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German Pages 376 Year 2022
Johannes Grave, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen (Hg.) Vor dem Blick
BiUP General
Johannes Grave (Prof. Dr.), geb. 1976, lehrt Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Projektleiter im Sonderforschungsbereich »Praktiken des Vergleichens«. Für seine Forschungen zur Kunst um 1800, zur Frührenaissance sowie zu bildtheoretischen Fragen wurde er 2020 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet. Joris Corin Heyder (Dr. des.), geb. 1981, arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. Im Rahmen seines Habilitationsprojekts untersucht er den Imperativ des vergleichenden Sehens in kennerschaftlichen Praktiken zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. Britta Hochkirchen (Dr. phil.), geb. 1982, ist akademische Rätin a. Z. am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld sowie Teilprojektleiterin im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Sie forscht zu kuratorischen Praktiken des Vergleichens in Kunstausstellungen, zur französischen Kunst im Zeitalter der Aufklärung und zur Temporalität des Bildes.
Johannes Grave, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen (Hg.)
Vor dem Blick Zurichtungen des Betrachtens von Bildern
Dieser Band entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« (Teilprojekt C01 »BildVergleiche. Formen, Funktionen und Grenzen des Vergleichens von Bildern«).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Published by Bielefeld University Press, an Imprint of transcript Verlag. http://www.bielefeld-university-press.de Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Jan Gerbach, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5683-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5683-5 https://doi.org/10.14361/9783839456835 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Jenseits der Dichotomie von Bild und Kontext Zur Bedeutung von Zurichtungen des Bildersehens – Eine Einleitung Johannes Grave, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen..................................................7
»Sie mögen von Vernunft reden soviel sie wollen« Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Vernunftbild und das Scheitern einer textlichen Zurichtung des Blicks Léa Kuhn..........................................................................................................................45
Weitsicht und Selbstbescheidung Blickmacht und Bilderzählung in der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (1567-1568) aus dem Umkreis Pieter Bruegels Michael F. Zimmermann...................................................................................................75
Visualizing Rubens in Modern Art History Griet Bonne.....................................................................................................................157
Bildreste, Bildereignisse und Existenzweisen des Bildlichen Jacobus Bracker............................................................................................................209
Sehen vergleichen Empirisch-experimentelles Forschen mit widerspenstigen Bildern Hanna Brinkmann.......................................................................................................... 231
Bildschein und Begriffserfindung Wolfram Pichler.............................................................................................................277
Zwischen Präsenz und Repräsentation Zur Rekonstruktion eines jesuitischen Sehstils Steffen Zierholz.............................................................................................................................. 307
Zwischen Repräsentation und Disziplinierung Die Wiener kaiserliche Gemäldegalerie im 18. Jahrhundert Gudrun Swoboda............................................................................................................................ 337
Autorinnen und Autoren..................................................................................................... 371
Jenseits der Dichotomie von Bild und Kontext Zur Bedeutung von Zurichtungen des Bildersehens – Eine Einleitung Johannes Grave, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen 1
I. Pictorial oder Iconic Turn? Vor gut einem Vierteljahrhundert wurden mit dem Pictorial Turn (1992) und dem Iconic Turn (1994) einf lussreiche Schlagwörter geprägt, die den Anspruch markierten, über Bilder und unseren Umgang mit ihnen auf grundlegend neue Weise nachzudenken.2 In bewusster Wendung gegen den Linguistic Turn, aber mit unterschiedlichen Motivationen und Begründungen plädierten William J. T. Mitchell und Gottfried Boehm dafür, in einem neuerlichen Turn der unhintergehbaren und nicht aus der Sprache ableitbaren Rolle von Bildern durch verstärkte theoretische Bemühungen gerecht zu werden. Der historische Zufall, dass – vermutlich unabhängig voneinander – beinahe zeitgleich in Amerika und in Europa ein Turn ausgerufen wurde, in dessen Zentrum Bilder stehen sollten, wirft ein Licht darauf, wie unterschiedlich diese Neuausrichtung des Denkens ausgelegt und umgesetzt werden konnte. Denn mit den beiden scheinbar so verwandten Turns verbinden sich bekanntlich zwei deutlich voneinander abweichende Optionen, im Nachden1 Die Abschnitte I bis III und VIII wurden von Johannes Grave formuliert; die Abschnitte IV bis VI stammen von Joris Corin Heyder; den Abschnitt VII hat Britta Hochkirchen verfasst. Die Abschnitte I bis III erscheinen auch in: Johannes Grave, Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens, München 2022, Kap. VII. 2 Vgl. William J. T. Mitchell, The Pictorial Turn, in: Artforum 30 (7/1992), 89-94; dt.: William J. T. Mitchell, Pictorial Turn, in: ders., Bildtheorie, hg. von Gustav Frank, Frankfurt a.M. 2008, 101-135; Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, 2. Aufl. München 1995, 11-38, bes. 13.
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ken über Bilder die traditionellen Wege der Kunstgeschichte zu verlassen. Während das Leitwort des Iconic Turn frankophone und deutschsprachige Diskussionen bündelt, die versuchsweise als »Bildkritik« oder »Bildwissenschaft« gekennzeichnet wurden, steht Mitchells Vorschlag eines Pictorial Turn in der Tradition der anglo-amerikanischen Visual Culture Studies. Wenngleich Boehm und Mitchell – vergleichsweise spät – darüber nachgedacht haben, wo sich ihre Denkwege und Anliegen berühren,3 sind die Visual Culture Studies und die Diskurse, die sich mit dem schwierigen Begriff der Bildwissenschaft verbinden, in der Regel eher als divergierende, teilweise gar als gegenläufige Projekte beschrieben worden.4 Die Bildkritik, so wie Boehm sie auffasst, zielt darauf, das Bild als eigenständige Instanz mit einer eigenen, deiktisch fundierten Logik zu verstehen und nicht nach dem Muster der Sprache oder anderer Zeichensysteme zu konzeptualisieren. Ein solcher Ansatz schärft die Aufmerksamkeit für Spezifika, die möglicherweise ausschließlich Bildern eigen sind; er versucht die Möglichkeitsbedingungen, Potenziale und Grenzen von Bildern freizulegen und fragt erst in einem zweiten Schritt nach Nutzungen, Kontexten und Situationen, auf die Bilder bezogen werden können. Im Fokus steht das Bild mit seinen materiellen, formalen, sinnlich erfahrbaren Eigenschaften, die es erlauben, auf eine Art und Weise Sinn zu erzeugen, die sich grundlegend von der Sprache unterscheidet.5 Als ein Vertreter der Visual Culture Studies (die freilich sehr verschiedenartige Varianten ausgebildet haben) zielt Mitchell hingegen auf eine »postlinguistische, postsemiotische Wiederentdeckung des Bildes als komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität«.6 So sehr er also Boehms Abgrenzung gegenüber einem universalen Sprach- oder Zeichenparadigma teilt, versteht Mitchell das Bild nicht allein als einen materiellen Gegenstand mit spezifischen Eigenschaf3 Vgl. Gottfried Boehm, Iconic turn. Ein Brief, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, 27-36; und W. J. T. Mitchell, Pictorial turn. Eine Antwort, in: ebd., 37-46. 4 Vgl. etwa Keith Moxey, Visual Studies and the Iconic Turn, in: Journal of Visual Culture 7 (2/2008), 131-146; Marius Rimmele/Bernd Stiegler, Visuelle Kulturen/Visual Culture zur Einführung, Hamburg 2012, 62-79. – Als schwierig erscheint uns der Begriff der Bildwissenschaft, weil er eine disziplinäre Abgrenzung suggeriert, die für das Nachdenken über Bilder Probleme aufwerfen könnte. 5 Vgl. etwa Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen: Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. 6 Mitchell, Pictorial Turn, 108.
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ten, sondern als Kreuzungspunkt von Strukturen, Praktiken und Diskursen. Dieser Ansatz beschreibt die Spezifik von Bildern nicht durch eine systematische Unterscheidung von anderen Ausdrucksformen, sondern versteht sie immer schon als Teil von Medienverbünden und sieht sie unausweichlich in soziale, kulturelle, technische und mediale Kontexte eingebettet. Ganz in diesem Sinne greifen die Visual Culture Studies deutlich weiter aus und nehmen auch visuelle Phänomene sowie Praktiken des Sehens und der Sichtbarkeit jenseits des Bildes in den Blick. In der Diskussion um diese Überlegungen haben einige Kritiker:innen deren jeweilige Anliegen und Akzentsetzungen so stark zugespitzt, dass der Eindruck entstehen konnte, die Wahl zwischen bildwissenschaftlichen Ansätzen und den Visual Culture Studies sei als eine fundamentale Entscheidung zwischen einander ausschließenden Alternativen zu verstehen. Die deutschsprachige Bildkritik oder Bildwissenschaft7 wurde dabei als fragwürdige Fokussierung auf eine Ontologie des Bildes kritisiert, die beinahe zwangsläufig Essentialisierungen nach sich ziehe.8 Ihr philosophisch und anthropologisch verallgemeinernder Anspruch gehe mit einer Enthistorisierung und Entpolitisierung einher; sie drohe daher hinter Einsichten einer kritischen Kunstgeschichte zurückzufallen.9 Die Visual Culture Studies haben ihrerseits die Kritik 7 Gemeint ist hier der Diskurs über Bilder, wie er vor allem seit den 1990er Jahren vorrangig aus der Kunstgeschichte heraus entwickelt wurde. Neben den Arbeiten Boehms ist insbesondere an Beiträge von Horst Bredekamp und Hans Belting zu denken. Beltings Bild-Anthropologie nimmt mit Medien und Körpern bereits Schnittstellen in den Blick, die sich mit den Anliegen der Visual Culture Studies verknüpfen ließen. Allerdings kommen diese potenziellen Verbindungen in Beltings vorrangig anthropologischem Ansatz kaum zur Geltung; vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. 8 Susanne von Falkenhausen formuliert mit Blick auf Arbeiten von Gottfried Boehm und Hans Belting: »Sie tun das, was Bal Essentialisierung nennt: Sie schotten ab, suchen nach Reinheit des als erklärungsbedürftig ausgewiesenen Phänomens im Sinne des Unvermischten«; Susanne von Falkenhausen, Verzwickte Verwandtschaftsverhältnisse: Kunstgeschichte, Visual Culture, Bildwissenschaft, in: Philine Helas et al. (Hg.), Bild-Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, 3-13, hier 10. Zum Essentialismus vgl. Mieke Bal, Visual Essentialism and the Object of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 2 (1/2003), 5-32. – Für eine ähnliche Einschätzung der deutschsprachigen Bildwissenschaften vgl. Gustav Frank, Pictorial und Iconic Turn. Ein Bild von zwei Kontroversen (Nachwort), in: Mitchell 2008 (wie Anm. 2), 445-487, bes. 477-487; Sigrid Schade/Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur: Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, 52f. 9 Vgl. etwa Norbert Schneider, W. J. T. Mitchell und der ›Iconic Turn‹, in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 10 (2008), 29-37; sowie Sigrid Schade, What Do Bildwissen-
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auf sich gezogen, durch die Konzentration auf Kontexte, Strukturen, Institutionen, Habitus, skopische Regime etc. die visuellen Objekte selbst zu vernachlässigen. Besonders scharf artikulierte sich dieser Vorwurf als Anklage, dass die Visual Culture Studies die traditionelle Kunstgeschichte verdrängen würden und auf diese Weise zu einem Verlust an Kompetenz für die genaue Betrachtung und Analyse von Bildern und Artefakten beitrügen.10 Wer an einer theoretisch ref lektierten und zugleich methodisch soliden Untersuchung von Bildern interessiert war, konnte angesichts dieser Diskussionslage den Eindruck gewinnen, gleichsam vor der Wahl zwischen Scylla und Charybdis zu stehen. Mit den skizzierten Konf likten verbinden sich wissenschaftsstrategische und politische Fragen; sie machen aber zugleich auf ein Problem in der Sache aufmerksam: Wo ist anzusetzen, wenn wir die spezifische Rolle von Bildern und visuellen Praktiken besser verstehen wollen? Verstellt die Konzentration auf Bilder und ihre Eigenlogik den Blick für die vielfältigen Kontexte, die unseren Umgang mit ihnen unausweichlich prägen? Oder droht mit der Lenkung der Aufmerksamkeit auf Diskurse, Institutionen, Apparate und andere Kontexte das Spezifikum des Bildes verfehlt zu werden? Bildwissenschaftliche Ansätze – zu denken ist etwa an Horst Bredekamps Bildakt11 – provozieren die Sorge, dass die ›Macht‹ des Bildes überschätzt werde und die Fokussierung auf allein diese Instanz einem Animismus zuarbeiten könne.12 Den Visual Culture Studies indes wird teilweise mit dem Vorbehalt begegnet, dass angesichts der Konzentration auf Praktiken, Diskurse und Politiken das Bild selbst zur passiven Verfügungsmasse werde. Die zugespitzte, bisweilen polemische Gegenüberstellung beider Ansätze suggeriert, dass jede der beiden Perspektiven Einsichten verspricht, die der anderen Perspektive fehlen. Unweigerlich drängt sich der Eindruck auf, dass eine verbindliche Entscheidung für eine der beiden vermeintlichen Alternativen wenig zielführend wäre. Die unterschiedlichen Aspekte, die beide Vorstöße jeweils akzentuieren, sind vielmehr gleichermaschaften Want? In the Vicious Circle of Pictorial and Iconic Turns, in: Kornelia Imesch et al. (Hg.), Inscriptions/Transgressions. Kunstgeschichte und Gender Studies, Bern 2008, 31-51. 10 Vgl. etwa Thomas Crow, [Statement zum Visual Culture Questionnaire], in: October 77 (1996), 34-36, hier 36; Rosalind Krauss, Welcome to the Cultural Revolution, in: October 77 (1996), 83-96, hier 91. 11 Vgl. Horst Bredekamp, Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2015. 12 Vgl. exemplarisch für diese Kritik: Lambert Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt a.M. 2013, bes. 78-105; Martin Büchsel, Bildmacht und Deutungsmacht. Bildwissenschaft zwischen Mythologie und Aufklärung, München 2019, bes. 96-110.
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ßen relevant. Sie lassen sich jedoch auch nicht problemlos priorisieren, indem ein Ansatz aus dem anderen abgeleitet wird. Wenn man das beiden Ansätzen gemeinsame Anliegen, die Bilder und die visuelle Kultur auf neue Weise in ihrer Spezifität zu verstehen, ernst nehmen möchte, gilt es daher eine Verknüpfung beider Perspektiven zu entwickeln. Doch wie lässt sich das leisten?
II. Verkettungen Die knapp skizzierten kritischen Stimmen gegen die Bildwissenschaften oder die Visual Culture Studies deuten darauf hin, dass eine schlichte Kombination beider Perspektiven – im Sinne eines in den Geisteswissenschaften bequem gewordenen Methodenpluralismus – nicht ohne weiteres möglich ist. Es bedürfte einer umfassenden Sondierung der verschiedenen Varianten beider Ansätze, um mögliche Berührungspunkte präziser freizulegen, Inkompatibilitäten zu erfassen und Formen der Kooperation zu erproben. Ein solches Projekt kann an dieser Stelle nicht versucht werden. Stattdessen möchten wir diese Einleitung nutzen, um einen systematischen Blick auf neuere theoretische Angebote zu richten, die in anderen disziplinären Kontexten auf verwandte Problemstellungen antworten. Denn im Feld der Sozial- und Kulturtheorien wurden zuletzt Vorschläge erarbeitet, die für das Zusammenwirken von menschlichen Akteur:innen, Objekten sowie kontextuellen Bedingungen die Priorisierung einer dieser Instanzen ablehnen. Indem wir diese Ansätze kurz vorstellen und kartieren, hoffen wir einen Zusammenhang zu skizzieren, in dem sich die nachfolgenden Beiträge dieses Bandes mit ihren je spezifischen Schwerpunktsetzungen genauer verorten lassen. Vor allem Bruno Latours Ausformulierung der Akteur-Netzwerk-Theorie ist in den Kultur- und Geisteswissenschaften breit rezipiert worden, hat dabei aber auch kritische Debatten hervorgerufen. Eine Voraussetzung der eingangs skizzierten Gegenüberstellung von Bildwissenschaften und Visual Culture Studies wird in gewisser Weise bereits durch Latours Entscheidung unterlaufen, das Soziale nicht auf gegebene Strukturen oder eine als stabile Entität gedachte ›Gesellschaft‹ zurückzuführen, sondern als multiple Netzwerke oder ›Versammlungen‹ zu denken, die ohne Handlungszusammenhänge keinen dauerhaften Bestand haben.13 Folgerichtig vertritt Latour 13 Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007.
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den Grundsatz, keine Instanz in Handlungszusammenhängen einfach unhinterfragt für gegeben zu halten. Da seine ›symmetrische Anthropologie‹ neben den menschlichen Akteuren auch dingliche Aktanten umfasst,14 zielt sein Ansatz auf Mensch-Objekt-Verschränkungen, die es erforderlich machen, die Spezifika und Eigenlogiken der Dinge ernst zu nehmen. Im Lichte seines Ansatzes wäre es daher fragwürdig, grundsätzlich entscheiden zu wollen, ob entweder Strukturen, Institutionen, Diskurse etc. der visuellen Kultur oder aber konkrete Bilder und Artefakte zu priorisieren sind. »Gef lechte von Praktiken und Materialitäten«15, zu deren vorübergehender Stabilität Dinge in erheblichem Maße beitragen,16 stehen auch im Zentrum der sog. ›sozialen Ontologie‹ Theodore Schatzkis. Soziales Leben versteht Schatzki als Gewebe von Praktiken und materiellen Arrangements, in die »Menschen, Artefakte, Organismen und natürliche Dinge«17 involviert sein können. Er betont mithin ebenfalls die grundlegende Relevanz der Verf lechtungen, die keiner Instanz einen Vorrang zukommen lassen. Zugleich hebt er die »konstitutive Bedeutung«18 des Materiellen hervor, das nicht als gleichsam externer Gegenstand nachrangig in ein schon bestehendes soziales Leben eingebunden wird, sondern als ein Grundelement des Sozialen zu gelten hat.19 Schatzki hat selbst verschiedentlich die Verwandtschaft seiner ›sozialen Ontologie‹ mit der Akteur-Netzwerk-Theorie angesprochen. Als eine Position im größeren Feld der neueren Praxistheorien wirbt sein Ansatz aber für eine differenziertere Analyse verschiedener Praktiken, um eine Auf lösung des Sozialen in eine beliebig und konturlos erscheinende Vielzahl von Ereignissen und Handlungen zu vermeiden. Schatzkis Ansatz lässt sich daher als Plädoyer dafür verstehen, trotz der Ablehnung einer Priorisierung 14 Vgl. ebd., bes. 109-149; vgl. ebd., 131, Latours Klarstellungen zum Symmetriebegriff. 15 Theodore Schatzki, Materialität und soziales Leben, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/ Tobias Röhl (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2016, 63-88, hier 81. 16 Vgl. ebd., 70. – Vgl. auch Latour, Eine neue Soziologie, 117: »In der Praxis sind es stets Dinge – und ich meine das letzte Wort jetzt buchstäblich – die ihre ›stählerne‹ Eigenschaft der fragilen ›Gesellschaft‹ leihen.« – Hilfreiche Orientierung bietet Andreas Reckwitz, Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, 131-156. 17 Schatzki, Materialität, 69. 18 Ebd., 72. 19 Vgl. ebd.
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einzelner Instanzen deren jeweilige Potenziale und Grenzen dennoch möglichst präzise zu beschreiben. Auch sein Programm erfordert sowohl ein Denken in Vernetzungen und Arrangements als auch einen genauen Blick auf die involvierten Objekte. Praxistheorien verstehen sich im Kern als ein dritter Weg zwischen Strukturtheorien und subjektzentrierten Handlungstheorien.20 Sie können daher wichtige Anregungen geben, um eine irreführende Scheinalternative zwischen der Objektzentrierung der Bildwissenschaften und den Visual Culture Studies mit ihrer Fokussierung von übergreifenden Strukturen, Diskursen, technischen und medialen Dispositiven, Institutionen und Organisationen zu überwinden. Vor diesem Hintergrund ist es weder zielführend, Gegenständen wie Bildern die Rolle autonom handelnder Subjekte zuzuschreiben, noch überzeugend, den Umgang mit ihnen ausschließlich durch präexistente Strukturen und Kontexte determiniert zu sehen. Der Leitgedanke, Praktiken als basales Grundelement des Sozialen zu begreifen, eröffnet vielmehr die Möglichkeit, sowohl vorgängige Prägungen und Regelhaftigkeiten individueller Handlungen (zum Beispiel einer Bildrezeption) aufzudecken als auch Verschiebungen und Abweichungen zu beschreiben, die mit der Aktualisierung von Praktiken häufig einhergehen. Indem Praxistheorien die materielle, räumliche, körperlich-leibliche und raum-zeitliche Situiertheit von Praktiken hervorheben, bieten sie gleichsam eine Schnittstelle, an die Untersuchungen von dinglichen Objekten anknüpfen können. Die konkrete Beschaffenheit der involvierten Objekte macht einen erheblichen Unterschied für den Vollzug von Praktiken und kann zu deren Transformation beitragen. Es liegt nahe, dass hier eine präzise Bestimmung der Spezifik von Bildern (durchaus auch ihrer Ontologie) einen wichtigen Beitrag leisten kann, um Praktiken des (Bilder-)Sehens besser zu verstehen.21 Für die Ausgangsfrage, wie sich die Perspektiven der Bildwissenschaften und der Visual Culture Studies sinnvoll in ein Verhältnis setzen lassen, können ähnliche Schlussfolgerungen gezogen werden, wenn man das Theorieangebot der Kulturtechnikforschung aufgreift. Sie schlägt für das Feld der Kultur 20 Vgl. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (4/2003), 282-301, bes. 287. – Eine Spezifizierung für Praktiken des Sehens bietet Sophia Prinz, Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014. 21 Für eine hilfreiche Annäherung an die Spezifik von Bildern vgl. Wolfram Pichler/Ralph Ubl, Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014.
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(im weitesten Sinne) eine vergleichbare Verschiebung vor, wie wir sie bei den gerade skizzierten Sozialtheorien beobachtet haben: Kultur wird nicht von vorgängig gegebenen Entitäten her gedacht und ebenso wenig auf anthropologische oder (medien-)technische Gegebenheiten zurückgeführt. Vielmehr werden »zyklische[] Übersetzungsketten zwischen Zeichen, Personen und Dingen«22 ins Zentrum gestellt. Die aus den deutschsprachigen Medienwissenschaften heraus entwickelte Theorie der Kulturtechnik, die an Arbeiten etwa von André Leroi-Gourhan anknüpft und Vorschläge von Latour kritisch weiterdenkt, scheint besonders vielversprechend, wenn es darum geht, die Rolle von Artefakten, Apparaten und Dispositiven präziser zu beschreiben. Medien und mediale Artefakte werden im Rahmen dieses Konzepts nicht mehr substanzialistisch aufgefasst und als Gegebenheiten von auf sie aufbauenden Handlungen verstanden, sondern auf die Operationsketten hin befragt, die sie und die mit ihnen stabilisierten ontologischen Grundunterscheidungen (etwa zwischen Form und Stoff, Subjekt und Objekt etc.) allererst hervorbringen. Die Kulturtechnikforschung könnte sich als der Entwurf erweisen, der am konsequentesten auf eine theoretische Weiterentwicklung jener Ansätze drängt, die das Soziale und die Kultur in Praktiken und Operationsketten verankert sehen. Zuletzt hat Bernhard Siegert darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Auf kommen einer »Romantik« beobachten lasse, die Handeln als ein »Geschehen« begreife, »in dem Subjekt und Objekt, Form und Materie, passiv und aktiv ununterscheidbar eins werden.«23 Eine solche Haltung würde sich vielleicht allzu früh damit begnügen, grundlegende soziale und kulturelle Phänomene auf Praktiken zurückzuführen. Das Interesse für Operationsketten, das der Kulturtechnikforschung eigen ist, setzt demgegenüber präziser bei Artefakten an und lässt daher differenziertere Erkenntnisse erwarten. Für unsere Zwecke mag es aber vorerst genügen, einige Einsichten anzuführen, die sich aus den hier kurz vorgestellten theoretischen Ansätzen gewinnen lassen: Gemeinsam ist den genannten Theorien, dass sie das Ansinnen zurückweisen, eine Instanz – sei es das menschliche Subjekt, das Ding, Technik, Wissen, Diskurse oder gesellschaftliche Strukturen – zu priorisie22 Harun Maye, Was ist eine Kulturtechnik?, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (1/2010), 121-135. 23 Bernhard Siegert, Öffnen, Schließen, Zerstreuen, Verdichten. Die operativen Ontologien der Kulturtechnik, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 8 (2/2017), 95-113, 101.
