Vorbedingungen des Rechts: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg 3515113894, 9783515113892

Im Zentrum dieses Bandes steht das grundlegende Verhältnis von Individuen und Recht. Zum einen werden die Bedürfnisse un

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German Pages 231 [234] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I Bedürfnisse und Befähigungen im Recht
Markus Abraham/Till Zimmermann: Einleitende Bemerkungen
Lutz Eidam, Frankfurt am Main: Braucht unser heutiges Strafrecht (noch) den philosophischen Horizont eines Naturrechts? Zum Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus am Beispiel der Radbruch-Hart-Kontroverse
Frieder Vogelmann, Bremen:
Das deliberative Bedürfnis. Zur menschlichen Natur der Diskurstheorie des Rechts
Michael Goldhammer, Bayreuth: Repräsentation und Konflikt. Hanna F. Pitkins Beitrag zu einer freiheitlichen Theorie mittelbarer Demokratie
Markus Bitterl, Wien:
Eigenheiten institutioneller Anerkennung.
Zur Bedeutung von Institutionen als Medium der Anerkennung
Paula Maria Nasser Cury, Heidelberg:
Personwerden: Rechtsphilosophische Skizzen zur Rolle
der „Natur des Menschen“ in der Konstruktion der Subjektivität
Dorothea Magnus, Hamburg:
Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie
im Strafrecht
II Individuum – Recht – Institution
Sabrina Zucca-Soest:
Einleitende Bemerkungen
Péter Sólyom, Debrecen:
Zwischen Rechtstechnik und Rechtspolitik.

Bemerkungen zu der Verfassungstheorie von Kelsen
Dona Barirani, Utrecht:
Legitimitätsquellen im globalen Regieren
Andrej Lang, Halle an der Saale: Legitimität der Verfassung und historischer Umbruch
Elias Moser, Bern:
Unveräußerliche Rechte und objektive Werte.
Erläuterungen zum Begriff, zur moralischen Dimension und
zur Problematik der Rechtfertigung
André Ferreira Leite de Paula, Frankfurt am Main:
Herausforderungen rechtlicher Begründungstätigkeit unter
den Bedingungen skeptischer Epistemologie
Michael Hackl, Wien/Berlin:
Die Rechte der „natürlichen Mitwelt“ und die „Sphären der Freiheit“.
Eine metaphysische Antwort
Moritz Hagemann, Frankfurt am Main:
Die Zweideutigkeit des Naturrechts und das Recht auf Eigentum
Thomas Wischmeyer, Freiburg im Breisgau:
Sehnsucht nach Einheit?
Der Schutz kollektiver Identitäten als Entwicklungsauftrag im nationalen
und europäischen Verfassungsrecht
Philipp Gisbertz, Göttingen:
Stabilität durch gerechte Institutionen.
Eine rawlsianische Antwort auf das Böckenförde-Diktum
Benjamin Rusteberg, Freiburg im Breisgau:
Normative Selbstvergewisserung der liberalen Gesellschaft durch
symbolische Gesetzgebung.
– Ein Widerspruch am Beispiel des Burka-Verbots
Autoren und Herausgeber
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Vorbedingungen des Rechts: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg
 3515113894, 9783515113892

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Markus Abraham / Till Zimmermann / Sabrina Zucca-Soest (Hg.)

Vorbedingungen des Rechts Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg

ARSP Beiheft 150 Franz Steiner Verlag

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Markus Abraham / Till Zimmermann / Sabrina Zucca-Soest (Hg.) Vorbedingungen des Rechts

archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 150

Markus Abraham / Till Zimmermann / Sabrina Zucca-Soest (Hg.)

Vorbedingungen des Rechts Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-11389-2 (Print) Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-11392-2 (E-Book) Nomos Verlag: ISBN 978-3-8487-3213-5

InhaltsverzeIchnIs Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I . Bedürfnisse und Befähigungen im Recht Markus Abraham / Till Zimmermann Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lutz Eidam, Frankfurt am Main Braucht unser heutiges Strafrecht (noch) den philosophischen Horizont eines Naturrechts Zum Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus am Beispiel der Radbruch-Hart-Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Frieder Vogelmann, Bremen Das deliberative Bedürfnis Zur menschlichen Natur der Diskurstheorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Goldhammer, Bayreuth Repräsentation und Konflikt Hanna F . Pitkins Beitrag zu einer freiheitlichen Theorie mittelbarer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Markus Bitterl, Wien Eigenheiten institutioneller Anerkennung Zur Bedeutung von Institutionen als Medium der Anerkennung . . . . . . . . . .

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Paula Maria Nasser Cury, Heidelberg Personwerden: Rechtsphilosophische Skizzen zur Rolle der „Natur des Menschen“ in der Konstruktion der Subjektivität . . . . . . . . . .

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Dorothea Magnus, Hamburg Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II . Individuum – Recht – Institution Sabrina Zucca-Soest Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Péter Sólyom, Debrecen Zwischen Rechtstechnik und Rechtspolitik Bemerkungen zu der Verfassungstheorie von Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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Inhaltsverzeichnis

Dona Barirani, Utrecht Legitimitätsquellen im globalen Regieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Andrej Lang, Halle an der Saale Legitimität der Verfassung und historischer Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Elias Moser, Bern Unveräußerliche Rechte und objektive Werte Erläuterungen zum Begriff, zur moralischen Dimension und zur Problematik der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 André Ferreira Leite de Paula, Frankfurt am Main Herausforderungen rechtlicher Begründungstätigkeit unter den Bedingungen skeptischer Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Michael Hackl, Wien/Berlin Die Rechte der „natürlichen Mitwelt“ und die „Sphären der Freiheit“ . Eine metaphysische Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Moritz Hagemann, Frankfurt am Main Die Zweideutigkeit des Naturrechts und das Recht auf Eigentum . . . . . . . . . . 183 Thomas Wischmeyer, Freiburg im Breisgau Sehnsucht nach Einheit? Der Schutz kollektiver Identitäten als Entwicklungsauftrag im nationalen und europäischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Philipp Gisbertz, Göttingen Stabilität durch gerechte Institutionen Eine rawlsianische Antwort auf das Böckenförde-Diktum . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Benjamin Rusteberg, Freiburg im Breisgau Normative Selbstvergewisserung der liberalen Gesellschaft durch symbolische Gesetzgebung – Ein Widerspruch am Beispiel des Burka-Verbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

vorwort Der vorliegende Band dokumentiert zwei Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg . Die Passauer Tagung, organisiert von Markus Abraham und Till Zimmermann, fand statt unter dem Titel „Bedürfnisse und Befähigungen im Recht“ .1 Die Beiträge beschäftigen sich mit dem Problem, ob aus der Natur des Menschen – wenn es denn eine solche gibt – Anforderungen an das Recht erwachsen . Sie bilden den ersten Teil des Tagungsbandes . Das Thema der von Sabrina Zucca-Soest in Kooperation mit der Themengruppe Politik & Recht der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) organisierten Hamburger Tagung lautete „Individuum – Recht – Institution“ .2 Die Beiträge behandeln die Frage, inwiefern Recht im Spannungsfeld von Individuen und Institutionen zu verorten ist . Fokussiert wurde hier insbesondere die Übersetzung von allgemeinen normativen Grundideen in soziale Institutionen und die Rolle der Individuen hierbei . Sie bilden den zweiten Teil des Tagungsbandes .3 Die Herausgeber danken den vielen engagierten Helfern in Passau (Thomas Jänicke, Anna Lena Meisenberger, Amelie Rösl, Georgia Stefanopoulou sowie Lisa Förster, Franziska Gotthard, Teresa Göttl, Leonie König, Katrin Pilgram, Julius Schauf und Ulrich Völker) und in Hamburg (Susanne Kirst, Karen Haak, Lutz Dierking, Daniel Füßel, Philipp Lindenberg, Tom Fabert) sowie den großzügigen Sponsoren, welche das Gelingen der beiden Tagungen erst möglich gemacht haben . Besonders freut uns, dass wir mit der Unterstützung durch das Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie die Tradition der Veröffentlichung der Beiträge des JFR fortsetzen können . München und Hamburg im März 2016 Markus Abraham Till Zimmermann Sabrina Zucca-Soest

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Tagungsberichte von Anna Lena Meisenberger / Amelie Rösl JuS 2015, Heft 2 Aktuell, 36 ff . und ARSP 101 (2015), 130 ff . Die Beiträge der Referentinnen Ulrike Lembke (Greifswald) und Katja Stoppenbrink (Münster) standen für einen Abdruck leider nicht zur Verfügung . Tagungsberichte unter www .juwiss .de . Einige der Beiträge erscheinen in dem separaten Sammelband Akteure im Recht, Nomos, 2016 .

I. BedürfnIsse

und

BefähIgungen

Im

recht

Markus abrahaM / Till ZiMMerMann eInleItende Bemerkungen Rechtliche Grundlagendiskurse kreisen häufig um die Frage nach Gleichheit und Freiheit, wobei damit meist Gleichheit und Freiheit im Recht gemeint ist . Vernachlässigt wird dabei, dass Freiheit auf Vorbedingungen beruht, es also eines Substrats bedarf, um überhaupt im Stande zu sein, Freiheitsräume zu entwerfen . Solche Vorbedingungen kann man mit Blick auf die Bedürfnisse und Befähigungen des Menschen diskutieren . Die bevorstehende Passauer Tagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie will eben diese Perspektive einnehmen und sich der Thematik widmen, ob aus der „Natur des Menschen“ – wenn es denn eine solche gibt – Anforderungen an das Recht erwachsen . Können diesbezüglich anthropologische oder psychologische Erkenntnisse bei der Festlegung helfen?1 Es stellt sich die Frage, inwieweit diese „Natur des Menschen“ zu bedienen und inwiefern gerade zu überwinden ist . Sind evolutorisch einleuchtende Einrichtungen erhaltenswert – oder können sie höchstens erklären, nie aber legitimieren? Wenn man sagt, man wolle der „Natur“ Folgerungen für das Recht entnehmen, klingt dies freilich nach der Ableitung eines Sollens aus einem Sein . Geht dieser Schluss also fehl? Man könnte argumentieren, dass es sich deswegen nicht um eine solche Konfundierung handelt, da beim Betrachten des „Wesens des Menschen“ kein nacktes Sein unter der Lupe liegt, sondern vor dem geistigen Auge etwas bereits von Wertungen Durchdrungenes, Interpretiertes erscheint .2 Freilich müsste man dann überlegen, wo Elemente einer „Selbstinterpretation“3 und Selbstdefinition des Menschen bezüglich seiner Bedürfnisse zu finden wären . Lohnenswerte Suchgebiete dürften partizipatorische Diskurse, aber auch beispielsweise Anthropologie und Literatur sein . Ist nun ein Versuch zielführend, eine Klassifikation universeller Grundbedürfnisse aufzustellen (wie ihn etwa der capability approach unternimmt4)? Sicherlich wäre hier zu überlegen, wie eine solche Liste hinreichend konturiert formuliert werden, gleichzeitig aber für Veränderungen offen bleiben kann . Man müsste fragen, wie die volatilen Bedürfnisse der Menschen am besten erkannt und repräsentiert werden könnten . Ein solches Unternehmen könnte aber dann zu einer Erweiterung des Normprogramms führen, das die etablierten Menschenrechtsvorstellun1 2

3 4

Vgl . etwa Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 6 . Aufl . 2011, § 8 . So Kurt Seelmann / Daniela Demko, Rechtsphilosophie, 6 . Aufl . 2014, § 8 Rn . 22 mit Verweis auf Karl Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit – Hauptthemen der Rechtsphilosophie, 1971 . Vgl . insbesondere dessen Ausführungen zu einem engen Begriff der Natur der Sache, 238 ff . und 270 ff .; radikal biologistisch dagegen Hendrik Gommer, From the „Is“ to the „Ought“: a Biological Theory of Law, ARSP 96 (2010), 449 ff . Martha Nussbaum, Der aristotelische Sozialdemokratismus, in: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, hg . von Herlinde Pauer-Studer, übers . v . Ilse Utz, 7 . Aufl . 2012, 24, 46; dazu jüngst Manuel Knoll, Martha Nussbaum und Aristoteles, ARSP 101 (2015), 32 ff . Nussbaum (Fn . 3), S . 50 ff .; für den capability approach grundlegend war Amartya Sen . Eine neuere Darstellung etwa in ders ., The Idea of Justice, 2009, insbes . 253 ff . vgl . dazu Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 3 . Aufl . 2015, § 14 Rn . 49 ff .

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Markus Abraham / Till Zimmermann

gen übersteigt . Welche Auswirkungen hätte ein solches Vorgehen auf das Recht, etwa für die Reichweite des ordre public-Gedankens, also das Denken in nationalstaatlichen Sphären? Oder aber schimmert hinter dieser Vorstellung eines gleichen Rechts für alle die Gefahr von Identitätsverlust, Gleichmacherei und Paternalismus? Könnte man auf die vorgeschlagene Weise dann nicht auch eine konkrete Regierungsform oder ein Familienideal deduzieren? Oder, grundsätzlicher, ist eine solche Entdeckungs-Idee des Rechts ohnehin vergeblich, weil Recht nicht gefunden, sondern erfunden werden muss? Für die Konventionalität des Rechts spricht wohl, dass sich die (rechtsethische) Beurteilung von Sachverhalten über die Zeit zu wandeln scheint, also das, was gestern Recht war, heute rückwirkend als unerträgliches Unrecht angesehen wird . Aber auch der Vorgang des Erfindens dürfte nicht ex nihilo erfolgen, sondern bestimmter Grundmaterialen bedürfen . Eine gewisse Bedürfnisorientierung des Rechts könnte vielleicht unter der Annahme plausibel sein, dass in Bereichen asymmetrischer Machtverhältnisse oder Mittelarmut rechtliche Freiheit nur dann wirklich ist, wenn derartige Ungleichheit zu einem gewissen Grad (freilich: zu welchem?) aufgehoben wird .5 Als Ausprägungen dieses Gedankens könnte man das Verbraucherrecht oder das – eher nur nachträglich korrigierende6 – Recht der Sozialhilfe, aber auch Vorschläge eines bedingungslosen Grundeinkommens interpretieren . Stellt hier das Bedürfnis nach Anerkennung als Person Anforderungen an das Recht? Zu überlegen wäre hier auch, wie interpersonale Anerkennung und institutionelle Anerkennung sich zueinander verhalten . Oder aber ist das Verhältnis des Rechts zu der „Natur des Menschen“ ein Umgekehrtes: Führen erst die (ungezügelten) Bedürfnisse zu Konflikten und die daraus resultierende schmerzliche Erfahrung dann zum einzäumenden Recht, weil die Akteure in Sicherheit leben wollen? Dann wäre der Grund des Rechts also nicht die Orientierung an einer optimalen Realisierung der Bedürfnisse, sondern deren sozialverträgliche Unterdrückung . Kann man bei dieser Sichtweise das Recht noch als choosing system7, als freiheitsermöglichend, verstehen? Wie sich die Bedürfnisse und Befähigungen des Menschen zum Recht verhalten, ist die Frage der anstehenden Tagung . Ihre Veranstalter erhoffen sich dazu nun aufschlussreiche Auseinandersetzungen und kontroverse Diskussionen .

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Vgl . nur Seelmann/Demko (Fn . 2), § 14 Rn . 9 f .; Stephan Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, 136 ff .; aus verfassungsrechtlicher Perspektive vgl . etwa Dietrich Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, in: Handbuch des Staatsrechts, hg . von Josef Isensee / Paul Kirchhof, Bd . IX, 3 . Aufl . 2011, § 192 Rn . 31 . Zum Unterschied zwischen gleicher Würde und egalitärer Gleichheit s . Günther Ellscheid, Recht und Moral, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hg . von Arthur Kaufmann / Winfried Hassemer / Ulfrid Neumann, 8 . Aufl . 2010, 214, 247 f . Die massenhafte Erforderlichkeit der (Welt-)Sozialhilfe sei ein Indikator für ein Defizit an primärer Verteilungsgerechtigkeit, so Michael Köhler, Iustitia distributiva . Zum Begriff und zu den Formen der Gerechtigkeit, ARSP 79 (1993), 457, 480 . Herbert Lionel Adolphus Hart, Legal Responsibility and Excuses, in: Punishment and Responsibility, hg . von dems ., 1968 (Nachdr . 1978), 28, 44 .

luTZ eidaM, FrankFurT aM Main Braucht

strafrecht (noch) den horIzont eInes naturrechts?

unser heutIges

phIlosophIschen

zum streIt zwIschen posItIvIsmus radBruch-hart-kontroverse*

und

nIchtposItIvIsmus

am

BeIspIel

der

I. eInleItung Winfried Hassemer, dessen Andenken ich diesen Beitrag widmen möchte, hat bereits im Jahr 2002, in der Festschrift für Trechsel, darauf hingewiesen, dass unser modernes Verfassungsrecht so etwas wie „geronnenes Naturrecht“ enthalte .1 Das führe dazu, dass die sichernden Aufgaben naturrechtlicher Verbürgungen mittlerweile zuverlässig durch positiviertes höherrangiges Recht miterledigt werden . Aus diesem Grunde bestehe, so schreibt Hassemer weiter, heutzutage auch kein explizites Bedürfnis mehr nach einem Naturrecht als hierarchische Rechtsquelle, um etwa „ein verkrüppeltes positives Gesetz geradezubiegen oder hinwegzuschwemmen“ .2 Solch ein Bedürfnis mag noch im Jahr 1946 nach dem großen Zusammenbruch allgegenwärtig gewesen sein, was die in dieser Zeit aufkommende sog . Naturrechtsrenaissance3 überdeutlich demonstriert . In unseren Zeiten soll jedoch – wie gesagt – eine Berufung auf Verfassungsrecht im Gleichklang mit europäischen und internationalen Regelungsmaterien genügen . So führt uns Winfried Hassemer in aller Deutlichkeit den schwindenden Stellenwert der klassischen Naturrechtsdoktrin vor Augen . Stephan Kirste formuliert all das für unsere heutige Zeit noch ein wenig drastischer: Der gegenwärtige Bedeutungsverlust des Naturrechts resultiere daraus, dass es an seinem Erfolg zugrunde gegangen sei .4 Damit ist doch eigentlich schon ein recht positives Fazit in Sachen Naturrecht – was auch immer man unter diesem Begriff verstehen mag – gezogen . Wir benötigen naturrechtliche Ideen und den naturrechtlichen Horizont alleine deshalb nicht mehr, weil sie in unserer Rechtsordnung allgegenwärtig sind . Oder etwa nicht? * 1

2 3

4

Eröffnungsvortrag auf der 21 . Jahrestagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie vom 24 . bis zum 25 . September in Passau . Der Vortragsstil wurde weitestgehend beibehalten . Winfried Hassemer, Naturrecht im Verfassungsrecht, in: Festschrift für Stefan Trechsel, hg . von Andreas Donatsch / Marc Forster / Christian Schwarzenegger, 2002, 150; vgl . auch schon Ulfrid Neumann, Positivistische Rechtsquellenlehre und naturrechtliche Methode zum Alltagsnaturrecht in der juristischen Argumentation, ARSP-Beiheft Nr . 37 (1990), 141 mwN . in Fn . 4 . Hassemer (Fn . 1), 149 . Paradigmatisch für diese Strömung etwa Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts, 1947, passim . Eingehend zum Thema auch Arthur Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus geworden ist, in: Festschrift für Sten Gagnér, hg . von Michael Stolleis u . a ., 1991, 105 ff . sowie Kristian Kühl, Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2 . Weltkrieg, in: Geschichtliche Rechtswissenschaft, hg . von Gerhard Köbler / Meinhard Heinze / Jan Schapp, 1990, 331 ff . Stephan Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, 108 .

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Lutz Eidam

Ich möchte diesen Befund aus der Perspektive des Strafrechtlers im Folgenden ein wenig hinterfragen . Stellt man eine Frage wie die, die sich gerade angedeutet hat, so läuft die Diskussion rasch auf ganz fundamentale Grundsatzfragen der Rechtsphilosophie zu . Und so meine ich, dass wir zunächst einmal und etwas abstrakter den Nichtpositivismus dem Positivismus gegenüberstellen sollten . Ich nehme diese Abstrahierung – weg vom Begriff des Naturrechts und hin zum Begriff des Nichtpositivismus – deshalb vor, weil das, was die Philosophie unter der Natur verstehen zu meinen glaubt, nach Zeiten und Orten sehr unterschiedlich war5, und wir ansonsten die mir zur Verfügung stehende Zeit alleine zur Aufklärung der Begrifflichkeit der Natur im Wandel unterschiedlicher zeitlicher Epochen verwenden müssten . Auch müssten wir uns mit dem Einwand auseinandersetzen, dass im Naturzustand, so wie beispielsweise Hobbes ihn beschreibt, doch überhaupt keine Rechte im normativen Sinne, sondern allenfalls Naturgesetze im naturwissenschaftlich-soziologischen Sinne existieren .6 All das soll aber nicht mein Thema sein, weshalb ich hintergründig auf den Begriffsgegensatz Positivismus vs . Nichtpositivismus ausweichen werde . Ich kann Ihnen aber versprechen, dass wir anhand dieses Begriffspaares einen Großteil der altehrwürdigen Debatte zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus mitbehandeln, ja sogar miterledigen werden . Und ich kann Ihnen ebenfalls versprechen, dass wir an mannigfachen Stellen diese Beitrags mehr oder minder automatisch zurück zur Frage nach „dem“ Naturrecht kommen werden, eben weil diese Begrifflichkeit stellvertretender Namensgeber für eine der wichtigsten rechtsphilosophischen Fragestellung war und ist . Ich werde den Topos des Naturrechts aber mehr im Sinne eines allgemeineren Nichtpositivismus und weniger in spezifischer Anbindung an „die Natur“ verstehen . Bewegen möchte ich mich der Klarheit wegen – das habe ich schon angedeutet – alleine im Feld des Strafrechts . Hier haben Fragen wie die, ob aus nichtpositivistischen Erwägungen Grenzen für den Staat im Gewand des strafenden Leviathans erwachsen können, eine hervorstechende Berechtigung . Denn in keinem anderen Rechtsgebiet wird mit der gleichen Dramatik auf individuelle Freiheitsverbürgungen zugegriffen, wie es im Strafrecht möglich ist . II. stellungskrIege Die Debatte, die ich nunmehr aufgreifen will, eröffnet den Zugang zu einem Jahrhunderte alten Dualismus zweier unterschiedlicher rechtsphilosophischer Lager . Arthur Kaufmann hat hier einmal von einem fatalen Stellungskrieg gesprochen,7 und ich meine, dass hiermit das dualistische Nebeneinander von streng positivistischen und weniger strengen nichtpositivistischen Rechtslehren treffend gekennzeichnet ist .

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Vgl . nur Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2 . Aufl . 1997, 21 . Vgl . zu diesem Einwand Joachim Lege, Recht als Kulturgut, ARSP 93 (2007), 21 . Kaufmann (Fn . 5), 35 .

Braucht unser heutiges Strafrecht (noch) den philosophischen Horizont eines Naturrechts?

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1. radbruch vs. h. l. a. harT Eine mögliche Personalisierung einer solchen Auseinandersetzung bildet die Kritik ab, die der Oxforder Jurist und Philosoph Herbert Lionel Adolphus Hart an den Lehren von Gustav Radbruch übte . Im Kern geht es dabei um strafrechtliche Erwägungen . Wir erinnern uns: Im Zentrum der rechtsphilosophischen Nachkriegsdebatte über die unfassbaren Gräueltaten, die die Nationalsozialisten unter dem Deckmantel des positiven Rechts begangen hatten, stand die sog . „Radbruchsche Formel“ .8 Radbruch will die Verbindlichkeit geltenden Rechts dann verneinen, wenn der Widerspruch zwischen positivem Recht und der Maxime der Gerechtigkeit ein derart unerträgliches Maß erreicht, dass ein Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat .9 Dem so ausdifferenzierten quantitativen Kriterium der Ungerechtigkeit schickt Radbruch ein weiteres, ein qualitatives Kriterium zur besseren Konturierung seiner Maßstäbe hinterher .10 Dort wo Gerechtigkeit – man möchte ergänzen subjektiv-final – nicht einmal erstrebt werde, wo die Gerechtigkeit bei der Setzung positiven Rechts sogar verleugnet werde, da entbehrt ein Gesetz der Rechtsnatur überhaupt, eben weil sich positives Recht gar nicht anders denken und definieren lässt, als dass es dazu bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen .11 „An diesem Maßstab gemessen“ – so Radbruch wörtlich – „sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde des geltenden Rechts gelangt .“12 Ich halte mich mit einer Einordnung der Lehren Radbruchs an dieser Stelle zunächst noch zurück . Unterstreichen möchte ich jedoch, dass es sich bei den gerade erwähnten zentralen Wendungen aus Radbruchs Rechtsphilosophie nach 1945 jedenfalls um Inhalte handelt, die mit einem strikt positivistischen Rechtsmodell unvereinbar sind .13 Hart hat diese neuere Passage in Radbruchs Rechtsphilosophie unter Rekurs auf die in seinem eigenen Rechtskonzept angelegte Trennung von Recht und Moral (sog . Trennungsthese14) mit teils drastischen Worten kritisiert .15 Radbruchs Thesen beinhalten – so Hart – eine „außerordentliche Naivität“16, die sich durch den Glauben daran manifestiere, die Unterwürfigkeit der deutschen Bevölkerung während des Dritten Reichs habe etwas mit der ausnahmslosen Befolgung der Maxime „Ge8 9 10 11 12 13 14 15 16

Eingehend: Frank Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, passim . Vgl . zudem Hidehiko Adachi, Die Radbruchsche Formel. Eine Untersuchung zur Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs, 2006, passim . Gustav Radbruch, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe Rechtsphilosophie, Bd. 3, hg . von Arthur Kaufmann, 1990, 89 . Ulfrid Neumann, Naturrecht und Positivismus im Denken Gustav Radbruchs, in: „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“ – Aktuelle Probleme des Naturrechts, hg . von Wilfried Hörle u . a ., 2007, 13 . Radbruch (Fn . 9), 89 . AaO . Neumann (Fn . 10), 12 f . Vgl . Armin Engländer, Grundzüge des modernen Rechtspositivismus, Jura 2000, 114; Kühl (Fn . 3), 338 . Hasso Hoffmann, Neuere Entwicklungen in der Rechtsphilosophie, 1996, 11 (spricht von scharfer Kritik) . H . L . A . Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, Harvard Law Review 70 (1958), 617; deutsche Fassung: H . L . A . Hart, in: Recht und Moral, hg . von Norbert Hoerster, 1971, 42 .

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Lutz Eidam

setz ist Gesetz“, selbst wenn es sich um ein unmoralisches Gesetz handelt, zu tun .17 Radbruchs Konzept trage weder dazu bei, die Bevölkerung klarsichtiger zu machen, noch einen eventuellen Widerstandsgeist gegen das Böse zu stärken .18 Hieran anknüpfend geht Hart sogar noch einen Schritt weiter . Er meint, Radbruch habe die Botschaft des geistigen Liberalismus, welche er ja selbst dem Juristenstand zu vermitteln versuche, nur halb verstanden .19 Radbruch unterliege dem Missverständnis, wonach mit der Anerkennung einer Norm auch schon die moralische Frage, inwieweit dieser Norm Folge zu leisten sei, entschieden wird . Dem sei aber keineswegs so . Denn die wahrhaft liberale Antwort auf den Gebrauch der Argumentation „Gesetz ist Gesetz“ ist eine ganz und gar gegenteilige: „Recht ist nicht Moral“ .20 Hart schickt diesen doch eher abstrakt-akademischen Ausführungen einige praktisch orientierte Gedanken zur besseren Sichtbarmachung seiner Kritik an der – seiner Auffassung nach – in Radbruchs Lehren angelegten Hinterfragung der Trennung von Recht und Moral hinterher .21 Er hat dabei mehrere Nachkriegsprozesse im Auge, in denen Radbruchs Formel Anwendung fand .22 Die besondere Bedeutung dieser Fälle liege darin, dass sich die Angeklagten überwiegend mit der Argumentation verteidigten, das, was sie getan hätten, habe im Einklang mit den zur Tat gültigen Gesetzen gestanden .23 Und es habe den Anschein, als seien sich die Disputanten hier über den eigentlichen Charakter der dort zu verortenden Probleme überhaupt nicht im Klaren .24 Hart schildert nun den nachfolgenden konkreten Fall25, der auf einer Entscheidung des OLG Bamberg26 aus dem Jahr 1949 beruht: Im Jahr 1944 hatte eine Frau, die ihren Ehemann loswerden wollte, ihn wegen abfälliger Bemerkungen über Hitler angezeigt . Er wurde zum Tode verurteilt . Allerdings wurde das Urteil nicht vollstreckt . Man zog es vor, den Mann an die Front zu schicken . Das OLG Bamberg bestätigte die Verurteilung der Frau im Jahr 1949 wegen Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft, begangen durch die NS-Richter . Das Verteidigungsvorbringen der Frau, ihre Tat habe im Einklang mit nationalsozialistischem Recht gestanden, konterte das OLG als Revisionsinstanz mit dem – ich räume ein – für den Strafrechtler erst einmal befremdlich klingenden Ausspruch: Dieses Gesetz verstoße „gegen das Billigkeits- und Gerechtigkeitsempfinden aller anständig Denkenden“27 und sei deshalb kein gültiges Recht . Hart hält diese Vorgehensweise nicht für klug, auch wenn hier ein allgemein für Befriedigung sorgendes Ergebnis erzielt wurde . Er kritisiert, dass derartige Urteile den Anschein erwecken, als ließen sich all unsere Werte bruchlos in einem einzigen System unterbringen .28 Das sei aber keineswegs so . Vielmehr zwängen uns solche Fälle, zwischen zwei Übeln das Geringere zu wählen . 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Hart (Fn . 16), 617–618; deutsche Fassung: Hart (Fn . 16), 42 . H . L . A . Hart, Der Begriff des Rechts, 2011 (Suhrkamp-Ausgabe), 247 . Hart (Fn . 16), 618; deutsche Fassung: Hart (Fn . 16), 42 . AaO . Hart (Fn . 16), 618; deutsche Fassung: Hart (Fn . 16), 43 . Allgemeiner hierzu auch Hart (Fn . 18), 245 . Hart (Fn . 16), 618; deutsche Fassung: Hart (Fn . 16), 43 . Hart (Fn . 18), 245 . Gute zusammenfassende Darstellung bei Hoffmann (Fn . 15), 11 f . Abdruck der in Bezug genommenen Entscheidung in SJZ 1950, 207 . Hart (Fn . 16), 619; deutsche Fassung: Hart (Fn . 16), 44 . Hoffmann (Fn . 15), 11 .

Braucht unser heutiges Strafrecht (noch) den philosophischen Horizont eines Naturrechts?

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Diesen Auswahlprozess müsse man sich klarmachen und dabei die Wahl zwischen den sich offenbarenden Übeln in vollem Bewusstsein von dem, was man tut, wie Brennnesseln anfassen .29 Im geschilderten Fall des OLG Bamberg sieht Hart dementsprechend noch mindestens zwei weitere Entscheidungsmöglichkeiten . Erstens, die Frau freizusprechen, damit dem positiven Recht Rechnung zu tragen und dabei die Moralprinzipien aufzuopfern; oder zweitens, die Frau zu verurteilen und dabei unverhüllt einzugestehen, dass diese Verurteilung das strafrechtliche Rückwirkungsverbot verletzt . Damit liegen die beiden Übel30, vor deren Wahl Hart einen Entscheidungsfindungsprozess gestellt sieht, auf dem Tisch . Beschreite man jedoch, wie das OLG Bamberg und zahlreiche weitere Nachkriegsentscheidungen, den Weg, mit Hilfe der Radbruchschen Formel das Dilemma zu leugnen, dann werde die Redlichkeit juristischen Entscheidens aufgeopfert und die eigentlichen moralischen Probleme würden kaschiert .31 Alleine ein Rechtsbegriff, der es erlaube, zwischen Recht und dessen Immoralität zu unterscheiden, befähige uns, die Kompliziertheit und Vielfältigkeit der verschiedenen Probleme zu erkennen .32 Er diene somit der Klarheit .33 Der Ausschluss bestimmter Regeln aus dem Rechtskonzept, obwohl sie alle verbleibenden komplexen Merkmale des Rechts erfüllen, würde nach Hart hingegen zu nichts als Verwirrung führen .34 Da haben wir es also . Ein markantes Beispiel für zwei rivalisierende Positionen von Nichtpositivismus und Positivismus, die allem Anschein nach in scharfem Gegensatz zueinander stehen . Hart selber hat diesen Dualismus übrigens einmal anschaulich mit einem Dialog beschrieben, dessen kurze Wiedergabe den im Schwerpunkt darstellenden Teil dieses Beitrags nun beschließen soll: Der Nichtpositivist, mitunter auch der Naturrechtler sagt: „Ihr seid blind, wenn ihr das nicht seht“, woraufhin der Positivist entgegnet: „Ihr träumt .“35 2. MissversTändnisse Mir scheint, als sei Harts Kritik an den Lehren Radbruchs von einigen Missverständnissen gekennzeichnet, die ich nun gerne herausarbeiten möchte . Radbruch tritt gegenüber dem streng positivistischen Denken frei nach der Maxime „Gesetz ist Gesetz“ für ein verändertes Rechtsdenken ein, wenn er versucht, mit dem gesetzlichen Unrecht und dem übergesetzlichen Recht neue Denkgegenstände im juristischen Argumentationsrepertoire zu implementieren . Es dürfte an dieser Stelle aber zu kurz greifen, Radbruch vorzuwerfen, er habe seinen eigenen geistigen Liberalismus deshalb fehlverstanden, weil er nicht für eine strikte Trennung von Recht und Moral eintrete . Radbruch muss notgedrungen den Horizont der Moralität erst einmal wieder neben dem positiven Recht sichtbar machen, weil ihn der Eindruck verfolgt, dieser Horizont sei über mindestens zwölf Jahre lang, in 29 30 31 32 33 34 35

Hart (Fn . 16), 620; deutsche Fassung: Hart (Fn . 16), 44 . Hierzu auch Engländer (Fn . 14), 115 . Hart (Fn . 16), 619–620; deutsche Fassung: Hart (Fn . 16), 44 . Hart (Fn . 18), 248 f . Engländer (Fn . 14), 115 . Hart (Fn . 18), 246 . AaO ., 219 .

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der Zeit zwischen 1933 und 1945, verschwunden gewesen . Ich halte es durchaus für möglich, dieses Streben nach einem neuen überpositiven juristischen Denken als Ausdruck, wenn nicht sogar als Wegbereiter eines geistigen Liberalismus einzugruppieren, obgleich Hart hier sicherlich vehement widersprechen würde . Das Verständnis des Stichworts des geistigen Liberalismus, das Hart von einer positivistischen Warte her verstanden wissen will, scheint mir nach alledem der tiefere Knackpunkt zu sein, an dem sich Radbruch und Hart unterscheiden . Schauen wir an dieser Stelle also mal etwas genauer hin . Hart möchte in zwei Systemen, dem rechtspositivistischen und dem moralischen System denken, was auf einen seiner Auffassung nach wahren Liberalismus hinauslaufe, eben weil Recht nicht Moral sein könne . Wo aber steht Radbruch hier? Viele Stimmen, zu denen ich in der Tendenz auch H . L . A . Hart zähle, ordnen Radbruchs Ausführungen zum gesetzlichen Unrecht und übergesetzlichen Recht dem inhaltlich-philosophischen Repertoire des Nichtpositivisten, genauer gesagt des Naturrechtlers zu . Der frühere Rechtspositivist36 Radbruch habe sich angesichts der unfassbaren Eindrücke während der Nazizeit zum Naturrechtler gewandelt (sog . Umbruchthese) .37 Es habe in Radbruchs Leben ein sog . „Damaskuserlebnis“38 gegeben, das ihn dazu veranlasst habe, einen – so sagte es Fritz Bauer – „salto vitale“39 hinsichtlich seiner eigenen Lehren zu vollziehen . Das müsste aber schon eine gewaltige Umwälzung der eigenen Grundsätze und Prinzipien gewesen sein, was sich leicht anhand einer Passage aus Radbruchs früherer Zeit in seiner Einführung in die Rechtswissenschaft aus dem Jahr 1910 demonstrieren lässt . Dort heißt es noch über die Idee des Naturrechts, vor dem – so sagt es Radbruch – die abweichende menschliche Gesetzgebung genauso wie der Irrtum vor der Wahrheit erlöschen soll: „‚Natur‘ ist jegliches Geschehen, das Verbrechen ebensowohl wie seine Bestrafung, selbst das ‚Widernatürliche‘, sie sagt uns nur, was ist, nie, was von Rechts wegen sein sollte . Der Gedanke des Naturrechts war also ein Irrtum; aber er war der denkbar fruchtbarste Irrtum: es ist eine alte ‚List‘ der Weltgeschichte, das Recht, das sie zur Geltung bringen will, für bereits in Geltung, und das Recht, das sie außer Kraft setzen möchte, für schon außer Kraft auszugeben, und so hat das 18 . Jahrhundert unter der falschen Fahne des ewig und überall gültigen Naturrechts seine rechtspolitischen Forderungen zum Siege geführt .“40

Radbruch erkennt hier schon sehr früh und in historischer Ansehung der rationalistisch-aufklärerischen Naturrechtsideen des 17 . und 18 . Jahrhunderts41, dass nicht nur positiv gesetztes Recht, sondern eben auch die Maxime des Naturrechts für staatliche Machtdurchsetzung taugt . Damit korrespondiert auch der spätere Umstand, dass im Nationalsozialismus nicht nur der Positivismus pervertiert wurde . Auch der Naturrechtsgedanke wurde instrumentalisiert, indem man sich im Namen eines völ36 37 38 39 40 41

Ein Überblick über frühe rechtspositivistische Positionen Radbruchs findet sich bei Kühl (Fn . 3), 334 ff . Neumann (Fn . 10), 12 . Fritz von Hippel, Gustav Radbruch als rechtsphilosophischer Denker, 1951, 36 . Vgl . auch Kaufmann (Fn . 5), 41, sowie Neumann (Fn . 10), 12 . Fritz Bauer, Das „gesetzliche Unrecht“ des Nationalsozialismus und die deutsche Strafrechtspflege, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, hg . von Arthur Kaufmann, 1968, 302 . Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1910, 22 f . Kurz beschrieben z . B . bei Kaufmann (Fn . 3), 106 .

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kischen Naturrechts über geltende Gesetze hinwegsetzte .42 Im Schrifttum wird hieran anknüpfend deshalb auch die These vertreten, dass der Nationalsozialismus sich weniger der Dummheit von Juristen bedienen wollte, die im Geiste der Begriffsjurisprudenz und des Gesetzespositivismus erzogen worden waren, sondern der an Werten orientierten Bereitschaft der Juristen, dem nationalsozialistischen Naturrecht mit allen Mitteln der Auslegung zum Siege zu verhelfen .43 Doch zurück zu Radbruch . Wer seine frühen Vorbehalte gegenüber dem nichtpositivistischen Topos des Naturrechts zur Kenntnis nimmt, angereichert mit der Erkenntnis, dass sich eben diese Vorbehalte offensichtlich auch während der Herrschaft der Nationalsozialisten bestätigt und realisiert haben, den muss eine mehr oder minder pauschale Eingruppierung Radbruchs nach 1945 als Naturrechtler mit einigem Erstaunen treffen . Und in der Tat meine auch ich, dass es zu kurz greift, Radbruch als geläuterten Positivisten und zeitgleich neu erkorenen Naturrechtler einzuordnen . Zugegeben: Radbruchs spätes Denken enthält durchaus Spuren naturrechtlicher Elemente .44 Man würde ihm und seinen Ideen aber Unrecht tun, wenn man ihn vorbehaltslos als Naturrechtler eingruppiert . Ich möchte daher für die insbesondere von Kaufmann45 und Neumann46 vertretene Auffassung eintreten, die Radbruchs spätes Denken jenseits der Kategorien von Positivismus und Naturrecht verorten möchte . Seine Konzeption der Rechtsgeltung schlägt vielmehr einen Mittelweg zwischen einem radikalen Positivismus und einem substanzontologischen Naturrecht ein . Dieser Mittelweg wird von der Radbruchschen Formel ausgeleuchtet .47 Radbruch baut damit gleichsam eine Brücke, die die alt bekannten antagonistischen Positionen überspannt48 und zugleich auch hinter sich lässt . Das Recht beinhaltet erst einmal alle Rechtsvorschriften, egal ob sie das Ziel der Gerechtigkeit erreichen oder verfehlen .49 Damit wird die Positivität auch in der Radbruch-Formel bis an ihre äußersten Grenzen durchgehalten .50 Dort aber, wo die Normen des Rechts nicht einmal die Intention verfolgen, Gerechtigkeit zu verwirklichen, führt diese fehlende Wertorientierung zur Unverbindlichkeit der betroffenen Regeln . Denn dort entsteht so schreckliches Recht, dass alle positivistischen Begründungen notwendig skandalös werden .51 Wer dieser Einordnung des späten Radbruchs folgt, an dem muss der eigentliche Kern von Harts Kritik abprallen . Denn dann wäre es mindestens missverständlich, Radbruch einen falsch verstandenen Liberalismus dahingehend vorzuwerfen, dass sein Konzept die liberalistische Unterscheidung zwischen Recht und Moral verdecke . Diesen Einwand könnte Radbruchs Konzept vom gesetzlichen Unrecht gut parieren, eben weil es diese Unterscheidung ständig vor Augen haben muss . 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Kaufmann (Fn . 5), 30; Klaus Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, 2536 . Luig (Fn . 42), 2536 . Neumann (Fn . 10), 14 . Kaufmann (Fn . 3), 116 ff .; ders. (Fn . 5), 34 f ., 41 ff . Neumann (Fn . 10), 16 . AaO . Vgl . Kaufmann (Fn . 5), 42 . Vgl . hierzu Gustav Radbruch, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, hg . von Werner Maihofer, 1966, 3: „geringere Widersprüche zwischen Gesetz und Gerechtigkeit müssen im Interesse der Sicherheit des Rechts ertragen werden .“ Wolfgang Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, 1996, 44 . Naucke (Fn . 50), 44 .

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Und auch den am Fall des OLG Bamberg erhobenen Vorwurf, Radbruchs Konzept würde die wahren Alternativen – Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot oder Befolgung des positiven Rechts bei Aufopferung der Moral – kaschieren, ließe sich entgegenhalten, dass in den Fällen, die Radbruch vor Augen hat, die Anwendbarkeit des Rückwirkungsverbots auf staatliche Makrokriminalität bereits fragwürdig wäre . Naucke hat dies in seiner Schrift zur Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität ausgeführt, worauf ich an dieser Stelle verweisen kann .52 Ich will es bei diesen wenigen Punkten belassen und zu guter Letzt noch den Versuch unternehmen, Radbruch und Hart an einem ganz bestimmten Punkt wieder ein wenig miteinander zu versöhnen . Denn ich glaube, dass Hart am Ende mit den grundlegenden Intentionen Radbruchs mehr gemein hatte, als man das erwarten würde . Das zeigt mir eine zentrale Passage aus Harts Rechtsphilosophie, in der es heißt: „Was wir mit Sicherheit viel mehr brauchen, um den Menschen die Klarsicht zu geben, die sie benötigen, wenn sie mit offiziellem Machtmissbrauch konfrontiert werden, ist, dass sie sich den Sinn dafür bewahren, dass die Bestimmung von etwas als rechtsgültig nicht schon automatisch die Gehorsamsfrage entscheidet und dass, so groß auch die Aura der Majestät und Autorität sein mag, die das offizielle Rechtssystem hat, dessen Forderungen letztlich immer einer moralischen Prüfung unterworfen werden müssen .“53

Ich bin mir sicher, dass Radbruch sich mit dieser Positionierung durchaus hätte anfreunden können . Denn nichts anderes als eine letztlich auch moralische Prüfung des positiven Rechts führt uns die Radbruchsche Formel vor Augen . 3. ZwischenFaZiT Ich ziehe ein kurzes Zwischenfazit . An der Kontroverse zwischen Hart und Radbruch wird uns das Gegensatzpaar von Rechtspositivismus und Nichtpositivismus noch einmal deutlich vor Augen geführt . Die genaue Aufschlüsselung von Radbruchs Rechtskonzept hat jedoch gezeigt, dass er die Kontroverse zwischen beiden Lagern dadurch umgehen kann, dass er so etwas wie einen Mittelweg wählt . Das hat zur Folge, dass Harts Kritik an Radbruchs Lehren an Überzeugungskraft einbüßen muss . III. was

BleIBt?

nIchtposItIvIstIsches denken

BeI der

rechtsanwendung?

Wenden wir uns nun noch einmal der Moderne zu, mit der Frage, was heute eigentlich noch bleibt vom alten Streit zwischen Positivisten und Nichtpositivisten, dessen starre Grenzen spätestens seit Radbruch verschwimmen . Lohnt es für den heutigen Strafrechtler überhaupt noch, sich an nichtpositivistische Rechtskonzepte wie das Naturrecht oder sogar an Radbruchs Formel der „lex corrupta“54 zu erinnern – in einer Zeit, in der die modernen Verfassungen doch nahezu all das, was der Nichtpositivist auf dem Herzen hat, verkörpern? 52 53 54

AaO ., 47 ff . Hart (Fn . 18), 247 . Vgl . Kaufmann (Fn . 3), 108 .

