ ganz und gar bedingt; dass wir von „Wasser Luft Boden Bodengestalt Elektricität“ abhängig und „Pflanzen unter solchen Bedingungen“ sind.75 Ausdrücklich warnt Nietzsche vor Übertreibungen der ästhetisch bestimmten Naturbetrachtung von Leibniz und Goethe, die dem Universum zuschreibt, „gewisse Formen zu erreichen, daß es schöner, vollkommener, complicirter werden wolle“. Dies alles ist „Vermenschung“ der Natur. „Anarchie, häßlich, Form – sind ungehörige Begriffe. Für die Mechanik gibt es nichts Unvollkommenes.“76

72 NF Winter 1882/83, 4 [80], KSA 10, S. 137. 73 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [201], KSA 9, S. 522. 74 11 [225], ebd., S. 528. 75 11 [210], ebd., S. 525. 76 11 [205], ebd., S. 524.

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Aus der Erfahrung des Denkers

Es ist, als würde sich Nietzsche in den Zusätzen zum Dispositionsentwurf selbst widersprechen. Wie vereinbart sich der Ansatz im „Chaos sive Natura“ zur Entfaltung des Gedankenzusammenhangs von „Mittag und Ewigkeit“ im 3. und 4. Buch jenes „Entwurfs einer neuen Art zu leben“, der sich doch unverändert im Horizont des ethischen Autonomiegedankens bewegt und das ästhetische Weltverständnis der pantheistischen Philosophie von Spinoza bis hin zu Goethe und Hegel teilt? Und was wäre wohl unter einer „Einverleibung der Erfahrungen“ (2. Buch) zu verstehen, wenn es sich dabei um die aufgegebene Integration von experimentell erhärteten Erfahrungsgehalten in das Gedankenexperiment handelt? Die Fragen drängen sich von selbst auf. Und es wäre angesichts der Widersprüche in Nietzsches Konzeption ein Leichtes, sie weiter aufzugliedern. Das soll hier nicht geschehen. Es liegt nicht in unserer Absicht, jene Fragen für sich zu erörtern oder gar im Blick auf Nietzsches beschränkte Kenntnis naturwissenschaftlicher Theorien in eine Außenbetrachtung der Wiederkunftslehre einzutreten.77 Wir konzentrieren unsere Aufmerksamkeit auf einen entwurfsimmanenten Widerspruch. Er begegnet uns an einem Textstück, das als Fortsetzung oder Ergänzung zum Rekurs auf die naturwissenschaftliche Instanz in der Grundkonzeption von Anfang August 1881 betrachtet werden kann und noch einmal die Prämissen der Theorie vom mechanischen Wärmeäquivalent rekapituliert, um diesmal eine andere Folgerung zu ziehen. Das Maß der Allkraft, so umschreibt Nietzsche jetzt den uns bekannten Grundsatz seiner Lehre, ist 1. quantitativ bestimmt, also nichts „Unendliches“. Daraus folgt, dass 2. die Zahl der Lagen, Veränderungen, Kombinationen und Entwicklungen der Kraft „zwar ungeheuer groß und praktisch ‚unermesslich‘, aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich ist“. Es ist einzig die Zeit, in der das All seine Kraft übt, die sich demnach ewig gleich betätigt, weshalb bis zu diesem Augenblick schon eine Unendlichkeit vergangen ist. Und das heißt 3., dass alle möglichen Entwicklungen schon dagewesen sein müssen. Kurzum: Die augenblickliche Entwicklung muss „eine Wiederholung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt.“78 Nietzsches Folgerung ist überraschend. Sagt er doch jetzt, 77 Zu diesem ganzen Problemkreis vergleiche man die Arbeit von B. Magnus, Nietzsche’s Existential Imperative, Bloomington (Ind.) 1978, Kap. IV, und R. Löw, Nietzsche, Sophist und Erzieher. Philosophische Untersuchungen zum systematischen Ort von Friedrich Nietzsches Denken, Weinheim 1984. Eine Zusammenfassung des Diskussionstands gibt K. Spiekermann, Nietzsches Beweise der ewigen Wiederkehr, in: Nietzsche-Studien Bd. 17 (1988), S. 496ff. 78 NF Früjahr–Herbst 1881, 11 [202], KSA 9, S. 523.



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es sei ganz unerweislich, ob je irgend etwas Gleiches existiert habe. Vielmehr scheint es, dass „die Gesammtlage bis in’s Kleinste hinein die Eigenschaften neu bildet, so daß zwei verschiedene Gesammtlagen nichts Gleiches haben können. Ob es in Einer Gesammtlage etwas Gleiches geben kann, z. B. zwei Blätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, daß sie eine absolut gleiche Entstehung hätten, und damit hätten wir anzunehmen, daß bis in alle Ewigkeit zurück etwas Gleiches bestanden habe, trotz aller Gesammtlagen-Veränderungen und Schaffung neuer Eigenschaften – eine unmögliche Annahme.“79 Ob zwei Blätter gleich sein können, diese Frage hatte auch Leibniz gestellt und verneint. Und die Verneinung hatte Leibniz dann mit seiner Lehre vom individuellen Einheitspunkt einer jeden Monade begründet, die von allen übrigen numerisch und qualitativ unterschieden sei. Nietzsches Leibniz-Kritik verbietet eine solche Begründung und hält dennoch an Leibniz’ monadologischer Ontologie fest: einer von vielen Widersprüchen, die seine Gedankenentwürfe durchziehen. Es ist kein historisch erklärbarer Irrtum, sondern ein Hauptwiderspruch, der den Sachgehalt der Lehre selbst berührt. Nach unseren eingangs charakterisierten Vorausbedingungen von Nietzsches Gedankenexperiment über die Wiederkunftslehre liegt dessen Zweideutigkeit in der Formulierung des Gedankens einer „Wiederholung alles Dagewesenen“. Was heißt hier, etwas „wiederhole“ sich, wenn uns die Grundlehre unter der Doppelformel der „Wiederkunft“ und „Wiederkehr des Gleichen“ entgegentritt? Besagen beide Formeln dasselbe? Oder besteht hier eine formale Differenz, sodass am Ende auch „das Gleiche“ nicht das mit allem Dagewesenen Identische wäre? Und schließlich: Was bedeutet es, dass Nietzsche den Gedanken in seiner „furchtbarsten“ Form zugleich auf die Formel einer „ewigen Wiederkehr der Vergeudung“ bringen kann?80

79 Ebd. 80 NF Herbst 1883, 20 [2], KSA 10, S. 588.

II. West-östliches Gelände: Die Einheit von Lehre und Leben Begründungsform des Gedankens oder Kants Zoroaster und Nietzsches Zarathustra Als Nietzsche im Sommer 1882 darangeht, die Hauptpunkte der beiden Entwürfe zur Wiederkunftslehre neu zu ordnen, da fasst er sie unter dem Obertitel: „Mittag und Ewigkeit. Entwurf einer heroischen Philosophie“ zusammen.81 Heroismus, so erläutern die Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé, „das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt, gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt“82. Nietzsche setzt das heroische Ideal dem kanonischen der menschlichen All-Entwicklung entgegen, einem Kulturideal für „grundgute Menschen“ wie den Kreis um Goethe in Weimar, das seinen Ort außerhalb oder am Rande geschichtlicher Gegensätze hat. Nietzsches Ideal erwächst seiner Grunderfahrung. Es setzt voraus, dass die Menschheit in Zyklen leben muss, um inmitten der Hinfälligkeit des Schönen und Erhabenen im Menschenleben zu dauernden kulturellen Formen zu kommen: „Nicht die Kultur möglichst lange, sondern möglichst kurz und hoch“ zu halten, das macht den Reiz des Lebens aus. „Wir“ sind im Mittag, in der Mitte zwischen dem Ende des alten und dem Anfang eines neuen Zyklus; ein epochales Zeitbewusstsein, das Nietzsche fragen lässt, was die „Höhe der Höhen“ in einer geschichtlichen Kultur bestimmt. Seine Antwort ist eindeutig: „Der Augenblick, wo der Reiz am größten ist. Gemessen daran, daß der mächtigste Gedanke ertragen, ja, geliebt wird.“83 Das, was kommt, die Zeit des Augenblicks der Entscheidung des Menschentums für eine Neugeburt der europäischen Kultur durch Beugung unter das zyklische Zeitverständnis ihres großen Anfangs bei den Griechen: so lautet einer von vielen Titeln für die gesuchte Darstellungsform der Wiederkunftslehre. Als Nietzsche im Herbst 1882 dazu übergeht, die Grundkonzeption auszuarbeiten, da fasst er die empfangenen Gedanken auf einem seiner langen Rundwege um die Bucht von Rapallo in Gedichtform zusammen: 81 NF Sommer 1882, 1 [83], KSA 10, S. 31. 82 1 [108], ebd., S. 37. 83 2 [5], ebd., S. 45. Zum Unterscheidungskontext von „Mittag“ und „Ewigkeit“ vgl. K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935), in: Sämtliche Schriften 6, Stuttgart 1987, S. 178ff.



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Hier sitz ich wartend – wartend? Doch auf nichts, Jenseits von gut und böse, und des Lichts Nicht mehr gelüstend als der Dunkelheit, Dem Mittag Freund und Freund der Ewigkeit.84

Das mit ‚Portofino‘ überschriebene Gedicht ist nach dem kleinen Fischerdorf am Ausgang jenes Weges benannt. Nietzsches Gedankengang war damit noch nicht zu Ende gekommen. „Mittag und Ewigkeit“, diese Umschreibung für die Lehre von der ewigen Wiederkunft verlangt in der ursprünglichen Konzeption ausschließlich nach dem heroischen Ideal: „Was die Helden betrifft, so denke ich nicht so gut von ihnen: immerhin: es ist die annehmbarste Form des Daseins, nämlich wenn man keine andere Wahl hat.“85 Nach dem geheimen Vorbild von Christus, dem Heiligen des Evangeliums, sollte sich die Wiederkunftslehre „an die Kinder“ richten und als Weisheitslehre aus Zarathustras Munde „ganz Spiel“ sein. Sie sollte im Gedankenspiel der Welt am großen Mittag ihren „herzbrechenden Charakter“ nehmen: die schmerzliche Erfahrung lindern, dass unser Leben einmal „war“ und nie wieder kommt, den Gedanken des „Vorbei“ in ein „Gehen“ und Wiederkommen aufheben.86 Mittag und Ewigkeit. Also sprach Zarathustra: so lautet der vorläufige Titel des Buches, das Nietzsche mit leicht variierter Thematik im Winter 1882/83 zu schreiben unternimmt.87 Die Umschrift des Gedichts in die Vergangenheitsform deutet es an: Hier saß ich wartend – Jenseits von gut und böse, bald des Lichts Genießend bald des Schattens: ganz nur Spiel, Ganz Meer, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.

Die Variation betrifft die Stellung des Mittags zwischen „Meer“ und „Zeit ohne Ziel“, den neuen Sinnbildern der Ewigkeit. Sie sprengt die konzipierte Darstellung der „Philosophie der Wiederkunft“ aus dem Geist des heroischen Ideals und die darin eingelegte Lehrunterweisung in spielerischen Gleichnisreden, sodass sich die Gestalt des Lehrers verselbständigen und der Gehalt der Lehre erweitern musste. Die Erweiterung beginnt mit der „Geburt des Übermenschen“88, ein Ge84 NF Sommer–Herbst 1882, 3 [3], KSA 10, S. 107f. 85 NF Winter 1882/83, 4 [5], KSA 10, S. 110. 86 4 [10], ebd., S. 112. 87 4 [39], ebd., S. 119. 88 NF Winter 1882/83, 4 [25], ebd., S. 115.

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danke, der die eine Denkform von „Mittag und Ewigkeit“ nach verschiedenen Richtungen hin auseinanderlegt und so „plötzlich“ auftaucht, wie Nietzsche später, historisch nicht ganz zu Recht, die Inspiration des Wiederkunftsgedankens empfangen zu haben glaubt. Die entscheidenden Schlusszeilen des Gedichts sind am Ende einer seiner langen Meeresspaziergänge zwischen Santa Margherita und Portofino entstanden und nachträglich dem Gang um den See von Silvaplana bei Sils-Maria zugeschrieben worden: Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – – Und Zarathustra gieng an mir vorbei...89

Damit war die Darstellungsform der Zarathustra-Dichtung gefunden, deren Lehrgehalt wir uns nun im Entstehungszusammenhang von Nietzsches Grundlehre zuwenden. Er habe, schreibt Nietzsche im Frühjahr 1883 an Heinrich Köselitz, von den ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘ (1872/1876) bis hin zur ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ (1882) den Kommentar schon vor der Publikation jenes Texts geschrieben, der die Grund-Konzeption der Wiederkunftslehre entfaltet.90 Das trifft in vielfacher Hinsicht zu, sodass wir gut daran tun, den eingangs eingeschlagenen Weg unserer Untersuchungen mit diesem Hinweis zu verknüpfen. Die Lehre, halten wir diesen Gesichtspunkt unserer einleitenden Betrachtungen noch einmal fest, enthält eine unbestimmte Vielheit von Gedanken. Sie sind zunächst nur in Keimen vorhanden, und es besteht der Wunsch, dass der Keim aufgehe und zum Baum des Lebens werde. Das ist, wie wir oben gesehen haben, Nietzsches Gleichnis vom Wachstum der Lehre im vorletzten Aphorismus des 2. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ (106), dem nach der Vorfassung eine von Zarathustras Gleichnisreden zugrunde liegt.91 Beide, Leben und Lehre, lassen sich nicht voneinander trennen. Darin besteht der Unterschied zur Theorie im neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Sinn dieses Wortes. Nietzsche verdeutlicht 89 Die fröhliche Wissenschaft, Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei, KSA 3, S. 649. Vgl. NF Winter 1882/83, 4 [145], KSA 10, S. 157 (mit der im ,Sils-Maria‘-Gedicht gestrichenen Zeile: „Ein Kind, ein Spielzeug“). 90 Vgl. den Brief vom 21. April 1883, KSB 6, S. 364, der aus der Reihe von Nietzsches ,Unzeitgemäßen Betrachtungen‘ die Schrift über ,Schopenhauer als Erzieher‘ (1874) hervorhebt. 91 Vgl. den Abdruck der ursprünglichen Lesart, in: KSA 14, S. 253.



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ihn am Gleichnis vom Baum der Erkenntnis. Seine Früchte sind ungenießbar: Statt der Wahrheit, die nach konventioneller Auffassung freimacht, gibt es hier nur Wahrscheinlichkeit und einen Schein von Freiheit, der die faktische Unterwerfung des „theoretischen Menschen“ unter den Zwang der erkannten Naturgesetze verhüllt. So entsteht die Gefahr, dass der Mensch, reizbar und leidend geworden, an der theoretisch erkannten Wahrheit verblutet und keinen Halt mehr findet, dass sein Aufenthalt auf Erden (was die Griechen Ethos nannten: der angestammte Sitz des Menschentums, der Wohnort) zu einer Qual wird.92 Weil das die unvermeidliche Folge des naturwissenschaftlichen Theorieideals der Neuzeit ist, legt Nietzsche Wert auf begriffliche Differenzierung.93 Das Gleichnis vom Baum der Erkenntnis darf nicht verwechselt werden mit dem Lehrgleichnis und seiner Spiegelung im biblischen Bild vom Baum inmitten des paradiesischen Gartens. Das ist der Baum der Erkenntnis von „gut“ und „böse“, dessen Frucht zu kosten Gott verbietet, weil sie den Tod birgt (1. Mose, 2, 15–17). In Nietzsches Bildgebrauch denkt der Erkennende nicht an den Genuss der Frucht, er sorgt sich um das Aufgehen des Samens der Lehre.94 Und er weiß, was der aufschießende Stamm mitsamt seinen Wurzeln und Zweigen zum Wachstum braucht. Nietzsche hat es aus dem uns bekannten Lehrgespräch im II. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ mitgeteilt (vgl. Einleitung) und den Jüngern zur Vorbereitung auf die durch seine Lehre erst noch zu vertiefende Erkenntnis des Bösen den Rat erteilt, das Leben der besten und fruchtbarsten Menschen und Völker zu prüfen und sich zu fragen, „ob ein Baum, der stolz in die Höhe wachsen soll, des schlechten Wetters und der Stürme entbehren könne: ob Ungunst und Widerstand von aussen, ob irgend welche Arten von Hass, Eifersucht, Eigensinn, Misstrauen, Härte, Habgier und Gewaltsamkeit nicht zu den begünstigenden Umständen gehören, ohne welche ein grosses Wachsthum selbst in der Tugend kaum möglich ist? Das Gift, an dem die schwächere Natur zu Grunde geht, ist für den Starken Stärkung – und er nennt es auch nicht Gift.“95

92 Vgl. Menschliches, Allzumenschliches, I. Hauptstück, 3, Aph. 109, KSA 2, S. 108, mit Verweis auf die „unsterblichen Verse“ von Lord Byron: „Sorrow is knowledge: they who know the most / must mourn the deepst o’er the fatal truth, / the tree of knowledge is not that of life“. Nietzsche setzt Byrons Klage dem „feierlichen Leichtsinn“ von Horaz entgegen, seine epikureisch gestimmte Frage, warum die Seele überhaupt mit ewigen Kümmernissen ermüdet (Carmina II, 11, 11–14). Er hält aber daran fest, dass man ohne die Erfahrung des Schmerzes nicht zu einem „Führer und Erzieher der Menschlichkeit“ werden könne (ebd., S. 109). 93 Menschliches, Allzumenschliches, II. Hauptstück, 2, Aph. 1, KSA 2, S. 540. 94 Ebd., 1, Aph. 406, S. 533. 95 Die fröhliche Wissenschaft, 1. Buch, Aph. 19, KSA 3, S. 390.

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Nietzsches Vergleich spiegelt die verschiedenen Gleichnisse vom Baum der Erkenntnis ineinander und spielt auf sehr verschiedene Überlieferungsmotive an, zuletzt auf den biblischen Schlangenmythos, der seinen Darstellungsabsichten nur unvollständig genügt. Verspricht doch die Schlange dem Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen und damit nach biblischer Ansicht ein „Sein wie Gott“ (1. Mose 3,5), während die Frucht der Erkenntnis gerade nicht das Leben, sondern der Tod ist. Die Gleichnissprache reicht zur Verdeutlichung des Zusammenhangs von Leben und Lehre nicht aus. Darum muss sie argumentativ begründet und in ihren theoretischen Voraussetzungen und Konsequenzen durchdacht werden. Und damit sie Boden fasst und sich einwurzelt, muss sie eine Zeit lang geglaubt werden. „Glauben“ heißt, einen Gedanken oder das Prinzip der Lehre für wahr halten,96 wozu Beweise herangezogen werden müssen. Darstellung (a), Beweis der Lehre (b) und mutmaßliche Folgen davon, dass sie geglaubt wird (c), das sind die drei Aspekte,97 worin sich die Lehrgestalt des Wiederkunftsgedankens systematisch aufbaut: Merkmale, die uns von ferne an Kants allgemeinen Lehrbegriff und sein Verständnis von „Glauben“ als einem „Für-wahr-Halten“ erinnern. Eine jede Lehre, mit diesen Worten hatte Kant jenem traditionell mit der christlichen Glaubenslehre verbundenen Begriff einen neuen Ort im Ganzen seiner Philosophie angewiesen, „wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft“.98 Kant hatte dann zwischen den insgesamt auf Naturbestimmungen bezogenen Prinzipien wissenschaftlicher Theoriebildung und der Bildung von Lehren nach Prinzipien unterschieden, die der Erfahrung von Freiheit in der Welt erwachsen. Einzig sittlich-praktische und ästhetische Lehren können Prinzipien haben, die von keiner Theorie abhängig sind.99 Warum? Weil Kant den Gebrauch dieses Grundwortes der griechischen Philosophie im neuzeitlichen Begriffssinn einschränkt auf erfahrungswissenschaftliche Bestimmungen der Natur als Dasein aller Dinge 96 NF Herbst 1887, 9 [41], KSA 12, S. 354. Die Quelle ist Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), in: Akad. Ausg. Bd. VIII, S. 141; Kritik der reinen Vernunft (1781), Transzendentale Methodenlehre, 2. Hauptstück, 3. Abschnitt, Bd. III, S. 532f. Bereits der junge Nietzsche zitiert Kants Satz aus der Vorrede zur 2. Auflage seiner Vernunftkritik: „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (S. 19), mit dem Zusatz: „Sehr wichtig! Eine Kulturnoth hat ihn getrieben!“ (NF Sommer 1872–Anfang 1873, 19 [34], KSA 7, S. 426f.). 97 NF Winter 1883–1884, 24 [4], KSA 10, S. 645. 98 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede, Akad. Ausg. Bd. IV, S. 467. 99 Metaphysik der Sitten, I.: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), Einleitung, Akad. Ausg. Bd. VI, S. 217.



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unter Gesetzen. Deshalb muss das Wissen nach Kants bekanntem Motto aus der Vorrede zur 2. Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (1787) geradezu aufgehoben werden, um zum Glauben an die Wahrheit sittlich-praktischer Vernunftprinzipien Platz zu bekommen. Kant hatte schließlich darauf bestanden, dass der Lehre eine gewisse formale Lehrart eignet, entweder die akroamatische, da alle Zuhörer des Lehrers sind, oder die erotematische, womit die Form des Lehrvortrags durch das Lehrgespräch verlebendigt wird. Mit seinen Fragen fördert der Lehrer den Gedankengang des Schülers, indem er die Anlage zu gewissen Begriffen (die „Keime“ der Lehre) durch vorgelegte Erfahrungsfälle an dessen Antworten entwickelt.100 Und zuletzt sei hervorgehoben, dass nach Kant dem subjektivem Für-wahr-Halten als Grund einer jeden Lehre die Form der Selbstbelehrung des Subjekts entsprechen muss; weshalb ein Lehrgespräch nur dann mit Aussicht auf Erfolg geführt werden kann, wenn sich der Lehrer zuvor selbst belehrt hat: Eine conditio sine qua non, die, genau besehen, im Grundgesetz des Kategorischen Imperativs („Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“) angelegt und in jedem seiner Anwendungsfälle unter Naturbedingungen sittlichen Handelns (in der Form des Gedankenexperiments: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest?“101) ausdrücklich formuliert ist. Alle diese Momente des Kantischen Lehrbegriffs, vom Gleichnis keimhaft angelegter Gedanken und ihrer gesprächsweisen Entwicklung angefangen bis hin zur Notwendigkeit des Glaubens an die Wahrheit praktischer Vernunftprinzipien, haben in der formalen Gestalt von Nietzsches Wiederkunftsgedanken eine Entsprechung. Wir nennen sie die Begründungsform der Lehre, die sich zu ihrem Aufbau Kantischer Verfahrensweisen bedient: des Gedankenexperiments, apagogischer Beweise aus der Falschheit des Gegenteils einer Annahme und empirischer Argumente. Diese Verfahren dienen dem von Kant allerdings weit entfernten Versuch, neben den unsere Selbst- und Welterfahrung bedingenden Formverhältnissen des Raumes und dem endlichen Erfahrungsfaktor „Kraft“ die mit der Wiederkunftslehre verbundene Unendlichkeitsstruktur der Zeit zu klä100 Metaphysik der Sitten, II: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (1798), II. Ethische Methodenlehre, § 50, Akad. Ausg. Bd. VI, S. 478. 101 Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, 1. Buch, 1. Hauptstück, § 7; 2. Hauptstück: Von der Typik der praktischen Urteilskraft, Akad. Ausg. Bd. V, S. 30 und 69. Zur Philosophie als „Wissenschaft und Weisheit“, beides als Lehre (doctrina) mit dem subjektiven Aspekt der „Belehrung seiner selbst“, vgl. Opus postumum, Akad. Ausg. Bd. XXI, Berlin/ Leipzig 1936, S. 6ff.

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ren, die Nietzsche sonst im platonisierenden Bild vom ewigen Fluss des Werdens umschreibt. Und anlässlich der ersten Darstellung der Lehre in der ZarathustraDichtung hatte Nietzsche diese Struktur auf unser endliches Zeiterleben zurückbezogen und über das Sinnbild des Tores der Zeit und ihres Durchgangs im „Augenblick“ am Gleichnis der darin zusammenstoßenden und zugleich auseinanderlaufenden, endlosen Gassen von Vergangenheit und Zukunft veranschaulicht.102 Der Klärungsversuch ist Präludium im Sinne eines vorläufigen Denkspiels (lusus ingenii), das auf Zeiterfahrungen im Umkreis des römischen Janus-Mythos anspielt. Es gelangt nicht an sein Ziel, weil das Gleichnis dem Wiederkunftsgedanken unangemessen ist und die Begründungsgestalt den Gehalt der Lehre nur unzureichend erfasst. Hat sie doch für Nietzsche ihren Platz nicht in einem zeitlich erlebten Durchgangspunkt, sondern in der Geschichte als eine Mitte.103 Ihr mythischer Hintergrund reicht über den Horizont des römischen Zeitgotts mit den zwei Gesichtern weit hinaus. Und auch der Lehrgehalt ist reicher, als die Darstellungsform in Bildern und Gleichnissen zu erkennen gibt. Er erwächst aus Vorgestalten, die sich dem Zugriff transzendentaler oder neuzeitlich-naturwissenschaftlicher Beweisverfahren entziehen. Denn „Zeit“ ist für Nietzsche weder Anschauungsform noch Form des „inneren“ Sinnes, sondern „wirklich“, dem wirklichen Verlauf der Dinge gemäß.104 Die „wirkliche Zeit“ fließt, ohne aufzuhören; sie ist anfangslos, also „ewig“. Und sie wird von uns unsäglich viel langsamer wahrgenommen, als wir sie erleben, so wie auch für uns ein Tag sehr lang erscheint, gegen denselben Tag im Gefühl eines Insekts. Kurzum: die wirkliche Zeit ist gleichbedeutend mit dem absoluten Werden, das Nietzsche in der Sprache des neuzeitlichen Pantheismus auf die Kosmologie der Griechen zurücküberträgt, während die augenblickhaft erlebte Zeit relativ ist zur anfangenden und endenden Zeit eines Organismus von der Art des Menschen; eine spezifisch moderne Denkerfahrung, die Nietzsche durch relativistische Zeitlehren des zeitgenössischen Biologen Karl Ernst von Baer nahegebracht worden ist.105 Für uns, so hat der junge Nietzsche gedacht, ist die Erfahrung des Werdens das alltäglichste Phänomen. Aber dieses Phänomen ist im Mythos der Griechen schon einmal ausgedeutet gewesen. Um das Alltägliche beachtenswert zu finden, als ein Problem im griechischen Wortsinn des Rätsels, das über die mythische 102 Also sprach Zarathustra, III: Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, S. 197ff. 103 NF Winter 1883–1884, 24 [4], KSA 10, S. 645. 104 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [184], KSA 9, S. 513. 105 Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige? (1860), zitiert im Heraklit-Kapitel der Baseler Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen (1872), in: Philologica III, S. 174.



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Deutung hinaus Verwunderung auslöst, dazu muss der menschliche Intellekt völlig frei geworden sein.106 Er muss Saturnalien feiern: Festspiele der Freiheit und Gleichheit zu Ehren von Kronos, des ältesten griechischen Sagengotts, womit sich noch das spätantike Menschentum durch gesellige Freude und Freigebigkeit für einige kurze Tage in das goldene Zeitalter der anfangslosen Zeit zurückversetzt und sich so vom Leidensdruck an der anfangenden und endenden Lebenszeit befreit. Und mit dem Sichwundern darüber, was vor aller Augen ist, das Rätsel des Werdens, fängt die griechische Philosophie bei Anaximander und Heraklit an. Das Rätsel kehrt dann in einer unendlichen Steigerung bei den Eleaten wieder. Sie erfahren, dass unser Verstand das Werden gar nicht begreift, weshalb sie eine metaphysische Welt des Seins erschließen, worin alles vollkommen, göttlich, ewig ist.107 In beiden Anfängen, über diesen Punkt hat sich Nietzsche zuerst in seinen Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen verständigt, liegen die Keime der Wiederkunftslehre. Die pantheistische Vorgestalt der Lehre, die ihren Platz inmitten der Geschichte hat, führt über die Aufgabe einer Klärung des Verhältnisses von Augenblick und Ewigkeit hinaus auf das Problem des Lebens inmitten der Zeit, einer nicht anfangs- und endlosen Lebenszeit alles desjenigen, was ist und immer wieder sein kann, und das heißt: sich in Ewigkeit wiederholt. Nietzsche hat sein Lehrstück von der ewigen Wiederkunft die „Formel der höchsten Bejahung“108 genannt, ein Jasagen ohne Vorbehalt, zu Leid und Schuld des Lebens, ja, zu allem Fragwürdigen und Fremden unseres zeitlichen Daseins selbst. Das setzt noch weitere Lehrformeln voraus, die das Seiende im Ganzen bejahen: von anderer Warte, mit verändertem Blickpunkt, auf versetztem Niveau. So verhält es sich bei Nietzsche in der Tat. Denn dem Lehrstück geht in der gedichteten Darstellungsform seiner Philosophie die Lehre vom Übermenschen und vom Willen zur Macht vorher. Beide „begründen“ nicht die höchste Formel der Daseinsbejahung, sie begleiten und ergänzen sie. Es sind, um es so auszudrücken, hohe Formeln, die im künstlerisch inspirierten Nietzscheanismus am Anfang unseres Jahrhunderts zu Schlagworten erniedrigt und dann bald in dem Wissen des europäischen Weltbürgerkriegs politisiert worden sind. Sie scheinen von der Kantischen Begründungsform des transzendentalphilosophischen Denkens am weitesten entfernt zu sein. Und wer Nietzsche von seiner Wirkungsgeschichte her versteht, der kann sogar mit dem historischen Anschein politisch wohlmeinender Berechtigung behaupten, hier breche die Kontinuität philosophischer Überlieferung in Deutschland ab. 106 Die vorplatonischen Philosophen, § 1, Philologica III, S. 131. 107 Ebd., §§ 2–3, S. 131f. und 136ff. 108 Ecce homo: Die Geburt der Tragödie, 2, KSA 6, S. 311.

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Das ist ein historisches Fehlurteil. Es beruht darauf, dass heute kaum noch gewusst wird, was philosophisch unter der Kantischen „Formel des Sittengesetzes“ zu verstehen ist. Kant verstand darunter keinen neuen Grundsatz im Sinne eines Prinzips: als ob der Philosoph alle Welt belehren müsste, was sie ab nun zu denken und zu tun habe, wo sie doch vordem darin ganz unwissend oder im gänzlichen Irrtum gewesen sei. Sondern wie der Mathematiker eine Formel verwendet, die das, was zu tun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und ihre Lösung darum nicht verfehlen lässt,109 so gebraucht auch der Philosoph Formeln zum Zwecke begrifflicher Konzipierung hochkomplexer Erfahrungsgehalte und nötiger Abkürzungen seiner Denkverfahren. Formeln stellen nach Kant Regeln dar, deren Ausdruck zum „Muster der Nachahmung dient“110. Sie sind unentbehrlich zur Erleichterung der Übersicht bei verwickelten Handlungssituationen, wo sie vor allem dazu gebraucht werden, das „Verhältnis des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens, auszudrücken“111. Dass der Kategorische Imperativ „formal“ ist, dies besagt eben: Seine Regel oder die Subsumtion unter sie (der Fall der Regel) tut zum Inhalt der Sittlichkeit nichts hinzu, sondern sie ist der Schluss oder die Folgerung, die nur als solche „genannt“ wird: „Die Formel vermehrt nicht den Inhalt.“112 Nietzsche versteht unter einer Formel nicht nur die Regel, deren Ausdruck einer künstlerischen oder sonstigen Nachahmung als Handlungsmuster fungiert. Sondern die Kunst ist ihm selbst die Schöpferin von Formel und Regel; „Kunst“ hier verstanden als „Wille zur Überwindung des Werdens, als ‚Verewigen‘, aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im Kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend. Was alles Leben zeigt, [ist] als verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue Fixierung des Begriffs ‚Leben‘, als Wille zur Macht.“113 Im Blick auf diese Formel, die bis hin zu Heidegger kaum einmal ästhetisch, sondern stets politisch verstanden und damit am gründlichsten missverstanden worden ist, hat Nietzsche erläutert, dass Formeln Geschehnisse und Wirkungszusammenhänge auf Regeln bringen. Und mit Kant hat er festgehalten, dass wir durch Subsumtion eines Geschehens unter solche Formeln nichts zum Geschehen hinzufügen, sondern uns dadurch nur 109 Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, Anm., Akad. Bd. V, S. 8. Vgl. dazu B.-S. von Wolff-Metternich, Die Überwindung des mathematischen Erkenntnisideals. Kants Grenzbestimmung von Mathematik und Philosophie, Berlin/New York 1995, S. 76f. und 92ff. 110 Logik, Einleitung IX, Akad. Bd. IV, S. 77. 111 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt, Akad. Bd. IV, S. 35f. 112 Opus postumum, I. Conv., I. Bogen, ebd., S. 12. 113 NF Ende 1886–Frühjahr 1886, 7 [54], KSA 12, S. 313.



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die „Bezeichnung des ganzen Phänomens“ erleichtern, das Erfahrungsganze in Gedanken „abkürzen“. Aber im Unterschied zu Kant leugnet Nietzsche, dass wir zugleich ein „Gesetz“ konstatierten, um es dann am Fall der Regel zu bestätigen. Sondern wir haben mit der Formel vom Typus des „Willens zur Macht“ nur die Frage aufgestellt, woher es komme, dass hier etwas sich wiederhole. Es sei lediglich eine „Vermutung“, dass der Formel ein „Komplex von zunächst unbekannten Kräften und Kraft-Auslösungen“ entspreche, und es wäre nichts als „Mythologie“, zu denken, dass hier „Kräfte einem Gesetz gehorchen, so daß infolge ihres Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen haben“.114 Wie aus dieser Stelle hervorgeht, ist Nietzsches Begriff einer „Formel“ nicht weniger kritisch als der von Kant. Die Unterschiede lassen sich nicht verkennen, und es läge nahe, sie weiter zu vertiefen. Uns kommt es auf die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Nietzsche an; und dazu gehört, dass Kant wie Nietzsche das Ganze der Philosophie nicht nur „formelhaft“ abhandeln, sondern die Abhandlung unter abkürzenden Formeln mit demselben Namen versehen. Ich beziehe mich auf den denkwürdigen Vorgang, dass der späte Kant die Zusammenfassung der Transzendentalphilosophie in einem triadischen „System“ von Vernunftideen („Gott, die Welt und der Mensch als Person, d. i. als Wesen, das diese Begriffe vereinigt“) in immer neuen Wendungen mit dem Zarathustra-Namen in Verbindung bringt: „Zoroaster oder die Philosophie im Ganzen ihres Inbegriffs unter einem Prinzip zusammengefasst“.115 Die namentliche Bezeichnung (Zarathustra-Zoroaster) soll zunächst außer Betracht bleiben. Uns interessiert die Sache, Kants transzendentalphilosophische Ableitung der Ideen als Inbegriff menschlicher Selbst- und Welterfahrung aus dem Geist sittlicher Selbstgesetzgebung (Autonomie), die seiner Bestimmung des Gottesbegriffs innerhalb der Grenzen der bloßen (menschlichen) Vernunft zugrunde liegt. Transzendentalphilosophie ist nach dem Verständnis des späten Kant die Fortbildung dieses Ansatzes zur Lehre von der Selbstsetzung in jenem „Akt des Bewußtseins, dadurch das Subjekt seiner selbst Urheber wird und dadurch auch von dem ganzen Gegenstande der technisch-praktischen und moralischpraktischen Vernunft, in Gott alle Dinge als in Einem System zu ordnen (Zoroaster)“116. Nach Kant „schafft“ das transzendentale Bewusstsein in ein und demselben Denkakt (der weder „theoretisch“ noch „praktisch“, sondern „poietisch“ fundiert ist), jenes einheitliche Ganze (Pan) von in sich zusammenhängenden Teilinhalten unserer Erfahrung, die wir als Kosmos, Systema Mundi, Welt zu interpretieren gewohnt sind. Auf diesem höchsten Standpunkt der Transzenden114 K. Schlechta (Hrsg.), Nietzsche, Werke Bd. 3, S. 865. 115 Opus postumum, I. Conv., XII. Bogen, ebd., S. 156. 116 Ebd., VI. Bogen, S. 78.

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talphilosophie wird der Zusammenhang zwischen Gott und Welt unter dem Gesichtspunkt des menschlichen Weltbetrachters („Kosmotheoros“) thematisiert, der „die Elemente der Welterkenntnis a priori selbst schafft, aus welchem er die Weltbeschauung als zugleich Weltbewohner zimmert in der Idee“117. Kants Spätwerk folgert daraus, dass das denkende Subjekt „seine“ Welt als Gegenstand möglicher Erfahrung in Raum und Zeit hervorbringt, wobei Kant zwischen dem „Schaffen“ formaler Erkenntniselemente (wie des Formverhältnisses der Abstraktion und Repulsion bewegender Kräfte, das unser Wahrnehmen von Kraft ermöglicht) sowie der weitergehenden Erfahrungsinterpretation (wie der „Formeln“, die sie an die Hand geben) und dem „Erdichten“ (etwa einer göttlichen Allkraft der „Natur“) ausdrücklich unterscheidet.118 Ja, Kant geht am Ende sogar so weit zu fragen, ob der Gedanke (als „Vernunftidee“) eher sei als der Denker, das Licht eher als der Sehende, um beide Fragen zu verneinen: „Die Denkkraft muß vorhergehen.“ Woraus Kant dann weiter schließt, dass man vor der Vorstellung des Lichts den Begriff vom Sehen haben müsse und nicht umgekehrt, „weil das Subjektive zuvor das Objektive möglich macht (Lichtenberg)“119. Ein Argument, das in Nietzsches Ausdeutung des Prometheus-Mythos, wonach das Licht nicht von den Göttern „gestohlen“, sondern durch titanische Kraft „geschaffen“ worden sei,120 seine Entsprechung hat. Ob Nietzsche die Kantischen Gedankengänge über Lichtenberg kennengelernt hat, den Kant mehrfach zitiert und der junge Nietzsche geschätzt hat, mag hier auf sich beruhen. Im Folgenden interessiert uns der sachliche Zusammenhang, Nietzsches Nähe zu Kant, die bei aller Distanz nicht übersehen werden kann. In der Zarathustra-Dichtung erscheint das Ganze der Philosophie dreigeteilt. Die Gestalt von Nietzsches Zarathustra tritt uns im 1. Teil als Lehrer des Übermenschen entgegen, der aus Liebe zum Menschen sein Leben im Geist der Kantischen Ethik durch die eine Grundtugend der sittlichen Selbstgesetzgebung (Autonomie) überwunden hat: „Eine Tugend ist mehr Tugend, als zwei, weil sie mehr Knoten ist, an den sich das Verhängnis hängt.“121 Der Knoten, an dem das „Ich handle“ hängt, ist der Leib, das zeitliche Schicksal eines jeden von uns: Egofatum. Der 1. Teil ist Vorrede, „Proömium“ zu jenem „grosse[n] Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert“.122 Auch der Lehre 117 Ebd., III. Bogen, S. 31. 118 Ebd., IV. Bogen, S. 52f.; V. Bogen, 63. 119 Ebd., S. 69. 120 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 300, KSA 3, S. 539. 121 Also sprach Zarathustra, I, Vorrede, 4, KSA 4, S. 17. 122 Ebd., Von der schenkenden Tugend, 3, S. 102.



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vom Übermenschen liegt kein Faktum zu Grunde, sondern ein Gedanke: eine Denkmöglichkeit, die wir uns in verschiedener Weise (am Tier, am Halbgott, am Gott als bloßer Vernunftidee) veranschaulichen. Der Gedanke des Übermenschen greift auf das Geschehen des Lebens in der Welt (die Skala vom Tier zum Menschen und darüber hinaus) und die Verknotung von Schaffen und Zeugen im Ganzen der Geschlechterfolge über. Das ist das Thema des 2. Teils, worin uns Zarathustra selbst als Beispiel für die Lehre vom Übermenschen und die Schwere ihrer Verwirklichung entgegentritt. Nicht er ist der Lehrer, sondern das Leben selbst. Es lehrt ihm sein Geheimnis, den idealistisch verschwiegenen Grund ethischer Selbstgesetzgebung in dem von Nietzsche verstandenen, gesteigerten Sinn der Selbstüberwindung, die in jedem Lebendigen als Wille zur Macht am Werk ist.123 Die Grundlage dieses Lehrstücks ist, allerdings, ein Faktum, das „letzte“, worauf wir am Grunde unserer Erfahrung stoßen. Ihm entspricht alles und jedes, der Hang der Unweisen im Volk nach Herrschaft, Dienst und Hingabe an Andere wie das Wahrheitsverlangen jener wenigen Weisen, an denen sich der Machtwille im Drang zur Denkbarkeit alles Seienden äußert. Der Wille ist Ursprung und Wende aller Not,124 die Notwendigkeit eines fortwährenden Denkkampfs um die Deutung des Lebens und der ihm zuwachsenden (oder zukommenden) Macht, das heißt: seiner Steigerbarkeit durch kritische Ausscheidung abgelebter, die Welt und den Menschen verneinender Seinsdeutungen, die sich in der metaphysischen Lehre von Gott als der einzig bejahenden Seinsmacht vereinigen; eine Vereinigung, welche in dieser Grundlehre der überlieferten Metaphysik die Zeit verneint. Um die Möglichkeit ihrer Bejahung dreht sich der 3. Teil, worin Nietzsche am Leitfaden des Zarathustra-Werks vom „großen Mittag“ versucht, den Weg des Schaffenden zu Ende zu gehen.125 Es ist der Versuch, im Schaffen des Menschen „über sich hinaus“ die Lehre vom Übermenschen mit der Lehre von der Welt als „Wille zur Macht“ in der durch Kant gebahnten Richtung einer transzendentalen Theologie zusammenzuschließen, die Anthropologie und Kosmologie zu einer „Pantologie“ in sich vereinigt: der Lehre vom All der Wesen.126 Auf der Grundlage jenes von Zarathustra beschrittenen Weges fällt freilich das Resultat in unserer Sicht spärlich genug aus: „Gott ist eine Muthmaassung: aber ich will, dass euer Muthmaassen begrenzt sei in der Denkbarkeit.“ Und: „Gott ist 123 Ebd., II, Von der Selbst-Überwindung, S. 147f. 124 Ebd., III, Von alten und neuen Tafeln, 30, S. 269. 125 Vgl. KSA 4, S. 248. – Nietzsche bekennt hier, das Wort „Übermensch“ unterwegs „aufgelesen“, das heißt: dem Weg der klassisch-idealistischen Philosophie und Dichtung von Kant über Fichte, Jean Paul und Goethe bis hin zu Schelling entnommen zu haben. 126 Vgl. Opus postumum, I. Conv., Umschlag, 3. Seite, ebd., S. 6f.

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ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm und Alles, was steht, drehend.“127 Zwei Vorbegriffe der auf Denkmöglichkeiten und ihre Veranschaulichung eingeschränkten Lehre von Gott, die uns fragen lassen, ob auf diesem Hintergrund dem Schaffenden überhaupt ein Über-sich-Hinausschaffen möglich wäre? Ob sich das gezeitigte Ganze je dem Mensch und Welt zusammenschließenden Gottesgedanken fügen und zur Grundlage einer Pantologie dienen könnte? Diese Fragen stellen sich im Zusammenhang von Nietzsches erstaunlicher Anerkennung der Vergottung des Werdens im transzendentalphilosophischen Idealismus. Wer mit dem Blick der nachidealistischen Generation die ganze Geschichte der Kultur als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen betrachtet, der begreift nach Nietzsche erst, welche Genugtuung Schelling und Hegel mit ihrer Idee eines werdenden Gottes erfüllt haben muss, der Allgegenwart des Göttlichen in der Welt, das sich in den Verwandlungen und Schicksalen der Menschheit offenbart, sodass nicht alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften sei: „Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Ausblick – gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere der Geschichte herab –, an welchem eine allzuviel historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand.“128 Vom 3. Teil der ZarathustraDichtung her lässt sich die Fragestellung nicht klären, da Nietzsche dort lediglich historisch relativierbare Ansprüche des biblisch-christlichen Monotheismus auf moralische Vorzüge zugunsten des griechischen Polytheismus zurückweist, um dann zu behaupten, die Göttlichkeit des Ganzen bestehe eben darin, „daß es Götter, aber keinen Gott gibt“129. So müssen wir uns abschließend an die Ansätze zu einer philosophischen Gotteslehre im Spätwerk halten, wobei sich, zusammengefasst, etwa folgende Situation ergibt. Nach Nietzsches pantologischem Grundgedanken bestünde die einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Gottesbegriff aufrechtzuerhalten, in der Annahme, Gott nicht als „treibende Kraft“ des Weltgeschehens im Ganzen zu verstehen, sondern „als Maximal-Zustand, als eine Epoche ... Ein Punkt [...], aus dem sich ebenso sehr die Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte“.130 Ein Gedankengang, der seinen Vorläufer in Kants Frage hat, ob man sagen könne: „Diese (heutige) und dann die künftige Welt oder gibts nur eine in Epochen?“131 127 Also sprach Zarathustra, II: Auf den glückseligen Inseln, KSA 4, S. 109f. 128 Menschliches, Allzumenschliches, I. Hauptstück, 5, Aph. 238, KSA 2, S. 200. 129 Vgl. die beiden Reden: Von den Abtrünnigen und: Von alten und neuen Tafeln, Also sprach Zarathustra, III, KSA 4, S. 230 und 254. 130 NF Herbst 1887, 10 [138], KSA 12, S. 535. 131 Opus postumum, ebd., S. 70. Vgl. meinen Artikel: Epoche, Epochenbewußtsein, in: J. Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972, S. 597f.



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Seine Entfaltung führt über das dionysisch gefasste Gottesverständnis des deutschen Idealismus auf dem Weg von Goethe über Hölderlin und Hegel bis hin zum späten Schelling.132 Sie gipfelt in den spekulativ-theologischen Mutmaßungen von Nietzsches Spätwerk: „‚Gott‘ als Culminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. Aber darin kein Werth-Höhepunkt sondern nur Macht-Höhepunkte.“133 „Gott die höchste Macht – das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt – ‚die Welt‘“. Wenn Nietzsche behauptet, von solchen Mutmaßungen lägen Anzeichen vor („Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend“134), dann kann er sich ein Stück weit auf wechselseitige Annäherungen in Goethes und Hegels pantheistischer Denkweise stützen. Nietzsche verweist auf ihren „Wille[n] zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden“135, während ihm die Nähe seiner Gottesspekulationen zum späten Schelling entgeht. Und wenn er schließlich, von derselben Absicht geleitet, „Gott“ als Kulminations-Moment im Wechsel von Entgottung und Vergottung bezeichnet, so haben wir darunter zu verstehen, was dieses Wort (von neulat. culmen, der Gipfel) im kosmologischen Kontext anzeigt: den Gang der Sterne durch den Mittagskreis. In Nietzsches spekulativer Theologie bedeutet es beides zugleich, die bewegende Mitte zwischen äußerster Entgottung und ihrem augenblicklichen Umschlag zur Erwartung des kommenden Gottes, die Ankunft der Ewigkeit im „großen Mittag“ der Zeit.

Personifikationen des Gedankens oder die Lehre als Lebensform Wir haben damit einen Leitfaden zur Orientierung im Labyrinth von Nietzsches Grundlehre gefunden. Der große Mittag, das ist sein Wort für die Epiphanie des Dionysos im Kulminations-Moment von Augenblick und Ewigkeit, dem Höhepunkt der Zeit. Es ist der Kulminations-Punkt, an dem sich der anthropologische mit dem theologischen und kosmologischen Gedanken der Kantischen Pantologie berührt, der Abgrund im Menschen seinem Gipfel entgegengeht, bis beide, das schlechthin Ungleiche am Grunde, im Erscheinen des Gottes einander zugekehrt, in einem einzigen Moment „das Gleiche“ sind.