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ren. Ein zentrales Anliegen ist es vielmehr, die Relationalität und Interdependenz all jener Instanzen genauer zu beschreiben, die an Praktiken und damit an der Konstitution des Sozialen beteiligt sind, das seinerseits nicht als stabile Gegebenheit vorausgesetzt werden kann. Erst in den Vernetzungen und Verkettungen finden die beteiligten Instanzen ihre jeweilige Rolle; und erst im Vollzug dieser Verkettungen kann sich entscheiden, welche der involvierten Instanzen einen wichtigen Unterschied machen. Konstitution und Stabilisierung von sozialem Leben werden im Vollzug von Praktiken geleistet; den skizzierten Theorieentwürfen ist daher der Grundzug eigen, die Performativität des Sozialen zu betonen. Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen weisen die genannten Ansätze dabei dinglichen Objekten und Artefakten eine wichtige Rolle zu. Deren Bedeutung beschränkt sich nicht auf eine instrumentelle Funktion, vielmehr erweisen sie sich nicht selten als Instanzen der Kristallisation und Stabilisierung von Relationen und Praktiken, so dass sie erheblichen Anteil an deren Verstetigung haben können. Über alle Unterschiede hinweg teilen die genannten theoretischen Positionen die Vorliebe für den Leitbegriff der Verkettung: Latour löst die geläufige Ordnung von Subjekten, Objekten und gesellschaftlichen Strukturen auf, indem er stattdessen das Soziale in »lange[n] Ketten von Vermittlungen durch Objekte jeglicher Natur«24 verankert sieht. Schatzki spricht von »Handlungsketten«25, an denen sich die Verf lechtung von Praktiken und materiellen Arrangements zeige. Soziologische Praxistheorien konzeptualisieren den Schritt von der einzelnen Handlung zur Praxis mittels einer »Logik der Verkettung von materiellen Praktiken« bzw. »von ereignishaften Einzelpraktiken«.26 Und die Kulturtechnikforschung plädiert programmatisch für »eine heuristische, historische und praktische Priorität der Operationsketten vor den durch sie gestalteten Größen«.27 Die Aufmerksamkeit für Verkettungen scheint dafür zu sprechen, dass die Visual Culture Studies, die Mitchell als Analyse des »komplexe[n] Wechselspiels von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Fi-
24 Latour, Eine neue Soziologie, 150. 25 Schatzki, Materialität, 69. 26 Frank Hillebrandt, Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014, 58. 27 Erhard Schüttpelz, Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, in: Archiv für Mediengeschichte 6 (2006), 87-110, hier 91f. (Hervorh. im Orig.).
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gurativität«28 definiert hatte, eine besondere Affinität zu den skizzierten Ansätzen aufweisen. Doch hängt die Antwort auf die Frage, ob diese Nähe trügerisch sein könnte, ganz davon ab, wie innerhalb der Visual Culture Studies Konstituierungsverhältnisse und Prioritäten gedacht werden. Mit guten Gründen ließe sich ebenso den Bildwissenschaften, also dem primär deutschsprachigen Diskurs, eine produktive Vereinbarkeit mit neueren Sozial- und Kulturtheorien attestieren. Denn auch sie billigen Dingen, in diesem Fall Bildern, eine neue, nicht mehr nur passiv-instrumentelle Rolle in Praktiken zu. Ohnehin kann die Priorität der Verkettungen vor ihren einzelnen Gliedern, die von den gerade herangezogenen theoretischen Ansätzen betont wird, gleichermaßen als Hürde wie als Lizenz verstanden werden: Sie macht eine wohlgeordnete Kartierung all jener Instanzen und ihrer Rollen, die in Praktiken involviert sind, außerordentlich schwierig. Zugleich aber legt sie es umso mehr nahe, ein exploratives Vorgehen zu wählen, das im Wissen darum, eine kontingente Wahl zu treffen, an einem beliebigen Glied der Kette ansetzt, um dann umso gezielter die Verkettungen nachzuvollziehen. Ein solches Vorgehen müsste sich das Bewusstsein dafür wachhalten, dass man auf diese Weise nicht Anfang oder Ende eines roten Fadens in der Hand hält, sondern dass der gewählte Ausgangspunkt in vielfältige Relationen eingebettet ist, die ihm selbst erst seine Rolle zuweisen. Völlig beliebig muss deswegen die Wahl eines derartigen Ausgangspunktes nicht zwangsläufig erfolgen. In heuristischer Hinsicht lassen sich durchaus Herangehensweisen denken, die besonders geeignet sind, zu einem Verständnis der Verkettung beizutragen, indem sie genau jene Stellen anvisieren, an denen die Glieder der Kette ineinandergreifen.
III. Zurichtungen Eine Strategie, solche aufschlussreichen Momente zu identifizieren, könnte darin liegen, das Augenmerk auf Zurichtungen zu lenken. Gemeint sind Eingriffe, die etwa Akteur:innen, Dinge, Rahmenbedingungen oder Praktiken anpassen, um spezifische Formen der Verkettung zu ermöglichen, zu privilegieren oder zu verhindern. Da derartige Setzungen und Vorentscheidungen sowohl bestimmte Möglichkeiten der Verkettung eröffnen als auch 28 Mitchell, Pictorial Turn, 108.
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andere ausschließen oder zumindest in den Hintergrund drängen, scheint uns der etwas sperrige Begriff der Zurichtung erwägenswert: Zurichtungen bereiten etwas für den eigentlich anvisierten Einsatz vor, zugleich aber können sie auch verändernd darin eingreifen. Mit Zurichtungen gehen deshalb oftmals gerichtete Praktiken einher, die auf etwas in der Zukunft Liegendes prospektiv ausgerichtet sind. Insofern bietet der Begriff mehr als eine bloße Variation von Wörtern wie ›Kontext‹ oder ›Situation‹. Die Setzungen und Eingriffe, auf die der Begriff der Zurichtung zielt, beeinf lussen die beteiligten Akteur:innen, Objekte und Praktiken nicht nur in einem vage Sinne. Vielmehr macht der Begriff darauf aufmerksam, dass es dieselben Eingriffe und Setzungen sein können, die etwas überhaupt erst ermöglichen und zugleich anderes ausschließen. Für den Fall des Umgangs mit Bildern lassen sich diese Zurichtungen ein wenig konkretisieren: Zu denken ist zum Beispiel an Veränderungen, die in Bildern vorgenommen werden, und an Rahmungen oder Einbettungen, ferner an Reproduktionen oder andere Formen der Vermittlung, aber auch an institutionelle Strukturen und diskursive Perspektivierungen, mit denen die Bildrezeption vorgeprägt wird, sowie an Routinen, Konventionen oder Regeln der Bildbetrachtung und des Umgangs mit Bildern. Derartige Zurichtungen bestimmen mit darüber, wie bei der konkreten Verkettung von Bildern, Rezipient:innen, Praktiken und vielfältigen Kontexten gleichsam ein Glied ins andere greift. Sie lassen sich keineswegs immer auf bewusste Setzungen von Subjekten zurückführen, sondern ergeben sich unter anderem daraus, wie verbreitete Praktiken für eine konkrete Situation aufgegriffen und angepasst werden. Oftmals kommen dabei situative Kontingenzen und pragmatische Entscheidungsnotwendigkeiten zum Tragen. Dass diese vorläufig sehr weit und eher vage gefassten Zurichtungen von erheblicher Bedeutung für Praktiken im Umgang mit Bildern sind, ist keineswegs neu, sondern mutet trivial an. Die gerade skizzierten neueren sozial- und kulturtheoretischen Ansätze können jedoch dazu anregen, auf eine etwas andere Weise auf sie zu blicken: Zurichtungen sind nicht lediglich als Gegebenheit und Voraussetzung für bestimmte individuelle Handlungen (z.B. von Bildproduzent:innen oder Rezipient:innen) zu verstehen, sondern ihrerseits relational und als Effekt von Verkettungen zu begreifen. Denn es sind wiederum Praktiken sowie ›Netzwerke‹ von Menschen, Dingen, Strukturen, Diskursen und Dispositiven, die die Herausbildung solcher Eingriffe, Vorkehrungen und Rahmensetzungen bedingen und ihre Ausgestaltung prägen.
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Den Zurichtungen des Bildersehens, die uns interessieren, kommt eine Scharnierstellung zwischen Effekten und Vorgaben zu; und es liegt auf der Hand, dass sie durch Anschlusspraktiken weitere Modifikationen erfahren können. Der genauere Blick auf Zurichtungen kann nicht zuletzt einen Beitrag dazu leisten, jene relative Offenheit und Veränderbarkeit von Praktiken besser zu verstehen, die unter anderem von Praxistheorien angeführt wird, um Wandel zu erklären.29 Dass Praktiken, in die natürliche Dinge oder Artefakte involviert sind, Verschiebungen und Transformationen unterliegen können, dürfte sich in nicht wenigen Fällen unter anderem auf parergonale Effekte zurückführen lassen: Scheinbar marginale Parerga, d.h. Rahmen, Einfassungen und andere materielle Formen der Kontextualisierung, können die Aufmerksamkeit verschieben und eine Eigendynamik gewinnen, die Praktiken und Sinnzuschreibungen verändert.30 Sie machen für die an sie anknüpfenden Praktiken einen Unterschied, ohne dass dieser Effekt gänzlich von den Akteur:innen kontrolliert werden könnte, die die jeweilige Zurichtung vorgenommen haben. Das Beispiel der Parerga, die im Sinne Jacques Derridas die eigentliche Hauptsache, das Ergon, ebenso stabilisieren wie destabilisieren können,31 macht daher nochmals darauf aufmerksam, dass wenig gewonnen wäre, wenn man Zurichtungen essentialisieren und zu heimlichen Strippenziehern im Gef lecht unserer Praktiken erklären wollte. Auch das, was wir versuchsweise mit dem Begriff der Zurichtungen fassen, lässt sich nur als Teil einer Verkettung von Praktiken angemessen verstehen. Für Bilder dürfte in besonderem Maße gelten, dass Zurichtungen ihrerseits gut stabilisiert und verstetigt werden können, indem sie materiell im Bild und dessen direktem Umfeld verankert werden. So lassen sich Konditionierungen der Rezeption in der Regel verlässlicher implementieren, wenn sie in die physische Erscheinung des Bildes, seines Rahmens und seiner konkreten Lokalisierung eingehen, als wenn sie mittels Anweisungen diskursiv vermittelt werden. Zur Erschließung und Analyse derartiger Formen der Zurichtung liegen bereits vielversprechende theoretische und methodische Angebote vor: die Affordanztheorie und die Rezeptionsästhetik. Mit dem Neologismus Affordanzen bezeichnete James J. Gibson Handlungsoptionen, die durch die 29 Vgl. Reckwitz, Grundelemente, 294-297. 30 Vgl. Johannes Grave et al. (Hg.), The Agency of Display. Objects, Framings and Parerga, Dresden 2018. 31 Vgl. Jacques Derrida, La vérité en peinture, Paris 1978, 19-168.
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Umgebung eröffnet werden, ohne notwendigerweise einer zuvor festgelegten Funktion und Zweckbestimmung zu entsprechen. Ein größerer Gesteinsbrocken in der Landschaft mit geeigneter Höhe und hinreichend ebener oberer Fläche kann zum Beispiel die Affordanz aufweisen, als Sitzgelegenheit genutzt zu werden, ohne dass der Stein dafür herbeigeschafft oder bearbeitet worden wäre.32 Affordanzen sind daher nicht auf Intentionen von Subjekten zurückführbar – weder auf eine absichtsvolle Herstellung noch auf das Ansinnen eines Menschen in der Landschaft, eine Sitzgelegenheit auszumachen. Sie erschließen sich auch auf einer präref lexiven Ebene und sind nicht darauf angewiesen, dass eine bestimmte Bedeutung dechiffriert wird. Zugleich ist die Affordanz aber auch nicht auf eine bloße objektive Eigenschaft eines Gegenstands reduzierbar. Zur Affordanz wird die Möglichkeit, sich auf den Stein zu setzen, erst in der Relation zum Menschen; als Sitzgelegenheit bietet sich der Stein an, wenn er kniehoch aufragt; in der Kniehöhe jedoch zeigt sich die Abhängigkeit der Affordanz von einer Relation zum Lebewesen: Unter den Angeboten (affordances) der Umwelt soll das verstanden werden, was sie den Lebewesen anbietet (offers), was sie zur Verfügung stellt (provides) oder gewährt (furnishes), sei es zum Guten oder zum Bösen […] Ich meine damit etwas, das sich auf die Umwelt und das Lebewesen gleichermaßen bezieht und zwar auf eine Art, die kein gebräuchliches englisches Wort auszudrücken vermag. Zum Ausdruck bringen soll es die Komplementarität von Lebewesen und Umwelt.33 Diese Komplementarität ist es, die nicht zuletzt die Differenz zwischen Subjekt und Objekt fraglich erscheinen lässt: In Wirklichkeit […] ist ein Angebot [affordance] weder etwas Objektives noch etwas Subjektives; man könnte auch sagen, daß es beides zugleich ist. Es überwindet die Dichotomie zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven und hilft uns, die Unangemessenheit dieser Zweiteilung zu begreifen. Ein Angebot ist zugleich ein Faktum der Umwelt als auch eines des Verhaltens.34 32 Vgl. für dieses Beispiel James J. Gibson, Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München 1982, 138. 33 Ebd., 137. 34 Ebd., 139.
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Gibsons Affordanztheorie ist kaum zufällig im Kontext der oben skizzierten sozial- und kulturtheoretischen Ansätze auf Interesse gestoßen.35 Sie kann auch helfen, Zurichtungen ernst zu nehmen, ohne sie auf Intentionen oder vorgängig festgelegte Funktionen zu reduzieren. Streng genommen, setzen Affordanzen mit der ›Komplementarität‹ von Lebewesen und Umgebung schon eine Verkettung voraus. Versteht man materielle Zurichtungen an Bildern als Einrichtungen von Affordanzen, so ist einer fragwürdigen Essentialisierung bereits der Riegel vorgeschoben. Eine Verwandtschaft zur Affordanztheorie lässt sich der kunsthistorischen Rezeptionsästhetik attestieren,36 wenn man sie weder als Mutmaßung über eine von den Künstler:innen intendierte Wirkungsästhetik (miss-)versteht noch allein auf Rezeptionsvorgaben reduziert. Indem die Rezeptionsästhetik danach fragt, welche Möglichkeiten den Betrachter:innen durch die Gestaltung des Bildes eröffnet werden und wie äußere Rahmenbedingungen auf die Rezeption einwirken, kann sie dabei helfen, einige jener Verkettungen besser zu begreifen, die im Zentrum neuerer Theorieansätze stehen. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, bedürfte sie einer Weiterentwicklung, die zum einen stärker bildtheoretisch fundiert ist und zum anderen der Prozessualität und Performativität der Rezeption Rechnung trägt. Dazu ist gezielt danach zu fragen, wie der zeitliche Vollzug der Betrachtung durch Zurichtungen im und am Bild mitbeeinf lusst wird.37 Auf dieser Grundlage ließen sich die Phänomene, denen das Interesse der Rezeptionsästhetik gilt, sowohl als Sedimentationen als auch als Vorprägungen von Praktiken verstehen: Sie weisen zurück auf Praktiken des Sehens, die mit ihrer Hilfe Stabilität, vielleicht gar Verbindlichkeit erlangen sollen, und tragen zugleich zur Ein-
35 Vgl. etwa Latour, Eine neue Soziologie, 124; sowie Prinz, Die Praxis, 30. 36 Zur Rezeptionsästhetik in der Kunstgeschichte vgl. Wolfgang Kemp, Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983; ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, erw. Neuaufl. Berlin 1992; ders., Rezeptionsästhetik, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hg. von Ulrich Pfisterer, 2. Aufl. Stuttgart 2011, 388-391. 37 Für Vorschläge dazu vgl. Johannes Grave, Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Michael Gamper/Helmut Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014, 51-71; ders., Form, Struktur und Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität, in: Michael Gamper et al. (Hg.), Zeit der Form – Formen der Zeit, Hannover 2016, 139-162.
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richtung späterer Rezeptionsvollzüge bei, ohne diese freilich vollauf zu determinieren. Denn gerade mit der Wiederholung, Verstetigung und Routinisierung von Praktiken geht – wie die Praxistheorie lehrt – auch das Potenzial für Verschiebungen einher, die neue Möglichkeiten eröffnen.38 Methodische Zugriffe, die eine Untersuchung zumindest einiger Zurichtungen des Bildersehens erlauben, stehen mit der Affordanztheorie und der Rezeptionsästhetik bereits zur Verfügung. Sie sollten jene Einsichten entschiedener aufgreifen, die sich jüngeren Sozialtheorien und der Kulturtechnikforschung entlehnen lassen; zugleich könnten sie die ihnen eigene Perspektive offensiver in die neue Theorieentwicklung einbringen. Zudem bedürften sie der Ergänzung um weitere Untersuchungsansätze, die gezielter nach anderen, zum Beispiel diskursiven, medialen oder materiellen Formen der Zurichtung fragen. Eine systematische Analyse derartiger Zurichtungen des Bildersehens verspricht jedoch in jedem Fall neue Einsichten in jene Verkettungen von Akteur:innen, Artefakten, Praktiken und Kontexten, die unseren Blick auf Bilder maßgeblich bestimmen. Im Folgenden nehmen wir einige exemplarische Untersuchungsfelder näher in den Blick.
IV. Diskursive Zurichtungen Das komplexe Verhältnis von Bildern und Texten stellt vielleicht eine der beständigsten Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit visuellen Kulturen dar. Bilder lassen sich kaum ohne die Hilfe von Sprache erschließen und analysieren, zugleich wurden spätestens seit dem 18. Jahrhundert – etwa bei Denis Diderot – immer wieder die Grenzen zwischen visuellen und sprachlichen Phänomenen betont (»ut poesis pictura non erit«).39 Unsere Zugänge zu Bildern sind nicht selten durch ein komplexes textuelles Gef lecht in spezifischer Weise vorgeprägt, das dem Bild nicht unmittelbar eingeschrieben sein muss, um gleichwohl eine beträchtliche Wirkung auf die Betrachter:innen zu entfalten. Dabei kann es sich um sehr unterschiedliche Formen 38 Vgl. Reckwitz, Grundelemente, 294-296. 39 Denis Diderot, Salon de 1767, in: Jean-Louis-Joseph Brière (in Zusammenarb. mit François Walferdin) (Hg.), Oeuvres de Denis Diderot, Salons II, Bd. 9 von 26 Bdn., Paris 1821–1834 [1821], 117. Zur Abwandlung des Simonidischen »Ut pictura poesis«, vgl. Hubertus Kohle, Ut pictura poesis non erit. Denis Diderots Kunstbegrif f. Mit einem Exkurs zu J. B. S. Chardin (Studien zur Kunstgeschichte 52), Hildesheim 1989, hier bes. 129.
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textueller Zurichtungen handeln – eine Werbeannonce, ein Zeitungsartikel, ein Katalogtext oder die mündlichen Ausführungen einer Reisegruppenleiterin vermögen die Betrachtung eines Bildes ebenso zu lenken wie paratextuelle Phänomene, etwa Wandetiketten oder Verschlagwortungen in digitalen Datenbanken. Betrachter:innen, die auf einem Flyer ein Bild kombiniert mit dem (fiktiven) Titel »Tizian. Meister der Farbe« zu Gesicht bekommen, werden kaum umhinkönnen, bei ihrem sich anschließenden Besuch im Museum eben dieses Bild für ein Werk Tizians zu halten. Ähnlich werden sich die Ausführungen der Reiseleiterin zu den Bildern der Ausstellung bei den Betrachter:innen einprägen. Bestimmte Aspekte werden mehr in den Blick rücken als andere, und wir dürfen vermuten, dass ihnen diese Perspektiven in einer eigenständigen ›Lektüre‹ des Bildes vielleicht nicht in gleicher Weise aufgefallen wären. Ein Wandetikett ist mitunter oft das Erste, was Ausstellungsbesucher:innen in einem Museum aufmerksam studieren, wenn sie vor einem Bild verweilen.40 Diese Praktiken des Lesens, Zuhörens, des Einholens von Informationen, des Suchens und vielleicht sogar Diskutierens können als diskursive Praktiken verstanden werden, die den Prozess des Bilderanschauens f lankieren, ihm oftmals vorausgehen, ihn in einer bestimmten Weise zurichten. Das heißt aber nicht, dass diskursive Zurichtungen zwangsläufig eine prädikative Vereindeutigung zur Folge haben. Es scheint vielmehr eines ihrer Merkmale zu sein, dass sie – wie etwa im speziellen Beispiel von Schrift im Bild41 – zwar unmittelbar mit dem Bild verankert sein können, ihr Deutungs40 Erhellend hat Tobias Vogt über die Titeleien auf Wandetiketten nachgedacht und hier vor allem die »semantische Paradoxie« (82f.) des in der Moderne so beliebten »untitled« aufgearbeitet: Tobias Vogt, Sprache am Kunstwerk, in: Heiko Hausendorf/Marcus Müller (Hg.), Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation (Handbücher Sprachwissen 16), Berlin u.a. 2016, 69-87. Vogt (74) weist darauf hin, dass Michael Baxandall als einer der ersten die kontextuelle Bedeutung des Wandetiketts erfasste: »[…] a label is not just a piece of card, but includes the briefing given in the catalogue entry and even selection or lightning that aims to make a point. To attend to this space, it seems to me, is to attend not only to the scene but to the source of the viewer’s activity.«; Michael Baxandall, Exhibiting Intention: Some Preconditions of the Visual Display of Culturally Purposeful Objects, in: Ivan Karp/ Steven D. Lavine (Hg.), Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington D. C. 1991, 33-41, hier 37. 41 Eine rezeptionsästhetisch ausgerichtete Heuristik zur ›Schrift im Bild‹ haben Johannes Grave und Boris Roman Gibhardt in ihrer Einleitung zum gleichnamigen Sammelband vorgeschlagen, vgl. Johannes Grave/Boris Roman Gibhardt (Hg.), Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf Text-Bild-Relationen in den Künsten, Hannover 2018, 9-28.
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horizont deswegen aber nicht automatisch geklärt ist. Gleichwohl sind die intermedialen Verschränkungen zwischen Bildern und allen erdenklichen Formen von Texten, seien es geschriebene oder gesprochene, so ubiquitär, dass man berechtigterweise fragen darf, ob Bildbetrachtungen ohne textuelle Zurichtungen überhaupt vorkommen können. Heiko Hausendorf und Marcus Müller vertreten den Standpunkt, »dass das Kunstwerk als solches allererst durch und mit Kommunikation in die Welt kommt«.42 Die von Alain Montandon entwickelte Idee des Ikonotextes, also die Vorstellung einer sehr umfassenden und weitläufigen Verf lechtung von Texten und Bildern, geht über diesen Ansatz insofern hinaus, als sie nicht auf Kunstwerke beschränkt bleibt. In der deutschsprachigen Forschung hat Montandons Ansatz rasch Anklang gefunden.43 Subsumiert man die diskursiven Zurichtungen kurzerhand unter die Ikonotexte, läuft man allerdings Gefahr, das konkrete Zusammenspiel zwischen den zurichtenden Texten und den Bildern einfach zu übergehen. Auf der anderen Seite gilt es, nicht in eine womöglich simplifizierende Dichotomie zurückzufallen, die den spätestens in der Frühen Neuzeit immer wieder behaupteten Paragone zwischen Texten und Bildern weiter fortschreibt.44 Wie aber lässt sich das vermeiden? Womöglich, indem die intrikate Zusammengehörigkeit von künstlerischen Bildern und Texten/Diskursen ganz allgemein auch für das Verhältnis von Bildern und Diskursen angenommen wird: Denn nicht nur für Kunstwerke, sondern auch für alle anderen Formen von Bildern dürfte gemäß Arthur Danto gelten, dass sie »zusätzlich zu dem, daß sie über irgend etwas sind, auch darüber sind, wie sie über dieses Etwas sind.«45 Diese »aboutness«, das »Sein-über« der Bilder macht sie, zumindest nach Danto, zu »Interpretationskonstrukten«, denn das »Werk Phänomene von Schrift im Bild wurden auch schon früher dezidiert in den Blick genommen, so z.B. von Michel Butor, Les mots dans la peinture, Genf 1969. 42 Heiko Hausendorf/Marcus Müller, Formen und Funktionen der Sprache in der Kunstkommunikation, in: Hausendorf/Müller, Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation, 3-50, hier 4. 43 Vgl. Alain Montandon (Hg.), Iconotextes, Paris 1990; Peter Wagner, Introduction. Ekphrasis, Iconotexts, and Intermediality – the State(s) of the Art(s), in: ders. (Hg.), Icons – Texts – Iconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality, Berlin 1996, 1-40; Silke Horstkotte/Karin Leonhard (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln 2006. 44 Vgl. Lena Bader/Georges Didi-Huberman/Johannes Grave (Hg.), Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern. Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache, Berlin 2014. 45 Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1999, 227.