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Ich glaube schon . Zunächst möchte ich aber ein wenig Wasser auf die Mühlen der Positivisten gießen . Wahrscheinlich ist es in unseren Zeiten eine unumstößliche Realität, dass der Stellungskrieg zwischen Positivisten und Nichtpositivisten in eine Abnutzungsphase eingetreten ist, die nach dem Austausch alt bekannter Argumente wieder und wieder gezeigt hat, auf welch schwierige Ebene man sich bei dem Versuch begibt, aus einem substanzontologisch verstandenen Naturrecht konkrete Handlungsmaximen für die moderne Rechtsordnung und insbesondere auch für das Strafrecht abzuleiten . Das ist für mich zwar noch kein Argument dafür, dass es Unverfügbares im Recht nicht gibt oder geben kann55, wohl aber ein Hinweis auf die tendenziellen Fallstricke, mit denen jeder seine Mühe haben wird, der aus nichtpositivistischen Horizonten positive Anleitungen für unsere heutigen komplexen Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen abzuleiten versucht . Andererseits möchte ich aber auch nicht so weit gehen, die alte Naturrechtsdoktrin als so etwas wie eine spekulative Schwärmerei abzutun .56 Denn sie hat – auch heute noch – einen Nutzen, den sich insbesondere der Strafjurist vergegenwärtigen sollte . 1. ideelle ausTrocknungen des rechTseMpFindens An den Anfang meiner diesbezüglichen Begründung möchte ich eine Bemerkung von Welzel stellen, der in Anlehnung an zentrale Passagen aus Kants Rechtsphilosophie dargelegt hat, dass mit dem schwindenden Stellenwert der Naturrechtsdoktrin auch der Halt verloren gegangen ist, der über Jahrhunderte hinweg die sittlichen und rechtlichen Überzeugungen der Menschen fest und sicher getragen hat .57 Übertragen in unsere moderne Zeit hieße das: Wir leben in einem Zeitalter, in dem sittlich-rechtliche Überzeugungen und Halterungen des positiven Rechts stark verblasst sind . Stattdessen ist die heutige Zeit von einer ständig anwachsenden Menge positiven Rechts gekennzeichnet, die ihres Gleichen sucht . In der einschlägigen Literatur ist von einer Informationskrise58 und zuweilen sogar – ich räume ein, es klingt etwas pathetisch – von der „totalen Eskalation des positiven Rechts“59 die Rede . Diese Flut an positivem Recht in allen Bereichen des sozialen Zusammenlebens hat – das könnten man nun einwenden – natürlich auch zur Kodifizierung von Verfassungsund Menschenrechten geführt, die nichtpositivistische Anliegen – wir haben das schon ganz am Anfang gehört – miterledigen . Befürchtet wird aber gleichzeitig auch, dass die Überdehnung des positiven Rechts zu einer allgemeinen Gesetzesgläubigkeit und einer Fokussiertheit auf das System des positiven Rechts führt, die nicht nur ein in gewissen Situationen durchaus förderliches eigenverantwortliches Handeln hemmt . Nein, es besteht auch die Gefahr, dass der Bürger wie auch der Juristenstand ideell austrocknet .60 Wenn die Dogmatik des positiven Rechts aber die 55 56 57 58 59 60

Vgl . idS . auch Kaufmann (Fn . 5), 34 . So auch Kühl (Fn . 3), 346 . Hans Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, 18 . Hierzu mwN . etwa Christine Löw, Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB, 2002, 255 . Löw (Fn . 58), 260 (Hervorhebung im Original) . Vgl . Christian Starck, Übermaß an Rechtsstaat?, ZRP 1979, 212 .

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rechtlichen Ideale, für deren Betonung die Grundlagenwissenschaften wie etwa die Rechtsphilosophie zuständig sind, in Vergessenheit oder in den Hintergrund geraten lässt, dann besteht die ernst zu nehmende Gefahr, dass ein Paragraphenwerk allzu leicht in formaler Begriffslogik erstarrt .61 Das alles klingt nun sicherlich ein wenig danach, als wollte ich mich geradewegs zurück zur Radbruch-Hart-Kontroverse begeben, und den alten Streit von Positivismus und Nichtpositivismus wieder von Neuem aufrollen . Denn es klingt, als wäre ich wieder an dem Punkt angekommen, an dem Hart mir vorwerfen könnte, ich sei naiv, weil ich aus der Maxime „Gesetz ist Gesetz“ so etwas wie eine Unterwürfigkeit der Bevölkerung herzuleiten versuche . Das wäre allerdings nur die halbe Wahrheit . Denn wir stehen heute gottlob vor anderen Bedingungen und einer gänzlich anderen staatlichen Ausrichtung als noch vor 70 Jahren . Und doch meine ich, dass der prinzipielle Ausgangspunkt der Radbruch-Hart-Kontroverse, mit der wir uns eben so ausführlich auseinandergesetzt haben, auch in unseren Zeiten eine gewisse Aktualität hat – freilich in einem qualitativ ganz anderen Gewand . Deshalb will ich auch nicht für einen Transfer von Radbruchs Formel in unsere Zeiten plädieren, eben weil Radbruch stark unterschiedliche Unrechtskonstellationen vor Augen hatte . Wohl aber für eine stete Erinnerung an den bereits bei und von Radbruch ausgeprägten Gedanken der Überpositivität . Sie werden mich jetzt sicherlich mit einigem Unverständnis nach einem Beispiel für diese Behauptung fragen, und ich kann Sie beruhigen . Ich habe Ihnen natürlich ein Beispiel zur Verdeutlichung meiner These mitgebracht . 2. ein beispiel Stellen wir uns einmal den folgenden Fall vor . Eine junge Frau in sozial schwachem Umfeld führt ein Leben, das eigentlich nur von Problemen gekennzeichnet ist . Jeder Tag ist ihr eine Last . Plötzlich wird diese Frau ungewollt schwanger, und ihr wird klar, dass ein Kind in ihrer jetzigen Lebenssituation die Probleme nur noch verschärfen würde . Es passt einfach nicht, weil die Frau gerade genug mit sich selbst zu tun hat . Sie verdrängt das Thema Schwangerschaft fortan, so gut es geht, bis sie ihr Kind durch eine heimliche Hausgeburt zur Welt bringt . Das schreiende Kind führt die Frau, die komplett ohne helfendes Umfeld dasteht, an den Rand der Verzweiflung . Das alles geht so weit, dass ihr schlimmste Gedanken kommen, etwa sich des Kindes durch eine Aussetzung zu entledigen . Genau für solche soziale Notlagen ist das Hilfskonzept der Babyklappe konzipiert .62 Anstatt Leib und Leben des Kindes durch eine Aussetzung zu gefährden, bietet dieses Hilfskonzept der Mutter die Möglichkeit, ihr Kind unter Wahrung von Anonymität in helfende Hände zu geben . Das Kind wird hier bestens und aufwendig umsorgt, und die Mutter hat Zeit, sich um sich selbst zu kümmern und erst einmal wieder durchzuatmen . Ziel der Hilfseinrichtung der Babyklappe ist dabei, Mutter und Kind über mehrere Wochen intensiv zu betreuen und sie dadurch wieder zusammenzubringen .63 Das setzt freilich die Be61 62 63

Claus Roxin, „Schuld“ und „Verantwortlichkeit“ als strafrechtliche Systemkategorien, in: Festschrift für Heinrich Henkel, hg . von Claus Roxin, 1976, 182 . Winfried Hassemer / Lutz Eidam, Babyklappen und Grundgesetz, 2011, 8 ff . Vgl . Hassemer/Eidam (Fn . 62), 13 f .

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reitschaft der Mutter hierzu voraus und auch die Bereitschaft dazu, sich zu offenbaren . Sollte eine Zusammenführung von Mutter und Kind nicht gelingen, wird ein formaler Adoptionsprozess eingeleitet . Für den Fall, den ich geschildert habe, ist es sicherlich unbestreitbar, dass die Babyklappe sinnvolle Hilfe leisten kann . Natürlich sind aber nicht alle Fälle gleich, und auch die Wahrnehmungen des Phänomens der Babyklappe sind so unterschiedlich, dass über ihre rechtliche Zulässigkeit eine scharfe Diskussion entbrannt ist . Sie werden es kaum für möglich halten, aber auch das Strafrecht beteiligt sich an diesem Diskurs . Es gibt eine Reihe von Autoren im Schrifttum, die eine Bestrafung einer jeden Mutter, die eine Babyklappe in Anspruch nimmt, aufgrund von § 169 StGB wegen Personenstandsunterdrückung fordern .64 Die Argumentation geht so: § 169 StGB normiert die strafbewehrte Pflicht, die Geburt eines Kindes dem Standesamt anzuzeigen . Die Vorschrift verfolgt das Ziel, die Abstammungsverhältnisse eines jeden neu geborenen Menschen klar zu ordnen . Gibt eine Mutter ihr Kind in die Babyklappe, kommt es naturgemäß nicht zu einer Meldung der Abstammungsverhältnisse an das Standesamt, und sie macht sich strafbar . Ein solches Rechtsverständnis stehe im Einklang mit Personenstandsgesetz und Familienrecht, die allesamt das Phänomen der Babyklappe nicht kennen und auf die die Babyklappe störend einwirke . Punkt, Ende, Aus . Diese Ansicht wird derzeit schon seit über zehn Jahren vertreten, und ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich hier noch die Information ergänze, dass ich Ihnen eben gerade die Rechtsansicht der absolut h . M . referiert habe . Die Debatte leidet – das ist meine feste Überzeugung – unter einem verengt positivistischen Blickwinkel, den ich wie folgt zusammenfassen würde: Babyklappen sind mit dem positiven Recht nicht zu vereinbaren, und wenn formaljuristisch sogar eine Strafnorm einschlägig ist, dann muss man die eben anwenden . Dieser Falle des – ich betone: „einfachen“ – positiven Rechts kann man nur entkommen, wenn man nichtpositivistisches Gedankengut mit in den großen Abwägungstopf einbezieht . Kann es sein, dass Vorschriften des positiven Rechts, die nicht einmal im Ansatz die Notsituation, die in unserem Beispielsfall vorlag, in ihren Konzepten der Ordnung vorgesehen haben, eine abschließende Lösung unseres Falles herbeiführen? Sicher nicht . Der geschulte Nichtpositivist wird das erkennen und sich auf die Suche nach Auswegen aus diesem Dilemma begeben . Wie wäre es, diesen Streit von der Ebene des einfachen positiven Rechts abzulösen und ihn auf eine höhere Ebene, etwa das Verfassungsrecht zu heben?65 Denn hier hat unsere Rechtsordnung doch noch einiges mehr im Köcher als das der Ordnung verpflichtete Abstammungsrecht . Hier entdecken wir in Art . 6 Abs . 4 GG, dass die staatliche Gemeinschaft einer Mutter Schutz und Fürsorge verspricht, und noch vieles mehr . So eröffnen sich plötzlich Möglichkeiten, einer anderweiten rechtlichen Beurteilung . Und auch die Strafbestimmung des § 169 StGB ließe sich mit verfassungsrechtlichen Erwägungen in ihre

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Paradigmatisch für die Perspektive der Staatsanwaltschaft etwa Stephan Neuheuser, Begründet die Weggabe eines Neugeborenen in einer Babyklappe den Anfangsverdacht einer Straftat?, NStZ 2001, 177; ders ., Babyklappe und anonyme Geburt, ZRP 2003, 216; ders ., Strafrechtliche Bewertung sogenannter Babyklappen in der Praxis, Kriminalistik 2005, 739; ders., Straftaten an der sogenannten Babyklappe, ZKJ 2006, 459 . Ausführlich hierzu Hassemer/Eidam (Fn . 62), 55 ff .

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Schranken weisen .66 Sicherlich könnte man nun einwenden, dass es hier immer noch keiner nichtpositivistischen Erwägungen bedürfe, eben weil die Verfassung alle Grundsätze zur ordnungsgemäßen Auflösung unseres Dilemmas bereithält . Die Debatte um die Zulässigkeit sog . Babyklappen zeigt mir aber, dass bereits das Erkennen der Notwendigkeit, ein Störgefühl zu entwickeln und höherrangiges Recht zu Rate zu ziehen, enorm schwach ausgeprägt ist . Die Debatte verlief und verläuft weitgehend auf Ebene des einfachen positiven Rechts, bei dessen Anwendung die jeweiligen Akteure oftmals gar nicht auf die Idee kommen oder den Drang verspüren, weitere Ebenen zu konsultieren . Es ist genau die Stelle, an der ich nichtpositivistisches Denken, vielleicht sogar Naturrechtsdenken für überaus notwendig empfinde . Es soll, wenn man so will, bei problematischen Rechtsanwendungsfällen das Bewusstsein dafür stärken, die Grundsätze des höherrangigen Rechts zusätzlich bei der Anwendung und der Auslegung des einfachen Rechts zu konsultieren und dem Gedanken einer alternativen Lösung jedenfalls einen gedanklichen Raum geben . Nicht mehr, aber auch nicht weniger . Iv. schluss Ich komme zum Schluss und will ein kurzes Fazit anhand einiger Thesen versuchen . – –

– – –



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Die Debatte zwischen dem Positivismus und dem Nichtpositivismus kennt spätestens seit Radbruch auch eine weitere Position, einen Mittelweg . Dieser Mittelweg erkennt weitestgehend einen positivistischen Rechtsbegriff an, hält für nichtpositivistische Erwägungen aber eine explizite Hintertür offen, die allerdings nur bei besonders krassen Widersprüchen zum Ideal der Gerechtigkeit verfügbar ist . Nichtpositivistische Erwägungen taugen bestenfalls zu negativen Qualifizierungen bestimmter Regelungen .67 Sie vermitteln ein Störgefühl und können zur Hinterfragung des positiven Rechts führen . Nahezu alle nichtpositivistischen oder auch naturrechtlichen Erwägungen sind mittlerweile auf Ebene des höherrangigen Rechts enthalten . Letzteres sollte aber nicht dazu führen, den Nichtpositivismus in die Annalen der Geschichte zu verbannen . Die Informationsflut des heutigen positiven Rechts führt nicht selten dazu, dass höherrangiges Recht im Einzelfall nicht wahrgenommen wird . Hier kann der Denkansatz eines negativ abqualifizierenden Nichtpositivismus, so wie er im Prinzip schon in der Radbruchschen Formel enthalten ist, den Blick ins höherrangige Recht veranlassen, zu dem es ansonsten nicht kommen würde . Wenn all das nur dazu führt, dass eine juristische Debatte mit alternativen Lösungserwägungen angestoßen wird, die selbstverständlich im Einklang mit dem positivem Recht stehen, kommt einem nichtpositivistischen Denken bereits

Dazu Lutz Eidam, Strafrechtliche Fragen der Babyklappe und der anonymen Geburt, in: Strafrecht der Medizin: Handbuch für Wissenschaft und Praxis, hg . von Frank Saliger / Michael Tsambikakis, im Erscheinen . Vgl . Kühl (Fn . 3), 356 .

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eine wichtige und nicht zu vernachlässigende Funktion zu: Es schlägt eine Brücke und öffnet Türen . Soweit meine thesenartigen Ergebnisse, an denen sich zeigt, dass Winfried Hassemer Recht behalten sollte . Wir benötigen in unseren Zeiten kein überpositives Naturrecht mehr, um ein verkrüppeltes positives Gesetz geradezubiegen oder hinwegzuschwemmen . Das kann bereits das höherrangige positive Recht für uns erledigen . Gleichzeitig tun wir aber insbesondere als Strafrechtler gut dran, uns bei allem Nutzen, den der Positivismus für die Rechtstheorie haben mag68, ein nichtpositivistisches Denken nicht nehmen zu lassen .

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Vgl . Kaufmann (Fn . 3), 116 .

Frieder vogelMann, breMen das zur

delIBeratIve menschlIchen

BedürfnIs natur

der

dIskurstheorIe

des

rechts

Der Titel klingt widersinnig: Was hat die Diskurstheorie des Rechts, die ihre rechtsphilosophischen Überlegungen auf sprachtheoretische Grundlagen stützt, mit einer „Natur“ zu schaffen, gar mit einer „Natur des Menschen“? Ist nicht die deliberative Person als Kern der Diskurse ein rein über sprachlich-argumentative Fähigkeiten definiertes Konstrukt, das gerade keine „natürlichen Bedürfnisse“ in die Diskurstheorie des Rechts trägt? Am Beispiel von Klaus Günthers Aufnahme und Weiterentwicklung der Habermas’schen Diskurstheorie des Rechts möchte ich Zweifel an dieser Vorstellung wecken . Dazu zeichne ich zunächst Klaus Günthers Diskurstheorie des Rechts und insbesondere die Verfasstheit der deliberativen Person als Kompetenzbündel nach (I) . Im dafür zentralen Begriff „kommunikativer Verantwortung“ wird ein Rechtfertigungsbedürfnis sichtbar, das mit dem „anthropologisch-juridistischen Zirkel“ der Diskurstheorie des Rechts verknüpft ist: dem Zurücklesen rechtsphilosophischer Begriffe in die Sprachtheorie, die dort zur obersten Prämisse für die theoretische Explikation von Sprache avancieren und dank dieser diskursiven Verankerung wiederum die Diskurstheorie des Rechts begründen . Meiner kritischen Diagnose zufolge stützt sich die Diskurstheorie des Rechts also auf eine (straf)rechtliche Theorie von Sprache und schreibt diesen Zirkel in die Natur der Subjekte als rechtsfertigungsbedürftige Verantwortungsträger_innen ein (II) . Zuletzt verdeutlicht das Scheitern der Begründungen des im universalpragmatischen Unterbau der Diskurstheorie des Rechts verankerten „deliberativen Bedürfnisses“, die die Rechtfertigungsbereitschaft mal aus der kommunikativen Freiheit (Möglichkeit zur Ja/Nein-Stellungnahme), mal aus der Definition des einverständnisorientierten kommunikativen Sprechakts ableiten, wie das Rechtfertigungsbedürfnis zur Natur des deliberativen Subjekts gemacht wird und welches uneingestandene Bedürfnis sich dahinter verbirgt (III) . I. delIBeratIve personen Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Legitimität einer Rechtsordnung und individuellen Schuldzuweisungen an Personen, die Rechtsnormen aus dieser Rechtsordnung verletzt haben?1 Mit dieser Frage beginnt Klaus Günther seine rationale Rekonstruktion des strafrechtlichen Verantwortungsbegriffs, denn es ist das in Verantwortungszuschreibungen implizite Personenkonzept, so Günthers These, das in 1

Dieser Abschnitt sowie Teile des zweiten basieren auf Frieder Vogelmann, Im Bann der Verantwortung, 2014, Kapitel 4 .2; sowie ders ., The Circle of Criminal Responsibility . Juridicism in Klaus Günther’s Discourse Theory of Law, ARSP 100 (2014) . Gegenüber diesen Texten mache ich hier den Schritt von der Kritik an Günther hin zur Verallgemeinerung der Kritik am zugrundliegenden Bild der Sprache (siehe vor allem Abschnitt III) .

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Frieder Vogelmann

angemessener Auslegung eine „Brücke bilden [kann] zwischen dem Legitimitätsanspruch der Rechtsordnung und den Anforderungen an die Normbefolgung, deren Verletzung als ‚Schuld‘ zuzurechnen wäre“ .2 Weil jede Verantwortungsattribution eine Person zum Ziel habe, setze sie (mindestens implizit) ein Personenkonzept voraus, d . h . eine „gesellschaftliche Konstruktion“,3 die angibt, was Person zu sein bedeutet . Solche Personenkonzepte können laut Günther auf zwei Ebenen liegen: Das „tiefengrammatische“ Personenkonzept weise diejenige, auf die es angewandt wird, als „Mitglied einer Lebensform [aus], die eine Handlungen-Personen-Sprache verwendet“ .4 Im Gegensatz dazu stünden Beschreibungen, die dem fraglichen Individuum sein Verhalten nicht mehr als Handlung zurechnen, sondern nur noch als beobachtbare Ereignisse mit dem so objektivierten Individuum verknüpfen .5 Das „oberflächengrammatische“ Personenkonzept sei hingegen zentral für die „schrittweise Umwandlung der primären in eine sekundäre Abweichung, die aus einer normverletzenden Handlung die Tat eines Außenseiters macht“ .6 Solche Zuschreibungen würden Normverletzer_innen zwar in die Lebensform derjenigen inkludieren, die sich mithilfe einer Handlungen-Personen-Sprache beschreiben, sie aber zugleich aus dem Kreis der „guten“ Bürger_innen exkludieren .7 Das gesuchte Personenkonzept, das als „Brücke“ zwischen der Legitimierung des Rechtssystems und den individuellen Verantwortungszuschreibungen für Normverletzungen fungieren kann, darf Günther zufolge kein „oberflächengrammatisches“ Personenkonzept sein, da es als solches ethische oder moralische Vorstellungen in die Rechtfertigung des Rechts tragen würde . Doch „[d]ie Beteiligten an einer Kontroverse über die Zuschreibung individueller Verantwortung […] müßten sich selbst und einander wechselseitig als Personen anerkennen, die über eine jeweils andere ethische Identität in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft oder Lebensform verfügen, zugleich aber auch trotz ihrer verschiedenen Identität als Personen Gleiche sind .“8

Damit bleibt das „tiefengrammatische“ Personenkonzept, das jedem handlungsfähigen Subjekt zukomme und daher von den konkreten Regeln vorausgesetzt werde, nach denen die oberflächengrammatischen Personenkonzepte funktionieren würden . Es lässt sich, so Günthers zentrale These, als „deliberative Person“9 mithilfe von Habermas’ Sprachtheorie ausformulieren10 und zeichnet eine deliberative Person durch drei Fähigkeiten aus: die kommunikative Fähigkeit, kritisch Stellung zu nehmen, die argumentative Fähigkeit, an Diskursen teilzunehmen, und die Fähigkeit, ein schöpferisches Selbstverständnis auszubilden, so dass sie sich als Autorin der eigenen Handlungen und Äußerungen begreifen kann . 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Klaus Günther, Schuld und kommunikative Freiheit. Studien zur personalen Zurechnung strafbaren Unrechts im demokratischen Rechtsstaat, 2005, 245 . AaO ., 192 . AaO ., 198 . Günther nennt als Beispiel den „Patienten, der klinische Symptome zeigt, die medizinischer Behandlung bedürfen“ (aaO ., 198 f .) . AaO ., 192 . Hervorhebungen entstammen, sofern nicht anders angegeben, dem Original . Vgl . aaO ., 198–203 . AaO ., 236 . AaO ., 246 . Vgl . aaO ., 246–248; Klaus Günther, Communicative Freedom, Communicative Power, and Jurisgenesis, Cardozo Law Review 17 (1996), Heft 4/5 .

Das deliberative Bedürfnis

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Die kommunikative Fähigkeit der deliberativen Person beinhalte, sich reflexiv von Handlungen und Äußerungen distanzieren zu können, um kritisch Stellung zu nehmen . „Kritisch“ wird dabei von Günther als „mit Gründen“ übersetzt, mit denen die deliberative Person kognitiv ihre Stellungnahmen begründen und die sie durch einen „volativen Akt“11 handlungswirksam werden lassen könne . Ein besonderer Stellwert komme der reflexiven Ausübung der kommunikativen Fähigkeit zu, mit der sich deliberative Personen auch gegenüber den eigenen Handlungen und Äußerungen kritisch verhalten, sich also selbstreflexiv aus einer kritischen Perspektive betrachten und diese Betrachtung in Handlungen umsetzen könnten . Zweitens müsse die deliberative Person die argumentative Fähigkeit haben, an Diskursen teilzunehmen, denn nur aus ihnen könnten Gründe hervorgehen . Das impliziere nicht, dass sie tatsächlich an solchen Argumentationen teilnehme oder sich von den dort als besten erkannten Gründen überzeugen lasse; stellvertretend könne eine Argumentation auch als Selbstgespräch erfolgen: „Für die Zuschreibung [eine deliberative Person zu sein; F . V .] genügt es, daß die Person die Fähigkeit besitzt, die Gründe, auf welche sie ihre kritische Stellungnahme zu eigenen Äußerungen und Handlungen stützt, argumentativ zu überprüfen – daß sie ‚überlegen‘ kann .“12 Dank der Fähigkeit, ein schöpferisches Selbstverhältnis entwickeln zu können, sei es der deliberativen Person drittens möglich, sich als Quelle ihrer eigenen Handlungen und Äußerungen begreifen zu können und als solche auch von Dritten behandelt zu werden . Diesem Vermögen liege die kommunikative Fähigkeit zur kritischen Stellungnahme zugrunde, aufgrund derer der Person Handlungen und Äußerungen zugeschrieben würden und sie als Autorin auftreten könnte . Weil die deliberative Person in ihrer Eigenschaft als Autorin als frei betrachtet werde, bezeichnet Günther die vorausgesetzte kommunikative Fähigkeit auch als „kommunikative Freiheit“ .13 Sie sei keine der Person intrinsisch zukommende Freiheit, sondern gehe auf die Zurechnung deliberativer Fähigkeiten durch die anderen Mitglieder der Lebensform zurück . Wie lässt sich mithilfe dieses Personenkonzepts der „deliberativen Person“ die Legitimierung der Rechtsordnung mit den individuellen Verantwortungszuschreibungen für die Verletzung von Rechtsnormen verknüpfen? Über demokratische Verfahren, in denen legitime Rechtsnormen allein gesetzt werden können . In ihnen kommt die deliberative Person Günther zufolge in einer besonderen „Ausprägung“ vor: nicht als ethische, moralische oder rationale Person, sondern als zugleich Staatsbürger_in und Rechtsperson .14 Diese spezifische Inanspruchnahme der deliberativen Person verdankt sich zwei Unterschieden, die demokratische Verfahren von 11 12 13 14

Günther (Fn . 2), 246 . AaO ., 247 . AaO ., 248 . Die verschiedenen Personenbegriffe gehen jeweils aus der Art der Diskurse und den in ihnen gebrauchten Argumenten hervor: Eine deliberative Person muss in einem moralischen Diskurs die mit ihren Stellungnahmen erhobenen Geltungsansprüche mit Gründen unterstüzen, die für alle deliberativen Personen gelten können, um als moralische Person zu agieren . Analog ist die ethische Person eine in ethischen Diskursen ausgeprägte Form der deliberativen Person, deren Geltungsansprüche sich auf Gründe stützen, die in Hinsicht auf ihr Selbstverständnis und ihre Selbstverwirklichung gelten (vgl . Günther [Fn . 2], 249 f .) . Günther folgt hier den Differenzierungen von Rainer Forst (Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus

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Diskursen absetzen . Denn anders als Diskurse setzen demokratische Verfahren erstens unter Zeitdruck durch Mehrheitsentscheidungen positives Recht, das zweitens auch für jene gilt, die nicht am Verfahren teilgenommen oder eine von der Mehrheit abweichende Meinung vertreten haben . Die Geltung des Rechts bezieht sich daher einerseits auf die deliberative Person als Staatsbürgerin, die über das subjektive Recht auf politische Teilnahme an den demokratischen Prozeduren der Rechtssetzung verfügt (ohne freilich zur Teilnahme verpflichtet zu sein) . Andererseits sind deliberative Personen nicht nur als potentielle Autor_innen, sondern auch als Adressat_innen des Rechts zur Befolgung von in demokratischen Verfahren zustande gekommenen Rechtsnormen verpflichtet . Für Rechtspersonen hängt die Verpflichtung zur Normbefolgung von der kommunikativen Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion ab: Das Recht überlässt es der Rechtsperson, aus welchen Gründen sie der Norm folgt; ja, solange sie diese Norm in den eigenen Handlungen nicht verletzt, kann sie die Norm gänzlich ablehnen . Die Rechtsperson muss sich also weder die Norm noch ihre Begründung zu eigen machen, kann aber dazu verpflichtet werden, ihre Ablehnung nur durch den Wechsel in die Staatsbürgerrolle in demokratischen Verfahren Ausdruck zu verleihen . Es muss daher sowohl das Recht auf politische Teilnahme an den demokratischen Verfahren als auch die (reale) Möglichkeit dazu geben .15 Der deliberative Personenbegriff zeichnet sich also durch seine interne Spannung zwischen Staatsbürger_in und Rechtsperson aus: „Auf der einen Seite wird die Rechtsperson nicht an den Staatsbürger assimiliert, dessen vornehmste Tugend in seiner Aktivität für das Gemeinwohl bestünde und der deswegen auch als Bürger sittlich verpflichtet wäre, Unrecht zu vermeiden . Auf der anderen Seite wird die Rechtsperson vom Staatsbürger nicht vollständig entkoppelt, indem die Pflicht zur Normbefolgung auf die reine Positivität des Rechts, unabhängig von der Legitimität, gegründet würde . Der demokratische Rechtsstaat lebt von dem geregelten und institutionalisierten Wechsel zwischen den Rollen des Staatsbürgers und der Rechtsperson, nicht von ihrer Vermischung oder von ihrer Trennung .“16

Den legitimen individuellen Zurechnungen von Verantwortung für eine Normverletzung erlegt dieser Personenbegriff zwei Bedingungen auf: Erstens kann eine Zurechnung nur auf eine deliberative Person erfolgen; strafrechtliche Verantwortung kann also ausschließlich solchen Individuen zugerechnet werden, denen auch die kommunikative Fähigkeit zur kritischen Stellungnahme bezüglich eigener und fremder Handlungen und Äußerungen zugeschrieben werden kann . Diese Fähigkeit ist folglich „das allgemeine Kriterium für die Zurechnungsfähigkeit der Rechtsperson“ .17 Rechtspersonen – und damit das Ziel strafrechtlicher Verantwortungszuschreibung – können nur deliberative Personen sein . Zweitens kann eine Rechtsperson nur dann schuldig sein, wenn sie ihre kommunikative Fähigkeit selbstreflexiv ausüben kann . Nur wenn sie ihre eigene normverlet-

15

16 17

und Kommunitarismus, 2004), der anhand von Rechtfertigungskontexten vier Personenbegriffe – ethisch, politisch, moralisch und rechtlich – unterscheidet . Vgl . aaO ., 252 . Weil die Zumutung, die Ablehnung der Rechtsnorm nicht handlungsleitend zu machen, nur für die Rechtsperson gilt, folgt, dass die moralische Person nicht an diese Pflicht gebunden ist: ziviler Ungehorsam findet hier seine Nische in Günthers Rechtstheorie (vgl . aaO ., 252 f .) . AaO ., 253 . AaO ., 255 .

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zende Handlung kritisch aus Sicht dieser Norm beurteilen und in die Rolle der Staatsbürgerin wechseln kann, um ihre Ablehnung vorzubringen, ist ihr als Rechtsperson zuzumuten, ihre Ablehnung der Norm nicht handlungsleitend werden zu lassen . Günthers abstrakter Schuldbegriff beruht also auf der „äußerlichen Konfrontation“ der Rechtsperson mit „einer zurechenbaren, normverletzenden Handlung“ .18 Alle weiteren Ausgestaltungen bleiben den demokratischen Verfahren überlassen, in denen die Staatsbürger_innen als Autor_innen des Rechts über die Bedingungen entscheiden, unteren denen Personen als zurechnungsfähige Rechtspersonen gelten: „Der strafrechtliche Schuldbegriff geht aus einem praktischen Zirkel hervor, in dem die Staatsbürger einander stets als freie und gleiche deliberative Rechtspersonen anerkennen und zugleich darüber entscheiden müssen, wie sie einander als Freie und Gleiche anerkennen . Man könnte diesen Zirkel auch so ausdrücken, daß die Staatsbürger mit dem Schuldbegriff Verantwortung dafür übernehmen, wie sie einander Verantwortung zuschreiben .“19

Strafrechtliche Verantwortungszuschreibungen vor Gericht sind dieser knappen Zusammenfassung von Günthers komplexem Modell nach also erstens von der Legitimität der Rechtsordnung abhängig, die in demokratischen Verfahren zustande gekommen und auch weiterhin in solchen Prozeduren gestaltbar sein muss . Als Staatsbürger_innen müssen die deliberativen Personen, denen als Rechtspersonen eine normverletzende Handlung zugeschrieben werden soll, das Recht und die Möglichkeit zur Teilnahme an den demokratischen Verfahren der Rechtssetzung besitzen . Zweitens muss ihnen, damit sie überhaupt zurechnungsfähig sind, die kommunikative Fähigkeit zur kritischen Stellungnahme gegenüber eigenen und fremden Handlungen und Äußerungen zugeschrieben werden können; Rechtspersonen müssen also deliberative Personen und als solche Autor_innen der eigenen Handlungen und Äußerungen sein . II. kommunIkatIve verantwortung Obgleich ich einige schwerwiegende Probleme in dieser Konstruktion sehe, die sich aus dem theoretisch nicht eindeutig geklärten Verhältnis der verschiedenen Rollen ergeben, die die deliberative Person spielen können muss,20 werde ich diese Schwierigkeiten hier übergehen, um mich stattdessen mit der entscheidenden Existenzbedingung von Günthers Lösung zu beschäftigen: dem Bild der Sprache, das für Günthers Begriff der deliberativen Person vorausgesetzt werden muss und das die untergründige Zuschreibung eines quasianthropologischen Bedürfnisses nach Rechtfertigung ent18 19 20

AaO . AaO ., 256 . Unklar bleibt der theoretische Status von Staatsbürger_in und Rechtsperson . Wenn sich die deliberative Person als „kleinster gemeinsamer Nenner“ (Klaus Günther, Welchen Personenbegriff braucht die Diskurstheorie des Rechts? Überlegungen zum internen Zusammenhang zwischen deliberativer Person, Staatsbürger und Rechtsperson, in: Das Recht der Republik, hg . von Hauke Brunkhorst / Peter Niesen, 1999, 85) aller Ausprägungen wie der rationalen, ethischen oder moralischen Position intern in die Rolle von Rechtsperson und Staatsbürger_in „verzweigen“ (Günther [Fn . 2], 249), können diese nicht ebenfalls besondere Ausprägungen der deliberativen Person sein, sondern müssten als interne Aspekte aller ihrer Ausprägungen begriffen werden . Welche gravierenden Schwierigkeiten sich daraus für Günthers Position ergeben, demonstriert Vogelmann, The Circle of Criminal Responsibility (Fn . 1) .

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hält .21 Um dahin vorzudringen ist es jedoch zunächst erforderlich, jene fundamentale „kommunikative Verantwortung“ in den Blick zu kriegen, die den Kern sowohl von Günthers Bild der Sprache als auch der deliberativen Person ausmacht . Die Tatsache, dass deliberative Personen wesentlich über eine von der kommunikativen Fähigkeit implizierte „kommunikative Verantwortung“ definiert sind, ist schnell einzusehen . Denn die kommunikative Fähigkeit, „erhobene[] Geltungsansprüche mit überzeugenden Gründen gegen Kritik zu verteidigen“22 oder von anderen erhobene Geltungsansprüche begründet zu kritisieren, impliziert laut Günther auch die Bereitschaft, diese Fähigkeit auszuüben, sobald sich die deliberative Person mit anderen im Diskurs befindet . Diese Bereitschaft, die eigenen erhobenen Geltungsansprüche zu begründen, „gehört bereits zur Bedeutung des Geltungsanspruchs, der mit einer sprachlichen Äußerung gegenüber einem anderen erhoben wird“ .23 Die deliberative Person muss also fähig und bereit sein, für ihre Äußerungen mit Gründen „einzustehen“, da es ansonsten für ihr Gegenüber nicht sinnvoll wäre, mit kritischen Stellungnahmen auf die Äußerung zu reagieren . Die kommunikative Fähigkeit, erhobene Geltungsansprüche verteidigen zu können, impliziert laut Günther also die Bereitschaft oder Verpflichtung, dies auch tatsächlich zu tun, was auf eine Verantwortung für die von einem selbst erhobenen Geltungsansprüche hinausläuft: „Neben der Bedeutungsidentität sprachlicher Äußerungen und der idealisierten Gültigkeit des mit einem Sprachakt erhobenen Anspruchs ist die Zurechnungsfähigkeit von Sprecher und Hörer eine der kontrafaktischen Idealisierungen, die zu den konstitutiven Elementen des ‚Telos der Verständigung‘ gehört, die dem kommunikativen Sprachgebrauch innewohnt .“24

Diese „idealisierte Unterstellung der Zurechnungsfähigkeit“,25 die Günther an andere Stelle als die mit jeder kommunikativen Beziehung zwischen Personen notwendig verknüpfte Verantwortung bezeichnet,26 ist eine der Sprache innewohnende fundamentale Verantwortung, die den Kern der deliberativen Person ausmacht . Ihre Bedeutung tritt am klarsten in Günthers Aufsatz „Communicative Freedom, Communicative Power, and Jurisgenesis“ (1996) zu Tage, in dem Günther die motivationale Kraft anerkannter Geltungsansprüche von Handlungsgründen und die aus dieser Anerkennung erwachsenden Verpflichtungen aus der „kommunikativen Freiheit“ herleitet . Kommunikative Freiheit als Möglichkeit der Stellungnahme gegenüber Geltungsansprüchen ist – Günther folgt hier Habermas27 – negativ strukturiert: Ihr grundlegender Akt sei die Ablehnung eines Geltungsanspruchs und habe primär die pragmatische Signifikanz, die mit der Äußerung erhobenen Geltungsansprüche nicht anzuerkennen . Die Zustimmung zu diesen sei folglich eine doppelte Negation, d . h . die Ableh21

22 23 24 25 26 27

Ich gebrauche den Ausdruck „Bild der Sprache“ im Sinne Wittgensteins, der damit die impliziten Vorstellungen bezeichnet, die noch unsere Theorien von Sprache zumeist unbemerkt anleiten (vgl . besonders Ludwig Wittgenstein, Philosophisches Untersuchungen, in: Werkausgabe, 2000, § 1 und § 115) . Günther, Welchen Personenbegriff (Fn . 20), 83 . AaO ., 83 f . AaO ., 84 . AaO . Vgl . Klaus Günther, Strafrechtliche Verantwortlichkeit in der Zivilgesellschaft, in: Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende. Deutsch-Griechisches Symposium, 1999, hg . von Cornelius Prittwitz / Ioannis Manoledakis, 2000, 36 . Vgl . Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, 3 . Aufl . 1992, 113 f .

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nung möglicher Gründe und ihrer Geltungsansprüche, die gegen die affirmierte Äußerung gerichtet sind . Aus der Anerkennung eines Geltungsanspruchs ergäben sich „interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten“,28 die Günther für den Fall von Handlungsgründen auf den Übersprung von Gründen zu Motiven auf zwei Ebenen zurückführt: Subjektiv ergebe sich die motivationale Kraft von akzeptierten Handlungsgründen aus der Abwesenheit begründeter Motive gegen die akzeptierte Handlung – obgleich natürlich (unbegründete) Gegenmotive vorhanden sein können . Insofern sei die subjektive motivationale Kraft von Gründen schwach .29 Intersubjektiv entstehe die motivationale Kraft gemeinsam akzeptierter Gründe zweitens durch eine rationale und geteilte Erwartung an all diejenigen, die denselben Handlungsgrund akzeptiert hätten . Aus der Anerkennung der mit dem Handlungsgrund erhobenen Geltungsansprüche erwachse die geteilte Erwartung, dass alle, die den Handlungsgrund akzeptiert hätten, auch zur entsprechenden Handlung motiviert seien . Es ergebe sich eine „Handlungsgemeinschaft [singular action community]“30 aus all jenen, die dem Handlungsgrund zustimmen . Sie könnten von den jeweils anderen die entsprechende Handlung legitimerweise erwarten, weil es keine begründeten Gegenmotive gebe – jedenfalls solange, wie niemand entsprechende Gegengründe artikuliere . Insofern sei auch die „singular action community“ äußerst fragil . Unbegründete Motive, die erwartete Handlung nicht auszuführen, würden nicht zur Auflösung der „Handlungsgemeinschaft“, sondern zum Verlust der Mitgliedschaft der deliberativen Person führen, die diese unbegründeten Motive für ihr Handeln wirksam werden lasse . Die Verantwortung einer deliberativen Person, die einen Handlungsgrund und die damit verknüpften Geltungsansprüche akzeptiert, entsteht Günther zufolge aus der Verschränkung der subjektiven und der intersubjektiven motivationalen Kraft dieses Handlungsgrundes . Weil die deliberative Person und die Mitglieder der Handlungsgemeinschaft legitimerweise die geteilte Erwartung besäßen, dass sie die vom Handlungsgrund vorgeschriebene Handlung ausführen werde, sei sie gegenüber dieser Gemeinschaft für die Durchführung der erwarteten Handlung verantwortlich . Auf diese Weise werde die bereits im Vollzug der kommunikativen Freiheit vorausgesetzte Zurechnungsfähigkeit – „the freedom to say ‚yes‘ or ‚no‘ implies the mutual ascription of the capability to orient oneself according to validity claims“31 – auf Handlungen im Allgemeinen übertragen .32 Zugleich würden sich die illokutionären Bindekräfte im Zusammenspiel ihrer subjektiven und intersubjektiven Dimension verstärken, denn das seiner Handlungsgemeinschaft verantwortliche Subjekt verändere durch diese Beziehung seinen Status: „I am no longer treated as a bundle of beliefs, desires, and other motives which determine my behavior . As a member who is responsible to the community for my acting according to the legitimately shared expectation, I may not simply obey my countermotives and leave the ‚single action community‘ .“33

28 29 30 31 32 33

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 3 . Aufl . 1992, 398 . „It lasts only as long as there are no counterreasons for countermotives, and as long as existing countermotives are weaker .“ (Günther, Communicative Freedom [Fn . 10], 1042) . AaO ., 1044 . AaO ., 1044 f . „The feature of accountability is now extended to actions in general .“ (AaO ., 1045) . AaO .

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Die Affirmation eines Handlungsgrundes und die damit einhergehende Akzeptanz der so erhobenen Geltungsansprüche würden also dazu führen, dass sich das affirmierende Subjekt einerseits dem Urteil der Handlungsgemeinschaft unterwerfen müsse, ihm aber andererseits der Status als „eigenverantwortlicher“34 Urheber des eigenen Handelns zugeschrieben und es dementsprechend behandelt wird . Deshalb folgert Günther: „A line can be drawn from the illocutionary meaning of taking an affirmative position towards a validity claim to the concepts of responsibility and accountability, and to the attribution of an individual power to act .“35 In anderen Worten: Erst mit der Affirmation von Handlungsgründen konstituiert sich das Subjekt als Subjekt, dem in seiner Unterwerfung unter die Handlungsgemeinschaft eigene Handlungsmacht zugesprochen wird – seine Handlungsfähigkeit entsteht also in seiner es konstituierenden Unterwerfung . Folgerichtig muss Günther zeigen, dass das Subjekt keine bloßen „Marionette [puppet]“36 der Handlungsgemeinschaft ist . Er nennt zwei Gründe: Erstens stehe es dem Subjekt frei, einen Geltungsanspruch nicht zu akzeptieren, d . h . „nein“ zu sagen, denn nur solange das Subjekt kommunikativ frei sei, könne seine Akzeptanz eines Handlungsgrundes die skizzierten Verpflichtungen nach sich ziehen . Zweitens klaffe trotz der motivationalen Kraft akzeptierter Gründe eine Lücke zwischen ihnen und Motiven . Nur solange akzeptierte Gründe nicht automatisch und mechanistisch zu Handlungsmotiven würden und die Verpflichtungen nicht einer kommunikativen Maschinerie entsprängen, sondern die beteiligten Subjekte sich selbst als Autoren verstehen könnten, die auch willkürlich aus nicht rational begründeten Motiven gegen die vom Handlungsgrund vorgeschriebene Handlung agieren könnten, sei ihr Einverständnis eine Entscheidung . Diese Entscheidung für oder gegen einen Handlungsgrund bilde die zweite „Hürde“, die das Subjekt vor der Handlungsgemeinschaft schütze . Demnach ist es insbesondere die Freiheit zur Irrationalität, die das Subjekt vor dem Schicksal als Marionette der Gemeinschaft bewahrt, d . h . die Freiheit, den durch die vorgetragenen Gründe geschwächten, aber dennoch bestehenden unbegründeten Gegenmotiven zu folgen . Verantwortung und ein verantwortliches Subjekt kann es also nur so lange geben, wie die kommunikativen Beziehungen von der faktischen Irrationalität noch gestört werden können . Zusammengefasst erweitert sich die der Sprache apriorisch innewohnende Zurechnungspraktik, die schon in den elementaren Stellungnahmen benötigt wird, durch die Akzeptanz von Handlungsgründen zur fundamentalen, kommunikativen Verantwortung vor der durch den Handlungsgrund erzeugten Handlungsgemeinschaft . Zugleich wird das den Handlungsgrund akzeptierende Subjekt dadurch dieser Gemeinschaft unterworfen und zugleich ermächtigt, als Autor_in der eigenen Handlungen aufzutreten . Weil es aber die Freiheit zu irrationalem Verhalten behält, wird das Subjekt in diesem Prozess nicht zur bloßen Verlängerung der Handlungsgemeinschaft . Günther sieht selbst, dass die deliberative Person damit in der kantischen Tradition steht, die die Person selbst – und nicht erst die Rechtsperson! – über einen Begriff der „forensischen Zurechnung“37 definiert . Allerdings übergeht er, dass darin ein bedenklicher Zirkel liegt: Denn die Einbettung einer fundamentalen „Verantwor34 35 36 37

AaO ., 1044 . AaO ., 1046 . AaO ., 1048 f . Günther, Welchen Personenbegriff (Fn . 20), 85 .