132 Vgl. M. Frank, Der kommende Gott, Frankfurt 1982, S. 188ff. 133 NF Herbst 1887, 9 [8], KSA 12, S. 343; 10 [90], ebd., S. 507f. 134 NF Herbst 1887, 10 [203], ebd., S. 581. 135 NF Herbst 1887, 9 [178], ebd., S. 443.

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Daran tut sich uns die Grundkonzeption der Zarathustra-Dichtung auf. Sie ist Präludium zu einer Gedankenfuge, worin sich die aufeinanderfolgenden Lehrstücke zu fliehen scheinen und dennoch durch ein Leitmotiv zusammengefügt sind. Und das ist die Einstimmung auf das bevorstehende Ereignis der Stunde des Mittags, das Heraufkommen jener Welt-Epoche der ewigen Wiederkunft aller Dinge, durch die kein „‚ewiger Wille‘ – will“136, sondern der zeitliche Wille sich selbst bejahen und seine Endlichkeit in unendlicher Wiederholung zu verewigen sucht. Während auf der einen Seite nach Nietzsche die Lehre vom Willen zur Macht das Geheimnis des Lebens ausspricht, spricht die Lehre von der ewigen Wiederkunft andererseits dessen Geheimnis aus. Und noch das Lehrstück vom Übermenschen empfängt durch jenen Willen seine Legitimation. Denn der Übermensch, das ist kein anderer als derjenige Mensch, der mit dem mächtigsten Gedanken ringt, um in der höchsten Aufgipfelung denkerisch verhaltenen Machtwillens sich seiner Denkbarkeit und Reichweite für das Leben am Rande des Abgrundes zu bemächtigen: „Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim – mein eigen Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufälle. [...] ich stehe jetzt vor meinem letzten Gipfel und vor dem, was mir am längsten aufgespart war. [...] Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen!“137 Dieses dramatische Ringen mit dem Gedanken, dessen Einverleibung in einem langen Denkkampf, ist das vom 1. bis zum 3. Buch durchfigurierte Thema der Zarathustra-Dichtung. Und das als Coda hinzugefügte 4. Buch hat sein Leitmotiv in Zarathustras Aufruf zu dem großen „Ringkampf um die Verwendung der Macht, welche die Menschheit repräsentiert“138. Der Wiederkunftsgedanke, so hat Nietzsche während der Vorarbeiten zur Zarathustra-Dichtung notiert, wird auch im 3. Buch nicht mitgeteilt, sondern vorbereitet.139 Um gelehrt werden zu können, verlangt er, gelebt und Tat zu werden. Er soll Kunstwerk sein im außerästhetischen Sinne dieses Wortes, platonisch gesprochen: Ergon zum Logos der Lehre. Und das ästhetische Werk der Kunst besteht zunächst und zuerst darin, die Gestalt nach dem Vorbild des fernöstlichen Weisen so zu dichten, dass sie sich in Gang und Haltung dem Wiederkunftsgedanken einlegt und ihn durch die Darstellung von Zarathustras Drama – seines Untergangs – als tragischen Gedanken bewahrheitet.140 Ob es 136 Also sprach Zarathustra, III: Vor Sonnen-Aufgang, KSA 4, S. 209. 137 Also sprach Zarathustra, III: Der Wanderer, KSA 4, S. 193f. 138 NF Herbst 1883. 16 [66], KSA 10, S. 523; Also sprach Zarathustra, IV, KSA 4, S. 297ff. 139 NF Herbst 1883, 16 [63], KSA 10, S. 520. 140 Vgl. H.-G. Gadamer, Nietzsche – der Antipode. Das Drama Zarathustras, in: Gesammelte Werke Bd. 4, Tübingen 1987, S. 448ff.



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Nietzsche im 4. Teil der Zarathustra-Dichtung wirklich gelungen ist, die SelbstÜberwindung des tragischen Helden als Vorbild zur Selbst-Überwindung der Menschheit zugunsten des Übermenschen befriedigend darzustellen, bleibe dahingestellt. Nietzsche selbst scheinen nach der Gestaltung des Ganzen der Lehre Zweifel daran gekommen zu sein, ob die ästhetische Form ihrem Gehalt genügt. Gewann er doch schon nach dem Erscheinen des 1. Teils den Eindruck, noch einmal eine platonische „Überwelt“ gedichtet und damit die ganze Konzeption „idealisiert“ zu haben.141 Dazu kommt, dass Nietzsche in seiner Ausdeutung der fortgedichteten Gestalt des Weisen als eines Gesetzgebers davon ausgeht, es sei nicht genug, die „Lehre zu bringen“, sondern der Lehrer müsse auch noch „die Menschen gewaltsam verändern, daß sie dieselbe annehmen“.142 Womit sich die Grundlehre, statt gedanklich frei errungen und bejaht zu sein, allen Zweideutigkeiten aussetzt, die dem Gewaltkonzept der Menschheitserziehung in Nietzsches Spätwerk anhaften. Das braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Für unsere Fragestellung mag es genügen, die Gegenseite ins Auge zu fassen. Nennen wir sie die Lebensform der Lehre. Und rufen wir uns zur Vorverständigung ins Gedächtnis zurück, was wir einleitend zum Gleichnis vom Baum der Lehre im Dialog des „Neuerers“ mit seinem Jünger angedeutet und dann im Abschnitt: ‚Aus der Erfahrung des Denkers‘ zu Nietzsches Verständnis der Philosophie als „heimlicher Kampf mit Gedanken-Personen“ ausgeführt haben. Wie wir wissen, schwankte Nietzsche in seinen Vorentwürfen zur Wiederkunftslehre, ob er seine Grunderfahrung an den westlichen Gestalten von Prometheus und Empedokles oder in der ZarathustraGestalt auslegen sollte, am östlichen Weisheitslehrer, der schließlich den „Neuerer“ personifiziert: als ein „Vorspiel“ besserer Spiele zur Lehre und zugleich ein „Beispiel“ für ihre Jünger, wie es in der Zarathustra-Dichtung heißt.143 Erwächst die Lehrform seiner Philosophie dem heimlichen Kampf mit Gedanken-Personen, so liegt das Geheimnis ihres Wachstums doch zuletzt in der Personifikation philosophischer Grunderfahrungen, die diese Bezeichnung verdienen. So setzen 141 Vgl. den Brief an F. Overbeck vom 22. Oktober 1883, KSB 6, S. 449. 142 NF Herbst 1883, 16 [60], KSA 10, S. 519. Vgl. zu dieser Problematik die wegweisenden Untersuchungen von W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, S. 117 ff., der die widersprüchlichen Zarathustra-Charaktere auf Eigentümlichkeiten der Idealbildung in der zweifachen Typik des Übermenschen (der „Starke“ im Gegensatz zum „Weisen“) zurückführt (Kap. 7, S. 135ff.) Mir scheinen sie darüber hinaus mit Nietzsches platonisierender Verwechslung von praktischer Politik mit Poietik im technischen Sinn der Artistenmetaphysik zusammenzuhängen, die den Bereich des Mitmenschlichen als formbares „Material“ für den Künstler-Gesetzgeber ansieht. 143 Vgl. KSA 4, S. 262.

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wir an dieser Stelle die begonnene Verständigung über das ursprüngliche Konzept der Grundlehre von einer anderen Seite her fort. Die Zarathustra-Gestalt ist nicht einfach eine dichterische Fiktion. Als gestalthafter Ausdruck der Grunderfahrung hat sie ihre verstehbaren, sinnbestimmenden Motive in Nietzsches Sehnsucht und schaffendem Willen, sich über sich hinauszuschaffen, den „Pfeil“, der er war, ins Ziel zu bringen; was ihm nur in einer selbst geschaffenen Idealfigur möglich war: „Die eigenen Mängel wurden ihm zu den Augen, mit denen er sein Ideal sah.“144 Gestaltungen der Grunderfahrung an Eindrücken historisch wirklicher Personen begegnen uns in den beiden Büchern über ‚Schopenhauer als Erzieher‘ (1874) und ‚Richard Wagner in Bayreuth‘ (1876). Sie setzen sich fort in der Figurenkomposition des Wanderers und seines Schattens. Und in den Kunstfiguren des Sängers, Ritters und freien Geistes verdichten sie sich dann zur Konfiguration des Poeten-Philosophen und Gesetzgebers, der sich in Zarathustra verkörpert. Aber an keiner dieser Darstellungen tritt rein hervor, was das personifizierte Denkverfahren der Sache nach ist: Paränese zum Gedanken, ein „Vorauswerfen des Wortes“, dem die Tat folgt. Das Verständnis der Einheit von Leben und Lehre, so behaupten wir in einem zweiten Anlauf zur Klärung dieser fundamentalen Frage, hängt also ab von der Person des Lehrers. Nietzsche bindet sie im dichterischen Vorspiel zur Wiederkunftslehre an die Zarathustra-Gestalt; eine Bindung, die von Kant am weitesten entfernt zu sein scheint. Das scheint nur so. Steht doch schon bei Kant „Zoroaster“ (gr. „Goldstern“, pers. „Zerduscht“, um 600 v. Chr.) für eine „selbständige Weisheit (sapientia originaria), die nicht adhärierend ist“, sodass Kants Spätwerk in immer neuen Wendungen die Summe der idealistischen Transzendentalphilosophie an diesen Namen des östlichen Weisheitslehrers knüpft: „Zoroaster: Das Ideal der physischen und zugleich moralisch praktischen Vernunft in Einem Sinnen-Objekt vereinigt.“145 Kant greift zum Mittel der Personifikation seines Grundgedankens, nachdem er unter dem Eindruck von Schillers ‚Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ (1795) und Schellings ‚System des transzendentalen Idealismus‘ (1800) erkennt, dass diese Vereinigung auf „das Ganze des denkenden Subjekts“ zurückführt, womit es die Transzendentalphilosophie letztlich zu tun hat.146 Es gehört zu den noch unaufgeklärten Merkwürdigkeiten der Frühgeschichte des deutschen Idealismus, dass Kant ein Bedürfnis hatte, dem Corpus seiner Philoso144 So K. Löwith, Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen, ebd., S. 106. 145 Opus postumum, Akad. Ausg. Bd. XXI, Berlin/Leipzig 1936, S. 156f (System der Schiller- und Schelling-Lektüre ebd., S. 76 und 97). 146 Vgl. E. Adickes, Kants Opus postumum, dargestellt und beurteilt, Berlin 1920, S. 742f. und 801.



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phie ein orientalisches Gewand umzulegen. Und ebenso merkwürdig muss es erscheinen, dass er dazu, wie Nietzsche, den Verfasser des ‚Zend-Avesta‘ erwählt.147 Aber am merkwürdigsten scheint uns zu sein, mit welcher Entschiedenheit Kant bei diesem Versuch, das allgemeine Prinzip der theoretischen („physischen“) und praktischen Philosophie zu einem einheitlichen Gefüge von Vernunftideen zusammenzuschließen, letztlich zur Einsicht gelangt, die strenge Transzendentalphilosophie könne in jenen Ideen nichts anderes als „Dichtungen“, das heißt: Gebilde oder Erzeugnisse der mit Abschlussgedanken oder Ideen spielenden Vernunft, sehen; womit der beim späten Kant zunächst festgehaltene Unterschied zwischen „Schaffen“ und „Erdichten“ ins Schwanken gerät, sodass sich umso nachdrücklicher die Frage nach dem Sinngehalt solcher Gedankenspiele für unser menschliches Selbst- und Weltverständnis stellt. Und im Zusammenhang dieser Fragestellung, darauf kommt es uns hier an, wird die Zeit nicht mehr nur als reine Anschauungsform, sondern dem Inhalt nach thematisiert: als dynamische Einheit von Dasein, Gewesensein und Seinwerden, die „zur Natur mithin der Welt gehört“148. Das im Namen Zoroasters gesuchte Ganze der Transzendentalphilosophie umfasst mit der möglichen Erkenntnis des Menschen von sich selbst am Leitfaden des „Ich handle“ die Erfahrungserkenntnis der Welt als wirkliches Handlungsfeld und Gott als Inbegriff des Wissens vom höchsten Gut und der höchsten Macht, das Gute in der Zeit zu bewirken. Mensch, Welt und Gott, das sind nach Kant von uns selbst geschaffene, „gedichtete“ Vernunftideen im Sinne jener kritisch umgeformten Erkenntnisgegenstände der überlieferten Ontologie, die dem materialen Anspruch der Weisheitslehre genügen, also praktisch fundiert sein müssen: „Die Idee von dem, was die menschliche Vernunft selbst aus dem Weltall macht, ist die aktive Vorstellung von Gott. Nicht als einer besonderen Persönlichkeit, Substanz außer mir, sondern Gedanke in mir ... Es ist ein Gott. Denn es ist eine Macht, die aber auch eine Verbindlichkeit für das Ganze vernünftiger Wesen bei sich führt.“149 Im ‚Opus postumum‘ deutet nichts darauf hin, dass Kant beabsichtigt hätte, Zoroaster redend auftreten zu lassen oder ihm die eigene Lehre, wie das Nietzsche getan hat, in den Mund zu legen.150 Kant interessierte weniger, dass der 147 So H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, Berlin 1911, S. 721. Kant ließ sich inspirieren von der deutschen Übersetzung des Quellenwerkes von Anquetil du Perron durch J. F. Kleuker, Zend-Avesta-Zoroasters lebendiges Wort, worin die Lehren und Meinungen von Gott, Welt, Natur und Menschen, imgleichen die Zeremonien des heiligen Dienstes der Parsen usf. enthalten sind, 3 Bde., Riga 1776ff. 148 Opus postumum, ebd., S. 87. 149 Ebd., S. 154 und 157. 150 Darauf verweist mit Recht E. Adickes, Kants Opus postumum, ebd., S. 728f.

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historische Zoroaster einen Dualismus lehrt, der im Kampf zwischen Finsternis und Licht, im Streit des „bösen“ mit dem „guten Geist“ (Ahrimann gegen Ormuzd) gründet und dadurch den Menschen zur Entscheidung auffordert. Während Kant selbst das Böse als menschliche Naturanlage und (zu wählende!) Willensmaxime verinnerlicht, gilt sein Interesse dem philosophischen Begründungsprinzip, das nur eines sein kann: jenes „allgemeine Prinzip der theoretisch spekulativen und moralisch praktischen Vernunft in einem System der Ideen beider vorgestellt“151, worin der Kategorische Imperativ in den Rang des höchsten Grundsatzes der Transzendentalphilosophie rückt. Im altehrwürdigen Namen von Zoroaster schließt sie den Ehrennamen der Weisheitslehre ein, eines Wissens vom Ganzen, das Kant, wie oben gezeigt wurde, Pantologie genannt hatte: nämlich eine Welt und Gott als ihren Erhalter zu wollen, deren universelles Gesetz der Mensch als praktisches Vernunftsubjekt durch die verallgemeinerbare Maxime seines individuellen Handelns selbst geben und sich darin bejaht finden kann. 152 Vom Wege des Schaffenden,153 davon handelt eine der Zarathustra-Vorreden in Nietzsches gleichnamigem Hauptwerk, das sich mit Denkweisen des späten Kant vielfach berührt. Wie immer man seine Darstellungsform deuten mag, und das Deutungsspektrum reicht von der modernen Gattung des Prosagedichts bis hin zu den konventionellen Gattungsformen Epos und Drama, – das Werk ist zunächst und zuerst Ideendichtung im Sinne des Kantischen Konzepts, wonach Vernunftideen wie die „Welt“, die „Seele“, der „Gott“ ursprünglich geschaffen oder gedichtet sind. „Dichten“ heißt „schaffen“, kein Erschaffen aus „nichts“, sondern Umschaffen von bereits geschaffenen, überlieferten Welt- und Gottesideen, die dadurch ihren Bedeutungskreis erweitern, Neues in älterem Licht sehen und das Alte neu verstehen lassen; ein Sehenlassen und Verstehen von Sinngehalten, die auf dem Weg des Schaffens immer anders gedeutet werden. Und es heißt, das so Gedeutete „mitzuteilen“. Die dichterische Mitteilungsform ist eine künstlerisch ausgeprägte Form des Deutens und Denkens als auslegendes Verstehen von Seinssinn. Unter diesem Aspekt könnte man schließlich Nietzsches Hauptwerk auch eine „Gedankendichtung“ nennen. Alles, was dem vorhergeht, die aphoristische Prosa von Nietzsches historisch-kritischer Philosophie auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage, wird dazu als Vorbereitung gewertet, so wie für Kant die Philosophie nach ihrem ganzen Inbegriff vom „Vorhof zur Wissenschaft“ im Namen von Zoroaster zur

151 Vgl. Opus postumum, ebd., S. 91f., 94f., 101f. 152 Ebd., S. 6. 153 Also sprach Zarathustra, I, KSA 4, S. 80f.



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Weisheitslehre weiterführen sollte.154 Es sei jedoch angemerkt, dass Nietzsche die Zarathustra-Dichtung im Gegenzug zu Kants Gedankengang als „Vorhalle“ zu einem im Spätwerk geplanten Aufbau seiner Philosophie verstanden hat.155 Was uns im nachfolgenden Vergleich mit Nietzsches Gedankengängen das Unvergleichbare verdeutlichen helfen und erklären kann, weshalb Zarathustra ein Poet mit schlechtem Gewissen ist. Gibt er doch dem Einwand Recht, der behauptet, Dichter lügen zu viel, um dann dieser Platonischen Behauptung im Geist von Kant zu entgegnen: „Wir wissen auch zu wenig und sind schlechte Lerner: so müssen wir schon lügen.“156 Wenn wir Nietzsches Vorbehalte gegenüber der Dichtung bedenken, dann wird uns verständlich, dass ihr Ziel nicht die Verkündung des Wiederkunftsgedankens, sondern die Darstellung seiner Heraufkunft im Leben des Lehrers ist. Er kämpft mit dem Gedanken, ohne je zu behaupten, dafür eine verlässliche Begründung zu besitzen. Weit davon entfernt, die Lehre über bloße Andeutungen in Bildern und Gleichnissen hinaus einmal vorzutragen, trägt Zarathustra den „mächtigsten Gedanken“ lange Zeit mit sich herum. Das ist kein Zufall. Denn seine Macht ist so übermächtig und überwältigend, dass sich dem Denken kein fester Grund bietet, im Gegenteil! Er erscheint als „abgründlichster Gedanke“, und aus dem Abgrund ruft ihn Zarathustra erst dann herauf, nachdem er seinen tragischen Grundzug erkannt hat und dazu „reif“ ist, das Gesetz zu hören, so wie sich nach Kant auch das Sittengesetz nur hörend zu verstehen gibt. Und die Darstellung der Lehre beruft sich von Anbeginn, mit der Ankündigung des tragischen Gedankens, auf die schon von Kant gesehene Aufgabe der Einverleibung der Antwort des Gesetzes durch das moralische Gefühl der Achtung und die darin ausgelöste Frageformel der typisierenden Urteilskraft, „ob die Handlung, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, ... wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest?“157. Nietzsche fasst sie in die Form der oben erwähnten Frage: „Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: ‚ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?‘, ist das größte Schwergewicht.“158 Obwohl Kants Spätwerk Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts durch Besprechungen in den ‚Neuen Preußischen Provinzialblättern‘ (3. Folge, I, 1858) und fast gleichzeitig in den ‚Preußischen Jahrbüchern‘ (I, 1858) bekannt 154 Opus postumum, ebd., S. 5. 155 Vgl. Brief an F. Overbeck vom 7. April 1884, KSB 6, S. 496. 156 Also sprach Zarathustra, II: Von den Dichtern, KSA 4, S. 164. 157 Kritik der praktischen Vernunft, I. Buch, 2. Hauptstück, Akad. V, S. 70. 158 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [143], KSA 9, S. 496.

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wird,159 lässt sich ein möglicher Einfluss dieses Werkes auf den jungen Nietzsche nicht nachweisen. Das gilt auch für den literarisch stilisierten Bericht über den Besuch eines fernöstlichen Weisen bei dem Propheten „Zarathustra oder Zoroaster“ in Emersons ‚Essays‘, aus denen der Pfortenser Schüler einen kurzen Auszug für seine Freunde zu edieren plante.160 Die frühesten Zeugnisse für Nietzsches Kenntnis des Namens „Zoroaster“ stammen aus dem Umkreis der Quellenstudien zu Diogenes Laertius und der Demokrit-Arbeiten während der Leipziger Studentenzeit (1867–68).161 Da der Name zusammen mit dem von Heraklit im Gegenüber zur morgenländischen Weisheit am Beginn des Manuskripts über ‚Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ (1873) auftaucht,162 ist nicht ausgeschlossen, dass Nietzsche auch jene bei Aristoxenos erzählte Geschichte gekannt hat, wonach Pythagoras Zaratos (= Zoroaster) in Babylon besucht hätte.163 Jedenfalls erwähnen noch die Baseler Vorlesungen zur ‚Geschichte der griechischen Literatur‘ (1874/75) den Bericht über einen der Aristotelischen Frühdialoge, wonach ein Magus Zoroaster nach Athen kommt und „mit Sokrates sich unterredet, ihm ein gewaltsames Ende vorhersagt“164. Es ist die abendländisch-westliche Perspektive der Begegnung zwischen Okzident und Orient, die Emerson aus östlich-asiatischer Perspektive beschreibt. Beide Perspektiven und ihre literarisch höchst unterschiedlichen Traditionen sind in die Zarathustra-Dichtung eingearbeitet. Das Konzept hält sich zunächst an die dem Orient fremde Form der Tragödie. Sie hatte schon der junge Nietzsche unter dem Eindruck von Hölderlins Empedokles-Fragment aufgegriffen, um ein Philosophen-Drama zu skizzieren, das im 1. Akt mit dem Sturz des „großen Pan“ beginnt und nach vergeblichen Heilungsversuchen des dadurch aufgegan159 Vgl. E. Adickes, Kants Opus postumum, Berlin 1920, S. 9f. 160 Autobiographisches aus dem Jahre 1862, in: K. Schlechta (Hrsg.), Nietzsche, Werke Bd. 3, S. 107. 161 Philologica III, S. 351f., sowie Werke und Briefe Bd. 4: Schriften der Studenten- und Militärzeit 1866–1868. Schriften der letzten Leipziger Zeit 1868, hrsg. v. H. J. Mette und K. Schlechta, München 1937, S. 22f. In diesem Punkt ist der Aufsatz von M. Montinari, Zarathustra vor ‚Also sprach Zarathustra‘ (1981), zu berichtigen, der das früheste Zeugnis auf das Jahr 1870/71 datiert. Vgl. Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, S. 79ff., ferner H. Cancik, Nietzsches Antike, Stuttgart-Weimar 1995, S. 71. 162 Vgl. KSA 1, S. 806 sowie die Baseler Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen, in: Philologica III, S. 127. 163 Diels/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 14, B 11. Vgl. auch Nietzsches Erwähnung der Varianten dieser Reisephantasien in: Geschichte der griechischen Literatur, Philologica II, S. 80. 164 Geschichte der griechischen Literatur. Erster und zweiter Teil (Winter 1874/75 und Sommer 1875), Philologica II, S. 80, mit Verweisen auf Herakleides’ Dialog ‚Zoroaster‘, der zum Tyrannen Gelon kommt, und andere Versionen west-östlicher Begegnungen (ebd.).



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genen „Menschenwehs“ auf dem Weg der Kunst und Wissenschaft mit Empedokles’ Verkündung der „Wahrheit der Wiedergeburt“ endet.165 Die Skizze lässt sich am frühesten Grundriss der Zarathustra-Dichtung wiedererkennen.166 Sie wird aber dann bald überlagert durch östliche Literaturformen, von Anklängen an indisch-persische Weisheitssprüche bis hin zu Übernahmen alttestamentlicher Prophetensprache und Anlehnungen an Erzählsituationen aus dem Neuen Testament. Die Mischform des Ganzen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mitteilung der Lehre in den Reden Zarathustras der griechischen Literaturgattung des Lehrgedichts folgt und ähnlich streng komponiert ist wie Parmenides’ Gedicht ‚Über die Natur‘. Für Emersons Umkehr der okzidentalen Sicht auf den Orient hat sich Nietzsche nachweislich während der Inkubationszeit des Wiederkunftsgedankens interessiert,167 als er die ‚Essays‘ erneut zur Hand nimmt und die entscheidende Passage mit dem Ausruf: „Das ist es“ markiert. Um einen Eindruck von der angedeuteten Vielschichtigkeit des Stils der Zarathustra-Dichtung zu geben, zitiere ich abschließend die dazugehörige Textpassage: „Die glaubwürdigsten Bilder scheinen uns die von großen Menschen zu sein, die bei ihrem ersten Erscheinen schon die Oberhand hatten und die Sinne überführten; wie es dem morgenländischen Weisen erging, der gesandt war, die Verdienste des Zarathustra oder Zoroaster zu erproben. Als der Weise von Yunnan in Balk ankam, so erzählen uns die Perser, setzte Gustasp einen Tag an, an dem die Mobeds eines jeden Landes sich versammeln sollten, und ein goldener Stuhl wurde für den Weisen aus Yunnan in Bereitschaft gehalten. Darauf trat der allgemein geliebte Yezdam, der Prophet Zarathustra in die Mitte der Versammlung. Der Weise von Yunnan sagte, als er jenes Oberhaupt erblickte: ‚Diese Gestalt und dieser Gang und Haltung können nicht lügen, und nichts als die Wahrheit kann daraus hervorgehen.‘“168

165 NF September 1870–Januar 1871, 5 [116–118], KSA 7, S. 125f. 166 Vgl. NF Herbst 1883, 16 [3], KSA 10, S. 495f. 167 NF Herbst 1881, 12 [68], KSA 9, S. 588. 168 R. W. Emerson, Versuche (Essays). Übers. von G. Fabricius, Hannover 1858, S. 361. Vgl. dazu E. Abegg, Nietzsches Zarathustra und der Prophet des alten Iran, in: Nietzsche. Conférences prononcées à Genève sous les auspices de la Fondation Gretler. A l’occasion du premier Centenaire de la Naissance de Nietzsche, Erlenbach-Zürich 1945, S. 64ff.

III. Zwischen den Zeiten Janus, der Gott mit den zwei Gesichtern, oder die Wiederkunft des Ungleichen Nach dem Erscheinen des 1. Teils der Zarathustra-Dichtung im Frühjahr 1883 teilt Nietzsche seinen Freunden mit, er habe „das Kunststück (und die Torheit)“ begangen, die Kommentare eher zu schreiben als jenen Text: „Versprochen ist Alles schon in ,Schopenhauer als Erzieher‘, es war aber ein gutes Stück Weg von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ bis zum ‚Übermenschen‘ zu machen. Wenn Sie jetzt einen Augenblick an die ‚fröhliche Wissenschaft‘ zurückdenken wollen, so werden Sie lachen, mit welcher Sicherheit, ja impudentia darin die bevorstehende Geburt ‚annonciert‘ wird.“169 Verknüpfen wir die Vorspiele zur ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ mit dem hier apostrophierten Versprechen am Ausgang der ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘, dann ist kein Zweifel, dass sich Nietzsches Hinweis auf das Ganze seiner Philosophie bezieht. Denn das im Schopenhauer-Buch Versprochene betrifft nicht nur die Fortgestaltung jenes Ideals der Weimarer Klassik zum „Menschen“, an dem allein der Natur gelegen sei (als einem „Etwas, das hoch über uns steht“).170 Es gilt mehr noch dem Idealbild eines künftigen Lehrers der Weisheit, der das zeitgenössische Menschentum ermahnt, nach dem Verlust des Maßstabs der Ewigkeit durch das neuzeitliche Ereignis vom „Tode Gottes“ nicht von Tag zu Tag zu leben und jener historizistischen Scheinlehre vom ewig neuen Werden zu verfallen, die den Einzelnen nach allen Winden der Vergangenheit zerstreut und ihn daran hindert, die Lektion des Lebens zu lernen. Wie Platon an Sokrates, so wirft Nietzsche zuerst an Schopenhauer voraus, was er dann in Worten über die gedichteten Lebensformen des freien Geistes und ihre Verdichtung zur Zarathustra-Gestalt durch die Tat eingeholt weiß.171 Eine Praxis, von der Nietzsche bekennt, er habe danach zu leben versucht. Aber zugleich ist es eine künstlerisch hochstilisierte Form versteckter Einweihung in seine Lehre: Ermahnung zur Philosophie auf Umwegen (exhortatio indirecta), die ohne eigenes Zureden zum großen Denkkampf mit der Zeit aufruft und von verschiedenen Richtungen her an den Wiederkunftsgedanken heranführt. Davon soll im Folgenden die Rede sein. 169 An Heinrich Köselitz vom 21. April 1883, KSB 6, S. 364. Vgl. auch an Malwida von Meysenbug vom 20. April 1883, ebd., S. 363f. 170 Schopenhauer als Erzieher, 5, KSA 1, S. 378. 171 Vgl. Brief an Heinrich Köselitz Ende August 1881, KSB 6, S. 122f.



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Sein Versprechen gehalten zu haben und auf Umwegen ans Ziel gekommen zu sein, dieses hochgemute Bewusstsein des Philosophen Nietzsche erfüllt das 4. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Es setzt mit einem lyrischen Vorspiel ein: Der du mit dem Flammenspeere Meiner Seele Eis zertheilt, Dass sie brausend nun zum Meere Ihrer höchsten Hoffnung eilt: Heller stets und stets gesunder, Frei im liebevollsten Muss: – Also preist sie deine Wunder, Schönster Januarius!172

Dieser Vers, schreibt Nietzsche im Rückblick von ‚Ecce homo‘, „welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar ausdrückt, den ich erlebt habe – das ganze Buch ist sein Geschenk – verräth zur Genüge, aus welcher Tiefe heraus hier die ‚Wissenschaft‘ fröhlich geworden ist“173. Das Buch scheint mit seiner Überschrift auf den Namen des christlichen Märtyrers aus dem 4. Jahrhundert anzuspielen, den Nietzsche gelegentlich erwähnt. Das scheint nur so, denn der „schönste Januarius“ ist nicht der „heilige“, jener Schutzheilige aus dem Kirchenkalender, der im 4. Jahrhundert n. Chr. sein Blut für den Glauben vergoss.174 In Wahrheit ist das 4. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ Janus gewidmet, dem römischen Zeitgott, von dem sich (mit einiger Wahrscheinlichkeit) unser Monatsname herleitet (nach dem altrömischen Kalender der 11., seit Cäsars Kalenderreform der 1. Monat des Jahres). Janus ist Schutzgott öffentlicher Tore und Durchgänge, der bei den Römern zugleich der Gott allen Anfangs ist und in allen kultischen Gebeten an erster Stelle genannt wird. Und er ist der altrömische Namenspatron für die Zeit „zwischen“ den Zeiten, für Monatseingänge wie Übergänge vom alten zum neuen Jahr. Auf verborgene Tiefen jener Zwischenzeiten spielt der gleichlautende Aphorismus (276) am Eingang des Buches an: „Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief [...] Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den 172 KSA 3, S. 521. 173 Ecce homo, KSA 6, S. 333. 174 Vgl. NF Winter 1880–81, 8 [9], wo Nietzsche den Sachverhalt in dürren Worten anspricht: „Ob man nun an das Mitleid als Wunder und Quelle der Erkenntniß glaubt oder an das Blut des heiligen Januarius: ich meine dann immer noch in einem halb wahnsinnigen Zeitalter zu leben“ (KSA 9, S. 385).

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Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung. Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein.“175 Amor fati ist Nietzsches Formel für die Bejahung des Grundgedankens der ewigen Wiederkunft. Der Gedanke soll das neuzeitliche Menschentum aus der Sackgasse seiner eindimensionalen, von der dunklen Vergangenheit her in eine immer lichtere Zukunft führenden Geschichtsauffassung herausführen und dem großen Ziel einer neuen Aufklärung dienen, die mehr Klarheit über die Tiefenund Höhenwege des Lebens bringt. Jene Erwartung beherrscht unterschwellig schon den Weg des „historischen Philosophierens“, der im 1. Buch von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ mit dem Bekenntnis zum Fatum anhebt: „Alles ist Nothwendigkeit, – so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld.“176 Es ist die Unschuld des Werdens, „jenseits von Gut und Böse“, die dem historisch Erkennenden jene Grunderfahrung bezeugt: „Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: – aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele hin.“177 Wie es zu bestimmen wäre, deutet Nietzsche in dem Aphorismus: ,Kreislauf des Menschentums‘ (247) an: Denkbar sei, dass die ganze Menschheit vielleicht nur die Entwicklungsphase einer bestimmten Tierart von begrenzter Dauer darstellt, sodass der genetisch mit dem Affen verwandte Mensch wieder zum Affen werden könnte, wobei niemand an diesem „verwunderlichen Komödienausgang“ irgend ein Interesse nehmen würde. Nietzsche gewahrt im Blick auf die erste (dogmatische) Aufklärung die Gefahr einer Vertierung der Menschengeschichte und zieht die perspektivisch gebrochenen Linien vom Kulturverfall der Gegenwart zur Vergangenheit hin aus: Wie mit dem Verfall der römischen Kultur und seiner wichtigsten Ursache, der Ausbreitung des Christentums, eine allgemeine „Verhässlichung“ des Menschen eintrat, so könnte dem einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdkultur eine höher gesteigerte Verhässlichung bis hin zur menschlichen Vertierung folgen. Daher das Ziel einer zweiten Aufklärung, die Verwandlung der „moralischen“ in eine „weise Menschheit“ als philosophische Aufgabe: „Gerade weil wir diese Perspective in’s Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.“178 175 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 276, KSA 3, S. 521. 176 Menschliches, Allzumenschliches, I 2, Aph. 107, KSA 2, S. 105. 177 Ebd. 178 Menschliches, Allzumenschliches, I 5, Aph. 247, KSA 2, S. 206.



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Nietzsche variiert das alte Thema seiner Kunstmetaphysik, die Hoffnung auf eine Erneuerung der europäischen Kultur im Rückgang auf vorchristlich-vorrömische Zeitvorstellungen. Dazu benutzt er die Mittel der Wissenschaft und Historie, ihr „vorsichtiges Spiel“ mit Wahrscheinlichkeiten und Abwägungen (den Wagschalen: „Einerseits – Andererseits“), das im Gang durch die Wüste der Vergangenheit auf die gegenwärtigen Kulturumstände stößt und darin dem Erkennenden selbst begegnet, der in Versuch und Irrtum, Erwartung und Enttäuschung das Kommende zu „erspähen“ sucht. „Du hast es in der Hand“, so redet Nietzsche den freien Geist jener neuen Aufklärung an, der die zur „Leidenschaft“ gewordene Erkenntnis personifiziert, „zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnungen, in deinem Ziele ohne Rest aufgehen. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schließen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden.“179 In Anspielungen dieser Art deutet sich von ferne die Konzeption einer neuen Grundlehre an, die über die Grenzen des Zeitalters der ersten („wissenschaftlichen“) Aufklärung hinausweist. Das gesuchte Ziel ist immer ein Erkenntnisziel, denn die Entwicklung des Menschentums auf der Erde schreitet weder voran noch kulminiert sie in einem Ende der Geschichte. Es gibt „keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am End ihrer ‚Erdenbahn‘ zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her [...]“.180 Das Ziel der Erkenntnis ist kein Geschichtsziel. Würde beides, gemäß dem Projekt neuzeitlicher Aufklärungsphilosophie, zusammenfallen, dann gäbe es keine Hoffnung, das europäische Menschentum aus seiner Sackgasse herauszuführen. Dann müsste die Erkenntnis, statt sich vom „Allzumenschlichen“ solcher Aufklärungsziele wie dem menschlichen Glücksstreben oder der maximalen Bedürfnisbefriedigung loszureißen und vielleicht einmal in Kontakt mit den Bewohnern anderer Sterne wie eine Flut-Welle immer höher zu steigen,181 für immer ein Mittel der Naturbeherrschung und Lenkung des Geschichtsprozesses bleiben. Und dann wäre das Symbol der Hoffnung

179 Ebd., 5, Aph. 292, S. 236f. 180 Morgenröte, 1. Buch, Aph. 49, KSA 3, S. 54. 181 Ebd., Aph. 45, S. 52f.

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kein Meer, sondern allenfalls das trübe Rinnsal oder, wie bei den Griechen, der Bodensatz im Fass der Übel.182 Vom Meer der höchsten Hoffnung, davon spricht das Vorspiel zum 4. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Es hat sein Pendant in dem Aphorismus: ‚Vorspiele der Wissenschaft‘ (300), der ihre Mittel und damit den methodischen Gebrauch der Historie für die angestrebte Philosophie einer „zweiten“ Aufklärung relativiert. Im Gegensatz zum modernen Aufklärungszeitalter, so nimmt Nietzsche hypothetisch an, könnte vielleicht einmal einem fernen Zeitalter die Religion als Vorspiel zu einer Vorübung des Menschentums erscheinen: als Mittel für einzelne Menschen, um die „ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der Selbsterlösung geniessen zu können“183. Im Horizont der so konzipierten Mythologie, die Nietzsche fragen lässt, ob denn ohne sie der Mensch „nach sich Hunger und Durst zu spüren und aus sich Sattheit und Fülle zu nehmen“ gewusst hätte,184 interpretieren wir die Sprache der Hoffnung im ,Sanctus Januarius‘. Wir beginnen mit dem dichterischen Vorspiel. Seine Symbolsprache erschließt uns ein Hinweis in Nietzsches Vorlesung über ,Altertümer des religiösen Kultus der Griechen‘ (1875/76), wonach Speere, Szepter, Lanzen in die ältesten Zeiten des Bilderdienstes (bei Griechen und Römern) gehören, bildlicher Ausdruck einer einzelnen Potenz sind, der die Gottheit inhäriere. So gilt der Speer als „heilige[r] Schirm- und Schutzgott, bei dem man schwört: das älteste γαλµα des Mars z. B. in Rom: seine automatische Bewegung verkündete Krieg, ihn schwang der flamen des Mars, wenn Rom das Heer zum Abzug rüstete, mit den Worten ‚Mars vigila‘“.185 Keine kultische Handlung kann bei Griechen und Römern ohne geweihte Flamme vollzogen werden, daher der Gebrauch von Kerzen, Lampen, Fackeln bei Opfern, festlichen Mahlzeiten, Umzügen. „Dem Römer“, merkt Nietzsche an, „war die Flamme jedes Lichtes so heilig, dass er dieselbe niemals auslöschte, sondern von selbst ausbrennen liess: denn alles Feuer ist dem olympischen Gottesfeuer entlehnt.“186 Seine Nachbildung im Tempelfeuer zu Ehren des Gottes zeigt sich nach Nietzsche „in ganzer Grösse, wenn man annahm, es verkünde sein Erlöschen den Hinweggang oder Tod der Gottheit, die Wiederentzündung zeige Rückkehr und Wiedergeburt an“187. Mit einem Wort: Das lyrische Vorspiel ist an seinem Grunde ein Gedankenspiel mit dem Mythos der Zeit. Und wie genau Nietzsche auch hier Dichten 182 Menschliches, Allzumenschliches, I 2, Aph. 71, KSA 2, S. 82. 183 Die Fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 300, KSA 3, S. 539. 184 Ebd. 185 Vgl. Der Gottesdienst der Griechen: Altertümer des religiösen Kultus der Griechen, (Baseler Vorlesungen, Winter 1875/76), in: Philologica III, S. 71 und 122f. 186 Ebd., S. 122. 187 Ebd., S. 123.



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und Denken aufeinander abstimmt und das angeschlagene Thema kontrapunktisch figuriert, das zeigen die Anspielungen auf den Wiederkunftsgedanken im Kontext des „Sanctus Januarius“ der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Es ist eben jener Gedanke, den Nietzsche als eine „unvermeidliche Hypothese“ einführt, auf die das Menschentum immer wieder verfallen muss (Aph. 133). Warum? Weil er sich auf die Dauer doch mächtiger erweist als der „bestgeglaubte Glauben an etwas Unwahres (gleich dem christlichen Glauben). Auf die Dauer: das heisst hier auf hunderttausend Jahre hin.“188 Seine Mächtigkeit zeigt sich dem Philosophen Nietzsche an dem Phänomen, dass die meisten unter den Mitlebenden dem Denken an den Tod aus dem Weg gehen; was in Nietzsche den Wunsch verstärkt, „ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu machen“ (Aph. 278). In dieser Absicht hält er Ausschau nach „vorbereitenden Menschen“ (Aph. 283); einer künftigen Generation, die einmal das große Gedankenexperiment mit der Zeit wagen werde, um im Geiste leidenschaftlicher Erkenntnis die Hand nach der ihr gebührenden Herrschaft über die Erde auszustrecken, der Erde Licht zu bringen, und das heißt für den Lichtbringer: „das Licht der Erde“ zu sein (Aph. 293). Die zahlreichen Anspielungen auf den Wiederkunftsgedanken (wir haben nur einige wenige erwähnt) gipfeln in dem Wortspiel „Wille und Welle“ (Aph. 310), das den Gedanken selbst am Anblick der ewig hin- und herwogenden Meeresbewegung veranschaulicht: „Wie gierig kommt diese Welle heran, als ob es Etwas zu erreichen gälte! Wie kriecht sie mit furchterregender Hast in die innersten Winkel des felsigen Geklüftes hinein. Es scheint, sie will Jemandem zuvorkommen [...] Und nun kommt sie zurück, etwas langsamer, immer noch ganz weiss vor Erregung, – ist sie enttäuscht? [...] Aber schon naht eine andere Welle.“189 Ein Gleichnis für die Wiederkunft des Ungleichen: Keine Welle gleicht der anderen, alle rollen allen voraus oder jede einer jeden hinterher. Und ein Vergleich zwischen innerer und äußerer Welt, des Lebens der „Wollenden“ mit den Wellenbewegungen des Meeres und seiner Gezeiten; ein Augenblick, der am ewigen Vorwärts und Zurück die menschlich gedeutete Welt „zwischen“ den Zeiten versinken und die Zeit selbst als ihr Geheimnis erscheinen lässt: „Wahrlich, schon ist nichts mehr von der Welt übrig, als grüne Dämmerung und grüne Blitze. Treibt es wie ihr wollt, ihr Übermüthigen, brüllt vor Lust und Bosheit – oder taucht wieder hinunter, schüttet eure Smaragden hinab in die tiefste Tiefe, werft euer unendliches weisses Gezottel von Schaum und Gischt darüber weg – es ist mir Alles recht [...] Denn – hört es wohl! – ich kenne euch und euer 188 Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, Aph. 133, KSA 3, S. 485. 189 Ebd., 4. Buch, Aph. 310, S. 546.

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Geheimniss, ich kenne euer Geschlecht! Ihr und ich, wir sind ja aus Einem Geschlecht! – Ihr und ich, wir haben ja ein Geheimniss.“190 Es ist das Vorgesicht des Einsamen, dem am Spiel der Meereswellen für einen Augenblick das Gesicht von Dionysos entgegenscheint, des Gezeiten-Gottes, der vom Meer herkommt. Darüber wird noch zu sprechen sein. Dem Gesicht geht der Aphorismus: ,Aus der siebenten Einsamkeit‘ (309) voraus, die Klage des Wanderers über den Hang und Drang zum Wahren und Wirklichen, zu den unscheinbaren und gewissen Dingen. Wir kennen sie aus Nietzsches Gesprächen mit seinem Schatten, den das Leben auf der Suche nach dem WahrhaftWirklichen und Gewissen wirft.191 Indem der Wanderer jetzt den Weg wie die alte Sonne der Erkenntnis und den langen Schatten hinter sich lässt, weiß er sich in seiner Einsamkeit in einem großen Bild dem Janusgesicht des Gottes konfrontiert, der Abschied nehmen und im Moment der Trennung nach einem Halt verlangen lässt: „Wie Vieles verführt mich nicht, zu verweilen! Es giebt überall Gärten Armidens für mich: und daher immer neue Losreissungen und neue Bitternisse des Herzens! Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss: und weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick, – weil es mich nicht halten konnte!“192 Nietzsche spielt auf Tassos Erzählung im ‚Befreiten Jerusalem‘ an, wonach die Gärten der Armida (also der mit Amors Pfeilen Bewaffneten) jenseits der Säulen des Herkules liegen, auf einem von ewigem Schnee umgürteten Inselberg im Meer, an dessen Gipfel ewiger Frühling herrscht: Hier ist das Ziel der Welt, hier wohnt Erlösung Von ihrer Mühsal und Gefühl der Wonne, Die einst die frühe Menschheit, die kein Zügel Behinderte, im goldenen Alter fühlte.193

Nietzsche mag das Buch während der Inkubationszeit des ‚Sanctus Januarius‘ im Genueser Winter 1881/82 zur Hand gehabt und daraus Anregungen für die Gestaltung des Wiederkunftsgedankens in der Zarathustra-Dichtung empfangen haben. Ich denke an die Tier-Symbole: Eine Schlange bewacht „Armidens Gärten“ am Fuß, ein Löwe auf der Höhe des Inselberges. Und daneben erinnert auch die Garten-Symbolik im 3. Teil von Nietzsches ‚Zarathustra‘ („Tritt hinaus 190 Ebd. 191 Menschliches, Allzumenschliches, 2. Abteilung: Der Wanderer und sein Schatten, KSA 2, S. 537ff. 192 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 309, KSA 3, S. 545f. 193 Das befreite Jerusalem, XVI. Gesang. In: Werke und Briefe, übersetzt von E. Staiger, München 1978, S. 533f. Ich danke dem Freund Karl Bertau für Erklärungen und Hinweise.



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aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten [...]“194) an Tassos Beschreibung des Zaubergartens der Armida: Rund ist der Prachtbau, im geheimsten Innern Das gleichsam seines Kreises Mitte bildet Befindet sich ein Garten, herrlicher Als die zu höchstem Ruhme jemals blühten.195

Ich denke aber auch an das Motiv der Schifffahrt. Teilt doch der Wanderer sein Gesicht der Wiederkunft zuerst den Schiffsleuten mit, „kühnen Suchern, Versuchern und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffe“. Das Vorspiel zu dieser Mitteilung ist Nietzsches Columbus-Gedicht, das in der Vorfassung mit der dialogischen Anrede beginnt: Freundin – sprach Columbus – traue Keinem Genuesen mehr! Immer starrt er in das Blaue, Fernstes zieht ihn allzusehr!196

In verwandelter Form („Dorthin – will ich, und ich traue / Mir fortan und meinem Griff ...“) findet das Gedicht Eingang in die Coda zur ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Und die Vorlage auch zu diesem lyrischen Nachspiel hat Nietzsche, wie es scheint, in Amintas Vorhersage gefunden, wonach „ein Genuese als erster Mensch der Fahrt ins Ungewisse sich erkühnen“ werde,197 mit den anschließenden Verszeilen eines Dialogs, der von ferne auf den Dionysosmythos anspielt: „Du wirst, Columbus, neuen Breiten zu / So ferne die beglückten Segel spannen / Daß Fama kaum, die tausend Augen hat / Und Schwingen, mit dem Blick dem Fluge folgt. / Sie singe Bacchus, Herkules ...“198

Vermenschlichung der Geschichte Unter den vielen Anspielungen auf den Wiederkunftsgedanken im Umkreis des Sanctus Januarius ragt ein Aphorismus heraus, der den Gedanken zum ersten 194 Also sprach Zarathustra, 3. Teil, KSA 4, S. 271f. 195 Das befreite Jerusalem, ebd., S. 534. 196 NF Sommer–Herbst 1882, 3 [4], KSA 10, S. 108. 197 Das befreite Jerusalem, XV. Gesang, ebd., S. 524. 198 Ebd., S. 525.