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nicht zu interpretieren heißt, nicht fähig zu sein, von der Struktur des Werks zu sprechen.«46 Dabei ist dem ›Sprechen-über‹ stets auch eine zeitliche Dimensionen eigen, da es vor, während und nach dem Blick auf ein Bild erfolgen kann. Allzu oft überlagern sich allerdings das ›Gehörte‹ oder ›Gelesene‹ sowie das ›Gesehene‹ mit dem eigenen ›Sprechen-über‹ oder ›Schreiben-über‹, und in dieser palimpsesthaften Gleichzeitigkeit kommen wir den diskursiven Zurichtungen analytisch vielleicht am nächsten. So schwer sich die ›Kunsthaftigkeit‹ oder vielleicht auch die ›Bildhaftigkeit‹ durch das ›Was‹ festmachen lässt, so treffend ist die von Nelson Goodman vorgeschlagene Frage nach dem ›Wann‹.47 Vor dem Ausstellen eines Urinals durch Marcel Duchamp handelte es sich lediglich um eine fabrikgefertigte Porzellanschüssel für öffentliche Herrentoiletten, im Moment des Signierens und sodann des Aufstellens in einem Museum kommt der Porzellanschüssel nunmehr das Potential zu einem »Interpretationskonstrukt« zu. Es sind die von der Rezeptionsästhetik adressierten äußeren und inneren Rezeptionsbedingungen einerseits sowie der konstitutive Einbezug der Betrachter:innen und die Vorstellung von Leerstellen andererseits, die innerhalb der Bild- und Kunstgeschichte die temporalen Qualitäten und Verf lechtungen von und mit Bildern offengelegt haben.48 Ihren prozessualen Charakter zu übergehen, hieße, auch dem markantesten Merkmal diskursiver Zurichtungen vorsätzlich aus dem Weg zu gehen. Diskurse regeln, bekräftigen oder ver(un)sichern – so Michel Foucault – das Sag-, Denk- und Machbare und formen somit unmittelbar unsere Wirklichkeit mit.49 Übertragen auf das Beispiel Duchamp ließe sich also sagen, dass die Aufstellung des Urinals durch den Kontext einer Ausstellung auch ohne jeglichen lesbaren Text als diskursive Praxis zu verstehen ist, indem sie nämlich die sedimentierten diskursiven Ordnungen (das Museum, das Kunstwerk) gezielt unterläuft und zugleich auch tradiert. 46 Ebd., 185. 47 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1984, 76-77. Vgl. auch Stefan Majetschak, Ästhetik zur Einführung, 3. Aufl. Hamburg 2012, 142. 48 Vgl. Grave, Der Akt, 51-71 sowie Grave, Form, 139-162. Siehe auch Wolfgang Kemp, Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Hans Belting (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1988, 240-257. 49 Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1: 1954-1969, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt a.M. 2001, 874f., vgl. auch: Achim Landwehr, Diskurs und Diskursgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2018, URL: http://docupedia.de/zg/Landwehr_diskursgeschichte_v2_de_2018 [letzter Zugriff: 06.03.2021].
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Heute wiederum dürften bei der Betrachtung des Urinals, das – ähnlich wie Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat – zu einer Inkunabel der Moderne (v)erklärt wurde und wird, ganz andere Diskurse den Blick zurichten. Dass die emphatische Begeisterung für eine gute Idee (in diesem Fall etwa das Konzept des Readymade) bis heute so gut funktioniert, dürfte wiederum ganz wesentlich mit wirkungsvollen Narrativen der institutionalisierten Kunstgeschichtsschreibung zu tun haben, die sich weder vom Primat der Idee im Sinne der Erfindung von etwas Neuem, Fortschrittlichem,50 noch von ihrer Konzentration auf besonders geschätzte Künstler:innen gänzlich zu lösen vermochte. Damit soll nicht gesagt sein, dass das eigentliche Bild oder Objekt allein durch ein diskursives Gef lecht hindurch wahrgenommen werden kann, wie es Hans-Georg Gadamer mit seiner Vorstellung eines »Vorrang[s] der Sprachlichkeit« noch nahelegte.51 Oftmals erweisen sich allerdings Formen von (Para-)Texten oder andere diskursive Angebote nicht nur als nützliche und willkommene Sekundanten einer Bildbetrachtung, sondern fungieren eher als ›Schutz‹, um sich einer visuellen (Über-)Forderung zu entziehen oder ihr zumindest eine Richtung zu geben.52 Welchen Nutzen, aber auch welche Beschränkungen oder gar Verengungen die Einhegung von Bildern im Diskurs über Kunst erzielte, lässt sich bereits am Beispiel früher kennerschaftlicher Literatur studieren, etwa in André Félibiens Abhandlung zu Charles Le Bruns Reines de Perse von 1663.53 In einer der ersten Bild-Monografien überhaupt wird das Gemälde durch eine umfassende Analyse seines Auf baus, des Kolorits sowie des gewählten Sujets erschlossen und schließlich gedeutet, so dass es nur kurze Zeit nach seiner Entstehung auch einer Leserschaft en détail bekannt gemacht wurde, die keinen Zutritt zum Grand cabinet oder den königlichen Appartements in Versailles hatte. Félibiens Schrift war sicherlich nicht zuletzt deshalb eine breite Rezeption be50 Ulrich Pfisterer, Die Erfindung des Nullpunktes. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten, 1350-1650, in: ders./Gabriele Wimböck (Hg.), »Novità«: Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um 1600 (Bilder-Diskurs), Zürich 2011, 7-86, hier 19f. Vgl. auch: Erwin Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Leipzig/Berlin 1924. 51 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. Tübingen 1975, 378f. 52 Vgl. etwa Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes (aus dem Französischen v. Markus Sedlaczek), München 1999, 191-222. 53 Vgl. André Félibien, Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre, peinture du Cabinet du Roy, Paris 1663. Das vollständig digitalisierte Werk findet sich hier: URL: https://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/bpt6k8598931 [letzter Zugriff: 11.03.2021].
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schieden, da der diskutierte Gegenstand visuell lange Zeit nur einer sehr kleinen Gruppe von Betrachter:innen zugänglich war. Derselbe Autor nutzte Jahre später das räumliche Gegenüber der Reines de Perse und des Emmausmahls von Paolo Veronese im Grand cabinet dafür, um in seinen Entretiens54 die hohe Qualität der in der königlichen Sammlung befindlichen Meisterwerke zu rühmen. Dass in der Folge ausgerechnet die Gegenüberstellung dieser beiden Bilder zu einer Matrize für den Streit zwischen Poussinisten und Koloristen gedeihen konnte, scheint kein Zufall zu sein. Vielmehr lassen sich in einer Reihe von Texten diskursive Rückbezüge auf Félibiens Schriften rekonstruieren.55 Das umfasst Charles Perraults Parteinahme für die moderne französische Malerei und damit für Le Bruns Werk ebenso wie etwa Roger de Piles’ kritische Sicht auf das Kolorit der Reines de Perse sowie schließlich Jean-Baptiste Dubos’ überhöhende Rehabilitierung Le Bruns.56 Die diskursive Einhegung ließ es ab einem bestimmten Punkt kaum mehr zu, Le Bruns Bild ohne den Bezug zu Veronese zu diskutieren; wie ein farbiges Glas schob sich der Diskurs vor den Blick und färbte ihn. Das wiederum gilt allerdings vornehmlich für das idealtypische, kunstgebildete Publikum des 18. Jahrhunderts. Denn die prozessuale Qualität diskursiver Verstrickungen führt in der Regel nicht dazu, bestimmte Wissensbestände derart zu verfestigen, dass die Betrachtung eines Werkes dauerhaft in einer spezifischen Weise zugerichtet wäre. Fassen wir die verschiedenen Aspekte zusammen, so erweisen sich diskursive Praktiken als ubiquitär in verschiedensten Textgattungen und medialen Formationen anzutreffende Phänomene, die dem Blick auf ein Bild nicht selten vorausgehen, ihn aber zumindest in den allermeisten Fällen f lankieren. Sie vermögen es, Wissen über ein Bild zu (de-)stabilisieren, und
54 Vgl. André Félibien, Entretiens sur les vies et les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes, Paris 1679, Bd. 3, 192-193; das Volldigitalisat findet sich hier: URL: https://archive. org/details/gri_entretienssu03feli [letzter Zugriff: 11.03.2021]. 55 Vgl. hierzu Joris Corin Heyder, Farbe und Kennerschaft, in: Johannes Grave/Joris Corin Heyder/Britta Hochkirchen (Hg.), Sehen als Vergleichen. Praktiken des Vergleichens von Bildern, Kunstwerken und Artefakten, Bielefeld 2020, 27-50, bes. 37-45. 56 Siehe Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes; en ce qui regarde les arts et les sciences. Dialogues. Avec le Poëme du Siecle de Louis le Grand: Et une Epistre eu [sic!] Vers sur le Genie, Paris 1688, 220-232; Roger de Piles, Abregé de la vie des peintres, avec des reflexions sur leurs ouvrages, et un Traité du peintre parfait, de la connoissance des desseins, & de l’utilité des estampes, Paris 1699, 519, sowie Jean-Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture, Bd. 1 von 2 Bde., Paris 1719, 259.
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gewiss liegt eine zentrale Kompetenz kunsthistorischen Arbeitens in der stetigen diskursiven Wissensverdichtung und -korrektur. Hier setzt sich ein bereits in kennerschaftlichen Schriften angedeuteter Weg fort, der immer wieder der Gefahr ausgesetzt ist, sich in idiosynkratischen Schleifen zu verfangen, gleichwohl aber auch die Chance bietet, sich »Interpretationskonstrukten« überhaupt stellen zu können. Léa Kuhns Beitrag thematisiert die diskursive Genese und Brüchigkeit eines solchen »Interpretationskonstruktes« anhand des sogenannten »Vernunftbildes« von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Das Außergewöhnliche dieses Falls besteht darin, dass Tischbein durch einen selbst verfassten Text das eigene Werk zunächst deutet und seine Schrift dem Auftraggeber noch vor der Zusendung des Bildes zukommen lässt. Kuhn sieht in dieser zeitlich versetzten Doppelsendung ein Indiz für das zunehmende Ref lektieren in der Zeit um 1800 darüber, welche Potentiale, aber auch welche Grenzen dem Bildlichen eignen. Dass die in Tischbeins Text adressierten Themen visuell nicht in gleicher Weise evident werden, lassen schon die Reaktionen der Zeitgenossen ahnen. Offenbar missriet Tischbeins Versuch, die Sichtweise auf das Bild in einer bestimmten Weise zu lenken. Das visuelle Angebot begünstigte seinerseits alternative Deutungen, die Tischbeins diskursives Korrelat rasch in Vergessenheit geraten ließen. Auch in Michael F. Zimmermanns Aufsatz spielt das kaum diskursiv zu vereindeutigende visuelle Angebot im Sturz des Ikarus von Pieter Brueghel d. Ä. (bzw. einem Nachfolger) eine zentrale Rolle. Um die Interpretationspotentiale in der einen oder anderen Weise zu konkretisieren, konzediert der Autor den Betrachter:innen allerdings einen notwendigerweise partizipativen Gestus. Dieser kann mittels einer empathischen Einfühlung in das Bild zur Geltung kommen sowie durch spezifische narrative Strategien unterstützt werden. Für Zimmermann ist der Blick auf ein Bild aber immer schon insofern unhintergehbar diskursiv zugerichtet, als dass er von der Warte eines spezifischen kulturellen Milieus und einer visuellen und medialen Kultur aus erfolgt. Demgemäß rekonstruiert er für den »Sturz des Ikarus« eine koloniale Perspektive und argumentiert für eine ›Ethik des Blicks‹, denn »wir [können] nicht nur unseren Blick auf die Welt historisch-kritisch erfassen, sondern ihn zugleich für den Blick der Welt zurück auf uns öffnen«.57 Dass diskursive Zurichtungen allzu oft in der bereits von Stuart Hall skizzierten 57 Michael F. Zimmermann in diesem Band, 132.
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Weise Machtverhältnisse zementieren,58 wird von Zimmermann sukzessive anhand des Sturz des Ikarus aufgearbeitet. Die vom Autor vorgeschlagene ›Ethik des Blicks‹ versucht sich, dieser (diskursiven) Verantwortung zu stellen.
V. Mediale Zurichtungen So wenig diskursive Zurichtungen stets explizit gemacht werden müssen, um Wirkungen zu entfalten, so wenig stehen uns mediale Zurichtungen immer unmittelbar vor Augen – oftmals übersehen wir sie gar. Die Rezeption von Duchamps Fountain dürfte zum Beispiel in den meisten Fällen medial zugerichtet sein, ohne dass diese Prägung zum Gegenstand der Ref lexion werden muss. Der überwiegende Teil der Betrachter:innen lernt das Kunstwerk, dessen Original ohnehin nicht überliefert ist, zunächst medial vermittelt in Form von fotografischen Aufnahmen und deren vielfältigen Reproduktionen kennen und eignet sich auf diese Weise eine bestimmte Perspektive und Sichtweise an. Die historische Fotografie von Alfred Stieglitz kann vor Augen führen, wie der Blick bereits dadurch gelenkt wird, dass das von Duchamp auf die Stirnwand gelegte Urinal auf Augenhöhe und annähernd frontal aufgenommen wurde.59 Stieglitz griff auf diese Weise vermutlich Setzungen Duchamps auf, spitzte sie aber auch zu, indem die Wahl des Bildausschnitts und die Positionierung des Gegenstands auf der Bildf läche nochmals dessen symmetrische Erscheinung hervorheben. Eigenschaften reproduzierender Medien, hier die begrenzte Flächigkeit des Fotoabzugs, können daher einen erheblichen Anteil daran haben, wie die reproduzierten Bilder oder Artefakte später auch in Situationen ohne mediale Vermittlung in den Blick kommen.
58 »This is where the notion of ›discourse‹ came in. A discourse is a way of talking about or representing something. It produces knowledge that shapes perceptions and practice. It is part of the way in which power operates. Therefore, it has consequences for both those who employ it and those who are ›subjected‹ to it«, siehe Stuart Hall, The West and the Rest: Discourse and Power, in: Formations of Modernity, hg. von dems./Bram Gieben, Cambridge 1992, 275-320, hier 318. 59 Für eine Abbildung von Stieglitz’ Fotografie vgl. URL: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Duchamp_Fountaine.jpg#/media/File:Marcel_Duchamp,_1917,_Fountain,_ photograph_by_Alfred_Stieglitz.jpg [letzter Zugriff: 27.3.2021].
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Mediale Vermittlung oder – um mit Sybille Krämer auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ›Medium‹ als ›Mitte‹ bzw. ›Mittler‹ abzuheben – die »Aisthetisierung« im Sinne eines »Wahrnehmbarmachen[s] und zumBild-Werden-von-etwas«60 kann ähnlich wie das Diskursive prägend für die Einrichtung von Sehweisen werden. Sie geht darüber hinaus mit einer eigenen Materialität des Mediums einher, die zur Materialität des medial vermittelten Bildes oder Objekts in Konkurrenz treten kann. Dass solche medial-materialen Zurichtungen zuallererst körperlich-leiblich im performativen Vollzug erfahrbar sind, hat etwa Marcel Finke auf der Grundlage von Überlegungen Judith Butlers und Dieter Merschs überzeugend dargelegt.61 Jonathan Crarys Beobachtungen zum Einf luss neuer Apparaturen und Instrumente des Sehens auf unsere sinnliche Wahrnehmung62 ref lektieren zudem beispielhaft, wie mediale Zurichtungen eines Artefakts in komplexer Weise miteinander verkoppelt sein können. Griet Bonne geht in ihrem Beitrag derartigen medialen Einhegungen mittels Reproduktionen nach. Am Beispiel sowohl populärer als auch wissenschaftlicher Reproduktionen nach Werken von Peter Paul Rubens nimmt Bonne nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen solcher visueller ›Fortschreibungen‹ in den Blick, sondern auch die Produzent:innen selbst, die mit ihren Reproduktionen zumeist eine ganz bestimmte Absicht verfolgten. Bonnes Analyse führt vor, wie die medialen Reproduktionen in erheblichem Maße den Rubens-Diskurs und mithin sogar die kulturelle Identität einer Nation mitzuformen halfen. Oftmals sind es solche in medialer Vielfalt geprägten (Zerr-)Bilder, die bestimmte Blickweisen stimulieren und sich ›nach dem Blick‹ nur schwer analytisch auf lösen lassen. Wenn sich ein diskursives Gef lecht vor einen Blick schieben kann, so ist dasselbe auch möglich mit einem medialen Gef lecht. 60 Sybille Krämer, Das ›postalische Prinzip‹: Versuch einer Rehabilitierung des Übertragens. Ein Essay, in: Spiel. Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 25 (1/2006), 89-98, hier 95. Eine ausgearbeitete Medientheorie im Sinne von Übertragungsprozessen hat die Autorin im folgenden Buch entwickelt: Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008. 61 Vgl. Marcel Finke, Materialität und Performativität. Ein bildwissenschaftlicher Versuch über Bild/Körper, in: Ingeborg Reichle/Steffen Siegel/Achim Spelten (Hg.), Verwandte Bilder. Fragen der Bildwissenschaft, Berlin 2007, 57-78. 62 Vgl. Jonathan Crary, Techniques of the Observer: On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge (Mass.) 1991.
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VI. Zurichtungen durch kulturelle Prägungen Zurichtungen, wie sie durch Formen der Präsentation und durch die Organisation von Zugänglichkeit oder räumlicher Distanz erfolgen, können ähnliche Effekte haben wie die gerade behandelten medialen Vermittlungen. So geht, um unser Beispiel nochmals aufzugreifen, die Platzierung eines Urinals im Ausstellungsraum oder Museumssaal mit Entscheidungen einher, die den Blick konditionieren. Zu denken ist etwa an den Sockel, auf dem das Urinal platziert ist, oder an Abstandhalter, die gewährleisten, dass es nicht berührt wird. Bereits weit vor der Einrichtung von Museen sind Praktiken der Auf bewahrung und Präsentation erprobt worden, die unsere Sehgewohnheiten und Habitus der Rezeption von kulturellen Artefakten in erheblichem Maße mitbestimmen und manipulieren. Nicht zuletzt entscheiden sie darüber, was Betrachter:innen mit oder vor den Objekten tun können, ob sie beispielsweise eine Skulptur berühren dürfen,63 vor einem Bild niederknien können oder aber in der stillen, stehenden Pose europäischer Museumsbesucher:innen verharren. An solchen Festlegungen kristallisieren sich auch kulturelle Prägungen des Blicks auf Bilder und Artefakte. Sie tragen dazu bei, bestimmte Verhaltensweisen von Betrachter:innen einzuüben oder aber auszuschließen, und können ihrerseits zugleich als materialisierte Sedimentationen von kulturellen Vorgaben verstanden werden. Wie stark die Zurichtung der Rezeption mit deren räumlich-zeitlicher Situierung verknüpft ist, beleuchtet Jacobus Bracker in seinem Beitrag. Darin werden die kulturell ausgesprochen divergenten Präsentationen eines mittelalterlichen Retabels in der Hamburger Kunsthalle und einer Gruppe von Buddha-Skulpturen im Nationalmuseum in Phnom Penh verglichen. In beiden Fällen sind die Artefakte aus ihrem ursprünglichen Kontext in einen musealen Raum überführt worden. Das den Betrachter:innen mögliche ›Bildereignis‹, also der Prozess der Aisthetisierung der Artefakte, ist im Hier und Jetzt verhaftet, wohingegen die Wahrnehmung im ursprünglichen Aufstellungskontext lediglich als ›Bildrest‹ greif bar wird. Als kritische Heuristik schlägt Bracker eine multimodale Analyse der beschriebenen ›Bildereignisse‹ vor, die die perzeptuellen, semio63 Im 18. Jahrhundert konnte es durchaus vorkommen, etwa eine Skulptur bei der Rezeption zu streicheln; vgl. Caroline van Eck, Art, Agency and Living Presence. From the animated image to the excessive object, Berlin 2015, 11-28.
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tischen, referentiellen sowie partizipatorischen Aspekte des Bildersehens genauer untersucht und die Bildmedien dabei ganz im Sinne Bruno Latours als Akteure eines dynamischen Netzwerkes charakterisiert. Das Spiel zwischen Seherwartungen und Seherfahrungen sowie das ›Nachleben‹ kultureller Sehkonventionen steht – nun auf Basis einer empirischen Studie – im Zentrum des Beitrags von Hanna Brinkmann. Verglichen werden anhand von Eye-Tracking-Analysen und Fragebögen die Kunstbetrachtungen japanischer und österreichischer Proband:innen. Die dabei erzielten Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass es in der Tat Hinweise auf kulturell bedingte Differenzen oder zumindest Varianzen in der visuellen Wahrnehmung zu geben scheint, die die Autorin vor allem mit medialen Konventionen und einem medial-diskursiv fundierten kollektiven Gedächtnis zu erklären versucht. Zugleich aber kann sie auch zeigen, dass sich insbesondere ungegenständliche Werke als widerständiger erweisen und nicht in gleicher Weise erwartbare Seherfahrungen generieren. Der Beitrag verbindet diese Beobachtungen mit Ref lexionen über das eigene Forschungsdesign, das bisher eher theoretisch oder historisch entwickelte Hypothesen, etwa Michael Baxandalls Konzept des »period eye«, auf empirischem Wege nachzuvollziehen versucht. Als besonders interessante und zugleich komplexe Fälle erweisen sich dabei jene Kunstwerke und Bilder, die entweder bereits zum Zeitpunkt ihrer Produktion oder aber im Verlauf der Rezeptionsgeschichte in transkulturelle Dynamiken eingetreten sind und daher eine eindeutig binäre Einordnung (›japanisch‹ oder ›österreichisch‹) und Vereindeutigung von Seherfahrungen unterlaufen.
VII. (Im-)materielle Zurichtungen Dass die Materialität des Bildes von zentraler Bedeutung für seine Erscheinung ist, hat die phänomenologisch informierte Bildtheorie oftmals bekräftigt. Im Rekurs auf Edmund Husserls Terminologie unterscheiden Wolfram Pichler und Ralph Ubl in ihrer Bildtheorie zur Einführung zwischen »Bildträger« (bzw. »Bildvehikel«) und »Bildobjekt«.64 Mit dieser Differenzierung ist bereits eine »bildtheoretische Minimalbestimmung« angesprochen,65 64 Pichler/Ubl, Bildtheorie, 22f. 65 Ebd., 35.
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nämlich dass im Bildvehikel »ein davon Verschiedenes zu erkennen ist«.66 So wird beispielsweise in der Materialität von Öl auf Leinwand ein Pferd in einer tiefenräumlich gestalteten Landschaft erkennbar. Das Bildobjekt ist somit grundsätzlich auf ein Bildvehikel angewiesen,67 das für Pichler und Ubl gewöhnlich eine materielle Physis aufweist: Bei diesem ersten Vehikel aber wird es sich in der Regel um eine raumzeitlich lokalisierbare, sinnlich wahrnehmbare Sache handeln – eine Sache, die man zu den wirklichen Dingen, ja vielleicht sogar zu den materiellen Gegenständen rechnet und als solche von allen Bildobjekten prinzipiell unterscheidet.68 Die phänomenologisch fundierte Grundbestimmung des Bildes ist auch von anderen Kunsthistoriker:innen und Bildwissenschaftler:innen insofern geltend gemacht worden, als dass sie in ihren theoretischen Ansätzen von einem Bildganzen ausgehen, dessen Einheit oftmals durch die Grenzen des Bildträgers markiert wird. So betont Max Imdahl im Rahmen seiner Ikonik immer wieder, dass das Kunstwerk seinen ikonischen Sinn erst durch die eigentümlichen Spannungen der Binnenstruktur des Bildganzen eröffnet: Dieses Bildganze macht sich in jeder Relationierung von Verschiedenem oder gar Widersprüchlichem bemerkbar, insofern es das je Verschiedene und Widersprüchliche als dialektisch vermittelte Einheit aufweist und damit in jedweder Relation die simultane und spannungsvolle Bildtotalität anschaubar werden läßt.69
66 Vgl. ebd., 23. 67 Vgl. ebd., 27. Pichler und Ubl machen darauf aufmerksam, dass das Bildvehikel grundsätzlich auch »gestaffelt« (26) sein kann, indem im Bild ein zweiter Bildträger zum Tragen kommt. 68 Ebd., 27. Mit dieser Setzung entfernen sich die Autoren sogleich von einer rein phänomenologischen Auffassung und erweitern ihren Ansatz um David Summers’ Überlegungen zum »real space« und »virtual space«; als ein zentrales Kriterium von Bildern wird ihre Aufgabe hervorgehoben: »to make present in social spaces what for some reason is not present«. David Summers, Real Spaces: World Art History and the Rise of Western Modernism, New York 2003, 252. 69 Max Imdahl, Giotto. Arena-Fresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980, 108.