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tung“ in die Sprache selbst macht diese kommunikative Verantwortung nicht nur zum entscheidenden Schlussstein in Günthers Argumentation, sondern verweist zudem auf eine besondere Macht der Sprache . Denn es ist die das deliberative Subjekt konstituierende Macht der Diskurse, die es so zurichtet, dass es schon in den basalen Sprechhandlungen die von Günther rational rekonstruierten Kernpraktiken des Strafrechts – Verantwortung zuschreiben und annehmen oder abweisen – ausübt . Insofern wäre es Günthers Argumentation zufolge zwingend, mit Nietzsche das Subjekt aus der im Recht praktizierten Zurechnungs- und Strafkultur hervorgehen zu sehen,38 die Günther in die Sprache zurückprojiziert . Damit ergibt sich eine Umkehrung von Günthers Argumentation: Nicht die in der Sprache innewohnende „Verantwortung“ trägt die komplexer ausdifferenzierte Praktik der Zuschreibung strafrechtlichen Verantwortung, sondern die Macht der Sprache, die das Subjekt als zurechnungsfähiges, deliberatives produziert, verdankt sich den juridischen Strafund Zurechnungspraktiken, deren Macht in die Sprache einwandert, um sich in den Diskursen jene berechenbaren, weil mit einem in der Sprache fixierten Zurechnungskern versehenen Subjekte heranzuziehen, die sie benötigt . Es ist ein formschöner Zirkel: Die Zuschreibungen strafrechtlicher Verantwortung werden über eine Analyse der Sprache legitimiert, die „Verantwortung“ zum Kern der kommunikativen Praktiken macht, da nur so die verantwortlichen Subjekte erzeugt werden können, die das Recht benötigt . Die diskursive Theorie des Rechts basiert damit auf einer strafrechtlichen Theorie der Sprache .39 Man könnte diesen juridistischen Zirkel der Diskurstheorie des Rechts als Beleg dafür interpretieren, dass die strafrechtliche Verantwortung in ihr nur unter Voraussetzung einer kommunikativen Verantwortung zu haben ist, die selbst nach dem Modell strafrechtlicher Verantwortung gebildet werden muss . Der Zirkel zeigt dann, dass die Diskurstheorie des Rechts den Versuch darstellt, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, und das deliberative Bedürfnis nach Rechtfertigung und also nach der Übernahme von kommunikativer Verantwortung ließe sich so als in die kommunikative Sprechhandlung eingewandertes, sublimiertes Strafbedürfnis identifizieren – denn wozu verlangen wir Verantwortlichkeit, wenn nicht um zu strafen?40 III. der des

anthropologIsch-jurIdIstIsche

rechts

zIrkel

der

dIskurstheorIe

Ich möchte allerdings noch einen Schritt weiter gehen und zeigen, dass der juridistische Zirkel auf dem Übersprung von der Rechtfertigungsfähigkeit zur Rechtfertigungsbereitschaft, von der Möglichkeit zur Verpflichtung beruht . Die Lücke zwischen 38 39 40

Zu Nietzsches Kritik an der juridistischen Konstitution des Subjekts vgl . Daniel Loick, Römische Subjekte . Nietzsches Genealogie der Rechtssubjektivität, ARSP 100 (2014) . Zu diesem Juridismus von Günthers Diskurstheorie des Rechts vgl . Vogelmann, The Circle of Criminal Responsibility (Fn . 1) . Mit dieser Intention jedenfalls wird Verantwortung zum philosophischen Begriff, etwa bei John Stuart Mill („Responsibility means punishment“, John Stuart Mill, An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy and of the Principal Philosophical Questions Discussed in his Writings, 1979, 454) . Zur Geschichte von Verantwortung in der Philosophie vgl . Vogelmann, Im Bann der Verantwortung (Fn . 1), Kap . 5 .

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Fähigkeit und Bereitschaft zur Rechtfertigung führt am Ende dazu, dass die Rechtfertigungsbereitschaft nicht zu den kontrafaktischen Idealisierungen mit quasitranszendentalem Status gehört, sondern selbst in „einverständnisorientierten“41 kommunikativen Sprechakten als quasianthropologisches Bedürfnis vorausgesetzt werden muss . Wir sind dieser Lücke bereits an der Stelle begegnet, an der Günther die Verantwortung des einen Handlungsgrund akzeptierenden Subjekts aus dem Zusammenspiel der subjektiven und der intersubjektiven motivationalen Kraft dieser Akzeptanz folgert . Günther gewinnt dort die Handlungsverantwortung aus der fundamentalen kommunikativen Verantwortung, die er für ein offensichtliches Element kommunikativer Freiheit hält: „Obviously, accountability is already included in communicative freedom; the freedom to say ‚yes‘ or ‚no‘ implies the mutual ascription of the capability to orientate oneself according to validity claims .“42 Obwohl Günther den Übergang von einer Fähigkeit zur Rechtfertigung zu einer Rechtfertigungsverpflichtung für unproblematisch zu erachten scheint, finden sich immerhin drei verschiedene Begründungsstrategien: 1. von der koMMunikaTiven FreiheiT Zur rechTFerTigungsverpFlichTung In einem frühen Artikel beginnt Günther mit der kommunikativen Freiheit als der Möglichkeit, affirmativ oder ablehnend Stellung zu erhobenen Geltungsansprüchen zu beziehen .43 Die ablehnende Stellungnahme wird als dreistellige Relation zwischen Sprecher, Hörer und Publikum bestimmt, die sich nicht auf den propositionalen Gehalt bezieht, an den der erhobene Geltungsanspruch geknüpft ist, sondern an die illokutionäre Kraft, mit dem der propositionale Gehalt geäußert wird: Auf die Behauptung, dass p, oder die Bitte, zu p-en, wird mit einer ablehnenden Stellungnahme nicht zugleich non-p behauptet oder eine zur Bitte im Negationsverhältnis stehende Handlungsanweisung erbeten . Die Stellungnehmende distanziert sich lediglich von der Behauptung, dass p, oder der Bitte, zu p-en, ohne dadurch selbst ei41

42 43

Jürgen Habermas (Rationalität der Verständigung . Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität, in: Philosophische Texte, 2009, 121 f .) unterscheidet zwischen Einverständnis als Ergebnis der Verständigung auf die Anerkennung eines Geltungsanspruchs aus denselben Gründen und der „bloßen“ Verständigung auf einen Geltungsanspruch aus divergierenden Gründen . Dabei gilt: „Solange Sprecher und Adressat die Aussage ‚p‘ aus je verschiedenen Gründen als wahr akzeptieren und beide voneinander wissen, daß diese jeweils nur für den einen oder den anderen gute Gründe darstellen, wird der für ‚p‘ erhobene und auf intersubjektive Anerkennung angewiesene Wahrheitsanspruch nicht als solcher akzeptiert .“ (AaO ., 122) Deshalb muss hier der stärkere Verständigungsmodus betrachtet werden, um nachzuweisen, dass auch dort noch eine Lücke klafft . Günther, Communicative Freedom (Fn . 10), 1044 f . Vgl . Klaus Günther, Die Freiheit der Stellungnahme als politisches Grundrecht . Eine Skizze, in: Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik. Ungarisch-österreichisches Symposium der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie 1990, hg . von Peter Koller et al ., 1992 . Günther übersieht hier (noch) die außerordentlich wichtige Möglichkeit der Nicht-Stellungnahme – ganz im Einklang mit einer cartesianischen Erbschaft der Philosophie, die sich in der Suche nach denjenigen Prozessen, Bedürfnissen oder Unterstellungen ausdrückt, die man „nicht nicht haben kann“: Kommunikation, Responsivität, Verantwortung, Intersubjektivität etc .

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nen wie auch immer gearteten Sprechakt mit dem propositionalen Gehalt non-p vollführen zu müssen .44 Ist diese Wiederholung einer klassischen Position der Sprachphilosophie soweit unkontrovers,45 will Günther (mit Habermas) den weiteren, umstrittenen Schritt machen, aus der notwendigen Möglichkeit der Stellungnahme auf eine ebenso notwendige Bereitschaft zur Begründung zu schließen . Günthers Argumentation lohnt ein längeres Zitat: „Die bloße Stellungnahme zu einer Äußerung wäre indes sinnlos, wenn die Verneinung oder Bejahung einer Behauptung oder Aufforderung kommunikativ folgenlos bliebe . Auch wenn dies faktisch häufig der Fall ist, hat die Ja/Nein-Stellungnahme nur dann einen Sinn, wenn sie die Möglichkeit einschließt, daß der Proponent, zu dessen Äußerung ein Hörer Stellung nimmt, seine Äußerung begründen könnte . Wäre die Äußerung nichts anderes als ein bloßes Naturereignis, das man hinnehmen muß, hätte die Stellungnahme so wenig eine Bedeutung wie die Verneinung eines Erdbebens . Stellung nehmen kann ein Sprecher daher nur zu einem Geltungsanspruch, der durch Gründe eingelöst werden kann . Die Bereitschaft, einen Geltungsanspruch zu begründen, und die Möglichkeit der Stellungnahme verweisen aufeinander . Die Möglichkeit der Stellungnahme setzt die Möglichkeit einer Begründung voraus . Umgekehrt erzeugt erst die Möglichkeit der Stellungnahme eines Hörers die illokutionäre Verpflichtung des Sprechers, zur Begründung des mit einem Sprechakt erhobenen Geltungsakts bereit zu sein .“46

Drei Behauptungen ergeben in dieser dichten Passage eine Schlussfolgerung: a) Eine Stellungnahme mag manchmal folgenlos bleiben, doch täte sie es immer, wäre sie prinzipiell sinnlos, d . h . es wäre nicht verständlich (nicht intelligibel), warum eine Hörerin überhaupt Stellung beziehen sollte . b) Nur eine Begründung durch den Proponenten ist eine kommunikative Folge, die eine Stellungnahme sinnvoll macht . c) Die Stellungnahme impliziert daher quasitranszendental die Möglichkeit, dass der Proponent seine Behauptung begründet; ansonsten könnte man auf seine Äußerungen nur reagieren, wie man auf ein Stück (vernunftlose) Natur reagiert . d) Deshalb, so die Folgerung aus den drei Behauptungen, impliziert die Möglichkeit zur Stellungnahme die Bereitschaft zur Begründung (und vice versa) . Jede der drei Behauptungen ist angreifbar, insbesondere die zweite und die dritte, denn weder ist Begründung die einzige „kommunikative Folge“, die eine Stellungnahme sinnvoll machen kann,47 noch ist jede Beobachterperspektive objektivie-

44 45

46 47

Natürlich ist es eine Möglichkeit, mithilfe von non-p solch eine ablehnende Stellungnahme zu vollziehen . Ernst Tugendhat (Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 7 . Aufl . 2000, 66–70 und 110) unterscheidet zwischen der Negation von p (also non-p) und der Verneinung, dass p . Letzteres ist eine p ablehnende Stellungnahme, die freilich nicht aus der Negation von p bestehen, sie aber implizieren muss . Günther (Fn . 43), 60, meine Hervorhebungen . Vgl . dazu Schnädelbachs Argumentation, dass der Bereich des Verständlichen weiter ist als der des „Diskursfähigen“ (Schnädelbach, Über Rationalität und Begründung, in: Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, 1992, 75 .) . Habermas kündigt in seiner Antwort auf Schnädelbachs Einwand zwar an, das Verhältnis von Sprache an sich und kommunikativer Rationalität so klären zu wollen, dass er die ausgezeichnete Stellung Letzterer anhand ihrer Verflechtung mit den „drei Wurzeln der Rationalität“ (Habermas [Fn . 41], 108) zeigt, bietet aber nur eine Wiederholung der Behauptungen, auf die sich Schnädelbachs Kritik bezieht .

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rend .48 Aber vor allem ist die Schlussfolgerung falsch: Zwar reicht Günthers Argumentation aus, von der Möglichkeit der Stellungnahme auf die Möglichkeit der Begründung zu schließen – jedenfalls wenn man das quasitranszendentale Argument akzeptiert, dass die faktische Folgenlosigkeit vieler Stellungnahmen nur ein abgeleiteter Sprachgebrauch ist . Doch die Möglichkeit wird anschließend ohne Argument zur Existenz verstärkt: Die Bereitschaft zur Begründung wird in den entscheidenden letzten drei Sätzen des Zitats erst behauptet, danach aber zur Möglichkeit abgeschwächt und anschließend ohne weitere Begründung als Verpflichtung aus dieser Möglichkeit gefolgert . Damit ist sie keineswegs aus der kommunikativen Freiheit als Freiheit zur Stellungnahme erschlossen . Da Günther durchweg die Sprachphilosophie aus der Theorie des kommunikativen Handelns voraussetzt, lohnt es sich nachzusehen, wie Habermas selbst zur Frage der Begründungsbereitschaft steht . Seine Formulierungen zu diesem Problem sind zwar insgesamt sehr heterogen, doch argumentiert Habermas bis zu Faktizität und Geltung zumeist nur für die Begründungsmöglichkeit, nicht die Begründungsbereitschaft .49 Allerdings führt Habermas manchmal die illokutionären Bindungskräfte auf eine im kommunikativen Handeln enthaltene Rechtfertigungsverpflichtung zurück: „Der Hörer kann durch Sprechaktangebote ‚gebunden‘ werden, weil er sie nicht beliebig ablehnen, sondern nur verneinen, d . h . mit Gründen zurückweisen darf .“50 Mit dem quasitranszendentalen Argument, dass alle anderen (strategischen etc .) Sprechhandlungen nur „Derivate des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs darstellen“,51 wird diese Rechtfertigungsverpflichtung dann zu einer in allen Sprechakten notwendige idealisierte Unterstellung verallgemeinert .52 Doch Habermas vergisst an dieser Stelle die Möglichkeit der „Enthaltung“, die einen erhobenen Geltungsanspruch weder bejaht noch verneint und die er andernorts explizit einräumt .53 Diese dritte Möglichkeit ist, wie Günther in anderem Zusammenhang explizit anerkannt hat, außerordentlich bedeutsam: „Without this third possibility to choose ‚exit‘ in48 49

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Vgl . Johannes Weiß, Die „Bindungseffekte“ kommunikativen Handelns . Einige skeptische Bemerkungen, in: Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas „Theorie des kommunikativen Handelns“. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe, hg . von Axel Honneth / Hans Joas, 2002, 447 . Vgl . bspw . Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I (Fn . 28), 26 f ., 65, 397–427; ders ., Theorie des kommunikativen Handelns II (Fn . 27), 112–117; ders ., Was heißt Universalpragmatik?, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, 356 f ., wo jeweils nur von der Begründungsfähigkeit die Rede ist . Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns II (Fn . 27), 114 . Habermas, Was heißt Universalpragmatik? (Fn . 49), 353 . Johannes Weiß weist auf das Fehlen einer hinreichenden Begründung für die angenommenen Bindungskräfte des kommunikativen Handelns hin: „Die intersubjektive Obligationskraft von ‚Richtigkeitsansprüchen‘ soll weder aus dem inhaltlichen Sinn der beanspruchten Norm noch etwa aus einer ihr zukommenden unmittelbaren Appellqualität entspringen . Vielmehr soll der Bindungseffekt eines Richtigkeitsanspruchs eben darin begründet sein, daß sein Autor gewährleistet, ihn gegebenenfalls durch Gründe einzulösen […] .“ (Weiß [Fn . 48], 439 f .) Wie Weiß zeigt, reicht weder die Annahme eines „ursprünglichen, da mit der Sprache notwendig verknüpften, Konsensbedürfnisses“ (aaO ., 441) noch ihr Verständnis als notwendiger Ausdruck vorauszusetzender Sozialität aus, den Bedingungskräften „handlungsmotivierende Wirkungen“ (aaO ., 449) zuzuschreiben . Leider geht Habermas in seiner „Entgegnung“ gerade nicht auf die Genese derjenigen Bindungskräfte ein, die jeder Form des kommunikativen Handelns zukommen (vgl . Jürgen Habermas, Entgegnung, in: Honneth/Joas (Fn . 48), 368 f . Vgl . Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I (Fn . 28), 63 .

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stead of ‚voice‘ or ‚loyalty‘ communicative freedom would not be a kind of freedom at all .“54 Die Frage ist, ob man Enthaltung wie Günther nur entweder als Ausstieg aus der Kommunikation oder als Wechsel aus der performativen Einstellung in die einer Beobachterin, die die Äußerungen ihres Gegenübers als „natürlichen Gegenstand“ betrachtet, interpretieren kann .55 Selbst innerhalb einverständnisorientierter kommunikativer Sprechsituationen scheint diese Auslegung extrem restriktiv: Nicht jede Nicht-Stellungnahme muss dazu führen, die Kommunikation abzubrechen oder die Äußerungen des Gegenübers als bloße Geräuschquelle wahrzunehmen . Wir kennen vielfältige sprachliche Möglichkeiten, uns eines Urteils zu enthalten, ohne dadurch das Gespräch zum Verstummen zu bringen oder unseren Gesprächspartner zu objektivieren: von uneindeutigen, aber den Sprecher zum Fortfahren ermunternden Tönen bis hin zu Wendungen wie „um des Arguments willen“ .56 Nur wenn wir alle diese sprachlichen Möglichkeiten zu bloß einem abgeleiteten, „uneigentlichen“ Sprechen abwerten, lässt sich Habermas’ Folgerung halten . 2. eine rechTFerTigungsverpFlichTung qua deFiniTion? In Günthers zweiter Begründungsstrategie steht die Ableitung der Verpflichtung zur Rechtfertigungsbereitschaft aus der kommunikativen Freiheit und damit aus der Möglichkeit zur Stellungnahme nicht mehr für sich allein . Vielmehr verlegt Günther die Begründungsbereitschaft in die Definition des kommunikativen Handelns, wie sich seiner Beschreibung einverständnisorientierter kommunikativer Sprechakte entnehmen lässt: „Obviously, a speaker often has several means to make the hearer accept a validity claim by the latter’s taking an affirmative position, like deception, force, threat, rhetorical means, etc . On the other hand, the hearer might have different motives for taking an affirmative (or negative) position, like fear of sanctions or disadvantages . There is only one possibility where the freedom to take a position is reciprocally attributed by speaker and hearer. This is the case when the speaker is willing to give reasons for the validity claim, and when the hearer herself is willing to give reasons for her taking a negative position. […] [I]f she [the hearer; F . V .] decides to react by taking a position, she ascribes certain features to the expression and to the speaker, and she accepts the obligation to give reasons for her doubts . When the speaker raises a validity claim, she announces that she anticipates doubts and negations and that she is therefore willing to give reasons for the proposition .“57

Behauptet wird nun, dass die Bereitschaft nicht aus der Möglichkeit der Stellungnahme abgeleitet werden muss, weil diese Bereitschaft definitorischer Bestandteil der kommunikativen Sprechsituation ist (man kann allerdings, und Günther tut das, andersherum die Möglichkeit der Stellungnahme aus der Bereitschaft ableiten) . Das 54 55 56

57

Günther, Communicative Freedom (Fn . 10), 1040 . „The hearer can decide not to react at all and to withdraw from communication or to change her attitude and to treat the reaction as a symptom which she merely observes from an external point of view .“ (AaO .) Zweifel daran finden sich auch bei Weiß (Fn . 48), 447 . Auch wenn man nicht so weit gehen muss, um den Punkt zu machen, sei doch darauf hingewiesen, dass es eine ganze Tradition gibt, die in der Urteilsenthaltung die Bedingung des glücklichen Lebens sieht . Vgl . dazu bspw . Achim Engstler, Urteilsenthaltung und Glück . Eine Verteidigung ethisch motivierter Skepsis, Zeitschrift für Philosophische Forschung 49 (1995); jüngst Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, 2014 . Günther, Communicative Freedom (Fn . 10), 1039, meine Hervorhebung .

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Frieder Vogelmann

Argument ist vertraut: Einzig und allein in der Situation, in der Hörer und Sprecherin einander wechselseitig die Bereitschaft zuschreiben, ihre Geltungsansprüche zu begründen, kann Einverständnis über einen solchen Geltungsanspruch erzielt werden, weil nur dann jeder Zweifel aber auch jede Behauptung allein aus guten Gründen vorgebracht und akzeptiert werden . Die Frage in Bezug auf diese Strategie ist daher, ob die Behauptung überzeugt, dass die Bereitschaft zur Begründung definitionsgemäß zum einverständnisorientierten kommunikativen Sprechen gehört . Um diese Frage so zu stellen, dass man nicht die gesamte Strategie der kontrafaktischen Idealisierung angreifen muss, kann man sich einverständnisorientierte kommunikative Sprechakte probehalber ohne die Bereitschaft, aber durchaus mit der Fähigkeit zur Begründung denken . Stellen wir uns also eine Sprecherin und einen Hörer mit der festen Absicht vor, zu einer gemeinsamen Überzeugung aus denselben Gründen zu kommen . Es ist klar, dass der Hörer jeden von der Sprecherin aufgestellten Vorschlag als begründbar verstehen muss – ja, wenn er sich nicht vorstellen könnte, dass die Sprecherin Gründe anführen könnte, wäre für ihn der Vorschlag nicht als einer verstehbar, der zu einem Einverständnis führen soll, der also aus denselben Gründen von ihm und ihr angenommen werden soll . Aber muss er auch die Bereitschaft, auf seine Nachfrage stets einen Grund zu hören, voraussetzen? Nein, da die Nachfrage ebenfalls unter der Bedingung steht, zu einem Einverständnis führen zu müssen . Diese Bedingung erfüllt jedoch keineswegs jede Begründungsaufforderung – denn diese können genauso gut bewusste Verzögerungsversuche oder störende Abschweifungen darstellen . Daher ist jedenfalls keine unqualifizierte Rechtfertigungsbereitschaft im einverständnisorientierten kommunikativen Sprechakt impliziert . Das aber reicht für unsere Argumentation insofern, als demnach die Bereitschaft zur Begründung nicht so vorausgesetzt werden kann, wie Günther es im angeführten Zitat tut . Abermals lohnt es sich, auf eine Parallele bei Habermas hinzuweisen, der teilweise denselben Strategiewechsel vollzieht und das einverständnisorientierte kommunikative Handeln nicht nur über die wechselseitige Fähigkeit zur Begründung, sondern über die Verpflichtung zur Rechtfertigung bestimmt . Während er in der „Ersten Zwischenbetrachtung“ der Theorie des kommunikativen Handelns allein die Möglichkeit der Begründung zur Definition kommunikativen Handelns in Anspruch nimmt,58 analysiert er assertorische Sätze im fünften Kapitel so, dass ein Satz wie „es ist der Fall (ist wahr), daß p“ nicht verstehbar wäre, „wenn man nicht weiß, daß der Sprecher diesen Satz nur in der Rolle eines Proponenten, und das heißt mit der Bereitschaft übernehmen kann, ‚p‘ gegen die Einwände von Opponenten zu verteidigen“ .59 Wieder wird aus der Möglichkeit die Bereitschaft, die diesmal wie bei Günther in der Definition des einverständnisorientierten kommunikativen Sprech58

59

„Für kommunikatives Handeln sind nur solche Sprechhandlungen konstitutiv, mit denen der Sprecher kritisierbare Geltungsansprüche verbindet . In den anderen Fällen, wenn ein Sprecher mit perlokutionären Akten nicht-deklarierte Ziele verfolgt, zu denen der Hörer überhaupt nicht Stellung nehmen kann, oder wenn er illokutionäre Ziele verfolgt, zu denen der Hörer, wie gegenüber Imperativen, nicht begründet Stellung nehmen kann, bleibt das in sprachlicher Kommunikation stets enthaltene Potential für eine durch Einsicht in Gründe motivierte Bindung brachliegen .“ (Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I [Fn . 28], 410, meine Hervorhebung) . Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns II (Fn . 27), 109, meine Hervorhebung .

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akts verankert ist und insofern argumentativ keine Hilfe darstellt, um den Übersprung von Rechtfertigungsfähigkeit zur Rechtfertigungsverpflichtung zu einem begründeten Übergang zu machen . 3. die begründungsbereiTschaFT als ZusäTZliche präMisse In der dritten Variante postuliert Günther direkt, dass „die Diskurstheorie als solche bei den Diskursteilnehmern bestimmte Bereitschaften und Fähigkeiten voraus[setzt]“ .60 Die Bereitschaft, erhobene Geltungsansprüche mit Gründen gegen Kritik zu verteidigen, zählt er dabei zu „den wichtigsten“ der vorausgesetzten Fähigkeiten und Bereitschaften . Während er die Fähigkeit aus der quasitranszendentalen Grammatik einverständnisorientierter kommunikativer Sprechakte ableitet, muss er die Bereitschaft voraussetzen, um die notwendige Verpflichtung zur Rechtfertigung zu erhalten . Warum ist diese Differenz von Möglichkeit bzw . Fähigkeit einerseits und Bereitschaft andererseits so wichtig, und reichte es Günther nicht, die Bereitschaft als Voraussetzung einzuführen? Es reicht jedenfalls dann nicht, wenn die fundamentale kommunikative Verantwortung in der Sprache auf einer Ebene – nämlich auf der quasitranszendentalen – mit den anderen kontrafaktischen Idealisierungen der Diskurstheorie gestellt werden soll . Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, scheint mir hier die Paralleldiskussion um die Diskursethik entscheidend zu sein, denn letztlich soll Günthers Argumentation kommunikative Verpflichtungen über die kontrafaktische Unterstellung kommunikativer Verantwortung einführen, die Habermas selbst mit erheblich größeren Mühen erst in seiner Diskursethik einzubauen versucht hat und die stets auf substanzielle Zweifel gestoßen sind .61 Wenn es aber Günther nicht gelingt, die Rechtfertigungsverpflichtung ohne das weitaus voraussetzungsreichere Programm der Diskursethik zu etablieren, dann droht einerseits der oben genannte Zirkel, weil er eine der rechtlichen Zurechnungsfähigkeit strukturgleiche kommunikative Verantwortung voraussetzen muss, um die strafrechtliche Verantwortung am Ende zu bekommen . Andererseits müsste Gün60 61

Günther, Welchen Personenbegriff (Fn . 20), 83 . Anton Leist (Diesseits der „Transzendentalpragmatik“: Gibt es sprachpragmatische Argumente für Moral?, Zeitschrift für philosophische Forschung 43 [1989]) stellt ganz analog die Frage nach der Notwendigkeit der „Argumentationsbereitschaft“ in der Diskursethik; in diesem Kontext lohnt außerdem der Blick auf das gegen Karl-Otto Apel gerichtete Argument von Karl-Heinz Ilting: „Die Verweigerung des kritischen Verständnisses bzw . der Explikation und Rechtfertigung von Argumenten kann im Blick auf das gemeinsame Handlungsziel einer Argumentationsgemeinschaft zwar als unstatthaft gelten; aber insoweit ist sie eben darum noch nicht moralisch verwerflich . Noch weniger kann die entsprechende Bereitschaft moralisch geboten sein, da niemand zum kritischen Verständnis oder zur Explikation und Rechtfertigung von Argumenten bedingungslos verpflichtet sein kann, wenn anders die Mitwirkung an einer gemeinsamen Bemühung immer nur bedingt, nämlich abhängig von der Verfolgung anderer Interessen und von der Erfüllung sonstiger Pflichten ist . Da das Wort ‚Pflicht‘ üblicherweise nur im Blick auf irgendwie verbindliche Normen gebraucht wird, ist es im übrigen irreführend, von einer ‚Verpflichtung zur Argumentation‘ zu sprechen .“ (Karl-Heinz Ilting, Der Geltungsgrund moralischer Normen, in: Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalprgmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, hg . von Wolfgang Kuhlmann / Dietrich Böhler, 1982, 623) .

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Frieder Vogelmann

ther sich die Frage stellen lassen, welche moralischen Spuren er bereits in die Sprache hineinträgt und inwieweit die deliberative Person dann noch als weder ethische noch moralische Person die argumentative Funktion erfüllen kann, die er ihr zuweist . Damit bleibt, die Bereitschaft als notwendige Vorrausetzung jenseits der quasitranszendentalen Struktur von Sprache (und jenseits einer moralischen Pflicht) explizit einzugestehen und anders zu plausibilisieren . In diesem Fall, und das scheint mir der von Günther gewählte Weg, braucht es allerdings die Annahme eines Verlangens nach Gründen und Rechtfertigungen – eben das von mir bereits benannte deliberative Bedürfnis . Sollte meine Argumentation zutreffen und die Diskurstheorie des Rechts sich nicht allein auf die in der Universalpragmatik freigelegte quasitranszendentale Struktur der Sprache stützen können, sondern ein ebenso quasinaturhaftes Rechtfertigungsbedürfnis zugrunde legen müssen, wird der oben bereits gezeigte juridistische Zirkel für Günthers Theorie umso problematischer, weil man die Setzung des quasianthropologischen deliberativen Bedürfnisses nach Rechtfertigung dann nur noch aus dem Argumentationsziel der legitimen Schuldzuschreibung erklären kann, und damit als bloß in seiner Gestalt verwandeltes Strafbedürfnis erkennen muss . Angesichts von Günthers abolitionistischen Neigungen62 ist diese Wendung nur als ironisch zu bezeichnen, und die deliberative Person entpuppt sich in ihrer Natur und ihrem natürlichen Bedürfnis nach Gründen als Konstruktion einer in die Sprache tiefergelegten Straflust und -fantasie .

62

Vgl . Klaus Günther, Kritik der Strafe I, WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1 (2004); ders ., Kritik der Strafe II, WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005); ders . (Fn . 26) .

Michael goldhaMMer, bayreuTh repräsentatIon

und

konflIkt

hanna f. pItkIns BeItrag demokratIe I. repräsentatIon

und

zu eIner freIheItlIchen

theorIe

mIttelBarer

demokratIe

Die repräsentative Demokratie gilt als Mittel der Wahl, um Volksherrschaft jenseits der Stadtstaaten zu realisieren,1 denn sie überwindet die praktische Unmöglichkeit der unmittelbaren Beteiligung aller . Dieser Begründungszusammenhang enthält freilich schon eine Bürde . Gewissermaßen aus der Not geboren, konnte sie die repräsentative Demokratie, den Geschmack der zweitbesten Lösung nie richtig abschütteln .2 Rufe nach „mehr Demokratie“, Volksbeteiligungen oder Volksbefragung3 erzielen jedenfalls für einen Augenblick immer wieder Achtungserfolge, die die Repräsentation gesellschaftlicher Mannigfaltigkeit als anmaßendes und widersprüchliches Unterfangen erscheinen lassen .4 Daneben kommt Repräsentation aber bisweilen noch von einer anderen Seite aus unter Druck, wenn sie nämlich in den Ruch gerät, in Konkurrenz zum durch demokratische Verfahren erzeugten Volkswillen zu treten .5 Verzichtet man daher mit guten Gründen auf Repräsentation als Begriff, so drohen wiederum mindestens Beschreibungsverluste, denn daran, dass es Interessen und öffentliche Meinung auch 1 2

3 4 5

Vgl . grdl . zum Begriff Hasso Hofmann, Repräsentation, 4 . Aufl . 2003; vgl . auch Beatrice Brunhöber, Die Erfindung „demokratischer Repräsentation“ in den Federalist Papers, 2010; Ernst Vollrath, Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation, Rechtsphilosophische Hefte, 1992, 65 ff . Vgl . zur Diskussion Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Neudr . d . 2 . Aufl . v . 1929 (1963), 26 ff .; dazu Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Demokratie und Freiheit, hg . von Martin Bertschi, 1999, 123 ff .; vgl . Peter Lerche, Grundfragen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie, in: Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, hg . von Peter M . Huber u . a ., 1995, 179 ff .; kritisch zur „wahren“ Demokratie Josef Isensee, Demokratie – verfassungsrechtlich gezähmte Utopie, in: Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, hg . von Ulrich Matz, 1985, 44; Hans Meyer, Repräsentation und Demokratie, in: Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, hg . von Horst Dreier, 2005, 99 ff .; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel, hg . von Georg Müller u . a ., 1982, 301 ff .; Peter Graf Kielmansegg, „Die Quadratur des Zirkels“ . Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie, in: Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, hg . von Ulrich Matz, 1985, 9 ff . Dazu aktuell Martin Burgi, ZG 2015, 34 ff .; Hermann K . Heußner / Arne Pautsch, NJW 2015, 1225; Markus Möstl, BayVBl. 2015, 217 ff . Vgl . die Kritik von Meyer (Fn . 2), 99 ff .; dazu mwN . Kielmansegg (Fn . 2), 9 ff .; Hofmann (Fn . 1), 15 ff .; vgl . zu aktuellen Problemen Steffen Augsberg, ZG 2012, 251 ff .; Pascale Cancik, VVDStRL 72 (2013), 268 ff . Vgl . zu Problemen und Leistungen der Repräsentation Lepsius (Fn . 2), v . a . 146 ff .; Christoph Möllers, Expressive versus repräsentative Demokratie, in: Transnationale Verrechtlichung, hg . von Regina Kreide / Andreas Niederberger, 2008, 160, 161; ders ., Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2008, Nr . 30 ff .

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zwischen den Wahlakten gibt, dass zur formalen Autorisierung faktische Repräsentation tritt, dass allein die Form der Repräsentation Auswirkungen hat,6 besteht ja kein Zweifel .7 Diese Fragen sind gewiss nicht neu und viele Denker haben sich in unterschiedlichen Kontexten daran abgearbeitet . Die Fülle der Argumente und Diskussionen lässt sich hier natürlich nicht ansatzweise aufgreifen . Um – bei aller Gefahr der Verkürzung – aber wenigstens einige Eckpunkte zu nennen, kann man Rousseaus Annahme der Unmöglichkeit von Repräsentation anführen,8 Edmund Burkes virtuelle Repräsentation objektiver Interessen9 oder Madisons geschickter Einsatz der Repräsentation zur Neutralisierung von Partikularinteressen10 . Zu erinnern ist ferner an die Weimarer Diskussion: Hans Kelsen hält die Repräsentation für eine Fiktion,11 dagegen verbindet Carl Schmitt damit die politische Einheit eines Volks und seiner – gegenüber der nicht-repräsentierten natürlichen Menschengruppe – höheren Art des Seins12 und bei Erich Kaufman hat sie die Funktion der Formung des realen Volkswillens .13 Der vorliegende Beitrag will für diese stets aktuelle Debatte Hanna F . Pitkins The Concept of Representation14 aus dem Jahr 1967 in Erinnerung rufen und einige ihrer erhellenden Schlüsse vor allem in Gestalt der Freiheitsfunktion des Konflikts und des Mehrwerts einer fragilen Repräsentation noch etwas pointierter herausstellen, als sie das selbst getan hat . Dass ihr Buch zwar zur Standardreferenz, ihr zeitlos realistischer Beitrag einer freiheitsbasierten Repräsentationstheorie15 inhaltlich aber nur bedingt rezipiert wurde, dürfte (auch) mit eben jener Annahme der Fragilität und des Konflikts zu tun haben, die dort Widerspruch provozieren muss,16 wo andere Theorien Stabilität,17

6 7 8 9 10 11 12 13 14

15

16 17

Vgl . für einen Mehrwert statt vieler John Hart Ely, Democracy and Distrust, 1980, 77; Böckenförde (Fn . 2), 326; Lepsius (Fn . 2), v . a . 146 ff . Vgl . Ulrich Haltern, Gestalt und Finalität, in: Europäisches Verfassungsrecht, hg . von Armin v . Bogdandy, 2003, 815; Möllers (Fn . 5), 161, 164 . Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hg . u . übers . v . Hans Brockard unter Mitarb . v . Eva Pietzcker, 2011, 3 . Buch, Kap . 15 . Vgl . dazu mwN . Brunhöber (Fn . 1), 56 ff . James Madison, Federalist Nr . 10 . Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, 344, § 43, D; ebenso Kelsen (Fn . 2), 30 . Carl Schmitt, Verfassungslehre, unveränd . Nachdr . d . 1 . Aufl . 1928 (1970), 208, 210 u . 212 . Vgl . dazu ders ., Römischer Katholizismus und politische Form, 2 . Aufl . 1925, v . a . 14 ff . Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, Gesammelte Schriften, Bd. III, 1960, 272 ff . Hanna Fenichel Pitkin, The Concept of Representation, 1967; vgl . ihre spätere, durchaus skeptische Sicht in dies ., Representation and Democracy: Uneasy Alliance, Scandinavian Political Studies 27 (2004), 335; vgl . Hubertus Buchstein, Repräsentation ohne Symbole – Die Repräsentationstheorie des „Federalist“ und von Hanna F . Pitkin, in: Institution – Macht – Repräsentation, hg . von Gerhard Göhler u . a ., 1997, 376 ff . Vgl . zur freiheitsbasierten Begründung Kelsen (Fn . 2), 3 ff ., 14 ff ., 29 ff .; Oliver Lepsius, Zwischen Volkssouveränität und Selbstbestimmung . Zu Kelsens demokratietheoretischer Begründung einer sozialen Ordnung aus der individuellen Freiheit, in: Rechts-Staat. Staat, internationale Gemeinschaft und Völkerrecht bei Hans Kelsen, hg . von Hauke Brunkhorst / Rüdiger Voigt, 2008, 15 ff . Insoweit entspricht Pitkin der Kritik vieler Repräsentationskritiker, vgl . nur Meyer (Fn . 2), 102 . Vgl . zur Statik vor allem bei monarchischer Repräsentation bei Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2 . Aufl . 1968, 204 .

Repräsentation und Konflikt

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Einheit, Darstellung18 und Identität19 betonen .20 Funktion und Chancen des solchermaßen entschlackten und durchaus kontraintuitiven Repräsentationsbegriffs sind Gegenstand dieses Beitrags . II. repräsentatIon

als suBstantIve actIng for

1. probleM und MeThode Wann wird ein Wähler politisch repräsentiert? Aus der Beobachtung menschlichen Verhaltens, z . B . eines Abgeordneten, wird man kaum Erkenntnisse für diese Frage gewinnen können, denn die Tatsache, dass ein Mensch die Hand hebt, spricht oder öffentlich auftritt, sagt nichts über die Beziehung zum Wähler aus . So trivial sich dies anhört, so gewichtig sind die Folgerungen, die die Sprachphilosophie daraus zieht, weil sie uns darauf verweist, die Bedeutung von Verhältnissen zu ergründen, die wir mit Sprache ausdrücken . Wir nähern uns aber der Repräsentation, wenn wir wissen, dass es sich bei dem zu beurteilenden Fall um eine Abgeordnete aus dem heimischen Wahlkreis handelt und die Leute sie als „eine von uns“ bezeichnen . Sie spricht möglicherweise den gleichen Dialekt, kennt die Menschen und konnte schon viel für den Wahlkreis tun . Aber reicht dies aus? Würden wir einen – perfekt legitimierten – Abgeordneten als Repräsentanten bezeichnen, wenn er sich tatsächlich ausschließlich nur um das eigene Fortkommen sorgte, in Wahrheit ein Mann der Industrie ist oder es ihm um die Begünstigung von Familienangehörigen geht? Wir sehen, wie Legitimation und Repräsentation auseinanderlaufen können . Der Wahlakt, die deskriptive (z . B . geographische, ethnische) Ähnlichkeit oder symbolische Beziehung (z . B . König, Führer) sagen nichts über die inhaltliche Qualität der Repräsentation .21 Aber für genau jene interessiert sich Pitkin . Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Wahlkreisabgeordneter nicht nur formal, deskriptiv oder symbolisch repräsentiert, sondern eben auch substantiell – das muss aber nicht sein . Pitkin wendet sich daher der Handlung zu: „We are now interested in the nature of the activity itself, what goes on during representing, the substance or content of acting for others, as distinct from its external and formal trappings .“22 Weil wir also von der äußeren Handlung oder formalen Stellung nicht auf die innere Bedeutung schließen können, müssen wir eine Kategorie der substantiellen Vertretung einführen . Damit kommt die Sprachphilosophie ins Spiel, denn es geht um die durch Sprache ausgedrückte Bedeutung sozialen Verhaltens . Den kontinental geschulten Juristen lässt diese Methode bisweilen aus zwei Gründen enttäuscht zurück . Zum einen wird man von ihr keine exakte Definition innerhalb eines begrifflichen Systems erwarten können . Hinzu kommen Zweifel am normativen Sta18 19 20 21 22

Vgl . z . B . Böckenförde (Fn . 2), 322; ähnl . Hans-Detlef Horn, § 22 – Demokratie, in: Verfassungstheorie, hg . von Otto Depenheuer / Christoph Grabenwarter, 2010, Rn . 11 . Vgl . Schmitt, Verfassungslehre (Fn . 12), 204 ff .; dazu Vollrath (Fn . 1) . Vgl . dazu Hofmann (Fn . 1), 23 ff . Vgl . Buchstein (Fn . 14), 425, der zwischen Willensbeziehung und Symbolbeziehung unterscheidet . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 112, 114 .

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tus sprachanalytischer Erkenntnisse . Man muss aber bedenken, dass der Verzicht auf begriffliche Exaktheit zu Gunsten einer definitionslosen Methode der family resemblance23 die adäquate Konsequenz des zugrundeliegenden Tatsachenmaterials ist . Wir haben es bei Repräsentationsbeziehungen mit sozialen Phänomenen zu tun, deren Vielfalt sich aus der unendlichen Varianz menschlichen Zusammenlebens in Gemeinwesen speist . Begriffliche Exaktheit mag ein Ziel der Norm- oder Naturwissenschaften sein, hier jedoch erzeugen graduelle Je-desto-Beziehungen und kontextabhängige Schattierungen Beschreibungsgewinne, wo „scharfe“ Begriffe immer wieder widerlegt würden oder sich in Widersprüche verwickelten . 2. grundlagen: subsTanTive acTing For oThers Die Indifferenz der formalen, symbolischen oder deskriptiven Stellung des Handelnden in inhaltlicher Hinsicht veranlasst Pitkin methodisch dazu, den Untersuchungsschwerpunkt auf die Repräsentationshandlung zu verlagern,24 d . h . auf die Handlung, durch die Abwesende gegenwärtig gemacht werden – in some non-literal sense25 .26 Im Vergegenwärtigen Abwesender kann man sicher ein Desiderat heutiger (Massen-)Demokratien in großen Räumen sehen . Andererseits sind die Abwesenden nun einmal nicht da, so dass der Verdacht nahe liegt, substantielle Repräsentation erweist sich am Ende doch als Fiktion oder metaphysische Zurechnung . Genau dies will Pitkins sprachphilosophische Methode aber verhindern, indem sie zunächst – unspektakulär – alltagssprachliche Bedeutungen der Repräsentation zusammenträgt: gemeint sein kann ein Handeln im Interesse eines Vertretenen oder anstelle eines Verhinderten, andere betonen die besondere Verbindung zwischen Handelndem und Repräsentiertem, die Korrespondenz oder Kommunikation zwischen den beiden, vom Handlungsergebnis her legen andere Wert auf die Übereinstimmung der Handlung mit Wünschen und Bedürfnissen und mitunter geht es schlicht um professionelle Arbeitsteilung . Es tun sich aber rasch Probleme auf . Denn ein und dieselbe Handlung als solche kann mal Ausdruck von Repräsentation sein, mal aber auch nicht . Eine Erklärung in geschäftlichen Verhandlungen bspw . verändert sich äußerlich nicht dadurch, dass sie fallweise von einem Angestellten, Boten, Treuhänder, Vormund, Prokuristen, Stellvertreter, Anwalt etc . abgegeben wird . Trotz der Identität des tatsächlichen Akts, würden wir nicht sagen, dass dies auch für die Qualität der inneren Repräsentativität zutrifft, denn die Handlungsbedingungen, Kenntnisse, Freiräume etc . unterscheiden sich jeweils ganz deutlich . Weil es also zu einer „divorce of action from certain personal virtues“27 kommt, muss man sich den inneren und äußeren Konditionen der Handlung nähern; sie

23 24 25 26 27

Vgl . Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1977, v . a . 56 ff . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 112 . Vgl . ähnlich zur Repräsentation durch politische Handlung Ulrich Haltern, Gestalt und Finalität, in: Europäisches Verfassungsrecht, hg . von Armin v . Bogdandy, 2003, 815 . Vgl . dazu Buchstein (Fn . 14), 418 ff . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 336 . AaO ., 8 . AaO ., 118 .