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Mal ausdrücklich formuliert. Er trägt die Überschrift: ,Excelsior‘, (von lat. excelsus, „hoch“, „erhaben“), die von H. W. Longfellows gleichnamigem Gedicht angeregt worden sein mag. Nietzsche kannte und bewunderte das Gedicht des amerikanischen Lyrikers, der die von ihm am höchsten geschätzte Tugend menschlicher Selbstüberwindung am Beispiel eines Gebirgswanderers verkläre, der mit diesem wahren Wort auf den Lippen („Höher hinauf!“) abstürzt. Nietzsche fand daran seine Grundhaltung und den Wahlspruch („Scopus mens est excelsior“) bestätigt, der seit langem der seinige war: „Ich verehre [...] nur Eins stündlich und täglich, die moralische Befreiung und Insubordination und hasse alles Matt- und Skeptischwerden. Durch die tägliche Noth sich und andre höher heben, mit der Idee der Reinheit vor den Augen, immer als ein excelsior – so wünsche ich mein und meiner Freunde Leben.“199 Nietzsche gibt jedoch dem Spruch eine andere Richtung, indem er ihn auf den neutestamentlichen Satz: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden“ (Lukas 2, 14) und seinen alttestamentarischen Hintergrund bezieht, jenes Wissen um eine übermenschliche, göttliche, letzte Weisheit, die „höher denn der Himmel“ ist und „tiefer denn die Hölle“ (Hiob 11, 7–9); ein Gottvertrauen, das Menschen wie Hiob in ihrem Kampf mit Gott Entsagung und Ergebung in den allmächtigen Willen anrät. Nietzsches Aphorismus Excelsior umspielt den neutestamentlichen Satz auf dem Hintergrund der bislang unbekannten Entsagung des neuzeitlichen Menschentums, das nach dem Tode Gottes ohne Vertrauen auf eine letzte Weisheit, Güte, Macht zur Abschirmung seiner Gedanken, ohne Wächter und Freund im Weltall existiert. Im Stil strengster Punktierkunst redet der ungenannte Lehrer den künftigen Jünger an, durch nichts als den Gedankenstrich unterbrochen, Satz für Satz das Tempo steigernd, bis er das Finale erreicht: „[...] du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge [...] – es giebt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es giebt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgendeinen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden.“200 Der Schlusssatz ist zumeist als Ausdruck von Nietzsches vermeintlichem „Militarismus“ verstanden, aber damit gründlich missverstanden und auf das ideologische Niveau des Kampfes der Weltbürgerkriegsparteien in unserem Jahrhundert herabgezogen worden. In Wahrheit ist er eine verrätselte Notation zur 199 Brief an H. Romundt vom 15. April 1876, KSB 5, S. 154. Vgl. auch Brief an E. Rohde vom 14. April 1876, ebd., S. 150. 200 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 285, KSA 3, S. 527f. – Den Hinweis auf das Buch Hiob verdanke ich dem Erlanger Musikologen Fritz Reckow.



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Wiederkunftslehre, die einerseits dem Gedankenkreis der „siebenten Einsamkeit“ angehört, dem Zauberwesen von Armida, das den philosophischen Wanderer in einem letzten Garten-Frieden festzuhalten sucht. Und andererseits verweist sie auf Janus, der als Vorsteher des Jahres und Gott mit den zwei Torbögen über Krieg und Frieden gebietet, folglich das Ganze der Zeit umfasst und darüber hinaus den Frieden durch Schließung eines Bogens symbolisiert: als wäre der Krieg „eingeschlossen“.201 Die Gärten der Armida, das will der doppeldeutige Vergleich sagen, gibt es überall: eingehegt und für den offen, der sie sucht. Wer durch sie geht, wird den Frieden genießen, um ihn wieder zu verlassen, so wie die Zeit am Torweg von Janus hindurchgeht. Im Durchgang wird er zu demjenigen, der er immer schon ist: zur Verkörperung von Gegensätzen, die sein leibhaft erfahrenes Leben selbst sind, so wie es Nietzsche am Vorentwurf der Lehre vom ,Übermenschen‘ in der ,Fröhlichen Wissenschaft‘ andeutet und im 1. Teil der Zarathustra-Dichtung entfaltet: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt.“202 Und im Gang über sich hinaus wird er dann am ewig wiederkehrenden Leben in seiner Gegensätzlichkeit erfahren, was Geschichte selbst ist: die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden. Um diese Erfahrung in sich wachsen und reifen zu lassen, muss der geschichtlich über sich selbst belehrte Mensch alle politischen Vorstellungen vom „Krieg für das Vaterland“ ablegen, in denen seine Zeitgenossen die „Erlaubnis“ zu haben glauben, „ihrem Ziele auszuweichen“, – auf einem Umweg zum Selbstmord, mit „gutem Gewissen“ vollbracht. Und damit er das geschichtliche Geschehen an seinem Grunde verstehen lerne, muss er sich mit dem Philosophen Nietzsche sagen: „Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst. Lebe unwissend über Das, was deinem Zeitalter das Wichtigste dünkt! Lege zwischen dich und heute wenigstens die Haut von drei Jahrhunderten! Und das Geschrei von heute, der Lärm der Kriege und Revolutionen, soll dir ein Gemurmel sein!“203 Es ist, noch einmal, der Standpunkt jener ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘, auf den Nietzsche sich verlassen hat, der sich auf dem Weg zur Wiederkunftslehre auf höherer Stufe wiederholt. „Im Verborgenen leben!“, das ist der Wahlspruch Epikurs und der griechischen Philosophen vor ihm bis zurück zu Heraklit. Nietzsche benutzt den historisch distanzierten Blick der klassischen Altertumsstudien auf gewesene Lebensmöglichkeiten des Rückzugs vom „Heutigen“, sei es im Epikureischen Garten oder auf dem Tempelberg des Heraklit, 201 Vgl. K. Latte, Kleine Schriften, München 1968, S. 845f. 202 Also sprach Zarathustra, I: Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, S. 39. Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 1. Buch, Aph. 11, KSA 3, S. 382f. 203 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 338, KSA 3, S. 568.

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um durch diese Studien zu geschichtlicher Selbstbesinnung fähig und bereit zu sein, „in ihr unzeitgemäss – das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken“204. Denn erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, so hatte der junge Nietzsche in der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung argumentiert, werde „der Mensch zum Menschen“.205 Wir brauchen Geschichte, fügt der Verfasser des 2. Bandes von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ hinzu, denn die Vergangenheit ströme in hundert Wellen in uns fort: „[...] wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklit’s Satz: man steigt nicht zweimal in den selben Fluss.“206 Seine Geltung bewahrheitet sich an eben jener gedoppelten Erfahrung des Geschehenen und seiner Verwandlung in Geschichte, die Nietzsche auf dem Weg zur Darstellung des ‚großen Mittags‘ in der Zarathustra-Dichtung am Leitfaden seiner verschiedenen Inszenierungen von Vorspielen zur Wiederkunftslehre zu erhellen unternimmt. Dass die Lehre zur Gegenwart und Zukunft der Menschheitsgeschichte und nicht zu einem Abseits (dem Garten-Glück, dem Tempel-Berg, der klösterlichen Versenkung in abgeschiedener Meditation) gehört, wird deutlich an Nietzsches Verständnis des Epochebegriffs im ‚Wanderer und sein Schatten‘, der dem Begriff des „großen Mittags“ präludiert: „Die eigentlichen Epochen im Leben sind jene kurzen Zeiten des Stillstands, mitten inne zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regierenden Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder einmal Sattheit da: alles Andere ist Durst und Hunger – oder Überdruss.“207 Den Aphorismus: ,Die Epochen des Lebens‘ begleitet ein Seitenblick auf die ‚Philosophie der Üppigkeit‘, die Apologie des Epikureischen Gartendaseins: „Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, – das war die Ueppigkeit Epikur’s.“208 Zu keiner Zeit war es Nietzsches Option, bei aller Sympathie für die einfachen und nächsten Dinge. Geht doch mit beiden Aphorismen eine Betrachtung zu „Dunkel-Zeiten“ der Weltgeschichte einher, die verrät, dass Nietzsches Interesse unverändert darüber hinausgreift: „‚Dunkel-Zeiten‘ nennt man solche in Norwegen, da die Sonne den ganzen Tag unter dem Horizonte 204 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Vorwort, KSA 1, S. 247. 205 Ebd., S. 253. 206 Menschliches, Allzumenschliches, II: Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 223, KSA 2, S. 477. 207 Menschliches, Allzumenschliches, II, 2: Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 193, S. 638f. 208 Aph. 192, ebd., S. 638.



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bleibt: die Temperatur fällt dabei fortwährend langsam. – Ein schönes Gleichnis für alle Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft zeitweilig verschwunden ist.“209 Ihren Aufgang kündigt die ‚Morgenröte‘ an, Nietzsches Hoffnungsbuch, dem sich ein allmähliches Ansteigen der Gedanken-Stimmung der „Philosophie des Vormittags“ entnehmen lässt. Man denke an das Zurückweichen von Nachtgedanken, die das kurzzeitige Menschenleben umkreisen und nach der Preisgabe des christlichen Unsterblichkeitsgedankens dem Phänomen der „sterblichen Seelen“ einen ganz neuen Seinsrang zuerkennen: „In Betreff der Erkenntniss ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft: dass der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nöthig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem musste. Denn damals hieng das Heil der armen ‚ewigen Seele‘ von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab, sie musste sich von heut zu morgen entscheiden, – die ‚Erkenntniss‘ hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – es ist Alles nicht so wichtig! – und gerade desshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Grossartigkeit in’s Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden.“210 Welche Aufgaben es sind, das lässt Nietzsche offen. Er folgert lediglich, dass die Menschheit mit sich experimentieren dürfe und die größten Opfer der Erkenntnis noch nicht gebracht worden seien, um vielsagend zu schließen, es wäre „früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserem Tun jetzt voran laufen“211. In welcher Richtung die Gedanken laufen, darauf weist uns der folgende Aphorismus hin, der den Inkubationszustand der Wiederkunftslehre umschreibt: „‚Es ist etwas Grösseres, das hier wächst, als wir sind‘ ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich zur Welt komme.“212 Wie der Gedanke empfangen und dann verstanden wird, auf der einen Seite „plötzlich“ und auf der anderen „allmählich“, indem er immer tiefer in uns eindringt, das sind Fragen für sich, die wir nur am Rande streifen können. Es genügt zu wissen, dass der von Nietzsche herausgehobenen Inspiration im August 1881 Beschreibungen von Gedankenwiderfahrnissen vorhergehen, die erst dann verstanden werden können, wenn der Gedanke wie ein Stein in den Brunnen unserer Erinnerung fällt, mit einem dumpfen Ton unten anlangt und das Grund209 Aph. 191, ebd. 210 Morgenröte, 5. Buch, Aph. 501, KSA 3, S. 294. 211 Ebd. 212 Ebd., Aph. 552, S. 322.

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wasser unseres seelischen Trieblebens erschüttert: „[...] diese Erschütterung des Grundes nennen wir ,verstehen‘“213. In solchen Bildvergleichen hat Nietzsche seine Betroffenheit über das Aufkommen der neuen Denkerfahrung zu bannen gesucht. Und während des Zustands der Inkubation hat er notiert, dass unserem Verstehen immer etwas Unverständliches anhaftet; dass jene letzte Resonanz von Gedanken in unserem Triebleben doch nicht mehr sein kann als „ein neues großes Unbekanntes“. Worum es sich handelt, das verrät uns das morgenländische Gleichnis vom Dichter und Vogel: „Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle. ‚Erschrick nicht! sagte er, es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist Derer, die gegen die Zeit sind: folglich muss es verbrannt werden. Aber diess ist ein gutes Zeichen. Es giebt manche Arten von Morgenröthen.‘“214 Diese indische Inschrift, so kommentiert der Autor von ‚Ecce homo‘, steht auf der Eingangstür zu jenem Werk. Und er fragt dann weiter, wo sein Urheber den neuen Morgen suche, das bisher noch unentdeckte, zarte Rot, mit dem wieder ein Tag, eine ganze Reihe, ja, eine ganze Welt neuer Tage anhebe. Die Antwort gibt der letzte Aphorismus der ‚Morgenröte‘: Wir Luft-Schifffahrer des Geistes, der ins Offene hinausfragt und im Ungestüm seines Fragens die Aufbruchstimmung des Columbus-Gedichts vorwegnimmt: „Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? –“215 Wenn der Abenteurer der Erkenntnis, westwärts steuernd, das heißt: dem Untergang der abendländischen Sonne zu, ein Indien erreichte, hätte er in Gedanken gezeigt, dass die Zeit nicht die Gestalt einer unendlichen Linie haben muss, sondern dass sie sich zum Kreise runden könnte. Dann wäre jenes „Größere, das hier wächst“ (Aph. 552), gleichbedeutend mit dem Wiederkunftsgedanken, der Ankunft des Abenteurers an der Küste eines im umgekehrten Sonnenlauf aufgehenden Morgen-Landes. Als Nietzsche an die frühesten Niederschriften seiner Gedankenkonzeption ging, da sollte, wie wir wissen, die Ankunft in diesem Land des Morgens durch ein Vorspiel unter dem Titel ,Mittag und Ewigkeit‘ gefeiert werden: „Erstes Buch im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive Natura: ‚von der

213 NF Herbst 1880, 6 [238], KSA 9, S. 260. 214 Morgenröte, 5. Buch, Aph. 568, KSA 3, S. 329f. 215 Ebd., Aph. 575, S. 331.



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Entmenschlichung der Natur‘.“216 Dieser Leitsatz, der Motive aus dem Auftakt zur ‚Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘ (1) aufnimmt, fehlt im Zarathustra-Werk. Nietzsche hat ihn nicht aufgenommen, obwohl der Satz die folgenden drei Sätze thematisch variiert, von der „Einverleibung der Erfahrungen“ (2. Buch) angefangen über das Motiv einer höchsten Seinsbejahung im amor fati (3. Buch) bis hin zum Wunschsatz, „alles noch einmal und ewige Male zu erleben“217 (4. Buch). Daran veranschaulicht sich uns, was wir den Erfahrungshintergrund der Lehre genannt haben, ihre Verwurzelung im Gedanken der Wiedergeburt, worin sich die Weisheit dem Leben zutiefst verwandt weiß. Ja, mehr noch: Es zeigt sich, dass der Gedanke auch hier, wie schon einmal im Tanzlied des 2. Buchs angedeutet und dort auf die Willenslehre beschränkt, mit dem weitesten Gedankenentwurf auf das Sein im Ganzen der Zeit zur Deckung gelangt. Ist es doch das Leben selbst, das für die Lehre von der ewigen Wiederkunft als Erlösung von der großen Sehnsucht und dem Leiden an der Vergänglichkeit menschlicher Lust spricht; eine Fürsprache zugunsten jenes im Anderen Tanzlied noch unausgesprochenen Geheimnisses, das Nietzsche dem gedichteten Wort des Mitternachtsliedes anvertraut: „Weh spricht: Vergeh! – Doch alle Lust will Ewigkeit.“218 Diese Verlegung des Schwergewichts der Lehre am Schluss des 3. Teils der Zarathustra-Dichtung auf die rein emotiv gefasste Lebensgestalt, ihren Ursprung aus der alles Weh, ja, selbst den Tod überwindenden Lust und Liebe zum Leben, harmoniert aufs beste mit einigen Anspielungen auf die gedankliche Problematik der Wiederkunftslehre im 3. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Ich denke an den Aphorismus 109, der sich an die Niederschriften vom Sommer 1881 über Chaos und Natura anschließt und mit dem Satz anhebt: „Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei.“219 Es ist die kontrapunktisch gesetzte Begleitstimme zur Wiederkunftslehre, die in leitmotivischer Wiederholung des Satzanfangs („Hüten wir uns ...“) davor warnt, den Gedanken kosmologisch zu begründen: als ob etwas so Formvolles wie die zyklischen Bewegungen unserer Nachbarsterne überall im Makrokosmos vorausgesetzt werden könnte, wo doch schon ein Blick in die Milchstraße Zweifel auftauchen ließe, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen gibt, Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die dauerhafte Ordnung unseres Planetensystems bildet eine Ausnahme im Kosmos. Und ihre Dauer hat wieder die Ausnahmeerscheinung des Organischen bedingt, während der Gesamtcharakter der Welt in alle Ewigkeit Chaos ist im 216 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [197], KSA 9, S. 519f. 217 Ebd., S. 520. 218 Also sprach Zarathustra, III: Das andere Tanzlied, 2–3, KSA 4, S. 284ff. 219 Die Fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, Aph. 109, KSA 3, S. 467.

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Sinne der „fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen“220. Kosmisch empfinden, ja, das schließt die Lehre in sich ein. Aber sie verlangt weder noch gestattet sie eine kosmologische Begründung nach Art des antiken Naturdenkens, das den Kosmos vermenschlicht, indem es die Natur als den Inbegriff von Ordnung und Schönheit vergöttlicht. Im Gegenteil: Nietzsche baut sie in die moderne ChaosVorstellung ein, womit zugleich das kunstmetaphysische Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt entfällt. Die Ausnahmen sind eben nicht das geheime Ziel irgendeines Weltplans, sondern „das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf“221. Das All wird von keinem unserer ästhetischen oder moralischen Urteile getroffen, es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und kennt keine Gesetze: „Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Nothwendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der übertritt.“ Ja, Nietzsche lässt am Ende sogar durchblicken, dass der anvisierte Gedanke eine neue Auffassung des Todes und der menschlichen Stellung zur Natur begründet: „Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art. – Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum wie der Gott der Eleaten [...] Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“222 Die Entgöttlichung der Natur und die Naturalisierung des Menschen, das sind die beiden Aspekte ein und derselben Konstellation der Moderne, die Nietzsche mit der Gestalt der Wiederkunftslehre heraufkommen sieht. Es gibt aber noch einen dritten Aspekt, der erfasst, was ich die Vermenschlichung der Geschichte nennen möchte. Alle drei Aspekte hängen mit der Erfahrung vom Tode Gottes zusammen, dem „größten Ereignis“ der Moderne, das bis heute verkleinert, ja missdeutet oder verharmlost wird. Nietzsche bezieht es nicht in erster Linie auf den Verlust des Gottesbildes im christlichen Glauben der Neuzeit. Weist doch das Ereignis unzweideutig über die neuzeitliche Geschichtsepoche hinaus. Denn Nietzsche versteht darunter die universalhistorische Tat der Tötung des Heiligsten und Mächtigsten, das die Welt des Griechen- und Römertums und dann des Christentums bis an die Schwelle zur modernen Welt besessen hatte. „Es gab nie eine größere That“, so lässt Nietzsche in den frühen Niederschriften zur Zarathustra-Dichtung den

220 Ebd., S. 468. 221 Ebd. 222 Ebd., S. 468f.



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Lehrer selbst sprechen, „und wer immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“223 Es ist eine der Voraussetzungen der Lehre, die Nietzsche im Aphorismus 125 der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ dem „tollen Menschen“ in den Mund legt. Er spricht sie aus, ohne das von der Tat bewirkte Gefühl zu besitzen, das Mächtigste und Heiligste getötet zu haben, also jene Fragen zur Sprache zu bringen, die den Wiederkunftsgedanken als Antwort auf eine sonst ausweglose Lage des europäischen Menschentums auslösen. Wenn das Gefühl eines solchen Sakrilegs über die Menschen kommt, dann fragt sich, wie sich einmal der „Mörder aller Mörder“ trösten, wie er sich davon reinigen wird.224 Darauf antwortet Aphorismus 337 der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Er trägt den Titel Die zukünftige ‚Menschlichkeit‘ und beginnt mit den Worten: „Wenn ich mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiss ich an dem gegenwärtigen Menschen nichts Merkwürdigeres zu finden, als seine eigenthümliche Tugend und Krankheit, genannt der ‚historische Sinn‘. Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem ebenso wundervollen Geruche werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden. Glied um Glied, – wir wissen kaum, was wir thun.“225 An den Vorentwürfen zu diesem Aphorismus wird deutlich, wie Nietzsche seinen Gedanken mit dem Problem der historischen Gerechtigkeit in der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung: ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘ verkettet, zeitgemäß gesprochen: mit der Frage nach der wissenschaftlichen Objektivität der Geschichtsschreibung. Nietzsche wendet sich dort gegen die Gleichsetzung des historischen Sinnes mit einer kalten, folgenlosen Erkenntnis der Vergangenheit, die im Namen der Vernunft über sie richtet, ohne dazu das Amt oder die Kraft zu haben, gerecht sein zu können, und das heißt: „den Saamen der Urtheilskraft so breit wie möglich auszustreuen, damit der Fanatiker von dem Richter [...] unterschieden bleibe“226. Er wehrt sich also hier dagegen, Gerechtigkeit und Vernunft von der Liebe zu trennen. Denn die Liebe begleitet beide, sei es als Freude an der Sache oder als Lust am Besitz der Vergangenheit. Und wenn es für den Historiker eine traurige Pflicht sein mag, gleichsam die Eltern und Voreltern vor Gericht zu laden, so ist 223 Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, Aph. 125, KSA 3, S. 480f. Vgl. M. Montinari, Zarathustra vor ‚Also sprach Zarathustra‘, ebd., S. 86f. 224 NF Herbst 1881, 12, [77] und 14 [26], KSA 9, S. 590 und 632. 225 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 337, KSA 3, S. 564. 226 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 6, KSA 1, S. 286ff.

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und bleibt es unsere menschliche Neigung, gegen das Vergangene gerecht zu sein: es in Liebe wissen zu wollen. Der historische Sinn stellt unsere Vornehmheit auf die höchste Probe, etwa ob wir mit „rachsüchtigem Herzen“ vom Christentum reden. Davon weiß sich Nietzsche frei: bis hin zum ‚Antichrist‘ mit Recht, während sich dieses Buch in einer Reihe von Hasstiraden gegen die christliche Religion der Probe nicht gewachsen zeigt. Nietzsche erwartet, dass uns die Wissenschaft selbst „unseren adeligen Stammbaum, unsere Heraldik“ geben werde: „[...] sie gibt uns die Vorfahren. Im Vergleich zu uns waren alle bisherigen Menschen ‚Eintagsfliegen‘ und Pöbel, der nur ein kurzes Gedächtniß hatte.“227 Die Geschichte wird lehren, was unsere Vorfahren einmal alles besaßen. Und auch wenn wir vieles fahren lassen, so vermag doch das historische Gefühl allen Verlusten höhere Erwerbungen entgegenzustellen. Es ist das Neue, der Boden, woraus nach dem ins Breite gestreuten Samen der Urteilskraft die Keime einer zukünftigen Humanität wachsen könnten; ein Wachstum nach unten, zur Erdtiefe hin, so wie es der Wiederkunftsgedanke, um menschlich Wurzeln zu fassen, verlangt. Auf diesen überhistorischen Standpunkt der Betrachtung wird der historische Sinn, der nach dem jungen Nietzsche den modernen Menschen immer ärmer und kälter gemacht hat, im Aphorismus 337 der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ gehoben. Er ist das geschichtliche Vorspiel zur Lehre vom Übermenschen, die darin Stand gewinnt. Und vielleicht sollten wir uns hier daran erinnern, dass der junge Nietzsche jenes so oft missverstandene Wort Goethes ‚Faust‘ entnimmt, dessen Bekenntnis im 1. Teil der Tragödie („Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, / Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, / Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen“228) an dieser Stelle unüberhörbar nachklingt. Setzt doch die Hebung des historischen Sinnes zur Höhe künftiger Menschlichkeit die Preisgabe blinder Anhäufung und Zersplitterung von Vergangenheitswissen zugunsten des Verlangens nach Einheit und Vereinigung mit dem geschichtlich Bleibenden voraus. Denn das ist „eine Farbe dieses neuen Gefühls: wer die Geschichte der Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu fühlen weiss, der empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung allen jenen Gram des Kranken, der an die Gesundheit, des Greises, der an den Jugendtraum denkt, des Liebenden, der der Geliebten beraubt wird, des Märtyrers, dem sein Ideal zu Grunde geht“229. Es handelt sich um ein Gedankenexperiment mit der Geschichte in ihrer Zweiheit von Individual- und Gattungsgeschichte, das sich bei Nietzsche früh 227 NF Herbst 1881, 12 [76], KSA 9,S. 590. 228 Faust, 1. Teil, V. 1768–1771. 229 Die Fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 337, KSA 3, S. 565.



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ankündigt. Ich erwähne nur die Allmachtsphantasie des Pfortenser Schülers, der die Möglichkeit erwägt, durch „einen starken Willen die ganze Weltgeschichte umzustürzen“, wodurch wir Menschen in die „Reihe unabhängiger Götter“ rückten und Geschichte dann für uns nichts anderes hieße als „ein träumerisches Selbstentrücktsein; der Vorhang fällt, und der Mensch findet sich wieder, wie ein Kind mit Welten spielend, wie ein Kind, das beim Morgenglühn aufwacht und sich lachend die furchtbaren Träume von der Stirn streicht“.230 Hier ist wie in einer Nussschale die ganze Lehre enthalten, von der Idee des Übermenschen angefangen bis hin zum Willen zur geschichtlichen Selbstermächtigung mit dem Ziel der Wiederkehr eines Weltzustands, den das Menschengeschlecht durch die Aufprägung stereotyper Lebensformen und Zeitvorstellungen im Fortgang der Jahrhunderte vergessen hat. Ja, selbst die Aufgabe einer Bejahung des Geschichtsganges im Gedanken der Liebe zum Schicksal (amor fati) klingt in jener frühen Niederschrift zum Thema: ‚Fatum und Geschichte‘ (1862) an. Ich erwähne ferner Umhüllungen des Wiederkunftsgedankens in seiner „furchtbarsten Form“ in Nietzsches frühem Konzept des überhistorischen Menschen, der mit Schopenhauer zu wissen meint: „Das Vergangene und das Gegenwärtige ist Eines und dasselbe, nämlich in aller Mannichfaltigkeit typisch gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung.“231 Am „unendlichen Überflusse des Geschehenden“ bringt es der Geschichtsbetrachter auf diesem Standpunkt nicht nur zu „Sättigung“, sondern zur „Übersättigung, ja, zum Ekel“, was am Ende zur Abkehr von der Geschichte führt; eine nihilistische Folgerung, die der italienische Dichter Leopardi gezogen und mit den Versen verklärt hat: Nichts lebt, das würdig Wär deiner Regungen, und keinen Seufzer verdient die Erde. Schmerz und Langeweile ist unser Sein und Koth die Welt – nichts Andres. 232 Beruhige Dich.

Ohne dem überhistorischen Menschen die Berechtigung zu seiner Art von Weisheit abzusprechen, tut Nietzsche alles, um diesen verneinenden Standpunkt mit der Konzeption einer monumentalen Historie zu überwinden, die Geschichte ins 230 Fatum und Geschichte (1862), in: Werke und Briefe, Bd. 4: Jugendschriften 1861–1864, hrsg. von H. J. Mette, München 1934, S. 58f. (= BAW). 231 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1, KSA 1, S. 256. 232 Ebd.

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Große und Hohe ihrer erinnerungswürdigen Denkmäler hebt. Und ein Mittel der Überwindung ist schon im Umkreis der ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘ (1873) die Erfahrung menschlichen Widerwillens gegenüber dem Vergehen von einst lebendig Gewesenem ins Nichtige des „Es war“, der Trauer angesichts beständiger Vernichtung menschlichen Mühens um Kontinuität und Dauer der Kultur durch wiederkehrende Umbrüche und Unterbrechungen ihres geschichtlichen Verlaufs: als ob wir etwas im Grunde Unmögliches erlebten, wenn etwa ein alter, ausladender Baum zu unserem Missvergnügen zusammenbricht. „Daß aber ein Augenblick höchster Welt-Vollendung [...] ohne Nachwelt und Erben, wie ein flüchtiger Lichtschein verschwände“, beleidigt nach Nietzsche „am allerstärksten den sittlichen Menschen“, dessen Imperativ lautet: „[...] was einmal da war, [...] das muß auch ewig vorhanden sein. Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß sie, als Höhenzug, die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden, daß für mich das Größte einer vergangenen Zeit auch groß ist [...], das ist der Grundgedanke der Kultur.“233 Vor diesem Hintergrund sei schließlich noch der All-Bestimmungsversuch in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ erwähnt, der mit Erfahrungen des Unzulänglichen individueller Selbstbesinnung einsetzt, die lange nicht ausreiche, um sich kennen zu lernen: „Wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden.“234 Woran sich dann Nietzsches Beschreibung seines geschichtlichen Gedankenexperiments in der mit diesem Aphorismenbuch ausgeführten Form des Vademecum anschließt, eines Reiseratgebers in der Fremde, der mit gemachten, aufnotierten Erfahrungen heimleuchtet: „Wer nach langer Uebung in dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird seine Io – ich meine sein ego – endlich überall hinbegleiten und in Aegypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja im Meer, Wald, Pflanze und Gebirge, die Reise-Abenteuer dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. – So wird Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis in Hinsicht auf alles Vergangene; wie nach einer andern, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und Selbsterziehung in den freiesten und 233 Über das Pathos der Wahrheit, Vorrede, in: KSA 1, S. 756. Der Gedanke wird ausgeführt in: Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 2, KSA 1, S. 260f. (mit kritisch ablehnendem Verweis auf den Pythagoreischen Wiederkunftsgedanken). 234 Menschliches, Allzumenschliches II, 1. Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 223, KSA 2, S. 477.



Vermenschlichung der Geschichte

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weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung, in Hinsicht auf alles zukünftige Menschenthum werden könnte.“235 Es sind, kein Zweifel, Andeutungen zum Ego-Fatum des künftigen Übermenschentums, dem im Gedankenexperiment jener „ungeheuren Verallgemeinerung“ des Menschlichen zum Allmenschlichen die bislang getrennten Ströme von Individual- und Gattungsgeschichte zusammenfließen. Die Frage lautet: Wie kann es gelingen, die menschliche Verkleinerung durch den säkularen, die Jahrhunderte und Jahrtausende relativierenden Historismus und seine Verdumpfung des historischen Sinnes zu überwinden? Nur dadurch, dass wir lebensgeschichtlich die regelmäßig wiederkehrenden Dissonanzen der universellen Menschengeschichte mitempfinden und individuell wiederholen, indem wir in unserer Seele Ältestes und Neuestes, Verluste und Hoffnungen, Eroberungen und Siege der Menschheit zu einem Gefühl der Einheit und Solidarität des ganzen Menschengeschlechts zusammendrängen. Wer dies vermag, heißt es im Aphorismus 337 der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, wäre der „Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte“236. Das ist im Vorblick auf die Einführung des Wiederkunftsgedankens im vorletzten Aphorismus des 4. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ gesagt. Unter dem Titel: Das größte Schwergewicht hält Nietzsche nach einem Menschentum Ausschau, dem sich durch seine Beschwerung die Wege scheiden, das durch das erlangte Gewicht der Zeit Vergangenheit und Zukunft zugleich trennen und enger als je zuvor aneinanderbinden könnte: „Von dem Augenblicke an, wo dieser Gedanke da ist, verändert sich alle Farbe, und es giebt eine andere Geschichte.“237 Es ist auf diese Weise gesagt, wie Nietzsche den Wiederkunftsgedanken dort einführt: hypothetisch, mit einem skeptischen Wenn-Dann-Satz über jenen Dämon, der uns eines Tages oder Nachts den Gedanken verriete, oder mit einem konjunktivischen Wunschsatz über die übermenschliche Eudämonie, „eines Gottes Glück voller Macht und Liebe“, der wie die Sonne am Abend fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichtum wegschenkte und ins Meer schüttete.238 Und es ist gedacht aus der Aufbruchstimmung jenes Buches, das an seinem Anfang unter dem Titel: ‚Sanctus Januarius‘ bezeugt, „welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, – welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und 235 Ebd., S. 477f. 236 KSA 3, S. 565. 237 NF Herbst 1881, 12 [226], KSA 9, S. 616. 238 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 337 und Aph. 341, KSA 3, S. 565 und 570.

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Süssigkeit alles weiteren Lebens sein soll!“239 Nietzsche spielt auf Janus an, den römischen Zeitgott und Torwächter mit dem Doppelgesicht, das nach rückwärts und vorwärts schaut. Und er spielt darauf an, was die Wiederkunftslehre für sein künftiges Denken bedeutet: einen Wendepunkt auf dem Weg zur dichterischen Hervorbringung des Gedankens der Seinsbejahung: „Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!“240 Der Wiederkunftsgedanke wie sein Gehalt mögen dem Orient entstammen. Aber die logische Form, so lautet unsere Schlussfolgerung, ist griechischer Herkunft. Denn die Skepsis als Bauelement einer Lehre wie das erhebende Gefühl, das ihre Mitteilung begleitet, beides weist auf ihre Ursprünge im Griechentum zurück. Es hat der abendländischen Philosophie über die Einheit des Logos mit dem Ergon hinaus den logischen Enthusiasmus, das „fortwährende Jauchzen“ über die Kraft des Denkens vererbt, das durch die polemischen Invektiven des Heraklit, die Streitlust der eleatischen Schule, ja, noch „durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht“.241 Diese Denkerfahrungen begleiten die Keimformen des Gedankens der ewigen Wiederkunft beim jungen Nietzsche, denen wir uns im Folgenden zuwenden.

239 Ebd., Aph. 276, S. 521. 240 Ebd. 241 Morgenröte, 5. Buch, Aph. 544, KSA 3, S. 314f. Zum skeptischen „Wenn“ im Kampf der frühgriechischen Philosophen vgl. Nietzsches Platon-Vorlesung, Philologica III, S. 259.

IV. Der Zwiespalt in der Gedankenkonzeption Willensfreiheit und Fatum: Gedankenkeime am Anfang von Nietzsches Denkweg Hier öffnet sich uns der lebensgeschichtliche Grund der Lehre, den wir nicht ohne Vorsicht ins Auge fassen dürfen. Hat sie doch so viele Hintergründe, biographisch notwendige und schon historisch kontingente (wie Nietzsches Wahl des Studiums der klassischen Philologie), dass sich die Weite der Gedankenlandschaft leicht von ihrem Erfahrungsboden abheben und in einer fernen Vergangenheit verflüchtigen könnte, würden wir sie nur nach einer Richtung hin begehen. Haben wir doch bereits gesehen, wie verfehlt es wäre, die Erscheinung des Wiederkunftsgedankens nach Nietzsches autobiographischem Bericht auf jene plötzliche Eingebung vom August 1881 zu datieren. Dass der Gedanke „kam“242, heißt nicht, er sei plötzlich gekommen und ließe sich auf Tag und Stunde datieren. Tatsächlich bestimmt das Blatt nur die Höhenangabe des Ortes im Gebirge. Der Gedanke selbst ist kein Datum, sondern Faktum für das Denken: das Ergebnis eines Geschehens (fieri), oder genauer gesagt: das Ereignis jenes Gedankendramas, das die Zarathustra-Dichtung darstellt. Es ist ein Drama, das von weither kommt und mit Nietzsches Grunderfahrung zusammenhängt. Aus der geschichtlichen Nähe betrachtet, sind es Denkerfahrungen des Todes, die Nietzsches Leben durch den frühen Vaterverlust von Anbeginn einzeichnen. Der Tod selbst ist Faktum: ein Datum der Vergangenheit, die im Gedenken an den Toten immer wieder auf die Lebenden zukommt und in diesem zur Zukunft hin offenen Geschehen mit seiner ganzen abgründigen Tragweite für das menschliche Selbst- und Weltverständnis vertraut macht. Vor dem Hintergrund des Wiederkommens dieser Erfahrung ist es im Stadium der Gedankenkonzeption die Kritik an grundfalschen, weil allzumenschlichen Bevorzugungen der empfindenden Welt vor der toten; eine Wertschätzung, die eben daraus folgt, dass wir sind und zur Welt der Lust- und Schmerzempfindungen gehören. Und dennoch, so argumentiert Nietzsche, geht mit unserer Empfindung Oberflächlichkeit und Betrug einher; denn Schmerz und Lust hat nichts mit dem wirklichen Vorgang zu tun, es ist nur ein Nebenher, das nicht in die Tiefe dringt. Wir nennen die Empfindung das Innere und sehen, irrtümlich, die tote Welt als äußerlich an. Dennoch ist sie das einzig Wahre: ewig bewegt und ohne Irrtum, mit sich 242 Vgl. Ecce homo, KSA 6, S. 335.

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gleich, Kraft gegen Kraft, während in der empfindenden Welt alles falsch und dünkelhaft ist. Dagegen stellt Nietzsche zunächst den erlösenden Gedanken der Rückkehr ins Gleiche, ewig Gleichgültige, Gesetzliche: „Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die ‚todte Welt‘ überzugehen – und die größte Begierde der Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt.“243 Der Frage, ob dieser Rückkehrgedanke nicht vielleicht auf bloße Selbstverneinung durch unseren Intellekt hinausliefe, also am Ende nichts als ein Nachtrag oder gar eine bloße Parallele zu Schopenhauers pessimistischer Grundlehre von der ethisch notwendigen Willensverneinung als Kern menschlicher Weisheit sei, hält Nietzsche die optimistische Antwort entgegen, der „Sinn der Wahrheit“ jenes Gedankens liege darin, die Empfindung als die äußerliche Seite des Daseins zu verstehen: als „ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dauert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so genießen! Laßt uns die Rückkehr in’s Empfindungslose nicht als einen Rückgang denken! Wir werden ganz wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen so mit dem Wirklichen d.h. mit der todten Welt.“244 Es ist nur eine Konsequenz jenes Gedankens, wenn Nietzsche unmittelbar vor der „Empfängnis“ der Zarathustra-Konzeption notiert, unsere Welt sei „die Asche unzähliger lebender Wesen: und wenn das Lebendige auch noch so wenig im Vergleich zum Ganzen ist: so ist doch alles schon einmal in Leben umgesetzt gewesen, und so geht es fort. Nehmen wir eine ewige Dauer, folglich einen ewigen Wechsel der Stoffe an –“.245 Keime dieser Gedankenbildung finden wir in dem frühen Aufsatz über ‚Fatum und Geschichte‘ (1862) aus Nietzsches Schülerzeit am altsprachlichen Gymnasium in Pforta bei Naumburg. Als gesichert dürfen wir annehmen, dass sie angelegt sind in seinem Versuch, die durch das Andenken an den früh verstorbenen Vater und Pfarrer zu Röcken fixierte Todeserfahrung nach dem verlorenen Glauben an die christliche Botschaft der Auferstehung mit griechischorientalischen und modern-naturwissenschaftlichen Mitteln aufzulösen. Und gewiss ist es kein Zufall, dass sich Nietzsches Gedankendrama im Kontext seiner ersten Emerson-Lektüre formiert.246 Der Gedanke kündigt sich an in der Erfahrung allmenschlichen Verschlungenseins in den Kreislauf des Werdens: „Alles bewegt sich in ungeheuren immer weiter werdenden Kreisen um einander; der Mensch ist einer der innersten 243 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11 [70], KSA 9, S. 468. 244 Ebd. 245 11 [84], KSA 9, S. 472f. 246 Vgl. Stanley Hibbard, Nietzsche und Emerson, Basel 1958.



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Kreise. Will er die Schwingungen der äußern ermessen, so muß er von sich und den nächst weitern Kreise[n] auf noch umfassendere abstrahieren.“247 Es sind elementare Denkerfahrungen und Bilder der ewigen Wiederkunft, des Kreises von Kreisen, von Ringen im Umring der „Welt“, von Wellen, die sich im Meer der Zeit immer weiter ausbreiten, von einem „Kämpfen und Wogen verschiedenster Strömungen mit Ebbe und Fluth, alle dem ewigen Ozeane zu.“248 Vermessen wird der ganze Gedankenkomplex in zwei Richtungen, und beide Male mit den Mitteln neuzeitlicher Erfahrungswissenschaft. Nach außen hin sind es die großen, sichtbaren Wellenbewegungen der Geschichte von Völkern, Staaten, Gesellschaftsformationen, die im Makrokosmos der einen Menschheit übereinanderlagern, nach innen die kleinen unsichtbaren Bewegungen in der Natur. Das gemeinsame Zentrum aller Schwingungen im Mikro- und Makrobereich zu erforschen, das ist die Aufgabe der Physik. Und da jeder Mensch zugleich in sich und für sich jenes Zentrum suchen muss, lässt sich unschwer die einzigartige Bedeutsamkeit von Geschichte und Naturwissenschaft für die Entfaltung des Wiederkunftsgedankens erkennen. Der Gedanke kommt auf mit Nietzsches Zweifel an der Richtigkeit linearer Zeitvorstellungen des Christentums. Die Frage drängt sich auf, ob er davon gewusst hat, wie umstritten diese Vorstellung im ersten christlichen Jahrtausend gewesen ist; dass zyklische Zeitvorstellungen des Griechentums und der orientalischen Hochkulturen über das Fortleben des Altertums in der Frühzeit der christlichen Kirche bis hin zur Auflösung des Weströmischen Reiches zur Zeit von Augustin (der sie in seinen Schriften bekämpft) offenbar so tief im menschlichen Gemütsleben der südlichen Mittelmeervölker, ja, selbst der christianisierten Völkerschaften Nord- und Westeuropas verwurzelt waren, dass der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke noch im Jahr 1277 als häretisch verurteilt werden musste.249 Und auch danach wirken diese Vorstellungen über den Einfluss von Origines’ Apokatastasis-Lehre auf die spätmittelalterliche Ketzerbewegung ein. Ja sie pflanzen sich auf den Hintergrund des eschatologischen Glaubens an eine Rückkehr aller Dinge zu ihrem Ausgangsort bis hin zu Leibniz und darüber hinaus fort.250 247 Fatum und Geschichte, ebd., S. 57. 248 Ebd. 249 Vgl. Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 2: Mittelalter, hrsg. von K. Flasch, Stuttgart o. J., S. 358. 250 Darüber unterrichten die späten Fragmente: ‚De l’Horizon de la doctrine humaine‘ und Apokatastasis (panton), in: M. Ettlinger, Leibniz als Geschichtsphilosoph, München 1921, S. 27–34. Vgl. dazu die Untersuchungen von Abel, Nietzsche. Die Dynamik des Willens zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, vor allem S. 280– 307. – Es verdient notiert zu werden, dass sich Nietzsche während der Inkubationszeit des

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Ob diese verschiedenen Überlieferungsstränge Nietzsche im Einzelnen bekannt waren, diese Frage lässt sich anhand der uns zugänglichen Jugendzeugnisse nicht eindeutig beantworten. Aber sie bilden ein geschichtliches Ferment, das sein Nachdenken angeregt haben mag und das Aufgehen untergegangener Gedankenkeime aus der antiken Welt begünstigt, die Nietzsche in Schulpforta begegnen. Und in dieser Mischung verstärken sie dann seine Skepsis gegenüber der christlichen Lösung des Zeitwesens, die quälende Frage, ob die Menschheit selbst nicht nur „eine Stufe, eine Periode im Allgemeinen, im Werdenden“ oder ob sie „eine willkürliche Erscheinung Gottes“ sei.251 Eine Fragestellung, die an neuzeitlich-idealistische Lehren vom Stufenbau der Universalgeschichte mit ihren Progressionsvorstellungen von universalhistorisch ausgezeichneten Individuen und Völkern erinnert und dem Ansatz im antiken Kreislaufmodell widerspricht. So dreht sie sich wie von selbst auf den vorchristlich-spätantiken Stand der ethischen Problematik von menschlicher ‚Willensfreiheit und Fatum‘ (der Titel von Nietzsches zweitem Jugendaufsatz zu diesem Thema) zurück: „Indem der Mensch aber in den Kreisen der Weltgeschichte mit fortgerissen wird, entsteht jener Kampf des Einzelwillens mit dem Gesammtwillen; hier liegt jenes unendlich wichtige Problem angedeutet, die Frage um Berechtigung des Individuums zum Volk, des Volkes zur Menschheit, der Menschheit zur Welt; hier auch das Grundverhältniß von Fatum und Geschichte.“252 Der Problemdrehung in Nietzsches Fragestellung liegt eine Unruhe des Fragens zugrunde, die mit dem Zweifel an christlichen Zukunftsverheißungen wächst. Ist nicht vielleicht der Mensch, so fragt der Pfortenser Schüler seine Naumburger Freunde, denen solches radikale Fragen befremdlich erschienen sein muss, „nur die Entwicklung des Steines durch das Medium Pflanze, Tier? Wäre hier schon seine Vollendung erreicht und läge hierin nicht auch Geschichte? Hat dies ewige Werden nie ein Ende?“ Wir erfahren nur, was sich verändert, für uns gibt es Epochen und Perioden, aber keine Ziele und Absichten einer göttlichen Vorsehung: „Die höchste Auffassung von Universalgeschichte ist für den Menschen unmöglich; der große Historiker wird ebenso wie der große Philosoph Prophet; denn beide abstrahieren von inneren Kreisen auf äußere.“253 Das heißt: Beide versuchen, die Erscheinungen des Fessellosen, Willkürlichen, jenes unendlich Freien und Schweifenden, das wir „Geist“ nennen und an unseren Willensentscheidungen erfahren, mit der Regel des Fatums in Einklang zu Wiederkunftsgedankens gelegentlich auf den kirchlichen Ausdruck der „Wiederherstellung von allem“ (κατστασις πντν) bezieht. Vgl. den Brief an F. Overbeck vom 29. Januar 1882, in: KSB 6, S. 161. 251 Fatum und Geschichte, ebd., S. 56. 252 Ebd. S. 57. 253 Ebd.



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bringen, wonach es die Ereignisse sind, welche die Ereignisse bestimmen. Haben wir unser Lebensglück, so fragt der junge Nietzsche weiter, „den Ereignissen zu danken, von deren Wirbel wir fortgerissen werden? Oder ist nicht vielmehr unser Temperament gleichsam der Farbenton aller Ereignisse? Tritt uns nicht alles im Spiegel unsrer eigenen Persönlichkeit entgegen? Und geben nicht die Ereignisse gleichsam nur die Tonart unseres Geschickes an, während die Stärke und Schwäche, mit der es uns trifft, lediglich von unserm Temperament abhängt?“254 In dieser Bewegung des Fragens artikuliert sich die uns bekannte Grunderfahrung des jungen Nietzsche. Noch ehe Nietzsche sie an vorchristlichen Zeitvorstellungen auslegt, klingt der ursprünglich griechische Gedanke an, dass sich das ewige Werden in zyklischer Form wiederholt: „Was sind die Triebfedern dieses großen Uhrwerks? Sie sind verborgen, aber sie sind dieselben in der großen Uhr, die wir Geschichte nennen. Das Zifferblatt sind die Ereignisse. Von Stunde zu Stunde rückt der Zeiger weiter, um nach Zwölfen seinen Gang von Neuem anzufangen; eine neue Weltperiode bricht an.“255 Am neuzeitlich konzipierten Uhrengleichnis verdeutlicht sich der antike Gedanke, dass die Geschichte periodisch verläuft und in jedem Umlauf (= peri-hodos, ursprünglich der Kreislauf des Sternenhimmels) nach einer festgelegten Reihe von Jahren das gleiche Ereignis oder Zeitmerkmal wiederkehrt. Es sind Platonische Gedankenmotive der Lehre vom „großen Jahr“, einer Bestimmung von Weltzeiträumen, die zwischen 1000 und 10.000 Jahren schwanken, in denen alle Seelen erneut zur Wanderung und Läuterung von Schuld verurteilt sind.256 Und es sind Motive der vorplatonischen Philosophie, die sich mit orientalischen Zusätzen zur Seelenwanderungslehre mischen und bis auf Heraklits und Anaximanders Kosmogonien mit ihren Lehren von einer Vielheit der Welten zurückgehen. Alle diese originären Denkformen aus den Anfängen der griechischen Kultur kann der angehende Philologe Nietzsche durch Quellenstudium gekannt haben.257 Es lässt sich jedoch nicht übersehen, wie eng sie sich mit sekundären Gedankenbildungen verknoten, von der Annahme einer einzigen, die ganze Natur durchflutenden Allkraft aus dem Umkreis des spätantiken Pantheismus angefangen bis hin zu Folgerungen aus dem mechanistischen Weltbild der neuzeitlichen Physik für das menschliche Leben und Handeln, seine Determinierung durch vorherberechenbare Naturkräfte und deren Auslösung künftiger Ereignisse in Raum und Zeit. So mündet die moralisch bestimmte Lehre von der Seelenwan254 Ebd., S. 57f. 255 Ebd., S. 56. 256 Vgl. Plato, Phaidros 249a; Politeia, 615a. 257 Das vermerkt H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlese bei Nietzsche, II. Jugend, 2. Teilband 1862–1864, Berlin/Aschaffenburg 1994, S. 65.