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Die bildinternen Spannungen werden erst innerhalb der Ganzheit bzw. »Totalität« des Kunstwerks wirksam. In ähnlicher Weise argumentiert Gottfried Boehm, wenn er von bildinternen Kontrasten spricht, die erst innerhalb eines kontinuierenden Ganzen entstehen: Der kontinuierende Grund ist durchgehend und er ist ununterbrochen, die Elemente dagegen, die vor und im Kontrast zu ihm erscheinen, sind stets einzelne und unterscheidbar. Das Eine unter den Bedingungen des Anderen zu sehen, mit Husserl zu reden: Thema und Horizont wechselseitig aufeinander zu beziehen, setzt voraus, dass sie jeweils prinzipiell unterschiedlichen Realitäten angehören.70 Diese theoretischen Ansätze legen einen Ganzheitsbegriff des Bildes zugrunde, der oftmals mit dessen materiellen Grenzen und damit mit dem Bildträger in eins fällt. Erst vor dem Hintergrund dieses – auch materiell fundierten – Ganzen kann sich etwas anderes zeigen. Auch die von Wolfgang Kemp für die Kunstgeschichte ausgearbeitete Rezeptionsästhetik geht grundlegend von einem materiellen Bildganzen aus.71 So unterscheidet er zwischen »inneren und äußeren Rezeptionsvorgaben«,72 die mal bildimmanent, mal bildextern die »Interaktion von Werk und Betrachter« beeinf lussen.73 Trotz dieser starken Trennung zwischen »inneren und äußeren Rezeptionsvorgaben«, deren Differenz wesentlich auf einer materiellen Unterscheidung beruht, eröffnet Kemp mit seinem Ansatz einen Zugang zum Wechselverhältnis zwischen Bild und situativem Kontext; es ist nämlich dieses Wechselverhältnis, das die jeweils spezifische Kommunikation mit dem Betrachter anleitet. Jenseits dieser Verschiebung des Fokus auf das Zusammenspiel von Bild und Kontext in Hinblick auf die Wahrnehmung und Deutung des Gesehenen bleibt aber auch Kemps Rezeptionsästhetik eng mit der Vorstellung verbunden, dass die Materialität des Bildes dieser Interaktion vorgängig ist.
70 Gottfried Boehm, Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11 (1/2011), S. 170-176, hier 174. 71 Susanne von Falkenhausen konstatiert deshalb: »Kemps Rezeptionsästhetik bleibt beim Kunstwerk«. Susanne von Falkenhausen, Jenseits des Spiegels. Das Sehen in Kunstgeschichte und Visual Culture Studies, Paderborn 2015, hier 81. 72 Wolfgang Kemp, Rezeptionsästhetik, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 5 (12/2003), 51-60, hier 54. 73 Ebd.
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Die hier nur knapp skizzierten theoretischen Ansätze – Imdahls Ikonik, Boehms ikonische Differenz sowie Kemps Rezeptionsästhetik – beruhen auf einem Verständnis von Bildern als autonomen, stabilen und in sich geschlossenen Objekten, deren materielle Grenzen geradezu konstitutiv sind für die Bildwirkung. Materialität wird vor diesem Hintergrund als dem Bild und der Wahrnehmung vorausgehend und fixiert verstanden. Wird der Blick jedoch erweitert auf die Praktiken, in deren Operationsketten das Bild auf je spezifische Weise eingebettet ist, so eröffnet sich eine Perspektive auf die Materialität, die diese nicht allein als Vorgabe, sondern auch als Effekt anerkennt. So lässt sich die Materialität eines Bildes oder Artefakts nicht (allein) als eine Bestimmung verstehen, die dem Sehen per se vorausgeht und den Blick gleich einer Handlungsanweisung zurichtet. Darüber hinaus ist die Materialität eines Bildes oder Artefakts nicht als immer gleich und beständig beschreibbar. Sie ist nicht neutral gegenüber ihrem situativen Kontext und den Handlungsketten, in die sie eingelassen ist. Vielmehr lässt sich auch die Materialität eines Bildes oder Artefakts als ein Wechselspiel von Effekten und Vorgaben innerhalb einer relationalen Verkettung von Akteur:innen, Handlungen und situativen Kontexten verstehen.74 Bilder und Artefakte erfahren oftmals materielle Veränderungen, indem sie die Besitzer:innen wechseln oder in Museen und Ausstellungen gezeigt werden: Dies kann von mit dem bloßen Auge kaum erkennbaren Spuren des Transports bis zu beabsichtigten Eingriffen reichen. Nicht selten werden materielle Bildträger für die jeweilige räumliche Präsentationssituation oder aber aus einer kuratorischen, ästhetischen Entscheidung heraus angepasst – bspw. beschnitten oder aber neu gerahmt.75 Die Beiträge im Kapitel »(Im-)materielle Zurichtungen« stellen die Frage nach der Materialität als Scharnier zwischen Vorgaben und Effekten ins Zentrum ihrer an konkreten Fallbeispielen orientierten Untersuchungen. Die Studien eröffnen dabei ein weites Spektrum an Gattungen, Epochen und sozialen Kontexten. Erst vor dem Hintergrund dieser Divergenz wird deutlich, auf welch unterschiedlichen Ebenen die Materialität des Bildes von Zurichtungen betroffen sein kann – durch tatsächliche materielle Eingriffe oder aber auf der Ebene ihrer Wirkweise und Wahrnehmung. Allen gemeinsam ist 74 Siehe für diese Argumentation in Hinblick auf die Kulturtechnikforschung: Maye, Was ist eine Kulturtechnik?, bes. 127. 75 Vgl. dazu den Beitrag von Gudrun Swoboda in diesem Band.
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dabei jedoch die Feststellung, dass Materialität und ihre Grenzen dem Blick auf das Bild nicht zwingend vorausgehen, sondern dass sie veränder- und verhandelbar bleiben im Prozess der Wahrnehmung und Rezeption. Wolfram Pichler legt in seinem Beitrag einen systematischen Entwurf zur Frage der Relationen dar, die Bilder immanent wie auch external aushandeln. Pichler bezeichnet mit dem Begriff der »Bildspannung« die widerstreitenden Kennzeichen, die mit einem Bild verbunden sind und in die auch die Materialität des Bildes eingebunden ist. So birgt ein aus Siltstein gehauener ägyptischer Kopf eines alten Mannes aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. eine Bildspannung zwischen zwei Klassifikationen, nämlich der eines Kopfes und der des Materials des behauenen Siltsteins. Das Material ist dabei elementarer Bestandteil der stetigen und nicht abschließbaren »Bildspannung«: des Widerstreits zwischen Stein-Evidenz und Kopf-Evidenz. Darüber hinaus fordert das Material des festen Siltsteins diese Spannung einmal mehr heraus, so Pichler, indem bestimmte Elemente des Gesichts – etwa die Lippen – als besonders weich erfahrbar werden. Materialität ist Pichler zufolge keine allein vorgängige, still gestellte ›Eigenschaft‹ der Bilder, sondern ist Teil des Aushandlungsprozesses im Umgang mit dem Bild. Pichler zeigt, wie die Materialität dem Bild einerseits vorausgeht, andererseits jedoch external hergestellt und zugerichtet wird, wenn mit der Aussage »Das ist ein Kopf« die (vorgängige) steinerne Materialität geradezu negiert und eine andere, nämlich weiche, menschliche evoziert wird. Er geht deshalb in seinem Beitrag der Frage nach, wie in der Sprache solche »Bildspannungen«, die zu widersprüchlichen Aussagen führen müssten, verhandelt werden können – auch in Hinblick auf die materiellen Spannungen des Bildes. Steffen Zierholz widmet sich in seinem Beitrag ebenfalls den Zurichtungen, denen Bilder in der Wahrnehmung unterworfen sind. Sein Fokus liegt dabei auf dem von ihm so benannten »jesuitischen Sehstil«, der durch die Einübung von Gebetspraktiken mit Hilfe von Erbauungsliteratur als kollektive Praxis des Ordens routinisiert wurde. Demzufolge sind es nicht primär der künstlerische Ausdruck und stilistische Charakteristika des Bildwerks in seiner konkreten materiellen Verfasstheit, sondern ebenso sehr die eingeübten Wahrnehmungspraktiken, die die Erscheinungsweise und Bedeutung bestimmen. Zierholz zeigt auf, inwiefern durch die so vollzogenen jesuitischen Wahrnehmungspraktiken mentale und materielle Bilder aufeinander einwirken. Der jesuitische Sehstil hat so auch eine Zurichtung des Blicks auf die Materialität des Bildes (nun weniger als Bildträger denn als Bildobjekt
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im Sinne der Phänomenologie verstanden) zur Folge. Diese Materialität ist nicht mehr zwangsläufig als dem Bild vorgängig bestimmt, sondern kann durch Wahrnehmungspraktiken hervorgebracht oder aber negiert werden. Gudrun Swoboda stellt in ihrem Beitrag materielle Zurichtungen ins Zentrum, die zugunsten einer Präsentationsweise von Bildern durchgeführt werden. Am Beispiel zweier unterschiedlicher Präsentationsformen der kaiserlichen Galerie in Wien unter Kaiser Karl VI. und später unter Josef II. wird aufgezeigt, wie durch bestimmte Eingriffe verschiedene Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der ausgestellten Werke hervorgebracht werden, die sie zuerst vom höfischen Dekor in ein barockes Ensemble und später gar in ein öffentliches Kunstmuseum transformierten. Swoboda weist dabei auf die materiellen Zurichtungen hin, die diese neuen Präsentations- und Deutungsweisen überhaupt erst ermöglicht haben und damit noch vor dem ›neuen‹ Blick auf die Werke ausgeführt werden mussten: Übermalungen, die Ikonografien und Gattungszugehörigkeiten verändern, Beschneidungen, Formatangleichungen sowie Ergänzungen von Gemälden sind nötig, um eine gewünschte Präsentationsweise zu erreichen, die immer auch mit einer neuen Semiotisierung zusammengeht.
VIII. Bildontologien Grundlegende Festlegungen, die bereits ›vor dem Blick‹, also vor der Rezeption eines konkreten Bildes, erfolgen und die Betrachtung zugleich maßgeblich prägen, ergeben sich nicht zuletzt aus impliziten Vorannahmen zu der Frage, was Bilder im Kern eigentlich sind. In der Regel werden individuelle Rezipient:innen nicht eigens ref lektieren, wie sie den Begriff des Bildes definieren, was sie Bildern zutrauen und welche Beziehungen zwischen Bild und Betrachter:innen sie für möglich oder sinnvoll halten. Derartige meist implizite Vorentscheidungen beeinf lussen jedoch in hohem Maße, wie die Möglichkeitsräume der Rezeption einzelner konkreter Bilder eingegrenzt werden. Der Beitrag von Wolfram Pichler macht darauf aufmerksam, dass es zu kurz greifen könnte, diese Fragen allein theoretisch-systematisch beantworten zu wollen. So sehr es sich lohnt, darüber nachzudenken, was Bilder im Allgemeinen kennzeichnet, so ist doch unübersehbar, dass der ontologische Status von Artefakten, die wir heute mit guten Gründen Bilder nennen, durchaus unterschiedlich begriffen werden konnte und kann. So führt Pich-
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ler für den Umgang mit den in Bildern angelegten Widerstreiten mindestens drei Optionen an: Auf diese Spannungen könne man damit antworten, »(1) dass man sich auf die problematischen Bildinhalte nur in fiktionaler Redeweise bezieht, (2) Begriffsanpassungen vornimmt, um die Spannung aufzulösen, oder (3) dass man die unaufgelöste Spannung als solche zu einem Gegenstand ästhetischer Erfahrung macht.«76 Mit allen drei Wahlmöglichkeiten verbinden sich grundlegende ontologische Entscheidungen, die ihrerseits Vorfestlegungen für Praktiken im Umgang mit Bildern implizieren. Zugleich aber dürften es eingeübte, routinisierte, habitualisierte oder institutionalisierte Praktiken sein, die diese im Regelfall nicht ref lektierten Entscheidungen verstetigen und stabilisieren. Unsere Überlegungen haben ihren Ausgang von Differenzen zwischen dem Iconic Turn und dem Pictorial Turn genommen, denen – sehr holzschnittartig vereinfachend formuliert – entweder, wie im Fall der Bildwissenschaften, ein allzu allgemeiner ontologisierender Zug vorgeworfen oder aber, im Fall der Visual Culture Studies, eine sozialkonstruktivistische Überbetonung der kontextuellen Faktoren angelastet wurde. Lenkt man das Augenmerk auf eine Pluralität von Bildontologien, die konkrete Bildpraktiken maßgeblich vorprägen, zugleich aber durch sie kontinuiert werden, so zeichnet sich erneut die Möglichkeit einer dritten Alternative ab: Bildexterne Kontexte und Fragen der Bildontologie müssen nicht zwangsläufig gegeneinander ausgespielt werden, sondern könnten gerade auch in ihrer wechselseitigen Verwobenheit von Interesse sein. Philippe Descola hat in seinem Buch Pardelà nature et culture auf der Basis umfangreicher ethnologischer Forschungen einen umfassenden Vorschlag vorgelegt, wie dem europäisch geprägten ontologischen Denken alternative Ontologien zur Seite gestellt werden können, die in anderen Weltregionen dem menschlichen Handeln und dem Denken über das Verhältnis von Mensch und Natur zugrunde liegen.77 Das Nachdenken über Bilder und unseren Umgang mit ihnen könnte vermutlich von einem analogen Projekt profitieren, das die Pluralität der Bildontologien zu entfalten hätte. Im Lichte der hier skizzierten Überlegungen könnte sich ein solches Vorhaben nicht darauf beschränken, eine Geschichte der Bildtheorie und des diskursiv ausgetragenen Bilddenkens zu rekonstruieren. Bildontologische Vorentscheidungen und Implikationen konstituieren und 76 Wolfram Pichler in diesem Band, 277. 77 Vgl. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur [franz. Orig. 2005], Berlin 2011.
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manifestieren sich indes gerade auch in jenen vielfältigen Zurichtungen, die dieser Band mit exemplarischen Studien in den Blick zu nehmen versucht. Die Beiträge dieses Bandes gehen in weiten Teilen auf die internationale Tagung »Vor dem Blick: materiale, mediale und diskursive Zurichtungen des Bildersehens« zurück, die vom 9. bis zum 11. Mai 2019 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld stattgefunden hat. Die Tagung wurde konzipiert und ausgerichtet vom Teilprojekt C01 »Bild-Vergleiche. Formen, Funktionen und Grenzen des Vergleichens von Bildern« innerhalb des Sonderforschungsbereichs »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« (SFB 1288). Wir danken den Vortragenden und Teilnehmer:innen für die ertragreichen Diskussionen, deren Ergebnisse auch für die Erstellung dieses Bandes zentral waren. Unser Dank gilt außerdem den anonymen Gutachter:innen, die mit ihren Stellungnahmen im Rahmen des Peer-ReviewProzesses von Bielefeld University Press hilfreiche Hinweise gegeben haben. Bei Robert Eibers und Philipp Flüß möchten wir uns – erneut und umso herzlicher – für die umsichtige Mitarbeit an der Redaktion des Bandes bedanken. Für die organisatorische sowie finanzielle Unterstützung im Rahmen der Tagung wie auch der Publikation richtet sich unser Dank an den Sonderforschungsbereich und die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
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»Sie mögen von Vernunft reden soviel sie wollen« Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Vernunftbild und das Scheitern einer textlichen Zurichtung des Blicks Léa Kuhn Abstract: Dieser Beitrag ist einem Sonderfall der diskursiven Einhegung des Bildlichen gewidmet: Als Johann Heinrich Wilhelm Tischbein sein großformatiges Vernunftbild am Oldenburger Hof abliefert, hat er vorab bereits einen Text dazu verfasst und ihn dem Empfänger des Gemäldes vorlesen lassen. Der vorliegende Aufsatz fragt nach der Motivation für diese aufwendige Inszenierung und analysiert die Dynamiken, die sich zwischen Text und Bild entfalten. Tischbeins Doppelsendung zeugt vom intensiven Nachdenken in der Zeit um 1800 über Leistungen und Grenzen des Bildlichen sowie über die Konstitution von Bedeutung. Ein Blick auf die Reaktionen von Zeitgenoss:innen zeigt aber auch: Die Deutung eines Gemäldes lässt sich nicht dauerhaft arretieren, schon gar nicht per vorausgeschicktem Text.
Zwei nackte männliche Figuren reiten einträchtig nebeneinander her, ihre Gesichter sind einander zugewandt. Hinter sich her schleifen sie prächtige erlegte Tiere. Als Betrachter:in erblickt man die beiden Jäger allerdings nur von hinten und muss sich folglich mit der Rückenansicht der muskulösen Reiter begnügen. Von ihren potenziellen Beobachter:innen vor dem Gemälde scheinen die Männer keinerlei Notiz zu nehmen; sie sind vollständig absorbiert von ihrer Zweisamkeit, so möchte man meinen ‒ eine Art ›erstes Menschenpaar‹ ohne weiblichen Part. Das Motiv, das der Forschung noch immer als »Tischbeins geheimnisvollste Bildkomposition«1 gilt, hat der Maler in 1 So die Formulierung in Michael Eissenhauer/Hans-Werner Schmidt (Hg.), 3 x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Johann Friedrich August Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (Ausst.-Kat. Kassel, Neue Galerie; Leipzig, Museum der Bildenden Künste), München 2005, 120. Peter Reindl hat vorgeschlagen, in den beiden
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gleich mehreren Fassungen realisiert. Neben zeichnerischen Umsetzungen haben sich drei malerische Ausführungen erhalten, von denen zwei aus den 1780er Jahren datieren und eine weitere von 1821/1822. Für diese letzte Fassung schließlich hat Tischbein das Motiv um ein ausführliches Begleitheft ergänzt, das die (vermeintlichen) Umstände der Bildfindung schildert ‒ und das den hauptsächlichen Adressaten des Gemäldes noch vor dem eigentlichen Bild erreichen sollte. Diese späte Textbeigabe ist in mindestens zwei Hinsichten interessant. Zunächst einmal fällt im Kontext des vorliegenden Bandes auf, dass es sich um eine Form der diskursiven Zurichtung des Bildersehens handelt, die durch den Maler selbst vorgenommen wurde. Wenn auch bislang nicht systematisch als eigene Quellengattung unter diesem Aspekt betrachtet, bilden von Künstler:innen verfasste Schilderungen der Entstehungsumstände von Werken ‒ so beiläufig und trivial diese auch im Einzelnen erscheinen mögen ‒ eine nicht zu unterschätzende produktionsästhetische Rahmung, die den Blick auf ebenjene Werke (re)konfiguriert. Darüber hinaus ist im Fall von Tischbein auch der Zeitpunkt der Schilderung der Entstehungsumstände bemerkenswert. Beinahe dreißig Jahre nach der Fertigstellung der ersten Gemäldefassung erscheinen ihm die Umstände der Motivfindung nun schilderungswürdig zu sein: Während die vorausgegangenen Versionen offenkundig für sich stehen konnten, verlangt die dritte Fassung nach einer textuellen Ergänzung. Warum also sieht Tischbein erst im Fall der letzten Gemäldeversion die Notwendigkeit einer vorausgeschickten schriftlichen Kommentierung ‒ mithin einer massiven textlichen Rahmung des visuell Dargebotenen? Ich möchte im Folgenden eine Deutung vorschlagen, die die Unterschiede der Gemäldeversionen fokussiert und dabei insbesondere das Begleitschreiben zur letzten Fassung ins Zentrum der Analyse stellt. nackten Reitenden ein verkapptes Freundschaftsbild für Goethe zu sehen, kann dafür jedoch keine überzeugenden Argumente anführen: Peter Reindl, Tischbein und Goethe oder Kastor und Pollux. Ein Maler zwischen barocker Idylle und klassizistischer Ratio, in: Kulturstiftung der Länder (Hg.), Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Die Stärke des Mannes, Neapel 1789 (Patrimonia, 167), Eutin 1999, 8-57, zur Freundschaftsbildthese 42f. Siehe für eine Beschreibung der Frankfurt Fassung auch Petra Maisak/Gerhard Kölsch, Die Gemälde. »… denn was wäre die Welt ohne Kunst?«. Bestandskatalog. Freies Hochstift, Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt a.M. 2011, 312-314, und für die Oldenburger Fassung Herbert Wolfgang Keiser, »Des Mannes Stärke« und andere Bilder für das Schloß zu Oldenburg von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Oldenburg 1973, 4, 17-19.
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Die bereits erwähnte dritte und letzte Fassung des Gemäldes geht auf einen Auftrag von Peter I., Prinzregent des Herzogtums Oldenburg, zurück, in dessen Diensten sich Tischbein als Hofmaler und Galeriedirektor bereits seit 1808 befand. Bevor nun aber das sogenannte Vernunftbild den dafür vorgesehenen Platz im Weißen Saal des Oldenburger Schlosses einnehmen konnte, musste sich der Empfänger noch etwas gedulden. In einem Brief Tischbeins an den Adjutanten des Prinzregenten, Alexander von Rennenkampff, heißt es nämlich zum ausstehenden Gemälde: »Sie sagen, ich mache Ihnen den Mund wässerig und schicke doch das Bild nicht. Wie gerne hätte ich es schon längst geschickt […].«2 Es folgen Ausführungen, die unterschiedlich gelagerte Gründe für die Verzögerung der Lieferung benennen. Sodann kündigt Tischbein an: »Ich schicke Ihnen den Anlass, wie es entstanden ist, hierbei mit der Bitte, es Ihrer Durchlaucht dem Erbprinzen vorzulesen.«3 Der Text, der dem Bild ganz buchstäblich vorausgeht und der dem Prinzregenten akustisch dargeboten werden sollte, wurde von Tischbein dem Brief beigelegt. Das erhaltene, heute im Landesmuseum Oldenburg aufbewahrte kleine Heft trägt den Titel »Anlass zur Entstehung des Vernunftbildes«, vorne aufgeklebt ist außerdem eine Zeichnung, die einen älteren, etwas untersetzten Reiter mit Hut zeigt (Abb. 1).4 Es enthält eine elfseitige, handschriftlich verfasste Schilderung, wie der Maler im Jahr 1787 unmittelbar nach der Rückkehr von der gemeinsamen Neapelreise mit Goethe einem Mann zu Pferde begegnet sei, der ihn zu jenem Gemälde animiert habe. Die Umstände der Begegnung und die daraus resultierenden Überlegungen zum Bild werden genau beschrieben – Peter I. soll sich also zunächst mit einer Schilderung der Genese des Werkes zufriedengeben. 2 Tischbein an Alexander von Rennenkampff, Eutin, 2. März 1822, zit.n. Friedrich von Alten (Hg.), Aus Tischbein’s Leben und Briefwechsel mit Amalia Herzogin zu Sachsen-Weimar, Friederich II., Herzog zu Sachsen-Gotha…, Leipzig 1872, 327. 3 Von Alten, Aus Tischbein’s Leben, 328. Reindl, Tischbein und Goethe, 32, Fußnote 42, meint, Tischbein habe das Heft gemeinsam mit dem Gemälde übergeben. Der vorliegende Brief belegt aber, dass der Text vorab zugeschickt wurde. 4 Heft in gefalztem Umschlag, Landesmuseum Oldenburg, Inv. Nr. LMO 15.427. Ich danke Frau Dr. Anna Heinze, Kuratorin für Bildende Kunst am Landesmuseum Oldenburg, herzlich für ihre Unterstützung und Hilfsbereitschaft sowie für die Bereitstellung des Materials. Alle Zitate beziehen sich auf das Oldenburger Original, im Folgenden zitiert als Anlass 1822. Der Wortlaut des Textes ist auch abgedruckt zu finden in Keiser, Des Mannes Stärke, 11-14, und in Kulturstiftung der Länder (Hg.), Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Die Stärke des Mannes, Neapel 1789, Eutin 1999, 61-64, hier allerdings in modernisierter Schreibweise.