Repräsentation und Konflikt

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selbst ist kein guter Indikator der Repräsentativität .28 In einer aufwändigen Untersuchung gelingt es Pitkin aus der Analyse einer Vielzahl von Bedeutungen, Abgrenzungen und Analogieschlüssen Repräsentationsverhältnisse unter diesem Gesichtspunkt zu ergründen . Die komplexe Begriffsfamilie soll hier entlang dreier beweglicher Parameter beschrieben werden, nämlich Distanz, Interesse und Expertise . Wie ist dies zu verstehen? Unter den Bedeutungen von Repräsentation lassen sich einige Gruppen typisierend identifizieren: die substituierende Handlung, die Wahrnehmung fremder Interessen und schließlich die professionelle Arbeitsteilung . Sie alle haben an der family resemblance Anteil . Nun gibt es aber Handelnde, die eher spontan, eigeninitiativ und weisungsfrei arbeiten, während ein anderer eben nur „a mere agent“ sei .29 Verschiedene Akteure mögen den gleichen „Output“ erzeugen, doch die Distanz und der Grad an Unabhängigkeit unterscheiden sich gewaltig je nachdem, ob gerade ein Laufbursche, Angestellter, Treuhänder oder ein Experte tätig wird . Begreifen wir Repräsentation als die Vergegenwärtigung von Abwesenden und sollen Letztere nicht lediglich durch die formale Stellung des Handelnden, sondern – in some sense – substantiell in der Handlung anwesend werden, muss die Handlung so konditioniert sein, dass der Handelnde nicht machen kann was er will und wie er es will . Gleichzeitig aber sprechen wir doch über Abwesende . Ist die Handlung daher derart gesteuert, dass der Handelnde selbst keinerlei Spielraum hat, sondern im Grunde nur der Handlungs-Herr durch ihn handelt, dann geht es nicht um die Vergegenwärtigung von Abwesenden, denn der zu Vergegenwärtigende war nie wirklich abwesend . In einer zweiten Gruppe steht die Wahrnehmung von Interessen Dritter im Vordergrund . Weil diese handlungsleitend sind, wird der Abwesende in der Handlung gegenwärtig .30 Aber auch hier kennt die Begriffsfamilie Schattierungen, wie sich am Beispiel der Treuhänderschaft zeigt . Der Treuhänder handelt sicher zum Besten der Begünstigten, er ist aber regelmäßig nicht zur responsiven Interaktion gezwungen . Oft geht dies auch gar nicht, wenn ein Stiftungsvermögen etwa zu Gunsten des „Tierschutzes“ o . ä . aufgelegt wurde, oder wenn wir das Verhältnis von Vormund und handlungsunfähigem Mündel ansehen .31 Bestimmen daher in Wahrheit objektive Interessen die Handlung und kann der Vertretene selbst gar nicht handeln oder sein Interesse artikulieren oder will man ihn nicht ernst nehmen, so liegt eine heteronom bestimmte Handlung vor, die gerade nicht den Abwesenden einbezieht . Und schließlich lassen wir uns bisweilen vertreten, obwohl wir selbst durchaus handeln könnten . Der Grund liegt dann häufig in der Expertise unseres Vertreters .32 Umgekehrt beenden wir dieses Verhältnis, wenn der „Repräsentant“ fortwährend rückfrägt, entscheidungsschwach ist oder er nicht so professionell agiert wie erhofft . Wenn nun aber ein Arzt eine Krankheit heilen oder der Ingenieur eine Talbrücke planen soll, dann vertrauen wir zwar auch deren Fähigkeiten, doch da wir selbst – als 28 29 30 31 32

AaO ., 142 . AaO ., 123 . AaO ., 128 . AaO ., 129; insoweit verwundert es nicht, wenn Burke dort meint: „The king is the representative of the people; so are the lords; so are the judges . They are all trustees for the people .“ Vgl . dazu Kielmansegg (Fn . 2), 15 f .

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Laien – die Handlung nicht ausführen können und die eigentliche Problemlösung naturwissenschaftlichem Wissen gehorcht, wird der Vertretene durch die Handlung nicht wirklich repräsentiert . 3. überTragung auF poliTische repräsenTaTion Die Begriffsfamilie lässt also ganz verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten zu: enge oder lose Instruktion des Vertreters, Wahrnehmung objektiver Interessen oder individueller Bedürfnisse, Ausnutzung von Expertise und Professionalität . Sie alle können in verschiedenen Kontexten family resemblance aufweisen . Ab einem gewissen Grad der Distanz, der Nähe, der Wissenschaftlichkeit, der Objektivität der Interessen, der Willkür, des Paternalismus bricht die Beziehung jedoch, weil dann entweder nicht mehr der Vertreter handelt, sondern der Abwesende – oder umgekehrt . Sehen wir uns nun an, wie sich dies auf politische Repräsentation übertragen lässt . a) Fragilität und Konflikt Auch bei politischer Repräsentation sind Distanz und Bindung zwischen Vertreter und Vertretenem Parameter von Bedeutung . Sie äußern sich in der klassischen Frage, ob der Abgeordnete ein imperatives oder freies Mandat hat . Beiden Varianten wird man Zustimmungsfähiges abgewinnen können, weil das Ziel demokratischer Selbstherrschaft mit der Praktikabilität und Kompromissbildung streitet . Wo also kann man eine Grenze ziehen? Führen wir uns noch einmal den Handlungsbezug der Repräsentation vor Augen: es geht um die Repräsentation durch Handlung in einer Situation, in der der Vertretene auch selbst handeln könnte . Faktisch ist es aber der Vertreter, der tätig wird .33 Wie die Beispiele des Arztes, des Boten oder des Mündels lehren, ist substantielle Repräsentation ohne wechselseitige Autonomie nicht denkbar .34 Mit der Übertragung dieser Grundbeobachtung führt Pitkin den Konflikt in die politische Repräsentation ein . Sie rechnet sogar mit ihm, weil politische Fragen – anders als reine Wissensfragen – Meinungsverschiedenheiten geradezu provozieren .35 Die Möglichkeit des Konflikts, die Fragilität,36 wird damit zur konstitutiven Bedingung, umgekehrt sind Ruhe, Stabilität und Identität keine sinnvollen Größen politischer Repräsentation .

33 34 35 36

Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 154: „The representative must really act, be independent; yet the represented must be in some sense acting through him .“ AaO ., 152; ähnlich Kelsen, der in Anlehnung an die zivilrechtliche Begrifflichkeit des § 164 Abs . 1 BGB das Botenmodell ablehnt und stattdessen das Organ als Stellvertreter begreift, Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, 343 ff . Vgl . auch Lepsius (Fn . 15), 24 ff . „Wants are indefinable, unascertainable; means are debatable and numerous .“ Harold Foote Gosnell, Democracy, The Threshold of Freedom, 1948, 146, zit . nach Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 137 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 155: Representation als „extraordinarily fragile and demanding human institution“ .

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b) Responsivität und Konfliktvermeidung Der latenten Gefährdung dieses Mobiles stellt Pitkin die Responsivität zur Seite, die die Freiheit des Repräsentanten sanft diszipliniert: „What the representative does must be in his principal’s interest, but the way he does it must be responsive to the principal’s wishes .“37 Dies erzeugt einen interessanten Effekt: Das handlungsleitende objektive Interesse und die subjektiven Wünsche des Vertretenen können Konflikte erzeugen, miteinander harmonieren, sich ergänzen und gegenseitig beeinflussen . Nur wenn ein ernsthafter andauernder Bruch vorliegt, ließe sich nicht mehr von substantieller Repräsentation sprechen, weil dann nicht mehr Abwesende vergegenwärtigt werden wollen oder können .38 Abweichungen und Zumutungen sind daher möglich, z . B . bei eiligen Entscheidungen, Notfällen oder bei Desinteresse und Unkenntnis der Wähler . Kommt es aber zur Abweichung, so bedarf es der Erklärung, denn nur dann kann man sagen, jemand will für einen anderen handeln . Dies unterscheidet den Oligarchen, den Expertokraten und den Paternalisten vom substantiell Repräsentierenden . Umgekehrt zwingen subjektive Wünsche und Meinungen so zur Überprüfung des objektiven Interesses . Bleibt es dennoch beim andauernden Konflikt, dann zerbricht die Repräsentation, weil es offenbar an einer überzeugenden Erklärung fehlt . Der Unterschied zwischen subjektiven Wünschen und objektiven Interessen ist damit – innerhalb eines politischen „Lagers“ – weniger unüberwindbar als es zunächst den Anschein hat, er versteht sich eher als diskursiver Zwischenstand, bedingt durch temporäre Informations- und sachliche Konkretisierungsvorsprünge . Die beiderseitige Freiheit führt auf diese Weise zu wechselseitiger Korrektur, die von Konfliktträchtigkeit und Responsivität angetrieben wird .39 c) Interessen: Nicht-repräsentationsfähige Extreme Auch bei der Ergründung des tragenden Interessensbegriffs geht Pitkin wieder vom breiten Sprachgebrauch aus, den sie von den Extremen her ordnet: objektive vs . subjektive Interessen .40 Paradigmatisch für die erste Gruppe ist Edmund Burkes virtuelle Repräsentation unpersönlicher und abstrakter Interessen durch eine fähige Elite . Dagegen kommt man mit Rousseau zur Ablehnung der Repräsentierbarkeit, weil der Wille nicht vertreten werden kann .41 Pitkin kann beiden etwas abgewinnen . Sie stimmt mit Rousseau überein, dass bei willkürlichen, höchstpersönlichen Meinungen eine repräsentative Handlung tatsächlich nicht möglich ist . Entsprechend geht es daher etwa auch bei Madison nicht darum, dass der Vertreter die Meinungen, Wünsche und Interessen der Vertretenen en détail kennt oder mit Burke sogar besser

37 38 39 40 41

AaO ., 155 . Vgl . zur Responsivität als der Bereitschaft den Willen der Bürger wahrzunehmen und zu berücksichtigen Pascale Cancik, VVDStRL 72 (2013), 268, 280 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 233: „[I]t is incompatible with the idea of representation for the government to frustrate or resist the people’s will without good reason, to frustrate it systematically or over a long period of time .“ Vgl . ebenfalls zur freiheitsbasierten Begründung Kelsen (Fn . 2), 3 ff ., 14 ff ., 29 ff .; Lepsius (Fn . 15), 15 ff . Vgl . dazu Buchstein (Fn . 14), 421 . Rousseau (Fn . 8) .

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kennt . Der Witz der Repräsentation liegt beim Federalist vielmehr darin, dass sich die unterschiedlichen „factions“ neutralisieren .42 Umgekehrt ist auch Burkes Konzept schlüssig, weil er meint, es gebe nur wenige, klar abgrenzbare abstrakte Interessen (z . B . des Handels oder der Landwirtschaft), die sich im Grunde als wissenschaftliche Fragen zeigen und keiner responsiven Haltung bedürfen .43 Beim objektiven Interessensbegriff fehlt es also an der Handlungsmöglichkeit des Betroffenen, beim subjektiven, willkürlichen Begriff kann der Vertreter keine wirklich eigenständige Handlung vornehmen . Beides verhindert substantielle Repräsentation . Die Familienähnlichkeit lehrt, dass mehr als die eindeutigen Extremfälle die Schattierungen es sind, die Aufschluss geben . Pitkin drückt dies durch Je-desto-Relationen aus: je mehr Expertise, je mehr objektives Interesse, je mehr Paternalismus, je mehr Relativismus, je mehr Willkür, je mehr Zufall, desto unwahrscheinlicher ist Repräsentation . Der Interessensbegriff darf zwischen diesen Polen mäandern . Denn natürlich kann man mit Burke auch heute noch Gruppeninteressen identifizieren, die einer Typisierung offen stehen . Andererseits muss ein freiheitlicher Demokratiebegriff subjektive Ausdeutungen individueller Interessen erlauben . Damit wird deutlich, dass es bei der politischen Repräsentation um ein Projekt mittlerer Reichweite geht,44 denn weder ist eine Großformel an partikulare Wünsche und Widersprüche anschlussfähig, noch können völlig willkürliche, subjektivistische Interessen im bipolaren Spiel der Repräsentation aufgegriffen werden . Innerhalb dieser weiten Grenzen erweisen sich politische Entscheidungsgegenstände dann aber geradezu als Prototyp der substantiellen Repräsentation, denn sie werden in einem Melange aus Verhandlung und Kompromiss entschieden:45 „They are questions about action, about what should be done; consequently they involve both facts and value commitments, both ends and means . And, characteristically, the factual judgments, the value commitments, the ends and the means, are inextricably intertwined in political life .“46

4. Zwischenergebnis Halten wir an dieser Stelle Pitkins methodische Verlagerung der Repräsentationstheorie von der Abbildung und Symbolik zur Handlung und Erzeugung fest . Substantive representation heißt demnach:47 (1) Der Repräsentant muss unabhängig und nach eigenem Ermessen und Urteil handeln . Er ist derjenige, der handelt . (2) Der Repräsentierte ist aber ebenfalls als handlungs- und urteilsfähig zu betrachten und müsste hypothetisch selbst tätig werden können . 42 43 44 45 46 47

James Madison, Federalist Nr . 10; Pitkin (Fn . 14), Concept of Representation, 192 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 179 . Vgl . ähnl . zur Funktion der Repräsentation als einer „vernünftigen mittleren Linie“ Kelsen (Fn . 2), 31 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 212 . AaO ., 212; vgl . auch James Madison, Federalist Nr . 37; dazu Lepsius (Fn . 2), v . a . 146 ff . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 209 .

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(3) Ein Konflikt zwischen (1) und (2) darf normalerweise nicht auftreten . Kommt er aber vor, so muss der Repräsentant eine Erklärung liefern . Pitkin überträgt dies auf die politische Repräsentation, mit der Folge, dass sie es nun mit zwei selbstbestimmten Polen zu tun hat, die sich zwischen Expertokratie und Paternalismus, Willkür und Relativismus bewegen . Der nahe liegende Konflikt ist einerseits Voraussetzung funktionierender Repräsentation, ein langfristiger, struktureller Konflikt muss andererseits vermieden werden, weil andernfalls nicht angenommen werden kann, dass subjektiv noch die Bereitschaft zur substantiellen Vertretung bestünde . Der Bruch der Repräsentation versteht sich somit weniger im metaphysischen Sinne, sondern liegt in der fehlenden Vermittelbarkeit der Gründe . III. was

leIstet dIeser

repräsentatIonsBegrIff?

Obschon Pitkin die Repräsentation im Grunde voraus- bzw . sie mit Demokratie gleichsetzt,48 sie die repräsentative Demokratie also nicht explizit rechtfertigen will, gestattet ihre Analyse eine normative Aussage über den Mehrwert der Repräsentation . 1. TheoreTischer MehrwerT: absTrakTion auF MiTTlerer höhe Der demokratische Wille wird bei Pitkin durch Repräsentation als Handlung erzeugt . Die dazu erforderliche Dynamik entstammt der sich aus distanzierten Polen der Repräsentationsbeziehung ergebenden Spannung . Wir haben gesehen, dass zu viel Stabilität zwar schadet, weshalb für Pitkin Begriffe wie Staat, Volk oder Souveränität unergiebig sind . Wie kann es andererseits aber nun sein, dass Schwäche und Fragilität überhaupt einen brauchbaren repräsentativen Willen hervorbringen? Die freiheitsbasierte Begründung der Demokratie wird von Pitkin nämlich auch auf den Vertreter bezogen, ohne dessen Funktion durch den Amtsbegriff49, durch Identitätsbilder oder andere normative Momente (z . B . Gemeinwohl) zu sichern . Die kaum stabilisierte Repräsentationsverbindung müsste eigentlich sehr häufig brechen . Aber genau darin liegt der Clou . Die Schwäche des Repräsentationsbegriffs, seine Fragilität, Distanz und Konfliktmöglichkeit erweisen sich als stabilisierende Elemente, denn die so erzeugte wechselseitige Dynamik zwingt beide Seiten, sich auf ein mittleres Maß zuzubewegen . Nur so lässt sich der Bruch vermeiden .50 Die Fragilität nötigt also zur Abstraktion von den je partikularen und höchst subjektiven persönlichen Interessen,51 gleichzeitig zügelt sie die utopische Abstraktion, weil 48 49 50

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Pitkin, Representation and Democracy (Fn . 14), 335 ff . Vgl . Böckenförde (Fn . 2), 320 ff .; Kielmansegg (Fn . 2), 21 ff .; krit . dazu Isensee (Fn . 2) . Einen nicht unähnlichen begrifflichen Effekt sehen wir bei Madison im Federalist Nr . 37, wenn er auf die Unsicherheit und Komplexität politischer Fragen abstellt, die Ungenauigkeit der Wahrnehmung und die Vagheit der Sprache als Medium der Mitteilung . Vgl . dazu Lepsius (Fn . 2), 148 f . Die so erzeugte Verallgemeinerbarkeit löst sich von speziellen Interessen, vgl . Madison, Federalist Nr . 10; dazu Brunhöber (Fn . 1), 248 ff . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 222: Repräsentation ermögliche „more complex and longrange ways of representing than are possible for an isolated agent“ . Vgl . zur so möglichen Willensbildung, die mit Pluralität und konfligierenden Minoritäten umgehen kann Buchstein (Fn . 14), 423 .

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diese im Wechselspiel von objektivem Interesse und subjektivem Wunsch unglaubwürdig würde . Diese Zerbrechlichkeit erzeugt ein neues Niveau der Argumentation,52 das sich auf mittlerem Level von den subjektiven Meinungen löst und auf diese Weise die persönliche innere Überzeugung der beteiligten Menschen respektiert . Fragilität und Schwäche sind damit nicht nur Konsequenz wechselseitiger Freiheit, sondern auch deren Garant . Wenn es dennoch Partei- und Fraktionsaustritte oder Parteineugründungen gibt und wenn es (natürlich) zu Wählerwanderungen am Wahltag bzw . demoskopischen Stimmungsumschwüngen kommt, so zeigt sich daran der bisweilen notwendige und mögliche Bruch . Bis es soweit kommt, ist die „eigene Klientel“ genauso wie der Vertreter immer wieder bereit, auch Zumutungen hinzunehmen und Kompromisse mit sich selbst einzugehen . Dies folgt aus der als rational unterstellbaren Einsicht, dass die eigene Position nie vollständig durchgesetzt werden kann . Nur durch Relativierung und Abstrahierung hat der einzelne überhaupt noch – aber immerhin – die Chance, möglichst viel Deckungsgleichheit zu erzeugen . Die Alternative wäre, den Vertretungszusammenhang zu boykottieren oder zu verlassen und damit noch nicht einmal mehr die abstrahierte Position beeinflussen zu können . Es bliebe nur noch die Wahl zwischen Schicksalsergebenheit und dem Reflex virtueller Vertretung im Stile Burkes . Die Vorzugswürdigkeit der ersten Variante baut zugegebenermaßen auf eine Annahme, aber zumindest auf eine, die damit, dass die wenigsten Teilnehmer in Demokratien an der Gründungsurkunde mitwirkten, noch einigermaßen nachvollziehbar umgehen kann .53 2. prakTische leisTungsFähigkeiT: MulTipolare koMproMissFähigkeiT Um den praktischen Mehrwert des durch Fragilität erzeugten Abstraktionseffekts zu demonstrieren, muss man ihn mit Pitkin der politischen Realität unterwerfen, die freilich nochmals vertrackter ist als eine bipolare Repräsentationsbeziehung im privaten Bereich .54 Der Repräsentant hat es nämlich mit einer dreifachen Komplexität zu tun:55 zum einen ist die Wählerschaft natürlich nicht homogen, sondern setzt sich aus einer Vielzahl von Interessen und Meinungen zusammen .56 Der Abgeordnete ist zweitens in verschiedenen Netzwerken und Institutionen, namentlich seine Partei und Fraktion, eingebunden . Hinzu kommt drittens die je höchstpersönliche Einstellung des Vertreters, seine moralischen oder religiösen Überzeugungen, seine Werte und privaten Pläne . 52

53 54 55 56

Dies ist vergleichbar mit Poppers Unterscheidung dreier Welten der Erkenntnis, nach der die zweite Welt die Bewusstseinszustände und Verhaltensdispositionen umfasst, die dritte Welt hingegen die objektiven Gedankeninhalte, wie wissenschaftliche Gedanken, objektive Theorien, Probleme und Argumente . Die dritte Welt löst sich vom erkennenden nicht aber vom erzeugenden Subjekt, vgl . Karl R . Popper, Objektive Erkenntnis, 2 . Aufl . 1974, 123 ff . Vgl . zum faktischen Hineingeborensein und zur Mitgliedschaft in einer Demokratie Möllers (Fn . 5), Nr . 20, 23 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 215 ff . AaO ., 219 . Vgl . dazu nur Dieter Grimm, Krisensymptome parlamentarischer Repräsentation, in: Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, hg . von Peter M . Huber u . a ., 1995, 9 f .

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Zur Realität politischer Repräsentation gehört ferner auch die Konkurrenz von lokalen und nationalen, von kurz- und langfristigen Interessen und schließlich die Beobachtung, dass nur ein geringer Teil der Vertretenen überhaupt Interessen artikuliert, sich informiert und an der Repräsentationsbeziehung aktiv teilnimmt . Manche Entscheidungen müssen ferner schnell, auf vager Tatsachengrundlage oder gegen eine momentane öffentliche Meinung getroffen werden . Die formalen, deskriptiven und symbolischen Repräsentationsbegriffe haben damit vordergründig keine Probleme, wenn sie sich nur auf ihre jeweiligen Kriterien des „Seins“ berufen . Dies erklärt andererseits deren Erklärungsnöte, wenn der statische Repräsentationsanspruch vor der dynamischen Realität nicht überzeugt .57 Pitkins Begriff braucht dagegen weder eine politische „invisible hand“, noch muss sie kontrafaktisch die kollidierenden Interessen auf unterschiedlichen Ebenen gleichsetzen, also etwa durch die Annahme, dass sich die nationalen und lokalen Interessen im Grunde und auf lange Frist entsprächen .58 Dies mag manchmal der Fall sein, sehr oft aber eben auch nicht (z . B . Stromtrassen oder Endlager) .59 Mit Madison erscheint es klüger, die unausweichliche Existenz kollidierender Interessen anzuerkennen und mit ihnen umzugehen, statt sie zu beseitigen .60 Pitkin unterstellt dementsprechend keine Harmonie, sondern rechnet vielmehr ganz realistisch damit, dass in mehrdimensionalen Beziehungen (Wähler, Wählerschaft, Partei, Fraktion, föderale Ebenen, eigene Interessen etc .), Konflikte entstehen, weil freie Menschen frei handeln: „[T]here is latitude in a political system for apathy, ignorance, and self-seeking“ .61 Wie aber kann in dieser Gemengelage sinnvolle substantielle Repräsentation zustande kommen, wie kann der Abgeordnete eines Wahlkreises noch repräsentieren, wenn er gleichzeitig der Partei-, Fraktions-, Landes-, Bundes- oder Europaraison genügen soll und seine eigenen Überzeugungen schließlich auch noch hat? Er müsste in seiner Person als Anwalt lokaler und eigener Wünsche auftreten und gleichzeitig über diese im Blick auf konkurrierende Interessen richten . Er müsste als Knotenpunkt und Mittler all der konkurrierenden Meinungen und Interessen wirken . Zur praktikablen Entspannung (nicht Auflösung) dieser latenten Widersprüchlichkeit62 erweist sich erneut die lose Bindung, die wechselseitige Freiheit und die Abstraktionsleistung der Fragilität als Vorteil: sie gibt Spielraum und diszipliniert zugleich . Ein Abgeordneter kann damit sehr weit gehen, nämlich bis an die Grenze des Bruchs mit den Wählern, mit seiner Partei oder Fraktion . Er muss vieles vereinbaren: er kann es aber auch! Er kann über das objektive Interesse vermitteln, weil der Repräsentationsbegriff die subjektiven Wünsche zur Verallgemeinerbarkeit zwingt – nicht nur ihn, sondern alle, die an der Repräsentationsbeziehung teilnehmen . Als personales Bindeglied von Staatsorganen, Parteien, Wählern, kann er – wie 57 58 59 60 61 62

Vgl . zu den Krisen der repräsentativen Demokratie nur Kielmansegg (Fn . 2), 35 ff .; Grimm (Fn . 56), 3 ff .; Hermann Pünder, VVDStRL 72 (2013), 191, 193 . Man denke nur an Großprojekte vor Ort mit überregionalen Auswirkungen, wie Trassenplanungen, Verkehrsinfrastruktur, Olympiabewerbung etc . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 217 . James Madison, Federalist Nr . 10 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 225 . Vgl . nur zum Verhältnis von Art . 38 Abs . 1 Satz 2 GG und Art . 21 GG mwN . Hofmann (Fn . 1), 26 .

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kein anderes Organ – als mit Wissen, Spielraum und Kompromissfähigkeit ausgestattete Schnittstelle fungieren . 3. grenZen: noTwendigkeiT der insTiTuTionalisierung Der inhaltliche Zwang zur Abstraktion ist das eine – das damit verbundene und bisweilen kaschierte Verblassen von Idealen politischer Repräsentation das andere . Kann man überhaupt noch von Repräsentation sprechen, wenn politische Entscheidungen sich in multipolaren Kompromissen erschöpfen, die sich nur bedingt responsiver Entstehung verdanken? Dass die Rückbindung – im Vergleich zur man-toman Ebene – nachlässt, wird nicht von der Hand zu weisen sein .63 Ist Repräsentation also doch nur Fiktion? Pitkin muss nun endgültig von der Alltagssprache zur repräsentativen Demokratie als öffentlicher Ordnung übergehen:64 „Political representation is primarily a public, institutionalized arrangement involving many people and groups, and operating in the complex ways of large-scale arrangements .“65 Die Repräsentativität einer konkreten demokratischen Ordnung kann damit nicht von einer einzelnen Handlung oder Maßnahme eines Organs abhängen, sondern es kommt auf das Gesamtniveau der durch die Institutionenordnung sanktionierten Repräsentativität an . Dennoch bleiben die Grundstrukturen unverwechselbar . Denn wie der Vormund das Mündel oder der Arzt den Patienten nicht repräsentieren, so ist der gute, soziale und erfolgreiche Diktator ebenso nicht Spitze einer repräsentativen Regierung, wie eine sich volksnah gebende Regierung, die fortwährend nach der öffentlichen Meinung frägt . Das substantive acting for und die Responsivität verschieben sich damit auf die öffentliche Ebene, so dass öffentliches Interesse handlungsleitend wird und öffentliche Meinung nach Responsivität heischt .66 Die Vergegenwärtigung von Abwesenden durch Repräsentation muss im institutionellen Setting implementiert, möglich und abgesichert sein, aber es ist anders als beim Laufburschen und Diener dennoch die Regierung selbst, die handelt .67 Repräsentatives Regierungshandeln ist demnach „independent action in the interest of the governed, in a manner at least potentially responsive to them, yet not normally in conflict with their wishes .“68 Die Institutionalisierung erlaubt es dem Repräsentanten, seine komplexe Rolle auszufüllen und entlastet ihn von der Unmöglichkeit der permanenten Interaktion . Eingebunden in äußere Formen vermag er, mal mehr, mal weniger responsiv und mit Spielraum versehen, Politik zwischen Partei, Fraktion und föderalen Ebenen zu betreiben . Die mittelfristigen Zeiträume bis zur formalisierten Ab- oder Wiederwahl strecken seine Rechenschaftspflicht und erlauben Überzeugungsarbeit – ein Effekt der im Fall der Listenwahl noch verstärkt wird . Damit schlägt die Stunde des Verfassungsrechts, weil Pitkin hier abstellt auf „functioning institutions that are de63 64 65 66 67 68

Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 221 . Vgl . Institution und Öffentlichkeit als Schlüsselbegriffe bei Buchstein (Fn . 14), 423 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 221 . AaO ., 224 . Vgl . aaO ., 233: „There need not be a constant activity of responding, but there must be a constant condition of responsiveness, of potential readiness to respond .“ AaO ., 222 .

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signed to, and really do, secure a government responsive to public interest and opinion .“69 Die zuvor als bloß-formalistisch gekennzeichneten Formen der Autorisierung durch Wahlen, der Abwahl und des Regierungswechsels, des Parlamentsund Statusrechts u . v . m . werden so am Ende wieder in die Repräsentation integriert70 – wenngleich mit dienender Funktion und im Spannungsverhältnis von Form und Inhalt .71 4. anwendungsFragen Pitkins handlungsorientierter Repräsentationsbegriff kennt weder Urbild noch Abbild,72 sondern die Erzeugung . Die Tendenz der Abbildungstheorien, sich zu sehr auf die Zusammensetzung von Parlamenten statt auf deren Handlungsfähigkeit zu konzentrieren, stößt daher erwartbar auf ihre Kritik .73 Entsprechend dürfte bei ihr das angelsächsische Mehrheitswahlrecht den Vorzug vor der Verhältniswahl genießen, weil das Wahlvolk dort Responsivität effektiv sanktionieren kann, während Verhältniswahlen nicht selten dazu führen, dass Repräsentationsverluste sich kaum in den politischen Machtverhältnissen widerspiegeln .74 Die durch Interessens- und Meinungsdifferenzen erzeugte Spannung – der Treibstoff responsiver Politik – bleiben dann ohne Auswirkung und erzeugen Frustration . Andererseits ist der Preis des Akzeptabilitätsverlusts in „winner-takes-all“-Systemen sehr hoch . Möglichweise ist dies einer der Gründe, warum sich Piktin zuletzt durchaus kritisch über das tatsächliche Verhältnis von Demokratie und Repräsentation geäußert hat .75 Dabei gibt es dazu keinen Grund: man muss nur immer wieder neu das Zusammenspiel von objektiven Interessen und subjektiven Wünschen bedenken und Responsivität institutionell sanktionieren .76 Misst man daran einige Entscheidungen des BVerfG aus der jüngeren Zeit, die die Sperrklauseln für die Wahl zum Europaparlament77 und für Kommunalparlamente78 sowie die Frage der Überhangmandate bei den Wahlen zum Bundestag betreffen,79 so zeigt sich eine Tendenz zur Optimierung der deskriptiven auf Kosten80 der substanti69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

AaO ., 234 . Dass Pitkin die institutionellen Voraussetzungen nicht deutlicher integriert, wird von ihr Jahrzehnte später selbstkritisch eingeräumt . Vgl . Pitkin, Representation and Democracy (Fn . 14), 335, 336 . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 240 . Vgl . Buchstein (Fn . 14), 425 . Vgl . zur ideellen Urbild-Abbild-Dialektik Hofmann (Fn . 1), 24 ff . Pitkin, Concept of Representation (Fn . 14), 226 . Z . B . weil es bloß innerhalb von Koalitionen Verschiebungen gab oder aus einer kleinen Koalition nun eine große wird . Pitkin, Representation and Democracy (Fn . 14), 335 ff . Pitkin selbst räumt ein, dass dies möglicherweise in der Erfahrung in den USA begründet sei, wenn sie diagnostiziert, dass Repräsentation zunehmend Demokratie ersetze statt ihr zu dienen, vgl . Pitkin, Representation and Democracy (Fn . 14), 335, 339 f . BVerfGE, 129, 300; anders noch BVerfGE 51, 222 . BVerfGE 120, 82 . BVerfGE 131, 316 . Deskriptive Repräsentation im Sinne ähnlicher, genauer Abbildung und Gleichheit der Wahl („Repräsentationsgleichheit“ vgl . BVerfGE 131, 316, 342) entsprechen einander .

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ellen Repräsentation .81 Mit dem Einzug von Splittergruppen und Einzelkämpfern in Parlamenten und Gremien steigt zwar der Grad der Ähnlichkeit, deren Fähigkeit zu substantieller Repräsentation bleibt freilich gering und die Abläufe in den Gremien werden erschwert . Ähnliche Fragen werfen die Überhangmandate bei der Wahl zum Deutschen Bundestag auf . Die Begrenzung der ausgleichslosen Überhangmandate82 und der nun vorgesehene Ausgleich83 dient zweifellos der mathematisch genaueren Abbildung . Ein Bundestag mit – im nicht ganz unmöglichen Fall – über 700 Mitgliedern84 degeneriert gewiss auch nicht zum handlungsunfähigen Ungetüm, die Arbeitsfähigkeit befördern dürfte eine solche Ausweitung aber auch nicht . Noch ein zweiter Aspekt soll angesprochen werden, zu dem Pitkin anregt . In der graduellen Abstufung der repräsentativen Qualität rangiert eine Politik am unteren Ende, je mehr sie sich auf Expertenwissen beruft und sich mit Sachzwängen oder Zeitknappheit rechtfertigt . Doch das Konzept der substantiellen Repräsentation lässt es durchaus zu, im objektiven Interesse und auch einmal ohne oder gegen die öffentliche Meinung politisch opportun zu handeln, d . h . politische Führung zu übernehmen . Wir können aus der sprichwörtlichen „Alternativlosigkeit“ von Maßnahmen, z . B . der Eurorettung,85 daher nicht grundsätzlich schließen, dass eine demokratisch legitimierte Regierung ihren Repräsentationsanspruch verlöre . Kommt es aber bei bestimmten Politiken – bleiben wir beim Beispiel des Euro – dazu, dass einzelne Meinungen, Sorgen und Interessen keine rechte Vergegenwärtigung im relevanten politischen Prozess finden,86 weil sie etwa als „europafeindlich“ tabuisiert gelten oder exekutivlastiger Europapolitik unterliegen, so kann man hier ein sektorales Repräsentationsdefizit sehen .87 Wesentlich interessanter als dadurch angeregte Parteineugründungen ist nun die Reaktion des BVerfG darauf, das via Art . 38 GG eine Form der Ersatzkanalisierung88 solchermaßen unterrepräsentierter Meinungen bietet, denn die so ermöglichte Entleerungsrüge bezieht sich auf den substantiellen Gegenstand formaler Teilhabe .89 Wir sehen hier erneut, wie Autorisierung und Repräsentation auseinanderfallen können . Dies ist nur natürlich, denn kein Organ hat ein Repräsentationsmonopol . Auch extra-konstitutionelle Akteure vermögen Repräsentation auszuüben, wie Kirchen, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Gruppen, nicht gewählte Exilregierungen etc . Es gibt also Legitimation ohne Repräsentation und umgekehrt . 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Vgl . ähnlich zur Ergänzung der Funktionsfähigkeit durch Repräsentationsfähigkeit in der Rspr . bei Pascale Cancik, VVDStRL 72 (2013), 268, 296 ff . BVerfGE 131, 316 . 22 . Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, BGBl . 2013 I, 1082 . Vgl . Hermann Pünder, VVDStRL 72 (2013), 191, 223; Sophie-Charlotte Lenski, AöR 134 (2009), 473, 495; Heiko Holste, NVwZ 2013, 529 . Vgl . zu den Umständen Hans Hofmann / Georg Kleemann, ZG 2011, 313; Frank Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), 183, 219 . Vgl . zu „alternativlosen“ Eilgesetzen und erhöhtem Fraktionsdruck Wolfgang Kahl, DVBl. 2013, 197, 198 . Vgl . zur Kritik an „Sachzwängen“ und „Ermächtigung von Experten“ Schorkopf (Fn . 85), 216 f . So machten allein beim ESM/Fiskalvertragsverfahren über 40 .000 Beschwerdeführer von dieser Möglichkeit Gebrauch; vgl . Franz C . Mayer, EuR 2014, 473, 503 . BVerfG, Beschl . v . 14 .1 .2014–2 BvR 2728/13 u . a . (OMT), Rn . 51 unter Verweis auf BVerfGE 89, 155, 171; 129, 124, 168 . Vgl . dazu u . mwN . Cancik (Fn . 81), 283; Jan Henrik Klement, ZG 2014, 169, 175 ff .

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Nimmt man Pitkins Vorstellung institutionalisierter Responsivität aber ernst, so gilt jedenfalls innerhalb konstitutioneller Systeme, dass im Normalfall eine autorisierte Regierung (bzw . die sie tragenden Fraktionen) auch substantiell repräsentiert und, wenn sie es nicht tut, das Defizit im Stile eines Nullsummenspiels von der Opposition oder durch neue Parteien ausgeglichen wird .90 Problematisch ist es dagegen, wenn ein Organ, z . B . das BVerfG oder der Bundespräsident, relevante Repräsentationsasymmetrien erzeugt, ohne in das wechselseitige und sanktionierende Spiel von Interessen und Wünschen eingebunden zu sein .91 Insoweit kann man zwar gutheißen, wenn das BVerfG über die Entleerungsrüge tabuisierten und übergangenen Meinungen zur Repräsentation verhilft, wo die primären Stellen offenbar versagen .92 Gleichzeitig entstehen dadurch Unwuchten, weil das Gericht nicht eigeninitiativ handeln kann und kaum zur Abstraktion und korrigierenden Responsivität in der Lage ist . Die im OMT-Verfahren zur Reichweite der Währungspolitik der EZB nochmals verstärkte Tendenz, die eigene substantielle Repräsentationsfähigkeit auszuweiten93 und gleichzeitig in Kauf zu nehmen, dass sich jene der Parlamente aus Gründen deskriptiver Optimierung verschlechtert, muss man daher kritisieren . Iv. fazIt Erwies sich die Strategie fragiler Repräsentationsverhältnisse zunächst als kontraintuitiv, so zeigt sich deren Mehrwert, wenn man mit Pitkin den Wähler und seine Vertreter als freie Menschen in den Blick nimmt, die Wünsche und Werte haben, ignorant, irrational und egoistisch sein dürfen . Stellt man dagegen auf Homogenität, das Volk als Gesamtheit, gar den Souverän, ab und hält den Staat für den Bezugsrahmen,94 dann wirkt die so zugelassene Unsicherheit verstörend, weil von Abbildung und Identität keine Rede mehr sein kann und jede temporäre Meinungsverschiedenheit dort Krisen erzeugt, wo Pitkin daraus demokratischen Gewinn zieht . Der auf Herstellung gerichtete Zugriff Pitkins vermeidet damit den problematischen Dualismus zweier Volkswillen . Man kann mit ihr die formalen Entstehungsbedingungen demokratischer Willensbildung kritisieren, aber nicht ersetzen . Damit steht uns ein politischer Begriff zur Verfügung der die juristische Zurechnung nicht stört, aber die tatsächlichen Repräsentationsbeziehungen und -defizite aufhellt . Denn Repräsentation findet ja so oder so statt: faktisch, legitimiert oder nicht-legitimiert, berufen oder nicht-berufen, mit guten oder schlechten Absichten . Dies kann eine demokratische Ordnung nicht unbeeindruckt lassen, auch wenn sie im engeren Sinne in der Tat ohne Repräsentation gedacht werden kann .95 Die frei90 91 92 93 94 95

Vgl . nur zur Funktion der Parteien Larry Kramer, Political Organization and the Future of Democracy, in: The Constitution in 2020, hg . von Jack M . Balkin / Reva B . Siegel, 2009, 167 ff . Vgl . zur aus Repräsentation folgenden Anmaßung der Legitimation Meyer (Fn . 2), 100 ff . Vgl . allg . dazu Grimm (Fn . 56), 9, 14 . BVerfG, Beschl . v . 14 .1 .2014–2 BvR 2728/13 u . a . (OMT) . Dazu Franz C . Mayer, EuR 2014, 473, 503 . Vgl . zum Staat als Bezugspunkt Horn (Fn . 18), Rn . 10 . Vgl . dazu Meyer (Fn . 2), 104; Möllers (Fn . 5), Nr . 32 .

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heitsbezogene Demokratisierung der Repräsentation ist zwar ein aufwändiges Unterfangen, wir lernen aber mit Hanna Pitkin wie sie möglich ist: durch Distanz, Spielräume und Konflikt .

Markus biTTerl, wien eIgenheIten

InstItutIoneller

zur Bedeutung

von

InstItutIonen

anerkennung als

medIum

der

anerkennung

Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Institutionen für eine politische Theorie der Anerkennung liegt nicht unmittelbar auf der Hand . Zwar ist Anerkennung ein zeitloser Klassiker der Rechtsphilosophie und auch Institutionen erfreuen sich in letzter Zeit erhöhter akademischer Aufmerksamkeit . Ebenso unbestritten ist, dass Institutionen für Anerkennung und Selbstwerdung eine wichtige Rolle spielen können .1 Die Frage aber, ob es einen spezifischen Zusammenhang zwischen politischer Anerkennung und dem Phänomen der Institution gibt, ob politische Anerkennung nicht notwendig auf Institutionalisierung verweist und an diese rückgebunden bleibt, scheint bisher nicht ausreichend betrachtet worden zu sein . Die zentrale Stellung des Anerkennungsthemas verdankt sich der sich mittlerweile weitestgehend etablierten Einsicht, dass der Mensch ein intersubjektives Wesen ist, also nicht ohne oder gar gegen, sondern nur durch den Anderen sein volles Selbstsein und seine Freiheit verwirklichen kann . Freiheit und Selbstheit sind demnach nur partiell durch Abgrenzung von anderen Menschen erreichbar und bedürfen zu ihrer vollen Entfaltung des positiven Bezugs zu anderen . Das Leitmotiv dieser Einsicht lässt sich mit Fichtes bekanntem Diktum auf den Punkt bringen: „Der Mensch (…) wird nur unter Menschen ein Mensch .“2 Wie aber erfahren wir Intersubjektivität? Der Modus, in dem sich Intersubjektivität ereignet, in dem sich unsere wesentliche Relationalität verwirklicht, ist – zumindest aus der Perspektive des Politischen – Anerkennung . Anerkennung ist in der politischen Philosophie daher zum Schlüssel für Freiheit avanciert . Umgekehrt gilt: Wenn in unsere äußere Freiheit eingegriffen wird, wenn uns Unrecht angetan wird, dann ist es die damit einhergehende implizite Anerkennungsverweigerung, die uns in unserer Würde verletzt, die unser Menschsein betrifft . Die Bedeutung der Anerkennung für unser Leben als soziale Wesen muss nun nicht näher erläutert werden . Auch dass Institutionen als praktische Realbedingung zur Verwirklichung unserer Freiheit beitragen, ist offensichtlich . Aber gibt es einen Grund, warum Institutionen nicht nur möglicherweise oder nebenbei oder als ein Aspekt unter vielen, sondern vielmehr ganz wesentlich und unverzichtbar im Rahmen einer politischen Anerkennungstheorie zu thematisieren wären? Die Frage ist: Können oder müssen wir über Institutionen sprechen, wenn es um politische Anerkennung geht? Um diese Frage zu beantworten, ist zuerst die Vorfrage zu stellen, ob es wesentliche Unterschiede zwischen politischer Anerkennung und derjenigen Anerken1

2

Vgl . etwa Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, 2011; Benno Zabel, Das Recht der Institutionen . Zu einer Kultur der Freiheit jenseits von Individualismus und Kollektivismus, in: Autonomie und Normativität, hg . von Benno Zabel / Kurt Seelmann, 2014, 153 ff .; Antje Gimmler, Institution und Individuum, 1998 . Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1991, 39 .

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Markus Bitterl

nung, die im nicht- oder vorpolitischen Bereich eine Rolle spielt, gibt . Denn zumindest im persönlichen Bereich sind Institutionen nicht unverzichtbar . I. dIe grenzen

des BIrelatIonalen

anerkennungsmodells

Wenn wir über Anerkennung sprechen, dann meinen wir in den meisten Fällen eine bilaterale Bewegung . Nicht nur historisch basieren diverse Theorien der Anerkennung auf dem Modell des Zusammentreffens zweier Personen – nicht zuletzt die berühmteste und wirkmächtigste, die Dialektik von Herr und Knecht .3 Auch die heutige anerkennungstheoretische Debatte dreht sich zum allergrößten Teil um die Frage, wie zwei Menschen einander anerkennend begegnen, wofür sie einander Anerkennung gewähren und was daraus für sie folgt . Diese Fokussierung auf das direkte zwischenmenschliche Verhältnis besteht völlig zurecht, wenn man die für unser Selbstsein und unsere Freiheit grundlegenden Anerkennungsrelationen betrachtet, etwa die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, die Liebesbeziehung, das Zusammentreffen mit anderen Menschen am Arbeitsplatz usw . Und auch dort, wo wir es mit größeren Gebilden zu tun haben, treten uns diese Gebilde durch Personen gegenüber, mit denen wir direkt interagieren . Immer wieder stellt sich die Frage, wie es um die jeweilige Anerkennungsbeziehung bestellt ist, wenn wir es mit konkreten Menschen zu tun haben . Thema aller möglichen methodischen Perspektiven ist daher immer wieder „der Andere“ und die Art der Begegnung mit ihm . Wie verhält es sich aber mit der für die politische Philosophie relevanten Anerkennung? Lassen sich politische Anerkennungsrelationen als besonderer Anwendungsfall direkter, persönlicher Anerkennungsbeziehungen deuten? Ein Blick in die politische Anerkennungsdebatte zeigt, dass das Grundmuster interpersonaler Anerkennung auch dann, wenn wir über Anerkennung im Kontext von Gruppen, Institutionen oder Großstrukturen, etwa „dem Markt“, sprechen, analog auf diese nichtpersonalen Verhältnisse übertragen wird . Das bedeutet, dass auch im Rahmen der politischen Philosophie politisch relevante Anerkennung zumeist vom Modell der ursprünglich unpolitischen Anerkennungsbeziehung her verstanden wird . Insbesondere sind auch politische Anerkennungstheorien zumeist nach dem bewährten Muster des Aufeinandertreffens zweier Personen aufgebaut . Und auch dort, wo Institutionen explizit thematisiert werden, werden diese oftmals an die Stelle eines anerkennenden Subjekts in einer bilateralen Beziehung gesetzt . Aber ist diese Parallelisierung und Übertragung adäquat? Die Analogie vom unmittelbar persönlichen auf den politischen Bereich im Rahmen der Anerkennungstheorie ist m . E . deswegen verfehlt, weil sich die Sphäre des Politischen nicht 3

Die Frage, ob es sich beim Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft überhaupt um eine sozialphilosophisch zu verstehende Theorie der Intersubjektivität handelt, was mit Blick auf seine Stellung innerhalb der PhG und die das Kapitel umgebenden Passagen zweifelhaft scheint, kann hier unberücksichtigt bleiben . Für ein Beispiel einer intrapersonalen Deutung siehe Pirmin Stekeler-Weithofer, Wer ist der Herr, wer ist der Knecht? Der Kampf zwischen Denken und Handeln als Grundform des Selbstbewusstseins, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne., hg . von Klaus Vieweg / Wolfgang Welsch, 2008, 205 ff .