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derung in außermoralische Betrachtungen über „dunkel wirkende Kräfte“, die den Menschen unverantwortlich für seine Fehler und überhaupt frei von moralischen Unterschieden erscheinen lassen: als „notwendiges Glied in einer Kette. Glücklich, wenn er seine Lage nicht durchschaut, wenn er nicht convulsivisch in den Fesseln zuckt, die ihn umstricken, wenn er nicht mit wahnsinniger Lust die Welt und ihren Mechanismus zu verwirren trachtet!“258 Und Emersons optimistischer („amerikanischer“) Deutung, wonach das Gute in der Weltgeschichte bleibe, das Böse vergehe, stellt der junge Nietzsche mit Goethe und der idealistischen Geschichtsspekulation von Schelling und Hegel die Annahme entgegen, dass es „nur die subtilste Entwicklung des Bösen aus sich heraus sein kann“259. Die pessimistischen Nebentöne in Nietzsches früher Anerkennung menschlicher Konsequenzen des mechanistischen Weltbilds werden am Ende überlagert durch die Erkenntnis, es müsse noch höhere Prinzipien des Weltverständnisses als diejenigen der Physik geben. Und wie beiläufig deutet sich in einem Nebensatz an, dass in dieser übergeordneten Perspektive „alle Unterschiede in eine große Einheitlichkeit zusammenfließen, vor denen alles Entwicklung, Stufenfolge ist, alles einem ungeheuren Ozeane zuströmt, wo sich alle Entwicklungshebel der Welt wiederfinden, vereinigt, verschmolzen, all-eins“260. Die Rede von einem höheren, übergeordneten Prinzip der Weltbetrachtung bezieht sich auf keines der metaphysischen Systeme des Altertums, die dafür ein statisches Sein im Sinne der absoluten Substanz (ens realissimum) annehmen. Gemeint ist vielmehr ein dynamisches Evolutionsprinzip im Sinne einer Allkraft, die der frühneuzeitliche Pantheismus vielfach erwogen und dem Naturgeschehen im Ganzen zugrunde gelegt hatte. Denn die Einheit, vor der sich alle Unterschiede auflösen, liegt nach Nietzsche im Werden selbst, in „Entwicklung, Stufenfolge“, die auf kein bestimmtes Ziel hinstrebt. Was wie ein Ziel erscheinen könnte, das Bewusstsein des Menschen oder sein freier Wille, diese Erscheinungsform einer „immanenten Humanität“, sind für den jungen Nietzsche nichts anderes als die „höchste Potenz des Fatums“. Und vom Fatum, von dem der stoischen Philosophie entstammenden Wort für die Allkraft des ganzen Naturgeschehens, heißt es unter Berufung auf Emerson in einem überraschenden Verweis auf den fernöstlichen Hinduismus, es sei „nichts als die Thaten, die wir in einem frühen Zustande unseres Seins begangen haben“261. 258 Fatum und Geschichte, ebd., S. 59. 259 Ebd. 260 Ebd. 261 Der Hinweis findet sich in dem etwa gleichzeitig geschriebenen Aufsatz über: ‚Willensfreiheit und Fatum‘ (1862), in: Jugendschriften 1861–1864, ebd. (BAW 2), S. 61. Vgl. dazu die noch immer grundlegende Behandlung des Themas bei Hans M. Wolff, Friedrich Nietzsche, Der Weg zum Nichts, Bern 1956, S. 15f.



Zwischen naturwissenschaftlichen und pantheistischen Denkformen

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Zwischen naturwissenschaftlichen und pantheistischen Denkformen Wir haben uns damit einen vorläufigen Überblick verschafft über die Leitmotive, aus denen sich das Thema der ewigen Wiederkunft am Beginn von Nietzsches Denkweg aufbaut. Und es wird im Folgenden aus den überlieferten Zeugnissen eines großen Ringens mit diesem uralten Menschheitsgedanken herauszuhören sein, wie sich das Vorspiel als ein Spielen mit sehr verschiedenen Melodien im Auftakt seiner Philosophie durchfiguriert. Thematisch verschieden sind nicht nur die Leitmotive aus dem orientalisch-asiatischen Kulturkreis, sondern auch jene Motive, die Nietzsche von den Griechen her aufgreift und an ihnen historisch zu bewahrheiten sucht. Behauptet er doch im Überschwang erster Gedankeneingebungen, „das Griechentum“ allererst entdeckt zu haben: „Sie glaubten an die ewige Wiederkunft! Das ist der Mysterien-Glaube.“262 Was als historische Aussage über die esoterische Religion der Griechen problematisch erscheint, die von solcher Glaubenszuversicht wenig weiß. Aber daraus lässt sich nicht folgern, Nietzsche habe mit dem genealogischen Nachweis des Wiederkunftsgedankens aus griechischen Keimen das Bild der Antike verzeichnet.263 Grundannahmen einer ewigen Wiederkunft, die Geheimnis der Mysterien oder der Sekten war,264 hatte schon der junge Nietzsche während seiner Baseler Lehrtätigkeit in Platons Dialog ‚Phaidon‘ als „philosophisch diskutierbare und beweisbare Lehre“ hingestellt gefunden. Nietzsche bezieht sich dabei auf den ersten der dort angeführten Beweise für die Unsterblichkeit der Seele aus dem vorplatonischen Lehrstück vom Umschlag der Gegensätze, wonach, wie die Lebenden erfahrungsgemäß zu Toten werden, auch die Toten wieder zum Leben erweckt werden müssen. Erscheint doch im Beweisgang das Leben selbst durch die Reihenfolge der Generationen als etwas Bleibendes im Sinne einer Idee; was nach Platon die esoterische Annahme einer Präexistenz der Seele als Ideenhypothese wahrscheinlich macht.265 Und zugleich greift Nietzsche auf exoterische Vorstellungen griechischer Volksweisheit zurück, so auf die Annahme der Dichter, die „wesentlichen Dinge“ wiederholten sich, es gäbe nichts Neues, also auch keine Fortschritte in der Geschichte, weshalb „alles Nachdenken über die verschiedenen Zukünfte“ fehle. 262 NF Sommer 1883, 8 [15], KSA 10, S. 340. Vgl. M. Djurič, Die antiken Quellen der Wiederkunftslehre, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 8ff. 263 Vgl. H. Cancik, Nietzsches Antike, Stuttgart-Weimar 1995, S. 114f., der diese Folgerung m. E. unberechtigt zieht. 264 Phaidon, 70c–72 d. Vgl. Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge (1871/72 und 1873/74), § 34, in: Philologica III, S. 300f. 265 Vgl. H.-G. Gadamer, Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos ‚Phaidon‘, in: Werke Bd. 6, Tübingen 1985, S. 187ff.

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Der Zwiespalt in der Gedankenkonzeption

Differenzierungen dieser dichterischen Annahmen sind Nietzsche nicht fremd. So erscheint ihm die Philosophie des Aristoteles bemerkenswert, den nicht der historische Skeptizismus des Griechentums mit sich fortreiße, weil er „sofort das geistige Erbe aller Vergangenheit und selbst dieser Gegenwart antrifft“266. Seine historische Forschung und ihr philosophischer Hauptgesichtspunkt stellten etwas Neues dar, nämlich, dass die Entwicklung auf politischem und künstlerischem Felde abgeschlossen und ein Höhepunkt der Wissenschaft erreicht sei; es käme nur darauf an, die Grundprinzipien des gefundenen Wissens herauszuarbeiten, das Gefundene zusammenzustellen und dann in Gebrauch zu nehmen, das vorliegende Material reiche zum Abschluss aus, und das allgemeine Bild der Wissenschaft könne nie ein anderes werden. Aristoteles, mit diesen Worten charakterisieren schon die Baseler Vorlesungen seinen Glauben an feste Geschichtszyklen, kritisiere die Vorgänger und lobe sie, je nachdem ihre Ansichten mit den seinigen zusammengehen oder nicht. Finde er, wo es auf Vollständigkeit ankommt, bei den Vorgängern nichts anderes, als was er selbst aufgestellt habe, so sei ihm dies ein Zeichen dafür, dass nichts fehle: „Er glaubt an grosse Katastrophen für einzelne Theile der Erde, der Lauf der Geschichte ist unzählige Male erfüllt, das Ziel erreicht, und dann das Erreichte wieder verloren gegangen. Alle verschiedenen Meinungen, alle Künste und Wissenschaften sind schon unzählige Male in gleicher Weise ausgebildet [...].“267 Es sind Vorgestalten des Wiederkunftsgedankens in der Menschengeschichte, die vielleicht von der Anschauung zyklisch ablaufender Naturvorgänge auf Erfahrungen regelmäßig wiederkehrender Verläufe in der menschlichen Wissensbildung und Ausbildung künstlerischer und technisch-wissenschaftlicher Verfahrensweisen übertragen, vielleicht aber auch von dort in das Bild vom Kosmos hineinprojiziert wurden. Nietzsche unterscheidet jedenfalls die naturbedingte Kulturzyklentheorie im engeren Sinne (das Schema von Wachstum und Verlauf der Kultur) von der Lehre der „‚ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge“268. Und er behauptet dann weiter, „diese Lehre Zarathustra’s könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein“, zumindest hätte „die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon“.269 Mit ihrem Glauben an das All und die Vernünftigkeit des Alls haben die Stoiker Heraklit ins 266 Ebd. 267 Geschichte der griechischen Literatur (1874/75), in: Philologica II, S. 117. Mit Recht bemerkt der Herausgeber O. Crusius, dass Nietzsche hier auf eins der antiken Vorspiele zur „ewigen Wiederkehr“ hinweise (Anm., S. 327). Die Bemerkung ist in der NietzscheForschung unbeachtet geblieben. 268 Vgl. Ecce homo: Die Geburt der Tragödie, 3, KSA 6, S. 313. 269 Ebd.



Zwischen naturwissenschaftlichen und pantheistischen Denkformen

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Flache einer optimistischen Überzeugung vom einheitlichen Zweckzusammenhang aller Dinge mit Rücksicht auf den menschlichen Vorteil umgedeutet und damit Grundvorstellungen der neuzeitlichen Naturwissenschaft vorgearbeitet. An dieser Stelle kommt es zu Divergenzen in Nietzsches Gedankenbildung. Ich meine ihre oben schon einmal berührte Mittlerstellung zwischen pantheistischen und mechanistischen Denkformen. Wehrt doch Nietzsche ausdrücklich Verwechslungen seiner Philosophie mit dem aus stoischen Quellen gespeisten Pantheismus von Spinoza über Lessing und Goethe bis hin zu Schelling und Hegel ab, um sich auf der anderen Seite zu Spinoza und Goethe als seinen Vorgängern zu bekennen und mit Hegel und Hölderlin die idealistische Version der All-Einheits-Lehre auf die ältesten griechischen Denker zu übertragen. Die Abwehr gilt der Bewahrung des „Gedankens der Gedanken“ als großmächtiges, die Lehren vom Übermenschen und vom Willen zur Macht zusammenfassendes Prinzip, das in seiner Größe und Mächtigkeit erst unter spezifisch neuzeitlichen Denkbedingungen ans Licht treten konnte. Und die Übertragung, sie ist nichts anderes als eine historisch vermittelte Form der Bewährung jenes großmächtigen Prinzips, das am Anfang der griechischen Philosophie in Gedankenkeimen angelegt ist. Nietzsche hat das in seinem Spätwerk an einer Reihe von Fragmenten aus dem Nachlass verdeutlicht, die uns den Zugang zur neuzeitlichen Dimension der Wiederkunftslehre bahnen können. Der Gedanke besitzt eine in sich bewegte Architektonik, die äußerste Gegensätze der uns möglichen Denkerfahrung wie unseres Gefühlslebens umspannt. Denken wir ihn in seiner „furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts“, dann nimmt der Gedanke die Form der ewigen Wiederkehr an, die gleichbedeutend ist mit der „extremste[n] Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig“270. Nietzsche spricht auch von der „europäischen Form des Buddhismus“, der die weltverneinende Religion des Ostens nachahmt und sich in seiner Verneinungskraft dem weltfrommen Künstlerglauben Goethes und dessen Bejahung der Spinozistischen Formel: „Deus sive Natura“ versagt. Er entsteht mit der wissenschaftlich besiegelten Entgötterung der Natur durch die obersten Grundsätze der neuzeitlichen Physik, zuoberst durch den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, wonach die Summe der Energiearten im Weltall bei allen Zustandsänderungen konstant bleibt. „Der Satz 270 NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], 6, KSA 12, S. 213; Menschliches, Allzumenschliches, I, Aph. 272 (Jahresringe der individuellen Kultur), KSA 2, S. 225. Die Abwehr gilt dem naturidealistischen Pantheismus der Goethezeit, der sein Verständnis der Anfänge des griechischen Denkens dem Neuplatonismus der Renaissance verdankt. Vgl. H. Védrine, La conception de la nature chez Giordano Bruno, Paris 1967, S. 65ff.

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Der Zwiespalt in der Gedankenkonzeption

vom Bestehen der Energie“, folgert Nietzsche, „fordert die ewige Wiederkehr.“ Für Nietzsche ist das „die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen“, die den Gedanken zwingend macht und ernüchtert („Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein“), ohne das Furchtbare seiner Rückwirkung auf das menschliche Gefühlsleben zu bannen. 271 Diese Aufgabe erfüllt der Gedanke erst dann, wenn er die Kraft besitzt, das Furchtbare künstlerisch zu bändigen und in erhabene Vorstellungen umzuwandeln, mit denen sich leben lässt. Das Erhabene ist gleichbedeutend mit der Bändigung von Ekelgedanken über die furchtbaren und schrecklichen Seiten des Daseins durch den Schein der Kunst.272 Und es verdient an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben zu werden, dass sich das erste Vorspiel zur Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen in der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ dieses Leitmotivs aus dem Umkreis der ‚Geburt der Tragödie‘ bedient. „Das Erhabene festhalten zu können“273, darin hat schon der junge Nietzsche die Aufgabe der Philosophie in ihrem Kampf gegen den entfesselten Erkenntnistrieb der Wissenschaft und seine Relativierung des Wahrheitsanspruchs religiöser und metaphysischer Weltdeutungen gesehen. Der Philosoph setzt dem historischen Relativismus und der Entwertung des Überlieferten weder einen neuen Glauben noch die metaphysische „Weltanschauung“ als selbstzufriedene Abschlusssynthese wissenschaftlicher Erfahrungserkenntnis entgegen. „Er empfindet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben: der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück.“274 Diese Position seiner jugendlichen Kunstmetaphysik hat der junge Nietzsche auch nach der Abkehr von Wagner und Schopenhauer nie ganz aufgegeben. Im Gegenteil: Mit dem Auftauchen des Wiederkunftsgedankens an seinem Horizont radikalisiert sich das Problem, wie das Erhabene angesichts der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung festgehalten werden könne. Die Aufgabe, den entfesselten Wissenstrieb „zurückzubändigen“, spitzt sich jetzt auf die Frage der Entsagung zu: was das europäische Menschentum nach dem Tode Gottes von seiner inneren Welt mit ihren Höhen und Tiefen preiszugeben oder zu halten bereit sein werde. Das ist die oben berührte Leitfrage des Aphorismus 285 der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ mit dem merkwürdigen Motto: „Excelsior!“, „Höher hinauf!“. Er führt dem vom christlichen Gottesglauben abgefallenen Menschen des Zeitalters der „ersten“ Aufklärung seine Lage in eindringlichen Worten vor Augen: „Du 271 NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [54] und 5 [71], KSA 12, S. 205 und 213. 272 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 7, KSA 1, S. 57. 273 NF Sommer 1872–Anfang 1873, 19 [22], KSA 7, S. 423. 274 19 [35], ebd., S. 427f.



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wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirmen.“275 Ganz auf sich gestellt, lässt der wissenschaftlich „aufgeklärte“ Mensch seine gegensätzlichsten Gedanken und Gefühle frei laufen, er kämpft mit den Gegensätzen und wehrt sich gegen ihre Versöhnung in „irgendeinem letzten Frieden“. Er will an kein Ende der Geschichte, sondern strebt „höher hinauf“. Und dazu, so haben wir gesehen, will er zuletzt „die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden“. Es handelt sich um eine rhetorische Epagogé, die Hinführung im Sinne der Anlockung und Verführung zum mächtigsten Gedanken aus dem Geist der Entsagung. Denn dass der Tod Gottes die Verarmung zutiefst menschlicher Triebe und Antriebe zum besseren Leben mit sich führt, daran lässt Nietzsche keinen Zweifel. Wohin, so lautet seine Frage in den Vorarbeiten zu diesem Aphorismus, „werden sich all diese Triebe“ wenden? Welche „Menge schlechten intellektuellen Gewissens“ werde entstehen, „weil sie sich entladen müssen und sich dabei schämen! Nichts Festes! Nichts mit allen Gemeinsames! Mit den vergangenen und zukünftigen Wesen!“276 Und dann die Alternative zur allmenschlichen Sehnsucht nach „irgendeinem letzten Frieden“, die ewige als christlich verheißene Hoffnung einer Wiederholung des verlorenen Paradieses am Anfang der Menschengeschichte. Was bietet Nietzsche dagegen auf? Die Kraft zur Überwindung der Entsagung in der Form des Gedankens der ewigen Wiederkunft von Krieg und Frieden! In der Sache handelt es sich um eine Wahrsagung aus dem Geist der Fülle des Menschentums und seiner vergangenen, untergegangenen Lebensmöglichkeiten. Um sie zu verstehen, müssen wir uns aller politischen Konnotationen in der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden enthalten und die Begriffe auf jenes Bild beziehen, woran sich ihr Zusammenhang veranschaulicht: auf den zum „See“ angestauten Zeitfluss des ewigen Werdens, „der es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher“.277 Er wird, das will Nietzsche sagen, zum Meer der Zeit, das in sich zurückflutet und alles menschlich Gezeitigte hebt. Und so werde vielleicht einmal „gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfliesst“278. 275 KSA 3, S. 527. Vgl. den Abdruck der gestrichenen Vorentwürfe im 4. Buch der Fröhlichen Wissenschaft, KSA 14, S. 264. 276 KSA 14, S. 264. 277 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 285, KSA 3, S. 528. 278 Ebd.

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Die Wiederkunftslehre, das gibt dieses Vorspiel zu verstehen, ist jene neue Lehre, die nach der Denkerfahrung vom Tode Gottes an die Stelle des christlichen Gottesglaubens tritt. Der christliche Glaube an den Gott des Alten und Neuen Testaments erhofft den ewigen Frieden, der nur im Jenseits zu finden ist: als Erfüllung des irdischen durch das himmlische Paradies. Nietzsches Hoffnung ruht auf der altgriechischen Gotteserfahrung, die „den Gott“ diesseits der Zeit erfährt, in der Einheit gezeitigter Gegensätze: als Tag und Nacht, Winter und Sommer, Sättigung und Hunger, Krieg und Frieden. Gott, so hat Heraklit diese Erfahrung zur Sprache gebracht,279 umfasst alle Gegensätze; und er wandelt sich, genauso wie das Feuer und – die Zeit. Wer mit Nietzsche die ewige Wiederkunft des Gleichen bejaht, der anerkennt mit Heraklit die Gleichheit sich ausschließender, wechselseitig negierender Gegensätze. Er bejaht das Diesseits trotz seiner furchtbaren und schrecklichen Erscheinungen, ja, er will es „wieder“ in der ihm eigenen, ewigen Negativität, die nicht, wie bei Hegel, „im Absoluten ihre Versöhnung findet, sondern als ewige Zerrissenheit und ewiger Widerspruch die Bedingung der Möglichkeit für das Leben ist“280. Zu Nietzsches Entsagung gehört sein Verzicht auf die dialektische Versöhnung der Gegensätze im Medium des absoluten Geistes. „Geist“ ist ihm lebendiger Gedanke, Leben, das ins Fleisch schneidet. Statt absolut zu sein, ist der Gedanke, Krieg und Frieden um des Lebens im Diesseits willen zu ertragen, „erhaben“. Und er bleibt es, weil er durch die Erkenntnis der notwendigen Einheit dieser Gegensätze mitten im Diesseits eine neue Form des Jenseits begründet. Indem er beide bejaht, steht der Gedanke „jenseits von Gut und Böse“. In seiner erhabenen Form verdankt sich der Wiederkunftsgedanke Heraklit, genauer gesagt: Nietzsches pantheistischer Heraklit-Interpretation, die mit Hegels Pantheismus und seiner Heraklit-Deutung zu vergleichen sein wird. Im Gegenzug zur neuzeitlichen Entgöttlichung der Natur konzipiert, versucht Nietzsche, im Rückgang auf das früheste Griechentum, den Menschen über eine im Gedanken angelegte Naturdeutung zu „vernatürlichen“. Denn dass „alles vollkommen, göttlich, ewig“ sei, dieser pantheistische Grundsatz „zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die ‚ewige Wiederkunft‘“.281 Ja, mehr noch: Er nötigt zu der Frage, ob mit der Moral auch die „pantheistische Ja-Stellung“ zu allen Dingen unmöglich werde: „Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? – Das 279 Fr. B 67. 280 So G. Picht in seiner Nietzsche-Vorlesung, Stuttgart 1988, S. 205. 281 NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], 7, KSA 12, S. 213. Vgl. dazu die behutsame Interpretation dieses Fragments durch E. Heftrich, Nietzsches Philosophie. Identität von Welt und Nichts, Frankfurt/M. 1962, S. 247ff.



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wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche.“282 Der Gedanke in seiner furchtbarsten und erhabensten Form, die ewige Wiederkehr als gesetzlich notwendiger Zwang und die Wiederkunft als frei bejahte Erwartung des Gleichen, das sind die äußersten Pole, die der Aufbau des Lehrbegriffs zwischen mechanistischer Physik und pantheistischer Metaphysik in Nietzsches Spätwerk umspannt. Beide Gedanken konvergieren in Extrempositionen des neuzeitlichen Akosmismus. Sie leugnen die Existenz einer kosmischen Ordnung zugunsten der hypothetischen Annahme eines unendlichen Energieprozesses, traditionell gesprochen: der All-Einheit eines werdenden Gottes und seiner Gegenwart in Allem. Und sie unterscheiden sich darin, dass die erste Gedankenform den Akzent auf die rückläufige Bewegung am Ende eines bereits gegangenen Weges legt, während die zweite gleichsam ein Ziel ohne festgelegten Weg anvisiert. Ein Unterschied, der sich auch sprachlich akzentuiert, sofern der Gedanke in seiner furchtbarsten Form mit dem Verb „kehren“ das Unausweichliche, Festgelegte des Endpunkts der Bahn ausdrückt, ihre unausweichliche Wiederholung, während der Gedanke in seiner erhabenen Form über das Verb „kommen“ einen Ort auf einer nicht näher bestimmten Wegstrecke anzielt, der als Mitte des Weges ausgezeichnet werden, jene „Kunft“, die im großen Mittag oder im herausgehobenen Moment des Prozesses erreicht würde: im Falle der Verwandlung des Menschentums durch den „Gedanken des Gedanken“.283 Wiederkehr und Wiederholung, Wiederkunft und Verwandlung, Rückkehr und Wiedergeburt, das ist jenes semantische Feld, worin sich die dem Lehrbegriff zugrunde liegenden Gedankenformen aufbauen. Soweit ich sehe, hat Nietzsche an keiner Stelle seines Denkwegs die einzelnen Wortbedeutungen voneinander geschieden, sodass es nicht verwunderlich erscheint, wenn die Nietzsche-Forschung diesen Unterscheidungen bislang kaum nachgegangen ist. Ich setze unseren Gedankengang mit einigen wenigen Bemerkungen zur Dichtungsform der Wiederkunftslehre fort, die mir Gelegenheit geben, ihre sprachlichen Dimensionen weiter auszumessen und gewonnene Einsichten zu differenzieren.

282 NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], 7, KSA 12, S. 213f. 283 Ich beziehe mich hier auf Gespräche mit dem Philologen Gottfried Meinhold, Jena, dem für hilfreiche Sprachunterscheidungen gedankt sei.

V. Das Doppelgesicht der Grundlehre

Große Dichter, notiert sich Nietzsche während der Abschlussarbeiten zum 4. Teil des Zarathustra-Werks, „haben viele Personen in sich: manche nur Eine, aber eine große!“284 Die Notiz mag sich auf Byrons ‚Manfred‘ beziehen, das frühe Vorbild einer großen Personen-Dichtung, vielleicht aber auch, trotz früh angesprochener und nie ganz preisgegebener Vorbehalte, auf Goethes ‚Faust‘. Mehr noch spielt sie auf jenes fast abgeschlossene Werk an, das Nietzsche im endlichen Freiwerden zu seinem Dichtertum Gelegenheit gibt, das „Unerlöste“ seiner Jugend zu lösen, das „Ungeredete“ zu sagen.285 Und das „Ungelöste, Ungeredete“, das ist die dichterische Darstellung des Wiederkunftsgedankens in Gestalt der einen, großen Person, die Nietzsche immer schon, inmitten des dargestellten, gelebten Kampfes von Gedanken-Personen nach dem Abschluss des Tragödien-Buches in sich trug. „Dort ist die Gräberinsel“, lässt Nietzsche Zarathustra, den personifizierten Denker-Dichter, in einem unvergleichlich einfachen, zarten Bild für den Gedanken der ewigen Wiederkunft sagen, „dort sind auch die Gräber meiner Jugend: dahin will ich einen immergrünen Kranz des Lebens tragen.“286 Wer sich den dichterisch durchkomponierten Aufbau des Zarathustra-Werks vergegenwärtigt, dem kann nicht entgehen, wie genau die verschiedenen Züge der Hauptgestalt in diesem Gedankendrama aufeinander abgestimmt sind, sodass keine sich für sich darstellt oder gar unabhängig von Nietzsches Grundverständnis der Philosophie als „heimlicher Kampf mit Gedanken-Personen“ gedeutet werden kann. Und er wird auch nicht verkennen, dass die dichterische Komposition widerspiegelt, was Nietzsche früh als Grundzug der griechischen Dichtung erkannte: den Agon im Sinne eines großen Ringkampfs um die Vereinigung von Schönheit und Macht im gelungenen Werk der Kunst.287 Denn als Agon erscheint in der Nachbildung dieses Kampfes in der Zarathustra-Dichtung die Denkkunst, die sich hier über die Erfahrung des Schönen und seiner Macht über das Menschentum ins Werk setzt. Die Anspielung auf das griechische Vorbild im denkerischen Kampf um die Selbstüberwindung des Lebens durch kunstvoll gefügte Andeutungen seiner Geheimnisse zeigt es an: „In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen 284 NF Frühjahr 1884, 25 [87], KSA 11, S. 31. 285 NF Sommer 1883, 10 [5], KSA 10, S. 367. 286 Ebd., S. 366. Das Bild ist leider im Text der Zarathustra-Dichtung verloren gegangen. Vgl. Also sprach Zarathustra II: Das Grablied, KSA 4, S. 145. 287 Homers Wettkampf (1872), in: KSA 1, S. 787. Vgl. E. Vogt, Nietzsche und der Wettkampf Homers, in: Antike und Abendland 11 (1962), S. 103ff.



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will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten, – darum braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden [...] Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte, um das Geheimnis alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten! Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei und Krieg um Macht und Übermacht: das lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichnis.“288

Denken, Dichten, Schaffen: Lob der Vergänglichkeit In diese Höhe gelangt der Lehrer dann, wenn er sich aus dem Abgrund, der Tiefe des Lebens, erhebt. Und die Erhebung gelingt ihm nur unter der Voraussetzung, dass er dem Gipfel der Lehre zustrebt, die sich im Gang nach oben auftürmt. Er erreicht ihn dann, wenn er alle Begründungsstufen und Widersprüche zwischen den Stufen und Steigenden hinter sich lässt und den Punkt der Selbstbelehrung ins Auge fasst. Es ist der oberste Gesichtspunkt im Grundverhältnis von Leben und Lehre, der sich am kompositorischen Aufstieg der Zarathustra-Dichtung dort abzeichnet, wo die Denkkunst den Agon selbst überwindet, das Denken allem Kampf absagt und schließlich zum Dank wird: zur reinen Dichtung des Gedankens, die das gezeitigte Dasein in seiner Wiederkunft bejaht.289 Dieser dichterischen Komposition des Wiederkunftsgedankens, der die Zeit gleichsam neu „erfindet“ und das Vorgefundene, ihre traditionell-linearen Deutungen, „umschafft“, gilt es im Folgenden nachzudenken. Zarathustra tritt uns im 1. Teil des Gedichts als Lehrer des Übermenschen entgegen, jenes Ideals, das den Menschen „überwindet“. Dass er etwas sei, das überwunden werden muss, dieser Satz umschreibt im 2. Teil das Geheimnis der Lehre vom Leben, das an der Zeit leidet und sein Leiden im Willen zur Macht zu überwinden sucht.290 Sie bereitet auf die Schwere des Denkkampfs im 3. Teil vor, den Kampf gegen das höchste Hindernis für das Leben, das als unwälzbarer Felsblock der Vergangenheit („Es war“) am Grunde des ewigen Flusses aller Dinge liegt. Dass unser Wille nach der Lehre vom immer vorwärts strömenden Zeitfluss nicht zurück wollen und Getanes ungeschehen machen kann, dieser allen eingewurzelte Widerwille gegen das Vergangene ist der Grund seines Leidens an der Zeit, die in den überlieferten Welt288 Also sprach Zarathustra, II: Von den Taranteln, KSA 4, S. 130f. 289 Vgl. bereits: Vor Sonnen-Aufgang, KSA 4, S. 207–210. Nach der ursprünglichen Konzeption sollte die Zarathustra-Dichtung mit einem „Dankgebet des Genesenden“ enden (KSA 10, S. 517). 290 NF Herbst 1883, 18 [48], KSA 10, S. 579. Vgl. Also sprach Zarathustra, II, KSA 4, S. 148.

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Das Doppelgesicht der Grundlehre

religionen gleichsam als Rache und Strafakt für menschliche Schuld betrachtet wird; eine Betrachtungsweise, die das Vergangene in Gedanken „verfolgt“ und damit im buchstäblichen Sinne des Wortes „blockiert“. Denn zum Betrachten gehört immer die „geheimnisvolle Gegnerschaft“, ein Entgegenschauen,291 das sich auf etwas zu-arbeitet, ihm nachstellt, um es gedanklich zu vereinzeln oder in dem, was „es war“, sicherzustellen. Zarathustras „Trachten“ ist ein Dichten, das alles Vergangene „in den Guß wirft“.292 All sein „Dichten und Trachten“ richtet sich darauf, „dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall“.293 Als Dichter ist Zarathustra Rätselrater und Löser vom Vergangenen, der das erstarrte „Es war“ wieder zum Fließen bringt. Und als Denker liegt nach seiner Lehre vom Übermenschen und vom Willen zur Macht im menschlichen Schaffen der Schlüssel zum Geheimnis jener anderen Zeitlehre, die auf dem „Wege des Schaffenden“294 als Kern der gesuchten Lebensweisheit freigelegt wird. Ihm von den Anfängen her nachzugehen, das verlangt zuvor eine Klärung des Verhältnisses von Denken und Dichten in Nietzsches Werk. Wenn wir uns an Nietzsches grundsätzliche Erwägung zu diesem Problemkreis halten, so sehen wir uns an seine frühe Bewunderung für Friedrich Hölderlin zurückverwiesen. An Hölderlins Empedokles-Drama hat er den Keim der Lehre gewahrt, die „Wahrheit der Wiedergeburt“295, das heißt: die dichterische Verklärung des Glaubens von Empedokles an seine „Wiederkehr“ und den Vorrang des „Bleibens“ gegenüber dem Vergehen. Und durch seinen Roman ‚Hyperion‘ ist ihm zuerst der Zusammenhang des Dichtens mit dem Denken aufgegangen: dass die Philosophie bei den Griechen „aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seins“ entspringt, dem Mythos im ursprünglichen Wortsinn des Seins-Ganzen, das vor ihm zur Sprache kommt: „Nun konnte man bestimmen, das Ganze war da. Die Blume war gereift; man konnte nun zergliedern.“296 Hölderlins Verständnis der Dichtung als Vorspiel zur Philosophie der Wiederkunft mag in Nietzsche nachgewirkt haben, als er in der Auseinandersetzung mit ‚Richard Wagner in Bayreuth‘ (1876) einen eigenen Standort zu gewinnen sucht. Und dabei mögen Hölderlins Anspielungen auf das Ursprungsverhältnis dichterischer Sprechweisen vom Ganzen des Seins in Bildern und Gleichnissen 291 Richard Wagner in Bayreuth, 7, KSA 1, S. 466. Vgl. M. Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 51f., dem jedoch Nietzsches Begriffsverständnis entgeht. 292 NF Sommer–Herbst 1883, 15 [6], KSA 10, S. 480. 293 Also sprach Zarathustra, II: Von der Erlösung, KSA 4, S. 179. 294 Ebd., S. 80–82 (I). 295 NF September 1870–Januar 1871, 5 [118], KSA 7, S. 126. 296 Hyperion, 1. Band, 2. Buch, in: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3, S. 81.



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zur Verständigung über den abgeleiteten Charakter begrifflich zergliedernder Denkvorgänge hilfreich gewesen sein. „Denken in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Gedanken ist das eigentlich Dichterische.“297 Von diesem Grundsatz gehen Nietzsches Überlegungen aus. Sie markieren den Unterschied zwischen Denken und Dichten am Mythos, dem kein Gedanke zugrunde liegt, wie man gewöhnlich meint, sondern „der selbst ein Denken ist, aber nicht in Begriffen, ich meine ein Weltbild, welches nicht in Worten zu umspannen ist, sondern in Vorgängen“298. Und sie verdeutlichen das Denken in Vorgängen am Gleichnis vom Tauben, der keine Musik hört, sondern auf den mit Sand bestreuten Platten Figuren sieht, die nach Chladnis Experiment von Schwingungsfrequenzen der Töne ausgelöst werden. Was die Musik dem Tauben an den sichtbaren Sandfiguren „bedeutet“, das ist der Mythos dem Volk, das sein Dasein nur in Vorgängen zu denken versteht. Und für den „Nichtdenker“, die Menschen des Volkes, dafür „dichtet der Dichter, der darin selbst zum Volk, ich meine zu den Nichtdenkern, gehört“299. Der Dichter deutet dem Volk sein Dasein im Ganzen des Seins. Jede Dichtung, die diesen Namen verdient, und dazu zählt der junge Nietzsche den Text von Wagners ‚Ring des Nibelungen‘, ist ein „ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens“. Der Nibelungen-Ring ist Mythos: Einheit von Bild, Handlung, Vorgang. Vielleicht, so folgert Nietzsche, könnte dem ein Philosoph etwas zur Seite stellen, das ganz ohne Bild und Handlung wäre, womit man dann zwei disparate Sphären ohne Übergänge hätte. Aus der einen käme man nicht in die andere hinein; was für den Dichter bedeuten würde, dass die von seinen Helden geäußerten Gedanken nicht mit den Gedanken des Dichters zusammenfielen. Als Dichter kann er sich von der gedichteten Gedanken-Person distanzieren. Was sie lehrt, muss nicht notwendig mit seinem eigenen Denken zusammenfallen. Den Dichter interessiert das Ringen der Person um die Wahrheit des Gedankens, ihm genügt die dramatische und szenische Darstellung wechselnder Lagen und Situationen des Denkkampfs. Der Held einer Dichtung denkt in Vorgängen, denn „die Folge der Scenen, und das was vorgeht, ist sein Denken. Nur die vielen Halbdichter bringen eine Verwirrung hervor: d. h. die Künstler, die nicht ganz Dichter sind.“300 Kein Zweifel: In diesem Gedankengang klingt das Leitmotiv zur Zarathustra-Dichtung an; nur dass Nietzsche mit jenem Werk die getrennten Sphären zu verbinden, als reiner Dichter zugleich reiner Denker zu sein versucht, der 297 NF Sommer 1875, 11 [18], KSA 8, S. 203. 298 Ebd. Vgl. dazu die Ausführungen bei G. Picht, Nietzsche, ebd., S. 352ff. 299 NF Sommer 1875, 11 [18], KSA 8, S. 203. 300 Ebd.

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von einer Sphäre in die andere übergeht, um sein Gedankengefüge in anschaulichen Vorgängen und Szenen zu entfalten. Hat doch Nietzsche selbst an dem in ‚Richard Wagner in Bayreuth‘ gezeichneten Idealbild des „dithyrambischen Künstlers“ das „Bild des präexistenten Dichters des Zarathustra“ gesehen.301 Als Wegweiser für die Zukunft wird der Dichter schon in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ zum Denker, der wie ein phantastischer Nationalökonom „günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bild“ vorwegnimmt. Der künftige Denker-Dichter ist kein Utopist. Sondern wie früher die Künstler an den Götterbildern fortarbeiteten, so wird er nach Nietzsches auf die Lehre vom Übermenschen vorausweisenden Vergleich „an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne grosse Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft“302. Wir stoßen damit auf das Schlüsselwort in Nietzsches Wiederkunftslehre, und es scheint mir wichtig zu bemerken, dass es uns hier zuerst im Zukunftshorizont der Zeit entgegentritt. Im Zusammenhang mit dem zeitlichen Horizont der Vergangenheit (der Gewohnheit, dem Brauch) ist es uns schon eingangs begegnet (vgl. Einleitung), und der Leser wird sich erinnern, wie das Wort dort vom Gründungsbegriff unterschieden wurde: „[...] wo man nicht zu ergründen wusste, da lernte man schaffen.“303 Diese Unterscheidung ergänzen wir jetzt durch den von Nietzsche getroffenen Unterschied zwischen Erschaffen und Schaffen. Das auf dem Weg zur Zarathustra-Dichtung profilierte Begriffswort bezeichnet kein absolutes Erschaffen aus Nichts (das christliche Schöpfungsverständnis) und auch kein bloß technisches Können (das griechische Verständnis von Poiesis, „Herstellung“ von etwas aus einem passiven Stoff und Material), sondern einen Lebensvorgang, der dem unbewussten Zeugen nähersteht als dem bewussten Machen von Werken der Technik. Es ist immer das Resultat einer „überschüssigen Macht“ und in der wohlverstandenen Einheit des Schaffens mit dem Zeugen „das Einverleiben seines eigenen Bildes in fremden Stoff. Deshalb muss der höhere Mensch schaffen, d. h. sein Höhersein Anderen aufdrücken, sei es als Lehrer, sei es auch als Künstler. Denn der Künstler will sich mittheilen und zwar seinen Geschmack [...] Ebenso steht es mit den Philosophen: 301 Ecce homo: Die Geburt der Tragödie, 4, KSA 6, S. 314f. 302 Menschliches, Allzumenschliches, II, 1. Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 99, KSA 2, S. 419. 303 Morgenröte, 1. Buch, Aph. 40, KSA 2, S. 47.



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sie wollen ihren Geschmack an der Welt herrschend machen.“ 304 Als Schaffende schenken sie, und der schenkende Künstler wie der Lehrende sind beide „Vorspiele der Herrschenden“305. In seiner Verwandtschaft mit dem Zeugen rückt Nietzsches Begriff des Schaffens in die Nähe des Aristotelischen Praxisbegriffs. Hatte doch Aristoteles vom Leben (Bios) gesagt, es sei nicht Poiesis, Herstellung seiner selbst durch ein einmaliges Werk, sondern Praxis, sich wiederholendes Handeln, das dem lebenden und handelnden Menschen ein ständiges AmWerke-Sein abverlangt.306 Das Schaffen im Sinne des Lebens richtet sich in der Tat auf es selbst und dient ausschließlich zu seiner Steigerung und Erhöhung. Es ist nicht bloß Tun (poiein), sondern Leiden (paschein), dem es entspringt: als Erlösung von seinem Ursprung, dem Leiden, das doch nötig bleibt für den Schaffenden.307 Und in dieser Gleichursprünglichkeit des Lebens mit dem Leiden verweist der Lebensvorgang des Schaffenden auf das „Schöpferische“ in jedem organischen Wesen: dass alles, was seine „Welt“ ausmacht, eine „Summe von Werthschätzungen“ darstellt, dass nicht erst unser „Geschmack“, sondern schon unsere Sinnesempfindungen (von der Farbenskala angefangen bis hin zu Tasteindrücken auf der breiten Skala zwischen „weich“ und „hart“) vererbte „Werthschätzungen und deren Abzeichen“ sind.308 Wie das Schaffen für Nietzsche keine Poiesis ist, nicht „Herstellung“ im technischen Wortsinn, so fällt es auch nicht mit Praxis zusammen: „Handlung“ im sittlich-kommunikativen Sinne des Aristotelischen Begriffswortes. Wie unser „tausendfältig schaffendes Verhalten in jedem Augenblick“ zeigt, gehört es vielmehr „zu den unveräußerlichen und beständigen Eigenschaften der Welt selber“.309 Und dennoch dominiert darin die Sphäre der Kommunikation. Alles Schaffen ist nach Nietzsche liebendes Sichmitteilen und Schenken, und der Erkennende wie der Schaffende und Liebende sind „Eins“.310 Die Figur des Schaffenden ist so reich an Weltbezügen, dass sie neben dem Künstler und Lehrer den Erkennenden mit umfasst. Auch das Erkennen ist ein Schaffen, und zwar ein solches, das kein Ende hat.311 Müsste doch jedem Menschen, konsequent gedacht, eine Erklärung der Welt entsprechen, die ganz ihm gehört: als eine „erste Bewegung“, wodurch das Erkennen mit jedem Individuum und der zu ihm gehörigen Generation immer wieder von vorn anfängt. Es 304 NF Frühjahr–Sommer 1885, 7 [107], KSA 10, S. 278. 305 NF Sommer–Herbst 1883, 15 [27], KSA 10, S. 486. 306 Vgl. Politik I 4, 1254a7; Nikomachische Ethik VI 4, 1140a1–17. 307 NF Herbst–Winter 1882/83, 5 [1], 226, KSA 10, S. 213. 308 NF Frühjahr 1885, 34 [247], KSA 11, S. 503. 309 NF Sommer–Herbst 1884, 16 [209], KSA 11, S. 205. 310 NF Winter 1882/83, 4 [23], KSA 10, S. 115. 311 Ebd., 5 [1], 215, S. 211f.

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gibt keine andere Form von Erkenntnis als die des „Erst-Schaffens“, denn es ist kein theoretisches Verhalten eines leiblosen „Bewußtseins überhaupt“, sondern „ein Begehren und Durst“. So ist auch das Erkennen ein „Zeugen“, Liebe zum Leiblichen und zur Welt. Und als Schaffen ist es zugleich ein „Nicht-erkennen“. Warum? Weil das „Durch-schauen“ der Welt im Großen und Kleinen das Ende des Schaffens und damit „der Tod, der Ekel, das Böse“ wäre.312 Ist doch das Schaffen, wie wir gehört haben, selbst eine unveräußerliche und beständige Welt-Eigenschaft, die in der Zeit nicht aufgehoben werden kann. Um den kosmischen Sinn des Schaffens zu verdeutlichen, charakterisiert Nietzsche das Ganze der organischen Welt als eine „Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich“, „die ihre Kraft, ihre Begierden und Gewohnheiten in den Erfahrungen außer sich heraussetzen [...] Die Fähigkeit zum Schaffen (Gestalten Erfinden Erdichten) ist ihre Grundfähigkeit: von sich selber haben sie natürlich ebenfalls nur eine solche falsche erdichtete vereinfachte Vorstellung.“313 Von diesem Ganzen bildet das Menschentum einen Teil, der das Ganze der organischen Welt „einzusehen“ und sich in seinem Gestalten, Erfinden und Erdichten dementsprechend zu verhalten vermag. Er steigert die Welt-Bezüge des Schaffens und gelangt dadurch in ein Verhalten zu sich, das nicht mehr nur seine Erfahrungen außer sich heraussetzt! „Das ist der Trieb der That und des Werks.“314 Der Trieb der Tat ist Praxis, der Werktrieb Poiesis, Dichtung im Sinne des Lebens. Dichten heißt nach Nietzsche, dem Menschentum sein Dasein im Ganzen der Zeit deuten und an der Zukunft schaffen. Vorausgesetzt, dass am Deuten das Denken teilhat, so schließt diese Aufgabe in sich ein, die überlieferten Zeitbegriffe zu klären, sie entweder ab- oder umzuschaffen. „Was am letzten den Philosophen aufdämmert“, bemerkt Nietzsche in diesem Zusammenhang, sei der Umstand: „Sie müssen die Begriffe nicht mehr nur sich schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden.“315 Schaffen ist, wie wir gehört haben, kein Erschaffen aus nichts, sondern, wie alles Deuten und Interpretieren, ein Umschaffen des Geschaffenen, „damit sich’s nicht zum Starren waffne“ (Goethe). Ein Interpret sein, das heißt nicht nur, „Begriffe“ klären oder neu schaffen, sondern für eine Sache oder Person sprechen. Und in dieser Hinsicht versteht sich Nietzsche, der für Zarathustra spricht und mit ihm die Zeit unter dem alten, wieder aufgehellten Begriffshorizont der ewigen Wiederkunft interpretiert, als dreifacher 312 Ebd., 5 [1], 213, S. 211. 313 NF Frühjahr 1885, 34 [247], KSA 11, S. 503. 314 Ebd.; sowie NF Winter 1882/83, 5 [1], 203, KSA 10, S. 209. 315 NF Frühjahr 1885, 34 [195], KSA 11, S. 486f.



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Fürsprecher, zugunsten des Lebens, des Leidens und des Kreises.316 In Nietzsches Vorspielen zur Zarathustra-Dichtung verkörpert er den „schaffenden Geist“, der nicht die Welt oder die Zeit „erschafft“, sondern den Gedanken der Wiederkunft schafft: „Die Welt steht fertig da, eine goldene Schale des Guten – aber der schaffende Geist will auch das Geschaffene noch schaffen – der erfand die Zeit, und nun rollt die Welt auseinander und rollt wieder in großen Ringen in sich zusammen – als ein Werden des Guten durch das Böse.“317 Der schaffende Geist, das ist der „große Mensch“, der im übermenschlichen Willen zur Macht die Welt im Großen nicht nur ästhetisch zu „verklären“ oder zu „rechtfertigen“, sondern zu verstehen sucht. In den Vorarbeiten hat Nietzsche diesen Aspekt seiner Konzeption mehrfach verdeutlicht. Der Übermensch mag „Ziel“, der Wille zur Macht „Grund“ allen Geschehens in der Welt sein. Aber entscheidend ist, dass sich beides nicht ohne den „Zufall“, der große Mensch nicht ohne die Erfahrung des „kleinen“ („letzten“) Menschen, der Wille zur Macht nicht ohne Erfahrungen der Ohnmacht denken lässt. Deshalb muss es „möglich sein die Welt nach Zwecken und die Welt durch Zufall zu erklären: ebenso als Denken, ebenso als Wollen, ebenso als Bewegung, ebenso als Ruhe: ebenso als Gott und ebenso als Teufel. Denn das Alles ist das Ich.“318 Es sind, so folgert Nietzsche, „nicht unsere Perspektiven, in denen wir die Dinge sehen; aber es sind Perspektiven eines Wesens nach unserer Art, eines größeren: in dessen Bilder wir hineinblicken“. „Meine Vorfahren“, hat Nietzsche gelegentlich notiert, sind „Heraclit Empedocles Spinoza Goethe.“319 Die Notiz bestätigt unsere Annahme, wonach die Wiederkunftslehre ihren Grund in der pantheistischen Ja-Stellung zu allen Dingen „jenseits von Gut und Böse“ findet, wie sie als Antwort auf die „Entgottung“ der Welt durch die neuzeitliche Naturwissenschaft auf dem Weg von Spinoza über Goethe bis hin zu Hölderlin und Hegel gewonnen worden ist. Die Grund-Konzeptionen der Lehre folgten dem großen Bestreben der klassischen deutschen Philosophie, einen „Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden“320. Ihre Ursprünge, so wird sich zeigen, weisen zurück auf die Philosophie des tragischen Zeitalters der Griechen, die Nietzsche durch Hölderlin verstehen gelernt hat. 316 Also sprach Zarathustra, III: Der Genesende, KSA 4, S. 271. 317 NF Winter 1882/83, 4 [174], KSA 10, S. 162f. 318 4 [172], ebd., S. 162. 319 NF Frühjahr 1884, 25 [454], KSA 11, S. 134. Vgl. dazu die Prolegomena zur Abhandlung von U. Hölscher, Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit, in: Neue Hefte für Philosophie 15/16 (1979), S. 156ff. 320 K. Schlechta (Hrsg.), Nietzsche, Werke Bd. 3, S. 495.