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Abb. 1: Anlass zur Entstehung des Vernunf tbildes, Hef tumschlag mit aufgeklebter Zeichnung. Landesmuseum Oldenburg. Was allenfalls wie ein Teaser, eher wie eine kaum befriedigende Vertröstung anmuten mag, stellt, so möchte ich im Folgenden zeigen, nicht nur eine präskriptive Zurichtung des Blicks auf das sogenannte Vernunftbild dar, sondern impliziert eine mindestens doppelte Überschreibung. Um diese sichtbar zu machen, ist es notwendig, sich nicht – oder zumindest nicht gleich – in die Position des ungeduldigen Oldenburger Prinzregenten zu begeben, der zuerst dem Text von Tischbein lauschen soll, bevor er einen Blick auf das für ihn bestimmte Bild werfen darf. Stattdessen möchte ich mich ausschnitthaft der Chronologie der Tischbein’schen Ummalungen und Umschreibungen des Motivs widmen, das ihn über viele Jahre begleitete, um dann abschließend auf die Effekte jener vorbeugend verabreichten Schilderung der (sorgfältig ausgewählten) Entstehungsumstände zurückzukommen. Dabei sollte deutlich werden, dass die Varianten des Motivs, die Tischbein über mehrere Jahre hinweg schafft, wie auch die paratextartige Hinzufügung zur letzten Fassung aussagekräftig sind im Hinblick auf sich wandelnde Bildkonzepte um 1800 und die damit verbundenen Aporien, in die ein Maler wie Tischbein dann gerät.
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I. Naturmenschen Als sich Tischbein zum ersten Mal dem Sujet der zwei nackten Reitenden widmete, geschah dies in Rom, während des zweiten, mehrjährigen Aufenthalts des Malers in der Stadt. Diese erste Ölfassung des Gemäldes (Abb. 2), die sich heute im Frankfurter Goethe-Museum befindet, ist dementsprechend mit »Wilh: Tischbein f/Roma 1787« signiert. In ihr hatte der Maler ganz offensichtlich eine Urszene menschlichen Lebens in ihren frühesten Anfängen imaginiert. Wie sich aus mehreren Quellen ableiten lässt, firmierte die Bildkomposition wohl damals unter dem Titel »Des Mannes Stärke«.5
5 So wörtlich überliefert in Tischbeins Autobiografie, wo es über die römische Fassung heißt: »Ich nannte es ›des Mannes Stärke‹.« Carl G. W. Schiller (Hg.), Aus meinem Leben von J. H. Wilhelm Tischbein, 2 Bde., Braunschweig 1861, Bd. 1, 98. Der Passus entstammt einem zwar verhältnismäßig früh verfassten Teil der Lebenserinnerungen, den Tischbein ab 1810 niederschrieb, damit jedoch trotzdem in einem deutlichen zeitlichen Abstand zur Entstehung des Gemäldes. Zur komplizierten Editionsgeschichte von Tischbeins Schrift siehe Stefanie Rehm, Die Editionsgeschichte der Lebenserinnerungen von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, in: Oldenburger Jahrbuch 116 (2016), 163-180, Stefanie Rehm, Tischbein und die Kunst des ›Goldenen Zeitalters‹. Rezeptionsgeschichte(n) um 1800, Heidelberg 2020, 22-37, und ‒ mit Blick auf die Polyauktorialität von Tischbeins ›Autobiografie‹ ‒ Saskia Pütz, »… umgearbeitet und eingeschaltet, so daß schließlich etwas herauskam, das … nur zu einem Viertel Tischbein war«. Künstler und ihre Autobiografen im 19. Jahrhundert, in: Matthias Krüger/Léa Kuhn/ Ulrich Pfisterer (Hg.), Pro domo. Kunstgeschichte in eigener Sache, Paderborn 2021, 109-130. Obgleich der Wortlaut des Titels also erst gut zwanzig Jahre nach der Fertigstellung des römischen Bildes dokumentiert ist, fällt auf, dass auch schon zeitgenössische Betrachter:innen der 1780er Jahre in erster Linie den Aspekt der männlichen Stärke im Gemälde realisiert sahen. So spricht etwa Giuseppe-Antonio Guattani, der noch im Mai 1787 als erster eine Beschreibung des Gemäldes veröffentlicht hatte, von »due uomini robusti«, vgl. GiuseppeAntonio Guattani, [Beschreibung von Tischbeins Gemälde], in: Memorie per le belle Arti, Mai 1787, 104. Auch Aloys Hirt sieht in den beiden Dargestellten »zwey Menschen in ihrer Urstärke«, wie er in einem aus demselben Jahr datierenden Brief an Johann Heinrich Merck deutlich macht: Aloys Hirt an Johann Heinrich Merck, Rom, 30. Juni 1787, zit.n. Ulrike Leuschner (Hg.), Johann Heinrich Merck. Briefwechsel, 5 Bde., Göttingen 2007, Bd. 4, 444. Lange Zeit galt der Forschung Ludwig Philipp Strack als Autor der hier zitierten Gemäldebeschreibung; die inzwischen unstrittige Zuschreibung an Hirt geht auf Martin Dönike zurück, siehe Martin Dönike, »Diese hier beygelegte Nachrichten sind mir von H. Hirt mitgetheilt worden«. Anmerkungen zur ersten Beschreibung von Tischbeins Gemälde »Goethe in der Campagna di Roma«, in: Goethe-Jahrbuch 118 (2001), 354-359.
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Abb. 2: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Des Mannes Stärke (I), 1787, Öl auf Holz, 56,5 x 73,8 cm. Frankfurt a.M., Freies Deutsches Hochstif t, Goethe-Museum. Die dargestellte Szene lässt sich als eine Art adamitische Szene ohne Frauen beschreiben, deren Ausschluss ganz offenkundig mit ihrer vermeintlich defizitären physischen Konstitution zu tun hat: Wo Kraft und körperliche Stärke als Leitthemen auftreten, ist das ›schwache Geschlecht‹ wohl schlicht nicht gefragt.6 Stattdessen zeigt das Gemälde im Bildvordergrund zwei 6 Tischbein hatte sich bereits im Vorjahr in Rom in seinem Gemälde Hektor wirft Paris seine Weichlichkeit vor relativ dezidiert mit einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit auseinandergesetzt; das Bild wurde von Mildenberger überzeugend auch als Konkurrenzbild zu David gedeutet: Hermann Mildenberger, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Hektor wirft Paris seine Weichlichkeit vor. Ein Konkurrenzbild zu Jacques-Louis David von 1786 und die Folgen, in: Kulturstiftung der Länder (Hg.), Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Hektor wirft Paris seine Weichlichkeit vor und mahnt ihn, in den Kampf zu ziehen (Patrimonia, 253), Berlin 2003, 19-52. Vor diesem Hintergrund könnte auch die auffallend helle Haarfarbe der beiden Reiter auf eine nationale Grundierung hindeuten, die die beiden Männer möglicherweise als ›nicht-französisch-effeminiert‹ markieren würde. Siehe zu Männlichkeitskonzepten in der französischen Malerei um 1800: Mechthild Fend, Grenzen der Männlichkeit. Der Androgyn in der französischen Kunst und Kunsttheorie 1750-1830, Berlin 2003, und Satish Padiyar, Chains. David, Canova, and the Fall of the Public Hero in Postrevolutionary France, University Park, Pa. 2007.
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nackte, kräftige Männer, die soeben von der Jagd heimkehren. Ihre Beute könnte kaum größer und triumphaler ausfallen: Während der eine einen Adler mit Pfeil und Bogen erlegt hat, war der andere im Kampf mit einem Löwen siegreich. Im Hintergrund bezeugen zwei Menschen, die einen großen Fisch davontragen, dass neben der Luft und dem Land auch das Element des Wassers bezwungen wird. Bei diesem archaischen Kräftemessen mit der Natur scheinen die Tiere vor die Wahl gestellt zu werden, entweder in den Dienst des Menschen zu treten oder aber erlegt zu werden. In einer ansonsten beinahe identischen, nur zwei Jahre später in Neapel entstandenen Fassung des Gemäldes (Abb. 3) akzentuiert der abgeknickte, lanzenartige Blütenstand einer Agave die erfolgreiche Behauptung des Menschen gegenüber seiner Umwelt noch zusätzlich: Durch die kompositorische Parallelisierung des Agavenstiels mit der Lanze, die der rechte Reiter mit sich führt, erscheint es fast so, als ob im Bild demonstriert würde, wie aus der Pf lanze als Rohstoff der Natur die (ersten) Waffen des Menschen werden.
Abb. 3: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Des Mannes Stärke (II), 1789, Öl auf Leinwand, 67 x 81,00 cm. Eutin, Ostholstein-Museum.
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In beiden Fassungen bleibt der Status der dargestellten Naturmenschen dabei jedoch ambivalent. Der Einsatz von Waffen lässt keinen Zweifel an ihrer Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch. Außerdem scheint sich im Bild ein Moment der Perfektibilität abzuzeichnen: Während die beiden Fischfänger noch zu Fuß ihre Beute heimtragen, sind die Löwen- und Adlerjäger zu Pferd unterwegs. Sie haben die Natur bereits gezähmt, wie neben den domestizierten Reittieren etwa auch der treu hinterhertrottende Hund sinnfällig macht. Andererseits sind die Bildprotagonisten unbekleidet und die auffällige, als schwarzes Loch klaffende Höhle im Mittelgrund lässt offen, ob darin jene Naturmenschen wohnen oder aber deren animalische Kontrahenten, etwa der Löwe. Die räumliche Nähe zur Urbehausung verweist in jedem Fall auf die enge Verwandtschaft von Natur und Naturmenschen.7 Und auch die eher karge Umgebung ‒ es dominieren Felsformationen und ein ausgetretener Trampelpfad in braunen Erdtönen ‒ lässt wenig Zweifel daran, dass der Prozess der Urbarmachung noch lange nicht abgeschlossen ist.8 Aloys Hirt, der in einem Brief vom Juni 1787 die erste deutschsprachige Beschreibung des Gemäldes unternimmt, fasst die gezeigten Figuren unzweifelhaft als vorkulturelle Wesen auf. So schreibt er: Der Künstler wollte das Reich des Menschen über andere Thiere der Erde vorstellen. Zu diesem Endzweck versezte er sich mit der Phantasie in jene Zeiten der Menschheit, worin sie ihrer Kindheit noch nahe weder Künste noch Wißenschaften kannte, sondern allein bemüht war, die ersten sinnlichen Bedürfniße zu befriedigen, und sich gegen andere Thiere sicher zu stellen.9 Für Rousseau-bewanderte zeitgenössische Betrachter:innen wie Hirt liegt der Gedanke an naturständische Ursprünglichkeit nahe: Die gezeigten Men7 Siehe zum Höhlenmotiv als Urbehausung auch Fritz Emslander/Petra Maisak (Hg.), Reise ins unterirdische Italien. Grotten und Höhlen in der Goethezeit (Ausst.-Kat. Freies Deutsches Hochstift Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt a.M.), Karlsruhe 2002, 173f. 8 Schon Guattani hat auf die seiner Meinung nach feindlich anmutende Umgebung hingewiesen: Tischbein habe »[…] figurato un paese piuttosto orrido, e deserto […].« Guattani, [Beschreibung], 1787, 104. 9 Aloys Hirt an Johann Heinrich Merck, Rom, 30. Juni 1787, zit.n. Leuschner, Merck Briefwechsel, 444. Auszüge aus dem Brief wurden Anfang 1788 im Teutschen Merkur veröffentlicht, sodass davon ausgegangen werden kann, dass das Bildmotiv zumindest in der textuellen Form von Hirts Beschreibung schnell eine weite Verbreitung erfuhr.
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schen sind nicht in einem Familienverbund organisiert, sie betreiben keinen Ackerbau und es bestehen offenkundig auch noch keine Besitzverhältnisse. Als Hinweis auf die Rousseau’sche Kategorie der pitié kann darüber hinaus die zwischen den Naturmenschen herrschende Eintracht aufgefasst werden:10 Ihr paarweises Auftreten und, im Fall der beiden berittenen Jäger, ihre vertraute Zugewandtheit, die formal umgesetzt wird durch ihre spiegelbildliche Anordnung, zeugen von der zwischen ihnen herrschenden Gleichheit und primitiven Harmonie. Auch eine Äußerung Goethes, die sich zwar nicht auf das fertige Gemälde, aber auf eine zeichnerische Umsetzung des Sujets bezieht, weist in eine ähnliche Richtung. Diese Zeichnung assoziiert er – zumindest in der Rückschau der Italienischen Reise – mit dem Gedankengut Jakob Bodmers, der zeitgenössisch auch als ›Schweizer Rousseau‹ apostrophiert wurde.11 Unter dem 7. November 1786 notiert er in Zusammenhang mit dem »höchstmerkwürdigen Blatte«:12 10 Auf Deutsch erstmals in folgender Ausgabe erschienen: Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe, Berlin 1756, zum Mitleid als einer »natürlichen Tugend« des Menschen vor allem 81-85. Rousseau spricht diese Tugend jedoch auch Tieren zu, wenngleich in abgeschwächter Form, was die Nähe von Mensch und Tier im »Stande der Natur« zusätzlich unterstreicht. Vgl. zur Konjunktur des Autors im deutschsprachigen Raum auch Herbert Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland, Berlin 1994. 11 So etwa dokumentiert in einem Brief: »[…] Breitinger et Bodmer; ce sont nos Socrate ou Rousseau, et vos amis.« Leonard Usteri an Rousseau, Zürich, 20. Januar 1763, zit.n. Albert M. Debrunner, Das güldene schwäbische Zeitalter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert (Epistemata Literaturwissenschaft, 170), Würzburg 1996, 30. 12 Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz, 2 Bde., Berlin 2011, Bd. 1, 141. Goethe führt die ins Bild gesetzte menschliche Überlegenheit gegenüber der Tierwelt allerdings auf List und nicht auf Stärke zurück. Auf welche zeichnerische Version sich Goethe bezieht, kann nicht eindeutig festgestellt werde. Auf den ersten Blick wäre naheliegend, die aquarellierte Federzeichnung des Motivs aus dem Berliner Kupferstichkabinett (abgebildet in Reindl, Tischbein und Goethe, 30) damit zu identifizieren. Die Datierung des Blattes auf 1786 scheint mir allerdings nicht zutreffend zu sein, da mehrere Details wie das fehlende Höhlenmotiv und die Art und Weise, wie der Hund dargestellt ist, auf die Oldenburger Zeit und damit auf eine Datierung nach 1808 hinweisen. In Goethes eigener Sammlung befand sich eine (wenngleich nicht datierte) elaborierte aquarellierte Federzeichnung des Sujets, die motivisch eindeutig der römischen Fassung folgt, aber natürlich auch nach dem Gemälde entstanden sein könnte (heute in der Klassik Stiftung Weimar befindlich, abgebildet in Reindl, Tischbein und Goethe, 44). Zu Goethes Sammlung siehe Johannes Grave, Der »ideale Kunstkörper«. Johann Wolfgang Goethe als Sammler von Druckgraphiken und Zeichnungen, Göttingen 2006.
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Durch den Aufenthalt bei Bodmer sind seine Gedanken auf die ersten Zeiten des menschlichen Geschlechts geführt worden, da, wo es sich auf die Erde gesetzt fand, und die Aufgabe lösen sollte, Herr der Welt zu werden.13 Und tatsächlich hatte Tischbein während seines achtzehnmonatigen ZürichAufenthalts in den Jahren 1781/1782 eine enge Zusammenarbeit mit Jakob Bodmer verbunden, wie etwa das Zürcher Selbstporträt des Malers mit seiner Hommage an den Schweizer Philologen verdeutlicht.14 Dessen Anliegen, der als dekadent und ›verbildet‹ empfundenen eigenen Gegenwart entgegenzutreten und ihr mit dem Antidot der ›Einfalt der alten Zeiten‹ zu begegnen, animierte Tischbein insbesondere in seiner Zürcher Zeit zur Suche nach einer ursprünglicheren Bildsprache, die wegführt von vermeintlich verkünstelter Rokokoästhetik.15 Für das nur fünf Jahre später entstandene römische Bild ist also zu überlegen, ob nicht auch hier eine Übereinstimmung besteht zwischen einer betont schlichten, einfachen Bildsprache und dem gewählten ›rohen‹ Sujet. Zu den erdigen Farben des Gemäldes gesellt sich ein kräftiger, wenig raffinierter Pinselstrich, der die dargestellten Naturmenschen möglicherweise auch zu Verkörperungen einer nicht minder kraftvollen malerischen Rückbesinnung werden lässt. Hinzu kommt, dass Tischbein ‒ zumindest in der ersten, römischen Fassung ‒ das Motiv in Öl auf Holz realisierte; der Einsatz einer solchen ›alten Technik‹ könnte auch hinsichtlich des Malgrundes auf einen gezielt gewählten Archaismus hindeuten.
13 Goethe, Italienische Reise, Bd. 1, 141. 14 Hier hat Bodmer einen Auf tritt als Bild an der Atelierwand. Vgl. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Einer den andern gemahlt, 1782, Öl auf Leinwand, 81 x 65,3 cm. Frankfurt a.M., Freies deutsches Hochstif t, Goethe-Museum. 15 Zu Tischbeins Zürcher Selbstporträt und der darin realisierten Figur der Rückwendung zu einer unverbrauchteren Bildsprache siehe Léa Kuhn, Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Malerei um 1800, Paderborn 2020, Kapitel 1: »Anschauliche Kunstgeschichte«, besonders 38-63. Zu Bodmers Anliegen einer Rückbesinnung auf eine positiv konnotierte Vorzeit siehe auch Wolfgang Bender, Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Stuttgart 1973, S. 30-43, und Debrunner, Das güldene schwäbische Zeitalter, 1996, 21-27.
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Festhalten lässt sich in jedem Fall, dass die dargestellten Reiter ‒ sollte die Szene tatsächlich bei Zeitgenoss:innen in erster Linie Assoziationen an naturständische Ursprünglichkeit wachgerufen haben, wie es die Äußerungen von Hirt und Goethe nahelegen ‒ denkbar weit von einer Verbildlichung des Prinzips der ›Vernunft‹ entfernt sind: Nicht umsonst grenzt Rousseau den »Stande der Natur« vom »Stande der grübelnden Vernunft« ab.16 Für das Empfinden der pitié wird umgekehrt sogar die Abwesenheit von Vernunft zur Voraussetzung: »Der Wilde […] überläßt sich dem ersten Eindrucke der Menschlichkeit; weil er weder Vernunft noch Weisheit besitzt.«17 Es ist also in einer Rousseau’schen Perspektive genau die Abwesenheit von Vernunft, welche die ins Bild gesetzte naturständische Harmonie überhaupt ermöglicht. Die gut dreißig Jahre später entstandene Oldenburger Version sollte dann allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen stehen.
II. Kulturwesen Bereits die Wahl des Titels zeigt die fundamentale Veränderung an, die die Szene mit den beiden berittenen Jägern erfahren hat: Wo es zuvor um die Kraft des Mannes ging, steht jetzt im monumentalen, gut drei auf vier Meter messenden Oldenburger »Vernunftbild«18 (Abb. 4) dessen geistige Kapazität 16 Rousseau, Abhandlung, 84. 17 Rousseau, Abhandlung, 84. 18 Der Titel »Vernunf tbild« ist erst für die Oldenburger Fassung belegt und impliziert, wie bereits deutlich geworden sein dürf te, eine deutliche Akzentverschiebung. Umgekehrt firmiert auch die letzte Fassung teilweise noch unter dem ursprünglichen Titel »Die Stärke des Mannes/Des Mannes Stärke«, so etwa durch Tischbein selbst in seiner Autobiografie, s. Schiller, Aus meinem Leben, 244. Diese teils fluide Betitelung hat sicherlich auch zu einiger Verwirrung in der Forschung geführt, die in der Regel die Titel synonym verwendet und gar nicht erst versucht, diese den einzelnen Fassungen zuzuordnen. Dabei wird jedoch übersehen, dass das semantische Feld ›Vernunf t‹ erst in der letzten Fassung hinzukommt. Darüber hinaus werden alle drei Gemäldeversionen in der Forschungsliteratur auch unter dem Titel »Kastor und Pollux« geführt. Dieser Titel ist jedoch durch keine Quelle belegt; vielmehr scheint er mir auf die Überlegungen von Peter Reindl zu möglichen ikonografischen Vorlagen Tischbeins zurückzugehen, der neben dem Reiterstandbild Marc Aurels vor allem die Dioskuren auf dem Kapitol sowie die beiden Rossbändiger vom Dioskurenbrunnen auf der Piazza al Quirinale als Motivvorlagen diskutiert, vgl. Reindl, Tischbein und Goethe, 35-42. Aus der zudem nur lose
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Abb. 4: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Vernunf tbild, 1821, Öl auf Leinwand, 306,0 x 427,0 cm. Oldenburg, Landesmuseum Oldenburg. im Mittelpunkt. Dabei wird erstaunlicherweise das Bildpersonal weitestgehend beibehalten – die Umpolung der Szene von ›Körper‹ auf ›Geist‹ spielt sich also nur mittelbar auf ikonografischer Ebene ab. Trotzdem könnte der Kontrast kaum größer ausfallen. Die erdigen Farben sind einem verklärt-pastelligen Grundton gewichen. Während sich die zwei naturständischen Jäger in der sie umgebenden Landschaft befanden, blicken ihre zwei Oldenburger Pendants von einer Anhöhe in die Ebene hinab. Links erhebt sich ein Hochgebirge, das, gemeinsam mit dem gewittrigen Himmel beinahe lehrbuchartig den Topos des Erhabenen bedient. Die nun gewählte Untersicht auf die beiden Reiter zeigt an, dass man es mit ›hohen Wesen‹ zu tun hat. Die beiden jetzt im Hinblick auf ihr Alter voneinander abgestuften Reiter vermeiden dabei nicht nur eventuelle homoerotische Konnotationen der zwei Fassungen aus den 1780er Jahren. Mit der Aufgabe der vorgegebenen motivischen Ähnlichkeit abzuleiten, dass die beiden Reitenden deshalb auch Kastor und Pollux darstellten, scheint mir allerdings eine zu starke Verengung der Deutung zu sein.
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zeitlichen Gleichheit der beiden Männer tritt auch die Frage von Tradierung und damit von einer zeitlichen Entwicklung in den Vordergrund. Offenkundig scheidet die Generationen ihr Umgang mit Nacktheit: Während der ältere Mann noch immer nackt und ohne Sattel reitet, ist der Jüngere der beiden mit einem Leopardenfell bekleidet und buchstäblich gesettelt: Eine Tigerhaut trennt ihn vom Pferderücken – von einer Generation zur nächsten zeichnet sich ein klarer Zugewinn an zivilisatorischer Finesse ab. Es versteht sich von selbst, dass die schwarze Höhle nicht mehr vorhanden ist. Der Prozess der Urbarmachung ist längst abgeschlossen, die beiden Fischträger sind der Schifffahrt gewichen, wie ein Segelboot im rechten Bildhintergrund sinnfällig macht. Von Anfang an ist der Mensch nun ein Kulturwesen, das sich durch seinen Symbolgebrauch auszeichnet. Das Überschauen von Land fungiert dabei als ein traditioneller Herrschaftsgestus, bei dem sich die Umgebung und die beiden Reiter gegenseitig bespiegeln. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass die Lust am Erhabenen etwa in Kants Konzeption genau in dem Moment entsteht, in dem das Subjekt nicht beim Schrecken verharrt, sondern bemerkt, dass die Vernunft dieser Herausforderung gewachsen ist und es selbst nicht unmittelbar bedroht ist.19 Auch ihre Fähigkeit zum Genuss am Erhabenen bestätigt die zwei Männer also als Vernunftwesen. Dass in der Oldenburger Version der zivilisatorische Fortschritt der Menschheit, die stete Verfeinerung, ins Bild gesetzt werden soll und gerade nicht mehr der Blick auf eine naturständische Vorzeitlichkeit mit ihren zwangsläufig kulturkritischen Implikationen in Bezug auf die eigene Gegenwart wie im römischen Bild, zeigt auch das von Tischbein entwickelte Begleitprogramm in den Supraporten.20 Auf den vier Tafeln wird 19 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraf t, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, B 97, 98. 20 Tischbein sieht hierfür vier Bilder vor, später ergänzt er zwei weitere, die jedoch nicht mehr unmittelbar auf das Vernunftbild bezogen sind, vgl. Keiser, Des Mannes Stärke, 1973, 26. Den Entschluss, die Vernunft zum zentralen Thema des Raumes zu machen, wurde von Tischbein ebenfalls schriftlich mitgeteilt. So heißt es in dem bereits zitierten Brief an Rennenkampff vom 2. März 1822, der der Gemäldesendung vorausging: »Ich möchte nun gern, dass alle die Bilder, welche in dieses Zimmer kommen, sich auf den Vorzug der Vernunft bezögen.« Brief an Rennenkampff, zit.n. Von Alten, Aus Tischbein’s Leben, 1872, 328. Nach der Fertigstellung des Vernunftbildes nahm Tischbein für den Saal noch eine Ergänzung in Angriff, die, realisiert im Thema von Hermann und Thusnelda, den »Mann als Beschützer der Schwäche« zeigen sollte, vgl. dazu Keiser, Des Mannes Stärke, 1973, 22f. Der Saal war jedoch nie in der Gesamtschau mit den zwei Gemälden und den Suprapor-
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die Entwicklung der Menschheit als solcher allegorisch am Lebenszyklus eines einzelnen Menschen erzählt. Als zunächst hilf loses Kleinkind (Abb. 5) erlangt dieser allmählich Kenntnis, indem er von seiner Mutter zu einem Weltweisen gebracht wird (Abb. 6). Der entscheidende Entwicklungsschritt vollzieht sich jedoch erst im dritten Bildfeld und gilt der musischen Bildung, mit der eine moralische Reifung einherzugehen scheint (Abb. 7): Zu sehen ist eine Darstellung des musizierenden Orpheus, der Menschen und Tiere gleichermaßen in seinen Bann zu ziehen weiß. In einer Aufzählung der für ten zu sehen, da die dafür vorgesehenen Felder vom Prinzregenten in der Zwischenzeit bereits mit Stuckarbeiten versehen worden waren, vgl. ebd., 16f.