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Eigenheiten institutioneller Anerkennung

nach dem Modell direkter Individualbeziehungen verstehen lässt . Die soziale Bezogenheit des Menschen, von der wir in der politischen Anerkennungstheorie ausgehen und die sich in seiner Charakterisierung als zoon politikon ausdrückt, erschöpft sich nicht in Birelationalität, wenn diese auch unverzichtbar sein mag . Wenn wir über Intersubjektivität sprechen, dann dürfen wir nicht nur an „den Anderen“ denken, wenn dieser in letzter Zeit auch zu unglaublicher philosophischer Prominenz gelangt sein mag, wir müssen auch an die Anderen denken . Der Grund dafür ist, dass sich die politische Gemeinschaft nicht als Vielzahl einander überlagernder Zweierbeziehungen verstehen lässt . Als Subjekte werden wir Teil von Gruppen und Gemeinschaften, deren Größe eine gewisse Anonymisierung zur Folge hat . Innerhalb dieser Verbände, denen wir angehören, stehen wir natürlich nicht mit jedem einzelnen anderen Mitglied in einem je direkten Anerkennungsverhältnis . Folglich lassen sich Gemeinschaften auch nicht als Summe solcher Anerkennungsbeziehungen verstehen . Das bedeutet, dass diejenige Intersubjektivität, von der wir zugeben, dass sie für unsere Freiheit und Selbstheit nötig ist, nicht allein durch bilaterale Beziehungen eingeholt werden kann . Um unsere Subjektivität angemessen zu erfassen, reicht es also nicht aus, das Moment der Intersubjektivität und unsere wesentliche Bezogenheit auf den Anderen zu berücksichtigen, wir müssen außerdem – um die die Subjektivität ermöglichende Intersubjektivität richtig zu verstehen – den Bezug zu unpersönlichen oder gar überpersönlichen Strukturen eigens betrachten . Volle Freiheit ist nicht nur mit dem Modell des atomistischen Einzelindividuums außer Sichtweite, sie kann auch nicht allein durch die Hinzufügung bilateraler Anerkennungsbeziehungen angemessen in den Blick gebracht werden . Es muss außerdem der über- bzw . unpersönliche politische Bezug berücksichtigt werden . Sind wir für Freiheit auf Intersubjektivität angewiesen und erweisen sich direkte, persönliche Beziehungen als unzureichend, um Intersubjektivität vollständig, also unter Berücksichtigung unserer politischen Natur darzustellen, dann müssen wir mit Gruppen und Gemeinschaften in Beziehungen eintreten, um diesem Aspekt unserer sozialen Ausrichtung gerecht zu werden . Intersubjektivität bekommt dabei die Bedeutung eines Verhältnisses zu ganzen Gruppen und letztlich zur gesamten politischen Gemeinschaft, der man angehört . Wobei sich das Verhältnis zu einer Gemeinschaft weder praktisch noch theoretisch als Verhältnis zu jedem einzelnen Mitglied dieser Gemeinschaft rekonstruieren lässt .

II. InstItutIonen

als

medIum

der

anerkennung

Wenn die Gemeinschaft, mit der wir in ein „intersubjektives“ Verhältnis eintreten, aber nicht als Anhäufung persönlicher Beziehungen rekonstruiert werden kann, dann kann politische Anerkennung sich auch nicht in der Form ereignen, wie wir das aus unseren direkten Beziehungen kennen . Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wenn wir es mit einer Gruppe oder Gemeinschaft zu tun haben, dann handelt es sich dabei nicht um ein Subjekt, zu dem eine direkte Beziehung überhaupt möglich wäre . Wir können mit größeren Gebilden nicht in ein direktes Anerkennungsverhältnis eintreten . Die politische Gemeinschaft als ganze ist kein geeignetes Gegenüber, das mit uns in einer Beziehung stehen und uns darin Anerkennung gewähren

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Markus Bitterl

könnte . Wir haben weder zum Staat noch zum Markt oder zur Gesellschaft und auch nicht zu den zahllosen kleineren Gruppen und Gemeinschaften innerhalb der Gesellschaft eine persönliche Beziehung . Diese scheitert jeweils am mangelnden greifbaren Gegenüber . Sofern wir aber auf Freiheit und Selbstheit ermöglichende Anerkennung von Gruppen und Gemeinschaften angewiesen sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise die Gemeinschaft uns diese Anerkennung zukommen lässt, wenn das Modell der Zweierbeziehung dafür nicht infrage kommt . Es soll hier vorgeschlagen werden, dass Institutionen diese Aufgabe übernehmen und anstelle der Gemeinschaft in Anerkennungsbeziehungen eintreten . Sie wären nach dieser Deutung das Medium, durch welches eine Gemeinschaft gegenüber einem Subjekt in Erscheinung treten kann . Institutionen sind selbst weder Subjekt noch Gemeinschaft, sondern verkörpern und handeln für die Gemeinschaft in subjektanaloger Weise .4 Wenn eine Institution zum Pol einer Anerkennungsbeziehung wird, bekommt Intersubjektivität die Form, dass einem Subjekt nicht ein anderes gegenübersteht, sondern ihm ein Gebilde gegenübersteht, das stellvertretend für eine Gruppe in diese Relation eintritt . Daraus ergibt sich freilich eine Asymmetrie, die der klassischen Anerkennungstheorie, deren wesentliches Merkmal das Prinzip grundsätzlicher Gleichheit ist, eigentlich zuwiderläuft . Diese Asymmetrie bedeutet aber kein Defizit, sondern ist dem Phänomen der Gemeinschaft und der politischen Relationalität des Subjekts geschuldet . Die Notwendigkeit von Institutionen ergibt sich daraus, dass der Gemeinschaft als Ermöglichungsbedingung wahrer Freiheit Rechnung getragen werden soll, zugleich aber die Tatsache ernstzunehmen ist, dass die politische Gemeinschaft nicht als Ansammlung individueller Relationen rekonstruiert werden kann und mit der Gemeinschaft kein direktes Verhältnis nach dem klassischen Modell der Anerkennungstheorie möglich ist . Beispielhaft seien einige konkrete politisch-juristische Institutionen kurz erwähnt: Vom Staat werden wir als Rechtssubjekte, also als Träger von Rechten und Pflichten, und insbesondere als Grundrechtssubjekte anerkannt . Die Grundrechte als Institutionalisierung von Freiheit limitieren das Handeln des Staates und gewähren uns namens der politischen Gemeinschaft Anerkennung für unsere Individualität und Freiheit, dafür dass wir mehr sind als ein bloßer Teil des Ganzen . Wenn Verfassungsgerichte das Recht des Einzelnen oft zum relativen Nachteil einer Mehrheit schützen, dann wird dieser Einzelne in seinem freien Menschsein und seiner sich in Rechten manifestierenden Würde anerkannt . Die Institutionalisierung der Ehe und die Ausstattung derselben mit gewissen Privilegien – es sei bspw . an das nicht durch bloßes Eigeninteresse des Staates zu erklärende prozessuale Zeugnisverweigerungsrecht erinnert – gewährt uns Anerken4

Ich möchte an dieser Stelle auf eine genaue Definition des Begriffs der Institution verzichten, da dessen Vielschichtigkeit eine Definition nur um den Preis der unangemessenen Verkürzung erlaubt . Gemeint sind jedenfalls Strukturen und Phänomene, die rechtlich, politisch oder sittlich verfasst sind und entweder Anerkennungsbeziehungen ermöglichen oder selbst in solche eintreten . Freilich umschließt der Begriff auch Gebräuche und Traditionen, deren Rolle für unsere Freiheit und Selbstheit gesondert zu untersuchen wäre . Für eine sehr gute phänomenologische Annäherung an den Begriff der Institution siehe Rahel Jaeggi, Was ist eine (gute) Institution?, in: Sozialphilosophie und Kritik, hg . von Rainer Forst u . a ., 2009, 529 ff .; weiters John Searle, „What is an institution?“, Journal of Institutional Economics 1 (2005), 1 ff .

Eigenheiten institutioneller Anerkennung

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nung dafür, dass wir als intersubjektive Wesen nicht nur der politischen Gemeinschaft bedürfen, sondern auch direkter zwischenmenschlicher Nähe und Anerkennung . In der Ehe erhalten wir gedoppelte Anerkennung: Einmal vom Ehepartner und einmal von dem die Institution schützenden Staat . Die Gemeinschaft gibt uns befreiende Anerkennung für unsere Angewiesenheit auf die befreiende Anerkennung, die wir in einer Ehe erhalten; wir erhalten Anerkennung dafür, dass wir liebende und liebesbedürftige Wesen sind . Wichtig und auffällig wird diese Doppelung im negativen Fall: So bedeutet der Ausschluss Homosexueller von der Ehe gleich einen zweifachen Anerkennungs- und Freiheitsverlust . Nicht nur enthält der Staat Homosexuellen in Selbstheit beschädigender Weise Anerkennung für ihre Beziehung vor, sondern der Modus dieser Anerkennungsverweigerung ist selbst wieder der Ausschluss von einer Freiheit ermöglichenden direkten Anerkennungsbeziehung .5 Die Justiz institutionalisiert nicht nur die Anerkennungsbeziehung, die zwischen den Streitparteien vorausgesetzt sein muss, wenn diese ihren Konflikt zivilisiert austragen wollen, sie verkörpert selbst auch eine Anerkennung von seiten der Gemeinschaft dafür, dass Rechtsschutz ein legitimes Anliegen ist, dass die Verletzung individueller Rechte alle betrifft . Auch in den vielschichtigen Normen des Strafprozesses kommt die Anerkennung der berechtigten Schutzinteressen der betroffenen Parteien zum Ausdruck . Selbst die Strafe stellt nach Hegel bekanntlich eine Form der Anerkennung dar, in ihr wird der „Verbrecher als Vernünftiges geehrt“6 . Der Verbrecher erhält Anerkennung dafür, dass er als freies Vernunftwesen auch anders hätte handeln können . Indem wir ihm einen Vorwurf für sein Handeln machen und ihn dafür bestrafen, unterscheiden wir den Menschen vom Tier, das wir bloß dressieren, dem wir sein Verhalten aber nicht vorwerfen . Der Schuldvorwurf enthält die Ernstnahme der Menschwürde, die der vermeintlich humaneren, nur noch prognostisch arbeitenden Sozialtechnik fehlt . Freilich hängt dann von der Ausgestaltung des Vollzugs der Strafe ab, ob wirklich von einer durch Anerkennung, Freiheit und Selbstheit gewährenden Institution gesprochen werden kann . Inhumaner Strafvollzug bedeutet ganz konkret die Verweigerung der Anerkennung der Humanität des Bestraften . Analoges gilt übrigens auch für den vielfach unterentwickelten Opferschutz im Strafrecht, der dem Opfer seine angemessene Stellung zugunsten des Strafanspruches des Staates verweigert . Schließlich ist unter den zahllosen staatlichen Institutionen noch besonders auf diejenigen hinzuweisen, die uns allerlei Zuschüsse, Hilfen und andere Dienstleistungen und Güter zukommen lassen . Von diesen Institutionen werden wir regelmäßig für die die entsprechende Leistung auslösende Lebenslage anerkannt . Es handelt sich – von Ausnahmen abgesehen – nicht um gnadenhaft gewährte Ermessensleistungen, sondern um antragsgemäß erfüllte Rechtsansprüche . In der Erfüllung des jeweiligen Anspruchs liegt die Anerkennung unserer als Berechtigte . Die Sozialhilfe ist bspw . eine Institution, die Anerkennung dafür gewährt, dass wir für ein men5

6

Das bedeutet freilich nicht, dass nichteheliche Beziehungen keine befreienden Anerkennungsverhältnisse sind . Die Bedeutung der Ehe als Formalisierung einer Liebesbeziehung, wobei die „Liebesehe“ selbst natürlich ein jüngeres Phänomen ist, wäre gesondert zu diskutieren, allerdings zeigt der Kampf vieler Menschen um Zugang zu dieser Institution, dass sie noch immer als besondere und erstrebenswerte „Verfestigung“ einer Beziehung gesehen wird . Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1986, § 100 A .

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schenwürdiges Leben auf materielle Mindestbedingungen angewiesen sind . Außerdem bedeutet die Institutionalisierung sozialer Hilfsleistungen das Eingeständnis unserer Gesellschaft, dass soziale Not nicht ausschließlich selbstverschuldet ist, sondern dass unser Wirtschaftssystem unvermeidbar auch Armut produziert, worauf schon Hegel hingewiesen hat .7 III. spezIfIka

InstItutIoneller

anerkennung

Ich habe zu zeigen versucht, warum im Rahmen einer politischen Anerkennungstheorie notwendig Institutionen zu thematisieren sind: Erstens, weil wir unsere soziale und politische Relationalität nicht vollständig durch Individualbeziehungen einholen können und weil wir zweitens mit Gemeinschaften nicht direkt in eine Beziehung eintreten können, weshalb befreiende gemeinschaftliche Anerkennung nur durch das Medium der Institutionen vermittelt werden kann . Ich möchte nun zum letzten Teil übergehen und die Frage stellen, inwiefern sich institutionelle Anerkennung von direkter zwischenmenschlicher Anerkennung unterscheidet . Wenn davon auszugehen ist, dass Anerkennung uns Freiheit und Selbstheit ermöglicht, dann ist dabei vorausgesetzt, dass es sich um adäquate Anerkennung handelt, dass wir als die Person anerkannt werden, die wir sind . Werden wir nicht so gesehen wie wir sind, werden wir gar in eine Rolle gedrängt, werden wir zu etwas anderem gemacht als es unserem – einigermaßen realistischen – Selbstverständnis entspricht, dann kann gar nicht von Anerkennung gesprochen werden . Thomas Bedorf weist allerdings darauf hin, dass auch gelingende Anerkennung prinzipiell das Moment der Verkennung in sich trägt .8 Das liege daran, dass es im anerkannten Subjekt stets einen „Überschuss der Alterität“ gibt, „der in den Rollen, Identitäten und Masken, die dem Anderen unweigerlich zugeschrieben werden, nie ganz aufgeht“ .9 Deswegen bleibe „volle Authentizität“10 in der Anerkennung unerreichbar, insofern „auch erfolgreiche Anerkennung den Anderen zu einem identifizierten Anderen macht und diese Identität die Andersheit des Anderen notwendig limitiert .“11 Die partielle Verkennung in jeder Anerkennung birgt die Gefahr einer „Beschränkung der Autonomie“12 durch Festlegung einer Identität, die nie ganz zutrifft und immer zu eng bleiben muss . Auch wenn Anerkennung uns prinzipiell Freiheit und Selbstheit ermöglicht, dann bedeutet die unvermeidbare Verkennung, die jeder Anerkennung innewohnt, stets eine Gefahr des Misslingens . Eine die eigenen Limitationen nicht bedenkende Anerkennung kann dann in eine Freiheitsbe7

8 9 10 11 12

„Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, dh an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern .“ (GPR § 245) . Herbert Schnädelbach interpretiert treffend: „Der ‚Pöbel‘ ist bei Hegel der existierende Widerspruch, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören und zugleich von ihr ausgestoßen zu sein, ihren Anforderungen zu unterstehen und zugleich durch sie selbst jeder Chance beraubt zu sein, ihnen zu genügen .“ (Hegels praktische Philosophie, 2000, 292) . Verkennende Anerkennung, 2010 . AaO ., 140 . AaO ., 144 . AaO ., 146 . AaO ., 193 .

Eigenheiten institutioneller Anerkennung

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drohung umschlagen . Insofern bleibt Anerkennung vor dem Hintergrund der uneinholbaren Alterität des Menschen stets ein Risiko und führt zu einem unabschließbaren Wechselspiel von „Herausforderung und Antwort“13, in dem Identitäten offen bleiben und stets neu zu verhandeln sind . Diese von Bedorf beschriebene Verkennung, die zu einer Bedrohung der Freiheit führen kann, wenn sie im Prozess der Anerkennung nicht bedacht wird, ist im Falle institutioneller Anerkennung noch viel stärker ausgeprägt . Anders als im direkten zwischenmenschlichen Umgang versuchen Institutionen nämlich gar nicht, den Anderen in all seinen Aspekten so zu erfassen wie er ist, sondern zielen von vornherein nur auf bestimmte Hinsichten . Während wir uns als Menschen daran erinnern müssen, dass wir unser Gegenüber nie ganz einholen können, dass wir es – wenn auch noch so gut – stets nur partiell kennen und es uns immer auch entzogen bleibt, versuchen Institutionen gar nicht, ihr Gegenüber möglichst gut und umfassend zu kennen . Sie erheben gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit ihrer Anerkennung und möchten ihr Gegenüber auch nicht in seiner vollen Identität wahrnehmen . Während direkter zwischenmenschlicher Anerkennung (hoffentlich) zumindest der Versuch zugrundeliegt, den Anderen so adäquat wie möglich zu erfassen, lässt sich institutionelle Anerkennung mit zwei Begriffen charakterisieren, die geradezu das Gegenteil von individueller Adäquanz ausdrücken: Spiegelbild und Schablone . Institutionelle Anerkennung spiegelt uns stets nur als diejenigen wider, als die wir uns präsentieren . Sei es als Antragstellerin in einem beruflichen Zulassungsverfahren, in dem wir nicht unsere ganze Identität, sondern nur unsere Befähigungsnachweise vorlegen; sei es als Inhaber eines Rechts, der vor Gericht dessen Verletzung behauptet; sei es als jemand, der von seinem Wahlrecht Gebrauch macht oder eine Hilfsleistung beantragt . Wir zeigen der Institution diejenige Seite unserer selbst, die für diese Institution relevant ist, und werden nur auf diese Seite hin betrachtet und nur für ebendiese anerkannt . Menschenrechte werden Menschen gewährt, Eheprivilegien Eheleuten . Im Falle der Anerkennung wirkt die Institution wie ein Spiegel, der nur eine Seite abzubilden vermag . Der Rest unseres Selbstseins ist der Institution gleichgültig, sie hat es nur mit einem schmalen Ausschnitt unseres Selbst zu tun; ihre Anerkennung ist stets limitiert und verfehlt uns zum größten Teil . Indem wir nur einen Aspekt unseres Selbst zeigen und nur für diesen anerkannt werden, bekommt die Anerkennung der Institution zugleich etwas Schablonenhaftes . Die Institution hat es immer wieder mit gleichförmigen Aspekten unterschiedlicher Individuen zu tun, für die sie gleichermaßen Anerkennung gibt . Diese Anerkennung ist für alle Betroffenen gleich . Hier wird gerade nicht Individualität und Selbstheit mit all ihren Facetten anerkannt, sondern immer wieder derselbe Aspekt unterschiedlicher Menschen . Wenn Menschen eine Ehe schließen wollen, legen sie nur die erforderlichen Nachweise vor, die Genehmigung dazu ist aber für alle Betroffenen gleich; auf die ansonsten unterschiedlichen Verhältnisse und die Besonderheiten der Beziehung wird nicht geachtet, für sie gibt der Staat keine Anerkennung . Es handelt sich um eine Art fließbandproduzierte Anerkennung, die von mehr Aspekten absieht als sie beachtet und die für alle gleichförmig gewährt wird . Die Schablonenanerkennung ist explizit unindividuell .

13

AaO ., 197 .

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Markus Bitterl

Während also im Zwischenmenschlichen das Moment der Verkennung in jede Anerkennung eingeschrieben ist, überwiegt die Verkennung im Institutionellen derart, dass von Anerkennung eigentlich nur in analoger Weise gesprochen werden kann . Jedoch bedeutet im Zwischenmenschlichen Verkennung ein, wenn auch unvermeidbares, Defizit und wird als verkannte Verkennung zur Gefahr, weil sie den fortdauernden Prozess der Anerkennung abzubrechen und Autonomie zu beschränken droht . Im Institutionellen hingegen birgt die Verkennung ein produktives, Freiheit bewahrendes Moment . Insofern die Verkennung daher rührt, dass institutionelle Anerkennung stets nur spiegelbildlich zu haben ist, muss nämlich bedacht werden, dass wir gute Gründe haben, einer Institution nur bestimmte Aspekte unseres Selbstseins zu offenbaren . Anerkennung impliziert auch immer erkennen; wer aber möchte schon durch und durch sichtbar und erkennbar sein, wer möchte sich immer und überall dem kritischen Blick der Anderen aussetzen, wer möchte etwa von einer Institution, gerade auch einer politischen, ins gleißende Licht gezerrt werden? Zu unserer Freiheit und Selbstheit gehört es, dass wir zum Teil im Dunklen bleiben, nicht alle Seiten unseres Selbst zeigen wollen . Das totale Erkennen, die absolute Sichtbarkeit würde völlig unfrei machen . Gerade im Zeitalter der Digitalisierung und virtuellen „Verewigung“14 stellt sich die Frage nach einer Rückzugsmöglichkeit in die Unsichtbarkeit, die Frage nach Unerkennbarkeit in einer Welt potentiell totaler Nacktheit . Insofern die Verkennung ihren Grund darin hat, dass institutionelle Anerkennung nur wie durch eine Schablone gegeben wird, muss daran erinnert werden, dass Freiheit nie ohne Gleichheit zu haben ist, soll es sich nicht nur um die Freiheit einiger weniger handeln . Das Schablonenhafte institutioneller Anerkennung bedeutet zwar, dass sie ihrem Gegenüber als Individuum nie adäquat ist, dass sie aber zuverlässig, berechenbar und eben gleich ist . Jaeggi weist deshalb darauf hin, dass Delegation und Vertretbarkeit der in einer Institution unmittelbar Tätigen wichtige Elemente der Gleichförmigkeit sind und „Handlungen so reglementiert sein (müssen), dass festgelegt und erwartbar ist, was der einzelne institutionell Handelnde tun wird .“15 Die normierte, formalisierte Anerkennung, die Institutionen geben, mag unpersönlich sein, in ihr artikuliert sich aber der Wille zu Rechtssicherheit, Gleichheit und damit Freiheit .16 Die Verkennung im Rahmen institutioneller Anerkennung – in ihren beiden kurz skizzierten Ausprägungen – ist also nicht nur freiheitsbedrohend, sondern im Unterschied zum zwischenmenschlichen Bereich jeweils auch positiv Freiheit bewahrend . Wichtig ist allerdings, dass die Institution sich ihrer prinzipiellen Verkennung bewusst bleibt und somit die Alterität ihres Gegenübers anerkennt . Sofern die Institution der Asymmetrie Rechnung trägt, dass sie selbst überhaupt nicht alteritär ist, nichts an ihr geheimnisvoll und entzogen ist, sie es aber mit einem radikal alteritä14 15 16

Die kürzliche Entscheidung des EuGH zum sogenannten „Recht auf Vergessen“ ändert natürlich nichts an den technischen Gegebenheiten und der grundsätzlichen Problematik . AaO ., 531 . Nicht Gegenstand dieser Arbeit ist das gesondert zu untersuchende Problem einer Verwaltung, die vor lauter Schablonenhaftigkeit den Aspekt der Billigkeit vernachlässigt . Weiterführend stellt sich mit Hannah Arendt natürlich auch die Frage nach der Verantwortung der „bloß“ regelanwendenden Organe im Extremfall .

Eigenheiten institutioneller Anerkennung

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ren Subjekt zu tun hat, das Seiten an sich hat, die die Institution nicht zu interessieren haben, solange diese Asymmetrie nicht aus dem Blick gerät, besteht nicht die Gefahr eines institutionellen Totalitarismus . Institutionelle Anerkennung ist also dann adäquat, wenn erstens die nicht vorhandene Alterität der Institution in expliziter Transparenz derselben zum Ausdruck kommt und zweitens die Alterität des Subjekts durch eine bewusste Selbstbeschränkung der Institution ausdrücklich anerkannt wird . Mit Jaeggi lässt sich sagen, dass sich eine gute Institution nicht gegenüber ihrem Urheber, dem Menschen, verselbständigt und damit den „Umstand ihres ‚Gemachtseins‘, den Umstand also, dass sie Resultat menschlicher Praxis, das heißt Resultat kollektiver Instituierung und Akzeptanz ist, verdeckt .“17 Institutionen müssen sich also bewusst sein, dass sie für die Menschen und ihre Freiheit da sind – und nicht umgekehrt . Insofern müssen Institutionen der Freiheit auch ihre eigene Modifikations- und Abschaffungsmöglichkeit institutionalisieren . Sollte dies alles gelingen, lässt sich zusammenfassend sagen: Wenn wahre Freiheit nur durch intersubjektive Bezugnahme erreichbar ist, wenn erst die Anerkennung der Anderen uns frei und uns selbst sein lässt, dann kann für uns, insofern wir gemeinschaftliche Wesen sind, nicht nur eine beschränkte Anzahl von Zweierbeziehungen die Grundlage unserer Freiheit sein, dann muss im Bereich des Politischen ein Geflecht mehrdimensionaler, transpersonaler Intersubjektivität vorhanden sein . Dieses Geflecht besteht in und wirkt durch Institutionen, welche formalisierte – und insofern zu einem großen Teil verkennende – Anerkennung ermöglichen . Institutionelle Anerkennung ist für Freiheit und Selbstheit zwar nicht hinreichend, aber notwendig, will man die politische Dimension des Menschseins nicht unterschlagen . Ihre Funktion erfüllen Institutionen aber nur dann, wenn sie den Eigenheiten ihrer Anerkennung – institutionell – Rechnung tragen .

17

AaO ., 542 .

paula Maria nasser cury, heidelberg personwerden: rechtsphIlosophIsche skIzzen zur rolle der „natur des menschen“ In der konstruktIon der suBjektIvItät I. semantIsche eIngrenzungen

und rechtlIche

annäherungen

„Gott hat den Menschen geschaffen, die Menschen sind ein menschliches, irdisches Produkt, das Produkt der menschlichen Natur“ .1 Mit diesen Worten weist Arendt darauf hin, dass sowohl die Philosophie als auch die Theologie und allgemein das wissenschaftliche Denken den Menschen als ein universalisierbares, zu einer Gattung gehörendes Exemplar betrachten . Dasselbe gelte jedoch nicht in Bereichen, in denen es sich um das Zusammenleben der Verschiedenen handele, wie die Politik und eben das Recht . Arendt will damit betonen, dass der Begriff einer einzäunenden Natur des Menschen der Komplexität des sozialen Miteinanderseins nicht genüge tut . Vielmehr sollte in diesem Bereich von der Pluralität von Lebenseinstellungen, Zwecken, Überzeugungen usw . ausgegangen werden . Allerdings taucht im rechtlichen Bereich nach wie vor die Idee auf, dass es einen dem Menschen innewohnenden, unveränderlichen Kern von Eigenschaften gäbe, welcher allen zur Menschengattung Gehörenden zugeordnet sei – nämlich die menschliche Natur . Ein solcher Kern umfasse nicht nur biophysische Eigenschaften wie das Humangenom oder die Anatomie des menschlichen Gehirns . Darin eingeschlossen seien auch psychisch-moralische Besonderheiten, wie ein aus der Fähigkeit zur praktischen Vernunft abgeleiteter Sinn für Gerechtigkeit und eine immanente Würde . In dieser Hinsicht besagt Art . 1 AEMR: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren . Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen“ . Vom Menschen ist ebenso in Art . 1 Abs . 1 Satz 1 GG die Rede: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ .2 In derselben Richtung wird in der Fachliteratur behauptet, dass „das universale (oder jedenfalls nahezu universale) Interesse an einer Norm [der zweiten Art] offenbar in der unveränderlichen Natur des Menschen [gründet]!“3 Natur bezeichne in diesem Zusammenhang eine Konstellation von Merkmalen, die unabhängig vom menschlichen Handeln gegenüber sich selbst, den anderen und der Welt existiere4 und als ein aus der Zugehörigkeit zur Menschheit abgeleitetes (Vor-)Gegebenes eine eigene, intrinsische Rationalität aufweise . Begründet könnte ein solcher Begriffsgehalt durch verschiedenartige Annahmen sein, die jedoch alle

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3 4

Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg . von Ursula Ludz, 1993, 9 . Unter Berücksichtigung der Auslegung des BVerfG zu diesem Artikel meint aber Kirste: „Von einem Menschenbild der Verfassung oder etwa der Menschenrechte kann dann insofern gesprochen werden, als induktiv und interpretativ aus einschlägigen Rechtssätzen Kriterien gewonnen werden, die dann verallgemeinernd zu einem Bild zusammengefügt werden .“ Stephan Kirste, Verlust und Wiederaneignung der Mitte – zur juristischen Konstruktion der Rechtsperson, Evangelische Theologie 60 (2000), 25 . Norbert Hoerster, Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, 2006, 97 f . (Herv . d . Verf .) . Allen Buchanan, Better than human: the promise and perils of enhancing ourselves, 2011, 13 .

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Paula Maria Nasser Cury

letztlich transzendentaler Art sind .5 Aufgrund dessen setze die Rede über die menschliche Natur die Existenz von etwas in sich Wertvollem voraus, das nicht zerstört werden sollte .6 So wird z . B . von einem rätselhaften factor X7 gesprochen, der „die natürliche Werthaftigkeit des Menschen in geradezu mathematischer Manier berechenbar darlegen soll“ .8 Jedoch trifft eine solche Argumentationsweise im Lichte der zeitgenössischen Wissenschaftsstandards, die nur vertrauenswürdig sind, sofern sie auf feststellbaren Daten beruhen, nicht zu . Nach diesen Standards ist der Mensch bzw . die menschliche Person eher ein materielles, empirisch beobachtbares Phänomen und eben in seiner Materialität zu betrachten . Für das Recht sind die Auswirkungen der Frage nach einer Natur des Menschen äußerst relevant . Die Thesen der Übereinstimmung zwischen Menschen und menschlicher Person einerseits und der Zuschreibung einer gegebenen menschlichen Natur als Konstituens des Personseins andererseits kommen bei strafrechtlichen Streitfragen wie Abtreibung, Euthanasie und Beihilfe zur Selbsttötung ins Spiel . Gleichwohl betrifft die Problematik Bereiche wie den zivilrechtlichen z . B . in Bezug auf den Status des Anenzephalus . Erwähnt seien auch die Persönlichkeitsrechte und die Tierrechte . Im Hinblick auf die damit verbundenen ethischen Implikationen, insbesondere in bioethischen Grenzfällen9, scheint die Antwort auf die Frage, ob Anforderungen an das Recht aus einer Natur des Menschen erwachsen können, offenbar positiv zu sein . Worin aber diese Natur besteht, in welcher Art sie sich auf den Personenbegriff bezieht und inwieweit die daraus abgeleiteten rechtlichen Auswirkungen gerechtfertigt werden sollten, sind Fragestellungen, die im Folgenden thematisiert werden . Bezüglich des Personenbegriffs wird sich der Untersuchungsgegenstand auf die menschliche Person konzentrieren . II. üBerBlIck

üBer das

verhältnIs

zwIschen

menschseIn

und

personseIn

Das Verhältnis zwischen Menschsein und Personsein ist nicht nur für das Recht, sondern auch etwa für die Philosophie und die Bioethik10 von Bedeutung . Seitdem Locke in seinem Essay über den menschlichen Verstand die Frage nach der Diachronie der personalen Identität aufwarf, sind zu dem Thema zahlreiche verschiedenartige Stellungnahmen entstanden . Insofern betont Quante: „[J]e nach philosophischer 5

6 7 8 9 10

Da das Wort transzendental in mehrere Richtungen interpretiert werden kann, erweist sich die hier verwendete Terminologie als erklärungsbedürftig . In diesem Aufsatz wird sich dem kantischen und nach-kantischen Verständnis des Terminus als „Prädikat der Erkenntnis, die sich mit den apriorischen Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung beschäftigt“, in Gegenüberstellung zum Empirischen angeschlossen . Gemeint ist daher nicht das Transkategoriale im ontologischen Sinne . Transzendental; Vorbemerkung der Redaktion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie: Volltext-CD-ROM des Gesamtwerks, hg . von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel, 2010, 43626 . Buchanan (Fn . 4), 21 . Jan-Christoph Heilinger, Anthropologie und Ethik des Enhancements, 2010, 133 . Francis Fukuyama, Our posthuman future, 2002, 160 . Dazu James Rachels, The elements of moral philosophy, 2007; vgl . z . B . den Fall Tracy Latimers, 8 . Für Anmerkungen zur bioethischen Diskussion danke ich Carolina Nasser und verweise auf ihr bisher nicht veröffentlichtes Manuskript O conceito de extended mind e os impactos nos direitos de personalidade.

Personwerden: Rechtsphilosophische Skizzen zur Rolle der „Natur des Menschen“

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Position sind menschliche Personen leibliche Wesen oder haben einen Körper, verfügen über Selbstbewusstsein, haben ein Selbst, können autonom handeln, sind für ihre Taten verantwortlich, haben Willensfreiheit oder nicht“ .11 Eine Darstellung dieser Positionen erweist sich daher als sinnvoll . In der heutigen Diskussion sind diesbezüglich zwei Hauptströmungen zu unterscheiden .12 Die Äquivalenz-Doktrin verdeutlicht, dass Menschsein und Personsein gleichbedeutend sind . Demnach seien alle zur Menschengattung gehörenden Wesen Personen – eine Eigenschaft, die ihrerseits nur Menschen zugeordnet werden dürfe . Die andere Strömung plädiert wiederum für die Nichtäquivalenz zwischen dem Menschen und der Person, die sich schon mit aller Deutlichkeit im semantischen Feld manifestiere: Anders als der Begriff des Menschen, der grundsätzlich den darstellenden Charakter einer Aussage über das Menschsein zeige, enthalte der Begriff der Person (auch) eine Präskription, die sich auf Bereiche wie den der Ethik oder des Rechts auswirke .13 Innerhalb der Nichtäquivalenz-Doktrin sind zwei Auslegungsvarianten zu differenzieren: diejenige, die lediglich behauptet, dass nicht alle Menschen Personen sind, und diejenige, derzufolge es darüber hinaus nicht menschliche Personen gibt .14 Jenseits des Streits um die Äquivalenz/Nichtäquivalenz besteht allerdings eine gewisse Einigkeit darüber, dass die Erfüllung bestimmter Fähigkeiten Bedingung für das Personsein sei .15 Gestritten wird jedoch über deren Reichweite . Birnbacher schlägt einen Katalog vor, der die in den meisten Fällen erwähnten Fähigkeiten zum Personsein enthält . So seien unter den kognitiven Fähigkeiten die Intentionalität, die zeitliche Transzendenz der Gegenwart im Sinne eines Zukunftsbewusstseins, das Selbstbewusstsein, die Selbstdistanz und die Rationalität; unter den moralischen Fähigkeiten die Autonomie als Selbstbestimmung, die Moralfähigkeit, die Fähigkeit zur Übernahme von Verpflichtungen und die Fähigkeit zur kritischen Selbstbewertung genannt .16 Genauer betrachtet haben solche Fähigkeiten die Gemeinsamkeit, dass sie sich alle aus der Vernunft (entweder theoretisch oder praktisch) ableiten lassen . Die Identifizierung der Person mit einer vernunftfähigen Natur ist aber keine zeitgenössische Formulierung . Vielmehr fand sie bereits in den Lehren von Aristoteles und ausdrücklicher durch Theologen wie Boethius und Thomas von Aquin Verwendung . Da diese Art und Weise, die Person zu begreifen, immer noch im ethischen bzw . im rechtlichen Bereich berücksichtigt wird, soll zunächst auf die geschichtliche Konstruktion der Idee einer Natur des Menschen und ihre Beziehung zum Personsein zurückgegriffen werden . Beabsichtigt wird das Explizieren der in diesen Begriffen implizierten Festlegungen, die sich jedoch als Fundamente einer zeitgenössischen Auffassung der Subjektivität als unzulänglich erweisen könnten .

11 12 13 14 15 16

Michael Quante, Person, 2012, 5 . Dieter Birnbacher, Das Dilemma des Personenbegriffs, ARSP 73 (1997), 9 f . AaO ., 10 . Birnbacher (Fn . 12), 10 . AaO ., 12 . AaO ., 12 f .

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Paula Maria Nasser Cury

III. geschIchtlIche konstruktIon

des

suBjektIvItätsgedankens

1. die MiTTelalTerliche auFFassung der person Der Aufbau des Personenbegriffs geht auf das griechische Wort prosopon und zugleich auf das lateinische Wort persona zurück, in der Regel verstanden im theatralischen Zusammenhang als das Gesicht bzw . die Maske17, durch die die Schauspieler den Zuschauern ihre Rollen übermitteln konnten . Laut Thiel, „‚Persona‘ was then used to denote this role or character itself, and its denotation was transferred from the role on the stage to the role or function that an individual human being fulfills in real life“ .18 Nach dieser Tradition unterscheiden sich Mensch und Person dadurch, dass die persona bestimmte Rollen bzw . Eigenschaften des Menschen bezeichne und ihm soziale Anerkennung verleihe .19 Die rechtliche Verwendung von Person stammt aus dem römischen Recht und sollte ursprünglich die Identität des Rechtssubjekts im Unterschied zu bloßen Sachen bezeichnen .20 Später entwickelte sich der Terminus im Sinne der Zuschreibung von Rechten und Pflichten, was allerdings auch nicht menschliche Figuren in seinem Bedeutungsgehalt einschloss .21 Mit dem Christentum und dem Glauben an einen einzigen, aber gleichzeitig dreifaltigen Gott ist später ein tiefgreifenderes Individuationsbedürfnis entstanden . Vor diesem Hintergrund setzten sich Augustinus und Boethius gegen die Vorstellung der Person als Rolle ein . Anhand von Plato und Plotin ersetzte Augustinus die psyche durch die Idee einer von Gott geschaffenen Seele (anima) . Beeinflusst von der aristotelischen Kategorie der ersten Substanz, deren Wesensgehalt in der Rationalität besteht22, begriff Boethius wiederum die Person als „einer verständigen Natur unteilbare Substanz“ .23 In diesem Sinne erfasste er die Trinität als eine Essenz, aber drei Substanzen und drei Personen als Erscheinungsformen Gottes .24 Durch die Rationalität würden die nicht göttlichen Personen an der göttlichen Substanz teilnehmen .25 Unter dem Einfluss des aristotelischen Denkens leitete seinerseits Thomas von Aquin aus dieser theologisch konzipierten Rationalität eine besondere Würde des Menschen ab . Was dem Menschsein seine Besonderheit verleihe sei nach Aquin die aus ihrer selbstreflexiven Vernunft entstammende Freiheit über innere Akte wie das Erkennen und das Wollen26: „Doch in einer noch einzigartigen und vollkommeneren Weise findet sich das Besondere und Vereinzelte in den vernunftbegabten Sub17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Martina Ahmann, Was bleibt vom menschlichen Leben unantastbar? Kritische Analyse der Rezeption des praktisch-ethischen Entwurfs von Peter Singer aus praktisch-theologischer Perspektive, 2001, 266 . Udo Thiel, The early modern subject: self-consciousness and personal identity from Descartes to Hume, 2011, 26 . Stephan Kirste, Die beiden Seiten der Maske – Rechtstheorie und Rechtsethik der Rechtsperson, in: Person und Rechtsperson. Zur Ideengeschichte der Personalität, hg . von Stephan Kirste / Rolf Gröschner / Oliver Lembcke, 2015 . Ahmann (Fn . 17), 266 . Thiel (Fn . 18), 27 . AaO ., 28 . Boethius, Die Theologischen Traktate: lateinisch-deutsch, hg . von Michael Elsässer, 1998, 75 . AaO . AaO . AaO ., 268 .

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stanzen, die Herrschaft haben über ihr Tun, und nicht bloß zum Tun getrieben werden wie die anderen, sondern durch sich selbst tun . Die Tätigkeiten aber gehören den Einzelwesen zu . Und so haben unter den übrigen Substanzen die Einzelwesen von vernunftbegabter Natur auch einen besonderen Namen, und dieser Name ist Person“27 . In Elementen wie Substanz, Vernunft und Natur ist der Einfluss sowohl von Aristoteles als auch von Boethius klar zurückverfolgbar . Trotz bestimmter Meinungsverschiedenheiten spielte dieser Personenbegriff unter Scholastikern und ihren Nachfolgern bis zum siebzehnten Jahrhundert28 eine entscheidende Rolle im Gedanken über die Person29 . Dank der Ausprägungen dieser Auffassung von Person wurde auch der Begriff persona moralis als Eigenschaft des Personseins entwickelt . Nach Thiel: „This notion of a person as a rational substance (…) was linked by some to the old moral and legal contexts . (…) Thus, Alexander of Hales distinguishes three modes of being in Christ: subiectum, relating to his ‚natural being‘, consisting of soul and body; individuum, relating to his rational nature; and persona, which concerns his ‚moral being‘“30 . Von besonderer Bedeutung für das Recht sei, dass der Person als moralischem Wesen schon damals gewisse Vorstellungen von Freiheit und Würde zugeordnet worden seien, obwohl die damalige Praxis oftmals zur Negation dieser Eigenschaften führte – man denke nur an die Inquisition . Solche theologisch entwickelten Verbindungen zwischen Person, Freiheit und Würde werden trotzdem von manchen als die Grundlage des modernen Personenbegriffs betrachtet .31 Problematisch ist aber, dass es sich bei den Auffassungen von Theologen wie Boethius lediglich um einen vorausgesetzten, idealisierten Begriff verständiger Natur handelt . Wegen seiner Gottebenbildlichkeit wäre dem Menschen – ausschließlich – eine rationale Eigenschaft zugewiesen, wodurch er sich als Person kennzeichnet (und woraus seine [Menschen-] Würde abgeleitet wird) . Dies führt zu einer notwendigen Übereinstimmung von Menschsein und Personsein: Jeder lebende Mensch ist automatisch eine unteilbare Substanz vernunftbegabter Natur und folglich ein persönliches Wesen . 2. die carTesianische lehre des subsTanZiellen dualisMus Die Wahrnehmung von sich selbst als Schöpfer der Wirklichkeit kennzeichnet die Vollendung einer bereits seit dem Übergang vom Mittelalter zur Moderne spürbaren Wende im Subjektivitätsgedanken . In diesem Sinne könnte ein erster Formulierungsversuch über die Subjektivität bei Descartes identifiziert werden . Obwohl Descartes die boethische Vorstellung der Person als eine vernunftbegabte Natur über27 28 29 30 31

Thomas von Aquin, Gott der Dreieinige, hg . von Anselm Stolz, 1939, I, 29, 1 . Aber laut Thiel: „Even in the late seventeenth and early eighteenth century the Boethian notion of person was alive and well, and it can be found in philosophers who cannot be classed as simply neo-Scholastics .“ (Fn . 18), 36 . Zu bemerken ist jedoch, dass: „There were dissenting voices, however, especially in the context of the anti-Scholastic humanist movement in the fifteenth and sixteenth centuries .“ Thiel (Fn . 18), 35 f . AaO ., 28 (Herv . d . Verf .) . AaO . Vgl . auch Kirste (Fn . 2), 28 .

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nimmt, verwendet er den Terminus normalerweise nicht im technischen Sinne, sondern in Bezug auf die Summe von Körper und Geist .32 Allerdings unterscheidet sich das cartesianische Denken vom christlich-theologischen in wichtigen Aspekten . Während der Geist, so insbesondere die Scholastiker, aus einem unkörperlichen Konstituens des (unteilbaren) Menschen bestehe, seien für Descartes Körper und Geist eher zwei unabhängige Substanzen und nicht etwa im Hinblick auf die Gegenüberstellung von Form und Materie zu betrachten . Damit könne Descartes behaupten, dass der menschliche Geist (res cogitans), der überhaupt das Denken ermögliche, nicht unbedingt mit einem Körper (res extensa) verknüpft sein sollte .33 Diese Vorgehensweise hat ihre Wurzeln in der klassischen Philosophie . Im Phaedrus thematisiert Plato die Unterscheidung zwischen ephemeren und ewigen Substanzen . Demzufolge sei der Körper eine ephemere, der Geist eine ewige, im Körper eingesperrte Substanz .34 Mit Descartes wird diesem Dualismus einer erweiterte Dimension zugesprochen .35 Immer noch wird über zwei fundamentale Substanzen geredet; nun unterteilen sie sich bei Descartes in die materiellen, mit der physikalischen, irrationalen Welt identifizierbaren Substanzen und die immateriellen oder mentalen, auf das Geistige bezogenen Substanzen, deren Haupteigenschaft das Denkvermögen sei .36 Unabhängig davon, ob sich der Geist in einem Körper befindet, ist er immer ein denkendes Ding . Die Tätigkeit, zu denken, setze aber das Bewusstsein voraus . Dahingehend folgert Descartes, dass der Geist sich selbst immer bewusst sei . Somit sei das Bewusstsein die Grundlage nicht nur des Wissens im Sinne der Anerkennung von sich selbst als ein vom Körper unterscheidbares, denkendes Ding, sondern auch im Sinne der Individuation von sich selbst in Bezug auf alle anderen denkenden Dinge .37 Daraus resultiert, dass der Geist als eine gegebene denkende Substanz erfasst ist, während dem Körper dank seines vergänglichen und irrationalen Charakters eine untergeordnete Rolle beigemessen wird . Ein weiterer Aspekt des cartesianischen Denkens betrifft den sog . Repräsentationalismus . Im cartesianischen Verständnis ist die Repräsentation eine intrinsische Eigenschaft der Ideen, wodurch sie sich, qua immaterieller mentaler Objekte, zu ihren extramentalen, materiellen Referenten beziehen können .38 Demgemäß verleihen diese immateriellen Gegenstände nicht nur physikalischen Dingen, sondern auch Zuständen und Handlungen einen verständlichen, begrifflichen Inhalt . Begriffsinhalte seien daher nicht diskursiv, sondern mittels mentaler Repräsentationen konstituiert: „The states and acts characteristic of us are in a special sense of, about or directed at things . They are representings, which is to say that they have representative content“ .39 Erkenntnisse gewinnt der Mensch über solche Gegenstände erst mittels ihrer vertretenden „Mentalobjekte“ .40 Da nur bloße repräsentationale In32 33 34 35 36 37 38 39 40

AaO ., 28 (Herv . d . Verf .) . AaO . Vgl . auch Kirste (Fn . 2), 28 . Thiel (Fn . 18), 36 . AaO ., 37 . Plato, Phaedrus, hg . von C . J . Rowe, 1988 . Neil Levy, Neuroethics: Challenges for the 21st century, 2007, 9 . Desmond Clarke, Descartes’s theory of mind, 2003 . Thiel (Fn . 18), 38 . Eckart Scheerer, Repräsentation, in: Ritter/Gründer/Gabriel (Fn . 5), 32571 ff .