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Und wenn ihm diese schwerste aller Aufgaben gelingt, die dem dichterischen „Wegweiser für die Zukunft“ aufgegebene Verleiblichung der Seele ins Leben, wird er den Denker in ihm vom „Wahn der Kontemplativen“ heilen: das heißt von jenem durch die neuzeitliche Naturwissenschaft überholten Rollenspiel der Theorie, das den Philosophen als Zuschauer und Zuhörer vor das große Schauund Tonspiel des Lebens hinstellt und dabei übersehen lässt, dass „er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist, – dass er sich freilich vom Schauspieler dieses Drama’s, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste vor der Bühne“321. Der Philosoph nimmt am Spiel des Lebens teil; aber nicht nur als Weisheitslehrer, der den handelnden Menschen zum Denken anleitet, sondern als Dichter, der alte, geschichtlich verdeckte Lebensmöglichkeiten wieder freilegt oder neue aufzeigt. „Hier sind Hoffnungen“, mit diesen Worten wendet sich Nietzsche in einer Zwischenrede an die Leser der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, „was werdet ihr aber von ihnen sehen und hören, wenn ihr nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Gluth und Morgenröthen erlebt habt? Ich kann nur erinnern – mehr kann ich nicht! Steine bewegen, Thiere zu Menschen machen – wollt ihr das von mir? Ach, wenn ihr noch Steine und Thiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus!“322 Es handelt sich um eine vorläufige Rollenbestimmung des dionysischen Weisheitslehrers, denn Orpheus ist nach Nietzsche „der älteste Musensohn und erste Dionysospriester, eigentlich nur eine Heroisierung des Gottes, ‚der Dunkle‘“323. Ihm obliegt die Verwandlung des Toten in das Lebendige; eine Aufgabe, die erfüllt sein muss, damit der Dionysosjünger die ihm aufgetragene Erinnerung an neue Lebensmöglichkeiten vollbringen kann. Und es handelt sich zugleich um eine Grund-Bestimmung des geschichtlich überlieferten Verhältnisses von Dichten („Machen“) und Tun, Poiesis und Praxis in ihrer Zuordnung zum Leben (Bios). Das Dichten, dabei bleibt es, stellt ein Werk her. Aber das Herstellen von etwas Neuem unterscheidet es nicht mehr vom Handeln im Sinne des sittlichen Tuns, das wie das Leben selbst „ständig am Werk bleibt“, En-ergeia und nicht Ergon ist. Leben wiederholt sich, es kommt immer wieder auf sich selbst zurück; und eben darum, so hatte Aristoteles gesagt,324 ist Bios nicht gleichbedeutend mit Poiesis, sondern Praxis: Leben als wiederkehrendes Handeln. In Nietzsches Denken verschieben sich die Gewichte der Interpretation dieser Lebensphänomene. Und das Schwergewicht, so scheint mir, liegt auf seiner 321 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 301, KSA 3, S. 540. 322 Ebd., Aph. 286, KSA 3, S. 528. 323 Der Gottesdienst der Griechen, Philologica III, S. 24. 324 Politik I 4, 1254a 5–7; 7, 1255b 35–37.



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Umdeutung des Verhältnisses von Kunst (Poiesis) und Leben. Dem Lehren und Lernen – wir haben diesen Zusammenhang oben berührt – geht das Schaffen voraus, das Sache des Dichters ist: „Wir, die Denkend-Empfindenden“, so drückt sich der angehende Verfasser des Zarathustra-Werks aus, „sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen.“325 Der Lehrer wie der Lernende, der Denker wie der Praktiker, sie können ihre Rollen im Leben nur dann spielen, wenn zuvor die Rollen und der Text des Schauspiels dichterisch entworfen worden sind. Und die Entwürfe, sie richten sich auf jene Maximen des Handelns, jene Wertschätzungen des Lebens, die als Prämissen praktischer Entschlüsse menschlich „einzuverleiben“ sind: „Diese von uns erfundene Dichtung“, so bestimmt Nietzsche abschließend das Verhältnis der philosophischen Poiesis zur Lebenspraxis, „wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja, Alltäglichkeit übersetzt. Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen.“326 Die Abschlussbestimmung präludiert der Darstellungsform des Wiederkunftsgedankens in der Zarathustra-Dichtung. Sie ist der einzigartige Fall eines literarischen Kunstwerks, das sich in der Form von Reden, Handlungen und Gesängen seines Titelhelden aufbaut und dennoch nicht als Poiesis, sondern als Praxis und Vorspiel zu einer „neuen Art zu leben“, das heißt: als praktische Philosophie, versteht. Ihr „Refrain“ lautet: „Wer soll der Erde Herr“327, wer Hirt sein? Die praktische Philosophie wird jedoch nicht lehrmäßig aufgebaut. Vielmehr wird dichterisch, in der Form von Bildern und Gleichnissen, von Gesichten und Rätseln, gezeigt, wie ihre Grundkonzeptionen zu verstehen oder Missverständnisse zu vermeiden sind. Was das Werk entfaltet, ist keine Lehre im systematischen Sinne von zusammenhängenden Gedankengängen, sondern die Darstellung, wie sie sich in einem Lehrer personifiziert, der darin sein Schicksal erfährt: den Gedanken der ewigen Wiederkunft zu lehren. Er selbst ist in seiner Personifikation eine „Gedanken-Person“, die erst werden muss, was sie ist. Dieser Zwiespalt: wie man wird, wozu man bestimmt ist, kennzeichnet das Drama der Philosophie,

325 Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aph. 301, KSA 3, S. 540. 326 Ebd. 327 NF Frühjahr 1884, 25 [247], KSA 11, S. 76.

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jenen „heimlichen Kampf mit Gedanken-Personen“, der ihre Geschichte durchzieht und hier ganz zur innersten Denkerfahrung der Hauptperson geworden ist. Aus dem Spannungsverhältnis von Denken und Dichten erklärt sich die eigentümliche Darstellungsform der Zarathustra-Dichtung. Indem sie wie in einem steten Vorspiel das Schicksal des Lehrers der Wiederkunftslehre zu verstehen gibt, bezieht sie sich der Form nach auf den Vollzugssinn des Dichtens in dem oben erörterten Sinne des Schaffens, das teils ein Umschaffen vorliegender, teils ein Erwecken vergessener Gedankenformen ist, ein ernstes und zugleich heiter parodierendes Formenspiel mit poetischen (lyrischen, epischen, tragischen) und rhetorischen Traditionselementen. Und zum anderen ist es der Gehaltssinn des Denkens, der sich wie von selbst, „spielerisch“, in die Darstellungsform „einlegt“, sodass er dann im freien Gedankenspiel gedeutet und ausgelegt werden kann. Jenes Spiel freilich ist Wettkampf im ursprünglich griechischen Sinn des Agon: Kampf des Denkens mit dem Dichten. Und daraus entspringt der große Denkkampf um die Deutung der obersten Prämissen menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, der höchsten Ziele und Werte des Menschentums in seinem Verhältnis zum Ganzen des Seins von Natur und Geschichte. Er folgt dem Grundsatz: „Mit allen Kräften die stillstehenden ewigen Werthschätzungen umwerfen!“328 Der Kampf gilt den Gütertafeln, die über jedem Volk hängen, den Festschreibungen des einst gezeitigten Denkkampfs seiner Weisheitslehrer und ihres Willens zur Wertsetzung. Nach Nietzsches Sinnbild für die Grunderfahrung des ewigen Werdens in Gestalt der Menschengenerationen sind die Völker „gleich dem Flusse, auf dem ein Nachen weiter schwimmt: und im Nachen sitzen feierlich und vermummt die Werthschätzungen“329. Werte, so heißt es in Zarathustras Rede ‚Von tausend und Einem Ziele‘, legt erst der Mensch in die Dinge; um sich zu erhalten, schafft er „den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Drum nennt er sich ‚Mensch‘, das ist: der Schätzende.“330 Schätzen hängt mit Schaffen zusammen. Es bedeutet, etwas lieben und würdigen, ein Ding einem anderen als „wertvoll“ vorziehen, die Vorliebe rechtfertigen und die Rechtsgründe mitteilen. Lieben, Schaffen und Mitteilen sind im Leben selbst eins, und diese Einheit ist es, die von den Hütern der stillgestellten Wertschätzungen „vergessen“ wird: „Wandel der Werthe, – das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss.“331 328 NF Frühjahr 1884, 25 [341], KSA 11, S. 101. 329 Also sprach Zarathustra, II, KSA 4, S. 146. 330 Ebd. I, S. 75. 331 NF Winter 1882/83, 4 [20, 23], KSA 10, S. 114f. Also sprach Zarathustra, I: Von tausend und Einem Ziele, KSA 4, S. 75.



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Um diesen doppelten Wandel und seine gedoppelte Voraussetzung, die umwerfend-verneinende Kritik der stillstehenden ewigen Wertschätzungen, darum dreht sich das ganze Gedankenspiel. Formal an Elemente der Tragödie gebunden: die Leiden des Helden (Pathos), dessen Reden und Handeln in einer Folge von Szenen bis hin zu seinem Untergang, spielt es in fühlbaren und sichtbaren Vorgängen die Sache des Denkkampfs: das Heraufkommen und die Einverleibung des Wiederkunftsgedankens als Bedingung eines grundlegenden Wertwandels. Was im dichterisch nachgebildeten Spiel vorgeht, ist nichts anderes als das leibhaft verdichtete Denken des ins Spiel gekommenen Gedankens, der den Schaffenden von Grund auf verwandelt. Und der Dreh- und Angelpunkt dieses Vorgangs sind die darin enthaltenen Gleichnisse für das Vergängliche, die zunächst vage dämmernde und dann immer deutlichere Erinnerung an die von den Hütern der Werte im Namen der Ewigkeit verneinte, ins Vergessen abgedrängte Wahrheit der Zeit. Das Vergessene erinnern, das bedeutet, den „abgründlichen“ Gedanken in seiner ganzen Abgründigkeit und Tiefe hervorzurufen und sich als Denkerfahrung einzuverleiben. Beides sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs: Vorspiele zur ewigen Wiederkunft, die wir im Zusammenhang mit dem Refrain von Nietzsches praktischer Philosophie zu erläutern suchen. Nach Zarathustras Lobrede auf die schenkende Tugend (I, 1) sind alle Namen für gute Gaben in der Welt Gleichnisse: „Sie sprechen nicht aus, sie winken nur. Ein Thor, welcher von ihnen Wissen will!“332 Als Geschenk, so ist uns die kommende Zeit durch die Tugend des Schaffenden gegeben, der uns das Werden im Vergehen als Wiederkommen zu verstehen lehrt. Einen solchen Wink auf den Wiederkunftsgedanken und das ihm gemäße Welt- und Zeitverständnis gibt die Lehre vom Übermenschen mit der Rede über die Nächstenliebe im 1. Teil der Dichtung: „Ich lehre euch den Freund, in dem die Welt fertig da steht, eine Schale des Guten, – den schaffenden Freund, der immer eine fertige Welt zu verschenken hat. Und wie ihm die Welt auseinander rollte, so rollt sie ihm wieder im Ringen zusammen, als das Werden des Guten durch das Böse, als das Werden des Zwecks aus dem Zufalle. Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute: in deinem Freunde sollst du den Übermenschen als deine Ursache lieben.“333 Das Gleichnis spielt im über-menschlichen Bild der vollkommenen Welt als der einzigen Schale des Guten auf den Ring der Ewigkeit an, der nicht ohne Zeit 332 Also sprach Zarathustra, I: Von der schenkenden Tugend, KSA 4, S. 98. 333 Ebd., S. 78.

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gedacht werden kann. Nach der oben angeführten Vorarbeit zu diesem Textstück ist es der „schaffende Geist“, der die Zeit „erfand“, das heißt: dichtete. Und er mischt der Zeit die Ewigkeit bei, sodass sie sich ihrem Ring eingefügt fand. Erfunden hat die so verstandene Zeit Heraklit. Sein Bild für die Welt ist der Mischkrug. Schale und Krug zusammen sind das eine Sinnbild der sich zyklisch wiederholenden Welt-Zeit, worin die Welt selbst die ihr mögliche Vollkommenheit (das Gut-Sein) hat. Dazu muss das Fernste mit dem Nächsten, die aus der Zukunft herkommende Zeit mit dem Heute zusammengedacht werden. Und die Voraussetzung dafür ist über die Kritik am Gegenwärtigen hinaus die Fernsten-Liebe, das heißt: die Liebe zur Ewigkeit. Den Winken dieses Gleichnisses folgt der ganze Gedankengang der Zarathustra-Dichtung, von der Vorrede angefangen bis hin zum Refrain des Ja- und Amen-Lieds („Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!“) an ihrem (vorläufigen) Schluss. Während die Vorrede ohne Gleichnis auf den Gang zur Wiederkunftslehre vorauswinkt („Ich liebe Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöste: denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde gehen“334), spielt der 2. Teil mit der Rede: Von den Tugendhaften im Sinnbild des Ringes auf die Lehre an: „Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend. Des Ringes Durst ist in euch: sich selber wieder zu erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring. Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes Werk eurer Tugend: immer ist sein Licht noch unterwegs und wandert – und wann wird es nicht mehr unterwegs sein? Also ist das Licht eurer Tugend noch unterwegs, auch wenn das Werk gethan ist. Mag es nun vergessen und todt sein: sein Strahl von Licht lebt noch und wandert.“335 Dies ist eine Anspielung auf den Weg, die sich in der Rede Von der Selbstüberwindung wiederholt und am Bild des in sich zurücklaufenden Zeitwegs verdichtet. Hier spricht das Leben selbst aus, was es insgeheim ist und zu sein hat: schaffend und seiner mächtig im Schaffen über sich hinaus, „Wille zur Macht“, dieses Schlüsselwort von Nietzsches Formel im griechischen Sinne von Dynamis, „Möglichkeit“, verstanden. Und der schaffende Wille zur Macht, er erscheint als gleichbedeutend mit dem Drang des Lebendigen zu höchster Lebensmöglichkeit: „Und diess Geheimnis redete das Leben selber zu mir. ‚Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muß.

334 Ebd., S. 18. 335 Ebd., S. 121.



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Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess ist Eins und Ein Geheimniss. Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen absagte; und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht! Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen krummen Wegen er gehen muss.‘“336 Das Wegbild hat sein Gegenbild im metaphysischen Gottesgedanken, der alles Gerade krumm macht, indem er die Zeit wegdenkt und Vergehendes zum Schein herabsetzt. Gott ist nach dem Denken der von Parmenides und Platon begründeten Metaphysik das Eine und Volle, das Unbewegte und Satte, kurzum: das Unvergängliche. Die Welt ist dagegen Vielheit und leerer Raum, Bewegung und Mangel, mit einem Wort: das Vergängliche. Das Unvergängliche erscheint den Denkern in der Nachfolge der Griechen als ein Gedanke, den Dichtern hingegen als ein Gleichnis, und die Dichter, sagt Nietzsche, lügen zu viel. Ein verspielt parodiertes Platon-Zitat mit der spielerischen Umkehrung des Endes von Goethes ‚Faust‘: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“337. Der Ernst des Spiels liegt im jahrhundertealten Kampf des Dichtens mit dem Denken, der Nietzsche trotz aller Selbstironie und Kritik an den Dichtern auf der Seite von Goethe sieht, wenn er für sich die Folgerung zieht: „Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!“338

Wiederkunft oder Wiederkehr? Der Gedanke in seiner sprachlichen Doppelform Es ist der Leitsatz jenes Vorgangs der Erinnerung des Wiederkunftsgedankens, der mit seiner Einverleibung dem Lehrer zum Schicksal wird und in diesem doppelseitigen Geschehen das Drama der Zarathustra-Dichtung bestimmt. Mit dem Aufbruch zu „neuen Wegen“ und „neuen Reden“ umschreibt der Satz den gewandelten Standort der Lehre im Leben: die sich am Horizont abzeichnende Aufgabe einer Überwindung des metaphysischen Denkens aus dem Geist der Dichtkunst. Sie entspricht der dem Leben selbst immanenten Bewegung alles 336 Ebd., S. 148. 337 Faust, 2. Teil, Chorus Mysticus, in: Goethes Werke, hrsg. von E. Trunz, Hamburg 19605, Bd. III, S. 364. 338 Also sprach Zarathustra, II, KSA 4, S. 110.

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Lebendigen nach Selbst-Überwindung, die sich im Lehrstück vom Willen zur Macht ausdrückt, der nach vorn blickt. Mit der Erinnerung des Wiederkunftsgedankens geht der Blick zurück. Im Gleichnis von der Gräberinsel („[...] dort sind auch die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich einen immergrünen Kranz des Lebens tragen.“339) gedenkt Nietzsche seiner Anfänge und der Feinde, die ihm „Böseres“ als Mord antaten, als sie seine aufkeimenden Gedanken zur Erneuerung altgriechischer Weisheitslehren aus dem Geist der Musik zu vernichten suchten. Es ist Nietzsches Jugendtrauma, die vernichtende Kritik der ‚Geburt der Tragödie‘ durch philologische Zunftgenossen im Namen positivistischer Fachwissenschaft: „Mordetet ihr doch meiner Jugend Gesichte und liebste Wunder! Meine Gespielen nahmt ihr mir, die seligen Geister!“340 Was die Kritik mit Füßen trat, war nichts Geringeres als der Keim zur Wiederkunftslehre: „Machtet ihr doch mein Ewiges kurz, wie ein Ton zerbricht in kalter Nacht! Kaum als ein Aufblinken göttlicher Augen kam es mir nur, – als Augenblick.“341 Das Trauma löst einen Verdrängungsprozess aus, eine Art von Vergessen, die durch Erinnerungssperren charakterisiert wird, sodass es auch bei starker äußerer Anrufung den Anschein hat, als ob sich ein innerer Widerstand gegen die Wiederbelebung des einmal Gedachten sträube.342 Er führt Nietzsche zur Preisgabe des erhabenen Gedankenzusammenhangs von Ewigkeit und Augenblick zugunsten geschichtlicher Gegenwart („Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein Grauen überfiel mich. Und als ich um mich sah, siehe! da war die Zeit mein einziger Zeitgenosse.“343) und weiter zum Aufenthalt im Land der Bildung, der beschaulichen Erkenntnis und Gelehrsamkeit. Seine Bewohner können das Erhabene nicht festhalten, sie „schwätzen alle Zeiten wider einander“ und haben sich verschworen, alles Irdische zu verachten und nichts zu wollen von den Dingen, als sie wie ein Spiegel mit hundert Augen anzusehen und ihre Größe zu verkleinern. Sie verdecken das Göttliche am Menschen: „Eines Gottes Larve hängtet ihr um vor euch selber, ihr ‚Reinen‘: in eines Gottes Larve verkroch sich euer greulicher Ringelwurm. [...] Auch Zarathustra war einst der Narr eurer göttlichen Häute; nicht errieth er das Schlangenringel, mit denen sie gestopft waren.“344 Nur das Zeitgemäße kennend, verkennen die Gebildeten das Erhabene des Augenblicks und sein Verhältnis zur Ewigkeit. Und sie nivellieren den Rhythmus der Zeit: 339 Ebd., S. 142. 340 Ebd., S. 143. 341 Ebd. 342 Vgl. S. Freud, Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘, in: Studienausgabe Bd. X, Frankfurt/M. 1969, S. 35. 343 Also sprach Zarathustra, II: Vom Lande der Bildung, KSA 4, S. 153. 344 Also sprach Zarathustra, II: Von der unbefleckten Erkenntnis, KSA 4, S. 158.



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„Gute Uhrwerke sind sie: nur sorge man, sie richtig aufzuziehen! Dann zeigen sie ohne Falsch die Stunde an und machen einen bescheidenen Lärm dabei.“345 Die Begegnungen mit menschlicher Kleinheit und gelehrten Verkleinerungen des Großen und Erhabenen am Menschen fixieren den Prozess der Verdrängung. So erklärt sich, dass uns der Held des Zarathustra-Dramas als Lehrer des Übermenschen entgegentritt, der die Wiederkunftslehre „vergessen“ hat.346 Und der Hauptteil des Dramas handelt im Wesentlichen von seinem Widerstreben, sich der vergessenen Lehre zu erinnern. Würde doch ihre Anerkennung in sich einschließen, das menschlich Kleine als unüberwindbar, ja, ewig wiederkommend hinzunehmen: eine Haltung, die der Lehrer des Übermenschen innerlich ablehnt. Auf der anderen Seite konfrontiert sie ihn mit den notwendigen Konsequenzen des Gedankens und bringt so den Erinnerungsprozess in Gang. Die im Verdrängen aufgestaute Spannung entlädt sich im Dialog an der Brücke zur Zukunft (Von der Erlösung). Daran nehmen neben Zarathustras Schülerkreis Krüppel, Bettler und ein „Bucklichter“ teil, die in dieser Mischung des Hässlichen mit dem Furchtbaren das Bruchstückhafte und Zufällige am Menschentum veranschaulichen. Bruchstück und Zufall ist auch die Vergangenheit des Menschen: was er getan oder gelassen hat, sein „Es war“, das dem schaffenden Willen zur Selbst-Überwindung gänzlich entzogen scheint. Menschliches Wollen weiß sich der Zukunft zugewandt und mächtig, während es über das Vergangene nichts vermag. Das ist die Ohnmacht des Willens, der nicht rückwärts, sondern immer nur nach vorn „wollen“ kann: Gegenwart ist die Zeit des Handelns, seine Richtung die Zukunft. Dass sich Geschehenes nicht ungeschehen machen lässt, erweckt Hass- und Rachegefühle, woraus die Interpretation des Lebens in Kategorien von Schuld und Strafe entspringt. Die „Rache selber“, das ist „des Willens Widerwille“ gegen die vergehende Zeit.347 Eine Fixierung an das Vergangene, die sich nur darin löst, wenn sich der Mensch mit dem Gewesenen versöhnt („Aber so wollte ich es“) und es in die Zeit des Handelns einbezieht („Aber so will ich es! So werde ich’s wollen!“348) Die Versöhnung mit der Zeit hatte auch Hegel gelehrt. Nietzsche bringt die Differenz in der Frageform auf den Punkt: „Höheres als alle Versöhnung muss der Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist –: doch wie geschieht ihm das? Wer lehrte ihn auch noch das Zurückwollen?“349 Die Antwort kann nur lauten: Nietzsches Zarathustra, 345 Von den Gelehrten, ebd., S. 161. 346 Vgl. dazu A. Bennholdt-Thomsen, Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘ als literarisches Phänomen. Eine Revision, Frankfurt/M. 1974, S. 58ff. 347 Also sprach Zarathustra, II, KSA 4, S. 180. 348 Ebd., S. 181. 349 Ebd.

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dem mit der Prämisse des Wiederkunftsgedankens seine Konsequenzen für eine vertiefte Grundlegung der praktischen Philosophie aufgehen: Nur die zurücklaufende Zeit würde das Zurückwollen ermöglichen und damit den Widerwillen gegen das „Es war“ überwinden.350 Statt weiter zu reden, hält Zarathustra inne. Er schreckt vor der Antwort zurück, weil er annimmt, seine Schüler würden den Widerspruch des Wiederkunftsgedankens zu der zuvor verkündeten Lehre von der Selbst-Überwindung erkennen. Falls die Zeit in sich zurückläuft, müsste sie doch das „Es war“ so, wie es war, wiederbringen, also auch jenes Furchtbare und Hässliche am Bruchstückmenschen, das sich ästhetisch nicht bändigen lässt und dem gesuchten Ideal des Übermenschen und seiner Verwirklichung in einer das menschlich Große bewahrenden, erhabenen Lebensform der Zukunft auf das Schärfste widerspricht. Das Erschrecken deutet darauf hin, dass sich der Lehrer dieser Erkenntnis nicht gewachsen weiß; was der „Bucklichte“ konstatiert, dem auffällt, dass Zarathustra „anders zu seinen Schülern – als zu sich selbst“ redet. Der Lehrer des Übermenschen, so kommt durch die szenische Darstellung heraus, hat sich der Wahrheitsbedingungen des Wiederkunftsgedankens und seiner Erlernbarkeit versichert, ja, er beginnt ihn zu lehren. Aber er tut das, ohne zuvor die ganze Wahrheit kennengelernt zu haben und ohne selber belehrt zu sein. Darin besteht am Ende des 2. Teils der Zarathustra-Dichtung der Widerspruch im Lehrer, sein innerer Zwiespalt: Er „weiß“ den Gedanken und scheut sich, ihn auszusprechen.351 Lernen ist nur durch eigenes Erfahren möglich, das zur Selbstbelehrung führt. Ohne sie ist die Lehre leer, gibt es keine Möglichkeit zu lehren! Sich an die Wiederkunftslehre zu erinnern und ihre Bedingungen zu durchdenken, das genügt nicht. Die Erinnerung an den Gedanken muss mit der Einverleibung einhergehen, sonst verfestigt sich der Zwiespalt. So lange der Lehre das Leben fehlt, bleibt die Frucht vom Baum der Erkenntnis bitter, ist der Lehrer, wenn er davon genießt, nicht reif für seine Früchte.352 Von diesem inneren Zusammenhang handelt die erste Mitteilung des Wiederkunftsgedankens im 3. Teil der Zarathustra-Dichtung. Erinnerungsmittel ist der Traum, das „Gesicht des Einsamsten“, worin der Lehrer dem „Geist der Schwere“, seinem eigenen Einwand gegen die Wiederkunftslehre, begegnet. Es ist die Schwermut in der Traumbegegnung mit dem Zwerg auf dem Weg zum Tor des „Augenblicks“, der Anblick des Kleinen, dem sich das Schwergewicht des Gedankens ins Leichte verkehrt. Der Torweg ist Gleichnis für Janus, den römischen Zeitgott mit seinen zwei Gesichtern, wovon das eine vorwärts, das 350 Vgl. A. Bennholdt-Thomsen, Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, ebd., S. 83. 351 Vgl. Die stillste Stunde, KSA 4, S. 188f. 352 Ebd.



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andere rückwärts sieht: „Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andere Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf – und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: ‚Augenblick‘.“353 Für den Zwerg versteht sich die Antwort auf die Frage von selbst, ob sich die Wege wie zwei geradlinige Gassen ewig widersprechen: Die Zeit ist keine Gerade, sondern ein Kreis. Sein Gesicht ist ohne Rätsel, das die Wahrheit in ihrem Fragwürdigen birgt. Er veranschaulicht die Zeit am Kreis, was in dieser Gleichsetzung den Wiederkunftsgedanken in die Irre führt. Denn der Gedanke erschöpft sich nicht in der Anschauung, er bleibt eine Mutmaßung, die sich daran halten muss, dass zwei Ewigkeiten undenkbar sind. Denkbar ist, dass die lange Gasse rückwärts auf eine Ewigkeit hindeutet, die einen Weg umfasst, der stets aufs Neue zu gehen wäre, sodass der Gedanke in der Frage erscheint: „Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muss nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon – dagewesen sein? Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also – – sich selber noch?“354 Die Frageform des Gedankens bricht sich in der einzigen Antwort, die nicht der Zwerg, sondern Zarathustra gibt: Der Augenblick ist bewegt, die Zeit eine Kreisbewegung, denn „was laufen kann von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse hinaus – muss es einmal noch laufen.“ In der unendlichen Zeit muss alles Endliche, was da sein kann, schon dagewesen sein und „wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen? –“355 Die ewige Wiederkunft als Wiederholung alles schon einmal Dagewesenen, von Dingen, Geschehnissen, Taten, ja, aller Augenblicke der Zeit selbst, das ist ein bedrückender Gedanke. Schließt er doch Verfehltes und Kleines am Menschen, das Misslungene und Vergebliche, in sich ein. Immer wieder „Bruchstü353 Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, S. 199f. 354 Ebd., S. 200. 355 Ebd.

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cke“ des „Es war“ und niemals ein gerundetes Ganze, diese Aussicht gleicht einem Albtraum, der die Szenerie von Grund auf verändert. Der den ersten Traum erinnert und am Ende bekennt, sich vor seinen „eigenen Gedanken und Hintergedanken“ zu fürchten, er erzählt von einem zweiten Traumgesicht: „Und, wahrlich, was ich sah, dergleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng. Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biss sie sich fest. Meine Hand riss die Schlange und riss: – umsonst! sie riss die Schlange nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: ‚Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!‘ – so schrie es aus mir, mein Grauen, mein Hass, mein Ekel, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes schrie mit Einem Schrei aus mir. –“356 Geringelt um den Hals des Adlers, Zarathustras mutigsten Tiers, veranschaulicht die Schlange als Ring den Gedanken der Wiederkunft. Und als Schlange der Erkenntnis ringelt sie sich um die Sonne am goldenen Griff des Stabes, den die Jünger Zarathustra zum Abschied schenken: eine Anspielung auf den AsklepiosStab, das griechische Symbol ärztlicher Kunst, nach dem die Schlange übelabwehrende und lebensschützende Heilkräfte bezeichnet.357 An dieser Stelle symbolisiert sie den Gedanken in seiner furchtbarsten Form, das Lebensbedrohliche, Lähmende, Giftige der Wiederkunftslehre, mit Anspielungen auf den biblischen Schlangenmythos (1. Mose 3,15). Was dem Hirten den Atem nimmt, sind Vorstellungen des Überdrusses und der Verzweiflung,358 die den Lehrer des Übermenschen im Zuge der Erinnerung an die Vision einer ewigen Wiederkunft des Gleichen überfallen: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt.“359 Sie lassen sich nicht durch Belehrung eines anderen oder seine Hilfe überwinden. Zur Überwindung des Furchtbaren bedarf es vielmehr gedanklicher Kraft und Auseinandersetzung. Der Schlange „den Kopf abbeißen“, das heißt: den Denkkampf mit dem Gedanken der Wiederkunft aufnehmen und ihn sich dadurch „einzuverleiben“. 356 Ebd., S. 201f. 357 Vgl. Nietzsches Vorlesung: Der Gottesdienst der Griechen (1875/76), in Philologica III, S. 73f. 358 Vgl. M. Fleischer, Der ,Sinn der Erde‘ und die Entzauberung des Übermenschen, Darmstadt 1993, S. 74. 359 Also sprach Zarathustra, III: Der Genesende, KSA 4, S. 274. Vgl. die Vorformel II: Der Wahrsager, S. 172.

„Ich gieng den Ursprüngen nach – das entfremdete mich allen Verehrungen: und es wurde fremd um mich und einsam. Aber endlich heimlich schlug das Verehrende selber wieder aus – und siehe! es erwuchs mir mein Baum der Zukunft –: Nun sitze ich in seinem Schatten.“ (NF Herbst 1883, 17 [24]), KSA 10, S. 547).

Zweiter Teil: Ursprünge I. Alltägliches und Mythisches in Nietzsches Zeitverständnis Zeitlichkeit und absolutes Werden Nietzsches Denken erwächst einer Grunderfahrung, die sich sowohl an der mythischen als auch an der philosophischen Überlieferung der Griechen artikuliert: der Erfahrung des absoluten, ewigen Werdens. Es ist das alltäglichste Phänomen, dem im Alltag kaum jemand nachsinnt. Dazu hat der Intellekt den Bann des Lebens von Tag zu Tag zu brechen. Er muss, wie es Nietzsche in den Baseler Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen anschaulich umschreibt, „nicht nur sich verstohlen ergötzen wollen, er muß völlig frei geworden sein und Saturnalien feiern“1. Im Mythos von Saturn, dem Gott des goldenen Zeitalters, mischt sich Römisches mit Griechischem, italischer Fruchtbarkeitskult mit dem altattischen Kult des Titanengotts Kronos und daran anschließenden Zeitspekulationen der orphischen Mysterienreligion, die Nietzsche der „mythischen Vorstufe der Philosophie“ zuordnet. Um Nietzsches Grunderfahrung in ihrer ganzen Tragweite in den Blick zu fassen, greifen wir an dieser Stelle auf eine religionstypologische Unterscheidung aus seinen Baseler Vorlesungen über den ‚Gottesdienst der Griechen‘ (1875/76) zurück. Die griechische Religion beruht nach Nietzsche einerseits auf dem Kultus der olympischen Götter, die alles Vorhandene als fortwährende Wächter und Zuschauer menschlichen Daseins verklären. Es sind gleichsam Alltagsgottheiten, die das Leben im Abstand der „Unsterblichen“ betrachten und es zugleich als Verkörperungen von menschlichen Affekten der Freude und Lebenslust bejahen und wie ein Fest erscheinen lassen, es im buchstäblichen Sinne dieses Wortes „kultivieren“. Und zum anderen kennen die Griechen seit ihrer ältesten Zeit für besonders ernste religiöse Erhebungen, und das heißt: als Entladung pessimistischer Affekte im Einzugsbereich des Ahnenkults, die Mysterien mit ihrer Hoffnung auf Unsterblichkeit, wie sie dann orphische Geheimlehren für ihre Anhänger verheißen. Der Ahnenkult neigt „zum Geheimnisvollen, er bereitet den Boden für die Lehre von den sterbenden und wieder auflebenden Göttern vor“2. Wozu der Dionysosmythos zählt, die Sage vom Zeussohn Dionysos Za1 Die vorplatonischen Philosophen, Philologica III, S. 131. 2 Der Gottesdienst der Griechen, Philologica III, S. 12.

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greus, der durch die Titanen zerstückelt und von Apollo (nach anderer Version: von Zeus) geheilt wird. Im Einzugsbereich des Ahnenkults haben die phantastischen Kosmogonien der orphischen Götterlehren ihren Ort. Sie laufen am Ende auf drei Grundgestalten hinaus: Zeus, den Äther oder Lufthauch, der das All durchdringt, Chthôn, die Erde oder flüssige Urmaterie, woraus alles gemacht ist, und Chronos, die anfangs- und endlose Zeit, worin alles gemacht wird. Zeus verwandelt sich in die demiurgische Gestalt von Eros, und durch deren Verbindung mit der Erdgottheit Chthôn entsteht der andere („zweite“) Chronos, die „zeitliche, nicht anfangslose Zeit. Die Materie rinnt nun unter Einwirkung des Eros und der Zeit in die Elemente Feuer, Luft, Wasser auseinander.“3 Auf die Darlegung von Einzelheiten können wir an dieser Stelle verzichten. Ich erwähne nur Nietzsches Erzählung, wonach der himmlische Eros im Bereich der „zeitlichen Zeit“ in Schlangengestalt als irdischer Eros geboren wird und jetzt Ophioneus heißt, dem die „zerstörende Zeit“ gegenübersteht. Woraus das sagenhafte Motiv des Kampfes zwischen den Ophioniden und Kroniden erwächst: Kronos mit seinem Anhang wird ins Meer gestürzt.4 Dazu halten wir zweierlei fest, einmal, dass die Schlange für Nietzsche nicht die alles vernichtende Zeit von Kronos verbildlicht. Nach dem griechischen Mythos symbolisiert Kronos die titanischen Mächte des Grauens in chaotischer Urzeit, die den Menschen zerstören, während der Schlangenkult zur späteren apollinischen Religion mit ihren menschenfreundlichen Zügen gehört: „Einer jeden Gottheit“, so erklärt Nietzsche den in ganz Griechenland verbreiteten Kult, „welcher der Schutz eines heiligen Ortes obliegt, erscheint die Schlange beigegeben, d. h. sie ist hier an Stelle des ursprünglich hier waltenden genius loci getreten, mit ihm verbunden; die hier ursprünglich allein mächtige Schlange ist zu einer Potenz der hinzugekommenen Gottheit herabgedrückt.“5 Nach der Sage vertreiben die Schlangen im Athene-Tempel die Grauensmächte rachsüchtiger Erinnerung (die „Erinnerungen“), die den schutzflehenden Orest vom Bild der Göttin wegreißen wollen. Nietzsche erwähnt ferner ein Schlangengemach im Demeter-Tempel zu Eleusis und Attribute der Schlange an Tempelbildern, die immer auf übelabwehrende oder rettende Kräfte hindeuten. Unter Schlangengestalt erscheint der Gott zum Schutz eines bedrohten Sitzes. Im Kult von Demeter oder des Asklepios dient die Schlange der Lebenserhaltung und Heilkraft der Erde. Sie verkörpert die irdische Zeit, die anfängt, ohne zu enden, weil sie 3 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 138. Nietzsches Vorlage ist die orphische Kosmogonie des Pherekydes von Syros (nach Diog. Laert. I, 116ff.). 4 Ebd. 5 Der Gottesdienst der Griechen, ebd., S. 73.



Zeitlichkeit und absolutes Werden

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ewig in sich zurückkehrt und in ihrer gezeitigten Ewigkeit bejaht werden kann – wenn es gelingt, jener Schlange den Kopf mit dem zerstörerischen Gift der unterirdischen Grauensmächte abzubeißen und sie sich „einzuverleiben“, so wie es das Gleichnis vom Kampf des Hirten mit der Schlange in der ZarathustraDichtung veranschaulicht. Und zum anderen sei schon an dieser Stelle vermerkt, dass Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit den Anfängen der abendländischen Philosophie die hier vereinigten Bauelemente mythischer Zeiterfahrungen vereinzelt an ihren ältesten Grundsätzen wiederfindet, „die flüssige Urmaterie bei Thales, den thätigen Hauch bei Anaximenes, das absolute Werden ρνς bei Heraclit, bei Anaximander das unbekannte form- und qualitätslose Urwesen τ πειρν“6. Dem folgt die Darstellung der ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ (1873), des Seitenstücks zur ,Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘ (1872), worin Nietzsche das Leiden des tragischen Helden auf den leidenden Dionysos der Mysterien zurückgeführt und seine Zerstückelung als Symbol kosmischer Teilung und Umwandlung individuierter Elemente in Luft, Wasser, Erde und Feuer gedeutet hatte.7 Und die Vorarbeiten zu jenem Werk hatten diese Deutungen des Dionysos-Mythos durch den Mythos der in ewige Trauer versenkten Erdgöttin Demeter ergänzt, die „zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal gebären“, mit dem von Nietzsche gezogenen Fazit, hier wären „bereits alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragoedie beisammen: die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, das Schöne und die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit“.8 Das Fazit vereinigt zu einem Stück, was bei Nietzsche nur dem Anschein nach in Haupt- und Seitenstück auseinanderfällt. Es ist die Gedankenform der ewigen Wiederkehr mit jenem Mythos vom leidenden Individuum und seinem Untergang, dem lebendigen Erfahrungshintergrund des Gedankens, den die tragische Dichtung in der ihr eigenen Verbindung mit der Musik ausdeutet. Mythos und Kunst sind, um an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zum vorletzten Aphorismus des 2. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ wieder anzuknüpfen, Vorspiele, worin das in den „lyrisch“ geweckten Affekten von Trauer und Freude eingelegte Wunschmotiv der Wiedergeburt anklingt; ein Motiv, das sich dann dem philosophischen Thema der ewigen Wiederkehr einfügt. 6 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 139. 7 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 10, KSA 1, S. 72. 8 Sokrates und die griechische Tragödie (1871), KSA 1, S. 620.

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Im Richtungssinn des vorgetragenen Gleichnisses gesprochen: Der Kern des tragischen Mythos liegt in jenen Keimgedanken des ewigen Werdens, die durch die Philosophen des tragischen Zeitalters ausgestreut und zum Baume der Erkenntnis werden, von Thales angefangen über Heraklit und Empedokles bis hin zu Anaxagoras, dem Letzten der Reihe, der vielleicht der wichtigste „Vorfahr“ ist, obwohl ihn Nietzsche nicht so nennt und auch sonst vielsagend beschweigt. Am Grundsatz des Thales, wonach das Wasser der Ursprung und Mutterschoß von allem sei, geht in Nietzsches Sicht der erste Keim auf: „Ein Element als Proteus“, das ist der Ansatz seiner Interpretation, die über den Namen dieser urzeitlichen Wassergottheit die Brücke zwischen orphischem Seelenmythos und Physiologie schlägt, der Lehre vom Wandel der Naturelemente und ihrer Entstehung aus dem Gleichen. Obwohl Nietzsche um die Problematik der Herkunft des Satzes aus Aristoteles’ ‚Metaphysik‘ weiß,9 stellt er ihn in den Kontext von Hölderlins (und Hegels) pantheistischer Deutung des Anfangs der griechischen Philosophie. Hätte Thales sagen wollen, aus Wasser werde Erde, so hätten wir nur eine wissenschaftliche Hypothese vor uns, die zwar gedanklich kühn und trotz ihrer Allgemeinheit durch Alltagsbeobachtungen bis an die Schwelle der Neuzeit gedeckt schien, aber am Ende doch mit dem Entstehen der experimentellen Chemie widerlegt worden ist.10 Was Thales zu seiner ungeheuren Verallgemeinerung trieb, war nach Nietzsche „ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: – der Satz ‚Alles ist Eins‘“11. Das ist, noch einmal sei es wiederholt, der Glaubenssatz der pantheistischen Metaphysik von Giordano Bruno und Spinoza über Goethe und Hölderlin bis hin zu Hegel, der ihn richtig auf Heraklit zurückführt und eine Übertragung des Heraklitischen „Einen“ auf das Thaletische „Wasser“ oder die Luft und dergleichen als sachlich unangemessen abweist.12 Nietzsche zitiert den Satz nicht im überlieferten Wortlaut, wonach es für den auf den Logos hörenden Menschen „weise ist, übereinstimmend mit dem Logos zu sagen, alles sei eins“ (ν πντα εναι).13 Im Gegenteil: Nietzsche stützt sich auf eine ältere Lesart, die den onto9 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 149. 10 Ebd., S. 149, Anm. 16. 11 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 3, KSA 1, S. 813. 12 Vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 1, in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, Bd. 17, Stuttgart 19593, S. 351 (= Heraklit, B 10) und 354. 13 Heraklit, Fr. B 50. Ich beziehe mich auf den Naumburger Kongressvortrag von D. Bremer, Die Spannung von Nähe und Ferne in Nietzsches Auseinandersetzung mit Heraklit und Platon, 1994, in: M. Riedel (Hrsg.), ,Jedes Wort ist ein Vorurteil‘. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 191ff.



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logischen All-Einheits-Satz theologisch zu deuten erlaubt: als ob es zu bekennen gälte, „eines wisse alles“ (ν πντα εδναι). Und das Eine ist dann nach dieser Version der Heraklitische Gott und seine göttliche Einsicht (γνµη), von der es, paradox genug, weiter heißt, sie sei „getrennt von τ πντα“ (B 108) und dennoch „Eins in Allem“.14 Daraus erwächst die Grundproblematik von Nietzsches Interpretation des Entwicklungsganges der frühgriechischen Philosophie. Sie bewegt sich am Leitfaden des so verstandenen Glaubenssatzes, der an den Anfang zurückverlegt, was doch nach unserem Kenntnisstand der Überlieferung allenfalls eine Lehre des Heraklit ist. Und die Problematik gipfelt in Nietzsches Reformulierung der pantheistischen All-Einheits-These nach der eleatischen Antithese über das dialektische Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit: als ob dem All so und so vieles wahrhaft Seiendes zugrunde läge, ja vielleicht sogar das Viele mit dem Einen selbst, seiner „Erscheinung“ nämlich, gleichbedeutend sei, weshalb es als seine kosmische Erscheinungsform verstanden werden könnte.15

Einkehr ins Verschiedene oder Rückkehr ins Gleiche? Es ist der zweite Leitfaden im Buchfragment ‚Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ (1873), und vielleicht hängt es mit Nietzsches allzu rigoroser Handhabung jener dialektischen Begriffsformeln zusammen, dass aus dem Fragment des von ihm so genannten Philosophen-Buchs der ursprüngliche Impuls, den die Wiederkunftslehre aus den orphischen Mysterien empfangen hat, fast vollständig schwindet. Mit dem Kapitel über Pythagoras, den religiösen Reformator, der mit den Orphikern den Gedanken der Seelenwanderung teilt und lehrt, dass der Fromme „aus dem Kreise ewigen Werdens“ auszuscheiden vermag,16 entfällt das darauf abgestimmte Empedokles-Kapitel. Es sieht die Vorgestalt der Lehre auf die von Empedokles verkündete „Einheit alles Lebendigen“ gegründet, jenen „ungleich produktiver gestaltete[n] Gedanken des Parmenides von der Einheit des Seienden“.17 Ist doch darin das „innerste Mitleben mit der ganzen Natur, ein überströmendes Mitleidsgefühl“ dazugekommen, das dem Trieb nach liebender Vereinigung (Philia) entspringt. Und sein Innerstes ist die „Sehnsucht 14 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 185. 15 Die Quelle ist der Platonische ‚Sophistes‘, 242 b–243 a. Vgl. dazu die abwägenden Darlegungen von H.-G. Gadamer, Heraklit-Studien (1990), in: Plato im Dialog, Werke Bd. 7, Tübingen 1991, S. 47f. 16 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 161. 17 Ebd., S. 191.

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zum Gleichen: bei allem Ungleichen entsteht Unlust, bei allem Gleichen Lust“18. An dieser Unterscheidung markiert Nietzsche zugleich den Abstand zwischen Empedokles und Anaxagoras. Statt sich auf den Geist (Noûs) zu berufen, der ordnet, ohne zu bewegen, genügt es, um das Verhältnis zwischen Ordnung und Bewegung im Kosmos zu verstehen, auf Lust und Unlust zurückzugehen. Sie sind Phänomene des Lebens, die ausreichen, das kosmische Geschehen als Resultat von Trieben der Anziehung und Abstoßung abzuleiten. Alles Gleichartige und leicht zu Vermischende, darin finden wir den Schlüssel zum Verständnis von Empedokles’ Elementenlehre, ist sich befreundet; das Gleiche begehrt nach Gleichem, und was sich nicht miteinander zu vermischen vermag, das ist sich feind. Nimmt man diese Prämisse, dann lassen sich am Leitfaden des so ausgelegten Lebensgeschehens alle Erscheinungen der Natur verstehen, ihre Zweckmäßigkeit eingeschlossen. Sieht doch Empedokles seine denkerische Aufgabe darin, die geordnete Alltagswelt aus jenen entgegengesetzten Trieben zu erklären, ohne auf Zwecke und einen ordnenden Geist auszuweichen. Und dabei, so sieht es Nietzsche, „genügt ihm der grossartige Gedanke, dass unter zahllosen Missformen und Unmöglichkeiten des Lebens auch einige zweckmässige und zum Leben mögliche Formen entstehen“19. Es ist eine Macht in den Naturelementen, die sie zur Vereinigung hindrängt, aber ebenso wirksam ist eine Gegenmacht, die sie auseinanderreißt. Beide Triebe ringen miteinander, und dieser Ringkampf ergibt alles Werden und Vergehen. Aus dieser Spannung von Liebe und Hass erklärt sich dann die Umdeutung des orientalischen Gedankens der Metempsychose in Empedokles’ Lehre von der durch Hass und Liebe getriebenen Wanderung der Menschenseelen durch alle Elemente der Natur, vom „Zorn des Äthers“, der die Seelen ins Meer wirft, bis sie das Meer ans Festland speit und das Land zu den Flammen der Sonne hinaufstößt; feindliche Elemente allesamt, die erst dann vom Hass ablassen, wenn ihn die Liebe zum Lebendigen bändigt.20 Eine Bändigung, die nicht etwa zweckmäßig erscheint, sondern nur verbindet, indem sie alles aneinanderkuppelt, Stierleiber mit Menschenköpfen, Männliches und Weibliches und alle möglichen Gliedmaßen, und erst allmählich finden sich die passenden Glieder und Seelen zusammen, „immer von dem Triebe nach dem Gleichen geführt“21. Da die Seelenwanderung durch alle Elemente sich in der Form von Kreisläufen vollzieht, auf deren Bahnen alles Seiende immer anders erscheint, sofern „Eines aus Mehrerem gelernt hat zu entstehen und wiederum aus dem zergange18 Ebd., S. 196. 19 Die vorplatonischen Philosophen, § 14, ebd., S. 197f. 20 Empedokles, Fr. B 17; 20; 115. 21 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 198.