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Abb. 5-8: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Die Entwicklung der Menschheit, das Vernunftbild ergänzende Supraporten, Öl auf Leinwand, jeweils 71 x 130 cm. Oldenburg, Landesmuseum Oldenburg. die Supraporten gewählten Bildsujets, die den Abschluss des sogenannten Anlasses bildet, heißt es über das entsprechende Gemälde, Orpheus erwecke »durch die Musik bey den rohen Menschen die edlern und höhern Gefühle des Gemüths«.21 In der letzten Tafel dann (Abb. 8) gibt der nun selbst zum weisen Greis Gewordene sein Wissen an die nächste Generation weiter. Das 21 Anlass 1822, unpaginiert.
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Begleitheft bestätigt den erfolgreichen Bildungsweg, der im umfänglichen Gebrauch der Vernunft mündet, und führt zum nun gealterten Bildprotagonisten aus: »wenn er Vernunft anwendet, kann er das thun, was wir im großen Bilde sehen, kann Schädliches dämpfen und nützliches erwecken.«22 Die bemerkenswerte Umwandlung der beiden Reiter von animalischen Natur- zu edlen Kulturwesen scheint also längst vollzogen und soll im Oldenburger Programm wohl auch nicht mehr sichtbar sein. Warum die Vernunftwesen allerdings überhaupt noch als Jäger in Erscheinung treten, erschließt sich dabei nicht ganz. Zwar gibt es Hinweise, dass Tischbein zum damaligen Zeitpunkt bestimmte, nämlich karnivore Tiere ‒ zu denen auch Löwe und Adler zu zählen wären ‒ als denkend apostrophiert. So assoziiert der Maler in einem im Vorjahr an Goethe adressierten Brief solche Tiere und Menschen, die Fleisch essen, mit ›ernsten Denkern‹, wohingegen kräuterfressende Tiere und gemütliche Menschen für ihn eine eigene (Gegen)Gruppe bilden.23 Dass etwa der Löwe dementsprechend ein ›denkendes Tier‹ ist, versucht Tischbein auch visuell in den dem Brief beigegebenen Zeichnungen herauszuarbeiten: Die tiefe Stirnfalte von Löwe und Katze zeugt vom Bemühen, die denkerische Anstrengung der Tiere physiognomisch anschaulich zu machen.24 Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus vorstellbar, dass 22 Anlass 1822, unpaginiert. 23 Die Passage lautet: »Und ich finde, daß ein Uebergang von den vollkommeneren Thieren im Menschengeschlecht liegt; und alle Kunstfähigkeiten, welche die Thiere einzeln besitzen, die alle insgesammt liegen im Menschengeschlecht. Und dadurch entstehet das beständige Mit- und Gegenwirken. […] Ich lege ein paar Zeichnungen bey, von Thiere, welche sich von Kräutern nähren, und Menschen, die denen aehnlig sind. Den andere Thiere, welche sich von Fleisch nähren, und Menschen, die Aehnlichkeit mit dießen haben, das sind ernste Dencker [sic!] und sind bestimt. Da mir die Kenntniß der Sprache fehlt, so wird mir das Schreiben schwer, und ich werde mich beschränken müssen nur die zwey Arten zu geben, die denen kräuterfressenden und die den fleischfressenden Thieren ähnlich sind. Erstere nenne ich Gemüthliche und letztere Denker.« Brief Tischbeins an Goethe, Eutin, 28. August 1821, zit.n. Wolfgang von Oettingen, Goethe und Tischbein, Weimar 1910, 26. 24 Tischbeins ausgeprägtes Interesse an der Verwandtschaft menschlicher und tierischer Physiognomien mag mit den erst 1806 zusammenhängend publizierten Studien Lebruns zur Physiognomik in Verbindung stehen, vgl. Louis-Marie-Joseph Morel d’Arleux, Dissertation sur un traité de Charles le Brun, concernant le rapport de la physionomie humaine avec celle des animaux, Paris 1806. Ich danke Joris Corin Heyder für den Hinweis, siehe dazu auch Thomas Kirchner, Physignomie als Zeichen. Die Rezeption von Charles Le Bruns MenschTier-Vergleichen um 1800, in: Gudrun Gersmann/Hubertus Kohle (Hg.), Frankreich 1800, Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten, Stuttgart 1990, 34-48.
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Tischbein für sein Oldenburger Gemälde im Triumph der Menschen als Vernunftwesen über die animalischen ›ernsten Denker‹ Löwe und Adler eine Art Entwicklungslinie der denkenden Tiere und Menschen realisiert sieht. Es dürfte aber zweifelhaft bleiben, ob es sich dabei um eine weit verbreitete Vorstellung handelt, die von Tischbein als allgemeine Rezeptionshaltung für sein Gemälde vorausgesetzt werden kann. Auffallend ist in jedem Fall, dass er das Oldenburger Vernunftbild (Abb. 4) gleich mit einer doppelten, nämlich bildlichen und textlichen Rahmung versieht, in Form des Anlasses sowie der beigeordneten Supraporten. Wie eingangs erwähnt, ging jedoch die Versendung des Anlasses der Zustellung des Gemäldes an Peter I. von Oldenburg deutlich voraus. Wie der vorausgeschickte Text und das eigentliche Gemälde miteinander interferieren, soll in den folgenden zwei Abschnitten eingehender betrachtet werden. Dabei geht es auch um die Frage, wie dauerhaft eine solche textlich übermittelte Zurichtung des Blicks auf ein Bild wirken kann.
III. Elevationen Der »Anlass zur Entstehung des Vernunftbildes«, wie außen auf dem Umschlag des Heftes zu lesen ist, soll ganz offensichtlich auf das (veränderte) Sujet einstimmen.25 Wenn auch die von Tischbein geplante Choreografie eine mündliche Darbietung des Textes vorsah, verweist allein die aufwendige Präsentation des sorgfältig ins Reine geschriebenen Heftes darauf, dass dieses wohl ebenfalls vom Prinzregenten in die Hand genommen und betrachtet werden sollte.26 Von den insgesamt knapp zwölf eng beschriebenen 25 Ob Peter I. die früheren Gemäldefassungen kannte, kann nicht eindeutig geklärt werden. Von der römischen Version gibt es jedoch mehrere Zeichnungen, die mit Sicherheit zirkuliert haben dürften. Hinzu kommt, dass die zitierte Gemäldebeschreibung Aloys Hirts Anfang 1788 im Teutschen Merkur veröffentlicht wurde. Angesichts des weiten Leser:innenkreises der Zeitschrift muss davon ausgegangen werden, dass das Bildmotiv in der textuellen Form von Hirts Beschreibung mit ihrer dezidierten Rousseau’schen Lektüre schnell eine weite Verbreitung erfahren und von sich reden gemacht haben dürfte. So halte ich es für wahrscheinlich, dass Tischbein in jedem Fall zumindest vorbeugend agierte und sich absicherte, falls der Prinzregent die älteren Fassungen vor Augen gehabt haben sollte. 26 Reindl meint zwar, das Schriftstück sei eigenhändig, vgl. Reindl, Tischbein und Goethe, 61; erhaltene autografe Briefe Tischbeins aus den 1820er Jahren tragen in der Regel jedoch nur noch eine eigenhändige, mit zitternder Hand platzierte Unterschrift, während die eigentlichen Briefe von anderer Hand geschrieben sind. Es muss also davon ausge-
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Seiten entfallen zehn auf die Schilderung der Begebenheiten der Motivfindung im Rom der 1780er Jahre sowie auf die Wiedergabe von Betrachterreaktionen auf das fertige Gemälde, lediglich die letzten beiden Seiten listen zusätzlich das Programm der Supraporten auf. Teilweise auf verschiedene Sprecherpositionen verteilt, benennt der Text an gleich mehreren Stellen, was das Bild zeigt oder, genauer, zeigen soll. Auffallend ist dabei, wie sehr die Offensichtlichkeit der Darstellung betont wird, die nicht den geringsten Zweifel lasse, was das eigentliche Thema des Gemäldes sei. Dies geschieht etwa, indem auf die enge Kopplung von gewählten formalen Gestaltungsmitteln und dargestelltem ›Inhalt‹ verwiesen wird: »Im ganzen bildet die Gruppe des Gemäldes eine Pyramide, wo der Mensch als höchste Spitze auf dem edeln Thier sitzt […].«27 Über die (mehr oder weniger) pyramidale Bildkomposition soll sich folglich allein schon die göttliche Ordnung als übergeordnetes Bildthema mitteilen, die den Menschen an der Spitze der Schöpfung verortet. Wie zur Bestätigung lässt Tischbein zusätzlich noch zwei Zeitgenossen zu Wort kommen, die selbstverständlich sofort verstehen, worum es in dem Bild geht: [Die beiden] sagten, man erkenne gleich daß der Mann Herrscher über alle Geschöpfe sey. Die welche ihm nutzen, schützt er, und die schädlichen werden sie [sic!] von ihm vertilgt. Aber was höher ist als das, ist die Sprache, und durch diese Mittheilung der Gedanken: einer verbessert des andern Anschläge, und sie vereinigen sich zu einer gemeinschaftlichen Unternehmung wodurch ein Wort zu Stande kommt, das einen zwingt daran zu erkennen, daß der Mensch das vorzüglichste Geschöpf sey.28 Dass die Menschen sich die Tierwelt untertan machen, ist also in der Perspektive des Anlasses zwar hervorzuheben, nicht jedoch das Kernelement dieses fest installierten Anthropozentrismus. Wichtiger als die Dominanz über die gangen werden, dass er das Dokument hat ins Reine schreiben lassen. Hinzu kommt Tischbeins manifestes Orthografie-Problem, das bereits in den 1780er Jahren allgemein bekannt war, vgl. dazu Kuhn, Gemalte Kunstgeschichte, 70-72. Ähnlich wie bei seiner Autobiografie kann auch im Fall des Anlasses die (alleinige) Autorschaft Tischbeins mit Recht in Zweifel gezogen werden. Entscheidend ist dabei jedoch, dass Anlass und Oldenburger Gemälde als Wirkungseinheit konzipiert zu sein scheinen. 27 Anlass 1822, unpaginiert. 28 Anlass 1822, unpaginiert.
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anderen Geschöpfe der Erde ist, so erfährt man aus dem Gespräch der beiden fiktiven Bildbetrachter weiter, die Fähigkeit des Menschen zum sprachlichen Ausdruck. Die dezidierte Betonung des Menschen als Sprachwesen erweckt dabei jedoch zugleich den Eindruck, als ob dem Vernunftbild in seiner Funktion als eben solchem nicht ganz zu trauen sei: Die Physis wird hier mit Nachdruck logifiziert. Erst der Text, so könnte man schließen, macht die Menschen folglich zu jenen Sprachwesen, als die das Vernunftbild sie eigentlich vorstellen soll ‒ zu sehen sind schließlich immer noch Jäger. Und auch die im Anlass wiederholt bemühten Formulierungen, wonach sich das Dargestellte den Betrachtenden sofort zeige, führt zu einer interessanten Spannung: Mit ihrem Insistieren auf einer besonders engen Verbindung von Form und Gehalt, die, etwa in Bezug auf die pyramidale Komposition, einen unmittelbaren Zugang zum Bildthema garantieren soll, erinnern die Textpassagen an das von den ›Weimarer Kunstfreunden‹ vertretene Ideal eines ›sich selbst aussprechenden Kunstwerks‹.29 Im Falle des Anlasses jedoch wird das Gemälde gerade daran gehindert, ›sich selbst auszusprechen‹: Der Prinzregent soll schließlich nur akustisch vernehmen, was man angeblich sofort im Gemälde erkennen kann ‒ die behauptete unmittelbare Qualität des Gemäldes wird über einen mündlich vorgetragenen Text und unter Absehung jeglichen Anschauungsmaterials der finalen Bildversion vermittelt. Die sermonartig wiederholten Einlassungen scheinen daher in erster Linie einer Einübung dessen gleichzukommen, was es zu sehen gilt, sobald das tatsächliche Gemälde dann geliefert wird. Ob diese gelingt und überhaupt gelingen kann, bleibt natürlich fraglich. Neben dieser ›Eintrichterung‹ des Bildsujets, die sagt, was man unbedingt sehen soll, enthält der Text, wie eingangs erwähnt, eine ausführliche Schilderung zur Motivfindung und zur Entstehung der Bildidee. Diese produktionsästheti29 Ich danke Johannes Grave für diesen Hinweis. Zur im Anschluss an Karl Philipp Moritz entwickelten Vorstellung des sich selbst aussprechenden Kunstwerks, die in den Propyläen stark propagiert wurde, siehe etwa Daniel Ehrmann, Bildverlust oder Die Fallstricke der Operativität. Autonomie und Kulturalität der Kunst in den ›Propyläen‹, in: Daniel Ehrmann/Norbert Christian Wolf (Hg.), Klassizismus in Aktion. Goethes ›Propyläen‹ und das Weimarer Kunstprogramm, Wien u.a. 2016, 123-173, besonders 146-155. Die wiederholte Betonung, dass das Thema des Bildes sich den Betrachtenden sofort erschließe, steht außerdem in einem spannungsvollen Verhältnis zu der frontispizartigen ersten Seite des Anlasses, die eher der Idee des Kunstwerks als Hieroglyphe anzuhängen scheint. Hier ist eine Sphinx abgebildet, die mit den folgenden Worten unterschrieben ist: »Anmuthige Gefälligkeit, Colerische Kraft, und geistige Leichtigkeit | soll ein Kunstwerk enthalten | Dem Menschen bleibt vielen ein unauflösbares Räthsel.«
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sche Passage möchte ich nun herausgreifen und abschließend eingehender analysieren. An ihr lässt sich nämlich besonders gut nachvollziehen, in welch paradoxes Verhältnis der vorausgeschickte Text zum Gemälde tritt. Die Schilderung setzt ein kurz nach der gemeinsamen Neapelreise mit Goethe im Jahr 1787. Während der Dichter nach Sizilien weiterreiste, kehrte Tischbein nach Rom zurück. Die anstrengende Kutschfahrt und die Hitze lassen den Maler nicht schlafen. Und so berichtet er: Kaum graute der Tag so stand ich auf und ging ins Freie. Hier sah ich einen Mann gegen mich heran reiten, der, weil es noch am Morgen früh war, mir im Nebel größer erschien wie er würklich war. Er hatte ein braunes Schaaffell um und vor sich ein Paar Lämmer übers Pferd liegen, die an der Seite herunter hingen. Diese große dunkle Manneserscheinung, eingehüllt im braunen Samtfell, auf einem schwarzen Pferde sitzend, machte meine Phantasie rege. Ich überdachte in weitem Umfang was der Mensch sey, und wie er erhaben über alle Geschöpfe herrsche. Er macht sie sich unterthan nutzt sie zu seinem Gebrauch, holt sie aus den Forsten, von den Höhen, fängt sie auf den ausgebreiteten Ebenen; keins kann ihm entgehen. Er eignet sich es zu. Er schlachtet es, zieht ihm das Fell aus und kleidet sich damit. Bereitet das Fleisch sich zum Leckerbissen, beladet ein andres Thier damit, setzt sich selbst darauf und läßt sich hintragen wo es ihm beliebt zu speisen.30 Dem Bild liegt, so berichtet es der Text, also offenkundig eine konkrete sinnliche Erfahrung zugrunde. Mit ihr korrespondiert die aquarellierte Zeichnung auf der Außenseite des Heftes, die einen in dunklen Tönen wiedergegebenen Reiter vor der Porta del Popolo in Rom zeigt, der sich optisch wenig von seinem Reittier abhebt (vgl. Abb. 1). Der nur undeutlich im Nebel zu erkennende Mann löst in Tischbein unmittelbar ein Nachdenken über die ›Natur des Menschen‹ aus. Seine Überlegungen zur materiellen Anverwandlung, die der Mensch seiner Umwelt angedeihen lässt ‒ vom Tier zum 30 Anlass 1822, unpaginiert. Die Schilderung, wie Tischbein angeblich seinem Motiv begegnet sei, findet sich auch schon in dessen (damals allerdings unpublizierter) Autobiografie: Schiller, Aus meinem Leben, 97f. Außerdem haben zwei berittene Jäger mit reicher Jagdbeute ihren Auftritt in der sogenannten Eselsgeschichte. Hier firmiert einer von ihnen als Nimrod, vgl. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Eselsgeschichte oder Der Schwachmatikus und seine vier Brüder der Sanguinikus, Cholerikus, Melancholikus und Phlegmatikus nebst zwölf Vorstellungen vom Esel, hg. von Gudrun Reindl-Scheffer, Oldenburg 1987, 62.
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Kleidungsstück, zum Essen oder zum Transportmittel ‒, verharren jedoch bezeichnenderweise auf der Ebene der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse, die Aloys Hirt auch als zentrales Element der Bildhandlung der ersten Gemäldefassung ausgemacht hatte. Nachdem der Maler dann nach einer indirekten Begegnung mit Martin Luther, der »vor 300 Jahren« den hehren Entschluss gefasst habe, »den Fanatismus durch die Vernunft«31 zu verdrängen, sich auf den Heimweg macht, kann er, sozusagen geläutert, sich der Sinneswahrnehmung noch einmal annehmen. Dort heißt es: Als ich auf dem Rückweg zu Hause, auf die Stelle kam wo mir vorher der Mann zu Pferde begegnete, fiel er mir wieder ein, und [ich] dachte, dies sey ein Gegenstand zum malen [sic!], nur müsse er veredelt werden, denn Schafe die am Pferde hängen, ist ein erbärmlicher Gegenstand.32 Sodann setzt der von Tischbein angestrebte ›Veredelungsprozess‹ seines zukünftigen Sujets ein und er fährt fort: Und als ich im Zuhausegehn die Treppe hinaufstieg, fiel mir von Stufe zu Stufe ein, schönere Geschöpfe zusammen zu bringen: den Menschen, das Pferd, den Hund, den Löwen, und wie ich auf die höchste Stufe kam, fiel mir der Adler ein. Ich ging gleich dabey diese Geschöpfe zusammen zu bringen […].33 Der Maler muss erst die Treppenstufen zu seiner Wohnung erklimmen, um von seiner Sinneserfahrung abstrahieren zu können: Im buchstäblichen Aufsteigen Tischbeins installiert sich hier also »von Stufe zu Stufe« jene Ordnung, die den Menschen als Vernunftwesen an der Spitze der Schöpfung verortet. Erst auf der höchsten Stufe fällt dem Maler dann der Adler ein – es bedarf sozusagen des Greifvogels, um zu be-greifen. Mit der Stufenmetaphorik reaktiviert Tischbein traditionelle Scala naturae-Vorstellungen, denen zufolge jedes Element der ›großen Kette der Wesen‹ seinen festen Platz im Seinsgefüge hat. Auch hier ergibt sich bereits ein Bezug zum übergeordneten Thema des avisierten Gemäldes, denn je höher ein Lebewesen auf der 31 Anlass 1822, unpaginiert. 32 Anlass 1822, unpaginiert. 33 Anlass 1822, unpaginiert.
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Stufenleiter zu verorten ist, umso größer ist bekanntlich seine Teilhabe an der Idee der Vernunft.34 Was im Bild als Herrschaft des vernunftbegabten Menschen über die Tierwelt dargestellt sein soll, wird als textliches Motiv im Anlass also bereits eingeführt. Darüber hinaus beschreibt das stufenweise Treppenerklimmen aber auch den künstlerischen Prozess, der dem malerischen Werk zugrunde liegen soll. Dieses Aufstiegsnarrativ gilt dem Weg von der Sinneswahrnehmung hin zur Bildidee. Es bedarf der Transformation oder, wie Tischbein schreibt, der Veredelung der Wahrnehmung, um zu einem würdigen Bildgegenstand zu kommen: Tischbein folgt hier einer klassischen idea-Konzeption, nach der das in der Natur Vorgefundene der Auswahl und Idealisierung bedarf. Erst am Ende der stufenweisen Transformation, die gewissermaßen Schafe in Adler umwandelt, steht das Vernunftbild. Da Tischbein auch die Ebene der Sinneswahrnehmung durch die Skizze ins Bild setzt, wird jener Prozess, der ihn von der Aisthesis zur Vernunft aufsteigen lässt, auch visuell anschaulich – zumindest in dem Moment, wenn Heft und Gemälde gemeinsam vorliegen, was spätestens drei Wochen nach Erhalt des Heftes der Fall war, wie ein vom 20. März 1822 datierendes Dankesschreiben des Prinzregenten dokumentiert.35 Zunächst allerdings scheint die akustische Darbietung vor allem den Abstraktionsprozess von der sinnlichen Wahrnehmung zu akzentuieren: Wenn man davon ausgeht, dass dem Prinzregenten das Heft kurz gezeigt worden sein dürfte, bevor der eigentliche Vortrag erfolgte, wurde dem Adressaten des Anlasses die Sinneswahrnehmung Tischbeins an der Porta del Popolo über die Zeichnung auf dem Heftumschlag verdeutlicht, während die eigentliche Bildidee dann aber nur als gesprochenes Wort und damit möglicherweise in einer ›reineren Form‹, jedenfalls abgelöst von der Materialität der Schrift, dargeboten wurde. Auch die Vorführung des Anlasses vollzog also durch die gewählten Präsentationsmedien die Aufwärtsbewegung von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung hin zur komplexeren Bildidee nach.
34 Siehe dazu Lovejoys Standardwerk: Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a.M. 1985, und für bildliche Ausprägungen der populären frühneuzeitlichen Denkfigur das entsprechende Themenheft der Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen: Marc Föcking et al. (Hg.), Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 37 (2016), Nr. 1/2. 35 Peter I. an Tischbein, Oldenburg, 20. März 1822, zit.n. Von Alten, Aus Tischbein’s Leben, 252.
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Mit der gleich mehrfach vorkommenden Figur des Aufsteigens nimmt der Anlass eine Bewegung vorweg, die dann auch dem von den Supraporten f lankierten Oldenburger Gemälde (Abb. 4) als übergeordnetes Thema eingeschrieben sein soll: die stete Verfeinerung des Menschen als Kulturwesen. Diese den ursprünglichen Gemäldeversionen diametral entgegengesetzte Lesart ist mit Sicherheit auf Peter I. als Förderer der Künste gemünzt, dessen eigene Kultiviertheit ein Echo in jenen edlen ersten Menschen finden soll. Darüber hinaus gilt die Aufwärtsbewegung aber wohl auch dem Maler selbst, der diese für seine künstlerische Praxis ebenfalls zu beanspruchen scheint: Tischbeins eigener Werdegang wird damit lesbar als ein Prozess der steten Verfeinerung in künstlerischer Hinsicht. So verwundert es nicht, dass Tischbein im bereits zitierten Brief an Goethe seinen Ausbildungsweg als Abschreiten der ›großen Kette der Wesen‹ darstellt. Dort fordert er Goethe auf, nachzuvollziehen »[…] wie ich bey den unbedeutendsten Geschöpfen, die doch mechanische Künste besitzen, meine Untersuchung über den Menschen angefangen habe, und bin vom Insect stufenweis höher durch alle Thierarten in die Höhe gestiegen bis zum Menschen.«36 Auch das Oldenburger Gemälde kann und soll – durch die Brille des Anlasses betrachtet – als Resultat jenes künstlerischen Verfeinerungsprozesses angesehen werden. Dem Gemälde inhärent ist damit auch ein Moment der Gattungselevation: Über die stilllebenartige Anordnung der toten Tiere im Bildvordergrund arbeitet sich der Maler gewissermaßen empor bis zum Menschen und der Allegorie des Vernunftbildes. Über die Schilderung der Bildentstehung will der Text Tischbein mithin schon vorab als ›Vernunftmaler‹ installieren und unterstreicht so en passant, dass dem Oldenburger Hof als Inbegriff der kulturellen Verfeinerung nur ein Maler auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Entwicklung gerecht werden kann.