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halte von ihm artikuliert werden können, kann lediglich die Richtigkeit mentaler Repräsentationen beurteilt werden .41 Über die Existenz der repräsentierten Gegenstände kann der Mensch keine rationale Gewissheit beanspruchen . Vom Dualismus zwischen Materialität und Immaterialität geprägt ist diese Rationalität (und sogar die Subjektivität, indem sie als vernünftige Manifestation keinerlei Anknüpfungspunkte mit der Materialität der Welt zeigt) grundsätzlich in sich selbst versunken . Nach Perler bestehe das Existenzproblem im cartesianischen Denken genau darin, dass wir „ja nicht einfach eine Gewissheit darüber gewinnen [wollen], dass wir ein Wesen erfassen, sondern wir wollen darüber hinaus eine Existenzgarantie für das erfasste Wesen haben“ .42 Eine solche Garantie findet Descartes in Gott, welcher die Funktion eines Garanten bezüglich einer Welt übernimmt, deren Existenz zunächst bezweifelt wird . 3. kriTik des carTesianischen Modells Obwohl die zeitgenössischen wissenschaftlichen Standards den cartesianischen Dualismus bezüglich des sog . Leib-Seele-Problems nachdrücklich ablehnen, finden sich im philosophischen sowie im juristischen Denken immer noch Spuren der althergebrachten Auffassung, dass Körper und Intellekt verschiedene Substanzen sind .43 Ein möglicher Grund dafür könnte darin liegen, dass sie heute noch einflussreichen Theorien der Unsterblichkeit der Seele Halt verleiht: „If the soul is immaterial, then there is no reason to believe that it is damaged by the death and decay of the body; the soul is free, after death, to rejoin God and the heavenly hosts (themselves composed of nothing but soul-stuff)“ .44 Und insbesondere in bioethischen Fällen sind die Grenzen zwischen Religion, einer partikularistischen Moralität und öffentlichen, intersubjektiv teilbaren Gründen nicht klar gezogen . Somit polarisiert die vom Cartesianismus geprägte Tradition Körper und Geist, Materialität und Immaterialität, Rationalität und Irrationalität und trägt dadurch zur Ausbreitung von Konzepten, wie denjenigen des immanenten und sogar heiligen Wertes des menschlichen Lebens, der angeborenen Zuordnung von Menschenrechten, des Spezismus usw ., bei . Wie von Ingold behauptet wird, sei die abendländische Denkart auf parallelen Dichotomien strukturiert .45 Derartige Vorgehensweisen ignorieren allerdings, dass die Rationalität nach aktuellen Maßstäben nicht mehr als eine einzäunende, transzendentale Entität konzipiert werden kann, welche unabhängig sowohl von der Materialität des Körpers als auch von Beobachtung und Erfahrung ist . Technologische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen weisen immer häufiger darauf hin, dass die Idee eines immanenten, unveränderbaren persönlichen Wesens und insbesondere seine Identifizierung mit dem menschlichen Wesen bzw . der menschlichen Natur unvertretbar

41 42 43 44 45

Robert Brandom, Making it explicit: reasoning, representing, and discursive commitment, 1998, 6 . Scheerer (Fn . 38), 32571 . Brandom (Fn . 39), 6 . Dominik Perler, Repräsentation bei Descartes, 1996, 120 . Shaun Gallagher, How the body shapes the mind, 2005, 133 . Im juristischen Denken seien u . a . der Lebensbeginn und seine Kriterien erwähnt .

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geworden ist .46 Vielmehr zeigen sie die Person als eine aus einer Mannigfaltigkeit von Elementen und Informationen emergierte Konstruktion, die sich im Spielraum der Intersubjektivität manifestiert, nicht etwa als solipsistische mentale Ausübung einer idealisierten Rationalität .47 Auf derselben Realitätsebene dieser eher intersubjektiv ausgeübten Rationalität werden verschiedenartige Begriffe gegründet, überprüft, aktualisiert oder abgeschafft – einschließlich des Begriffs der menschlichen Natur . Beispielhaft dafür ist im wissenschaftlichen Bereich die Entstehung der Neurowissenschaften .48 Durch die Hirnforschung konnte u . a . bewiesen werden, dass, wenn bestimmte vorher ordnungsgemäß funktionierende Körperteile schlecht oder nicht mehr funktionieren, infolgedessen auch ehemals gesunde mentale Fähigkeiten gestört sind . Dies geschieht z . B . bei durch zerebrale Läsionen verursachten Erkennungsstörungen wie bei der Spiegelagnosie – eine „seltene Unfähigkeit, Spiegelbilder als solche zu erkennen und mit ihnen umzugehen, obwohl die Patienten verstehen, daß vor ihnen ein Spiegel steht . Sie greifen aber nicht nach dem Objekt, das sie anfassen sollen, sondern gegen den Spiegel, und behaupten sogar, das Objekt sei in oder hinter dem Spiegel . Die Patienten leiden auch an einem Halbseitenneglect, aufgrund einer Läsion im rechten Scheitellappen, sind aber geistig klar .“49 Weil ein bestimmter Teil des Gehirns verletzt ist, zeigen die Patienten eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit (eine geistige Konsequenz), obwohl sie an keiner echten geistigen Störung leiden . Derartige Feststellungen widerlegen die These der ontologischen Trennung zwischen einer innewohnenden, immateriellen Rationalität und bloßen materiellen Gegenständen . Es ist in der Tat heute kaum umstritten, dass mentale Prozesse nicht auf immaterielle Weise erfolgen .50 Zum einen ist die menschliche Rationalität mit biochemischen Tätigkeiten des Gehirns verbunden; zum anderen wird sie in einem intersubjektiven, sozialen Prozess konstituiert und ausgeübt . Jenseits des Transzendentalismus behauptet daher Floridi, dass selves nicht als angeborene, naturalisierte Wesen existieren . Sie würden sich eher als Emergenzen manifestieren, für deren Entstehung materielle und informationelle Kontexte notwendig sein würden . Daher seien das Bewusstsein und das Gedächtnis dynamische informationelle Zustände, genau wie jeder andere soziale oder sogar persönliche Zusammenhang .51 So betrachtet würden die selves als „inf-orgs“ bezeichnet, also organisierte Informationen in miteinander kommunizierenden Organismen, die sich im Spielraum einer sog . Infosphäre befinden .52

46 47 48 49 50 51 52

Levy (Fn . 35), 12 . Mario Bunge, Emergence and the mind, Neuroscience 2 (1977), 506 ff . AaO . Optische Agnosie, in: Lexikon der Neurowissenschaft, 2000 . Unter: http://www .spektrum .de/lexikon/neurowissenschaft/optische-agnosie/9259 . Letzter Zugriff am 4 .9 .2014 (Herv . d . Verf .) . Eine erarbeitete Variante des substantiellen Dualismus wird allerdings immer noch vertreten . Die Anhänger des sog . Eigenschaftsdualismus „accept that matter could be intelligent, [though] they argue that it could never be conscious .“ Levy (Fn . 35), 10 . Luciano Floridi, The Informational Nature of Personal Identity, in: Minds and Machines, hg . von Luciano Floridi, 2011, 555 . Anthony Beavers / Luciano Floridi: Information: A Very Short Introduction, in: Minds and Machines, hg . von Luciano Floridi, 97 .

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4. beiTräge des eMpirisMus Zur überwindung des subsTanZiellen dualisMus a) Bewusstsein als Maßstab für das Personsein nach Locke Insbesondere dank der Beiträge von Locke und Hume distanziert sich der Subjektivitätsgedanke allmählich vom repräsentationalen, dualistischen Modell in Richtung des Modells der propositionalen, diskursiv konstituierten Begriffsinhalte . Locke führt eine neue Sichtweise auf den Personenbegriff ein, indem er behauptet, die Zugehörigkeit zur Menschengattung sei kein gültiger Maßstab für das Personsein . Die entscheidende Eigenschaft des Personseins liege auch nicht im bloßen Besitz eines Körpers oder eines Geistes . Vielmehr sei die Person als ein denkendes Wesen zu betrachten, die sich selbst in verschiedenen Zeiten und Räumen bewusst sein kann53: „Die Grundidee von Locke ist es also, die Bedingungen der Einheit von Personen sowohl von der Konzeption einer Seelensubstanz als auch von den Einheitsbedingungen von Menschen qua Organismen abzulösen und ausschließlich in das Selbstbewusstsein zu verlegen .“54 Im Zusammenhang mit dem zu seiner Zeit aufblühenden Empirismus wollte Locke transzendentale Theorien widerlegen und war bestrebt, dem Personenbegriff eine ontologisch neutrale, in der Praxis der Beurteilung von Handlungen verwurzelte Basis zu verleihen .55 Allerdings knüpft Locke mit dem Selbstbewusstsein eng an die Rolle des Gedächtnisses an, was ein diachronisches Element in seinen Personenbegriff einführt und gewisse Schwierigkeiten bereitet . Es geschieht durch das Gedächtnis, dass Bewusstseinszustände im Laufe der Zeit fortbestehen können, indem sich gegenwärtige Erinnerungen des Subjekts mittels seiner kontinuierlichen Erfahrungen artikulieren und ihm durch die Zeit seine Identität zeigen . Genau darin besteht die Diachronie: „Das Wissen um die eigene Identität ist demnach ein im Selbstbewusstsein stattfindender Vergleich der Existenz des gegenwärtigen Ich mit dem früheren Ich .“56 Da das Bewusstsein, im Verhältnis zum Gedächtnis, als Maßstab für das Personsein angesehen wird, wird gefolgert, dass „der Mensch nur in bestimmten Phasen seiner Existenz als Person existiert (weder das Neugeborene noch der Greis im Stadium fortgeschrittener Demenz ist Person)“ .57 Eine weitere Folge betrifft die Kontinuität der personalen Identität . Ein Mensch könnte im Laufe der Zeit mehrere Identitäten besitzen und demnach mehrere Personen sein58, insofern als er über unterschiedliche Bewusstseinszustände verfüge . Aufgrund dessen ist diese Art und Weise, die Person zu begreifen, auch der Kritik zugänglich59, z . B . in Bezug auf Abbrüche von Bewusstseinszuständen im Falle des Tiefschlafs . 53

54 55 56 57 58 59

Krit . dazu Stephan Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, in: Verfassung – Philosophie – Kirche . Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, hg . von Joachim Bohnert u . a ., 2001, 327 . Vgl . auch Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität: Reflexionen über Subjekt, Person u. Individuum aus Anlaß ihrer „postmodernen“ Toterklärung, 2009 . Quante (Fn . 11), 43 . AaO ., 57 . AaO ., 44 (Herv . d . Verf .) . Birnbacher (Fn . 12), 10 . AaO . Wie z . B . bei Leibniz, Butler und Reid . Für eine systematische Darstellung ihrer Einwände vgl . Quante (Fn . 11), 46–55 .

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b) Hume: Perzeptionen als Konstituens des Ichs und die Auswirkungen des Verhältnisses zwischen Vernunft und Moral auf den Personenbegriff aa) Selbstbewusstsein und persönliche Identität Auch Hume wendet sich gegen die cartesianische Tradition . Nach seiner empirischen Methode vergegenwärtigt das Bewusstsein die Perzeptionen der Außenwelt, deren Existenz nicht nur für evident gehalten werde, sondern auch von der menschlichen Vernunftfähigkeit völlig unabhängig sei .60 Anstelle der Vernunft seien demnach die sinnlichen Perzeptionen diejenigen, die dem Bewusstsein seinen Inhalt verleihen und somit die Außenwelt erfassbar machen würden: „Dem Bewußtsein ist niemals etwas anderes gegenwärtig als Perzeptionen, und es kann unmöglich irgendeine Erfahrung ihrer Verknüpfung mit Gegenständen erlangen .“61 Diese Bewusstseinsauffassung wirkt auf die Frage des Selbstbewusstseins ein, denn wie bei Locke taucht hier bezüglich der personalen Identität ein diachronisches Element auf: „Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption . Wenn meine Perzeptionen eine Zeitlang nicht da sind, wie während des tiefen Schlafes, so bin ich ebensolange ‚meiner selbst‘ unbewußt, man hat dann ein Recht zu sagen, daß ‚ich‘ nicht existiere . (…) Es findet sich in ihm [dem Geist] in Wahrheit weder in einem einzelnen Zeitpunkt Einfachheit noch in verschiedenen Zeitpunkten Identität, sosehr wir auch von Natur geneigt sein mögen, uns eine solche Einfachheit und Identität einzubilden . (…) Die einander folgenden Perzeptionen sind allein das, was den Geist ausmacht“ .62

Als ein bloßes Bündel verschiedener Perzeptionen konstituiert das Ich keinen empirischen Begriff: „Der Beobachter selbst ist unbeobachtet“63, fasst Streminger zusammen . Hume meint eine menschliche Neigung zur Zuschreibung von Identität in jedem Bündel von Perzeptionen festzustellen, die als eine irrtümliche Fiktion zu verstehen sei . Die personale Identität, „die wir dem Geist des Menschen beilegen, sei nur eine fingierte und könne deshalb auch keinen anderen Ursprung haben; sie müsse vielmehr einer sich vollziehenden Wirkung der Einbildungskraft ihr Dasein verdanken .“64 bb) Überlegungen zum Sein-Sollen-Problem in Bezug auf die menschliche Natur und den Personenbegriff Mit Hume wird auch die These der Nichtableitbarkeit des Sollens aus dem Sein in Verbindung gebracht .65 Dies spielt beim Begreifen der menschlichen Natur und ihrer Auswirkungen auf den Personenbegriff eine Rolle, insbesondere im rechtlichen Sinne, da der darstellende Charakter des Ersten und der normative Charakter des Letzten oftmals als ein möglicher Unterschied zwischen beiden Konzepten genannt wird . Wenn aus dem Sein das Sollen nicht abgeleitet werden kann, dann verknüpfen sich das Mensch- und Personsein semantisch miteinander nicht in dem Sinne, dass die Natur des Menschen kein gültiges Kriterium für die Konstitution des Personen60 61 62 63 64 65

David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 1979, 193 . AaO ., 191 ff . David Hume, Über den Verstand, 2013, 308 f . Gerhard Streminger, David Hume: der Philosoph und sein Zeitalter; eine Biographie, 2011, 156 . Hume (Fn . 60), 316 . Im Rahmen des ethischen Guten (nämlich der Einwände gegen jede Bezeichnung des Guten und seine naturalistische Begründung, wie beim sog . Argument der offenen Frage) hat Moore dieses Problems als naturalistischen Fehlschluss benannt .

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begriffs ist . Jenseits der rein begrifflichen Dimension könnte auch die Folgerung von Rechten aus der menschlichen Natur als ein unzulässiger Schluss interpretiert werden .66 Das Sein-Sollen-Problem wurde im Rahmen einer Diskussion in der praktischen Philosophie herangezogen und betrifft die Selbstevidenz und die Beweisbarkeit moralischer Gesetze . Laut der im achtzehnten Jahrhundert herrschenden Meinung seien solche Gesetze selbstevident, denn sie könnten aus vernünftigen Axiomen mithilfe der formalen Logik deduziert werden .67 Hume vertrat aber die These, dass moralische Urteile auf Gefühlen gründen, und behauptete weiterhin, die Vernunft lasse sich nicht von Affekten und Gefühlen beeinflussen .68 Daher sei die Ableitbarkeit der Moral aus der Vernunft unzulässig und moralische Gesetze seien, als Folge, anhand der Logik nicht deduzierbar .69 Damit ist allerdings nicht gemeint, das moralische Sollen könne auf keinen Fall aus Tatsachen abgeleitet werden . Somit ist neben den radikalsten Auslegungsvarianten, wonach es sich dabei um eine unüberbrückbare Kluft zwischen Ontologie und Deontologie handelt70, auch die Variante entwickelt worden, welche besagt, das Problem betreffe ausschließlich die Folgerung des Sollens aus dem Sein durch die formale Logik . Dieses Argument kann wiederum auf zwei Vorgehensweisen bezogen werden: „1) that we cannot get from non-moral premises to moral conclusions with the aid of logic alone and 2) that we cannot get from non-moral premises to moral conclusions with aid of analytic bridge principles .“71 Die zweite Vorgehensweise ist aber mithilfe textueller Beweise zu widerlegen, da Hume sich selbst einem solche Folgerungen rechtfertigenden analytischen Brückenprinzip anschließt, nämlich: „that A (morally) ought to do X if A’s doing X would elicit approval in suitably qualified human spectators occupying, what Hume (…) calls, ‚the common point of view‘“ .72 Gültig bleibe daher die erste Möglichkeit . Mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss sei mithin bezweckt, die Unbeweisbarkeit dieser aus selbstevidenten (vernünftigen) Wahrheiten nicht logisch abgeleiteten moralischen Folgerungen nachzuweisen .73 Nach Pidgen konnte ein solcher Erklärungsversuch erst im zwanzigsten Jahrhundert konturiert werden; vorher soll die Auffassung geherrscht haben, aus nicht moralischen Prämissen könnten weder moralische Folgerungen formallogisch abgeleitet werden (Argument der logischen Autonomie) noch könnten analytische Brückenprinzipien eine vermittelnde Rolle dabei spielen (Argument der semantischen Autonomie) . Es war die Untergliederung dieser Argumente, 66

67 68 69 70

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Näher u . a . Hume on Is and Ought, hg . von Charles Pigden, 2010, und Gerhard Schurz, The isought problem: an investigation in philosophical logic, 1997 . Für eine abweichende, allerdings auf die modale Logik beschränkte Meinung Rainer Stuhlmann-Laeisz, Das Sein-Sollen-Problem: eine modallogische Studie, 1983 . Charles Pigden, Hume on Is and Ought . Philosophy now (83), 2011 . Hume (Fn . 62), insb . 531–547 . Charles Pigden, Introduction, in: ders . (Fn . 66), 28 . Vgl . u . a . Antony Flew, Hume’s philosophy of belief: a study of his first „Inquiry“, 1980; Patrick NowellSmith, Ethics, 1957; Richard M . Hare, Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methoden, sein Witz, 1991; ders ., Freiheit und Vernunft, 1983 und Die Sprache der Moral, 1983; William D . Hudson (Hg .), The is-ought question: a collection of papers on the central problem in moral philosophy, 1969 . Für eine Gegenposition Arthur N . Prior, Papers in logic and ethics, 1976 . Pigden (Fn . 66) . AaO . AaO .

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die eine neue Sichtweise auf das Problem ermöglicht hat . Gleichwohl ermöglichte sie das Heranziehen der Hypothese, dass hinter der Behauptung einer radikalen semantischen Trennung zwischen Sein und Sollen eine Verwechselung der logischen und der semantischen Autonomie steht .74 Eine Weiterentwicklung der Diskussion des Sein-Sollen-Problems findet sich im semantischen Inferentialismus . Laut Brandom müssen inferentielle Relationen nicht notwendigerweise formallogische Relationen sein: „Jene Inferenzen, deren Korrektheit die begrifflichen Gehalte ihrer Prämissen und Konklusionen bestimmen, lassen sich mit Sellars als materiale Inferenzen bezeichnen . Beispiele dafür bilden die Inferenzen von ‚Pittsburgh liegt westlich von Princeton‘ auf ‚Princeton liegt östlich von Pittsburgh‘ und von ‚Jetzt ist ein Blitz zu sehen‘ auf ‚Bald wird ein Donner zu hören sein‘ . Es sind die Gehalte der Begriffe westlich und östlich, die die erste Inferenz zu einer richtigen machen, und die Gehalte der Begriffe ‚Blitz‘ und ‚Donner‘ sowie der Zeitbegriff, aufgrund deren es sich bei der zweiten Inferenz um eine angemessene handelt . (…) Die Billigung dieser Inferenzen ist Teil des Begreifens oder Beherrschens dieser Begriffe, ganz unabhängig von irgendeiner spezifisch logischen Kompetenz“ .75

Formallogisch betrachtet seien diese Inferenzen lückenhaft, da nicht alle zur Konklusion berechtigenden Prämissen vorhanden sind . Bekanntermaßen hat Hume selbst diese Kritik geübt und die materialen Inferenzen als Enthymeme diskreditiert . Anhand von Frege und Sellars verteidigt Brandom jedoch die Auffassung, dass sich gute und schlechte Inferenzen in erster Linie durch ihren Inhalt unterscheiden . Materiale Inferenzen bestünden also vorrangig in Bezug auf das logische Vokabular, dessen Aufgabe es sei, bereits konstituierte begriffliche Inhalte explizit zu machen, damit sie ausdrücklich gerechtfertigt oder abgelehnt werden könnten: „Der entscheidende Vorteil solcher Explikationen und damit die Pointe der Einführung des logischen Vokabulars besteht darin, daß die Inferenzen (…) zum ihrerseits beurteilbaren Inhalt werden . Indem die inferentielle Rolle von Begriffen angegeben wird, wird die Richtigstellung von Begriffen erst ermöglicht“ . 76 Mit Ausnahme von rein formallogischen Bereichen bilden demnach materiale Inferenzen die Bausteine der Diskursivität . Durch die intersubjektive Praxis der Verwendung von Begriffen in inferentiellen Ketten sind aber gleichzeitig Normen entstanden, welche regeln, wie diese Begriffe richtig verwendet werden sollen . Diesbezüglich bietet Brandom eine komplexe und ausführliche Theorie, die hier nur grob skizziert werden kann . Dahingehend wird an dieser Stelle nicht bezweckt, eine starke These über die Normativität der (aber auch: aus der) sozialen Praxis zu entwickeln . Vielmehr wird beabsichtigt, eine schwache These darüber vorzuschlagen, wie die Idee materialer Inferenz dazu beitragen könnte, die Dimensionen von Sein und Sollen einander pragmatisch anzunähern . Grundlegend dafür ist die Annahme Brandoms, dass „what practitioners actually do – accepting some arguments and judgments articulated by a given constellation of concepts, and rejecting others – must be intelligible as settling what those practitioners ought to do – which such applications would be correct, (…) and

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AaO ., 14–17 . Robert Brandom, Begründen und Begreifen: eine Einführung in den Inferentialismus, 2004, 76 . Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze: semantische Normativität in der juristischen Argumentation, 2004, 145 f .

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which not .“77 Die soziale Praxis der Verwendung von Begriffen in einer bestimmten Art und Weise konstituiert eine evaluative Dimension über die Richtigkeit von diskursiven Handlungen, die ihrerseits von diesen in der Praxis konstituierten Regeln gesteuert werden . Diese Züge geschehen aber nicht im Bereich der formalen Logik78 , oder der „logic alone“, sondern im pragmatisch vorrangigen Bereich der materialen Inferenzen . Der Einwand Pigdens hinsichtlich der Unzulässigkeit der Ableitung des Sollens aus dem Sein, und zwar auf das moralische Gebiet beschränkt, bestehe aber genau darin, dass „we cannot get from non-moral premises to moral conclusions with the aid of logic alone .“79 Es zeigt sich somit, dass die These des semantischen Inferentialismus mit der Behauptung des Vorrangs des Pragmatischen nicht nur einen Ausweg aus der formalen Logik erlaubt – was die Bedingungen des Arguments der logischen Autonomie erfüllt –, darüber hinaus ist die angebotene Lösung allgemeinerer Art: Sowohl praktische als auch theoretische Begriffe können Gegenstand materialer Inferenzen sein . Die Ergebnisse dieser pragmatischen Annäherung von Sein und Sollen lassen sich wohl auf die Frage anwenden, ob aus der Natur des Menschen Rechte und Pflichten bzw . ein rechtlicher Personenbegriff abgeleitet werden könnten . Sei es im Rahmen des ethischen Guten oder der rechtlichen Normen, es handelt sich dabei um dynamische Produkte der intersubjektiven Ausübung der Rationalität, deren inferentielle Bedeutungsgehalte sich im Zusammenhang mit sozialen, kulturellen und geschichtlichen Elementen entwickeln . Die Perspektive des semantischen Inferentialismus zeigt, dass es bei der Konstruktion z . B . des Personenbegriffs mithilfe des Menschenbegriffs nicht um einen Fehlschluss geht – das wäre nicht weit genug gedacht . Vielmehr ist die zentrale Frage die Anerkennung, dass Erkenntnisprozesse einer gewissen Endlichkeit unterliegen – jedoch einer Endlichkeit, die im Laufe der Zeit einen dynamischen Charakter zeigt, da sich solche Prozesse der Erkenntnisgewinnung immer im Fortgang befinden . Wenn von einer Vernunftfähigkeit gesprochen wird, dann im Sinne einer Rationalität, die sich aufgrund von Erfahrungen selbst korrigiert und weiterentwickelt . Dementsprechend ist für die Behandlung des Sein-Sollen-Problems im zeitgenössischen Kontext und insbesondere in Bezug auf das Verhältnis Mensch-Person das Gesollte als ein ebenso von der Rationalität konstituierter Begriff zu verstehen . Insoweit handelt es sich dabei weder um a priori erworbene Erkenntnisse noch um reine Erfahrungen . Diesen Weg geht z . B . Dennett, der fragt: „If ‚ought‘ cannot be derived from ‚is‘, just what can ‚ought‘ be derived from? Is ethics an entirely ‚autonomous‘ field of inquiry? Does it float, untethered to facts from any other discipline or tradition? Do our moral intuitions arise from some inexplicable ethics module implanted in our brains (or our ‚hearts‘, to speak with tradition)? That would be a dubious skyhook on which to hang our deepest convictions about what is right and wrong“ 80 . Im Bereich der Ethik sei daher der Begriff menschlicher Natur von besonderer Bedeutung für die Antwort auf die Frage, was man tun soll: „From what can ‚ought‘ be derived? The most compelling answer is 77 78 79 80

Robert Brandom, A Hegelian Model of Legal Concept Determination: The Normative Fine Structure of the Judges’ Chain Novel, in: Pragmatism, law, and language, hg . von Graham Hubbs, 2014, 24 . Es sei denn, es handelt sich um formallogisch orientierte Sprachen . Pigden (Fn . 66) . Daniel Dennett, Darwin’s dangerous idea: evolution and the meanings of life, 1995, 467 (Herv . d . Verf .) .

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this: ethics must be somehow based on an appreciation of human nature – on a sense of what a human being is or might be, and on what a human being might want to have or want to be . If that is naturalism, then naturalism is no fallacy . No one could seriously deny that ethics is responsive to such facts about human nature .“81 5. begriFFsverwendung und selbsTZwecklichkeiT bei kanT Dieser Bezug zur Wirklichkeit wird von Kant ernst genommen . Kant öffnet eine Tür zur Lebenswelt, indem er die Subjektivität nicht nur als Vernunft oder Verstand, sondern auch als Empfindung ansieht . Bemerkenswert ist allerdings, dass diese Welt noch durch aprioristische Elemente wie Raum, Zeit und die transzendentalen Kategorien beschränkt wird . Darüber hinaus macht Kant einen entscheidenden Schritt zur Widerlegung des repräsentationalen Modells, indem er die Autonomiethese Rousseaus übernimmt und den normativen Charakter der begrifflich strukturierten Handlung erklärt . Es geht ihm nicht darum, mentale Zustände von materialen Beschaffenheiten zu trennen, sondern um das, was als richtig oder unrichtig normativ beurteilt werden kann, je nachdem, wie die Begriffe benutzt werden . Nach Brandom: „The key to the conceptual is to be found not by investigating a special sort of mental substance that must be manipulated in applying concepts but by investigating the special sort of authority one becomes subject to in applying concepts – the way in which conceptually articulated acts are liable to assessments of correctness and incorrectness according to the concepts they involve“82 . Wichtig ist auch, dass die Autorität dieser Normen von uns selbst gegründet wird, indem wir Begriffe in Übereinstimmung mit für rational gehaltenen Normen in einem gewissen Sinn verwenden . Der Mensch sei daher gleichzeitig Schöpfer und Benutzer der Sprache – unter diesen Umständen würden wir beim Sprechen bereits Normen folgen, welche bestimmen, wie die Begriffe richtigerweise verwendet werden sollen .83 Im praktischen Bereich führen diese Rationalität und ihr autonomer Charakter jedoch zu Folgen wie die Formulierung der bis heute gefeierten Selbstzweckformel: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“84 . Im Rahmen dieses Aufsatzes sind in der Selbstzweckformel einerseits das Verhältnis zwischen Menschheit und Person, andererseits die besondere Würde, die aus der Selbstzwecklichkeit folgt, von ausdrücklichem Interesse . Bezüglich der ersten Frage ist zunächst zu erklären, was mit Menschheit im systematischen Zusammenhang gemeint wird, da sie laut der Formel als ein Attribut des Personseins zu begreifen ist („die Menschheit in deiner Person“) . Dazu bemerkt O’Neill: „the term humanity is no more than a placeholder . Since it is ‚rational nature in general‘ of which Kant postulates that it exists as an end in itself, FEI [formula of the End-in-Itself] could also be formulated, for example, as the requirement to treat Martianness or rational animality 81 82 83 84

AaO ., 468 . Brandom (Fn . 39), 9 (Herv . d . Verf .) . AaO ., 10 . Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg . von Wilhelm Weischedel, 1974, BA 67 (Herv . d . Verf .) .

Personwerden: Rechtsphilosophische Skizzen zur Rolle der „Natur des Menschen“

83

or rational extraterrestriality never as mere means but always as an end in itself .“85 Es ist durch die praktische Vernunft, dass der Mensch das (moralische) Gesetz qua Imperativ kennt, und zwar, indem er sich als autonomes Wesen konstituiert . Das moralische Gesetz ist aber dann dasjenige, welches er sich selbst frei gegeben hat .86 Weil seine Handlungen unter diesem selbstgegebenen Gesetz stehen, ist er für sie in dem Sinne verantwortlich, dass sie ihm zugerechnet werden können . Und genau dies ist das kennzeichnende Merkmal von Personen87: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind . Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anderes, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (…), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (…) sich selbst gibt, unterworfen ist .“88 Dank ihrer Rationalität sind die Menschen zurechnungsfähig und gelten als Personen im Sinne der Selbstzweckformel . Als Ausdruck dieser Rationalität wird wiederum die Selbstgesetzlichkeit als Quelle des absoluten Wertes (der Würde) der Person angesehen: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur .“89 Es ist demnach (nochmals) auf der Grundlage der Mitwirkung an einer rationalen, gesetzgeberischen Natur, dass derartige Wesen das moralische Gesetz kennen und befolgen können und in einer privilegierten Art und Weise behandelt werden sollen . Laut Kirste: „Zu den wesentlichen Momenten, die am Beginn des 18 . Jahrhunderts ausgearbeitet waren, gehörte die Vorstellung von einer besonderen Personenwürde und die Zugehörigkeit der Person zu einem besonderen Reich des Moralischen, dessen eigene Qualität nun gegenüber der Vernunftordnung und dem natürlichen Sein ins philosophische Bewusstsein trat, sowie die aus verschiedenen Perspektiven begründete Mittelstellung der Person“ .90 Da aber zum einen die Selbstzweckformel als Formulierungsvariante des kategorischen Imperativs als ein synthetisches Urteil a priori erscheint, zum anderen der Vernunftsbegriff bei Kant in einer monologischen und metaphysischen Weise konzipiert wurde, ist die Zuschreibung eines besonderen Wertes dem Menschen ein der Vernunft zugängliches Gegebenes und keine intersubjektive soziale Konstruktion . Das Modell zeigt daher immer noch Spuren der mittelalterlichen Idee einer transzendentalen vernunftbegabten Natur als Maßstab für die Selbstzwecklichkeit und erweist sich als inkompatibel mit der Annahme, dass die Normativität und die Rationalität sich nicht a priori begreifen lassen, sondern in intersubjektiven sozialen Praktiken konstituiert und weiterentwickelt worden sind . 6. die konsTiTuTive rolle der auFFassung von handlung Für die subjekTiviTäT bei hegel Dieser Transzendentalismus wird erst durch die Einfügung und Problematisierung der Tätigkeit (verstanden als die menschliche Handlung oder Handlungsfähigkeit nicht nur über sich selbst, sondern auch über den anderen und die Welt, einschließ85 86 87 88 89 90

Onora O’Neill, Constructions of reason: explorations of Kant’s practical philosophy, 1995, 137 . Kirste (Fn . 2), 29 . AaO . Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, hg . von Wilhelm Weischedel, 1977, AB 22, 329 . Kant (Fn . 84), BA 79, 80; 69 . Kirste (Fn . 2), 27 (Herv . d . Verf .) .

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lich der Kultur) in der Dimension der Subjektivität überwunden . Hegel unterscheidet zwischen Person als das Moment des Willens in sich selbst und Subjektivität als das Moment des Willens für sich selbst . Die Person ist identisch mit sich selbst, insofern als sie sich von allen anderen individuiert, was ihr eine unmittelbare Handlungsfreiheit verleiht . Nach Quante: „Hegel thus specifies ‚personality‘ as the self-relatedness at work in the concrete subject’s consciousness that he can abstract from all concrete determinations“ .91 Die verschiedenen persönlichen Willen beziehen sich durch den Besitz von Gegenständen aufeinander . Die Inbesitznahme eines Gegenstands von einer Person erhebt gegenüber den anderen den Anspruch, diesen als Eigentum dieser Person anzuerkennen und ihren eigenen Willen bezüglich des Gegenstands einzuschränken .92 In der Dimension der Subjektivität andererseits wird sich das Subjekt dieser unmittelbaren Freiheit erstmals bewusst . Somit gewinnt es einen moralischen Standpunkt und kann zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten abwägen bzw . vernünftig entscheiden93: „Der moralische Standpunkt ist der Standpunkt des Willens, insofern er nicht bloß an sich, sondern für sich unendlich ist (vorh . §) . Diese Reflexion des Willens in sich und seine für sich seiende Identität gegen das Ansichsein und die Unmittelbarkeit und die darin sich entwickelnden Bestimmtheiten bestimmt die Person zum Subjekt“ .94 Nach Hegel besteht die Handlung in der „Äußerung des Willens als subjektiven oder moralen“ .95 Seiner eigenen Freiheit bewusst ist die Tätigkeit des subjektiven Willens dem Trieb gegenübergestellt . Sie verleiht einer bloßen Materie bestimmte Inhalte, die als Zwecke realisiert werden sollen .96 Eine Tat als die Verwirklichung des frei gewählten Zweckes zu verstehen, bedeutet, einen Glauben zu besitzen97, und wird als intentional bezeichnet .98 Intentionale Handlungen sind somit Ausdruck der Handlungsfreiheit sowie der Aktualisierung der Handlungsrationalität und spiegeln demnach den subjektiven Willen des Akteurs wider .99 Intentionen schließen allerdings nicht nur die bezweckten Interessen des Akteurs ein, sondern sie ermöglichen, dass er die Interessen von anderen Akteuren berücksichtigt und diese mit seinen eigenen Zwecken verbindet .100 Durch diese Kontraposition kann er gleichzeitig seine Subjektivität aufrechterhalten und aufheben, was ihr Objektivität verleiht:101 „Indem ich meine Subjektivität in Ausführung meiner Zwecke erhalte (§ 110), hebe ich darin als in der Objektivierung derselben diese Subjektivität zugleich als unmittelbare, somit als diese meine einzelne auf . Aber die so mit mir identische äußerliche Subjektivität ist der Wille anderer“ .102 Dies ist die Eingangstür zur Intersubjektivität .

91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102

Quante, Hegel’s concept of action, 2004, 26 . AaO ., 33 . AaO ., 34 f . Georg W . F . Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg . von Horst D . Brandt, 2013, § 105 . AaO ., § 113 . Quante (Fn . 91), 57 f . AaO ., 175 . AaO ., 124 . AaO ., 11 . Quante (Fn . 91), 177 . AaO ., 74 . Hegel (Fn . 94), § 112 .

Personwerden: Rechtsphilosophische Skizzen zur Rolle der „Natur des Menschen“

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Allein ein gewisser Glaube hinsichtlich der eigenen Tat reicht aber zur Vollständigkeit des Handlungsbegriffs nicht aus . Daran sollte noch ein reflexives Denken103 anknüpfen, durch das sich der individuelle Beweggrund mit einem harmonischen Ganzen verbindet .104 Somit kann der Akteur seine Zwecke auch selbst interpretieren .105 Diese Interpretationen sind nicht statisch zu betrachten; sie zeigen sich eher als korrigierbar: „in both places, the interpretation can – because an objective matter, an objective state is present – be corrected“, und zwar bei anderen oder bei dem Akteur selbst, indem er seine eigenen Fehler einsieht .106 Zusammenfassend lässt sich somit Folgendes behaupten: Mittels der Handlung – verstanden aus der Sichtweise der Tätigkeit – gewinnt das Individuum Selbstbewusstsein und konstituiert sich dadurch als Subjektivität . Darüber hinaus ist die Handlung als Tätigkeit der Ausgangspunkt zum dialektischen Aufbau der intersubjektiven Spielräume, die das Individuum als Gemeinschaft und politisch organisierte Gesellschaft bezeichnen kann . Iv. zeItgenössIsche BeIträge und der tätIgkeIt

auf der

grundlage

der

IntersuBjektIvItät

Aus der Perspektive der Tätigkeit sollten Begriffe als intersubjektive, kulturelle Konstrukte im kontinuierlichen Entwicklungsprozess verstanden werden . Begriffe – u . a . Menschsein und Personsein – werden dementsprechend von den Akteuren geschaffen, aber in gewissem Sinne auch gefunden, und zwar in der Dynamik und Mannigfaltigkeit der sozialen Praxis, die manchmal nur unreflektiert unternommen wird . Eine transzendental und statisch konzipierte vernünftige Natur schafft aber keinen Raum für die Kontingenz des Menschen und insbesondere der Person, die letzten Endes im Naturbegriff eingezäunt werden . Daher wäre der Versuch sinnlos, transzendentale Vorstellungen einer Natur des Menschen wiederherzustellen, die sonst keine praktische Auswirkung auf die Realität des damaligen Menschen hatte . Denn die Idee einer vernunftbegabten Substanz als Kriterium für das Personwerden fordert letztendlich, alle Menschen als gleich anzuerkennen und dieselbe Freiheit und Autonomie genießen zu lassen – ein Projekt, das erst in der Spätmoderne in Anspruch genommen wurde . Obwohl der Mensch als biologischer Organismus die Basis für die Emergenz der Person ist, suggeriert ein zeitgenössisches Verständnis vielmehr, dass diese beiden Begriffe nicht miteinander koinzidieren – weder zeitlich noch inhaltlich . Person beziehe sich auf bestimmte Phasen der menschlichen Existenz,107 womit das Menschsein eine notwendige Bedingung für die Emergenz einer menschlichen Person ist . In entgegengesetzter Richtung sei das Personsein allerdings kein Maßstab für das Menschsein –„ein menschlicher Organismus [kann] weiterexistieren, auch wenn er aufhört, eine Person zu sein“ .108 In diesem Sinne zeigt sich der Begriff von 103 104 105 106 107 108

Quante (Fn . 91), 163 . AaO . AaO ., 96 . AaO . Quante (Fn . 11), 114 . AaO .

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menschlicher Natur noch heute von Interesse z . B . für die Philosophie und das Recht – allerdings als ein enttranszendentalisierter, in der diskursiven Praxis inferentiell vertretbarer Menschenbegriff . Das Personsein lässt sich wiederum aus den Perspektiven der Personalität und der Persönlichkeit analysieren . Die Terminologie ist erklärungsbedürftig und führt durchaus zu Missverständnissen . Eine konsequente Unterscheidung bietet Quante an . Nach Quante sei die Personalität eine sozial-relationale Bestimmung, die sich in einem reziproken Interpretations- und Anerkennungsmodus konstituiere .109 Wird jemandem Personalität zugeschrieben, handelt es sich dabei um eine Person .110 Die Persönlichkeit ihrerseits sei die spezifische Lebensform der menschlichen Person, ein aktivistisches und evaluatives Selbstverhältnis, anhand dessen die Person ihre Willenseinstellungen bestimmt .111 Darin enthalten sei zudem ein Anspruch auf biografische Kohärenz, für deren Erfüllung „die Übereinstimmung von antezipiertem und realisiertem Selbstbild“ bei der eigenen Lebensführung maßgeblich sei .112 Im Gegensatz zur Personalität sei eine so konzipierte Persönlichkeit graduierbar, insofern als die Person im höheren oder niedrigeren Maß „als Resultat ihres eigenen Bemühens um biographische Kohärenz und als Realisation ihrer eigenen evaluativen Selbstkonzepte“ verstanden werden könnte .113 Demnach emergiert die Persönlichkeit als individuelle Ausgestaltung der Personalität in der Begegnung und im Zusammenspiel des Individuums mit der sozialen Wirklichkeit . Im Einklang mit dem oben Ausgeführten spielt die soziale Praxis dabei eine konstitutive Rolle . So verstanden integriert sich die Persönlichkeit in einem ethischen Umfeld des Zusammenlebens .114 Die Persönlichkeit sei daher die Quelle des besonderen ethischen Status von Personen, so Quante . Mit diesem Persönlichkeitsbegriff ist allerdings nur eine ebenso inhaltlich kontextbedingte und weiche ethische Konzeption des Personenbegriffs kompatibel . Die Person sei aus einer „offenen Liste“ von Kriterien konstituiert, deren inhaltliche „Füllung“ sowohl aus anthropologischen als auch aus kulturgebundenen Merkmalen bestehe .115 Veränderbar und pluralistisch zeigen sie aber oftmals gleichzeitig eine gewisse Stabilität dank Faktoren wie ihrer eigenen Geschichtlichkeit (an dieser Stelle könnte etwa von einem „Zivilisationsprozess“ die Rede sein) .116 Für das Recht bedeutet es, dass die daraus abgeleiteten Anforderungen in einer Art und Weise berücksichtigt werden sollen, die die Variabilität, Kontextbedingtheit und Weichheit dieses Begriffsinhalts ernst nimmt117 . Obwohl der Begriff der Rechtsperson rechtlich zu (re-)konstruieren ist118, führt dies keineswegs zu einer Undurch109 110 111 112 113 114 115 116

Quante (Fn . 11), 31 . AaO ., 139 . AaO ., 135 . AaO ., 165 . AaO ., 167 . AaO ., 176 . AaO ., 33 . Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 1969 . 117 Eine Übergeneralisierung des Personenbegriffs z . B . gegenüber anderen kulturellen Zusammenhängen könnte als paternalistisch erscheinen, da die für eine bestimmte Art des Personseins konstituierenden Merkmale als allgemeine Wahrheiten gelten würden . Quante (Fn . 11), 33 . 118 Kirste (Fn . 19) .

Personwerden: Rechtsphilosophische Skizzen zur Rolle der „Natur des Menschen“

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lässigkeit des Rechts gegenüber anderen Realitätsebenen, aus denen es die zu rekonstruierenden Informationen über den Menschen- bzw . den Personenbegriff entnimmt . Über die Art und Weise, wie das Recht diese Informationen rekonstruieren und in einen rechtlich gültigen Begriff von Rechtsperson transformieren119 wird, entscheidet das Recht selbst .120 Die Legitimität dieser Entscheidung im zeitgenössischen demokratischen Rechtsstaat hängt jedoch davon ab, dass die an das Recht gerichteten ethischen, wissenschaftlichen, sozialen Anforderungen ihren Eingang in den Rechtsdiskurs finden und insbesondere, dass die daraus resultierende Entscheidung demokratisch gerechtfertigt werden kann .