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nen Einen Mehreres hervorgeht“22, konnte die Gedankenform einer Einkehr ins Verschiedene von Empedokles’ naturwissenschaftlichem „Seitenstück“ zur pythagoreischen Seelenwanderung unabtrennbar werden. Und Nietzsche konnte dann demselben Stück auch die komplementäre Gedankenform entnehmen, wonach das Gleichartige sich befreundet ist und Gleiches nach Gleichem begehrt, sodass es im Kreislauf des Werdens aus dem Ungleichen zu sich zurückkehrt. Wiedergeburt und Rückkehr ins Gleiche, Seelenwanderung und Verwandlung der Elemente, sie ergänzen einander und ergeben eine Gesamtsicht des Wiederkunftsgedankens, worin Pythagoras und seine Schule mit Empedokles übereinstimmen. Sie sind die Reformatoren des altgriechischen Polislebens, die sich, nicht anders als Anaximander und Heraklit, vom alltäglichen Leben auf den reinen Gedanken zurückziehen und diesen „mit einer übermenschlichen Schätzung, ja mit fast religiöser Scheu“ behandeln, während sie das „Band des Mitleidens, an die große Überzeugung von der Seelenwanderung und der Einheit alles Lebendigen geknüpft“, wieder zu anderen Menschen hinführt: zu deren Rettung.23 Der ethisch begründete Gedanke der Rückkehr ins Gleiche oder die Lehre von der Wiedergeburt, das ist die älteste Thematik der Wiederkunftslehre, die wir im dionysischen Glauben der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘ (1872) durchfiguriert finden. Nietzsche war zusammen mit Erwin Rohde einer der ersten, der die halbmythische Gestalt des Pythagoras vom Pythagoreismus der auf sie gegründeten Schule abgrenzte.24 Umso weniger darf der ursprünglich pythagoreische Gedanke verwechselt werden mit seiner mathematischen Abflachung durch die Pythagoreer zum Gedanken ewiger Wiederholung. Danach müsste sich nämlich alles, was einmal möglich war, zum zweiten Mal ereignen, wenn es eine mathematisch berechenbare Konstellation der Himmelskörper gibt, die bei Erreichung desselben Orts dasselbe Ereignis auf Erden hervorruft, sodass sich immer wieder bei dem gleichen Gestirnstand ein Stoiker mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden oder bei einem anderen Stand Kolumbus erneut Amerika entdecken würde.25 Es ist der Gedanke nicht in seiner furchtbarsten, sondern lächerlichsten Form. Nietzsche hat sie, mit Recht, in der 2. ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ (1872) karikiert: als ob die Rückkehr ins Gleiche innerhalb der uns vertrauten Geschichtszeit die Repetition des Selben bis hinab ins Einzelne und Kleinste bedeutet! 22 Empedokles, Fr. B 26. 23 Fünf Vorreden. 1. Über das Pathos der Wahrheit (1872), KSA 1, S. 758; Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 8, KSA 1, S. 834. 24 Die vorplatonischen Philosophen, § 9, ebd., S. 158 (die Berufung auf E. Rohdes Aufsatz über die Quellen des Jamblich in seiner Biographie des Pythagoras, ‚Rheinisches Museum‘, Bd. 26/27, ebd., 159 u. ö.), ferner § 16, S. 220f. 25 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 2, KSA 1, S. 261.

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Die 4. ‚Unzeitgemäße Betrachtung‘ (1876) erläutert, dass auf dem Boden der geschichtlich gezeitigten Kulturentwicklung seit den Griechen damit nur die nach dem überhistorischen Standpunkt mögliche Sammlung der unendlich zerstreuten Bestandteile des hellenischen Wesens gemeint sein kann, die aus Vermischungen mit Bestandteilen des orientalischen Altertums herauszulösen sind. Ist das geschehen, dann besteht die Aufgabe für den Historiker darin, die Bruchstücke untereinander und mit ihnen benachbarten, nächsten Zeiterscheinungen zu vergleichen, um daran das Verwandte, zueinander Gehörige der europäischen Kultur zu erkennen. Der junge Nietzsche glaubt „zwischen Kant und den Eleaten, zwischen Schopenhauer und Empedokles, zwischen Aeschylus und Richard Wagner solche Nähen und Verwandtschaften“ zu erkennen, dass er sich in seinen Hoffnungen auf eine Wiedergeburt des tragischen Gedankens auf dem Boden der Moderne bestätigt und „fast handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe“ erinnert fühlt. Und es scheint ihm beinahe, „als ob manche Dinge zusammen gehören und die Zeit nur eine Wolke sei, welche es unseren Augen schwer macht, diese Zusammengehörigkeit zu sehen“26. Das Gleiche, so scheint es, ist zuletzt das Verwandte, Vertraute, Befreundete, mit einem Wort von Goethe: jenes „alte Wahre“, das niemals ganz neu ist, aber sich stets wieder zu erneuern hat.27 „Das Bild unserer gegenwärtigen Welt“, heißt es im 4. Abschnitt von ‚Richard Wagner in Bayreuth‘, „ist durchaus kein neues: immer mehr muss es Dem, der die Geschichte kennt, so zu Muthe werden, als ob er alte vertraute Züge eines Gesichtes wieder erkenne.“28 Diesen überhistorischen Standpunkt eines Geschichtsglaubens an die Einheit und Erneuerungsfähigkeit der europäischen Kultur aus Keimkräften ältester Überlieferung bringt das „Philosophen-Buch“ in jedem seiner Teile zur Geltung. Gerichtet gegen Gefahren ihrer Vernichtung durch den barbarischen Gelehrtenbetrieb der zeitgenössischen Philosophiegeschichte, folgt es derjenigen Geschichtsansicht, die Nietzsche monumentalische Historie nennt: dem Glauben daran, „dass das Große, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird“29. Sie setzt die „überhistorischen Mächte“ der Kunst und Religion voraus, die den Blick vom relativistischen Zeitwesen geschichtlichen Werdens und Vergehens ab- und zum Musterhaften, Vorbildlichen, Typischen hinlenken: was dem Dasein den „Charakter 26 Richard Wagner in Bayreuth, 4, KSA 1, S. 446f. 27 Vgl. die Anspielungen auf die Seelenwanderungslehre in Goethes Gedichten auf Charlotte von Stein (An Lida), in: Goethes Werke, hrsg. von E. Trunz, Bd. 1, Hamburg 19885, S. 123 u. ö. 28 Richard Wagner in Bayreuth, 4, KSA 1, S. 447. 29 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 2, KSA 1, S. 260.



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des Ewigen und Gleichbedeutenden“ gibt.30 Wozu für Nietzsche die „typischen Philosophenköpfe“ gehören, welche die Griechen als Antwort auf die unlösbaren Fragen ihrer tragischen Dichter erfinden. Und nach seiner Ansicht hat die ganze Nachwelt nichts Wesentliches mehr hinzuerfunden.31 Typisch ist am griechischen Philosophenkopf, dass sich seine Erfindung allgemeiner Denkmöglichkeiten zugleich in einer individuellen Lebensform ausprägt, die zum Anstoß von Nachfolge und Nachahmung wird, sodass sie in der Zeit wiederkehrt. Das Typische ist keine Wiederkehr des Allgemeinen, sondern der individuellen Unterschiede, die den einen Philosophen vom anderen abheben und charakterisieren. Nietzsche hat diesen Vorgang zunächst als Philologe am historischen Phänomen philosophischer Schul- und Diadochenbildung untersucht.32 Wenn er ihn dann als Philosoph unter monumentalischen Gesichtspunkten betrachtet, so sucht er diese Voraussetzung seines Geschichtsglaubens an verwandten Figurengruppen zu bewähren. Und indem er das tut, deckt er die Elemente der Lehre in ihrer griechischen Ausprägung auf. Im Torso des geplanten Philosophen-Buches sind es zwei Figurenpaare, die uns in diesem Zusammenhang interessieren: Anaximander und Heraklit auf der einen Seite und Empedokles und Anaxagoras auf der anderen. Beginnen wir, gegen die Chronologie, mit Anaxagoras, dem Nietzsche die Beschreibung des Werdeprozesses nach der Formel einer Rückführung ins Gleiche verdankt. Aus dem Gleichen geht erfahrungsgemäß nichts Ungleiches hervor, also ist zu Anfang des Werdens nie etwas Gleiches beisammen gewesen. Nicht die Rücksicht auf Lehren seiner Vorgänger, sondern die Beobachtung von Naturvorgängen lässt Anaxagoras die Natur im ursprünglichen Zustand als chaotisches Durcheinander unendlich kleiner und vieler, teils gleichartiger, teils verschiedener Elemente imaginieren, die allen Dingen beigemischt sind.33 Davon ausgenommen ist einzig der Geist (Noûs), der für sich getrennt besteht und in einer Art von kosmischem Wirbel in sich rotiert. Anaxagoras spricht von einem „Herumgehen im Kreis“ (περιρησις), eine Drehbewegung, die an irgendeinem Punkt des Chaos einsetzt. Und in der Form konzentrischer Umläufe durchmisst dann dieser Bewegungsimpuls das ganze All, „überall das Gleiche zum Gleichen herausschnellend“, das „Dichte an das Dichte“, das „Dünne an das Dünne und ebenso alles Dunkle, Helle, Feuchte, Trockne zu ihres Gleichen“, bis hin zur Scheidung der ätherischen Massen (des Warmen, Lichten, Leichten) von den aerischen (allem 30 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 10, KSA 1, S. 330. 31 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 1, KSA 1, S. 807. 32 Vgl. die historisch-kritischen Untersuchungen im Umkreis der Preisschrift: ‚De Laertii Diogenis fontibus‘ (1867/68), in: Werke Bd. XVII: Gedrucktes und Ungedrucktes aus den Jahren 1866–1877, hrsg. von E. Holzer, Leipzig 1910 ( = Philologica I), S. 69ff. 33 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 16, KSA 1, S. 862.

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Dunklen, Kalten, Schweren, Festen).34 Im Fortgang dieses Prozesses bildet sich die uns bekannte Welt, die in ihren Teilen wie im Ganzen als „Wirkung jenes in immer größeren Kreisen rollenden Rades“ erscheint.35 In der aerischen Masse treten durch Wirbel Wasser und Erde auseinander, reißen sich aus dem Erdigen Steinmassen los und stürzen in die Kreisbahnen des heißen, lichten Äthers, wodurch sie zum Glühen gebracht werden und als Sonne und Sterne die an sich dunkle und kalte Erde beleuchten und erwärmen. Kurzum: Kommt die Bewegung einmal in Schwung, so ist alle Gesetzmäßigkeit und Schönheit der Natur die Folge des in sich fortrollenden Weltrads, das im Kreislauf des Werdens „Ziel auf Ziel“ streift: als hätte der Geist die zielstrebige Bewegung von sich her angeordnet. Nietzsche bewundert die Kühnheit und Einfachheit dieser Konzeption des Anaxagoras, die im Bild des großen Weltrads an den Gedanken in seiner erhabenen Form rührt und ihren Stolz gerade darin hat, „daß sie aus dem bewegten Kreis den ganzen Kosmos des Werdens ableitet“36, ohne sich damit zu identifizieren. Der erste griechische Denker, mit dem sich Nietzsche verwandt weiß, ist Empedokles. Aber Empedokles kommt im Philosophen-Buch nicht vor. Das Identifikationspaar bilden im Buch Heraklit und sein „Vorgänger“ Anaximander. Ihm rühmt Nietzsche nach, er habe zuerst so gedacht und geschrieben, wie der typische Philosoph immer schreiben werde, „so lange ihm noch nicht durch befremdende Anforderungen die Unbefangenheit und die Naivität geraubt sind: in großstilisirter Steinschrift, Satz für Satz Zeuge einer neuen Erleuchtung und Ausdruck des Verweilens in erhabenen Contemplationen. Der Gedanke und seine Form sind Meilensteine auf dem Pfade zu jener höchsten Weisheit.“37 Das ist Nietzsches Ahnung eines der Lehre angemessenen, aphoristisch knappen Stils, den er in der „lapidarischen Eindringlichkeit“ des einzig originalen Spruches von Anaximander vorgebildet findet: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit“ (B 1). Anaximanders Denkerfahrung erwächst der Verwunderung darüber, was vor aller Augen liegt, dem alltäglichen Phänomen des Wechsels von Entstehen und Vergehen im Bereich der Natur- und Menschenwelt. Dem Philosophen des tra34 Vgl. Fr. B 1–4; 6, zusammenfassend interpretiert in: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, ebd., S. 863ff. 35 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 17, KSA 1, S. 865. 36 Vgl. Fr. B 12 mit: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 17, KSA 1, S. 866. – Anaxagoras’ zyklische Denkform gilt der Erklärung des Kosmos als einmaliges Kunstwerk, das in seiner Vollendung keiner Wiederholung bedarf. 37 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 4, KSA 1, S. 818.



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gischen Zeitalters der Griechen erscheint das Alltägliche für sein Verhalten zu sich selbst und seinesgleichen beachtenswert: als ein Problem.38 Es ist das uns bekannte Leiden an der anfangenden und endenden Zeit als Ausgangspunkt der ionischen Philosophie, ein Pathos am Grunde des philosophischen Staunens, das in unendlicher Steigerung bei Heraklit und den nachfolgenden Philosophen wiederkehrt. Ihm gehen eine „Menge einzelner Weltblicke“ in sporadischspruchmäßiger Form voraus; wie nach Nietzsche überhaupt die Bezeugung des Blickes auf die Zeit bei den Griechen eine „lange Geschichte“ besitzt.39 Gemeint sind älteste literarische Zeugnisse in der Form von Tempelhymnen, mit dem Mittelpunkt einer Göttertat, woraus sich das Epos entfaltet, und die Orakelpoesie. Es handelt sich um sporadisch-spruchmäßige Vorstufen ethischer Sentenzenweisheit, die alle mehr oder weniger um das mythisch verhüllte Leiden an der Zeit kreisen. In ihrer düsteren Physiognomie sind sie nach Nietzsche etwas ganz anderes als jene „uralte mysterienhafte symbolisch-orientalische Priesterweisheit, welche mehrere neuere Gelehrte im Hintergrunde des ältesten Griechenlands wittern“40. Sie drängen auf Gleichnisreden, die durch Vergleich und Unterscheidung verschiedener Zeitstufen das Gemeinte mehr andeuten als aussprechen. Nietzsche erinnert an mythische Unterscheidungen zwischen einem ersten und zweiten Chronos mit ihren Umhüllungen des Leidens der sterblichen Menschen an der zugemessenen, der „zeitlichen Zeit“, an hymnische Ausrufe von Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter oder nach einem Ende des im Mythos berichteten Kampfes gegen Kronos, das Symbol der alles zerstörenden Zeit. Und er denkt an logische Vertiefungen solcher Vergleiche und Unterschiede in der frühgriechischen Philosophie, mitsamt ihren verschiedenen Begründungsebenen, denen Nietzsche von Anbeginn sein besonderes Augenmerk schenkt. Vor diesem Hintergrund wird uns Nietzsches Auslegung des Spruches von Anaximander als Markierung am Eingang des Weges zur tragischen Philosophie verständlich. Sein Denken gehört noch in jenes Zeitalter, in dem es üblich war, Säulen und sichtbare Stellen an Tempeln mit Orakelversen, Grenzsteine mit ethischen Aufschriften zu schmücken.41 Am alltäglichsten Phänomen gewahrt Anaximander als erster Grieche den „Knäuel des tiefsinnigsten ethischen Problems“, indem er das Werden wie eine strafwürdige Emanzipation vom ewigen Sein, das Entstehen des Vielen als eine Summe von Ungerechtigkeit betrachtet, die mit seinem Untergang zu büßen sei, und dies immer wieder, im Großen wie 38 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 131. 39 Vgl. NF Frühjahr 1871–Anfang 1872, 14 [27], KSA 7, S. 386. 40 Die vorplatonischen Philosophen, § 4, ebd., S. 140f.; Geschichte der griechischen Literatur, § 11, Philologica II, S. 68f. 41 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 141.

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Alltägliches und Mythisches in Nietzsches Zeitverständnis

im Kleinen, nach der Lehre vom unaufhörlichen Fluss der Dinge. Sein Problem ist aber nicht das Werden selbst und als solches, sondern das Vergehen. Alles, was einmal geworden ist, sagt Nietzsche mit Anaximander, vergeht auch wieder, gleichgültig, ob wir nun dabei an das Menschenleben oder an innerweltliche Zustände wie Warm und Kalt oder an die vergängliche Welt im Ganzen denken. Und für diese Prophezeiung spreche ein „ungeheurer Erfahrungsbeweis“, von zunehmender Austrocknung der Meere angefangen über den Muschelkalk im Gebirge bis hin zur zunehmenden Erwärmung der Erdatmosphäre. Wofür dann spricht, was Nietzsche zugleich mit Anaximander prophezeit: dass sich vermutlich immer von neuem eine solche Welt der Vergänglichkeit bauen wird.42 Es sind mythische Denkerfahrungen eines absoluten Werdens, die das zeitliche Dasein der Dinge nicht mehr zu einem moralisch unberechtigten Phänomen herabsetzen und behaupten, es büße sich fortwährend durch den Untergang ab. Das ist die Behauptung von Anaximander, der den Bußakt auf Dauer stellt und dann weiter folgern muss, der zeitliche Werdestrom reiße eben deshalb nicht ab, weil das Werden des Vielen einer ewigen Einheit entspringe, die selber „außer der Zeit“ sei: das Unendliche, Unbegrenzte, Göttliche, woraus und wodurch alles Endliche, Begrenzte, Weltlich-Menschliche besteht. Mit diesen Begriffsprägungen hat Anaximander den Gehalt der orphischen Mysterienreligion auf der Ebene alltäglicher Phänomene festgehalten, um ihn auf der Begründungsebene zugunsten des Göttlichen als des Inbegriffs von Einheit, Immersein, Ewigkeit preiszugeben: im Gegensatz zum Alltagsphänomen der Zeit. „Sittlich“, heißt es unter Anspielung auf Anaximander und die Folgen für die europäische Metaphysik in Nietzsches Zarathustra-Dichtung, „sind die Dinge geordnet nach Recht und Strafe. Oh wo ist die Erlösung vom Fluss der Dinge und der Strafe ‚Dasein‘?“43 Eine Antwort auf diese Frage bereitet die Heraklit-Interpretation im Torso des Philosophen-Buches vor. Alle Prinzipien der mythischen Vorstufe, so hatte der Philologe Nietzsche in den Baseler Vorlesungen konstatiert, tauchen vereinzelt unter den frühesten Denkern wieder auf, bei Anaximander das Amalgam der olympischen Alltagsgottheiten mit den chthônischen Göttern des Ahnenkults in dem unbekannten, form- und qualitätslosen Urwesen (τν πειρν), bei Heraklit das absolute Werden (ρνς). Unter diesem Aspekt scheint mir die These verfehlt zu sein, wonach die Betonung des Werdens in Bezug auf Heraklit nichts enthalte, was wirklich ganz persönlich dem Philosophen zugehörte, vielmehr handele es sich „um eine, im übrigen nicht einmal originelle, Bana-

42 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 4, KSA 1, S. 819f. 43 Also sprach Zarathustra, II, KSA 4, S. 181.



Einkehr ins Verschiedene oder Rückkehr ins Gleiche?

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lisierung seines Denkens“44. Das Gegenteil ist richtig. Weder Hegel oder die von ihm beeinflusste Sekundär-Deutung des Heraklitischen Denkens durch Eduard Zeller und Ferdinand Lassalle noch Heraklit-Philologen wie Jakob Bernays haben Nietzsche zur Wiederkunftslehre inspiriert,45 sondern seine Studien zu den mythischen und sporadisch-spruchmäßigen Vorstufen der griechischen Philosophie und die daran anschließenden Bestimmungsversuche anfänglicher Denkerfahrungen. Wie aus unseren Ausführungen hervorgeht, passt der von Nietzsche herausgehobene Grundgedanke des absoluten Werdens wenig in das Schema jener seit Aristoteles tradierten Lehrmeinungen der frühen „Physiologen“ über die Archäologie des Seienden im Ganzen. Er passt auch wenig zu dem vom Widerspruchsprinzip geprägten Lehrgegensatz zwischen dem „onto-logisch“ argumentierenden Parmenides und dem „a-logisch“ redenden Heraklit. Und am wenigsten hat er zu tun mit Hegels dialektischer Interpretation des Werdens als einer Synthese von „Sein“ und „Nichts“. Was Heraklit denkend erfährt, haben alle vorplatonischen Philosophen erfahren, Anaximander und Heraklit ebenso wie Parmenides und Empedokles und schließlich Anaxagoras.46 Aber einzig Heraklits Denkerfahrung, das ist Nietzsches Ansatzpunkt, zerbricht die Schalen der mythischen Zeiterfahrung. Denn ihr phänomenaler Kern, das ist nichts anderes als der aus dem mythisch bezeugten Bund des Eros mit Chthôn erzeugte zweite Chronos, die „zeitliche Zeit“, das heißt: jene von allen gemeinsam erfahrene Weltzeit, die Heraklit mit dem griechischen Grundwort für einen Zeitraum von langer Dauer Aion nennt und als periodisch ablaufendes Spiel zu deuten sucht.47

44 So formuliert G. Colli, Distanz und Pathos. Einleitungen zu Nietzsches Werken, Frankfurt/M. 1982, S. 36. 45 Vgl. zur Diskussionslage die vorzügliche Übersicht bei G. Wohlfart, ‚Also sprach Herakleitos‘. Heraklits Fragment B 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption, Freiburg/München 1991, S. 55 ff., 95ff. und 131f. 46 Vgl. NF Frühjahr 1871–Anfang 1872, 14 [29], KSA 7, S. 387. 47 Fr. B 52. Vgl. Hesiod, Theog. 609; Aischylos Hik. 582; Eum. 315 sowie die behutsame Ausdeutung des ganzen Kontextes bei G. Wohlfart, ‚Also sprach Herakleitos‘, S. 227ff.

II. Hören auf den Gesamtklang der Welt: Interpretationen anfänglicher Denkerfahrungen Das Sein und das Werden: Die volle Differenz Die kosmische Erscheinungsform dieses Spiels, das sind die periodisch sich wiederholenden Weltuntergänge und jenes immer erneute Hervorsteigen einer anderen Welt aus dem alles vernichtenden Weltbrand. Darin stimmt Heraklit nach Nietzsches Ansicht mit Anaximander wie mit den spätantiken Philosophenschulen der Stoa überein, die sich auf seine Deutung der Weltzeit als des alle Dinge verzehrenden Feuers berufen.48 Und er hält zugleich die Abweichungen fest: von Anaximander, der ein allmähliches Austrocknen des Meeres durch das Überhandnehmen des Feurigen gegenüber dem „Kalten“ angenommen hatte, wie von den Stoikern, die diesen Vorgang κπρωσις genannt hatten, ein Wort, das Heraklit nicht kennt.49 Die Periode, in der die Welt der Auflösung in das reine Feuer entgegeneilt, wird durch Heraklit „auffallender Weise als ein Begehren und Bedürfen charakterisiert, das volle Verschlungensein im Feuer als die Sattheit“; ein zweifellos auffälliger Gegensatz, der zu fragen verlangt, wie Heraklit „den neuen erwachenden Trieb der Weltbildung, das Sichausgießen in die Formen der Vielheit verstanden und benannt hat“.50 Was die Frage der Benennung des periodischen Weltbildungsprozesses angeht, so entscheidet sich Nietzsche im Buchfragment über ‚Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ für die vage Formel einer „Rückkehr zur Vielheit“51. Das Heraklit-Kapitel der Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen spricht, vielleicht noch vager, vom „Hinausstreben in die Vielheit“, von der umgekehrt gesagt wird, sie strebe zur „Einheit des Urfeuers hin“52. Auf solche Formeln kommt es dem jungen Nietzsche gar nicht an. Was ihn interessiert, ist das von mythischen oder moralmetaphysischen Begriffsschalen möglichst unabhängige Verständnis des Kerns geschichtlich überlieferter Deutun48 H. von Arnim (Ed.), Stoicorum veterum fragmenta, Nr. 624–626, Vol. I, 189f. – Vgl. B. Magnus, The Connection between Nietzsche’s Dochine of Eternal Recurrence, Heraclitus and the Stoics, in: Helios 1976/3, S. 8ff. 49 Die vorplatonischen Philosophen, § 10, ebd., S. 182. Vgl. dagegen U. Hölscher, Die Wiedergewinnung des antiken Bodens, etc., der Nietzsche unterstellt, er sehe die Ekpyrosis „für philologisch bewiesen an“ (ebd., S. 169). 50 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 6, KSA 1, S. 829. 51 Ebd. 52 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 182.



Das Sein und das Werden: Die volle Differenz

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gen jener ursprünglich menschlichen Erfahrung der „zeitlichen Zeit“, wie sie sich über mythische und sporadisch-spruchmäßige Vorstufen dem anfänglichen Denken der Griechen bezeugt. „Das griechische Sprüchwort“, sagt Nietzsche, und er sagt es, um sich über die Form der Heraklitischen Anschauung ihrem philosophischen Gehalt anzunähern, „scheint uns mit dem Gedanken zu Hülfe zu kommen, daß ‚Sattheit den Frevel (die Hybris) gebiert‘; und in der That kann man sich einen Augenblick fragen, ob Heraklit vielleicht jene Rückkehr zur Vielheit aus der Hybris hergeleitet hat.“53 Es ist die Frage der zeitgenössischen Philologie, die im Einklang mit dem Heraklit-Bild des späteren Altertums den vermeintlich pessimistischen Gesichtszug des Philosophen aus seiner Verurteilung der Hybris (B 43) gedeutet hatte. Und in Anlehnung an damit verwandte Heraklit-Fragmente (B 65–67) hatte sie das Hinstreben des Vielen zur Einheit des Urfeuers als einen periodischen Zustand begehrender Bedürftigkeit (ρησµσνη), dagegen die Periode der in das Urfeuer eingegangenen Welt als Sattheit (κρς) aufgefasst und sich dafür auf die sporadisch-spruchmäßige Vorstufe der Philosophie gestützt, „nach dem Satz τκτει κρς ριν: in dem einen satten Feuer bricht die Sucht zur Vielheit aus“54. Danach müsste Heraklit das Feuer für ewig, die Welt für entstanden gehalten und in der Erklärung periodischer Weltbildungen aus dem Wechsel von Sattheit, Hybris, Schuld und Richtertum des Feuers am Grundgedanken des Anaximander festgehalten haben. Die Vielheit würde dann auch für Heraklit etwas frevelhaft Anstößiges behalten, zwar nicht im Einzelnen, aber im Ganzen, sofern sich das eine satte Feuer, ich interpretiere: der erste Chronos als reine, anfangslose Zeit, in den zweiten Chronos wandelt. Und das ist, noch einmal sei es wiederholt, die uns vertraute „Zeit der Welt“, jener periodische Zustand begehrender „Dürftigkeit“, ja, der Auszehrung und des Hungers (λµς), womit bei Heraklit das Feuer selbst für die ihm innewohnende Hybris gestraft erscheint. Die Schuldthese im Spruch des Anaximander, so scheint es, „wird in den Kern der Dinge verlegt, und somit zwar die Welt des Werdens und der Individuen von ihr entlastet, aber zugleich ihre Folgen zu tragen immer von Neuem wieder verurtheilt“55. Das scheint nur dann so, wenn wir den von Nietzsche vorgebahnten Übergang zwischen den mythischen und sporadisch-spruchmäßigen Vorstufen der Philosophie, dem „absoluten Werden“ im Sinne des Chronos mit seinen kosmo53 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 6, KSA 1, S. 829. 54 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 183. Nietzsche bezieht sich auf J. Bernays, der gegen F. Schleiermacher und F. Lassalle die Annahme periodischer Weltuntergänge verteidigte. Vgl. Die Heraklitischen Briefe. Ein Beitrag zur philosophischen und religionsgeschichtlichen Literatur, Berlin 1869 (von Nietzsche im ‚Literarischen Zentralblatt‘, Jg. 1869, Nr. 6, S. 145, rezensiert). 55 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 6, KSA 1, S. 830.

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Hören auf den Gesamtklang der Welt

theogonen Vorgestalten, außer Betracht lassen. Wenn wir diesen Zusammenhang beachten, stellt sich uns die Sachlage wie folgt dar: Indem er zeugend wird, verwandelt sich Zeus nach Nietzsches Bericht über die erste prosaische Kosmogonie des Pherekydes von der Insel Syros – ein Dokument des Übergangs von archaischen Zeitvorstellungen zur Archontik philosophischer Zeiterfahrung – in Eros, den göttlichen Schöpfergeist, der sich mit der Erde (Chthôn) verbindet. Mit dieser Verbindung des himmlischen Eros und der Chthôn, so erinnern wir uns, „beginnt der zweite Chronos, die zeitliche, nicht anfangslose Zeit“56. Unter der Einwirkung des Eros und der Zeit rinnt Chthôn in die einzelnen Naturelemente auseinander, wobei das schwerere Element immer tiefer sinkt, das leichtere immer höher steigt. Dem Auseinanderstreben der Elemente kann der himmlische Eros nur dann Einhalt gebieten, wenn er als irdischer unter dem Namen von Ophioneus wiedergeboren wird: in Schlangengestalt. Name und Gestalt verweisen auf den mythischen Kampf der „Ophioniden“ gegen die „alles“ zerstörende Zeit; ein Mythos, der dem großen Denkkampf des anfänglichen Philosophierens präludiert, die zeitliche, nicht anfangslose Zeit mit dem Ende so zusammenzudenken, dass die Zeitlichkeit selbst erfahrbar und gewahrt bleibt. Von diesem Denkkampf, einem logischen Agon, der sich noch nicht in eleatischer Dialektik verfängt, lässt uns Nietzsches Heraklit-Interpretation etwas ahnen. Ihr Schlüssel liegt im Verständnis des periodischen Zustands begehrender Dürftigkeit als dürftiger Zeit der Welt, die nach dem einen, satten Feuer verlangt, ich interpretiere: der reinen, erfüllten Zeit. Aber er schließt nur, wenn wir Heraklits Sprüche dem Inhalt nach als Ausdeutungen mythisch verhüllter Zeiterfahrungen lesen und in ihren Denkformen auf sporadisch-spruchmäßige Vorstufen der Philosophie zurückbeziehen. Denn es ist ein liebendes Verlangen, das zum Agon treibt und die zeitliche, nicht anfangslose Zeit im Zusammendenken des Anfangs mit dem Ende zu dem einen Ring der Weltzeit bejahen lässt. Und die Bejahung gilt dem absoluten Werden, der Zeitlichkeit im Ganzen, die der Aion selbst darstellt. Was ihr „die Welt nanntet“, sagt Zarathustra von den Philosophen, „das soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden! Und wahrlich, zu eurer Seligkeit, ihr Erkennenden!“57 Und was die Philosophen in ihrer Sprache „Gott“ genannt hätten, sei nichts als ein Gedanke, der alles Gerade krumm und alles Stehende drehend macht, sich über Zeit und Vergänglichkeit hinwegsetzt: „Böse heisse ich’s und menschenfeindlich: all diess Lehren vom Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und

56 Die vorplatonischen Philosophen, § 3, ebd., S. 138. 57 Also sprach Zarathustra, II: Auf den glückseligen Inseln, KSA 4, S. 110.



Präluzenz der ewigen Wiederkehr

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Unvergänglichen!“58 Ein kritischer Seitenblick auf die Prädikate des Seins in der Ontologie des Parmenides, Gegenspieler Heraklits und Vorläufer Platons, der die Dichter aus dem Philosophenstaat ausschloss und doch selber ein Begriffsdichter gewesen ist: „Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichnis! Und die Dichter lügen zuviel. – Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit.“59

Präluzenz der ewigen Wiederkehr Die besten Gleichnisse, das sind die von Zarathustra, dem Geistesverwandten Heraklits. Wie Nietzsche in seinem Kapitel über die sporadisch-spruchmäßige Vorstufe der Philosophie bemerkt, ist die Gleichnisrede, welche „die Lehren mehr andeutet als ausspricht“, ursprünglich griechisch.60 Und dafür verweist Nietzsche auf die Heraklitische Darstellung der Form des Orakelspruchs: τε λγει τε κρπτει λλ σηµανει (B 93). Gott ist eine Mutmaßung des sterblichen Menschen, hatte Nietzsche gegen die Philosophen bemerkt, aber noch keiner trank all jene Qualen, die dem philosophisch Schaffenden daraus erwachsen, dass er nur in Gleichnissen reden und das Rätsel aller Rätsel – den verborgenen Zusammenhang dieser Mutmaßung mit der Denkerfahrung von „Welt“ und „Zeit“ – umkreisen kann. Der Gedanke setzt die Zeit außer Kraft, und dies auch dann, wenn er sich dialektisch artikuliert: in widersprüchlichen Begriffen wie „Sein“ und „Werden“, „Einheit“ und „Vielheit“, „Recht“ und „Unrecht“, „Gut“ und „Böse“ und wie die moralontologischen Gegensätze sonst noch lauten mögen, die nach Auffassung der Dialektiker vom Range Hegels „ineinander“ und damit wesentlich „gleich“ sind;61 eine Heraklit-Interpretation, die Nietzsche als ganz unheraklitisch verwirft. Die Denkform des Gleichnisses setzt nichts gleich, sondern vergleicht das Widersprüchlichste, das Feuer mit der Zeit und beide mit dem spielenden Kind (B 52). Sie vergleicht den Gott mit der Welt und ihren zeitlich wechselnden Erscheinungsformen von Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger; ein Gott, von dem dann nach kultischer Erfahrung gesagt werden kann, er wandele sich gerade wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermengt wird, nach dem Duft eines jeglichen heißt (B 67). Und sie vergleicht zuletzt die Welt mit einem Haufen aufs Geratewohl zusammengekehrter 58 Ebd. Vgl. dazu U. Hölscher, Die Wiedergewinnung des antiken Bodens, ebd., S. 178. 59 Also sprach Zarathustra, II: Auf den glückseligen Inseln, KSA 4, S. 110. 60 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 139 Anm. 11. 61 Die vorplatonischen Philosophen, § 10, ebd., S. 184.

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Hören auf den Gesamtklang der Welt

Dinge (B 124) oder mit einem Mischtrank, der beständig umgerührt werden muss (B 125). Gibt es in dieser Welt, fragt Nietzsche am Schluss des Heraklit-Kapitels der ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘, Schuld, Ungerechtigkeit, Widerspruch und Leid? 62 Und er antwortet mit Heraklit, für den Gott sei „alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine für unrecht, das andere für recht angenommen“ (B 102). Die Heraklitische Spruchweisheit, sie läuft am Ende darauf hinaus, dass dem Gott alles gut, dem Menschen vieles schlecht erscheint; und dass die ganze Fülle von Widersprüchen und Leiden für den beschauenden Gott im Hören einer unsichtbaren Harmonie schwindet. Die Rede von Gott ist und bleibt hier immer nur eine Mutmaßung, die sich am Gleichnis der Zeit, an Heraklits Vergleich des Aion mit einem Kinde, veranschaulicht. So tritt sie in der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘ auf. Und es scheint wichtig zu bemerken, dass die Heraklitische Gleichnisrede schon dort für jenes dionysische Phänomen steht, „das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“63. Das Gleichnis vom Kind am Meeresstrand, das im Sand spielt, ist Nietzsches Zusatz, der solche Veranschaulichungen in seinen Interpretationen zu den vorplatonischen Philosophen auch sonst liebt.64 Heraklit kennt lediglich den Vergleich des Aion mit dem spielenden Kind, das seine Brettsteine setzt und im Spiel die Herrschaft über die Welt ausübt (B 52). Hat sich doch nach den uns bekannten Überlieferungen der mythischen Vorstufe Zeus selbst, indem er zeugend wird, in Eros verwandelt. Und die zeitliche, nicht anfangslose Zeit, von der Heraklits Spruchweisheit in der Hauptsache handelt, sie ist ein Kind des Eros und der Chthôn. In diesem Kontext, so scheint mir, muss Heraklits merkwürdiger Ausspruch über den Aion zusammen mit Nietzsches denkwürdiger Interpretation verstanden werden. Heraklits Gleichnis redet von der Zeit als einem Kind, weil die Zeit nach mythischer Erfahrung aus der Verwandlung von Zeus in das weltschaffende Prinzip von Eros und dessen Verbindung mit der Erdgöttin hervorgeht. Heraklits 62 KSA 1, S. 830. 63 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 24, KSA 1, S. 153. 64 Vgl. zu Thales’ Prinzip Philologica III, S. 401. Es erscheint mir nicht zwingend, das Gleichnis auf Bernays Heraklit-Aufsatz im „Rheinischen Museum“ zurückzuführen, wie das U. Hölscher tut (Die Wiedergewinnung des antiken Bodens, ebd., S. 163).



Präluzenz der ewigen Wiederkehr

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Denkerfahrung, das hat Nietzsche richtig gesehen, ist die Erfahrung des absoluten Werdens (ρνς), die „gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist“, eine furchtbare und betäubende Denkerfahrung, die wie ein Erdbeben das Zutrauen des frühgriechischen Menschentums zur festgegründeten Erde erschüttern musste. Und es bedurfte eines langen Denkkampfs, um diese entsetzliche Wirkung ins Entgegengesetzte, in das Erhabene und beglückte Erstaunen, zu übertragen.65 Nach Nietzsche gewinnt Heraklit dafür den Ansatzpunkt aus der Übertragung des griechischen Polemos- und Agon-Gedankens auf seine Beobachtungen über den Hergang jedes Werdens und Vergehens, den er unter der Form der Polarität auslegt: als regelmäßiges „Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten“66: Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze, denn fortwährend, so wird es später Anaxagoras präzisieren, stößt Gleiches das Ungleiche von sich ab, strebt Gleiches zu Gleichartigem hin.67 Alles geschieht gemäß diesem Streit des Gleichen mit dem Ungleichen, der in Ewigkeit fortdauert und das Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit offenbart. Denn fortwährend führt er zu periodischen Weltuntergängen und Weltbildungen, zur ewigen Wiederkehr des Gleichen hin, wie Nietzsches daraus abgeleitete Formel für die erhabene Form des Gedankens lautet. Der Sache nach, so scheint mir, hat Heraklit jedoch seine Kraft zur Überwindung des Furchtbaren an der Erfahrung des absoluten Werdens aus anderer Quelle geschöpft. Ich meine die mythischen Ursprünge der Heraklitischen Spruchweisheit und die für sie charakteristischen Verschränkungen mit den Formen der Gleichnisrede in der Orakelpoesie. Dass der Aion ein spielendes Kind ist, das Brettsteine setzt und darin die Welt beherrscht (B 52), dieser Vergleich erscheint ungeheuerlich, sofern Heraklit damit etwas aussagt, was nach epischer Rede einzig dem Weltherrscher Zeus gebührt.68 Und gewiss handelt es sich um eine ungeheure Aussage über das Weltwesen. Dennoch steht dieser Ausspruch in der Tradition mythischen Zeitdenkens und der sporadisch-spruchmäßigen Vorstufen der Philosophie. Besagt er doch, dass die Welt-Zeit ewig jung bleibt. Und er sagt, dass sie das Gleiche immer wieder und immer neu tut: im nicht nur

65 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 5, KSA 1, S. 824f. 66 Ebd., S. 825. Vgl. dazu J. P. Hershbell/St. A. Nimis, Nietzsche and Heraclitus, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 22f. 67 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 16, KSA 1, S. 861f. 68 Vgl. U. Hölscher, Die Wiedergewinnung des antiken Bodens, ebd., S. 163.

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Hören auf den Gesamtklang der Welt

gleichmäßigen, sondern auch im überraschenden, unvorhersehbaren Spiel ihrer kleinsten Bausteine die Welt zu „versetzen“. Mit Recht nennt Nietzsche sowohl im Kolleg über die vorplatonischen Philosophen als auch im Torso der ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ das Gleichnis „erhaben“. Und bei dieser Gelegenheit sei noch einmal daran erinnert, dass der junge Nietzsche im Einklang mit der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung von Kant bis hin zu Goethe und Schiller unter dem Erhabenen die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen im Medium des schönen Scheins versteht.69 Den Schein als Medium des Gedankens zu retten, bevor ihn der Parmenideische Seinsgedanke als „widersprüchlich“ oder „unrichtig“ und „unrecht“ im strafwürdigen Sinne dieses Wortes verurteilt, darum dreht sich Nietzsches Heraklit-Interpretation. Anders ausgedrückt: Es geht um die Rettung der alltäglichsten Phänomene des Werdens, „jenseits“ ihrer moralontologischen Interpretation in Ausdrücken von Schuld und Strafe. „Ein Werden und Vergehen ohne moralische Zurechnung“, heißt es im Kolleg, „giebt es nur im Spiel des Kindes (oder in der Kunst) [...] Hier ist Unschuld und doch Entstehenlassen und Zerstören. Es soll kein Tropfen von δκα in der Welt zurückbleiben. Das ewig lebendige Feuer, der αν, spielt, baut auf und zerstört: der Πλεµς, jenes Gegeneinander der verschiedenen Eigenschaften, geleitet von ∆κη, ist nur als künstlerisches Phänomen zu erfassen.“70 Der Torso des Philosophen-Buches verstärkt den ästhetischen Gesichtspunkt, indem er den Akzent vom Kinderspiel auf das Spiel des schaffenden Künstlers verlegt: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich.“71 Darauf konzentriert sich Nietzsches Interpretation. Und es scheint mir wichtig zu bemerken, dass sie den Zusatz zum Heraklitischen Gleichnis lediglich aufnimmt, um jenes Spiel des unschuldigen Werdens der Elemente zu veranschaulichen: „Sich verwandelnd in Wasser und Erde thürmt er (der Aion; M. R.) wie ein Kind Sandhaufen am Meere, thürmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von Neuem das Bedürfniß, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfniß zwingt. Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andere Welten ins Leben.“72 69 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 7, KSA 1, S. 57. 70 Die vorplatonischen Philosophen, ebd., S. 184. 71 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 7, KSA 1, S. 830. 72 Ebd., S. 830f.

Epilog: Goethe-Verwandtschaft und Faust-Parodie

Kein Zweifel: Es ist eine ästhetische Weltbetrachtung, die in manchem an Schillers Verständnis der Kunst als Spiel, in manchem an Goethes pantheistische Natursicht anschließt. So mag es zum Abschluss unseres Gedankengangs erlaubt sein, den Blick auf das neuzeitliche Vorspiel von Nietzsches Wiederkunftslehre zurückzulenken und mit den Prämissen seiner Heraklit-Interpretation zu vergleichen. Und dabei halten wir vorweg fest: Heraklitisch ist das Insistieren auf dem Schein, die skeptische Behauptung, dass selbst der am meisten in Erscheinung tretende Weise ( δκιµτατς) nur Scheinhaftes (δκντα) erkennt und weiß, dass Dike den Verfertiger von Lügen zu fassen wissen wird (B 28). Die Skepsis ist ein Aspekt von Heraklits Dichter-Kritik. Nietzsche überträgt sie auf die Seinsphilosophie von Parmenides bis hin zu Platon: Damit werde Heraklit „ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die ‚scheinbare‘ Welt ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen.“1 Eine ästhetische Weltbetrachtung „jenseits“ der engen Perspektiven von „schön“ und „hässlich“, so sieht es Nietzsche, schließt sowohl die moralische Tendenz des Ontologen Parmenides als auch die Teleologie der Sokratisch-Platonischen Philosophie aus. Handelt doch das Weltkind nicht nach Zwecken, sondern nur nach einem immanenten Gesetz: „Es kann nur zweckmäßig und gesetzmäßig handeln, aber es will nicht dies und jenes.“2 Was Heraklit nach Nietzsche zum ersten Mal an der Natur geschaut hat: die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Nothwendigkeit,3 diese Naturansicht hatte sich Goethe im Umkreis des Urfaust-Fragments (1772/73) als überwältigende Wahrheit aufgedrängt: „Was die Natur uns zeigt, ist Kraft, die Kraft verschlingt; nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche, schön und häßlich, gut und böse, alles mit gleichem Recht nebeneinander. Die Kunst entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Universums zu erhalten.“4 In dieser Bemühung verbindet sich die Kunst bei dem Weimarer Dichter und Naturforscher mit der Wissenschaft, wobei sie, auf dem Hintergrund von Goethes Spinoza-Studien in 1 Götzen-Dämmerung (1888): Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie, 2, KSA 6, S. 75. 2 Vgl. M. Riedel, Nietzsche in Weimar, Leipzig 1997. 3 Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 8, KSA 1, S. 835. 4 Vgl. W. Dilthey, Aus der Zeit der Spinozastudien Goethes, in: Gesammelte Schriften, II. Band, Stuttgart/Göttingen 19606, S. 395f.

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Epilog: Goethe-Verwandtschaft und Faust-Parodie

Gemeinschaft mit Herder und der Frau von Stein, mit der Religion im Bunde bleibt: jener ästhetisch gestimmten Naturfrömmigkeit, die als Grundstimmung Goethes Schriften zur Naturwissenschaft durchzieht, von der gedichteten ‚Metamorphose der Pflanzen‘ (1798) angefangen bis hin zur ‚Farbenlehre‘ (1807) und ‚Morphologie‘ (1777). Und auf jeder Stufe seiner Bahn sind Elemente des Heraklitischen Gedankens eingelegt, von der Werther-Dichtung und dem Prometheus-Fragment der Sturm-und-Drang-Zeit über die Zeit der Weimarer Spinozastudien bis hin zum ‚West-Östlichen Divan‘. Goethes „orientalische“ Gedichte sind ganz vom dionysischen Gefühl unbedingter Daseinsbejahung erfüllt und sprechen den Wiederkunftsgedanken im Anschauen des Gleichmaßes im Wechsel der Naturformen als „Selige Sehnsucht“ aus („Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und Werde! /Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde“). Und voll von heraklitischen Anspielungen sind schließlich auch Goethes Kommentare zu den ‚Urworten. Orphisch‘, zu Dämon („So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, / So sagten schon Sibyllen, so Propheten“), zu ‚Ananke, Nötigung‘ („Bedingung und Gesetz; und aller Wille / Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, / Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille“), ja, selbst zu ‚Elpis, Hoffnung‘ („Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer / Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt; / Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen; / Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen“5). Seine gedankliche Nähe zu Goethes Naturverständnis hat Nietzsche oft genug bezeugt, am eindringendsten in dem Bekenntnis des 1. Buchs von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ (1879): „[...] wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unserer selbst kommen könnten.“6 Nietzsche weiß um die Geschichtlichkeit dieser spezifisch neuzeitlichen Sympathie mit dem ewig gleichen Leben in der Natur, eine gesteigerte Natursensibilität, die der durchs mechanistische Weltbild auf sich isolierte Mensch im Gefühl tiefster Beunruhigung erzeugt, um sich Ersatz für die verlorene Religion zu schaffen. Und die Goethe-Nähe konnte Nietzsche nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Weimarer Dichter in Gefahr stand, sein Denken durch eine Ersatzreligion zu beruhigen. So steht es jedenfalls in Zusätzen zum Aphorismus 27, der sich das Goethe-Wort: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / hat auch Religion“ aus

5 Urworte, Orphisch, in: Goethes Werke, Bd. 1, S. 359f. 6 Menschliches, Allzumenschliches, I, Aph. 111, KSA 2, S. 113.



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den ‚Zahmen Xenien‘ „mit kleiner Veränderung“ zueignet: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der braucht nicht Religion.“7 Vielleicht ist die Veränderung wirklich keine große, vielleicht hat Nietzsche Goethe richtig verstanden. Jedenfalls hat er die Umschrift nicht in den Text von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ aufgenommen, um seine Goethe-Verehrung nicht einzuschränken. Und nicht ohne Grund konnte Goethe dem späten Nietzsche als der große Befreier von den Zwängen alexandrinischer Wissenschaftskultur auf dem Boden der Moderne erscheinen: „Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hilfe, vor allem die praktische Tätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich.“ In dieser Haltung lebte Goethe den Deutschen sein dichterisch gestaltetes Ideal künftiger Menschlichkeit vor: „Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist.“8 Nietzsche spricht vom Goethe’schen Menschen der Toleranz aus Stärke, nicht aus Schwäche, der noch das Niederziehende zu seinem Vorteil zu gebrauchen weiß; der nichts Verbotenes kennt, es sei denn die Schwäche. Mit einem Wort: Es ist die Vorgestalt des Übermenschen, die sich im Umriss abzeichnet an der von Goethe gelebten Gestalt des freigewordenen Geistes, der sich „mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All“ stehen sieht: „im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr ... Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft.“9 Goethes Denken und Dichten scheint hier ganz ein Wiedererkennen und -erinnern, eine „Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesamthaushalt der Seele“ zu sein. Er verwahrt das „Älteste vom Alten“, jene orientalischen Gedankenkeime der Lehre, die im Okzident bei den Philosophen des tragischen Zeitalters der Griechen aufgenommen und in ihren Grundsätzen über die Natur ausgestreut worden sind.10 Ja, in der ‚Götzen-Dämmerung‘, nach den ‚Streifzügen eines Unzeitgemäßen‘ durch die Moderne, steht Goethes Name gar für den philosophischen Glauben an die ewige Wiederkunft, jenen „höchsten aller möglichen Glauben“, den Nietzsche auf den Namen des Dionysos getauft hatte. Aber 7 Vgl. Aph. 27, KSA 2, S.48. 8 Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, 49, KSA 6, S. 151. 9 Ebd., S. 151f. 10 Vgl. Jenseits von Gut und Böse, 1. Hauptstück, Aph. 20, KSA 5, S. 34.