IV. Richtungsänderungen Tischbein betreibt, wie deutlich geworden sein dürfte, einen relativ großen Aufwand, um den Blick des Oldenburger Prinzregenten auf sein Gemälde auch ja in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Notwendigkeit zu einer derartigen massiven verbalen Vereindeutigung der dargestellten Szene scheint sich dem Maler vor dem Hintergrund seiner eigenen früheren Fassungen des 36 Tischbein an Goethe, Eutin, 28. August 1821, zit.n. Oettingen, Goethe und Tischbein, 26.
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Motivs aufzudrängen, die mit demselben Bildpersonal eine radikal verschiedene Urszene menschlichen Lebens entwerfen: Tischbeins eigene Varianten des Motivs führen mit Nachdruck die ikonografische Offenheit der dargestellten Szene vor Augen, die erst eine (allerdings im Modus der Selbstverständlichkeit eines sich vermeintlich selbsterklärenden Motivs vorgebrachte) diskursive Zurichtung des zu Sehenden erforderlich macht. Der sogenannte Anlass zur Entstehung des Vernunftbildes vollzieht dabei eine zweifache Ersetzung. Zum einen werden die in Rom und Neapel gemalten Ölversionen als Vorgeschichte mit einer idealistischen Entstehungsszene überschrieben, die die Sinneseindrücke direkt umwandelt in die Idee zum sogenannten Vernunftbild. Folgt man dem Narrativ des Anlasses, fasst Tischbein sofort den Entschluss, die Szene als Triumph der Vernunft malerisch realisieren zu wollen; die tatsächlich in den 1780er Jahren entstandenen Rousseau-inspirierten Fassungen werden gezielt ausgelassen. Zum anderen erfahren jene Elemente des finalen Gemäldes, die zurückverweisen auf die älteren Ölfassungen des Motivs, ‒ die Körperlichkeit, die physische Kraft, das Jagen ‒ gewissermaßen eine Logifizierung, indem sie im Text durch reine Sprache ersetzt werden, wie auch die dargestellten ersten Menschen im Anlass ausdrücklich als Sprachwesen adressiert werden. Da Tischbein es aber nicht beim Anlass belässt, sondern schon drei Wochen später das eigentliche Gemälde an seinen Auftraggeber verschickt, funktioniert die Überführung in Sprache nur zeitweise. Sobald das Gemälde vorliegt, entstehen neue Reibungen zwischen verbaler Ankündigung und tatsächlichem Gemälde ‒ der Anlass vermag die Uneindeutigkeit des Gemäldes nicht dauerhaft zu fixieren. Für die Annahme, dass Bild und Text nicht ganz so geschmeidig ineinandergreifen und folglich auch die Zurichtung des Blicks weniger erfolgreich ist, als es sich Tischbein erhofft haben mag, gibt es gleich mehrere Indizien.37 Dies gilt in besonderem Maße für die produk37 Dies mag auch damit zu tun haben, dass Tischbein kein begnadeter Autor ist. Während der für seinen ›rohen Ausdruck‹ in den 1780er Jahren gefeierte Maler stets betonte, kein Mann der Worte zu sein und lieber zu malen als zu schreiben, scheint Tischbein in späteren Jahren mehr von dieser Haltung abgewichen zu sein, vgl. zu Tischbeins damaligen Insistieren auf einer Eigenlogik der Malerei Kuhn, Gemalte Kunstgeschichte, 63-76. Auch die jüngst erst als ein Gemälde Tischbeins identifizierte Darstellung von Dichtung und Malerei (jetzt im Museo Casa di Goethe in Rom) dokumentiert Tischbeins in den 1780er Jahren vertretene Auffassung, die Schwesterkünste seien zwar ›in Freundschaft‹ verbunden, aber doch grundverschieden in ihren Ausdrucksmöglichkeiten, vgl. dazu Michael
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tionsästhetische Passage des Anlasses, die den Weg von der Begegnung mit dem Bildmotiv hin zur eigentlichen Bildidee beschreibt, da diese die Persistenz der geweckten Assoziationen zu unterschätzen scheint. So gut sich nämlich die Schilderung der Begegnung mit dem Schafsbauern eignet, um den Abstraktionsprozess anschaulich zu machen, erkauft sich der Text damit zugleich die Dekomposition des finalen Gemäldes: Ist erst einmal ausgesprochen, dass Adler und Löwe eigentlich herabhängende Schafe sind, sieht man als Betrachter:in diese auch mit im finalen Gemälde. Der produktionsästhetische Paratext akzentuiert folglich unwillkürlich die sinnliche Vorlage und entfaltet mit dem Verweis auf die profane Herkunft der vermeintlich edlen Tiere auch eine die Komposition zergliedernde Wirkung. Damit entsteht eine Bewegung, die zurückverweist auf die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung, so sehr sich der Anlass auch um die Illustration der entgegengesetzten Richtung bemühen mag. Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass der im Text unternommene Versuch, Sinnlichkeit in Vernunft zu überführen, vom Nebeneinander von Anlass und Gemälde konterkariert wird. Je stärker nämlich der Text auf Sprache beharrt und auf dem Menschen als vernünftigem Sprachwesen, umso deutlicher wird, dass man es doch mit einem Bild zu tun hat, bei dem jene versuchte Logifizierung gar nicht vollständig gelingen kann. Auch wenn der Anlass Gegenteiliges behauptet, erblickt man im Bild noch immer Jäger, ganz abgesehen davon, dass die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung im Fall eines Gemäldes zwangsläufig als solche erhalten bleibt. Die Diskrepanz zwischen Text und Bild wird also umso deutlicher, sobald beide gemeinsam vorliegen. Dabei verändert nicht nur der Anlass den Blick auf das Gemälde ‒ auch das Bild betreibt eine Arbeit am Text. Diese Beobachtungen scheinen sich zu bestätigen, wenn man die wenigen überlieferten zeitgenössischen Reaktionen auf Tischbeins Text-Bild-Offensive auswertet. So äußert sich der ebenfalls am Oldenburger Hof tätige Jurist Ludwig Starklof in einem Brief an Tischbein aus dem Jahr 1823 sehr wohlwollend über das im Vorjahr fertig gestellte Gemälde. Auffallend ist allerdings, dass der als führender Intellektueller des Kleinstaats geltende Starklof Tischbeins Gemälde dort als »das Löwenbild« adressiert, eine Titelwahl, die er mit folThimann, Über die Grenzen von Malerei und Poesie. Zur Entdeckung eines Gemäldes von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, in: Hermann Mildenberger (Hg.), Die Entdeckung eines Gemäldes. J.H.W. Tischbein, Allegorie der Dichtung und Malerei, Rom 1783, Rom 2019, 27-46. Noch Tischbeins spät realisiertes Idyllen-Projekt mit Goethe steht ebenfalls im Zeichen einer solchen Zusammenarbeit der klar voneinander geschiedenen Künste.
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genden Worten begründet: »Sie mögen von Vernunft reden soviel sie wollen, ich nenn es, wie alle Welt, das Löwenbild«.38 Starklofs lapidarer Kommentar dokumentiert nicht nur, dass sich der von Tischbein favorisierte Name »Vernunftbild« zeitgenössisch ganz offensichtlich nicht durchsetzen konnte. Darüber hinaus macht er auch deutlich, dass der durch Tischbein vorgenommenen intensiven textlichen Rahmung für die zeitgenössische Semantisierung des Bildes offenbar eine nur nachgeordnete Rolle zukam und stattdessen der unmittelbare Seheindruck, den das Gemälde mit seinem spektakulären Löwenmotiv bei Zeitgenoss:innen hinterließ, ein von der verbal kommunizierten ›Bildbedeutung‹ unabhängiges Eigenleben in der Rezeption des Gemäldes entwickelte. Auch der Prinzregent selbst zeigt sich wenig beeindruckt von Tischbeins Aufforderung, was er im Gemälde erkennen soll. Zwar ergeht er sich in dem bereits erwähnten Dankesschreiben an Tischbein in Lobesbekundungen zum Gemälde, lässt aber schließlich durchblicken, dass ihm bei dem Motiv die Frauen fehlten. So betont er, dass die Sujetentscheidung die Absenz von Frauen natürlich legitimiere, damit aber zugleich dasjenige an Tischbeins Malerei wegfalle, was er sonst an dieser schätze, wenn er relativ explizit formuliert: »[…] der Gegenstand schloss das lebhafte der weiblichen Carnation aus, so wie die Zartheit des Ausdrucks, die man gerne in Ihren Gemälden bemerkt […].«39 Auch seine Reaktion kann also als Indiz dafür gewertet werden, dass die Vereindeutigung des Motivs durch den vorab verabreichten Text nicht restlos überzeugt und damit auch die textliche Einhegung letztlich nicht wirklich funktioniert, da gewisse, sonst geschätzte ›ästhetische Qualitäten‹ von Tischbeins Malerei auf diese Weise verloren gingen. Als Naglers Lexikon von 1848 dann meint, in Tischbeins Oldenburger Gemälde einen Mann und eine Frau zu Pferde zu erkennen,40 wird endgültig klar, dass sich Tischbeins Vorstellung einer Verbildlichung (männlicher) Vernunft als Bildsujet nicht durchgesetzt hat. Welche ›Bildbedeutung‹ sich für 38 Brief von Starklof an Tischbein, Oldenburg, 23. Februar 1823, zit.n. Keiser, Des Mannes Stärke, 34. 39 Peter I. an Tischbein, Oldenburg, 20. März 1822, zit.n. Von Alten, Aus Tischbein’s Leben, 252. 40 Im Wortlaut heißt es hier: »Ein Mann und ein Weib erscheinen zu Pferd mit der Jagdbeute, welche in einem erlegten Löwen und in einem Adler besteht.« Eintrag »Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm«, in: Georg Kaspar Nagler, Neues allgemeines Künstler-Lexicon oder Nachrichten von dem Leben und den Werken der Maler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Formschneider, Lithographen, Zeichner, Medailleure, Elfenbeinarbeiter etc., 22 Bde., München 183552, Bd. 18, München 1848, 517-23, hier 521.
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ein Gemälde schließlich auf die Dauer sedimentiert und welche nicht, liegt nicht (nur) in der Hand seines Schöpfers ‒ und sie lässt sich sicherlich nicht per beigegebener Erklärung präskribieren. Im Gegenzug allerdings zeugt Tischbeins Versuch, seinem Gemälde, das nichts Geringeres als das Verhältnis von Aisthesis und Vernunft ins Bild setzen soll, mit einem Text Nachdruck zu verleihen, von einem zeittypischen, von Tischbein in verschiedenen Medien ausgehandelten Ringen um die spezifischen Erkenntnispotenziale des Bildlichen, die erst in einer gemeinsamen Betrachtung von Vernunftbild und Anlass wieder sichtbar werden.
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»Sie mögen von Vernunft reden soviel sie wollen«
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Abbildungsnachweis Abb. 1: © Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Foto: Sven Adelaide. Abb. 2: Petra Maisak/Gerhard Kölsch, Die Gemälde. »… denn was wäre die Welt ohne Kunst?«. Bestandskatalog. Freies Hochstift, Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt a.M. 2011, 314. Abb. 3: Michael Eissenhauer/Hans-Werner Schmidt (Hg.), 3 x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Johann Friedrich August Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (Ausst.-Kat. Kassel, Neue Galerie; Leipzig, Museum der Bildenden Künste), München 2005, 121. Abb. 4: © Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Foto: Sven Adelaide. Abb. 5-8: © Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Foto: Sven Adelaide.
Weitsicht und Selbstbescheidung Blickmacht und Bilderzählung in der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (1567-1568) aus dem Umkreis Pieter Bruegels Michael F. Zimmermann
Abstract: Verfolgt man die Entstehung von Genrekonventionen zurück, so erweist sich das jeweils neue Bild als soziales Ereignis, nachvollziehbar durch eine überraschende mediale Erzählung. Doch statt nur neues Erleben ausgedrückt zu finden, sieht das Subjekt sich dabei auch mit sich selbst konfrontiert. In ›Weltlandschaften‹ erhebt sich der Blick über die Schöpfung, und zugleich wird auf den Blickenden als Geschöpf zurückgeschaut. Vom Triumph – und der Hybris – solcher Erlebnisse erzählt schon Petrarca 1336 in seinem fiktiven Aufstieg auf den Mont Ventoux. In der zweifach erhaltenen Landschaft mit dem Sturz des Ikarus will der Betrachter – wie Dädalus und sein hochfliegender Sohn – alles erfassen, während sich vorn ein Pflügender dem Boden und seiner Pflicht zuwendet. Im Antwerpen wie im Brüssel der 1560er Jahre blühte neben dem Kolonialhandel auch der mit Kunst und Grafik, bis ein erster Bildersturm hereinbrach. Dort wurde die neue, visuelle Weltbeherrschung Thema eines Reflexionsbildes, in dem die entstehende Landschaftsmalerei auch sich selbst erzählt.
I. Der implizite Betrachter als Thema der Landschaft Der Betrachtung einer Pieter Bruegel d. Ä. zugeschriebenen, phantastischen Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (Abb. 1 und 2) müssen ernüchternde Bemerkungen über den schlechten Erhaltungszustand und die unvollkommene Überlieferung vorausgeschickt werden. Der auf den ersten Blick überwältigende Bildvorwurf ist in zwei Versionen dokumentiert: einer stark abgeriebenen Leinwand und einer etwas kleineren Holztafel. Bald nachdem
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Abb. 1: nach Pieter Bruegel, Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, 1560er Jahre, vielleicht 1567-1568, Öl auf Leinwand, 73,5 x 112 cm. Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts.
Abb. 2: nach Pieter Bruegel, Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, 1560er Jahre, vielleicht 1567-1568, Öl auf Holztafel, 62,5 x 89,7 cm. Brüssel, Museum David und Alice van Buuren.
Weitsicht und Selbstbescheidung
das Leinwandgemälde im Jahr 1912 auf dem Kunstmarkt erschienen war und durch die königlichen Museen in Brüssel angekauft wurde, sah Max Jakob Friedländer darin ein abschließendes Meisterwerk Pieter Bruegels d. Ä. und datierte es auf dessen letztes Lebensjahr 1569.1 Im Jahr 1936 wurde ein zweite Variante des Gemäldes bekannt (Abb. 2).2 Die Sonne, der Ikarus dem Mythos gemäß, wie Ovid ihn erzählt, zu nahegekommen sein soll, steht hier noch hoch über dem Geschehen, statt wie auf der bekannten Leinwand hinter dem Horizont zu versinken. Zudem ist neben dem gleißenden Lichtkreis hoch am Himmel nun auch Dädalus zu sehen, der sich, folgt man dem Text, vergeblich nach dem ertrinkenden Sohn umblickt. Untersuchungen von Restaurator*innen haben unlängst nahegelegt, dass beide Fassungen des Stoffs nicht in den engeren Werkstattzusammenhang Pieter Bruegels gehören und auch keine seinem Sohn Jan Bruegel oder anderen Malern aus deren engerem Umkreis zuzuschreiben ist. Die technisch sichtbar gemachten Unterzeichnungen weichen zu sehr von den Strategien und dem Duktus des Vaters und des bei dessen Tod noch kindlichen Sohnes ab, wie er aus dem jeweiligen Œuvre bekannt ist. Schon vor den 2013 publizierten gründlichen Untersuchungen haben einige namhafte Kunsthistoriker*innen an der Authentizität beider Gemälde gezweifelt, wenige sogar daran, dass die Werke überhaupt auf eine Bildfindung des Meisters zurückgehen.3 In die große Bruegel-Ausstellung, die im Winter 2019-2020 in Wien gezeigt wurde, fand keines der Gemälde zu dem Thema Eingang.4 Jedoch überwiegt die Ansicht, dass sie auf eine verlorene Komposition des
1 Johannes Grave, Joris Corin Heyder und Britta Hochkirchen sowie Dominik Brabant danke ich für die sorgfältige Redaktion und zahlreiche Anregungen. – Max J. Friedländer, Pieter Bruegel, Berlin 1921, 114. 2 Philippe Roberts-Jones, Bruegel, La Chute d’Icare, Fribourg 1974, 14. 3 Christina Currie/Dominique Allard, Solving a Famous Controversy. Two Versions of the Fall of Icarus, in: Christina Currie/Dominique Allard (Hg.), The Breug[H]el Phenomenon. Paintings by Pieter Breugel the Elder and Pieter Breughel the Younger with a special Focus on Technique and Copying Practice (Scientia Artis, 8), 3 Bde., Brüssel 2012, Bd. 3, 844-878. Zweifel an der Authentizität nicht nur der Gemälde, sondern der Bildfindung äußerte zuerst: Édouard Michel, Bruegel, Paris 1931, 71ff. 4 Vgl. Elke Oberthaler/Sabine Pénot/Manfred Sellink et al. (Hg.), Bruegel. Die Hand des Meisters (Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum), Wien 2018 [gedruckter Katalog sowie digitale Publikation].
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Antwerpener Malers zurückgehen, der 1563 nach Brüssel übersiedelte.5 Wer sonst hätte eine auf Ovid zurückgehende Erzählung derart raffiniert visuell neu inszenieren und sich dabei, wie zu zeigen sein wird, auf die Ethik des Erasmus von Rotterdam und seiner besonders von der nahen Universitätsstadt Leiden aus wirkenden Schule beziehen können?6 Damit nicht genug der Unsicherheiten. Selbst unter den Spezialisten, denen die Erfindung des Sujets als authentisch gilt, ist die Datierung des verlorenen Originals umstritten. Zwar wird kaum daran gezweifelt, dass es an die großen Landschaftszeichnungen anschloss, die Bruegel von seiner Ita5 Vgl. Larry Silver, Pieter Bruegel, New York/London 2011, 126ff., der das meist »around 1555« datierte Gemälde »sometime around 1560« entstehen sah. 6 Denkbar wäre, dass die Komposition im Umkreis Roeland Saverys am Hofe Rudolf II. in Prag entstand. Ein 1612 erstelltes Inventar von dessen Prager Kunstsammlungen nennt eine Darstellung »Daedalus und Ikarus« von Pieter Bruegel; es bleibt jedoch unklar, ob es sich um das zur Diskussion stehende Gemälde handelt. Vgl. Jürgen Müllers Katalogeintrag in: Jürgen Müller/Thomas Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel. Das vollständige Werk, Köln 2018, 302. Einige Zeichnungen, die lange unumstritten als Werke Pieter Bruegels galten, hat Hans Mielke Roeland Savery oder seinem Bruder Jacob zugeschrieben – eine These, die allgemein akzeptiert wurde, da auf den Blättern offensichtlich böhmisches Volkstum gezeigt wird, vgl. dazu: Hans Mielke, Pieter Bruegel. Die Zeichnungen, Turnhout 1996. Auch: Roger H. Marijnissen, Bruegel. Das vollständige Werk, Antwerpen [1988] 2003, 17ff., 55ff. Am höchst gebildeten Prager Hof hätte auch ein Concetto wie das der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus ausgedacht werden können. Kaiser Rudolf II. war bekanntlich ein begeisterter Bewunderer Bruegels. Siehe: Thomas DaCosta Kaufmann, The School of Prague. Painting at the Court of Rudolf II, Chicago/London 1988, 11ff. Schließlich darf man vielleicht auch bestimmte stilistische Merkmale für von Bruegel inspiriert, jedoch nicht direkt auf ihn zurückgehend halten: der Kopf des pflügenden Bauern im Vordergrund wirkt in seiner skurrilen Kombination jugendlicher Rundung und harter Züge im Werk des Malers fremd. Selbst wenn man dem Himmel mehr Raum geben würde, so wäre das Arrangement der Komposition vergleichsweise verdichtet. Die Stufung der zum weiten Ausblick hin abfallenden Landschaft vom Vordergrund über den Mittelgrund zum Hintergrund geht zwar ohne Zweifel auf Kompositionstechniken zurück, die wir aus Bruegels Szenarios kennen, sie wirkt jedoch eigenwillig gedrängt, fast montageartig. Das Gemälde passt jedoch aufgrund des Schiffs – und seines diskursiven Kontexts, wie ich ihn im Folgenden zu rekonstruieren versuche – besser nach Antwerpen oder ins nahegelegene Brüssel als nach Prag. Erasmus und die Erasmianer in Löwen spielen für das kulturelle Gefüge, dem diese Bildfindung entstammt, vielleicht eher eine wichtige Rolle als der Prager Hof zu Ende des 16. Jahrhunderts. Da ich kein Spezialist für technische Gemäldeanalysen bin, möchte ich die Frage offenlassen. Möglich wäre auch, dass Bruegel eine verlorengegangene Vorlage schuf, eine der Versionen, die wir kennen, jedoch später in Prag entstand. Die im Folgenden vorgeschlagene Lektüre hängt nicht an der ganz tentativ vorgeschlagenen Datierung.