119 AaO ., 3 . Vgl . auch Stephan Kirste, Recht als Transformation, in: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, hg . von Winfried Brugger / Ulfrid Neumann / Stephan Kirste, 2008, 134–156 . 120 Kirste (Fn . 2), 25 f .

doroThea Magnus, haMburg rechtsphIlosophIsche grundlegung Im strafrecht

der

patIentenautonomIe

I. eInleItung Sich mit der Autonomie zu befassen, ist ein Unterfangen, das leicht zum Scheitern verurteilt ist . Die Autonomiedebatte wird seit über 2000 Jahren geführt und ein Konsens darüber, was genau Autonomie ist, ist nicht in Sicht und es wird ihn womöglich auch nie geben . Unterschiedliche „Theorielager“ streiten weltweit und in großer Intensität über Formen, Kriterien sowie notwendige und hinreichende Bedingungen von Autonomie .1 Ein Teilbereich aus dieser Debatte, der hohe Praxisrelevanz und Auswirkungen auf das Strafrecht hat, soll hier gleichwohl ausgewählt und näher untersucht werden . Dieser Bereich, die Patientenautonomie, hat in der medizinischen Praxis eine existenzielle Bedeutung . Die Patientenautonomie entscheidet in Konstellationen wie der ärztlichen Heileingriffe, in Situationen am Ende des Lebens, in Fällen der Zwangsbehandlung, der nichttherapeutischen Behandlungen und anderen Bereichen mit über die Strafbarkeit des Arztes und das weitere Schicksal des Patienten . Als besondere Ausprägung der Autonomie der Person stellt sie im Strafrecht einen grundlegenden Wert dar, an dem sich bemisst, ob ein ärztlicher Eingriff erlaubt oder rechtswidrig ist . Bislang wurde stellvertretend für die Selbstbestimmung auf die Legitimationsfigur der Einwilligung nach Aufklärung zurückgegriffen . Eine nähere Betrachtung zeigt allerdings, dass diese Figur nicht der Vielgestaltigkeit der Situationen ausreichend Rechnung trägt . Wie lässt sich die Patientenautonomie aber näher fassen und begründen? In diesem Gebiet verweben sich rechtliche mit rechtethischen und rechtsphilosophischen Fragen nach Begründung und Grenzen der Autonomie . Ist die Autonomie so eng mit der „Natur des Menschen“ verknüpft, dass sie als naturgegeben angesehen werden kann? Oder ist sie eher eine Befähigung im Recht in Form einer Rechtsposition, aus welcher der Person ein legitimer Anspruch auf Respekt erwächst? Ausgangspunkt der Überlegungen soll der Grundsatz sein, dass die Autonomie ein der Person intrinisch zukommender Wert ist und ihr einen besonderen moralischen wie rechtlichen Status verleiht . Ob sich daraus ein genuines Recht auf Respektierung der Autonomie ableiten lässt, das im Sinne eines Naturrechts der Person von Geburt an mitgegeben ist, ist zu untersuchen . Gegenstand der Untersuchung soll auch die Frage sein sein, inwieweit eine Unterscheidung zwischen der Fähigkeit zur Ausübung von Autonomie und dem 1

S . nur Gerald Dworkin, The Theory and Practice of Autonomy, 1988; James Griffin, Well-Being: Its Meaning, Measurement ad Moral Importance, 1986; John Christman, Autonomy in Moral and Political Philosophy, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg . von Edward Zalta, 2011; Harry Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, In: Journal of Philosophy 1971, 68, 5–20 sowie ders ., in: Freiheit und Selbstbestimmung, hg . von dems ., 2001, 65–83; Tom May, The Concept of Autonomy, in: American Philosophical Quarterly 31, 133; Nomy Arpaly, Responsibility, Applied Ethics and Complex Autonomy Theories, in: Personal Autonomy. New Essays on Personal Autonomy and its Role in Contemporary Moral Philosophy, hg . von James Taylor, 2005, 162–180 .

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Dorothea Magnus

grundsätzlichen Recht auf Autonomie ausschlaggebend ist . Die Konzepte Kants, Feinbergs und Beauchamp und Childress bieten hier wichtige Ansatzpunkte für eine sinnvolle Differenzierung . Da es unmöglich ist, diese philosophischen Konzepte vorliegend auch nur annähernd wiederzugeben, wird die Darstellung auf einige ausgewählte Gedanken beschränkt, die für das Thema von Bedeutung sind . Im Folgenden sollen dann einige wesentliche Punkte des eigenen Konzept der Verfasserin zu einer wertgebundenen Patientenautonomie vorgestellt werden, das den Autonomiebegriff im medizinischen Kontext weiter ausdifferenziert und mit dem Wert des Wohls des Patienten anreichert . Um Anspruch auf Geltung zu erheben, muss sich dieses Konzept sowohl an den Bedürfnissen der Patienten orientieren als auch zu den rechtlichen Folgen für den Arzt Stellung beziehen, um für das Strafrecht tauglich zu sein . Am Beispiel der Patientenautonomie zeigt sich die Frage nach der Bedürfnisorientierung des Rechts und seiner Befähigung in augenscheinlicher Weise . Die damit verbundenen Fragen sind von drängender Aktualität und Relevanz für Medizinethik und Recht gleichermaßen . Ihre praktische Bedeutung zeigt sich im medizinischen Alltag . Diese Fragen sind noch weit entfernt davon, beantwortet zu werden . II. phIlosophIsche

und medIzInethIsche

konzepte

zur

autonomIe

1. kanTs auTonoMiekonZepT In der Philosophie hat das wohl bedeutendste Konzept der Autonomie Immanuel Kant entwickelt .2 Da hier die Patientenautonomie mit Blick auf das Recht, genauer: das Strafrecht, und nicht primär unter dem Blickwinkel der Philosophie betrachtet wird, sollen einige wesentlichen Gedanken zu Kants Autonomiekonzept ohne eine Vertiefung im Detail genügen . Ausgangspunkt Kants für die Annahme von Autonomie ist der „gute“ Wille .3 Der Wille ist nicht auf die Verwirklichung irgendwelcher vorgegebener Werte gerichtet . Vielmehr ist es die Aufgabe jedes „autonomen“ Menschen, sich die Werte selbst zu geben, nach denen er sein Leben ausrichten möchte . Diese selbständige Wertegebung ist andererseits auch nicht beliebig oder willkürlich . Sie ist nicht in das freie Ermessen der Person gestellt, die sich gemäß ihren Neigungen einmal so und einmal anders entscheiden kann . Vielmehr ist sie an den von Kant entwickelten kategorischen Imperativ gekoppelt, der Grundlage und Maßstab für die Werteübernahme ist .4 Der Wille spielt dabei die Rolle des selbstgesetzgebenden Urhebers .5 Diese Selbstgesetzgebung geschieht über die Ausbildung von Maximen, also eigenen subjektiven Grundsätzen, die anhand des kategorischen Imperativs auf ihre Verallgemeinerbarkeit geprüft werden müssen . Für Kant ist die Vernunft (Ratio) die entschei2 3 4 5

S . zu Kants Konzept der Autonomie des Willens und der Abgrenzung zu konsequentialistischen Ansätzen Dorothea Magnus, Medizinische Forschung an Kindern, 2006, 115 ff . Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants gesammelte Schriften, hg . von Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd . IV, 1902, 393 . Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants gesammelte Schriften, hg . von Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd . V, 1902, 54 . Kant (Fn . 3), 431 .

Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie im Strafrecht

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dende Grundvoraussetzung für Autonomie . Der vernunftgeleitete Wille, der sich dem objektiven und allgemeinverbindlichen moralischen Gesetz unterwirft, ist damit die Wesenseigenschaft der Autonomie . Nach Kant bedeutet die Autonomie des Menschen folglich, dass er kraft „reiner praktischer Vernunft“ seinen Willen und die Maximen seines Handelns unabhängig von empirischen Umständen wie z . B . den eigenen Neigungen oder den Vorgaben irgendwelcher Autoritäten bestimmen kann .6 „Autonomie“ wird dabei von den Besonderheiten der individuellen Person gelöst und damit allgemeingültig bestimmt oder in anderen Worten „ent-individualisiert“ und universalisiert . Zum anderen ist der Kantische Autonomiebegriff stark moralisiert . Er bezieht sich auf die moralische Freiheit, also auf die Fähigkeit, sich für das moralisch Richtige zu entscheiden . Durch die Beschränkung auf die moralische Freiheit ist Kants Begriff von Autonomie zwangsläufig sehr eng . Das Konzept der sittlichen Autonomie ist klar abzugrenzen von voluntaristischen Ethikströmungen . Kants Konzept der Ent-individualisierung und Moralisierung der Autonomie steht daher im Gegensatz zu anderen Autonomiekonzepten . In der heutigen Autonomiediskussion herrscht demgegenüber ein Verständnis von Autonomie vor, das auf die konkrete Person und ihre Wünsche und Neigungen zugeschnitten ist, also individualisiert ist sowie den Anspruch erhebt, gerade nicht moralisierend zu sein .7 Überträgt man Kants Gedanken auf den besonderen Bereich der Patientenautonomie, so ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: Der Patient hat als Adressat des kategorischen Imperativs seine Entscheidungen an diesem auszurichten, damit sie als moralisch autonom gelten können . Doch gibt es Patienten, denen es schwer oder unmöglich ist, den kategorischen Imperativ zu befolgen . Patienten, die wachkomatös, geistig schwer behindert oder auf andere Weise einwilligungsunfähig sind, können von sich aus keine vernunftgeleitete Entscheidung fällen . Was genau sie tatsächlich wollen, hat man entweder nie erfahren (bei von Geburt an schwer geistig Behinderten) oder wird es nicht mehr erfahren (bei irreversibel wachkomatösen Patienten) . Auch muss nach dem Kant`schen Konzept die autonome Handlung des Individuums ausschließlich durch den Handelnden selbst und nicht durch etwas, das von außen kausal auf ihn einwirkt, bedingt sein . Dass ist aber gerade im medizinischen Bereich problematisch, weil sich der Patient häufig äußeren Einflüssen ausgesetzt sieht, die seine Handlung massiv beeinflussen können . Krankheit, Schmerzen, Druck, Angst oder die schlichte Unfähigkeit zu einer vernünftigen Bildung und Steuerung des Willens machen in vielen Fällen eine moralisch autonome Entscheidung im Sinne Kants unmöglich . In diesem Bereich fallen viele Entscheidungen nicht rational und nicht unter Beachtung einer vernunftgeleiteten Kontrolle durch den kategorischen Imperativ aus . Die Entscheidung, ob der Patient die empfohlene Therapie ablehnt oder ihr zustimmt oder ob er Sterbehilfe will oder nicht, ist eine höchstpersönliche Entscheidung und in der Regel nicht als moralisches Gesetz ver6

7

Vgl . Kant (Fn . 3), 412, in welcher er den Willen beschreibt als „ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d . i . als gut erkennt“; s . dazu Felix Thiele, Autonomie und Einwilligung in der Medizin: Eine moralphilosophische Rekonstruktion, 2011, 81; Oliver Sensen, Kant on Moral Autonomy, 2012 . S . dazu Monika Betzler, Einleitung: Begriff, Konzeptionen und Kontexte der Autonomie, in: Autonomie der Person, hg . von Monika Betzler, 2013, 13 mwN .; John Christman, in: The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy, hg . von dems ., 1989 .

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allgemeinerbar . Eine Entscheidung über medizinische Maßnahmen ist keine originär moralische Entscheidung, sondern stark von Bedürfnissen geprägt, die von Kant ja gerade als Neigungen aus dem Bereich der Autonomie ausgeklammert werden sollen . Praktische Kriterien für ein autonomes Verhalten im Bereich der Patientenautonomie lassen sich aus Kants Autonomiebegriff jedenfalls dann nicht ableiten, wenn der Patient nicht völlig unbeeinflusst von seiner Krankheit entscheiden kann . Nur in den Fällen, in denen die Krankheit des Patienten sein Urteilsvermögen in keiner Weise trübt, mag eine Autonomie im kantischen Sinn – so handeln, dass dies Handeln allgemeine Norm sein könnte – möglich sein . Das Kant`sche Autonomiekonzept ist zudem wertoffen . Lediglich die Möglichkeit der Universalisierbarkeit von Maximen zu Gesetzen und der Ursprung des Handelns der Person seiner Pflicht gemäß8 geben Wertungen vor, an denen sich eine autonome Handlung messen lässt . Die genauen Inhalte der Maximen bleiben unbesetzt . Zwar hat die Wertoffenheit eines Autonomiekonzepts den Vorteil, für viele Lebensbereiche einsetzbar zu sein . Doch besteht in dem medizinischen Bereich, konkreter: im Arzt-Patient-Verhältnis, nicht das Bedürfnis, einen solchen verallgemeinerbaren Begriff zu finden . Vielmehr ist es erstrebenswert, ein Konzept speziell für diesen Bereich zu entwickeln . Hier lässt sich gleichwohl die kantische Bindung an ein begrenzendes Kriterium der praktischen Vernunft insoweit berücksichtigen, als dass z . B . bei dem Autonomiekonzept der Verfasserin eine Begrenzung und Ausgestaltung durch die Wertgebundenheit der Autonomie erreicht werden soll . Eine Anreicherung der Autonomie im Arzt-Patientenverhältnis mit Werten wie dem Wohl des Patienten würde eine wünschenswerte Grenze der Ausübung personaler Autonomie darstellen . Insgesamt lässt sich sagen, dass Kants Autonomiekonzept nur in sehr begrenztem Ausmaß auf den medizinischen Bereich der Patientenautonomie übertragbar ist . 2. joel Feinbergs auTonoMiekonZepT Ein wichtiges Konzept zur Autonomie aus der neueren Zeit hat Joel Feinberg vorgelegt .9 Feinberg differenziert zwischen vier verschiedenen Kategorien von Autonomie mit jeweils anderen Voraussetzungen . Seine Einteilung der Autonomie in vier Kategorien ermöglicht eine Betrachtungsweise, die alle denkbaren Ausprägungen der Autonomie erfasst . Diese Kategorien sind: (1) Autonomie als Fähigkeit, also das Vermögen sich selbst Gesetze zum Handeln und zum Entscheiden zu geben, (2) Autonomie als Zustand (Ausübung des Vermögens), (3) Autonomie als Ideal (v . a . des Charakters) und (4) Autonomie als Recht .10 Die erste Kategorie, die Autonomiefähigkeit, versteht Feinberg als Kompetenz (Vermögen), sich selbst zu kontrollieren, rational vernünftig zu denken und frei von einschränkenden Faktoren zu sein wie systematischer Selbsttäuschung oder solchen 8 9 10

In der Terminologie Kants handelt eine Person „pflichtgemäß“, aber nicht „aus Pflicht“, s . Betzler (Fn . 7), 13 . Joel Feinberg, The moral limits of the criminal law. Harm to self, Bd. 3, 1986 . Feinberg (Fn . 9), 28 ff .

Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie im Strafrecht

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Krankheiten, die sich negativ auf das Denkvermögen auswirken . Für Feinberg ist die Autonomiefähigkeit Grundvoraussetzung für die übrigen Kategorien, d . h . ein Zustand, Ideal und Recht von Autonomie lassen sich erst erreichen, wenn die Person überhaupt fähig ist, Autonomie auszuüben . Hier zeigt sich aber bereits, dass diese Fähigkeit bei einer Übertragung auf den medizinischen Bereich problematisch ist . Sie fehlt bei allen Patienten, die aufgrund primär kognitiver Beeinträchtigungen keine selbstbestimmte Entscheidung mehr fällen können . Das ist etwa der Fall bei retardierten, schwer dementen oder anderen stark psychisch kranken Patienten . Feinberg würde diesen Personen mangels Autonomiefähigkeit auch nicht das Recht auf Autonomie zugestehen, das die Fähigkeit ja zur Voraussetzung hat .11 Dieser Konsequenz wird hier widersprochen . Auch psychisch kranken und anderen einwilligungsunfähigen Personen sollte ein Recht auf Autonomie zukommen . Autonomie ist nach eigener Auffassung ein Zustand, der untrennbar mit der Person als Rechtsträger verknüpft ist . Ähnlich wie im Zivilrecht dem Menschen mit Geburt die Rechtsfähigkeit zugesprochen wird, die unabhängig davon gilt, ob die Person geschäftsfähig ist oder nicht, ist die Autonomie mit Geburt dem Menschen mitgegeben, unabhängig davon, ob er sie (schon) ausüben kann . Autonomiefähigkeit sollte daher nicht als Voraussetzung für Autonomie als Recht oder Zustand angesehen werden . Das bedeutet nicht, dass Autonomieunfähige nun weitreichende Entscheidungen über ihre Krankenbehandlung fällen sollen . Die Entscheidung eines schwer Alzheimer-Kranken über Sterbehilfe ist ebenso wenig zu beachten wie die Entscheidung über eine schwerwiegende Operation . Autonomie als Recht zeigt sich in Fällen der Einwilligungsunfähigkeit vielmehr in Gestalt eines Anspruchs auf eine Basisversorgung, die die Person achtet sowie eine Förderung und angemessene Respektierung der schon oder noch vorhandenen Fähigkeiten zur Selbstbestimmung . Auch zeigt sich dieser Anspruch im Recht auf Stellvertretung . Anders als Feinberg hält die Verfasserin es daher für überzeugender, den Autonomiezustand und Autonomieanspruch losgelöst von der Autonomiefähigkeit zu sehen, selbst wenn deren beider Umfang und Zuschnitt dann variieren würden . Die zweite Kategorie, Autonomie als Zustand, entwickelt Feinberg anhand von Persönlichkeitseigenschaften wie Individualität, Authentizität, moralischer Unabhängigkeit, Integrität u . a ., gesteht aber ein, dass trotz selbstbestimmter Persönlichkeit ein Zustand tatsächlicher Autonomie nicht erreichbar ist, wenn äußere Zwänge wie Nötigung, schwere Krankheit oder Armut diese ausschließen .12 Doch ist diese Ausprägung faktischer Autonomie ein ethisch wertoffenes Konzept, da auch ein perfekt autonom Handelnder moralische Defizite aufweisen kann, z . B . rücksichtslos und egoistisch seine Interessen durchsetzt, ohne dass dies seine Autonomie in irgendeiner Weise in Frage stellt .13 Feinbergs dritte Ausprägung der Autonomie eines Menschen ist daher eine Idealvorstellung . Autonomie als Ideal stellt einen authentischen Menschen vor, „dessen Selbstbestimmung so vollständig ist, wie es mit der Tatsache zu vereinen ist, dass er 11 12 13

Feinberg definiert die Autonomiefähigkeit, die sog . „capacity of self-government“, als „ability to make rational choices“, welche er der Gruppe der Einwilligungsunfähigen abspricht, s . Feinberg, (Fn . 9), 28 . Feinberg (Fn . 9), 32 ff . S . dazu auch Ioannis Gkoutnis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, in: Schriften zum Strafrecht, Heft 217, 2011, 124 f .

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natürlich ein Mitglied einer Gemeinschaft von Menschen ist“ .14 Für die strafrechtliche Sicht ist die Autonomie als Ideal jedoch allenfalls von untergeordneter Bedeutung, ist sie doch unter Rechtsbrechern kaum anzutreffen . Neben Fähigkeit, Zustand und Ideal von Autonomie kommt dem Menschen nach Feinberg das Recht zur Autonomie zu . Voraussetzung für dieses Recht ist nach ihm die Fähigkeit zur Autonomie . Er versteht dieses Recht in Anlehnung an das Völkerrecht als persönliche Souveränität . Er vergleicht souveräne Individuen mit souveränen Staaten, die über ihr Staatsgebiet herrschen wie der Einzelne über seinen Körper .15 Dieser Vergleich des „Territoriums“ ist jedoch misslich, da bei Staaten auch einzelne Regionen autonom sein können, der Körper einer Person aber dem autonomen Willen der Person gleichermaßen unterworfen ist . Auch ist der Souveränitätsgrundsatz im Völkerrecht von Natur aus eher ein Abwehrrecht gegen Ansprüche, Invasionen von dritter Seite . Die Souveränität bzw . Autonomie des Einzelnen hingegen impliziert auch Ansprüche gegenüber Dritten, im Arzt-Patient-Verhältnis beispielsweise auf kunstgerechte Behandlung, Aufklärung und Beachtung der Einwilligung . Insgesamt ist festzuhalten, dass Feinbergs Konzept von Autonomie trotz der genannten Kritikpunkte für die medizinische Ethik wichtige Impulse gibt und für die Patientenautonomie beachtliche Differenzierungen vorgibt . Dabei erscheint für die (straf-)rechtliche Sicht insbesondere die Differenzierung in Autonomie als Fähigkeit, als Zustand, als Rechtsanspruch sinnvoll, während die kleinteilige Auffächerung in Einzelaspekte jedenfalls für die praktische Rechtsanwendung zu differenziert ist . In der weiterführenden Diskussion der Feinbergschen Differenzierungen wird häufig von internalistischen und externalistischen Konzeptionen gesprochen .16 Erstere betreffen allein das innere Verhältnis der Person zu sich selbst, insbesondere die Selbstkontrolle, aber auch die Identifizierung und authentische Übereinstimmung mit den eigenen Wünschen und Handlungsmotiven . Externalistisch hingegen sind Umstände von außen wie ein Mindestmaß an Freiheit von äußerem Zwang und Unabhängigkeit von anderen Personen, um als autonom gelten zu können . Für den medizinischen Bereich erscheint eine Kombination beider Konzeptionen sinnvoll, um die Wesenseigenschaften der Patientenautonomie zu erfassen . Die hier vertretene Position ist daher „gemischt internalistisch – externalistisch“ . Sie umfasst sowohl die personalen Bedingungen von Autonomie der Person selbst als auch die Beziehungen zu anderen Personen wie sogleich gezeigt werden soll . 3. auTonoMiekonZepT von beauchaMp und childress Beauchamp und Childress haben ein vielschichtiges und für die medizinische Praxis äußerst taugliches Konzept von Autonomie entwickelt .17 In griffiger Weise formulieren sie Grundvoraussetzungen der Autonomie . Drei Bedingungen müssen erfüllt sein, um eine Handlung bzw . Entscheidung autonom zu nennen . Erstens (1) muss 14 15 16 17

Feinberg (Fn . 9), 47 . AaO ., 52 . S . nur Betzler (Fn . 7), 15 ff . Tom Beauchamp / James Childress, Principles of Biomedical Ethics, 6 . Aufl . 2009 .

Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie im Strafrecht

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der Betroffene die Handlung bzw . Entscheidung intentional vornehmen . Zweitens (2) muss er ein Verständnis davon haben, was er entscheidet oder tut . Und drittens (3) muss er die Handlung oder Entscheidung frei von äußeren Einflüssen, die ihn steuern, durchführen . Während Intentionalität entweder vorhanden ist oder nicht, sind Verständnis und Freiheit von Zwang graduell abstufbar, können also ab einem gewissen Grad existieren . Handlungen und Entscheidungen von Patienten können folglich schon dann als autonom bezeichnet werden, wenn sie nicht vollständig, sondern nur ausreichend selbstbestimmt sind .18 Übertragen auf die Patientenautonomie bedeutet das Folgendes: Während zum einen die Voraussetzung der Freiheit von äußerem Zwang unbestritten als freiheitssichernde Bedingung vorliegen muss, ist die Voraussetzung der Intentionalität der Entscheidung fast selbstverständlich, weil Patienten regelmäßig eine bewusste und absichtliche Entscheidung über den ärztlichen Eingriff fällen und zufällige, unbewusste Entscheidungen selten vorkommen dürften . Die andere Voraussetzung – Verständnis im Sinne von Informiertheit und Kompetenz, die Informationen entsprechend zu verstehen19 – kann hingegen gerade bei psychiatrischen Patienten fehlen . Eine solche Fähigkeit weisen retardierte oder schwer demente Patienten in den wenigsten Fällen auf . Ebenso kann es sein, dass psychisch kranke Patienten die Informationen nicht richtig beurteilen können, weil ihnen z . B . aufgrund einer Psychose die Krankheitseinsicht fehlt . Oder aber sie können ihre Entscheidung trotz des Verständnisses der Informationen nicht richtig kontrollieren und steuern wie z . B . bei einer Suchterkrankung .20 Konsequenterweise muss diesen psychiatrischen Patienten nach Beauchamp und Childress die Autonomie abgesprochen werden .21 Der Arzt ist dann nicht verpflichtet, ihre Entscheidungen zu beachten . Jedoch sollte ein Arzt im Sinne der Förderung von Autonomie dafür sorgen, die Fähigkeit des Patienten zur Autonomie soweit wie möglich wiederherzustellen . Dass das nur in Fällen vorübergehender und nicht dauerhafter Autonomieunfähigkeit möglich ist, liegt auf der Hand . So kann ein Arzt bei einem suchtkranken oder psychotischen Patienten die Grunderkrankung behandeln und bei Therapieerfolg die Fähigkeit zur Autonomie wiederherstellen . Bei dauerhaft Autonomieunfähigen, wie irreversibel Dementen oder von Geburt an geistig Behinderten, ist eine solche Möglichkeit hingegen nicht gegeben . Das Beispiel der psychiatrischen Patienten zeigt, dass Beauchamp und Childress einen relativ rigiden Autonomiebegriff vertreten . Dauerhaft autonomieunfähigen Personen gestehen sie keine Autonomie zu mit der Folge, dass diese wegen ihrer psychiatrischen Erkrankung oder Behinderung keine Ansprüche gegenüber Dritten auf Achtung ihrer Autonomie haben können . In Fällen der einwilligungsunfähigen Patienten weichen Beauchamp und Childress zum einen auf etwaige vorherige Behandlungswünsche, Patientenverfügungen o . ä . (precedent autonomy)22, zum anderen auf Entscheidungen

18 19 20 21 22

Beauchamp/Childress (Fn . 17), 101, s . auch Ruth Faden / Tom Beauchamp, A History and Theory of Informed Consent, 1986, 243 . S . hierzu auch Monika Bobbert, Ärztliches Urteilen bei entscheidungsunfähigen Schwerkranken. Geschichte – Theorie – Ethik, 2012, 265 . Ralf Stöcker, in: Menschenwürde und Medizin, hg . von Jan Joerden / Eric Hilgendorf / Felix Thiele, 2013, 571, 581 . Beauchamp/Childress (Fn . 17), 105 . AaO ., 137 .

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Dorothea Magnus

von Stellvertretern23 oder auf das „best interest“ des Patienten24 mit jeweils anderen Voraussetzungen aus . Beauchamp und Childress würden ein solches Recht der psychiatrischen Patienten hingegen wohl, wenn überhaupt, in anderen ethischen Prinzipien verorten wie dem dritten Grundsatz ihres „Georgetown-Mantras“ Gutes tun/Wohlergehen (beneficence, bonum facere) .25 III. eIgenes konzept

der

patIentenautonomIe

1. auFgabe und Zweck eines konZepTs der paTienTenauTonoMie Zunächst ist es hilfreich, sich genauer über den Zweck und die Aufgabe der Patientenautonomie klar zu sein . Der Begriff der Patientenautonomie soll umschreiben, dass und wie die Entscheidungsfreiheit einer Person zu sichern ist, die sich in der besonderen Lage eines Patienten befindet . Patientenautonomie betrifft ihrem Wesen nach die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und Geist in Form eines eigenen Entscheidungsfreiraums über medizinische Eingriffe – oder vergleichbare Eingriffe wie z . B . Tätowierungen . Das impliziert zum einen den Schutz vor ungewollten Eingriffen (negative Komponente), zum anderen aber auch das Recht, über das Ob von Eingriffen zu entscheiden und bei der Auswahl zwischen mehreren Maßnahmen eine festzulegen (positive Komponente) . Die Patientenautonomie ist damit vor allem ein Instrument, um die Pflichten des Arztes bzw . der professionellen Pflege- oder sonstigen Personen zu konkretisieren . Sie soll deren Möglichkeiten, über den Patienten zu ‚verfügen‘, möglichst weitgehend an den Willen des Patienten binden . Die Patientenautonomie dient somit der Verwirklichung des freiverantwortlich gebildeten Willens des Patienten im Arzt-Patient-Verhältnis (und gleichgelagerten nichtärztlichen Verhältnissen) . Sie legt damit vor allem Pflichten für den Arzt fest, die angeben, in welchem Maß er den Wünschen und Entscheidungen des Patienten nachzukommen und sie zu verwirklichen hat . 2. eigene grundThesen Für das eigene Konzept der Patientenautonomie werden folgende Grundthesen aufgestellt: Die Patientenautonomie dient der eben genannten Verwirklichung des freiverantwortlich gebildeten Willens des Patienten im Arzt-Patient-Verhältnis (das gleichgelagerte nichtärztliche Verhältnisse einschließt) . Die Patientenautonomie unterliegt einer Reihe notwendiger Differenzierungen; sie ist ferner relativ; sie ist schließlich wertgebunden und damit an das objektiv verstandene physische und psychische Wohl des Patienten gebunden . Der Autonomiebegriff lässt sich selbst in 23 24 25

Beauchamp/Childress (Fn . 17), 136; Johann Platzer, Autonomie und Lebensende: Reichweite und Grenzen von Patientenverfügungen, 2010, 43 f . Beauchamp/Childress (Fn . 17), 140; Christoph Holzem, Patientenautonomie . Bioethische Erkundungen über einen funktionalen Begriff der Autonomie im medizinischen Kontext, in: Studien der Moraltheologie, hg . von Antonio Autiero / Josef Römelt, Bd . 11, 1999, 162 . S . zu diesen Prinzipien die Ausführungen in Beauchamp/Childress (Fn . 17), 2009 .

Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie im Strafrecht

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dem begrenzten Feld der Patientenautonomie nicht einheitlich auf einen einzigen Aspekt reduzieren . Vielmehr hat er in vielerlei Hinsichten Differenzierungen zu beachten (Deshalb ist statt von einem Autonomiebegriff eher von einem Autonomiekonzept zu sprechen .) . Wesentliche Differenzierungen betreffen z . B . die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdbezug, zwischen erlebens- und wertorientierten Interessen, zwischen verschiedenen Patientengruppen und unterschiedlichen Ausprägungen von Autonomie . Im Folgenden soll nur auf die besonders wichtige Differenzierung des Selbst-und Fremdbezugs eingegangen werden . a) Differenzierung Selbstbezug und Fremdbezug Diese Differenzierung ist personenbezogen, denn Autonomie kann hier namentlich in zweierlei Richtung verstanden werden: Einmal in Bezug auf den betroffenen Patienten selbst und zum anderen in Bezug auf dritte Personen (Ärzte etc .), die sich zur eigenständigen Entscheidung des Patienten verhalten sollen . Im Selbstbezug ist die Autonomie so gut wie grenzenlos . Der Selbstbezug oder auch das Selbstverhältnis kann sich in der Annahme oder Ablehnung einer objektiv indizierten medizinischen Behandlung ebenso verwirklichen wie in Selbstmedikation oder Selbsttötung . Der Patient kann mit seinem Körper und Geist selbst machen was er will, bis hin zur völligen Selbstzerstörung . Das Recht verbietet ihm das nicht . Zum anderen betrifft Autonomie das Verhältnis zu anderen Personen . In Form der Patientenautonomie bedeutet sie, den Eingriffen von Dritten, insbesondere Ärzten, in den Körper des Patienten eine Legitimation zu geben . Hier reicht die Verfügungsmacht des Patienten deutlich weniger weit . Selbst wenn der Patient aus freien Stücken und sehenden Auges seine Tötung von fremder Hand verlangt, sind ihm vom Gesetz und durch die eigene Autonomie des Anderen Grenzen gesetzt . Die Verfügungsmacht des Patienten über seinen eigenen Körper ist in seinem Selbstverhältnis folglich deutlich größer als seine Macht, anderen Personen Eingriffe in seinen Körper zu gestatten . Die Autonomie, die der Patient selbst durch eigene Handlungen nutzen darf, ist also nicht deckungsgleich mit jener Autonomie des Patienten, die der Arzt zu respektieren hat . Die Eigenautonomie kann weiter reichen als die Fremdautonomie . Diese Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdbezug oder Innen- und Außensicht auf den Patienten ist zentral für die Reichweite der Rechtfertigung die eine selbstbestimmte Entscheidung des Patienten hat . Deren Legitimierungswirkung geht nur soweit wie die Autonomie im Fremdbezug reicht . Eine solche Differenzierung steht im Einklang mit der deutschen Rechtslage, was sich insbesondere an den Vorschriften der §§ 216 und 228 StGB zeigt . Gerade die Tötung auf Verlangen verdeutlicht das in augenscheinlicher Weise . Während die eigene Tötung rechtmäßig und strafrechtlich folgenlos ist, sofern der Sterbewillige selbst Hand an sich legt, ist sie als Tötungsdelikt für einen Dritten strafbar, wenn dieser dem Sterbewilligen gegenüber die Tötung durchführt . Die Differenzierung zwischen Fremd- und Selbstbezug findet sich nicht in den rechtsphilosophischen Konzepten . Sie ist aber speziell mit Blick auf das Strafrecht notwendig und soll deshalb wichtiger Bestandteil eines Patientenautonomiekonzepts sein .

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b) Relativität der Patientenautonomie Patientenautonomie lässt sich nicht als absolute Autonomie erreichen . Das wäre der Wunsch nach einem Zustand, der in der Realität nicht vorkommt . Vollständige Autonomie in allen Lebensbereichen und Lebensaltern ist eine durchaus zweifelhafte Idealvorstellung, wenn und soweit sie das Netz von Beziehungen, Vorprägungen etc . unberücksichtigt lässt, in dem sich jeder, der Kranke ebenso wie der Gesunde, befindet . Die Autonomie des Patienten ist keine unveränderliche abstrakte Größe, sondern kann in ihrer Stärke nach den Umständen variieren . Sie ist insoweit relativ . Der Grad der Autonomie variiert nach Alter, Lebenssituation und Krankheitszustand . Die Fähigkeit zur Autonomie entwickelt sich im Laufe des Lebens, steigt an und nimmt ab und ist in vielen Situationen unterschiedlich stark vorhanden . Autonomie kann daher je nach Situation ganz, teilweise oder gar nicht gegeben sein . Dieses Konzept eines stufenlosen Kontinuums zwischen vollständiger und gänzlich fehlender Autonomie steht im Gegensatz zu dem Schwellenkonzept wie es Feinberg vertritt .26 Er sieht Autonomie ab einer bestimmten Schwelle als vollständig gegeben an, lehnt aber unterhalb der vorher festgelegten Schwelle jede Autonomie ab und ist damit einem alles-oder-nichts-Prinzip verpflichtet . c) Wertgebundene Patientenautonomie Die untersuchten philosophischen und medizinethischen Konzepte zur Autonomie haben die Autonomie nicht an besondere Werte gebunden . Daher konnte kein Streit darüber entstehen, welche moralischen Gebote oder Verbote die richtigen sind und welche von diesen erfüllt sein müssen, um eine Entscheidung bzw . Handlung als autonom einzustufen . Das hat zwar den Vorteil, dass der Autonomiebegriff vielseitig einsetzbar ist, jedoch ist er typischerweise sehr allgemein gehalten . Für den Bereich der Patientenautonomie im Arzt-Patient-Verhältnis besteht hingegen nicht die Notwendigkeit, einen Autonomiebegriff zu verwenden, der wertoffen ist . Vielmehr ist ein enger gefasster Autonomiebegriff zweckdienlicher . Gerade im medizinischen Kontext sind Werte wie die Beachtung des gesundheitlichen Wohls des Patienten von höchster Bedeutung . Das hier entwickelte Konzept zieht daraus die Folgerung, den auf Patienten begrenzten Autonomiebegriff mit Werten anzureichern . Es lässt sich als Konzept einer wertgebundenen Patientenautonomie umschreiben . Die Wertgebundenheit der Patientenautonomie bedeutet, dass sie an das objektiv verstandene physische und psychische Wohl des Patienten gekoppelt ist . Das Wohl und die Selbstbestimmung des Patienten sind die beiden grundlegenden Prinzipien, die ein Arzt am Höchsten zu achten hat . Es ist der Sinn des wertgebundenen Autonomieansatzes, diese Prinzipien nicht als Gegensätze zu verstehen, von denen sich das eine nur auf Kosten des anderen Prinzips durchsetzen lässt . Vielmehr ergänzen sich die Selbstbestimmung und das Wohl des Patienten und wirken nebeneinander . Das Wohl des Patienten beachtet der Arzt, wenn er nach bestem Wissen und ärztlicher Erfahrung die für die Heilung des Patienten beste Therapie wählt . Er handelt damit in einem weitestgehend fürsorglichen Sinne . Bei dieser Behandlung hat er 26

Feinberg verweist auf das Schwellenkonzept Daniel Wiklers, der diese Schwelle als das „level of intelligence just below what we consider normal“ bezeichnet, Daniel Wikler, Philosophy & Public Affairs, Vol . 8, No . 4, 1979, 377, 385 .

Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie im Strafrecht

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aber auch den individuellen Lebensentwurf des Patienten, dessen wertbezogene Interessen und getroffenen Entscheidungen so weit wie möglich zu berücksichtigen . Die Wertbindung der Autonomie orientiert sich somit am vernünftig verstandenen Wohl des Patienten . Im Arzt-Patient-Verhältnis legt der Arzt das Wohl nach den Regeln der ärztlichen Kunst im Einzelfall aus . Die ärztlichen Standards sind vielfach in Therapieempfehlungen der Ärztevereinigungen vorgeschrieben . Die subjektive Bestimmung des eigenen Wohls ist im Arzt-Patient-Verhältnis hingegen nur bis zu einer objektiv bestimmten Grenze für den Arzt bindend . Jenseits dieser Grenze ist die – gleichwohl autonome – Entscheidung unbeachtlich . Das Wohl in diesem Sinne ist der (angestrebte) Zustand von Gesundheit, der unter den gegebenen Bedingungen in objektiver medizinischer Sicht (noch) möglich ist . Der Arzt hat danach den Patientenwillen grundsätzlich nur in dem Umfang zu beachten, wie dieser Wille dem Wohl des Patienten nicht schadet . Die deutliche und grundlose Schädigung ist somit der Maßstab dafür, ob der Arzt der Patientenentscheidung folgen muss oder sie übergehen darf . Dies gilt jedoch nur mit einer Einschränkung . Bei unvernünftigen Entscheidungen, die massiv dem eigenen Wohl des Patienten zuwiderlaufen, trifft den Arzt eine Pflicht, zu überprüfen, ob der Wille noch autonom ist . Unter Hinzunahme weiterer Umstände, z . B . Verletzungen infolge Unfalls, starker Schmerzen, Schocksituation, Depression hat er dann zu beurteilen, ob der Wille ernst zu nehmen ist oder nicht . Ist der Wille autonom, so darf der Arzt bei Verweigerung einer Einwilligung den Patienten nicht behandeln . Niemand darf gegen seinen autonomen Willen zwangsbehandelt werden, wie unvernünftig und selbstschädigend diese Verweigerung auch sein mag . Die Bindung an das Wohl des Patienten, die sich nach objektiven medizinischen Maßstäben richten soll, weist ein paternalistisches Element auf . Die Wertgebundenheit der Patientenautonomie ist insoweit hart paternalistisch, als sie Ärzten verbietet, Entscheidungen des autonomen Patienten umzusetzen, die dessen eigenem körperlichen und bzw . oder geistigen Wohl massiv zuwiderlaufen und die er bei bedachter und langfristig orientierter Entscheidung nicht getroffen hätte . Dies gilt nach dem eben Gesagten also ausschließlich für positive Forderungen eines Patienten nach bestimmten Behandlungen, die ihn grob schädigen würden und nicht für negative Verweigerungen . Es impliziert, den Patientenwillen auch dann nicht zu respektieren, wenn eine gewünschte Behandlung keinerlei Besserung bringen würde . Um Schaden von dem Patienten selbst abzuwenden, um seinem langfristigen Interesse zu dienen und gelegentlich auch um die Folgekosten, die die Gemeinschaft wegen der Verletzung tragen müsste, zu minimieren, zieht die wertgebundene Patientenautonomie hier eine Grenze, die aus den genannten Gründen nicht überschritten werden darf . Eine entgegenstehende Entscheidung des Patienten muss von Dritten nicht beachtet und umgesetzt werden . Ein Arzt macht sich danach wegen Körperverletzung strafbar, wenn er den Patienten an Körper und Gesundheit massiv und grundlos schädigt .27 Ist sogar die Grenze des § 226 StGB überschritten, ist die 27

Somit darf ein Arzt auch die Entscheidung eines Patienten, der an einer sog . Body Integrity Identity Disorder leidet, nicht Folge leisten und beispielsweise ein völlig gesundes Bein amputieren, da hierin eine massive Schädigung liegt und der Grund – allein das psychische Wohlbefinden des Patienten zu verbessern – aus ärztlicher Sicht nicht dem vernünftigen Wohl des Patienten entspricht, das einen solchen Eingriff rechtfertigen würde . Anders dürfte jedoch der Fall einer Geschlechtsumwandlung liegen: Obgleich hier eine massive Schädigung des Körpers

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Einwilligung des Patienten auch wegen Sittenwidrigkeit der Körperverletzung unwirksam .28 Es handelt sich hierbei um eine Form des indirekten Paternalismus, da ein Arzt und damit ein Dritter zu einem Verhalten veranlasst wird, das auf das Wohl des Betroffenen (Patienten) gerichtet ist . Diese Form des Paternalismus lässt sich leichter rechtfertigen . Fehlt dem Patienten zudem die Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit, so ist eine paternalistische Entscheidung zu seinem Wohl angebracht . Als weiterer Rechtfertigungsgrund kommt hinzu, dass auch der Arzt nicht gezwungen werden kann, gegen seine berufsethischen Überzeugungen handeln zu müssen . Für das Strafrecht hat diese Wertgebundenheit weitreichende Auswirkungen . Reduziert man die Selbstbestimmung des Patienten bei medizinischen Entscheidungen nicht allein auf den informed consent, sondern versteht sie als wertgebundene Patientenautonomie, so fallen die damit verbundenen Konsequenzen deutlich differenzierter aus . Im Bereich der Notfallmedizin beispielsweise kann nur die Prognose des Arztes darüber entscheiden, ob es möglich ist, den Patienten wieder so herzustellen, dass die Einleitung der Wiederbelebungsmaßnahmen aus ärztlicher Sicht noch sinnvoll ist . Die Wertbindung würde in so einem Fall fordern, eine lebensverlängernde Maßnahme nur dann nicht einzuleiten, wenn die Weiterbehandlung aus ärztlicher Sicht weder leidmindernd noch lebensverlängernd ist oder nur ein kurzer Lebensrest unter massivsten Beeinträchtigungen noch zu retten ist . Hier entscheidet also nicht der Wille des Patienten über die Durchführung der Behandlung, da seine Autonomiefähigkeit mangels Schocks, Bewusstlosigkeit oder bereits eingetretener Gehirnschädigungen entweder vorübergehend oder schon dauerhaft ausgeschlossen ist, sondern das aus ärztlicher Sicht vernünftige Wohl des Patienten .29 Allein wenn eine Patientenverfügung zur Hand ist und sich ihre Gültigkeit überprüfen lässt, was in der Eile im Zweifel nicht möglich ist, kann der (vorausverfügte) Patientenwille maßgebend sein . Auch im Zusammenhang mit Patientenverfügungen spielt das Kriterium der Wertgebundenheit daher eine große Rolle . Eine bloß informierte Einwilligung hätte diesen Fall hingegen nicht abgedeckt . Die wertgebundene Patientenautonomie entspricht, wie das Beispiel der Notfallpatienten zeigt, in vielen Fällen der medizinischen Praxis und führt auch in anderen Konstellationen zu rechtlich und ethisch überzeugenden Ergebnissen .30

28

29

30

infolge der Durchführung einer Geschlechtsumwandlung erfolgt, ist der Grund – existentielle Identitätsfindung des Patienten – aus ärztlicher Sicht nicht per se unvernünftig und kann im Einzelfall einen solchen Eingriff rechtfertigen . In Fällen der wunscherfüllenden Medizin, z . B . bei Schönheitsoperationen, ist zudem zu fordern, die Schwelle der Sittenwidrigkeit gem . § 228 StGB abzusenken und eine Einwilligung bereits dann als unwirksam einzustufen, wenn durch den Eingriff eine erhebliche Beeinträchtigung von Körperfunktionen erreicht wird, die noch unterhalb der Schwelle zur schweren Körperverletzung (§ 226 StGB) liegt . Der Grund dafür liegt darin, dass in dem Bereich der wunscherfüllenden Medizin die Behandlung nicht indiziert ist und damit der aus ärztlicher Sicht vernünftige Grund für eine Behandlung wegfällt . Besteht hingegen die Chance, dass der Patient sein Bewusstsein wiedererlangen und fähig sein wird, selbst über seine Behandlungssituation zu entscheiden, so ist es geboten, alles medizinisch Machbare zu tun, um ihn in die Lage zu bringen, selbst zu entscheiden, ob er eine (Weiter-) Behandlung wünscht . S . Dorothea Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, 2015 .