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im vorletzten Aphorismus des nachfolgenden Abschnitts: ‚Was ich den Alten verdanke‘ (4) rückt Goethe auf einmal wieder mit Winckelmann und seinem apollinischen Kunstverständnis zusammen, wird von Goethe behauptet, er habe die griechische Mysterienlehre nicht gekannt und darum die Griechen nicht verstanden, ihren Glauben an die ewige Wiederkehr des Lebens: „Die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit.“11 Das Fazit ist widersprüchlich. Gewahren wir doch an dieser Stelle die Spannung zwischen Nietzsches „historischem“ Goethe, dem sich in der Nachfolge von Winckelmann die griechische Welt noch einmal im Licht des klassisch-platonischen Schönheitsideals verklärt, und seiner Vision des Dichters als die eines Künders dionysischer Weltbejahung, der über das Bild des Übermenschen zugleich das Konzept der Lehre von der ewigen Wiederkunft empfangen haben müsste. Es bedürfte einer gesonderten Untersuchung, um an dieser Spannweite den Grundwiderspruch in Nietzsches Goethe-Interpretation herauszuarbeiten; den Widerspruch von Nähe und Ferne, der in gewisser Hinsicht auch auf Nietzsches Heraklit-Interpretation zutrifft. Kommt doch auch hier der ästhetische Aspekt der Weltbetrachtung im Bild des Kinderspiels nicht mit dem tragischen Blickpunkt zur Deckung, der Nietzsches Auslegung der Fragmente zur Mysterienlehre mit ihren zerstörenden, vernichtenden Kräften im Naturgeschehen am Leitfaden vom Gesetz im Werden und dem Ernst des Spiels in der Notwendigkeit durchzieht. Als Nietzsche der Wiederkunftsgedanke Anfang der 80er Jahre wie eine neue Einsicht „überkam“, da hatte er in Erinnerung an seine Anfänge bekannt: „Ich habe das Griechentum entdeckt: sie glaubten an die ewige Wiederkunft! Das ist der Mysterien-Glaube.“12 Am Ende dieses Jahrzehnts, nachdem er sich selbst in der Zarathustra-Dichtung als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“ stilisiert hatte,13 zweifelt er jedoch an der Richtigkeit seiner Entdeckung. Da bekennt er, für diese Lehre keine Zeugnisse gefunden zu haben, weder im Bereich des Mysterien-Glaubens noch bei den großen Philosophen des tragischen Zeitalters der Griechen. Eine Skepsis, die übertreibt, um Heraklits Gestalt und seinen Gedankenkreis umso deutlicher als Vorspiel zur Wiederkunftslehre zu profilieren: „Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs ‚Sein‘ – darin muss ich unter allen Umständen das mir Ver11 Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, 4, KSA 6, S. 159. 12 NF Sommer 1883, 8 [15], KSA 10, S. 340. 13 Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, 5, KSA 6, S. 160; Ecce homo: ‚Also sprach Zarathustra‘, 6, KSA 6, S. 345.



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wandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der ‚ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustra’s könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon.“14 Hier spricht Nietzsche mit der skeptischen Zurückhaltung des Philologen. Aber die Skepsis, das darf darüber nicht vergessen werden, ist zugleich ein Bestandteil seiner Philosophie. Die Lehre von der eigenen Wiederkunft bleibt, was die Idee nach Platon für die Dialektik gewesen ist: eine Hypothese. Sie hat, allerdings, eine antiplatonische Spitze, die Nietzsche gegen seine Vorbilder, aber auch gegen sich selbst richtet. Im 2. Teil der Zarathustra-Dichtung bekennt der Lehrer des Übermenschen, es gäbe „so viel Dinge zwischen Himmel und Erden, von denen sich nur die Dichter Etwas haben träumen lassen. Und zumal über dem Himmel: denn alle Götter sind Dichter-Gleichnis, Dichter-Erschleichnis! Wahrlich, immer zieht es uns hinaus – nämlich zum Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre bunten Bälge und heissen sie dann Götter und Übermenschen: – Sind sie doch gerade leicht genug für diese Stühle! – alle diese Götter und Übermenschen. Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde, das durchaus Ereignis sein soll! Ach, wie bin ich der Dichter müde.“15 Das Bekenntnis spielt auf Goethes ‚Faust‘ und die platonische Dichter-Kritik an. Was sich fast wie ein Nachspiel zur Lehre ausnimmt, das sie über bloße Skepsis hinaus als dichterische Illusion zurückzunehmen scheint, ist in Wahrheit ihre gedankliche Probe. In dem Gedicht: ‚An Goethe‘ hat Nietzsche seine eigenen Zweifel auf das im Spätwerk immer mehr bewunderte Vorbild übertragen. Die erste Strophe parodiert das neuplatonistisch-christliche Formenspiel mit dem Ewigen im Sinne des Unvergänglichen am Schluss der Faust-Dichtung, Goethes Allvertrauen, das die menschliche Tragödie harmonisiert und damit zum bloßen Schein herabsetzt: Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichniss! Gott der Verfängliche Ist Dichter-Erschleichniss ... 14 Ecce homo: ,Die Geburt der Tragödie‘, 3, KSA 6, S. 313. 15 Also sprach Zarathustra, II: Von den Dichtern, KSA 4, S. 164f.

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Aus der Verneinung des platonisierenden Abgesangs im Chorus Mysticus (Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird’s Ereignis) entspringt mit der zweiten Strophe die gegenwendige Bejahung der Goethe’schen Welt des „Stirb und Werde“, die antike Leitmotive im Goethe-Ton rezitiert: „Welt-Rad, das rollende, / Streift Ziel auf Ziel: / Not – nennt’s der Grollende, – der Narr nennt’s – Spiel ...“. Das ist keine Fortsetzung des Nebengesangs im Formensinn der Parodie, sondern Reprise, Wiederholung griechischer Vorspiele zur Wiederkunftslehre bei Anaxagoras und Heraklit, die Nietzsche der GoetheWelt einfügt. Und die dritte Gedicht-Strophe gibt in der leichten Anspielung auf Goethes platonisierendes „hinan“ alle Gegenbewegung zugunsten des reinen Einklangs zwischen der Goethe-Welt und dem Heraklitischen Gedanken vom Weltspiel preis: mit dem Ausdruck tiefster Ruhe, der das tragische Pathos wie in einem heiterem Abgesang lyrisch zu Wort kommen lässt: Welt-Spiel, das herrische, Mischt Sein und Schein: – Das Ewig-Närrische Mischt uns – hinein! ...16

Wie keine Pflanze dem Licht aus dem Weg geht, heißt es im I. Band von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, so suchen „jene Philosophen nur eine hellere Sonne, der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden diess Licht nicht in ihrer Erkenntniss, in dem, was Jeder von ihnen seine ‚Wahrheit‘ nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen grösseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunct alles Seins zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen.“17 In den Entwürfen zum Philosophen-Buch werden die Akzente anders gesetzt: „Alles auf dem Hintergrund des Mythos aufzumalen. Dessen grenzenlose Unsicherheit und Wogen. Man sehnt sich nach Sicherem. Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben des Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich diese Philosophen des Mythus; also wie halten sie es in dieser Düsterkeit aus?“18 Die Antwort lautet: Durch die Fortdichtung des Mythos in der Tragödie, den tragischen Mythos, der allerdings den griechischen Dichtern, geschweige denn den griechischen Philosophen, niemals in voller Deutlichkeit durchsichtig 16 Die fröhliche Wissenschaft, Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei, KSA 3, S. 639. 17 Menschliches, Allzumenschliches, I, 5, KSA 2, S. 214f. 18 NF Sommer 1875, 6 [7], KSA 8, S. 99.



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wird.19 Sie verbünden sich mit der Wissenschaft, und das heißt für Nietzsche: mit den Mitteln der logisch schematisierenden Vernunft, die beobachtet, bezeichnet, kombiniert, um feste Resultate zu gewinnen. Wissenschaft, bevor sie Gewohnheit und Instinkt ist – dazu wird sie erst mit Sokrates –, entsteht unter vier Voraussetzungen: 1) wenn die Götter nicht gut gedacht werden. Grosser Vortheil irgend etwas als fest zu erkennen. 2) der Egoismus treibt den Einzelnen an, bei gewissen Beschäftigungen z. B. Schiffahrt seinen Nutzen zu suchen, durch Wissenschaft. 3) etwas für vornehme Leute, die Musse haben. Neugierde. 4) im wilden Hin und Her der Meinungen des Volks will der Einzelne ein festeres Fundament.20 Wäre dies der Ursprung der Philosophie, würde sie aus höchst trüber Quelle fließen: aus mythologischen Missgriffen, dem menschlichen Egoismus, der Neugier, dem Sekuritätsbedürfnis. Es ist klar, dass sie sich daran nicht knüpft, dass sie anderen Quellen entspringen muss. Welche es sind, darauf verweisen drei Grundzüge, die „Wissenschaft“ von „Weisheit“, dem Trieb zum Wissen vom Seienden im Ganzen, unterscheiden. Die Weisheit besteht 1) im unlogischen Verallgemeinern und zum letzten Ziele Fliegen. 2) in der Beziehung dieser Resultate auf das Leben. 3) in der unbedingten Wichtigkeit, welche man seiner Seele beilegt. Eins ist Noth.21 Der letztere Zug charakterisiert freilich schon den Sokratismus, die „Weisheit im Ernstnehmen der Seele“, während die älteren Philosophen sie in der Scheu vor sich selbst und im „Band des Mitleidens, an die große Überzeugung von der Seelenwanderung und der Einheit alles Lebendigen geknüpft“, erst entdecken.22 Sie finden sie im anschaulichen Spiel der Welt, das den fließenden Bereich des Seelischen in Bildern wie dem vom Wandel des Wassers, der Luft oder des Feuers erschließt; und im tönenden Widerspiel der Kunst, dem aus dem Geist der Musik geborenen Mythos von Dionysos als Grund der griechischen Tragödie, den

19 Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 109. 20 NF Sommer 1875, 6 [4], KSA 8, S. 97f. 21 Ebd. 22 Über das Pathos der Wahrheit, KSA 1, S. 758.

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die Heraklitische Erkenntnis der Wandlungen des Feuers und aller Elemente als Grundbestand der Welt in Gleichnissen ausspricht. Wir sind damit bei Nietzsches Eigenstem, der Entdeckung des mythischen Doppelwesens von Apollo und Dionysos, das sich im Dionysosmythos ein weiteres Mal verdoppelt: im Gleichnis vom leidenden und sterbenden Gott und der Hoffnung auf Wiedergeburt, wie sie sich am schönsten im Demetermythos verbildlicht, dem Bild der in ewige Trauer versenkten Göttin, „welche zum ersten Mal wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal gebären“23. Das ist einer der frühesten „Keime“ von Nietzsches Wiederkunftslehre.24 Uns interessiert hier die gleichnisartige Anschauung der dionysischen Allgemeinheit des wiederkehrenden Lebens durch die Musik: Die Sprache der Töne, die das Bild der sich freuenden Göttin in höchster Bedeutsamkeit erscheinen lassen. Und dahinter die Ausdeutung des „Begriffs“ als eines künstlerischen Phänomens, die Nietzsche in diesem Zusammenhang vorgenommen hat.25 Manches davon mag Phantasie, anderes Beleg der Schopenhauer-Lektüre und wieder anderes Erinnerung an Gesprächsmomente mit Wagner sein. Aber es gibt eine Fährte in Nietzsches Denkerfahrung, die von Hölderlin und dem jungen Hegel zurück bis hin zu Heidegger und darüber hinaus führt. Ihr möchte ich am Leitfaden der frühesten Fragmente aus dem Nachlass noch einmal nachspüren, der auf eine einheitliche Konzeption des tragischen Gedankens hindeutet.26 Unsere musikalische Entwicklung, notiert Nietzsche Ende 1870/Anfang 1871 (nach einem Besuch bei Wagner), „ist das Hervorbrechen des dionysischen Triebes. Er zwingt allmählich die Welt; die Kunst zwingt er im musikalischen Drama, aber auch die Philosophie.“27 Es ist der Ansatz einer Phänomenologie der „Hör-Welt“, die Nietzsche in den Philosophen des tragischen Zeitalters wiederfindet. Der Genuss und die Kunst zu hören, die bei den Griechen über die epischen Rhapsoden und die Meliker bereits stark ausgebildet war,28 verstärkt sich mit der Einführung des Dialogs in die Tragödie durch Aeschylus. Mit ihm tritt die Handlung in den Vordergrund, womit sich die Lieder des Chores in sprachliche Reflexion und Kommentierung des Geschehens verwandeln, was die Kunst des Hörens in Verbindung mit der Anschauung noch einmal steigert. Nicht die Handlung selbst und als solche, die Tat, sondern das Pathos ist der Gegenstand der Tragödie, wonach sich die 23 Sokrates und die griechische Tragödie, KSA 1, S. 620. 24 Vgl. M. Djurič, Die antiken Quellen der Wiederkunftslehre, in: Nietzsche-Studien Bd. 8 (1979), S. 1–16. 25 Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 107f. 26 NF 1869–1874, KSA 7, S. 60, 68f., 75, 79f., 126 (1869–71) u. ö. 27 KSA 7, 5[38] S. 103. 28 KSA 7, 3[1], S. 57.



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Handlung bemisst: „Wenn man das πθς hören, nicht das δρν sehen wollte, beschränkte man sich, da man das δρν sehen musste, um das πθς hören zu können, auf das geringste Maass.“29 So entsteht der neue Typus des dichterisch hörenden Menschen, auf den Nietzsches Vernunftkonzeption aufbaut: „Aeschylus als Gesammtkünstler: sein Zuhörer in seiner Werkstatt geschildert. Wir wollen den Griechen kennenlernen, den Aeschylus als seinen Zuhörer kannte. Diesmal benutzen wir seinen Philosophen, der in jener Zeit dachte.“30 Die Benutzung soll belegen, welchen Ursprungs die Tragödie ist: „Die Geburt der Tragödie betrachtet von einer anderen Seite aus. Die Bestätigung aus der Philosophie ihrer Zeitgenossen.“31 Die zwei Konzepte, das Buch über die Tragödie und das Philosophen-Buch, bilden eine Konzeption und sollten ein Ganzes zur Darstellung bringen. Wie es noch die Notiz vom Sommer 1872 belegt: „Zuerst Aeschylus geschildert als Pentathlos, dann der Zuhörer, an den Philosophentypen.“32 Von ihnen tritt in der ‚Geburt der Tragödie‘ neben Heraklit nur Anaxagoras mit dem Noûs auf, der als einziger Ordner und Walter des All gilt und damit das Ende des mythischen Doppelwesens der Tragödie einleitet. Nach der Unterscheidung der Schrift über ,Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘ (1872)33 ist Anaxagoras, der Zeitgenosse des Euripides, Repräsentant des „vernünftigen Menschen“, während Heraklit den „intuitiven Menschen“ repräsentiert, der die dionysische Weisheit im Einklang mit dem tragischen Mythos in Gleichnissen auf der Grundlage des Stilmittels der Dissonanz ausspricht, worin wir hören und uns zugleich über das Hören hinaussehnen; wie in jenem wunderbaren Vergleich der weltbildenden Kraft des Aion mit einem Kind, das „spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“ (Fr. B 52: αν πας στι παων‚ πεσσεων. παιδς  ασιληη).34 Das Bild vom Sandhaufen findet sich bei Heraklit nicht, wohl aber die gleichnisartige Anschauung der dionysischen Weisheit, die der „Artisten-Metaphysik“ der ‚Geburt der Tragödie‘ zugrunde liegt: der Unschuld des „absoluten Werdens“ als einem „Begriff“, den Nietzsche in den Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen mit dem der „Zeit“ (ρνς) gleichsetzt.35 Darin artikuliert sich das tiefere Problem der „ästhetischen“ Metaphysik, die wir hier nur am Rande streifen. Uns interessiert das in dieser Ästhetik verborgene Wunder der „Doppel29 Geschichte der griechischen Literatur (1874/75), Philologica II, S. 43. 30 KSA 7, 21[21], 529f. 31 KSA 7, 23[24], 548. 32 KSA 7, 21 [24], S. 530. Vgl. auch Geschichte der griechischen Literatur, ebd., S. 137. 33 Vgl. KSA 1, S. 889. 34 Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 153. 35 Die vorplatonischen Philosophen, Philologica III, S. 139. Vgl. J. Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959, S. 27 ff.

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natur“ der Philosophie oder der Akroamatik in der Logik: der „Kunst des Hörens“ inmitten jener „Kunst der eindeutigen Bezeichnung“, worin nach Nietzsche das Wesen des „Logischen“ besteht. Daran können wir nicht vorbeigehen, zumal Nietzsche das Wort „akroamatisch“ als Ausdruck für eine der „Quellen“ des Wissens gelegentlich gebraucht36 und jenes esoterische Doppelwesen mit seiner exoterischen Mythologie zusammenhängt: der Unterscheidung zwischen Apollo als dem Symbol des Weltbestands und Dionysos als dem Symbol der Weltverwandlung.37 Die Symbolik betrifft den Wechsel vom Mythos zum Logos, die Ablösung des epischen und lyrischen durch das logische Sprechen und das Problem, das in seinem Kontext die „tragische“ Erfahrung der Zeit aufwirft. Bei Nietzsche stellt es sich in der spezifischen Form des Verhältnisses von Bild und Ton am Grunde der Sprache der Tragödie dar, die wie das Leben selbst spricht und zu hören ist. Und so kommt sie zur „Vernunft“: im Prozess der Transformation der apollinischen Natur des Bildes auf der einen, der dionysischen des Tons auf der anderen Seite in die „wundersame Doppelnatur der Philosophie“. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, weil dieser „logische“ Transformationsprozess dem ontologischen Thema präludiert.38 Es gibt uns Gelegenheit, den Ort des Werdens in Nietzsches eigenem Philosophieren und bei jenen Philosophen des tragischen Zeitalters zu bestimmen, die noch hoffen konnten, mit einem einzigen Sprung in den Mittelpunkt alles Seins zu kommen. Das Logische hat in seiner anfänglichen Entdeckung die Erkenntnis des „unlogischen Centrums“ der Welt zum Ziel,39 des Einen, das unfähig ist, sich selbst zu deuten. So erzeugt es aus sich den Schein der Welt, der als künstlerisches Phänomen da sein muss, damit zum Einen, Seienden nichts hinzukommt.40 Das ist die Position des Parmenides in seinem Lehrgedicht: des ersten Teils, der vom Sein, und des zweiten, der vom Schein und den Meinungen der Sterblichen über das Eine am Grund der Welt handelt (Fr. B. 1, 27–32; 6; 8, 50–61, 3). Sie kann uns Nietzsches Hauptthese verdeutlichen, wonach die großen Denker des tragischen Zeitalters über keine anderen Phänomene nachdenken als diejenigen, welche die Kunst erfasst.41 Und das sind, griechisch und nicht neuzeitlich (in der metaphysischen Willenssprache von Schopenhauer und dem späten Schelling) gedacht, die dichterisch offenbaren Widerfahrnisse des Lebens; das Handeln als Tun und Leiden in der Zeit. Nietzsche spricht von einer „Metastase“, der 36 NF Winter 1870/71–Herbst 1872, KSA 7, 8 [61], S. 245. 37 KSA 7, 8 [46], S. 240. 38 KSA 1, S. 845. 39 KSA 7, 6 [7], S. 131. 40 KSA 7, 7 [163], S. 202. 41 KSA 7, 3 [24], S. 67.



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„Umsetzung“ aller sprachlichen, rhythmischen, stilistischen Kunstelemente der Dichtung ins Logische: „Wir finden in einer Metastase die epischen lyrischen Elemente wieder, alle Requisiten der Tragödie.“42 Dem Epos entstammt der Zug zur Anschaulichkeit; der Lyrik das Ich-Sagen und direkte Sichaussprechen, dem Drama der Ausgang von der Handlung als lebendem Bild des „absoluten“ Werdens: „Die Welt und die Gewohnheit des Auges können hier nichts entscheiden: Was aber ist schließlich bei geistigerer Betrachtung nicht Handlung? Das sich kundgebende Gefühl, das sich klar werden: keine Handlung? eines ist not: das Werden gegenüber dem Sein in der plastischen Kunst.“43 Das aber meint: die Bewegtheit der „Zeit“, des „Wellenschlags“ und Rhythmus, wonach jedes Wort zugleich „künstlerisch“ als Zeitordnung perzipiert wird. Das Drama bezeugt, was von Anbeginn das wahre Kennzeichen des philosophischen Triebs ausmacht: die Verwunderung über das alltäglichste Phänomen des „Werdens“. Damit beginnt die Philosophie. Sie beginnt in der Doppelung von Kunst und Erkenntnis, von Weisheit und Wissenschaft, die miteinander im Kampf sind. Er kennzeichnet den Urtypus des tragischen Philosophen, der sich am reinsten an den Eleaten, an Heraklit und Empedokles ausprägt: „Der tragische Mensch ist die Natur in ihrer höchsten Kraft des Schaffens und des Erkennens und deshalb mit Schmerzen gebärend.“44 Er gebiert, was Nietzsche das „künstlerische Phänomen der Begriffe“ nennt: Bilder in Tönen, „diese apollinischen Spiegelungen des dionysischen Grundes“.45 Die anfängliche Philosophie bleibt der Kunst nahe; „sie ist nicht die Negation des andern Lebens, sondern aus ihm als seltne Blüthe gewachsen; sie spricht dessen Geheimnisse aus“46. Dies tat schon der Mythos, der die Natur in Griechen verwandelt und sich nun gefallen lassen muss, dass die Griechen den Wandlungen des Feuers in Wasser und Meer und Luft nachdenken. So sind auch die Begriffe „metonymisch“, durch Umwandlung von Namen, gewonnen. Hinter dem vernünftigen Denken und der logischen Macht der Abstraktion sieht Nietzsche überall die Macht der Übertragung, der Metaphern und Gleichnisse, am Werk. Das fängt mit Thales an. Von einer Vielheit der Dinge wird eine Eigenschaft wie die Qualität des Feuchten abstrahiert, die dann auf Alles übertragen wird: „Die ganze Welt ist feucht, also ist Feuchtsein die ganze Welt [...] Ein Prädikat ist verwechselt mit einer Summe von Prädikaten [...] Das logische Denken wenig geübt bei den Ioniern, entwickelt sich ganz langsam. Die falschen Schlüsse werden wir 42 KSA 7, 21 [19], S. 529, und 23 [21], S. 547. 43 Die vorplatonischen Philosophen, Philologica III, S. 131. 44 KSA 7, 5 [94], S. 119. 45 KSA 7, 8 [41], S. 238. 46 KSA 8, 6 [15], S. 103.

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aber richtiger als Metonymien d. h. rhetorisch poetisch fassen. Alle rhetorischen Figuren (d. h. das Wesen der Sprache) sind logische Fehlschlüsse. Damit fängt die Vernunft an!“47 Der Kampf der Weisheit mit der Wissenschaft ist vom ersten Schritt an zweideutig. Er findet im einzelnen Philosophen statt. Sein universaler Wissenstrieb „zwingt ihn zum schlechten Denken, das ungeheure Pathos der Wahrheit, am Weitblick seines Standpunktes erzeugt, zwingt ihn zur Mittheilung und diese wieder zur Logik. Auf der einen Seite erzeugt sich eine optimistische Metaphysik der Logik – allmählich alles vergiftend und belügend. Die Logik, als Alleinherrscherin, führt zur Lüge: denn sie ist nicht die Alleinherrscherin. Das andre Wahrheitsgefühl stammt aus der Liebe [...] Das Aussprechen der beseligenden Wahrheit aus Liebe: bezieht sich auf Erkenntnisse des Einzelnen, die er nicht mittheilen muß, aber deren überquellende Beseligung ihn zwingt.“48 Der Kampf wird doppelseitig geführt. Er muss so geführt werden, weil der Prozess der Transformation der Bild- und Lautkunst in das künstlerische Phänomen des Begriffs die Doppelnatur des Logos und Noûs betrifft, die Konzeption der hörend-vernehmenden Vernunft, die vom Genius des tragischen Philosophen geschaffen wird. Auf diesem Hintergrund konnte Nietzsche das Tiefste denken, was über den Ursprung der griechischen Philosophie gedacht worden ist und in seiner Tragweite durch das heutige Gerede vom „Logozentrismus“ nicht eingeholt wird. Ich unternehme es nicht mehr, den Hintergrund auszuleuchten, d. h. den Zusammenhang zu untersuchen, der zwischen dem symbolischen Doppelwesen des Mythos, der Doppelkunst der Tragödie und der „wundersamen Doppelnatur“ der Philosophie besteht: dass sie auf der einen Seite agonistisch streitender Logos ist und auf der anderen liebendes Einvernehmen; dass sie das Logische auf sich selbst stellt und gerade dadurch das „unlogische Zentrum“ der Welt herausstellt. Ich beschränke mich auf den Hauptpunkt. Und das ist Nietzsches These, dass diese Doppelheiten mitsamt dem Doppelphänomen von Bild- und Lautkunst in der Sprache uranfänglich vorgebildet sind.49 Die These ist ein Bestandteil der impliziten Sprachphilosophie der ‚Geburt der Tragödie‘ und der nachgelassenen Fragmente aus ihrem Umkreis, die sich im sprachlichen Ansatz der ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ expliziert. Unter diesem Gesichtspunkt wird sie von mir behandelt. Aus Schopenhauers Lehre, dass die Musik eine im höchsten Grade allgemeine Sprache ist, die sich zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen; dass wir sie unmittelbar verstehen, weil sie kein Abbild der Erscheinun47 KSA 7, 19 [215], S. 486; vgl. S. 489. 48 KSA 7, 19 [103], S. 453. 49 KSA 7, 10 [1], S. 344–349.



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gen oder der vorgestellten Objekte des Willens ist, sondern diesen selbst abbildet und so aller bildlichen Kunst wie den Begriffen eine erhöhte Bedeutsamkeit zuspricht, schließt Nietzsche auf die Befähigung der Musik, den Mythos der Tragödie zu gebären. Das Wort tritt nicht zum Bild hinzu, in dessen Anschauen der Epiker versunken ist; es erwächst vielmehr der dionysischen Natur des Tons als der reinen Sprache des Willens, die sich nach Nietzsche – im Unterschied zu Schopenhauer – schon in der Visionswelt der Lyrik von Archilochus abwärts auftut, wo die Musik danach ringt, in apollinischen Bildern ihr Wesen kundzugeben. Darin besteht die apollinisch-dionysische Doppelkunst der Tragödie, die höchste, die uns von der ewigen Lust des Daseins zu überzeugen sucht; nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen; nach dem im Kern platonisch-parmenideischen Lehrsatz des umgedrehten Platonismus, dass die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist. Nietzsche zeigt die Doppelheit an den Requisiten der Tragödie: am Chor, der eine dramatische Vision sieht, die sich ganz von ihm ausbreitet; am Dithyrambus als dem verwandelten Chor, der nicht das Drama sieht, sondern es darstellt; und schließlich an dessen Brechung im Chor, der von seinen Visionen erzählt. Gleichwohl lässt sich der Weltsymbolik der Musik nach der ‚Geburt der Tragödie‘ mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beikommen. Das ist einer der vielen Widersprüche, die diese Schrift durchziehen. Die Musik symbolisiert eine Sphäre des Seins, der gegenüber „jede Erscheinung nur Gleichniss“ ist. Und da die Sprache selbst nur „Organ und Symbol der Erscheinungen“ ist, kann sie „nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer [...] nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden kann“.50 So sehr Nietzsche am Kern der Behauptung festhält, so hat er doch diese Metaphysik, welche die Lust der dionysischen Kunst „hinter den Erscheinungen“ aufsucht, mit den Entwürfen zum Philosophen-Buch preisgegeben. Und der Weg dieser Preisgabe führt, wie ich glaube, über eine durch die rhythmisch-metrischen Studien vertiefte Betrachtung der „in den Philosophen zerstreuten Requisiten zur Entstehung der Tragödie“. Sie zusammen „zeigen den Hintergrund des Griechischen, so wie das Resultat der Kunst“.51 Der Hintergrund ist das Doppelwesen des Lebens im Schein, der keine Erscheinung, sondern Dasein ist, das sich „begibt“ und „ereignet“: für den Zuschauer, der wie der Chor als Mitspieler im Drama des Lebens verstanden werden muss. Von ihm aus versteht Nietzsche den Dialog der Philosophen als einen Chor, der das Re50 Die Geburt der Tragödie, 6, KSA 1, S. 51f. 51 NF Winter 1872–73, 23 [21], KSA 7, S. 547. Griechische Rhythmik (1870/71), Philologica II, S. 272ff.

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sultat der Kunst im Gedanken der höchsten Weisheit ausspricht: als Verklärung des Scheins; d. h. des Sichklarwerdens über das „absolute Werden“. Es ist die begriffliche Klarheit darüber, was „ist“, die dem Zuschauer des tragischen Spiels durch Lust und Schrecken momentan aufscheint; die tragische Lust an der „verklärten Welt“, als Alternative zur Metaphysik der „scheinbaren“ und „wahren Welt“, der Nietzsche im Ausgang von den Philosophen des tragischen Zeitalters zum Durchbruch verhilft. Der „Begriff“ aber ist am Anfang selbst ein künstlerisches Phänomen, das die metaphysische Gleichung der „Wahrheit“ mit dem „Sein“, des „Werdens“ mit dem „Schein“ so wenig kennt wie die anfängliche Sprache der Philosophie, die aus der Kunst entsteht. Ich rühre damit an die Grenze unseres Themas, dem ich mich abschließend unter dem angedeuteten Blickpunkt einer von Nietzsche selbst nur unvollständig ausgearbeiteten Sprachphänomenologie zuwenden möchte. Sie sucht nach einer Brücke zwischen der Schau- und Hörwelt und findet sie in der rhythmisch wiederkehrenden Gestik des Sprechens. Was jedes gesprochene und gehörte Wort begleitet, sind typische Gebärden: wiederkehrende Handlungen, die uns die Sprache verstehen lassen. Sie sind ebenso „Symbole“ wie das tönende Wort mit seinem je bestimmten Lautwert, ja, sie „entsprechen“ dem „Zusammenwurf“ des Entgegengesetzten ungleich genauer als bloße Worte, die für sich selbst gar nicht verstanden würden. Die innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Gebärdensymbolik und dem Ton, so heißt es in dem Fragment über ‚Die dionysische Weltanschauung‘, „nennt man Sprache. Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Stärke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen des Dinges symbolisirt, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung des Wesens. Die Symbole können und müssen vielerlei sein; sie wachsen aber instinktiv und mit großer und weiser Gesetzmäßigkeit. Ein gemerktes Symbol ist ein Begriff: da bei dem Festhalten im Gedächtniß der Ton ganz verklingt, ist im Begriff nur das Symbol der begleitenden Vorstellung gewahrt. Was man bezeichnen und unterscheiden kann, das ‚begreift‘ man.“52 Der Begriff beruht auf dem Wort, das in seiner Lautgestalt Klang ist; ein ganz relativer freilich, weil sich sein „Wesen“ oder der Bedeutungsgehalt je nach der Stellung im Satz ändert, sodass aus der höheren Einheit des Satzes und des durch ihn symbolisierten „Wesens“ (eines „Gedankens“) das Einzelsymbol des Wortes fortwährend neu bestimmt wird. Wir erörtern nicht, wie Nietzsche von hier aus zur Definition des „Gedankens“ als einer „Kette von Begriffen“ und schließlich zum „Motiv“ kommt, als das der Gedanke (nach Schopenhauer) auf unseren Willen wirkt; wie wir auch Nietzsches Erklärung dieser „Wirkung“ übergehen können, wonach der 52 KSA 1, S. 575f.



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Gedanke immer schon gemerktes Symbol (also „Begriff“) für die Regung und Erscheinung des Willens ist, weil sie uns für die Bestimmung des Anfangs der abendländischen Philosophie verfehlt erscheint. Wir halten lediglich fest, dass der Ton selbst symbolisch fungiert; dass das gesprochen gehörte Wort in Verbindung mit der Symbolik des Bildes und der Gebärde unvergleichlich mächtiger und direkter wirkt. Darum entfaltet sich der Gedanke der höchsten Weisheit im Absprung von der dramatischen Dichtung, dem neuen Verständnis des „Tragischen“ als der apollinischen Verdeutlichung des Dionysischen, die sich der Requisiten der Tragödie bedient. Und wenn Nietzsche dabei zunächst geglaubt haben mag, dass sich die ineinandergewobenen Empfindungen, die der dionysische Rausch zusammen erzeugt, durch die Handlung „in eine Reihe von Bildern auseinanderlegen“53, so hat er bald erkannt, dass ihre Auslegung durch den Chor auf eine andere Ebene verweist. Das Drama, notiert Nietzsche im Rückblick auf das Tragödien-Buch, „ist nicht [...] die Handlung, sondern, gemäß der dorischen Herkunft vom Wort ‚Drama‘, auch dorisch-hieratisch zu verstehen: es ist das Begebniß, das ‚Ereigniß‘, die heilige Geschichte, die Gründungs-Legende, das ‚Nachsinnen‘, die Vergegenwärtigung der Aufgabe des Hieratischen“54. Die Selbstkorrektur des eigenen Ansatzes – denn darum handelt es sich – steht im Zusammenhang mit dem Durchbruch des hermeneutischen Phänomens in Nietzsches Spätwerk, der großen, im Licht des Wiederkunftsgedankens der Zarathustra-Dichtung geklärten Intuition, wonach das „absolute Werden“ als Geschehen am Grunde der Welt verstanden werden muss; ein universales Geschehen, das statt der metaphysischen Welt-Erklärung die Welt-Auslegung zum fundamentalphilosophischen Problem macht.55 Leider hat sich diese wohl am weitesten reichend Selbstkorrektur, die als Entwicklung der keimhaften Ausdrucksformen von Nietzsches früher Begriffssymbolik, ja, als deren Vertiefung und Befestigung im Gedanken der tragischen Weisheit zu verstehen ist, auf die Bestimmung des Ursprungs der griechischen Denkerfahrung nicht weiter ausgewirkt. Sie hätte die verfehlte Entgegenstellung des „Seins“ zum „Werden“ überwinden können, an der Nietzsche von der fragmentarischen Niederschrift über die ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ bis hin zur Forderung nach einer „schrittweisen Wiedergewinnung des antiken Bodens“ in seiner

53 NF Ende 1870–April 1871, KSA 7, 7 [128], S. 192. 54 NF Frühjahr 1888, KSA 13, 14 [34], S. 235. Vgl. schon die Andeutungen in der Vorlesung: Der Gottesdienst der Griechen (1875/76), Philologica III, S. 14. 55 KSA 12, S. 19ff.; 31f.; 39, 94, 98 u. ö. Vgl. J. Figl, Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, in: Nietzsche-Studien Bd. 10/11 (1981/82), S. 408ff.

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Spätzeit festhält.56 In diesem Punkt ist Heideggers Nietzsche-Kritik im Recht.57 Es gilt aber zugleich Nietzsches Ansatz im Licht seiner Selbstkorrektur gerecht zu werden, um das Gespräch mit Heidegger von Hegel und Nietzsche aus noch einmal neu zu beginnen. Dem dient der Grundriss des vorliegenden Versuchs, der durch Einzelstudien über die beiden Gegengestalten Parmenides und Heraklit angefüllt werden müsste. Es folgt der einen Spur, worauf uns Nietzsches Anknüpfung des „Werdens“ an die Ursprungserfahrung des „Tragischen“ hinweist. Ob der Intellekt ein Spiegel wäre, diese nach dem Aufbruch der Griechen zur Theorie immer wieder gestellte Frage konnte Nietzsche jedenfalls nur verneinen: „Die Begriffe sind mehr.“58 Und wie mit ihnen das Denken vor dem Aufbruch zur Theoria verfasst gewesen ist, wissen wir nicht zuverlässig. Aber es könnte so aufgebrochen sein, wie es eines der nachgelassenen Fragmente zum PhilosophenBuch beschreibt, das ins Manuskript über die ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ Eingang gefunden hat: „Der Begriff des Philosophen und die Typen. – Was ist allen gemeinsam? [...] Er ist beschaulich wie der bildende Künstler, mitempfindend wie der Religiöse, causal wie der Mann der Wissenschaft: er sucht alle Töne der Welt in sich nachklingen zu lassen und diesen Gesammtklang aus sich heraus zu stellen in Begriffen.“59

56 NF August–September 1885, KSA 11, 41 [4], S. 678f. 57 Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 462ff., 653ff. Vgl. dagegen V. Gerhardt, Die Metaphysik des Werdens. Über ein traditionelles Element in Nietzsches Lehre vom ,Willen zur Macht‘, in: Nietzsche und die philosophische Tradition, Würzburg 1985, S. 19. 58 NF Winter 1870/71–Herbst 1872, KSA 7, 8 [41], S. 239. 59 NF Sommer 1872–Anfang 1873, KSA 7, 19 [71], S. 442. Vgl. KSA 1, S. 817f.

Nachwort von Harald Seubert

I. Manfred Riedels nachgelassenes Buch über Nietzsches tiefsten und abgründigsten Gedanken, eben den Gedanken der ewigen Wiederkehr, ist gesättigt mit Gelehrsamkeit und philosophischer Tiefe. Ihre Methodik ist aber gerade nicht die einer philologischen Untersuchung, sondern vielmehr einer an Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen und dessen phänomenologischen Interpretationen insbesondere zu Aristoteles, Augustinus oder Luther geschulten Hermeneutik der Faktizität, die an Textzeugnissen eine Denk- und Lebensbewegung aufweist. Nietzsches tiefste Denkerfahrung soll hermeneutisch und phänomenologisch gleichermaßen freigelegt werden. Riedel folgt dabei nicht zuletzt, so wie Nietzsche selbst dies in seinen Vorreden und Selbstkommentaren immer wieder einklagte, den verschiedenen Tempi und Gewichten einzelner Gedanken: schwerer und leichter wiegenden. Ist es doch, wie er immer wieder betont, Zeichen fehlender Musikalität, die in der Moderne freilich überwiegt, – nach Nietzsche einer Zeit, die weder recht zu lesen noch zu musizieren vermag, dass ihr letztlich alles gleichermaßen leicht oder schwer ist. Auch den tastenden Annäherungen an den Abgrund-Gedanken im Wechsel mit den gewissen Verkündigungen, auf die sich bei Nietzsche regelmäßig vermehrte Zweifel melden, widmet Riedel sein Augenmerk – und er gewinnt ihnen systematische Bedeutung ab. So versteht er die Anbahnungen und Aussagen jenes Nietzsche-Gedankens, der Grund und Abgrund aller anderen Lehren bezeichnet und der in den Wegbahnen der überlieferten klassischen Metaphysik nicht mehr aufgeht, immer im Sinn des Umschlags von Inhalt in Form und von Form in Inhalt. Dies ist nach Hegel Wesenszug des Kunstwerkes. Wenn man sich auf ein Denken in derart geformten Lebensrhythmen einlässt, so nimmt man Abschied von den Zwängen einer Geschichtsphilosophie, die im totalitären Zeitalter zu ihrer Selbstvollendung kam und die schlimmste Destruktionen auslöste. Nicht zuletzt in diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn Riedel in seiner Forschung und Lehre nach 1989 sich zunehmend Nietzsche zuwandte. Nach langer Diskussion haben sich die Herausgeber entschieden, als Prolog Riedels kleine Skizze vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ voranzustellen. Sie ist, ein eher improvisierter Redetext aus den Jahren nach 1989, in Textur

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und Argumentation viel leichter gefügt als das Buch selbst. Doch sie zeigt die Anfänge von Riedels Befassung mit Friedrich Nietzsche, ein Angerührtsein von dem schwersten und zugleich leicht machenden Gedanken, dessen er sich schon als junger Student im Umkreis von Ernst Bloch versicherte und der in vielfacher Hinsicht ein Antidotum zu den Realitäten in der DDR bildete. Erkennbar wird damit auch, dass nicht im kurzatmigen politischen Engagement, sondern in dem Versuch, einer bleibenden Grundeinsicht nachzusinnen, die Macht des totalitären Zeitalters und seiner Ungedanken gebrochen werden kann. Riedel unterscheidet dabei streng zwischen den Konzeptionen des schwersten Gedankens und seiner Genese, wobei letztere auch dazu nötigt, die vielfachen Quellen von der Musik über die antike Tempeldichtung und Philosophie bis hin zu Kant und den Naturwissenschaften der eigenen Zeit nicht nur philologisch freizulegen, nicht nur als rhetorische Versatzstücke zu interpretieren, sondern selbst als Gedanken-Bilder zu gewichten und zu verstehen. Riedel zeigt dabei vor allem: Nietzsche entwirft den Gedanken der ewigen Wiederkunft nicht. Er wartet ihm entgegen. Jener Gedanke ist für ihn Prüfstand höchster Wahrhaftigkeit. Daher ist der Gedanke auch nicht zu fingieren oder zu erdichten. Er ist vielmehr Probierstein des Denk-Lebens. Mithin fällt es besonders gravierend ins Gewicht, dass er in der NS-Rezeption und ihren Vorläufern (bei Baeumler, aber auch bei Ernst Bertram) verschwiegen und als „Privatmythologie“ verbannt wurde. Die „Philosophie des Nietzsche-Archivs“ von Elisabeth Förster-Nietzsche bereitete dies vor, indem sie Nietzsche auf den Ungedanken des Willens zur Macht eichte und festlegte. Manfred Riedel war zu Recht überzeugt, dass es Heideggers großes Verdienst gewesen sei, die Frage nach dem „abgründlichsten Gedanken“ offengehalten zu haben. Heidegger verankerte ihn aber innerhalb der Wegbahn abendländischer Metaphysik – und nicht in der Spannung zwischen Kunst und Denken. Mit diesem Buch wird die dritte, und die wohl am tiefsten reichende, Nietzsche-Monographie Manfred Riedels vorgelegt. Sie sollte, auch in seinem eigenen Sinn, die anderen beiden wichtigen Bücher krönen. Am Anfang stand Riedels Buch ‚Nietzsche in Weimar‘ (1997), das aus den Quellenbeständen der jüngeren Zeitgeschichte zeigte, wie Nietzsche unter die Deutschen kam und welchen Weg er im 20. Jahrhundert nahm. Von der Respekt gebietenden Wahrnehmung seines Denkens in der Arbeiterbewegung (dem eine jüdisch zionistische Deutung an die Seite zu stellen wäre) reicht der Bogen bis zu den Einvernahmungen im NS-Totalitarismus, die bei aller Gewalt ihrer Interpretationen nur um den Preis gröbster Verfälschungen sich Nietzsche adaptieren konnten. Riedel zeigte dann in Reminiszenz auf seine eigene Studienzeit auch, wie unter Georg Lukács’ interpretatorischer Ägide und unter dem Schlagwort der „Zerstörung der Vernunft“ Nietzsches Name in der DDR erneut verfälscht wurde, um ihn einer weitgehen-



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den damnatio memoriae zu unterwerfen. Der junge Wolfgang Harich verriet seinerzeit seine eigenen besseren Einsichten und suchte sich aus dem Strudel der Repressionen gegen die Bloch-Schüler, denen Riedel selbst angehört hatte, auf diese Weise zu retten. Erst im Vorfeld von 1989 und im Umkreis von theologischen Sprachkonvikten wurde der Bann gelöst. Riedels zweites großes Nietzsche-Buch ‚Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung‘ (1998) spinnt den Epilog von ‚Nietzsche in Weimar‘ weiter aus: Er hat an beiden Büchern parallel geschrieben. Nur der Atem von Nietzsches dichterischer Welterfahrung konnte Maßstab sein, zugleich aber machte er es Manfred Riedel allererst erträglich, noch einmal so tief in die Ummauerungen des Bürgerkriegs der Ideologien einzutauchen.

II. 1. Es scheint sinnvoll, sich noch einmal wie in einer Übersicht den Gedankengang im Einzelnen zu vergegenwärtigen, mit dem Riedel Nietzsches abgründigsten Gedanken und damit, wie sein Buch eindrucksvoll zeigt, ebenso die tiefste Einsicht wie die Mitte von dessen Denken exponiert. Dass gerade Nietzsches schwerster Gedanke aus dem Geist der Musik hervorgegangen ist und wie eine Coda zur Philosophie des Vormittags verstanden werden muss, sodass sich die Melodie gleichsam zurückbiegt und das zunächst nicht Gehörte doch zum Erklingen bringt, ist die Ausgangsbeobachtung. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr verweist also wie kein anderes Stück Nietzscheschen Denkens auf Musik als „Fürsprecherin des Lebens“ und auf Nietzsches früheste Einsicht, dass ohne Musik das Leben ein Irrtum sei. Und er steht damit im Spannungsfeld zwischen Dichten und Denken: rechnete Nietzsche doch auch seine ‚Zarathustra‘Dichtung der Musik zu. Riedel zeigt dabei, dass es vor allem die Nebentöne von Nietzsches Aphorismen, Aufzeichnungen und Briefen sind, in denen jener Gedanke zum Ausdruck kommt. Er ist verhalten und hintergründig. Und im Sinn von Nietzsches Selbstzeugnis, er deute in einem Aphorismus an, was andere in vielen Büchern n i c h t sagten, begreift Nietzsche jenen Gedanken als eine Lehre, die unmittelbarer Mitteilung und Schülerschaft nicht zugänglich ist. Dabei wird eine weitere wichtige Unterscheidung getroffen: Der Gedanke der ewigen Wiederkehr verweist nicht prinzipienhaft auf Grundwahrheiten, sondern auf eine Grundwahrscheinlichkeit über die Zeitlichkeit selbst, die grundsätzlich all-menschlich ist und sich jedem nachdenkenden Leben öffnen kann. Doch die „Nebengedanken“, aus denen sich dieser Gedanke anzeigt, sind, wie Nietzsche selbst bemerkt, Türen, die nur öffnen wird, wer die Einsicht auf eigenen Wegen sucht und vermisst. Die Grundwahrscheinlichkeit wird damit zum Wegzeichen

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Nachwort

auf eine Grunderfahrung des Lebens hin, die hinter die Hypothesen, aus denen gemeinhin sowohl die Lebensführung wie auch die wissenschaftliche Erkenntnis sich aufbauen, zurückreicht. Den Anfang festzumachen, dies war je spezifisch auch der Schritt, den über das Hypothetische hinaus Platon mit seiner höchsten Idee, der Idee des Guten, begründete und den die Hegelsche Dialektik weiter explizierte. Bei Nietzsche sind die Verhältnisbezüge aber gerade umgekehrt angelegt. Der Gedanke führt über Begründung und Prinzipien hinaus ins Abgründige und bleibt dabei doch, im Sinne von Nietzsches Maxime der Treue zu den nächsten Dingen, in der Diesseitigkeit zeithafter und gezeitigter Erfahrungen. Der Gedanke setzt sich damit dem Fluss aus, dem nicht-anhaltbaren Werden und Vergehen, von dem postmoderne und historistische Diskurse heute leichthin und unbefragt ausgehen. Solchen Scheinselbstverständlichkeiten gegenüber gilt es nicht nur die revolutionäre Kraft wieder zu ermessen, die Nietzsche der Einsicht in unabschließbares Werden und Vergehen gegeben hat. Deshalb vollzieht Nietzsche mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr den Übergang von Philosophie und Wissenschaft zur Weisheit. 2. Riedel legt weiter dar, wie sich der musikalische Impuls bei Nietzsche durch eingehende philologische Studien vertieft. Dabei nimmt sich die Aneignung wie eine Illustration seiner Auseinandersetzung mit einer nur antiquarischen und bestenfalls kritischen Philologie aus. Ihr setzt Nietzsche eine Philologie des Erinnerns und des Vergessens entgegen, die plastische Kraft hat und mithin im Dienste des Lebens steht. Riedel zeigt, dass die Auseinandersetzung Nietzsches, in der er den Gedanken findet, der sein eigenster werden sollte, nicht zuerst dem propositionalen Gehalt, der Lehrmeinung (doxa) gilt, sondern dem Gedankenwiderfahrnis, dem Pathos, von dem die Antike im Unterschied zur Neuzeit wusste. Leiden und Leidenschaft solcher Denkerfahrungen verdichten sich von hier her zu Gedanken-Personen, die auf diese Weise dem Vergessen entrissen werden – allem anderen voraus der erdichtete Denker Zarathustra. In den Personen sedimentieren sich erlittene Gedanken (gerade daher rührt die Bedeutung des Pathos!), Gedanken, die ins Fleisch schneiden und ebenso nach Bezeugung und Verleiblichung verlangen. Gedanken sind, so hat Nietzsche es gesehen, selbst von Stimmungen geleitet und begleitet, und wenn sich daraus ein Ethos formt, so ist es ein Strom mit vielen Zuflüssen. Wenn man auf diese Dimension Nietzscheschen Denkens aufmerksam geworden ist, so erkennt man, dass es Nietzsche vor allem um die Genealogie der Ideenbilder geht, weil sie davor bewahrt, Reduktionen und Abstraktionen vorzunehmen. Es ist ein Verkehr mit diesen Gedanken-Personen, aus dem allererst das Pathos der Wahrheit hervorgeht. Mit dem Wiederkunftsgedanken formt sich am Ende dieser Zwiesprache der Doppelgänger Zarathustra aus. Dem geht aber voraus, dass Nietz-



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sches Philosophen-Buch-Fragment, das Nebenstück der ‚Geburt der Tragödie‘, die Personwerdung von Gedanken zeigt, die den schwersten Gedanken ahnen und antizipieren. Riedel zeigt deshalb im Blick auf solche Gedanken-Personen der Mythologie, der Tragödie und des frühen griechischen Denkens auch, dass es zu kurz griffe, die Wiederkehr auf der Spur der Zarathustra-Gestalt als östlichen Gedanken auszuweisen. In früheren Dispositionen verbindet ihn Nietzsche bezeichnenderweise mit Prometheus. In einer Linie mit Nietzsches früher Rede vom ‚europäischen Buddhismus‘ verweist der Gedanke in jedem Fall auf eine Verschränkung zwischen östlichen und westlichen Zügen, Orient und Okzident. 3. Riedel zeigt eindrucksvoll, dass der schwerste und ‚abgründlichste‘ Gedanke langhin vorbereitet gewesen war. Dies ist von Bedeutung, da Nietzsche selbst sein jähes Aufkommen in der Begegnung und Entgegnung mit Zarathustra als dem Anderen besonders hervorgehoben hat. Wesentlich für die Genealogie des Gedankens ist, im Sinne des Gleichnisses vom Kamelsgeist im ersten Buch der ‚Zarathustra‘-Dichtung, die Einverleibung von Grundirrtümern, namentlich der Irrtümer der Metaphysik. Nietzsche sah seinen schwersten Gedanken, sobald er sich ihm stellte, als Jahrtausend-Gedanken. Deshalb fragte er sich selbst, ob und wie er wagen könne, ihn auszusprechen. Hier begründet sich das Motiv, dass es notwendig sei, ihm entgegen zu warten, für ihn erst reif zu werden und den Lehrer zu ersinnen, der ihm gewachsen ist. Riedel zeigt mit großer Genauigkeit, dass die Konzeption des Gedankens vor unterschiedlichen Instanzen, wie vor unterschiedlichen Gerichtshöfen, vonstatten geht: Der erste Horizont gehört in den Bereich der Ethik. Dabei fällt auf, dass Nietzsche die Bejahung ewiger Wiederkehr wiederholt in Formulierungen evoziert, die dem Kantischen Kategorischen Imperativ nahekommen. So zu leben, dass man die Wiederkehr – auch der dunkelsten und schändlichsten Stunde – bejahen könne, diese Maximenprüfung fordert nicht nur zur Reflexion einzelner Handlungen, sondern des Lebens im Ganzen: „Die Frage bei allem, was du thun willst: ‚ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?‘ ist das größte Schwergewicht.“1 Die zweite Instanz erweist sich als ästhetische. Sie ist in des jungen Nietzsche Gedanken von der Kunst als Fürsprecherin für das Leben grundgelegt, des Scheins, ohne den wir an der Wahrheit zugrunde gehen würden. Damit hebt sich ewige Wiederkehr aus der Flusslehre von Heraklit und seiner Schüler heraus. Formgebung in der Kunst, Artistenmetaphysik, bedeutete – noch bevor der Gedanke umrissen war – „dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen“. Zwar sind im Sinne Nietzsches die alten Auswege der Religion und der klassischen Metaphysik versagt. Doch der Weg der Kunst ist gerade deshalb eröffnet. 1 NF Frühjahr–Herbst 1881, 11[143], KSA 9, S. 496.

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Es zeigt sich mithin auch, dass der abgründlichste Gedanke damit die Weisheit der Tragödie, die der junge Nietzsche als die einzige wirkliche Formkraft Europas erkannte, fortschreibt. Dabei geht es um die Bejahung des Lebens, auch wenn dieses Leben die Erfahrung von Vergeudung, Verlust und Grausamkeit zeigt. Riedel hat die Bedeutung dieses ethisch-ästhetischen Doppelaspektes des schwersten Gedankens pointiert so zusammen gefasst: „Die Lehre von der Wiederholung […] ist also nach dem ersten Entwurf der Wiederkunftslehre keineswegs die Hauptsache. Im Vordergrund steht die ethisch und ästhetisch inspirierte Konzeption einer neuen Lebenserziehung, die das europäische Menschentum aus dem Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber der Natur und Geschichte herausreißen und verhindern soll, dass sich die Menschen den Zielen der modernen Arbeitsgesellschaft opfern.“ (Riedel, S. 52) Eine dritte Instanz kann man in den zeitgenössischen Erfahrungswissenschaften finden. Nietzsche hatte nicht nur geplant, mit Lou Salomé in Paris Naturwissenschaften zu studieren. J. R. Mayers Schriften über das mechanische Wärmeäquivalent, aus dem der Energieerhaltungssatz hervorging, verstand er bekanntlich als Musik und Sphärenharmonie, die sich nur dem wissenschaftlichen Menschen erschließe. Er zeigt aber zugleich den Hiatus, der zwischen der Rezeption und den Folgerungen bestehen bleibt. Sie sind spekulativ, im Sinne von Betrachtung und Selbstbetrachtung. Der erfahrungswissenschaftliche Zusammenhang hat für die Beobachtung Bedeutung, nicht aber für die Selbstreflexion. Damit hängt ein innerer Widerspruch, jedenfalls eine Spannung des Gedankens zusammen. Riedel verweist darauf, dass er als „Chaos sive natura“, als eine „unvernünftige Notwendigkeit“, eingeführt wird. Er zielt auf die Rundung gelingenden Lebens, ohne sie präjudizieren zu können. In jedem Fall widerspricht Nietzsche einer „pantheistischen“ Lesart im Sinne der Goethe’schen Gott-Natur oder auch der Leibniz’schen Universalharmonie. Dies würde eine Vermenschlichung der unendlichen Weiten des All, eine Eindeutung seiner Kontingenz nach menschlichem Maß und damit eine Entschärfung des schwersten Gedankens bedeuten. Beschreibt er doch weder, was ist, noch was sein soll. Er hält sich im Intermedium, weshalb auch der „Mittag“ die ihm angemessene Zeit ist –, aus der Bejahung des Vergangenen, Gewesenen gewinnt er mithin Entwürfe für eine neue Art zu leben. 4. Der spekulativen Antwort auf die erfahrungswissenschaftlichen Ausgangsbeobachtungen folgt Riedel am Leitfaden der Zarathustra-Gestalt. Sie verbindet sich in Nietzsches Denken mit Christus darin, dass sie die tiefste Weisheit in äußerster Leichtigkeit, wie eine Weisheit für Kinder entfaltet. So sollte diese Weisheit im Sinne Nietzsches zugleich ganz und gar Spiel sein. Dabei wird es unmöglich sein, das Essen vom Baum der Erkenntnis und die Lebensentfrem-



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dung, ja -ertötung durch Wissenschaft rückgängig zu machen. Das Spiel kann indes erneut zum Erstaunen – und auch zum Erschrecken – gegenüber dem Seienden im Ganzen führen. Es orientiert sich um die Grundwahrscheinlichkeit und führt deshalb dazu, dass stärker auf den spezifischen Rang des Glaubens und Fürwahrhaltens geachtet wird. Von größter Bedeutung und erhellender Kraft ist es, dass Riedel im Zug der Exposition dieser spekulativen Dimension der Spur der Zoroaster-Gestalt in Kants Spätphilosophie nachgeht und Nietzsche, der diese Texte nicht kennen konnte, mit ihr in ein Gespräch bringt. Kant hat in seinem „Opus postumum“ die Einheit der Erkenntnis, das System der Wissenschaft, in einer ‚Panlogie‘ anzuzeigen versucht, das auf jene gereinigte Metaphysik (oder Metaphysik der Metaphysik) gegründet werden sollte, wie sie seine drei Kritiken vorbereitet hatten. Dieses kritische System, das auszuführen Kant letztlich versagt blieb, sollte unter den Namen des Weisheitslehrers Zoroaster gerückt werden. Dies hängt beim späten Kant eng mit der Frage nach dem Subjekt zusammen, das Urheber seiner selbst und damit auch seiner Welt wird. Theoretische, technisch-praktische und moralisch-praktische Vernunft, die in den ‚Kritiken‘ noch wie divergierende tektonische Platten zueinander stehen, sollen auf diese Weise „in Einem Systeme“ geordnet werden. Es geht um nicht weniger als das PAN und das HEN: das Eine und Alles, das, wie Riedel in einer genauen Interpretation der Komposition der Zarathustra-Dichtung zeigt, Nietzsche im ‚Zarathustra‘ einzulösen sucht. Dem späten Kant ging es indes nicht einfach, wie der Grundantrieb der nachfolgenden klassischen deutschen Philosophie oftmals zusammengefasst wird, um eine „Grundlegung aus dem Ich“ oder um das „Prinzip Subjektivität“ (so die kurrenten Deutungen bei Dieter Henrich und anderen), sondern darum, die „Vereinigung“ der Philosophie zu ihrem Weltbegriff, mit dem sie es zuletzt zu tun hat, zu bezeugen. Dies ist der Sinn, den der Begriff der „Transzendentalphilosophie“ beim späten Kant annimmt, wenn er sie auf „das Ganze des denkenden Subjektes“ zurückführt und damit die Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ auf dessen Erkenntnis von sich selbst zurückspielt. Nur so kommt man dem transzendentalen Ideal von Gott-Freiheit und Unsterblichkeit der Seele nahe. Auf Zoroaster rekurriert Kant dabei, weil die Philosophie, die zunächst als Wissenschaft zu begründen war, am Ende wieder zur Weisheit werden soll. Nicht der Dualismus, den der historisch bezeugte Zoroaster gelehrt haben dürfte, sondern eben jene tiefere und zugleich nächste Einheit, die die Weisheit gegenüber wissenschaftlicher Zergliederung zu gewinnen sucht, steht dabei im Zentrum. Und der Name Zoroaster wird gleichsam zum rätselhaften Sigel auf diese Einheit. Dieses Anliegen berührt sich mit dem Grundanliegen Nietzsches, wenn er eine „zweite Aufklärung“ einklagt, die von einer „moralischen“ zu einer „weisen Menschheit“ führen sollte. Für die Verschränkung von Orient und Okzident entscheidend

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ist es dabei, die Blickrichtung umzukehren, und, wie es heute ein Gebot interkultureller Philosophie ist, nicht nur den Osten vom Westen her, sondern auch den Westen vom Osten her zu verstehen. Impulse, die in diese Richtung deuten, empfing Nietzsche von Emerson. Nichts liegt dabei aber ferner als eine Preisgabe des westlich okzidentalen Blicks. Er bleibt schon darin „unwiderleglich“, dass Nietzsche die Zoroaster-Weisheit mit der griechischen Tragödie konfrontiert, die orientalischem Denken fremd bleiben musste. Riedel macht dabei sichtbar, dass Nietzsche seiner Lehre durchaus eine Begründungsform zu geben sucht und dass er sich dabei wiederum der Verfahrensweisen der Kantischen Philosophie bedient: etwa des Gedankenexperimentes oder des apagogischen Beweises. Was er freilich auf diese Weise zeige, liege gänzlich außerhalb der Fragestellung des Königsberger Philosophen: die wirkliche, erfahrene Zeit, die anfangslos und gleichbedeutend mit ewigem Werden ist, und die – wie Nietzsche ebenso wie später Heidegger im Blick auf die tiefsten Phänomene betont – gerade im Alltäglichsten begegnet. Auf das Alltägliche aufmerksam zu werden, an ihm in die Denkbewegung einzutreten, ist der Initialpunkt eines solchen die Grunderfahrung des Daseins begleitenden Philosophierens. – Ihren aufschlussreichsten Punkt erreicht Riedels Kontrastierung Nietzsches mit Kant, durch die er zugleich seine eigenen wegweisenden früheren Arbeiten über ‚Kants ursprüngliche Fragestellung‘ fortschreibt, in der Explikation des Begriffs von Regel und Formel. Was gemeinhin als „Grundlehren“ Nietzsches aufgefasst wird, so die ‚Lehre vom Übermenschen‘, vom ‚Willen zur Macht‘, von ‚amor fati‘, das versteht Riedel, mit guten Gründen, als formelhafte Vorzeichnung und Vademecum des höheren Lebens. Diese Klärung dürfte innerhalb der NietzscheForschung wegweisenden Charakter haben. Jene Formeln begleiten, so Riedel, den „abgründlichsten Gedanken“. Sie können ihn aber, gemäß der denkerischen Architektur Nietzsches, keinesfalls ‚begründen‘. Entzieht er sich doch in seinem Lebensfluidum der Begründung im herkömmlichen Sinne. Nietzsches Rede von ‚Formel‘ steht nach Riedels Rekonstruktion also derjenigen nahe, die Kant, zumal in der ‚Formel vom Sittengesetz‘, gebraucht: Formeln sind Kantisch keinesfalls Prinzipien oder Axiomata, sondern Regeln, deren Ausdruck „zum Muster der Nachahmung dient“ (AA IV, S. 77). Nietzsche widerspricht Kant freilich an entscheidendem Punkt: Die Formel ist für ihn nicht Indiz auf ein identifizierbares Gesetz, das sich an mehreren Einzelfällen bestätigen ließe. Sie ist vielmehr „Vermutung“ und verweist auf einen ganzen Komplex von noch unbekannten, verborgenen Kräften und Gegenkräften. 5. Manfred Riedel hat die Lehre von der ewigen Wiederkehr immer zugleich auch als Nietzsches Lehre von der Zeit verstanden. Darin eröffnet sie den Zugang in die Mitte Nietzsche’schen Denkens. Sie ist, in Abkehr von den Auf-



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klärungs-Ideen eines Ziels der Geschichte, der entscheidende Schlüssel zu jener gebotenen zweiten Aufklärung nach dem Scheitern der großen Geschichtsutopien. Begleitstimme zu der eingeforderten ‚Bejahung der Wiederkehr‘ ist die Formel des ‚amor fati‘, und beides hängt, wie Riedel zeigt, eng mit der römischen Zeitmythologie in Gestalt des Gottes Janus zusammen, auf den der Aphorismus ‚Sanctus Januarius‘ der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ das Augenmerk lenkt. Die Begegnung, das gegenseitige Sich-vor-den-Kopf-Stoßen der beiden Richtungen der Zeit ist bekanntlich im ‚Torweggleichnis‘ an prominentem Ort in die Zarathustra-Dichtung einkomponiert worden. Das Experiment mit der Zeit aus Lebens- und Erkenntnisleidenschaft zu wagen, das ist im Sinne von Riedels Nietzsche-Interpretation zugleich der nervus probandi einer Weisheit von und für übermorgen. Sie wird dem Gedanken an den Tod nicht ausweichen, wie es der Mensch im Zustand der Zivilisation zumeist tut, weil sie zugleich das Leben ernster und gewichtiger nimmt. Diese Umfigurierung und Transfigurierung hat Nietzsche, wie Riedel eindrücklich zeigt, im Bild von der Seefahrt ins Offene in den ‚Zarathustra‘ eingefügt. Es verweist auf das „Excelsior“ der Verklärung, bei dem Nietzsche auf das Epos ‚Das befreite Jerusalem‘ von Torquato Tasso zurückgriff. Deutlich wird hier: So wenig Nietzsche eine anthropomorphe Deutung der Natur und des Seienden im Ganzen zulässt, so sehr er der Versuchung widerspricht, „die Welt zum Garten“ zu machen, ebenso sehr ist die Lehre von der janusköpfigen Zeit Verweis auf eine Vermenschlichung der Geschichte. Sie verabschiedet die metaphysischen Ziele der großen, das menschliche Maß verlierenden metaphysischen Weltideen, aus denen Ideologien geronnen sind. Nietzsche hat vor diesem Hintergrund im Krieg die große Gefahr eines Ausweichens vor den eigentlichen Zielen verstanden. Einen Heroismus, der leichthin mit Tod und Tötung experimentiert, weil er nicht in der Lage ist, der eigenen Sterblichkeit standzuhalten. In Riedels Deutung ergibt sich von hierher eine triadische Konstellation, die die Moderne kennzeichnet: die Entgöttlichung der Natur, sodann die Renaturalisierung des Menschen, die beide Ausdruck des „Todes Gottes“ seien. Nietzsche rief diesen Gedanken, anders als ein Vorurteil will, bekanntlich nicht aus. Er konstatierte ihn als Werk der letzten und schließlich der hässlichsten Menschen, die buchstäblich nicht wissen, was sie tun, und die das Mächtigste und Heiligste töten, weil sie es nicht ertragen, von ihm betrachtet zu werden. Nun fahren sie durch ein leeres All – und frieren. Doch, wie der vierte Teil der Zarathustra-Dichtung zu verstehen gibt: Der Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurteil, und die Tode eines Gottes sind letztlich nur seine Häutungen. Riedel zeigt subtil, dass Nietzsche dies nicht, gleichsam wie ein Seismograph, nur registriert. Er verbindet damit die „Vermenschlichung der Geschichte“, der es darum gehen wird, einen historischen Sinn und Urteilskraft zu entwickeln und

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sich nicht in den „Geist der Rache“, in das Ressentiment, zu verstricken. Von hierher bildet sich aus der antiquarischen (bewahrenden) und der kritischen (zu Erinnerndes und zu Vergessendes voneinander scheidenden) Geschichtsauffassung die monumentalische aus, die im Zeitlichen das Überzeitliche und Bleibende findet und zu dem großen Gespräch mit jenen exemplarischen und darum normativen Individualgestalten führt, das an die Stelle utopisch fantastischer Fiktionen eines Endes und Ziels der Geschichte rückt. Anders als sein Lehrer Karl Löwith, der mit Valéry Zukunft nur ahistorisch denken konnte, antwortet Manfred Riedel auf die Versuchungen und Verfluchungen geschehender Geschichte im Sinne Nietzsches mit dem Weg ins Über-historische, das sich in der werdenden und vergehenden Zeit einstellt. Dies geschieht mit guten Gründen. Denn ist der mediterrane, Geschichte tilgende Ausweg Valérys nicht im Letzten doch eine Ausflucht? In diesem Sinne hatte Riedel selbst nach 1989 auf dem Zusammenhang des Universalen und des Partikularen bestanden, ganz in der Folge Nietzsches, für den Individual- und Gattungsgeschichte in einer unauflösbaren Spannung stehen. Ziel jener Vermenschlichung der Geschichte wäre eine aus der Kraft der kritischen Historie hervorgegangene neue und nicht mehr teleologische Zuwendung zu den Geschichtszeichen, die die Gewalt aufbrechen und denen, wie Riedel es nennt, ein „logischer Enthusiasmus“ entsprechen kann. Der Niederbruch von Tyranneien, die Eröffnung neuer Lebens- und Denkspielräume, wie sie sich 1989 zumindest andeuteten, wäre in diesem Sinn zu verstehen. 6. Riedel arbeitet konsequent heraus, dass die Konzeption des Gedankens ewiger Wiederkehr in sich zwiespältig und doppelgesichtig ist. Dieser Aspekt erschließt sich nicht zuletzt in vorsichtiger Beachtung der lebensweltlichen und biographischen Zusammenhänge. Er hat in diesem Horizont seinen Ausgangspunkt bei der Erfahrung des Todes, im Sinne des vorsokratischen, auf Pherecydes zurückgehenden Wortes, wonach das Lebendige nur eine Art des Toten sei – und überdies eine sehr seltene Art. Die Rückkehr des Lebens in den Tod dachte der junge Nietzsche, wohl im Schatten der ständigen Präsenz des früh gestorbenen Vaters, auch als Fest und Verklärung. Doch Leben und Tod verbinden sich mit dem frühen Zweifel an einer linearen heilsgeschichtlichen Vorstellung von Geschichte in Judentum und Christentum. Eingang in die jugendliche Denkwelt Nietzsches findet aber die Allversöhnungsidee (apokatastasis ton panton) als der jeweils zu erreichende höchste Punkt von Versöhnung. Der hoch begabte Philologe widmet sich aber auch der Geschichtskonzeption der griechischen Historiker, die die Wellenbewegung des Auf- und Untergangs der großen Mächte in einer Kette verknüpft sehen, einem unendlichen Spiel von Werden und Vergehen, der Großes und Geringes gleichermaßen umfasst. Wenig bekannte philologische



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Hinweise aus der Leipziger und Baseler Zeit hebt Riedel ans Licht und zeigt, wie Nietzsche von Platons Dialog über die Unsterblichkeit der Seele, dem ‚Phaidon‘, her die Auffassung plausibel zu machen versuchte, dass der Mysterienglaube der Griechen die ewige Wiederkehr zu seinem letzten Thema habe. In anderer Weise scheint er bei Aristoteles auf, der sich nach Nietzsche aus dem ewigen Gefüge von Werden und Vergehen gelöst habe, der einen einmal erreichten höchsten Punkt von Wissenschaft und Ethos annimmt, den es festzuhalten und durch Differenzierungen anzureichern gelte. Der lebensgeschichtliche Zusammenhang schließt auf, dass der schwerste Gedanke „äußerste Gegensätze der uns möglichen Denkerfahrung“ (Riedel, S. 111) umspannen könne: das Furchtbare der Ziellosigkeit, die Möglichkeit seiner Transfiguration, einer Verklärung nämlich, die den Schrecken nicht austilgt und hinwegleugnet. Dieser umgeformte, in Kunst, vor allem aber Lebenskunst, gestaltete Gedanke wird im Sinn des berühmten Aphorismus 285 aus der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ zu dem „Excelsior!“, dem Appell: „Höher hinauf!“, der, nachdem die Heilsaussichten und Tröstungen christlicher Religion ihre Bindekraft verloren haben, in der Zeit über die Zeitlichkeit hinaushebt, den Menschen in das Meer der Zeitlichkeit eingehen und ihn so sich selbst transzendieren lässt. Nietzsche umschreibt dies mit dem großen Topos der Erhabenheit, und er figuriert es zum Typus des ‚Übermenschen‘. Dabei hält er sich ganz in der Sachlogik dieses Begriffes. Denn das Erhabene ist dem Schrecklichen abgerungen. Dabei legt Riedel eine terminologisch scharfe Scheidung frei: In der Gestalt der Wiederkehr erscheint der Gedanke einerseits als „gesetzlich notwendiger Zwang“. In lebensgeschichtlicher Deutung genommen, wird er damit zum Trauma. Bejahte Wiederkunft hingegen ist es, wenn das Gleiche als befreundet erscheint und begrüßt werden kann. Erhabenheit und äußerste Ziellosigkeit und Kontingenz machen die Spannweite aus, in der der Gedanke gegeben und aufgegeben ist. 7. Die Doppelgesichtigkeit wird in der dichterischen Gestaltung im ‚Zarathustra‘ auskomponiert. Sie erweist sich damit als Verhältnisbestimmung zwischen Dichtung und Philosophie, jenes Grundverhältnis, das zwischen Hölderlin und Heidegger das Denken im Schatten des Nihilismus prägte. Während der Denker eine veränderte Zeitlehre als Schlüssel für die Bestimmung des Menschen und des All freilegt, ist in Nietzsches Selbstverständnis der Dichter „Rätselrater und Löser des Vergangenen“. Nietzsche hat die Notwendigkeit des Übergangs immer wieder betont: Wenn man nicht ergründen könne, so müsse man schaffen, vermerkt er. Da sich der Wiederkehrgedanke ganz offensichtlich der Ergründung entzieht, verweist er auf die Notwendigkeit des Schaffens. An dieser Stelle sollte man aber darauf aufmerksam werden, dass Nietzsche den Worten und

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Gedankenfügungen gerade dann misstraut, wenn sie in allerschönstem Licht erstrahlen. Er möchte sie dann in Frage und Zweifel zurücknehmen. Begrifflich unterscheidet Nietzsche überdies zwischen ‚Schaffen‘ und ‚Erschaffen‘: Letzteres, ein poietischer Akt, ist die Sache Zarathustras nicht, und erst recht nicht die ‚creatio ex nihilo‘. Eher wird Schaffen nach dem Paradigma der Zeugung und der Palingenese in der organischen Welt gedacht. Damit hängt zusammen, dass der ‚Wille zur Macht‘ als der letzte Gedanke, zu dem wir hinunterkommen, und als letztes Faktum exponiert wird. Alles, was ist, ist Macht und Gegenmacht und eröffnet perspektivisch gebrochen den Blick auf die Welt, als Perspektive eines größeren Wesens, „in dessen Bilder wir hineinblicken“, wie Nietzsche im Nachlass der frühen achtziger Jahre bemerkt. Dieser Perspektivismus ist in der Nietzscheforschung der letzten Jahre einseitig auf eine Diffusion und Auflösung des Wahrheitsanspruches hin verstanden worden. Riedel zeigt, dass Nietzsche damit noch immer im Umkreis der Leibniz-Tradition steht, sodass alle einzelnen Perspektiven ihrerseits Spiegelungen einer Zentralmonas sind. In synkritischer Interpretation der ‚Zarathustra‘-Dichtung und der einschlägigen Nachlass-Fragmente kann Riedel zeigen, wie das Umschaffen und Transfigurieren sich zunehmend von der Kunst und einer artistenmetaphysischen Bewältigung auf das Leben hin verschiebt. In diesem Sinne bahnt sich im – aus zeitlicher Distanz nachgeschobenen – vierten Teil des Zarathustra nicht nur die Frage von Untergang oder Verwandlung Zarathustras an, es geht vor allem um das Mitleid mit den großen Schaffenden, den Mak’anthropoi, die ihrerseits der Erlösung bedürfen. Sie werden sie nur finden, wenn sie gleichsam ihre eigene Macht und in eins damit auch den Geist der Rache, das höhere Ressentiment, hinter sich lassen. Die Bejahung auch des Gegners, des – im Sinn der Sternenfreundschaft – fehlgeschlagenen Lebens-, Freundschafts- oder Liebeszusammenhangs ist jene letzte Verwindung, deren auch Zarathustra bedarf. Wenn man diese Gedankenfiguren denkt, kann man erst den Schlüssel gewinnen, um Nietzsches brüchiges Verhältnis zu Wagner, aber auch seine Grundstellung zur Metaphysik, zu Platon und zum Christentum angemessen zu deuten – und nicht zuletzt schwierige allzu-menschliche Verhältnisse, wie jenes zu Lou Salomé. Hier ist nicht der Ort, Riedels Interpretation der ‚Zarathustra‘-Dichtung im Einzelnen zu würdigen. Sie kulminiert in der Deutung des Torweg-Gleichnisses, in dem vom Geist der Schwere, dem Zwerg, der schwerste Gedanke zu leicht genommen wird und der Hirte ihn sich einverleibt und daraus selbst als Verwandelter hervorgeht. Bereits Heidegger hatte diesem Gleichnis eine Interpretation gewidmet. Jene von Riedel, die auf die Wegbahn des ganzen Werkes hin durchsichtig ist, steht ihr gleichrangig zur Seite.



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8. Auch Riedels nachgelassenes Nietzsche-Buch hat, der Sache angemessen, eine zyklische Struktur. Es biegt am Ende zurück auf die Ursprünge des schwersten Gedankens, und dies nicht nur, indem das Erwachen des Philosophen Nietzsche aus der philologischen Zwiesprache mit dem tragischen Zeitalter der Griechen angezeigt wird: mit Orphikern, Empedokles, der Tragödie und den vorsokratischen Philosophen, namentlich Parmenides und Heraklit, die Nietzsche neu verstand, gleichsam von der Quelle her aufgrub, indem er sie als deren Zuschauer im Gegenüber zur Tragödie deutete. Der Ursprung ist vielmehr der Ursprung abendländischen Denkens selbst, der sich in der Spannung zwischen dem ALLES (PANTA) und dem Einen (HEN) hielt – und der, wie Riedel eindrücklich zeigt, aller Metaphysik zugrunde liegt. Es ist die andere, zweite Philosophie, die sich nicht in Erst- und Letztbegründungen und auch nicht in die Struktur philosophischer Dialektik einbeziehen lässt. Sie eröffnet den Raum des eigentlich erst zu Denkenden. Riedel hat, anders als Heidegger in seiner Konzeption der Seinsgeschichte, die Linie einer zweiten Philosophie des Werdenden und Vergehenden als untergründigen Strang in und neben der Begründungs- und Arbeitsphilosophie gesehen. Nietzsches Lehre von der Wiederkehr ist einer der markantesten Punkte, an denen er zutage tritt. Wenn mit einem Parmenides-Wort Hinweg und Rückkehr eins sind, so wirft der Gedanke der Selbstgleichheit und der Differenz bei den frühen Griechen die Frage auf, ob es um eine „Einkehr ins Verschiedene“ oder die „Rückkehr ins Gleiche“ zu tun ist. Nietzsches Philosophen-Buch eröffnet jenen Streit noch einmal, der der Formung kategorialen und dialektischen Denkens bei Platon und Aristoteles zugrunde lag. In dem frühen griechischen Denken ist die Ausbildung eines Ethos aus dem Pathos zu erfassen, ein „Hören auf den Gesamtklang der Welt“, das den Anfang der Philosophie bezeichnete. Ethos heißt – und eben so hat Riedel Ethik immer verstanden und betrieben – Aufenthaltsdeutung im Endlichen, im Sinne des Gegenhaltes von Physis und Ethos. Eben an dieser Stelle liegen Ansätze einer Phänomenologie, die nicht von der Seh-, sondern von der Hörwelt her entfaltet ist. 9. Das letzte Wort dieses Buches gilt allerdings dem großen Sehenden: Goethe. Riedel war es immer, gerade gegenüber den verhetzten und ideologisierten Verkennungen Nietzsches, darum zu tun zu zeigen, dass Nietzsches Denken in engstem geistigen Zusammenhang mit dem Höhenweg der deutschen Klassik steht. Die Parodie auf die, umfassende Erlösung aussagende, Schluss-Sequenz von Faust II führt noch einmal auf das absolute Werden, die Grundlosigkeit, und einen tragischen Grundsinn, der nicht nur in der Handlung, sondern ebenso im Erleiden liegt. Doch die Parodie bezieht sich zugleich bejahend auf ihr Vorbild, in einer, bei Nietzsche nicht immer zu findenden Heiterkeit und Zustimmung. Sie hat sich den schwersten Gedanken ganz „einverleibt“, und sie zieht aus ihm

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die höchste Bejahung. Nietzsches erhabener Gedanke wird damit selbst in seiner Leichtigkeit monumentalisch, Erinnerungszeichen für ein höheres Leben, das jederzeit möglich ist.

III. Der Herausgeber ist der Überzeugung, die der kundige Leser, der den nicht immer einfachen, aber überaus umsichtigen und wohlproportionierten Erwägungen dieses nachgelassenen Buches folgen wird, sich vermutlich zu eigen machen wird, dass hier ein Nietzsche-Werk vorliegt, das alle detailverliebte Sekundärliteratur, aber auch alles kühn sich über Nietzsches Denkarbeit hinwegsetzende dekonstruktivistische oder diskurstheoretische „Philosophieren mit Nietzsche“ weit hinter sich lässt. Nur ein bedeutender Philosoph und ein ausgezeichneter Kenner der Haupt- und Nebenwege Nietzsche’schen Denkens konnte so über Nietzsches Grundlehre schreiben. Riedel hat mit der ihm eigenen Genauigkeit und Unnachgiebigkeit diesem Buch einen Großteil seiner Konzentration in den späten neunziger Jahren gewidmet. Unter anderem wollte er bei einem schon gewährten Forschungssemester an der New School for Social Research in New York sich ihm ganz widmen, wozu es nicht gekommen ist. Und in den geliebten Spätsommervorlesungen in Neapel, der einzigen Lehrtätigkeit, an der er bis zuletzt festhielt, hat er über mehrere Jahre hinweg aus den einschlägigen Erwägungen vorgetragen. Welche Prägung er dem Manuskript selbst noch gegeben hätte, muss leider offen bleiben. Es ist auch in dem nachgelassenen Zustand eindrucksvoll, inspirierend und in sich gerundet. Der aufmerksame Leser wird in diesem Buch alle Eigenschaften finden, die Riedels Schriften auszeichnen und die auch der philosophische Lehrer in außergewöhnlicher Weise verkörperte: Riedel war die Phrase und die ungedeckte Behauptung zuwider. Er begnügte sich nie mit der gängigen Erkenntnis. Als Emeritus wurde er noch einmal zum Studierenden und ging in die Archive. Die Verschränkung von philosophischer Tiefe, das Wagnis des großen Gedankens verband er mit philologischer Genauigkeit. Auf diese Weise ist auch das vorliegende Buch entstanden. Es rührt an die Mitte von Nietzsches Denken und damit an die Kraftfelder zwischen Antike und Moderne, in denen Nietzsche wie kein anderer steht. Der Herausgeber hat in den Text nur eingegriffen, wo offensichtliche Verschreibungen erkennbar waren. Manfred Riedels an der Gattung der Vorlesung orientierte Gliederung wurde in eine Struktur aufgelöst, die leichtere Lesbarkeit sichert. In den Literaturverweisen hat er sehr behutsam einige neuere Titel angeführt.



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Den Familien Riedel und Sprang, insbesondere Herrn Friedemann Sprang, danke ich für erneut bewährte vertrauensvolle Kooperation, durch die diese Edition möglich geworden ist. Nürnberg, München im Oktober 2011.

Literatur

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/New York 1980 (= KSA). Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe in 8 Bdn., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/New York 1986 (= KSB). Nietzsche’s Werke, Gesamtausgabe, 20 Bde., Leipzig 1899–1926 (= GOA). Darunter: Bd. XVII: Gedrucktes und Ungedrucktes aus den Jahren 1866–1877, hrsg. v. E. Holzer (= Philologica I). Bd. XVIII: Unveröffentlichtes zur Literaturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik, hrsg. v. O. Crusius (= Philologica II). Bd. XIX: Unveröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie, hrsg. v. O. Crusius und W. Nestle (= Philologica III). Nietzsche, F., Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. H. J. Mette und K. Schlechta, München 1932ff. (= BAW). Nietzsche, Werke, hrsg. v. K. Schlechta, München 1959 u. ö.

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Personenverzeichnis

Abegg, E. 81, 189 Abel, G. 105, 189 Adickes, E. 76f., 80, 189 Aischylos 56, 144, 149, 164f. Albert, K. 191 Anaxagoras 140, 142, 145f., 149, 155, 162, 165 Anaximander 45, 67, 107, 139, 143, 145–151 Anaximenes 139 Anquetil du Perron, A. H. 77 Archilochus 169 Aristoteles 14, 110, 121, 124, 140, 149, 173, 183, 185 Aristoxenos 80 Arnim, H. v. 150, 189 Augustinus 105, 173 Babich, B. E. 189 Baer, K. E. von 66 Baeumler, A. 19, 174 Benne, Chr. 189 Bennholdt-Thomsen, A. 131f., 189 Benson, B. E. 189 Bernays, J. 149, 151, 154, 189 Bertau, K. 88 Bertram, E. 174 Bloch, E. 11, 14–20, 174 Bohrer, K. 189 Böning, Th. 189 Bremer, D. 140, 189 Bruno, G. 111, 140 Byron, G. G. 63, 116 Cancik, H. 80, 109, 189 Chladni, E. 119 Colli, G. 149, 189 Crawford, C. 190 Crusius, O. 110, 190 Darwin, Ch. 30 Demokrit 80 Detering, H. 190 Diels, H. 80, 190

Dilthey, W. 157, 190 Diogenes Laertius 80, 138 Djurič, M. 9, 109, 164, 190 Emerson, R. W. 47, 80f., 108, 190 Empedokles 118, 140–146, 149, 167, 185 Epikur 44, 91 Ettlinger, M. 105, 190 Euripides 165 Fabricius, G. 81 Fichte, J. G. 71 Figl, J. 171, 190 Flasch, K. 105, 190 Fleischer, M. 134, 190 Förster-Nietzsche, E. 15, 18, 174 Frank, M. 73, 190 Fraser, G. 190 Freud, S. 130, 190 Fritzsch, E. W. 56 Gadamer, H.-G. 50, 74, 109, 141, 190 Gast, P. (H. Köselitz) 7, 22f., 25, 45f., 53, 62, 82 Gerhardt, V. 172, 190 Goethe, J. W. von 18, 44, 55, 57f., 60, 71, 73, 98, 108, 111, 116, 122f., 129, 140, 144, 156ff., 178, 185, 190 Görner, R. 190 Greiner, B. 29, 190 Günther, H. 17 Harders, G. 190 Harich, W. 175 Hatab, L. J. 190 Heftrich, E. 114, 190 Hegel, G. F. W. 20, 29, 58, 72f., 108, 111, 114, 123, 140, 149, 153, 164, 172f., 176 Heidegger, M. 10, 20, 26, 36, 118, 164, 172ff., 180, 183ff., 190f. Heller, P. 191 Henrich, D. 36, 179, 191 Heraklit 35, 44f., 48, 66f., 80, 91f., 107, 110, 114, 128, 139ff., 143, 145f., 148–158, 160ff., 164f., 167, 172, 185

194

Personenverzeichnis

Herder, J. G. 158 Hershbell, J. P. 155, 191 Hesiod 149, 191 Hibbard, St. 104, 191 Hinterleitner, R. 191 Hölderlin, F. 73, 80, 111, 118, 123, 140, 164, 183, 191 Hölscher, U. 123, 150, 153ff., 191 Holzer, E. 189 Horaz 63 Jean Paul 71 Kant, I. 38, 50, 64f., 67–72, 76–79, 144, 156, 174, 177, 179f., 191 Kaulbach, F. 191 Kirkland, P. E. 191 Kleuker, J. F. 77, 191 Koecke, Chr. 191 Kofman, S. 191 Kranz, W. 80, 190 Laban, F. 22 Lamarck, J.-B. 30 Lassalle, F. 149, 151 Latacz, J. 191 Latte, K. 91 Leibniz, G. W. 57, 59, 105, 178, 184 Leopardi, G. 99 Lessing, G. E. 111 Lichtenberg, G. Ch. 70 Longfellow, H. W. 90 Löw, R. 58, 191 Löwith, K. 9f., 26, 60, 76, 182, 191 Lukács, G. 11, 15ff., 19f., 174 Luther, M. 173 Magnus, B. 58, 150, 191 Mann, Th. 15 Marx, K. 11f., 15, 29 Mayer, J. R. 47, 53, 178 Mehring, F. 17 Meinhold, G. 115 Mette, H. J. 189 Meysenbug, M. von 46, 82 Montaigne, M. de 44 Montinari, M. 24f., 80, 97, 189, 191 Müller, E. 191 Müller-Lauter, W. 75, 191 Nestle, W. 189

Nimis, St. A. 155, 191 Oñate de Segovia, T. 9 Overbeck, F. 46, 53, 75, 79, 106 Parmenides 45, 48, 81, 141, 149, 153, 156f., 166, 169, 172, 185 Pascal, B. 44 Pherekydes von Syros 138, 182 Picht, G. 114, 119, 191 Platon 40, 44, 48, 82, 107, 109, 153, 157, 161, 169, 176, 184f., 191 Pythagoras 141, 143 Reckow, F. 90 Rickert, H. 17 Ritter, J. 72, 192 Rohde, E. 143 Romundt, H. 90 Rosenberg, A. 19 Rousseau, J.-J. 44 Roux, W. 47 Salomé, Lou von 37, 45, 60, 178, 184 Schelling, F. W. J. 71ff., 76, 108, 111, 166 Schiller, F. 76, 156f. Schlaffer, H. 192 Schlechta, K. 189 Schleiermacher, F. 151, 191 Schmid, H. 192 Schmidt, H. J. 107, 192 Schopenhauer, A. 20ff., 26, 35, 44f., 82, 104, 112, 144, 164, 166, 170, 192 Sergeant, Ph. 192 Simon, J. 9, 190 Sokrates 40, 80, 82, 157, 163 Söring, J. 192 Spengler, O. 11 Spiekermann, K. 58, 192 Spinoza, B. 44, 47, 55, 57f., 111, 123, 140, 157, 159 Staiger, E. 88 Stambaugh, J. 165, 192 Stein, Ch. von 144, 158 Tasso, T. 181 Thales 45, 139f., 154, 167 Theophrast 56 Vaihinger, H. 77, 192 Valéry, P. 182 Védrine, H. 111, 192



Personenverzeichnis

Villwock, P. 189 Vogt, E. 116, 192 Vogt, J. G. 47 Wagner, R. 21f., 35, 45, 112, 144, 164, 184 Weber, M. 11ff., 15, 17 West, M. 192

Winckelmann, J. J. 160 Windelband, W. 17 Wohlfart, G. 149, 192 Wolff, H. M. 108, 192 Wolff-Metternich, B.-S. von 68, 192 Zeller, E. 149

195

Alex Ander demAndt

PhilosoPhie der Geschichte Von der Antike zur GeGenwArt

Seit Homer und der Bibel gibt es Vorstellungen über den Lauf der Zeiten und die Stellung der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Grund­ figuren bei den Klassikern der Geschichtsphilosophie sind immer ähnlich, das zeigt Alexander Demandt in diesem Buch. Er liefert einen in dieser Zu­ sammenschau einmaligen Überblick über das europäische Geschichtsdenken seit der Antike: Der antike Dekadenzgedanke (Hesiod, Platon), Fortschritts­ bewusstsein (Xenophanes, Aristoteles) und Fortschrittskritik (Diogenes, Seneca), frühe Kreislauftheorien (Salomon, Empedokles), jüdisch­christliche Heilsgeschichte (Daniel, Augustinus), das Epochenbewusstsein der Renais­ sance (Machiavelli, Vico), die Geschichte als Aufklärung (Kant, Condorcet), Historischer Idealismus (Hegel, Humboldt), Goethes universaler Individua­ lismus, der Historismus (Ranke, Meinecke), der Historische Materialismus (Marx, Engels), paradigmatische Geschichtskonzepte (Nietzsche, Burck­ hardt), Morphologien der Weltgeschichte (Spengler, Toynbee), Geschichts­ biologismus (Darwin, Lorenz) und posthistorische Apokalyptik (Fukuyama, Baudrillard). 2011. 438 S. Gb. mit SU. 155 x 230 mm. iSbN 978-3-412-20757-1

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HEINER FELDHOFF

NIETZSCHES FREUND DIE LEBENSGESCHICHTE DES PAUL DEUSSEN

Paul Deussen (1845–1919), lebenslanger Freund Nietzsches seit der Schulzeit, war Philosoph, Indologe und Gründer der Schopenhauer-Gesellschaft. Seine bahnbrechenden Übersetzungen und Erläuterungen altindischer Schriften, vor allem der Upanishaden, gelten weltweit als Standardwerke. Anschaulich beschreibt Feldhoff den turbulenten Lebensweg Deussens vom Westerwälder Pastorensohn zum Professor für Philosophie in Kiel, vom Hauslehrer in russischen Diensten zum sanskritbegeisterten Indien-Reisenden. Das Bild Nietzsches, des kontroversen und genialen Freundes, wird um bisher nicht bekannte Nuancen ergänzt. Neben Nietzsche prägen weitere Kulturgrößen der Jahrhundertwende die Vita Deussens, so der indische Heilige Vivekananda oder die römische Kunstmäzenin Henriette Hertz. Deussens Werk, zu dem die vielgelesenen „Elemente der Metaphysik“ und eine sechsbändige Geschichte der Philosophie gehören, diente u.a. Hermann Hesse, Thomas Mann, Max Beckmann oder Erwin Schrödinger als Quelle und Anregung. 2008. 281 S. 12 S/W-ABB. AUF 8 TAF. GB. | ISBN 978-3-412-20195-1

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GeorG römpp

HeGel leicHt GemacHt eine einfüHrunG in seine pHilosopHie (utB für WissenscHaft 3114 m)

Zu den wenigen wichtigen Positionen in der abendländischen Philosophie gehört das Werk Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831). Hegel war der letzte Philosoph, der die zentralen Begriffe unseres Wissens in einem einheitlichen Gedankengang zu entwickeln und zu begründen versuchte. Gleichzeitig war er sich der geschichtlichen Entwicklung bewusst, in der unsere Begriffe entstanden sind. Die Verbindung beider Gedanken macht sein Denken bis heute zu einem unvergleichlichen geistigen Abenteuer. Die vorliegende Einführung erleichtert den Zugang zu den komplexen Grundgedanken Hegels. Um einen Überblick über den Denkweg Hegels zu gewinnen, werden zunächst die Grundzüge seiner Philosophie skizziert. Die zentralen Passagen seines Werkes werden dann durch eingehende Analysen vorgestellt. Dieses Studienbuch bietet nicht nur eine Einführung in die Philosophie Hegels, sondern eröffnet auch neue Wege für die eigenständige Lektüre und erschließt so dessen Werk auf eine nachvollziehbare Weise. 2008. 298 S. Br. 170 x 240 mm. ISBN 978-3-8252-3114-9

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