II. IndIvIduum – recht – InstItutIon

sabrina Zucca-soesT eInleItende Bemerkungen Recht als sinnstiftende und handlungsanleitende Institution nimmt eine vermittelnde Position zwischen Individuen und normativen Leitideen ein . Will man die normative Sollgeltung von Leitideen als Anspruch an reale politische und gesellschaftliche Institutionen begründen, muss Recht im Spannungsfeld von Individuen und Institutionen in den Blick genommen werden . Denn normative Grundideen werden durch Rechtsetzung in soziale Institutionen übersetzt, die sich in ihrer Funktionalität alltäglich beweisen müssen, indem sie die für ein Gemeinwesen relevanten Grund- oder Leitideen permanent repräsentieren, (re-)aktualisieren und dabei konstitutiv als auch handlungsanleitend für ihre Adressaten sind . Diese beiden genuin institutionellen Funktionen des Rechts, das praktisch-funktionalistische Wirken einer durch Gesetzgebung und Rechtsetzung geschaffenen Rechtsordnung einerseits und das theoretisch-normative Wirken als legitimierendes und integrierendes Identifikationsmoment andererseits, stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander . Gerade die Verbindung dieser beiden institutionellen Dimensionen macht das Recht ebenso flexibel wie wirkmächtig . Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern und gestützt auf welche theoretische Fundierung normative Quellen zu in der Praxis anerkennungswürdigen Handlungsorientierungen und damit zu Stabilität, Integration und Legitimität von politischen Gesellschaftsstrukturen führen . Denn komplexe Gesellschaften sind nicht denkbar ohne wirksame normative Leitideen, die auch faktische Geltungskraft innehaben . Hier kann es sich um solche des Rechts, der Religion, der Moral oder allgemein der kulturellen Tradition handeln, welche jeweils ihren eigenen Begründungs- und Geltungslogiken unterliegen .

péTer sólyoM, debrecen zwIschen rechtstechnIk Bemerkungen

zu der

und

rechtspolItIk

verfassungstheorIe

von

kelsen

1928 veranstaltete Kelsen in Wien die ordentliche Jahrestagung des ehrwürdigen Vereins deutscher Professoren aus dem Bereich Staatsrechtslehre . Auf der Konferenz, die unter pompösen Umständen stattfand, sorgte Kelsens Vortrag über die Verfassungsgerichtsbarkeit für großes Aufsehen . Der Vortrag und zugleich diese Konferenz sind als Höhepunkte seiner Karriere anzusehen .1 Im Laufe des Jahres 1928 geriet Kelsen dann immer mehr ins Kreuzfeuer der Wiener christlich-sozialen Presse . Der Grund war dafür, dass er eine aktive Rolle dabei gespielt hatte, dass das Verfassungsgericht die Frage der sog . Dispensehen mit besonderen verwaltungstechnischen Maßnahmen geregelt und ohne eine kirchlich akzeptierte Annullierung neue Eheschließungen ermöglicht hatte .2 Infolge der Verfassungsreform von 1929 endete sein Auftrag als Verfassungsrichter, obwohl er dieses Amt eigentlich bis zu seinem Tod hätte bekleiden können . Er erlebte diese Reform als die Abschaffung der Demokratie und hielt sie für die Diktatur der Mehrheit . Ein Jahr später folgte er einem Ruf an die Universität Köln und verließ Österreich, um nach Deutschland zu ziehen .3 In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf diesen kurzen, aber äußerst wichtigen Lebensabschnitt zwischen 1928 und 1930 . Diese Periode zeichnet sich in Kelsens Biographie durch rechtswissenschaftliche Erfolge und rechtspolitisches Scheitern aus . Meine Fragestellungen schließen sich zum Diskurs an, der über die Zusammenhänge zwischen Kelsens Rechts- und Verfassungslehre geführt wird .4 I. der rechtswIssenschaftler

aus rechtstechnIscher

perspektIve

Kelsens Lebenswerk ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass seine Vorstellungen über Rechtmäßigkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit sowie seine methodologischen Ansätze zur notwendigen Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft miteinander stark verbunden sind . Im engen Zusammenhang damit ist eine weitere Besonderheit bei Kelsen die bewusste Trennung zwischen rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Tätigkeitsfeldern . 1 2 3 4

Thomas Olechowski, Hans Kelsen als Mitglied der Staatsrechtlersvereinigung, in: Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, hg . von Matthias Jestaedt, 2011, 11–27 . Christian Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter . Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in: Hans Kelsen – Staatsrechtslehrer und Rechtsphilosoph, hg . von Stanley Paulson / Michael Stolleis, 2005, 353–384 . Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: Hans Kelsen Werke, hg . von Matthias Jestaedt, Bd . 1, 2007 . Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1990; Robert Chr . van Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, 2003; Lars Vinx, Hans Kelsens Pure Theory of Law. Legality and Legitimacy, 2007 .

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Péter Sólyom

Der Begriff Rechtswissenschaft legt in seinen Schriften nahe, dass sich der Rechtswissenschaftler von den jeweiligen verfassungsrechtlichen Diskussionen der Politik fernhalten und die positiven Rechtsnormen von allen moralischen und politischen Einflüssen unabhängig auslegen soll . Nach Kelsen betrachtet der Rechtswissenschaftler das Recht als Gegenstand einer Wissenschaft, die sich in Anlehnung an die Naturwissenschaften als deskriptiv und objektiv beschreiben lässt . Der Erfolg der rechtswissenschaftlichen Arbeit liegt daran, ob es dem Rechtswissenschaftler gelingt, seinen Forschungsgegenstand von allen verzerrenden Momenten zu befreien, die eine objektive Untersuchung verhindern würden . Der Rechtswissenschaftler im Kelsen’schen Sinne versucht also das Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft immer getrennt von partikulären politischen und subjektiven, moralischen Einflüssen zu behandeln . So bleibt am Ende die bloße Form und die strukturellen und formalen Besonderheiten des Rechts werden sichtbar .5 Die objektive Rechtswissenschaft wird bei Kelsen vorwiegend als eine allgemeine Rechtslehre verstanden . Eine allgemeine Rechtslehre, die eine besonders eigentümliche Beziehung zur Rechtsdogmatik hat und mit inhaltlichen Aspekten des positiven Rechts ebenfalls eigenartig umgeht . Dieses besondere Verhältnis verfügt über zwei grundlegende Merkmale: Einerseits ist bei Kelsen das Ideal einer objektiven Wissenschaft mit subjektiven Äußerungen zu inhaltlichen Aspekten von rechtspolitischen Debatten nicht zu vereinbaren .6 Andererseits war Kelsen sich dessen auch bewusst, dass die politische Neutralität als Anforderung an die Rechtswissenschaft keineswegs bedeuten kann, dass das Recht als Forschungsgegenstand von politischen Einflüssen zu befreien ist . Rechtsprechung und Rechtsanwendung sind politische Akte, weil sie zwangsläufig mit gewissen Werturteilen einhergehen .7 Die Erforschung des positiven Rechts stellt nach Kelsen gerade aus diesem Grund eine besonders komplexe Herausforderung für Rechtswissenschaftler dar . Wie ist es wohl möglich, etwas unter politischen Gesichtspunkten neutral zu beschreiben, das vollkommen von der Politik durchdrungen ist? Bei Kelsen wird die folgende Antwort nahegelegt: Die Voraussetzungen der Wissenschaftlichkeit erfordern, dass der Rechtswissenschaftler die positiven Rechtsnormen nur analysiert, beschreibt und auf Interpretationsmöglichkeiten hinweist . Die Entscheidung zwischen diesen Möglichkeiten gehört jedoch nicht mehr zur Rechtswissenschaft .8 Zur Erforschung des positiven Rechts verwendet der Rechtswissenschaftler nach Kelsen eine besondere juristische Arbeitstechnik,9 die nicht die Präferenzen und Werturteile des Rechtswissenschaftlers zum Ausdruck bringt, sondern eine objektive Beschreibung von jenen rechtlich vorgesehenen Mitteln ermöglicht, mit denen sich die rechtlich vorgesehenen Ziele verwirklichen lassen . Der Rechtswissenschaftler ist demnach bei Kelsen ein Technokrat, der das positive Recht wertneutral beschreibt und sich in Debatten über Werturteile nicht einmischt . 5 6 7 8 9

Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? in: Die Wiener rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen; Adolf Merkl; Alfred Verdross, hg . von Hans R . Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, 2010, 611 . Kelsen (Fn . 5), 620 . AaO . AaO ., 619 . Michel Troper, Kelsen und die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, in: Rechtserfahrung und Reine Rechtslehre, hg . von Agostino Carrino / Günther Winkler, 1995, 18 f .

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Zwischen Rechtstechnik und Rechtspolitik

II. zur der

praktIschen relevanz rechtswIssenschaft

der

wertneutralItät

Diese Idealvorstellung von einer technokratischen rechtswissenschaftlichen Arbeitsweise ist jedoch in mehreren Hinsichten problematisch . Das belegen sehr gut die folgenden zwei Einwände, die am häufigsten erhoben werden . Vor allem wird diesbezüglich auf die praktische Relevanz der Wertneutralität der Rechtswissenschaft hingewiesen . Die Trennung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspolitik war für Kelsen deswegen so besonders wichtig, weil diese Trennung ihm eine Kritik über die traditionelle Rechtswissenschaft ermöglichte, die durch die Dominanz rechtsdogmatischer Konzepte gekennzeichnet war .10 Der wichtigste Kritikpunkt an rechtsdogmatischen Ansätzen war bei Kelsen, dass diese Konzeptionen einen Anspruch hatten, die Richtigkeit des Rechts zu beurteilen . Dieser Anspruch sorgte dann dafür, dass diese Ansätze, die sich gerne als Wissenschaft präsentierten, ohne weiteres in politischen Machtspielen missbraucht werden konnten . Die größte Sünde, welche die Rechtswissenschaft begehen kann, war für Kelsen gerade, wenn sie zum bloßen politischen Instrument wird . Deshalb ist es eine der zentralen Thesen der Reinen Rechtslehre, dass sich der Rechtswissenschaftler von politischen Machtkämpfen und jenen Diskussionen fernhalten soll, die über die Richtigkeit des Rechts geführt werden . Laut der Reinen Rechtslehre wird dadurch die Freiheit der Rechtswissenschaft gewährleistet .11 Gleichzeitig ist es zu beachten, dass der Formalismus der Reinen Rechtslehre auch einen pragmatischen Aspekt hat . Zur Zeit der Entstehung dieser Rechtslehre kämpften Rechtsvorstellungen miteinander, die durch verschiedene Ideologien geprägt waren und eine Erweiterung politischer Machtkonflikte darstellten . In Österreich und im deutschen Sprachraum war das ein Zeitalter, in dem der politische Katholizismus, der Austromarxismus, der Bolschewismus und der Nazismus dominant waren und sich miteinander im Krieg befanden . Die Tradition des Naturrechts, die ihre Wurzeln in den liberalen Revolutionen des 18 . und 19 . Jahrhunderts hatte, wurde nun zur Verteidigung gezwungen . Dass die Wissenschaft ihre wichtigste Eigenschaft, d . h . ihre Unabhängigkeit von der politischen Macht bewahrt, war unter diesen historischen Umständen das Hauptziel, das Kelsens Reine Rechtslehre verfolgte .12 Die Definition der Wissenschaftlichkeit der allgemeinen Rechtslehre hängt also durchaus mit Wertvorstellungen über die Rechtspraxis zusammen . Die Ablehnung jener politischen Ideologien, welche die Wissenschaft kolonialisieren wollen, ist deshalb nicht wertneutral und unterliegt ebenfalls Weltansichten . Dadurch, dass diese formalistische Rechtslehre die Wissenschaftsfreiheit und die Unabhängigkeit als wertvolles Gut positioniert, ist diese Lehre offensichtlich verwandt mit jenen liberalen Demokratiemodellen, die von den oben genannten Ideologien angefochten werden .13 10 11 12 13

Christoph Schönberger, Hans Kelsen „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre .“ Der Übergang vom Staat als Substanz zum Staat als Funktion, in: Hans Kelsen Werke, hg . von Matthias Jestaedt, Bd . 2, 2008, 23–35 . Kelsen (Fn . 5), 622 . Hans Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, 1933 . Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, (1932), in: Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, hg . von Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, 2006 .

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Ein weiterer methodologischer Einwand steht zwar auch mit diesen Aspekten im Zusammenhang, hat aber größere Konsequenzen . Dabei wird postuliert, dass die Beschreibung des positiven Rechts ohne Werturteile gar nicht möglich ist . Nicht einmal Kelsen ist das gelungen . Insbesondere in seinen Auseinandersetzungen mit verfassungsrechtlichen Fragen wurde der Konflikt zwischen rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Vorstellungen ausgetragen . Es lohnt sich deshalb, Kelsens Vortrag über die Verfassungsgerichtsbarkeit (1928) wieder einmal unter die Lupe zu nehmen . III. dIe rechtfertIgung der verfassungsgerIchtsBarkeIt und dIe praktIsche relevanz rechtstheoretIscher argumenten Es ist eine der wichtigsten Besonderheiten dieses Vortrags14, dass Kelsen die Verfassungsgerichtsbarkeit aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive, d . h . mit rechtstheoretischen Ansätzen zu rechtfertigen versucht . Eingangs wird zwischen Formen der Rechtmäßigkeit differenziert . Im Sinne eines formalistischen Rechtmäßigkeitsbegriffes sind die Rechtfertigungskriterien der Rechtsnormen immer in einer Norm höheren Grades beinhaltet . Wenn die Rechtsgültigkeit dementsprechend interpretiert wird, dann folgt daraus auch die hierarchische Struktur der Rechtsordnung . Aus dem Prinzip dieser hierarchischen Struktur folgt dann auch, dass die Verfassung in der Rechtsordnung über einen Sonderstatus verfügt . Die dritte Konsequenz eines solchen formalistischen Rechtsverständnisses ist, dass die Rechtsordnung als eine Einheit gedacht wird . Laut Kelsen ist die Einheit der Rechtsordnung nur dann aufrechtzuerhalten, wenn aus dem Rechtssystem jene Normen entfernt werden können, welche gegen die Hierarchie der Rechtsordnung verstoßen und nicht mit der Verfassung zu vereinbaren sind . Damit diese Forderung nach der Einheit erfüllt wird, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit unverzichtbar, d . h . verfassungswidrige Rechtsnormen (inklusive Gesetze) müssen außer Kraft gesetzt werden . Die These, dass die Verfassung die Grundlage der Rechtsordnung darstellt und daher auch die Verfassungsgerichtsbarkeit erforderlich ist, hat Kelsen vorwiegend mit rechtstheoretischen Argumenten verteidigt . Die hierarchische Struktur der Rechtsordnung, das formalistische Prinzip der Rechtsgültigkeit sowie die Einheit der Rechtsordnung stehen mit Grundsätzen der Reinen Rechtslehre im Zusammenhang . Sogar das vierte Argument, das zur Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit bei Kelsen angeführt wird, ist aus der eigentümlichen rechtstheoretischen Konzeption der Reinen Rechtslehre abzuleiten: Wenn man die verfassungswidrigen Normen nicht anfechten kann, dann folgt daraus, dass nicht einmal die Verfassung als zwingend gelten kann . Dass durch die Möglichkeit, verfassungswidrige Rechtsnormen außer Kraft zu setzen, die Normativität der Verfassung gewährleistet wird, ist ein klassisches Argument, mit dem die Verfassungsgerichtsbarkeit gerechtfertigt wird .15 Kelsen hat dieses Argument durch einen Normativitätsbegriff erweitert . Im Sinne dieses Begriffes entsteht die zwingende Kraft der Rechtsnormen dadurch, dass 14 15

Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit . in: Klecatsky/Marcic/Schambeck (Fn . 5), 1813–1871 . Marbury v . Madison 5 U . S . 137 (1803) .

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gegebenenfalls Sanktionen verhängt werden können .16 . Die Argumente, die Kelsen für die Verfassungsgerichtsbarkeit anführt, sind jedoch nicht überzeugend . 1. unTerschiede Zwischen gülTigkeiT und norMaTiviTäT In der Reinen Rechtslehre argumentiert Kelsen dafür, dass die Gültigkeit einer Rechtsnorm auf einer Norm höheren Grades beruht . Die Grundlage der Rechtsgültigkeit ist die Verfassung . Die Verfassung gibt dem Gesetzgeber vor, dass Gesetze nur mit bestimmten Inhalten verabschiedet werden können . Gleichzeitig erlaubt die Verfassung aber auch, dass ein verfassungswidriges Gesetz in Kraft tritt . Wenn es keine verfassungsrechtliche Überprüfung gibt, dann ist es möglich, dass im Rechtssystem zwei einander widersprechende Rechtsnormen gültig sind . So gesehen besteht die wichtigste Aufgabe des Verfassungsgerichts darin, die Kohärenz der Rechtsordnung aufrechtzuerhalten .17 Einer der Schwachpunkte dieses Arguments ist jedoch, dass Kelsen die Begriffe Gültigkeit und Normativität häufig nicht auseinanderhält . Laut der Reinen Rechtslehre unterliegt die Gültigkeit der Rechtsnormen einer Rechtsnorm höheren Grades . So wird auch angenommen, dass Rechtswidrigkeit oder Verfassungswidrigkeit unter inhaltlichen Gesichtspunkten keinen Einfluss auf die Gültigkeit einer Rechtsnorm hat . Ein Gesetz gilt nicht als verfassungswidrig, solange das von einem Gericht nicht anerkannt wird und das Gesetz nicht aufgehoben wird . Daraus folgt, dass inhaltlich verfassungswidrige Normen aus Kelsens formalistischer Perspektive verfassungsrechtlich gültig sind . Sogar wenn dieses Gesetz überprüft wird, ist es ebenfalls die Verfassung, auf die zurückgegriffen wird, um die Gültigkeit der Rechtsnormen zu beurteilen . Auf Grund dieser Ausführungen folgt die verfassungsrechtliche Überprüfung nicht zwangsläufig daraus, dass die Hierarchie der Rechtsnormen gewährleistet werden muss . Formelle rechtstheoretische Argumente reichen deshalb nicht zur Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit aus .18 Darüber hinaus erscheint die formalistische Rechtfertigung aus einem weiteren Aspekt noch problematischer . Der Grundsatz des Kelsen’schen Naturalismuskritik besagt nämlich, dass das Recht eine normative Praxis ist . Was jedoch bei Kelsen unter Normativität konkret zu verstehen ist, bleibt unklar . Nach Kelsen hat die geltende Rechtsnorm den Anspruch, auf das Verhalten von Menschen Einfluss zu nehmen und es zu bestimmen . „Die Gültigkeit einer Norm bedeutet, dass sich die Menschen so verhalten, wie die Norm das vorschreibt“19 An anderen Stellen betont Kelsen hingegen, dass zwischen der Logik des Rechts und der Logik der Moral kein Unterschied besteht und die Reine Rechtslehre der Logik der allgemeinen Normen folgt .20 Aus diesen bisherigen Ausführungen folgt jedoch, dass die Normativität und die Gültigkeit des Rechts doch unterschiedliche Bedeutungen haben . Es ist nicht ein16 17 18 19 20

Kelsen (Fn . 14), 1862 . Troper (Fn . 9), 22 f . AaO ., 20 f . Hans Kelsen, Értékítéletek a jogtudományban (Werturteile in der Rechtswissenschaft), in: Jog és filozófia (Recht und Philosophie), hg . von András Sajó / Csaba Varga, 1981, 257 . Kelsen (Fn . 5), 617 .

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deutig, was unter der gemeinsamen Logik des Rechts und der Moral zu verstehen ist und wie sich demnach die besonderen Normativitätsansprüche des Rechts definieren und beschreiben lassen . Auf diese inneren Widersprüche der Kelsen’schen Rechtslehre hat insbesondere Joseph Raz aufmerksam gemacht .21 Stanley Paulson hat in dieser Hinsicht die Meinung vertreten, dass sich diese Widersprüche aber beseitigen lassen . Nach ihm sind Kelsens Wissenschaftsbegriff und seine neukantianischen philosophischen Ansichten nur mit einem „schwachen“ Normativitätsbegriff zu vereinbaren, der nicht mit den Pflichten der Bürger zu tun hat, sondern mit der Gültigkeit der Rechtsnormen im Zusammenhang steht .22 Wenn man aber den Normativitätsbegriff bei Kelsen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und die Trennbarkeit zwischen Rechtswissenschaft und Rechtpolitik in den Vordergrund rückt, dann erscheinen die Probleme schon systematisch . Mit dem Formalismus der Grundnorm wird nämlich unmittelbar angenommen, dass das geltende Recht zwingend für die Bürger ist . Gleichzeitig schließt der Formalismus aber die Fragen nach der Rechtfertigung dieser zwingenden Kraft aus . Auch die unübersichtliche Begriffsverwendung führte in der Reinen Rechtslehre dazu, dass sich die Grenzen zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspolitik immer mehr verschwimmen, obwohl sich Kelsen gerade für eine klare Trennung dieser Gebiete aussprach . 2. neuTralisierung der verFassungsgerichTsbarkeiT und der rechTspoliTik Kelsen wollte mit seinem formalistischen Zugang den juristisch-rechtlichen Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit hervorheben und sich auf diese Weise von rechtspolitischen Zusammenhängen distanzieren . Die materielle Dimension der Rechtmäßigkeit lässt sich anhand der in der Verfassung verankerten allgemeinen Rechtsgrundsätze und der allgemeinen Grund- und Freiheitsrechte interpretieren . Die Rechtmäßigkeit in diesem Sinne spielt jedoch keine bedeutende Rolle dabei, wie Kelsen die Verfassungsgerichtsbarkeit zu rechtfertigen versucht . Die Auslegung materieller Rechtsbestimmungen stellte eine ernsthafte Herausforderung für Kelsen dar, da er eben die rechtspolitischen Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit neutralisieren wollte . Wenn ein Rechtswissenschaftler untersucht, welche Grundsätze und allgemeine Freiheitsrechte in der Verfassung verankert sind, dann ist zwischen konkreten und allgemeinen Bestimmungen zu unterscheiden . Die Auslegung von Normen und Grundsätzen, die in der Verfassung nicht konkretisiert, sondern nur allgemein beschrieben werden, gehört nach Kelsen zur Rechtspolitik . Sogar die Gerichtshöfe sollten die Auslegung dieser Bestimmungen dem Gesetzgeber überlassen . Gleichzeitig wird bei Kelsen erlaubt und angenommen, dass im Hinblick auf Grundsätze und Freiheitsrechte eine genaue Regelung wohl möglich ist . Diese lässt sich sogar rechtswissenschaftlich beschreiben und in der Gerichtspraxis einsetzen . Was aber eine rechtswissenschaftliche oder eine rechtspolitische Angelegenheit ist, ist

21 22

Joseph Raz, Kelsen’s Theory of the Basic Norm, The American Journal of Jurisprudence 19 (1974), 94–111 . Stanley Paulson, Der Normativismus Hans Kelsens, Juristenzeitung 61 (2006), 529–536 .

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natürlich schwer zu sagen, so hat man diesbezüglich natürlich mit einer Grauzone zu tun .23 Der Richter wählt von den Möglichkeiten, die das Recht erlaubt, und diese Wahl verleiht dieser Rechtsnorm einen rechtspolitischen Charakter . Es stellt sich die Frage, ob sich die Kriterien für eine richtige Entscheidung aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive erklären lassen und inwiefern diese Kriterien Werturteilen und diskretionären Entscheidungen der Rechtspolitik unterliegen . In der Reinen Rechtslehre machte Kelsen unter rechtspolitischen Gesichtspunkten zwischen Rechtssetzung und Rechtspraxis keinen scharfen Unterschied . Wenn er jedoch den Sinn der Verfassungsgerichtsbarkeit erklären wollte, dann legte er mehr Wert auf eine solche Differenzierung . Deshalb ist es besonders schwierig, Kelsens Verhältnis zur Rechtspolitik einzuschätzen . Mit diesen Ausführungen wollte ich ansatzweise veranschaulichen, dass Kelsens wichtigstes Ziel, die Rechtswissenschaft und die Rechtspolitik getrennt zu behandeln, in seiner Rechtslehre eher ambivalent realisiert wurde . Insbesondere wenn Kelsen erklärt, warum die verfassungsrechtliche Überprüfung sinnvoll ist, zeigt sich, wie schwierig es ist, die rechtspolitischen Aspekte auszuschließen . Kelsens rechtswissenschaftliche Argumente für die Erforderlichkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit stehen nämlich entweder im Konflikt mit seinen anderswo angeführten rechtstheoretischen Argumenten, oder sind zu unvollständig, um überzeugend zu sein . Der Widerspruch zwischen diesen rechtstheoretischen Argumenten kann mit jenen praktischen Problemen im Zusammenhang stehen, mit deren Beschreibung und Auslegung Kelsen als Rechtswissenschaftler beschäftigt war . Seine rechtswissenschaftliche Analyse hatte also einen Praxisbezug . Aus Platzgründen werde ich zunächst auf drei Aspekte hinweisen, die auf die Entstehung seiner Rechtslehre einen Einfluss ausgeübt haben . Iv. dIe

konstItutIonelle

monarchIe

kontra konstItutIonelle

demokratIe

Die Unterscheidung zwischen Demokratie und Autokratie ist sowohl für die verfassungsrechtliche Praxis der Ersten Republik Österreichs, als auch für Kelsens Tätigkeit von grundlegender Bedeutung . Anfangs war die Kritik an die konstitutionelle Monarchie, später die Ablehnung militanter, autokratischer Tendenzen dominant . Vor allem anhand der Kritiken an Laband und Jellinek kann man einschätzen, warum diese Unterscheidung für Kelsen so wichtig war .24 Im Vortrag über die Verfassungsgerichtsbarkeit erfüllt diese Unterscheidung jedoch auch eine analytische Funktion . Kelsen bezieht sich auch hier gerne darauf, wie sich die Konstitutionalismusbegriffe der konstitutionellen Monarchie und der konstitutionellen Demokratie voneinander unterscheiden und welche unterschiedlichen Bedeutungen der Staatsbegriff im Kontext der Rechtstheorie und der konstitutionellen Demokratie hat . „Die konstitutionelle Monarchie ist aus der absoluten hervorgegangen und ihre Doktrin daher vielfach von dem Bestreben geleitet, die Machtminderung, die der ehemals unbeschränkte Mo-

23 24

Kelsen (Fn . 14), 1852–1854 . Robert Chr . van Ooyen, Staat und pluralistische Gesellschaft bei Kelsen, in: Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, hg . von Tamara Ehs, 2009, 17–45 .

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Péter Sólyom narch durch den Wandel der Verfassung erfahren, möglichst klein und unbedeutend erscheinen zu lassen oder sie gar ganz zu verhüllen . In der absoluten Monarchie ist die Unterscheidung zwischen der Stufe der Verfassung und jeder des Gesetzes zwar auch theoretisch möglich . Aber sie spielt praktisch keine Rolle .“25

Später definierte Kelsen die Verfassung so, dass er unter formellen Gesichtspunkten sogar eine Unterscheidung zwischen Verfassung und Gesetz für erforderlich erklärte . So hat Kelsen die konstitutionelle Monarchie bereits bei der Klärung der Begrifflichkeiten als eine für seine Fragestellungen irrelevante Rechtspraxis betrachtet . Der „eigentliche“ und „ursprüngliche“ Verfassungsbegriff beruht für Kelsen auf der Unterscheidung zwischen Verfassung und Gesetz . Diese Unterscheidung ist nur dann selbstverständlich, wenn als Grundlage der Rechtsordnung die demokratische Verfassung des jungen österreichischen Republik oder der deutschen Republik anerkannt wird . v. kelsen

als eIn engagIerter, lIBeraler

verfassungsrIchter

Als Robert Walters Buch26, das einen kurzen Einblick über Kelsens Tätigkeit als Verfassungsrichter bietet, auf dem Buchmarkt erschienen ist, hat das dort beschriebene Bild viele Leser überrascht . Kelsen, der als Rechtswissenschaftler ein leidenschaftlicher Formalist war, erwies sich als Verfassungsrichter besonders liberal und hat sich für Rechtsschutz eingesetzt . Diese Praxis bietet interessante Erklärungen dafür, warum sich Kelsen mehrmals so misstrauisch über die Auslegung der in der Verfassung verankerten allgemeinen Grundsätze äußerte .27 In Kelsens Vortrag geht es aber eher darum, warum man in der Verfassung sparsam mit der Formulierung allgemeiner Grundsätze umgehen sollte . Der auf diese Weise entstandene größere Interpretationsspielraum kann in unerwünschter Weise dazu führen, dass das Verfassungsgericht mehr Einfluss hat als das Parlament . Daraus folgt jedoch nicht, dass Kelsen eine Rechtspraxis nicht akzeptiert hätte, die auf die Ausdehnung und Schutz der in der Verfassung verankerten Freiheitsrechte ausgerichtet ist . Seine Akzeptanz belegen auch die oben angeführten Beispiele aus seiner Arbeitspraxis als Richter . Im Falle der Dispensehen ist es sogar zu beobachten, dass Kelsen von der Überschreitung seiner Kompetenzen nicht zurückschreckte, wenn er für Rechtsschutz aktiv einstehen wollte .28 Die rechtspolitischen Debatten über die Dispensehen haben ihren Höhepunkt zur Zeit jener Konferenz erreicht, die 1928 gehalten wurde und auf der Kelsen eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung verdiente . Die Problematik der Dispensehen ist darauf zurückzuführen, dass laut § 62 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) für Christen eine zweite Ehe verboten ist . Die Trennung von Tisch und Bett war eine Möglichkeit, die nicht die Annullierung der Eheschließung bedeutete . Deshalb war die zweite Ehe ungültig . § 83 des ABGB hat aber in besonders wichtigen Fällen eine zweite Eheschließung ermöglicht . In solchen Fällen waren die 25 26 27 28

Kelsen (Fn . 14), 1816 . Robert Walter, Kelsen als Verfassungsrichter, 2005 . Kelsen (Fn . 14), 1852–1854 . Walter (Fn . 26), 62 ff .; Christian Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter . Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in: Paulson/Stolleis (Fn . 2), 353–384 .

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Verwaltungsbehörden der Bundesländer zuständig . Diese Ausnahmeregelung wurde nach 1919 zur allgemeinen Praxis, insbesondere der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich Albert Sever hat massenweise die Wiederheirat ermöglicht .29 Zu einem Konflikt ist dadurch gekommen, dass die Gerichte allmählich diese verwaltungstechnischen Maßnahmen für ungültig erklärten . Das passierte vor allem in den Fällen, in denen das Gericht die Aufhebung der ersten Eheschließung als nicht begründet befunden hat, weil die Ehepartner nicht ihre Zustimmung zur Annullierung gegeben hatten und die Ehe trotz fehlenden Einverständnisses für ungültig erklärt worden war . Laut § 68 des AVG ist nur die zuständige Behörde berechtigt, eine Verwaltungsmaßnahme für ungültig zu erklären . Im Falle von Dispensehen stand im Mittelpunkt der Debatten nicht, ob der Beschluss, mit dem ein staatsrechtlicher Akt für rechtswidrig erklärt wird, die Rechtskraft des staatsrechtlichen Aktes berührt oder nicht . Es war folglich überhaupt nicht eindeutig, dass das Verfassungsgericht in dieser Frage zuständig ist . Anfangs zögerte sogar das Verfassungsgericht, sich in die Diskussion einzulassen und die Debatte zwischen der Verwaltungsbehörde und dem Gerichtshof als Kompetenzkonflikt anzuerkennen . Kelsen hatte hingegen eine andere Meinung und argumentierte dafür, dass dies eigentlich ein indirekter Kompetenzkonflikt ist . Es ist ihm gelungen, die Mehrheit der Richter davon zu überzeugen, dass das Verfassungsgericht doch berechtigt ist, Kompetenzen zu bestimmen . Wie es aus Kelsens Memoiren hervorgeht, hat einer seiner ehemaligen Studenten ihn um Rat aufgesucht, da dieser als angehender Anwalt mehrere Klienten hatte, deren Eheschließung zwar annulliert worden war, aber der Gerichtshof die Dispensierung später nicht als gültig erkannte . In diesen Fällen hat die mögliche gerichtliche Revision ein großes Erpressungspotential in sich geborgen und die Klienten wurden einer ernsten Gefahr ausgeliefert . Kelsen hat dem Anwalt vorgeschlagen, eine Klage zu erheben und die Angelegenheit als Kompetenzkonflikt zu interpretieren . Er versprach ihm auch, die Mehrheit für diesen Standpunkt zu gewinnen .30 Und tatsächlich ist das so geschehen .31 Kelsens Standpunkt löste eine große juristische und politische Diskussion aus . Letzten Endes handelte es sich eigentlich davon, dass sein Aktivismus zur Kompetenzüberschreitung führte . Dass er diese Problematik für einen unmittelbaren Kompetenzkonflikt gehalten hat, war für viele nicht überzeugend . Sie dachten, dass das Verfassungsgericht in diesem Fall nicht zuständig war .32 Das war keine formalistische Annäherung an die Frage, sondern viel mehr eine Art „rechtsetzende Auslegung“, wie Befürworter der Entscheidung im Verfassungsgericht formulierten .33 Ob29

30 31 32 33

Nach vorliegenden Quellen hat er ungefähr in 15 .000 Fällen eine Wiederheirat ermöglicht . Bis Ende der 1920er erreichte das insgesamt sogar 50 .000, damals hat sich das Verfassungsgericht mit diesen Fällen auseinandergesetzt . Vgl . Christian Neschwara, Hans Kelsen und das Problem Dispensehen, in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, hg . von Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski, 2009, 250; Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918–1938, 1999 . Kelsen (Fn . 2), 73–75 . AaO . Walter (Fn . 26), 60 f . AaO ., 62 .

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wohl Kelsen sich fortwährend auf die Einheit der Rechtsordnung als zentrales Prinzip berufen hat, kann man anhand seiner Memoiren eher darauf schließen, dass er diese Angelegenheit als eine latente verfassungsrechtliche Diskussion aufgefasst hat . Er versuchte eigentlich mehr oder weniger mit jenen Anomalien umzugehen, die sich daraus ergaben, dass die Zivilehe in heutiger Form noch nicht vorhanden war . Mit dieser Entscheidung versuchte er also zu bewirken, dass das Recht auf Eheschließung anerkannt wird . Diese verfassungsrechtliche Entscheidung sorgte bei der christlich-sozialen Partei für große Empörung . Neben Kelsen, der seine Meinung offen vertreten hat, wurde auch die Mehrheit der Verfassungsrichter zum Sünderbock gemacht und als Sozialdemokraten abgetan .34 Zum Teil führte dieser Konflikt dazu, dass im Zuge der „Depolitiserung“, mit der Verfassungsreform von 1929 auch die Regeln für die Auswahl von Verfassungsrichter verändert wurden . Die Verfassungsrichter, die ursprünglich lebenslang ihr Amt hätten bekleiden können, haben ihre Position verloren . So ist es auch Kelsen ergangen .35 Er wurde nicht erneut zum Verfassungsrichter gewählt . Er hat 1930 das Land verlassen und ist nach Köln gezogen .36 vI. zur

rechtstheoretIschen

proBlematIk

der

verfassungskrItIk

Die rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Funktionen gegeneinander abzugrenzen, erweist sich vor allem dann am schwierigsten, wenn man seinen Zweifel über die inhaltliche Rechtmäßigkeit einer Verfassungsreform zum Ausdruck bringen muss . Kelsen war mit dieser Problematik nicht nur deswegen konfrontiert, weil die Verfassungsnovelle von 1929 Änderungen mit sich brachte, die sich teilweise eben gegen seine Person richteten . Diese Novelle hat außerdem auch die Grundmerkmale der Verfassung deutlich verändert .37 Für Kelsen war das wichtigste Merkmal dieser Verfassungsreform, dass sich das Verfassungsgericht von jenem Prinzip verabschiedet hatte, nach dem eine Verfassungsreform auf einem Kompromiss zwischen der Mehrheit und der Minderheit beruht .38 Das ist gerade deswegen eine beachtenswerte Feststellung, da der Kompromiss formell gesehen eigentlich vorhanden war: die Sozialdemokraten haben 1929 nicht gegen, sondern für die Verfassungsnovelle gestimmt . Kelsen behauptet, dass diese Einwilligung keine Entscheidung aus freiem Willen war, sondern ein Missbrauch der Übermacht . Diese Einwilligung wurde tatsächlich nicht ohne die Bedrohungen der Heimwehr erzwungen . Die Verfassungsreform zielte klar und deutlich auf die bloße Maximalisierung der Macht ab . Die christlich-soziale Mehrheit war bemüht, die Sozialdemokraten zu entmachten und ihren Einfluss in Wien zurückzudrängen . Dass Wien infolge der Umgestaltung der föderalen Verwaltungsstruktur im Prinzip seinen Status als eigenständiges Bundesland verloren hat, war ebenfalls diesem Ziel untergeordnet .39

34 35 36 37 38 39

Neschwara (Fn . 26), 377–382 . Kelsen (Fn . 2), 75 f . AaO ., 77 . Hans Kelsen, Verfassungsreform in Österreich, Die Justiz 1929/3, 130–136 . AaO ., 130 . AaO .

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Die Verfassungsreform brachte ein labiles politisches System wie das der Weimarer Republik mit sich und von dieser Reform profitierte am meisten das Amt des Bundespräsidenten . Was Kelsen jedoch in dieser Hinsicht für wichtig gehalten hat, war nicht die formelle Umstrukturierung der institutionellen Rahmenbedingungen, sondern viel mehr, dass die christlich-bürgerliche Szene mit all diesen Änderungen ihre vorhandene mehrheitliche Unterstützung mit einem Ausschließlichkeitsanspruch zur Geltung bringen wollte . Als Höhepunkt dieser Bestrebungen wurde der Minderheit das Vetorecht von Verfassungsreformen verweigert . Nun war statt einer Zwei-Drittel-Mehrheit eine einfache Mehrheit erforderlich, um eine Verfassungsänderung zu beschließen .40 Nach Kelsen haben diese Maßnahmen nicht zum Abbau des Parlamentarismus, sondern zum Abbau der Demokratie geführt . Es entstand ein Schein-Parlamentarismus, wie in Ungarn zu Zeiten des Reichsverwesers Miklós Horthy (1920–1944) . Dieser Schein diente nach Kelsen lediglich zur Verschleierung der Mehrheitsdiktatur .41 Der Sinn der Demokratie besteht eben im langfristigen Kompromiss zwischen Mehrheit und Minderheit .42 In seinem Vortrag über die Verfassungsgerichtbarkeit hat Kelsen behauptet, dass die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zu überwinden ist, wenn dieses als Verfassungsnovelle anerkannt wird . Gleichzeitig vertritt Kelsen jedoch in anderen Schriften die Meinung, dass die Gültigkeit der Verfassung gerade darin liegt, dass sie als ein rechtsetzender Akt anerkannt wird . Dies kann man als eine formelle Bedingung interpretieren und dann besteht kein Zweifel, dass der Verfassungsreform von 1929 formell gesehen ein rechtsetzender Akt war . Im Kelsen’schen rechtswissenschaftlichen Kontext erscheint dies als eine logische Folgerung . Auf jeden Fall wird bei Kelsen auch eine allgemeine, inhaltliche Bedingung nahegelegt, die mit einem demokratischen Verfassungsbegriff im Zusammenhang steht . Demnach gilt eine Verfassungsnovelle, die auf die Unterwerfung der Minderheit ausgerichtet ist, nicht als demokratisch . Diese Folgerung hat Konsequenzen auch für die Kelsen’sche Rechtslehre . Wie frühere Analysen zeigen, ist die Reine Rechtslehre mit ihrem Fokus auf Rechtsetzung nur dann nachvollziehbar, wenn es eine geltende, demokratische Verfassung gibt . vII. fazIt In diesem Beitrag habe ich dafür argumentiert, dass es Kelsen nicht gelungen war, in seiner Rechtslehre rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Aspekte konsequent voneinander zu trennen . Seine Rechtslehre ist nicht nur darauf ausgerichtet, die Rechtspraxis zu beschreiben, sondern die Rechtfertigungsbedingungen dieser Rechtspraxis nehmen zwangsläufig auch einen Einfluss darauf, wie er seine rechtswissenschaftliche Begriffe auswählt und verwendet . Folgende drei Argumente wurden angeführt: (1) Kelsens Rechtslehre ist nicht so allgemein ausgerichtet wie behauptet wird: Der autokratische Staat ist kein Gegenstand, der auf diese Weise beschrieben werden kann, sondern ist Zielpunkt einer 40 41 42

AaO, 136 . AaO . Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1928, 56 .

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materiellen Kritik . (2) Der Rechtsformalismus kann nach Kelsens rechtspolitischer Auffassung geopfert werden, wenn das Recht dies unter inhaltlichen Gesichtspunkten erfordert . (3) Der Rechtsformalismus ist nach Kelsens rechtspolitischer Auffassung ohne einen demokratischen Kompromiss nicht wertvoll . Einige Interpretationen versuchen die Widersprüche zwischen Kelsens Rechtsund Demokratielehre in einem kohärenten theoretischen Rahmen zu beseitigen und eine Utopie des Legalismus sichtbar zu machen, wobei dieser Utopie die größtmögliche Anerkennung der Gleichheit vor dem Gesetz zu Grunde liegt . Diese Anerkennung kann zugleich eine besondere Art der politischen Legitimierung darstellen .43 In diesem kurzen Beitrag wollte ich aber nicht für eine solche inhaltsbezogene Interpretation argumentieren . Viel mehr war es mein Ziel, die konzeptuellen Widersprüche, die unbeantworteten Fragen, die Schwachpunkte der Reinen Rechtslehre sowie Kelsens verdrängte, inhaltsbezogene Vorannahmen freizulegen und einen unakzeptablen Begriff der Rechtswissenschaft zu problematisieren . Mein Interpretationsversuch beruhte auf der Annahme, dass die hermeneutische Situation, welche die Staatsrechtslehre überhaupt ermöglicht, die Begriffsverwendung der rechtstheoretischen Auseinandersetzungen mit dem positiven Recht maßgeblich bestimmt . Das gilt nicht nur für Lehren der Rechtsdogmatik, sondern auch für die Theorien, welche die allgemeinen Besonderheiten des Staats oder die zwingende Kraft des Rechts zum Untersuchungsgegenstand haben . Hinter rechtstheoretischen Konstruktionen verbergen sich immer praxisbezogene Probleme, die noch nicht bewältigt worden sind . Die Bedeutung theoretischer Konstruktionen lässt sich erst dann richtig erschließen, wenn jene wichtigsten Herausforderungen der Rechtspraxis geklärt werden, die man mit diesen Konstruktionen meistern wollte . Bei der Entstehung der Kelsen’schen Rechtslehre hat meines Erachtens eine wichtige Rolle gespielt, dass die demokratische Verfassung zu jener Zeit immer wieder vor postmonarchistischen und autokratischen Entscheidungen der Rechtspraxis geschützt werden musste . Für Kelsen war es ebenfalls eine Herausforderung herauszufinden, wie allgemein akzeptable staatsrechtliche Lösungen zu finden sind, wenn eine Gesellschaft ideologisch und politisch dermaßen gespalten ist . Die Frage der Dispensehe ist ein Paradebeispiel für allgemeine Probleme des Staatsrechts . Die Diskussion über die Verfassungsreform von 1929 signalisiert bereits das Ende der Ersten Republik Österreichs . Die Frage ist, welche Perspektiven die Rechtswissenschaft in einer staatsrechtlich kritischen Situation bieten kann, in der die Verfassung im Kreuzfeuer fundamentaler Kritik steht . Kann man sich in solchen Situationen von rechtspolitischen Debatten fernhalten? Diesbezüglich neige ich dazu, Roland Dworkins Argumente zu akzeptieren und diese auf Kelsens Theoriebildung anzuwenden . Nach Dworkin sind „die allgemeinen Theorien des geltenden Rechts keine neutralen Darstellungen der Rechtspraxis, sondern viel mehr Interpretationen, die ebenso auf die Beschreibung wie die Rechtfertigung der jeweiligen Praxis abzielen – diese Theorien wollen sichtbar machen, warum die Rechtspraxis wertvoll ist und wie sie aufrechtzuerhalten ist, wenn man ihre Werte beschützen und erweitern möchte .“44

43 44

Vinx (Fn . 4) . Ronald Dworkin, Hart’s Postcript and the Point of Political Philosophy, Justice in Robes, 142 .

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Joseph Raz bringt das nicht so radikal auf den Punkt, aber er akzeptiert ebenfalls, dass, „die Auslegung der Ursprünge des Rechts notgedrungen auf normative Überlegungen angewiesen ist .“45 Raz und Dworkin vertreten zwar im Grunde genommen einen ähnlichen Standpunkt, es ist zu betonen, dass nach Raz keine notwendige Beziehung zwischen den wertenden Überlegungen der allgemeinen Theorien und der Rechtfertigung der Praxis besteht .46 Es wäre keine besonders große Herausforderung zu beweisen, dass die Thesen von Raz auch auf die Begrifflichkeiten der allgemeinen Theorie von Kelsen zutreffen . Dworkins These, die ich zur Diskussion stelle, ist eine schwierigere Angelegenheit und lautet wie folgt: Kelsens Theorie ist nicht nur auf die Beschreibung der Rechtspraxis ausgerichtet, sondern sie setzt auch die Rechtfertigung der Rechtspraxis voraus. Zu beachten ist, dass Spuren der inhaltsbezogenen Rechtfertigung eher in der Kelsen’schen Rechtslehre zu entdecken und als Schwächen festzuhalten sind . All dies führt zu einer methodologischen Herangehensweise, die den interpretatorischen Charakter des juristischen Wissens in den Mittelpunkt stellt .47 Kelsen ist es nicht gelungen, die rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Bereiche auseinanderzuhalten . Das ist aber möglicherweise gar nicht zu verwirklichen . Wie auch Christoph Möllers festhält, ist es eine der wichtigsten Besonderheiten der Staatsrechtslehre, dass deskriptive und normative (wertende) Feststellungen sehr schwer voneinander zu trennen sind . In Diskussionen über das Staatsrecht können laut Möllers sogar deskriptive Feststellungen ein Werturteil in sich bergen .48 Diese Aussage trifft in hohem Maße auf Kelsens theoretische Ansätze zu .

45 46 47 48

Joseph Raz, Ethics in Public Domain, 1996, 209 . Mátyás Bódig, The Normativity of Law and the Methodological Implications of Intepretivism (September 21, 2010) . Available at SSRN: http://ssrn .com/abstract=1680442 . Nicos Stavropulos, Legal Interpretivism, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2014 Edition), hg . v . Edward N . Zalta, URL =