Weitsicht und Selbstbescheidung
lienreise von 1552-1553 mitbrachte, sowie an die Blätter der Großen Landschaften, die der Verleger Hieronymus Cock von verschiedenen Stechern 1557-1559 nach Bruegelschen Vorlagen anfertigen ließ.7 Ungewiss bleibt jedoch, ob die Komposition recht bald darauf folgte, also schon um 1560, oder erst später entstand, als der Künstler in der Darstellung der Figuren mehr Meisterschaft erlangt hatte, also nach Mitte der 1560er Jahre, etwa im Anschluss an die berühmten Jahreszeitenbilder.8 Ludwig von Baldaß datierte das Werk auf 1558; ihm folgten Autoren wie Charles de Tolnay. Larry Silver plädiert für eine Entstehungszeit »sometimes around 1560« – ein Vorschlag, dem sich auch Jürgen Müller anschließt.9 Die Datierung hängt davon ab, für wie ausgereift man die Darstellung der Figuren und ihr Arrangement im landschaftlichen Ambiente hält. Hier wird für die Entstehung des wohl für immer verlorenen Originals um 1567-1568, d.h. im Umfeld der erwähnten Jahreszeitenbilder für den Hof beamten Nicolaes Jongelinck, und vielleicht eher im Anschluss an diese Gemälde votiert.10 Stilistische Gründe müssen zunächst im Vordergrund ste7 Zu den Landschaftszeichnungen Bruegels: Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. Z1-30, 315-339; zu den grafischen Landschaften nach Bruegels Entwürfen: dies., 394-409; sowie: verschiedene Autoren in: Ingrid Mössinger/Jürgen Müller (Hg.), Pieter Bruegel d. Ä. und das Theater der Welt (Ausst.-Kat. Chemnitz, Kunstsammlungen Chemnitz), Berlin 2014, 61-103. 8 Zu den Jahreszeitenbildern u.a.: Silver, Pieter Bruegel, 324f f. 9 Ludwig von Baldass, Die niederländische Landschaftsmalerei von Patinir bis Bruegel, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 34 (1918), 111-157, hier 152; Silver, Pieter Bruegel, 131; Jürgen Müller in: Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, 303. 10 Auch dazu möchte ich nur vorsichtig votieren, kann ich doch nur über die Datierung eines Originals mutmaßen, das sich hinter zwei späteren Kopien verbirgt. In mehreren Gemälden, die Mitte der 1560er Jahre entstanden, hat der Künstler zwei Motive genial miteinander kombiniert: einige dynamisch ausschreitende Akteure im Vordergrund, die sich oft dabei wenigstens ein wenig in die Tiefe des Gemäldes oder aus ihr heraus bewegen, und die bühnenartige Abstufung des Landschaftsraums vom Vorder- über einen dahinter und weiter unten liegenden Mittelgrund zum eigentlichen Panorama hin. Perspektivische Tiefenräumlichkeit wird dabei vor allem durch die rapide Verkürzung der Figuren vermittelt, und diese erfasst zugleich auch die Bewegungsmotive der Gestalten selbst. Diese dynamische Perspektive kennzeichnet auch die Abfolge des Pflügers, des Hirten und des Anglers. Besonders der Bauer und sein Pfluggespann bezeugen hier große Meisterschaft, beobachtet man z.B. das Pferd als Vermittler zwischen der noch weitgehend bildparallelen Bewegung des Mannes hinter der Pflugschar von rechts nach links und dem Tiefenraum. Daher setzt die Komposition der Brüsseler Ikarus-Gemälde für mich Landschaften wie Die Flucht nach Ägypten, 1563, Öl auf Holz, 37,2 x 55,5 cm. London, Courtauld Institute, sowie Der düstere Tag (Vorfrühling, auch: Januar-Februar), 1565, Öl auf Holz,
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hen: Das Zusammenspiel zwischen Figuren und Landschaft, insbesondere die Dynamik des ausschreitenden Pf lügers, welche das kunstvoll verkürzte Pferd an den landschaftlichen Tiefenraum weitergibt, zeugt nach meiner Ansicht nicht von einem frühen Versuch, in einfachere, monumentalere Ölgemälde zu übersetzen, was der Maler durch seine detailreichen Stiche gelernt hatte. Ich schlage hier vor, das durch die Gemälde überlieferte Bild vor dem Hintergrund des Bildersturms und der darin kulminierenden Kontroverse um die Bilder zu deuten, die Reformation also im weiteren Sinne als diskursiven (d.h. nicht stilistischen) Kontext namhaft zu machen. Der thematische Bezug zur Legitimationskrise, in die bildliche Darstellungen, und damit auch die Machtansprüche des Blicks, geraten waren, ist in meinen Augen ein für die Datierung ebenso tragendes Argument wie stets unwägbar bleibende, kennerschaftliche Einschätzungen. Welchen Namen auch immer man an die nach wie vor zu Recht gepriesenen Brüsseler Werke heften wird, sie dürfen als signifikante Zeugnisse einer metapoetischen Malerei gelten. Die beiden Gemälden zugrundeliegende Bildidee beruht offenkundig auf grundsätzlichen Überlegungen zu einem Blick, der sich nunmehr über eine für das Ganze des Globus stehende Landschaft erheben kann. Schon seit dem Frühhumanismus, seit Petrarcas Bergerlebnis, fällt der Blick ins Weite, Offene, stets auf den Blickenden zurück. In Ausblicken auf den weiten Horizont des Ozeans machen Künstler von Jan van Eyck bis Caspar David Friedrich neben dem Weltganzen stets auch das Subjekt zum Thema – und mit ihm das visuelle Regime, in dem es sich als blickendes erst konstituiert.11
117 x 162 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum, oder auch Die Heuernte: Juni-Juli, 1565, Öl auf Holz, 114 x 158 cm. Prag, Národní Muzeum, Palais Lobkowitz aus der Serie Die zwölf Monate für Nicolaas Jongelinck voraus, in: Marijnissen, Bruegel, 209, 252f.; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. 18, 19, 287ff. Eine Parallele bezüglich der kunstvollen Verkürzung der Bildgestalten sehe ich in Die Bekehrung des Hl. Paulus, 1567, Öl auf Holz, 108 x 156 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum, in: Marijnissen, Bruegel, 310f.; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. 29, 294. Mit aller Vorsicht schlage ich daher für die Landschaft mit dem Sturz des Ikarus eine vergleichsweise späte Datierung auf die Jahre 1567-1568 vor. 11 Regine Prange, Sinnoffenheit und Sinnverneinung als metapicturale Prinzipien. Zur Historizität bildlicher Selbstreferenz am Beispiel der Rückenfigur, in: Verena Krieger/Rachel Mader (Hg.), Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln/Weimar/Wien 2010, 125-167; Michael F. Zimmermann, Unermesslichkeit der Natur – Unergründlichkeit des Subjekts: Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (1809-10) und die visuelle Poetologie des Subjekts der Moderne, in: Christoph Böttigheimer/René Dausner
Weitsicht und Selbstbescheidung
Selbst wenn man sich nicht auf 1569, das Todesjahr des Künstlers, festlegen will, spricht für Friedländers Spätdatierung dieses einzigen Bildes, das Bruegel der antiken Mythologie widmete, die kunstvolle, metapoetisch ref lektierte Bilderzählung.12 Sie weicht von der literarischen Vorlage bei Ovid ab – aber derart, dass man davon ausgehen muss, dass Bruegel oder seine am Concetto beteiligten Freunde die Vorlage mit höchster Gelehrsamkeit gelesen hatten. Nachdem wir schon beim ersten, f lüchtigen Hinschauen die weite Weltlandschaft genossen haben, erblicken wir nicht Ikarus zuerst, sondern die Vordergrundfiguren – vom Pf lügenden über den Hirten zum Angler. Erst sie leiten unseren Blick auf die Hauptfigur. Schon dies legt die Vermutung nahe, dass der Künstler darüber nachgedacht haben könnte, wie die visuelle Narration, die ja grundsätzlich, medial vom Nacheinander eines literarischen Texts abweicht, arrangiert werden kann – und zwar so, dass das Gemälde das Geschehen auf eigene Weise erzählt, statt es nur zu illustrieren. Dies wird zu zeigen sein. Doch schon beim ersten Betrachten liegt es nahe, die Komposition auf der Leinwand als näher an dem verlorenen Original einzuschätzen als die Holztafel, auf der oben ein sich umwendender Dädalus die Aufmerksamkeit sogleich auf Ikarus lenkt. Zwar entspricht das Geschehen dort dem Text Ovids besser als auf der Leinwand. Dagegen haben Autoren wie Beat Wyss die geradezu manieristische Raffinesse der Umsetzung des Mythos durch den Maler, der das Sujet der Leinwand erdacht hat, gerühmt: ohne Dädalus, und als Abendszene, obwohl die Sonne der Sage nach doch soeben erst das Wachs der Kunstf lügel zum Schmelzen gebracht haben soll.13 Originelle Ideen (Hg.), Unendlichkeit. Transdisziplinäre Annäherungen (Konzeption des Unendlichen – eine europäische Kulturkonstante?, 1), Würzburg 2018, 305-378. 12 Doch verrät eine Zeichnung zu einem kunsttheoretisch aufschlussreichen Thema Bruegels tiefere Auseinandersetzung mit antikem Bildgut: Die Verleumdung des Apelles (1665, London, British Museum). Siehe dazu (im Zusammenhang mit dem Ikarussturz): Stephanie Porras, Pieter Bruegel’s Historical Imagination, University Park 2016, 115-130. 13 Beat Wyss, Der Dolch am linken Bildrand. Zur Interpretation von Pieter Brueghels Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 51 (2/1988), 222-242; sowie: Beat Wyss, Pieter Bruegel. Landschaft mit Ikarussturz. Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus, Frankfurt a.M. 1994, 9ff. Zum Fehlen des Dädalus ausführlich: Christian Vöhringer, Pieter Bruegels d. Ä. Landschaft mit pflügendem Bauern und Ikarussturz. Mythenkritik und Kalendermotivik im 16. Jahrhundert, München 2002, 85ff. Die technische Untersuchung der Gemälde im Rahmen des Projekts The Breug[H]el Phenomenon erlaubt es nicht mehr, die Leinwand für echt, das Gemälde auf Holz jedoch für eine Wiederholung zu halten. Dafür hatte noch Wyss in seiner bestechenden Interpretation plädiert. Nach wie vor darf
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wie die untergehende Sonne oder die Elision des Dädalus beruhen geradezu auf einem Verzicht auf die illustrative Umsetzung des Texts! Doch für die anspielungsreiche Übersetzung der Narration ins visuelle Medium sind sie derart entscheidend, dass sie kaum einem Kopisten zuzutrauen wären. Die naiv ›korrigierende‹ Einfügung des Dädalus schon eher. Hat man die Szene ein erstes Mal räumlich durchmessen, um mit einer nur landläufigen Kenntnis des Mythos von Dädalus und Ikarus das Bildpersonal zu deuten, so erkennt man rasch, dass die Bilderzählung in ihrer medienspezifischen Temporalität radikal von der linearen Diskursivität der literarischen Vorlage abweicht. Wie Petrarca auf dem Mont Ventoux erfährt sich der Blickende auch vor der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus anfangs hoch befriedigt in seiner skopischen Herrschaft über das Gesehene, dann aber als jemand, der in der Imagination soeben Grenzen überschritten hat – und bereits dadurch der Hybris schuldig, sündig geworden ist. Der erschließende Blick wandert dann aber über einen Pf lügenden, einen Hirten und einen Angler ein zweites Mal in die Ferne. Er setzt im Vordergrund wieder an – beim Naheliegenden, bei den Menschen, die von ihrer Arbeit absorbiert sind – und zwar so vollständig, dass Christian Vöhringer das Gemälde in die Tradition der Monatsbilder aus den gemalten Stundenbüchern des Spätmittelalters stellen konnte, in denen die Arbeiten der Jahreszeiten vorgeführt werden.14 Erst wenn wir die in ihre Tätigkeit versunkenen Landleute gesehen haben, gelangt der Blick zu den zappelnden Beinen des ansonsten vom Bildpersonal nicht beachteten Ikarus – geradezu ein Detail! Zudem bemerken selbst geschulte Betrachter*innen erst nach langem Hinschauen, dass zwischen ihrem Standpunkt, knapp über dem Pf lügenden und sozusagen in dessen Rücken, und dem viel höheren Ort, von dem aus sie das weite Land überschauen, ein perspektivischer Bruch überspielt wird. Vor der Entschlüsselung solcher Raffinessen empfindet man umstandslos sich selbst als die Person, die diesen Blick auf das Weltganze mit dem Künstler genießen kann. Ist sie jedoch in die Fiktion eingestiegen und hat das Bildpersonal einmal identifiziert, wird sie sich fragen, wer jene Überschau, zu der sie sich außerhalb der Fiktion, der Diegese, hier zuerst einmal aufschwingen durfte, überhaupt im Gemälde, innerhalb der Diegese haben könnte, wer also, man die Version in den Musées Royaux des Beaux-Arts für näher am ursprünglichen Concetto als das auf Holz gemalte Werk aus dem Museum van Buuren halten. 14 Vöhringer, Pieter Bruegels d. Ä. Landschaf t mit pflügendem Bauern, 57-79.
Weitsicht und Selbstbescheidung
um einen Ausdruck Gérard Genettes zu bemühen, die oder der intrafiktionale Fokalisateur*in sein könnte.15 Zunächst einmal bietet sich die Antwort, es wäre noch vor kurzem Ikarus gewesen, von dem er erst nach einigem Suchen vor dem damals neuartigen Schiff nur die im Todeskampf zappelnden Beine auszumachen vermag. Hat er sich also auf den ersten Blick an dem weiten Szenario berauscht, so sieht er sich, sobald man zum zweiten, ref lexiven Blick ansetzt, mit Ikarus bestraft. Doch ist diese Hauptfigur einmal entdeckt, stellt sich – allerdings nur vor der Version auf Leinwand – die Frage nach dem abwesenden Vater des Ertrinkenden. Wird dieser im Gemälde nicht gefunden, erkennt man nun in ihm den eigentlich Schauenden, den durch die Geschichte implizierten, intradiegetischen Focalisateur: Am eigentlichen Wendepunkt des Geschehens, da der Sohn ertrinkt, also im Hier und Jetzt der Szene, ist er es, dessen erobernder Blick in die Weite der Ägäis hier bestraft wird! Ovids Geschichte wird uns die Erklärung dafür liefern, warum Bruegel ihn von Ikarus sozusagen nur noch die Beine erspähen lässt. Nach der aufhaltsamen Entschlüsselung der Bildererzählung überkommt den Betrachter vielleicht ein Schauder: Nun sieht er sich dazu gezwungen, das Weltganze mit Dädalus geradezu unter dem Aspekt des Tods des Sohnes zu betrachten, durch den der Vater – vielleicht sogar mehr als der Sohn – mitbestraft wird. Beunruhigt vom Mitgefühl für die Hauptgestalten des Mythos wenden wir unsere Empathie nun vielleicht wieder den Figuren im Vordergrund – den Hauptgestalten des Gemäldes – zu. Dabei sehen wir uns mit der nachdrücklichen Aufforderung konfrontiert, nach ihrem Vorbild das auch uns allein Zukommende im Auge zu behalten: unsere Arbeit. Zwischen diesen Polen – der Selbstermächtigung des Blicks einerseits und ihrer Brandmarkung als Hybris – ist das Geschehen ausgespannt. Die unvordenkliche visuelle Macht, die der Blick ins Weite, aufs Weltganze, ja ins Unermessliche verleiht, fällt auf das Subjekt zurück, das sich gerade durch die bestürzende Ferne, die es sich erschließt, vor sich selbst gestellt sieht. Ob und wieweit diese Rekonstruktion der Temporalität, mit der die Blicke das Bildgeschehen 15 Zum »Focalisateur«: Gérard Genette, Diskurs der Erzählung, in: Gérard Genette, Die Erzählung, München [1972] 1994, 9-194, hier 134ff. War die ›Fokalisierung‹ bei Genette noch ein Aspekt der systematischen Erzählanalyse neben anderen, hat Mieke Bal sie zum übergeordneten Begriff verabsolutiert; vgl. deren sonst stark an Genette anschließende Studie: Mieke Bal, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto/Buffalo/London [1985] 2009, 145-180. Davon hat nicht nur Genette sich distanziert, sondern auch: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 3. erw. Aufl., Berlin/Boston 2014, 109ff.
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deutend durchmessen, sich bewährt, wird sich erst im Folgenden erweisen. Doch zunächst müssen wir unsere Perspektive auf das Weltganze, wie es sich Bruegel hier zeigt, um eine Dimension bereichern, die gerade in unserer Zeit des Post- und Dekolonialismus unseren Horizont weitet.
II. Zum zeitgeschichtlichen Kontext: Triumph und Hybris des kolonisierenden Blicks Zu den Zurichtungen des Blicks auf ein Werk der bildenden Kunst – auch auf eine frühe ›Weltlandschaft‹ wie die Landschaft mit dem Sturz des Ikarus – gehört die Erschließung des Globus durch koloniale Eroberung, Seehandel und Missionierung.16 Europas Inbesitznahme der Welt geht mit einer Selbstermächtigung des Sehens einher, die im Gemälde zugleich Triumphe feiern und auf ihre ethische Legitimität hin befragt werden kann – und zwar auch in einer Landschaft, die gar keine außereuropäischen Szenarien vorführt. Das Schiff, 16 Zum Begriff Weltlandschaft: Johann Wolfgang von Goethe, Landschaftliche Malerei [1832], in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, München [1981] 1999, 216-223, hier 220f. (»Diese landschaftlichen Tafeln aber sollten […] auch durchaus interessant sein, und man überfüllte sie deshalb nicht allein mit dem, was eine Gegend liefern konnte, sondern man wollte zugleich eine ganze Welt bringen, damit der Beschauer etwas zu sehen hätte und der Liebhaber für sein Geld doch auch Wert genug erhielte. Von den höchsten Felsen, worauf man Gemsen umherklettern sah, stürzten Wasserfälle zu Wasserfällen hinab durch Ruinen und Gebüsch. Diese Wasserfälle wurden endlich benutzt zu Hammerwerken und Mühlen; tiefer hinunter bespülten sie ländliche Ufer, größere Städte, trugen Schiffe von Bedeutung und verloren sich endlich in den Ozean.«); zu Bruegel: Goethe, Landschaftliche Malerei, 221 (»Breughels Bilder zeigen die wundersamste Mannigfaltigkeit: gleichfalls [Lücke] Horizonte, weit ausgebreitete Gegenden, die Wasser hinab bis zum Meere; aber der Verlauf seiner Gebirge, obgleich rauh genug, ist doch weniger steil, besonders aber durch eine seltnere Vegetation merkwürdig; das Gestein hat überall den Vorrang, doch ist die Lage seiner Schlösser, Städte höchst mannigfaltig und charakteristisch; durchaus aber ist der ernste Charakter des sechzehnten Jahrhunderts nicht zu verkennen.«). Vgl. Ludwig von Baldass, Die niederländische Landschaftsmalerei; Anton Lehmden (Hg.), Weltlandschaften, Salzburg 1968; Silke von Berswordt-Wallrabe/Volker Rattemeyer (Hg.), Landschaft als Weltsicht. Kunst vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Köln 2010. Vgl. zur Diskussion über Bruegels Poetologie: Manfred Sellink, Blickführung und Inszenierung der Komposition. Anmerkungen zu den Kompositionstechniken von Pieter Bruegel d. Ä., im digitalen Begleitband zu: Oberthaler/Pénot/Sellink et al., Bruegel, in: Sabine Haag (Hg.), Bruegel. Die Hand des Meisters (Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum), Veurne 2018, 295-315.
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das in der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (Abb. 1) aus den Weiten des Ozeans in den heimischen Port heimkehrt, darf als Symptom dafür verstanden werden, wie umfassend hier die visuelle Aneignung der Welt thematisiert ist.17 Wenn mit der Stadt im Hintergrund nicht nur Messina, wie aus guten Gründen behauptet wird,18 sondern zugleich auch Antwerpen gemeint ist, damals das wohl größte unter den Zentren des Welthandels und Bruegels Wirkungsstätte bis 1563, dann steht die für die Zeitgenossen hochmoderne, bewaffnete Karacke im Vordergrund auch für die erste Hochphase des Dreieckshandels zwischen Flandern, der Westküste Afrikas und den beiden Amerikas mitsamt der Karibik.19 Auf einem Stich nach Bruegel wird das Motiv des Ikarus, der hinter dem niedriger f liegenden Dädalus unter einer sengenden Sonne herabstürzt, zudem mit der prominenten Darstellung eines ähnlichen Staats- und Kriegsschiffes, mit Doppeladler bef laggt, kombiniert (Abb. 3). Hier scheint die Verbindung der Hybris des Übermütigen mit dem internationalen Seeverkehr und seinem bewaffneten Schutz kaum abweisbar.20 Eine ähnliche Sinnschicht findet sich auch in der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, so die These. Aber dazu später mehr; zunächst gilt es, den historischen Kontext auszuleuchten.
17 Marijnissen, Bruegel, 378f., unter »Fragwürdige Zuschreibungen«; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Nr. 42 a und b, 302f. 18 Wyss, Pieter Bruegel, 24ff.; ihm folgend: Tanja Michalsky, Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei, München 2011, 228-234, hier 231; Tanja Michalsky, ›L’atelier des songes‹. Die Landschaften Pieter Breugels d. Älteren als Räume subjektiver Erfahrung, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hg.), Imagination und Wirklichkeit: zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, 123-137, hier 124. 19 Zur Kupferstichserie »Seeschiffe«: Marijnissen, Bruegel, 166ff.; zum Kupferstich von Frans Huys (zugeschrieben) nach Pieter Bruegel d. Ä., Karacke und Galeere auf of fenem Meer, Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, 412f.; vgl. auch: Alfred Dudszus/Ernest Henriot/ Friedrich Krumrey, Das große Buch der Schif fstypen, Berlin 1987, 288; vgl. Thomas Schauerte, Schiffe, in: Mössinger/Müller (Hg.), Pieter Bruegel, 253-281. Das Motiv des Ikarussturzes wurde vermutlich durch Stecher oder Verleger hinzugefügt in dem Kupferstich von Frans Huys, Bewaffneter Dreimaster mit dem Sturz des Ikarus, 1561/1562, 217 x 289 cm, Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. VII, 24, 11; siehe auch: Manfred Sellink, Les ›vaisseaux de mer‹ de Pieter Bruegel l’ancien. Un aspect moins connu de son œuvre, in: Sandrine Vézilier-Dussart/Cécile Laffont (Hg.), La Flandre et la mer. De Pieter l’ancien à Jan Breughel de Velours (Ausst.-Kat. Cassel, Musée départemental de Flandre Cassel), Gent 2015, 53-59. 20 Vgl. die Katalognotiz von Thomas Schauerte in: Mössinger/Müller (Hg.), Pieter Bruegel, 280f.
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Abb. 3: Frans Huys (zugeschrieben) nach Pieter Bruegel d.Ä., Bewaf fneter Dreimaster mit dem Sturz des Ikarus, undatiert, Kupferstich, 21,7 x 28,9 cm. Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Kupferstichkabinett. Mitte des 16. Jahrhunderts war der Atlantikhandel bereits eine Hauptquelle des Reichtums nicht nur Antwerpens, sondern auch f lämischer Städte wie Gent und Brügge sowie Brüssels als der Hauptstadt der spanischen Niederlande und des Herzogtums Burgund.21 Die von Karl V. und seinem Sohn Philipp II. in Personalunion mit Spanien regierten Niederlande waren fest in den iberischen Welthandel integriert. Unter dem einigenden Band der Dynastie der Habsburger wurden Handelsnetze koordiniert, die Brabant mit Südamerika verbanden. Edelmetalle aus »Westindien«, wie Amerika genannt wurde, – zuerst das sagenumwobene Gold der Maya und der Inka, dann Silber – wurden weitgehend über Sevilla importiert. Erst Mitte des Jahrhunderts hatte man gelernt, Quecksilber zur Bindung des Silbererzes einzusetzen; dies gab den Minen des spanischen Südamerika (etwa in der neu 21 Überblick: Henry Kamen, Spain’s Road to Empire. The Making of a World Power 1592-1763, London/New York 2002, 77ff.
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gegründeten Andenstadt Potosí) und Perus Auftrieb. Dagegen war das näher an den Märkten Nordeuropas gelegene Antwerpen lange das weltweit größte Handelszentrum für Produkte des verarbeitenden Gewerbes, insbesondere Zucker, den man aus Rohr gewann, solange man ihn noch nicht aus Rüben herstellen konnte.22 Seit 1515 pf lanzte man in Hispaniola, der Insel, auf der heute die Dominikanische Republik und Haiti liegen, das anfangs aus Afrika importierte Zuckerrohr an. Über das System der encomienda wurde den wenigen Einwanderern die Urbevölkerung auf dem ihnen zugewiesenen Land gleichzeitig mit in Kuratel gegeben. Unter diesem Vorwand wurden die heimischen Arawak versklavt und innerhalb weniger Jahrzehnte durch Auszehrung, Grausamkeit und eingeschleppte Krankheiten ausgerottet. Als Arbeitsknechte schafften die zugewanderten Agrarunternehmer dann Indigene von den Nachbarinseln herbei, z.B. den Bermudas, die dadurch entvölkert wurden, bevor auch diese Völker rasch dezimiert waren. Schließlich importierte man schon früh systematisch Sklaven, die man in Westafrika, zwischen dem Senegal und dem Kongo gefangen nahm.23 Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der Plantagen-Kolonialismus auf Puerto Rico und Kuba ausgeweitet.24 Schon im Mittelalter hatte man in Europa vor allem slawische Gefangene verkauft. Die Sklaverei ging letztlich auf antike Praktiken zurück; in Aristoteles Politiká konnte man naturalisierende Legitimationen finden. Doch im 15. Jahrhundert nahmen der transkontinentale Handel mit Schwarzen und dessen rassistische Begründungen einen frühkapitalistischen Charakter an. Die neue Entwicklung begann nicht erst mit Christoph Columbus’ erster Reise in die Karibik im Jahr 1492.25 Schon vor 1415 hatte Prinz Heinrich von Portugal (gen. der Seefahrer) die marokkanische Hafenstadt Ceuta in der Hoffnung erobert, Portugal dadurch 22 Vgl. Kamen, Spains’s Road, 83ff.; grundlegend immer noch: Herman Van der Wee, The Growth of the Antwerp Market and the European Economy (Fourteenth-Sixteenth Centuries), Den Haag 1963; siehe auch: Herman Van der Wee/Jan Materné, Antwerp as a World Market in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Antwerp, story of a metropolis: 16th-17th century (Ausst.-Kat. Antwerpen, Hessenhuis), hg. von Jan Van der Stock, Gent 1993, 19-31. Sowie: Peter Burke, Antwerp, a Metropolis in Europe, in: Van der Stock (Hg.), Antwerp, 49-57. 23 Vgl. Peter Charles Hoffer, The Brave New World. A History of Early America, Baltimore [2000] 2006, 41-94; Kamen, Spain’s Road to Empire, 135ff. 24 Kamen, Spain’s Road to Empire, 98f f., 240f f. 25 Dazu: Hanno Ehrlicher, Die ›Neue Welt‹: Reisen und Alterität, in: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/Boston 2015, 355-363.
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den Handelswegen, die durch die Sahara führten, näher zu rücken. Als sich diese Hoffnung als trügerisch erwies, forcierte er die Anlage von Forts und Handelskolonien in »Guinea«, damals die generische Bezeichnung für Westafrika. Im Jahre 1444 verbrachte er erstmals schwarze Gefangene nach Portugal und verkaufte sie dort. Nun wurden Schwarze nicht mehr über den arabischen Zwischenhandel aus Valencia, Barcelona und Genua gehandelt, sondern direkt versklavt. 1452 gab König Alfons V., Prinz Heinrichs Neffe, bei Gomes Eanes de Zurara eine Biografie des Onkels in Auftrag. Unter dem Titel Crónica do descobrimento e conquista da Guiné (Chronik der Entdeckung und Eroberung Guineas) wurde sie verbreitet und nach der Erfindung des Buchdrucks immer wieder neu aufgelegt. Sie avancierte zu einer erstrangigen Quelle des vereinheitlichten Wissens über ›Afrika‹ und seine Bewohner. Zurara sah in diesen unzivilisierte Wilde, die ein Leben in der Sklaverei demjenigen in ihrer Heimat vorziehen sollten, zumal ihre Seelen nur durch die Verschiffung in christliche Länder gerettet werden könnten.26 Bald wurde die Idee der Sklaverei mit ›Afrika‹ und seinen schwarzen Bewohnern in eins gesetzt – statt, wie im Mittelalter und in der Sklaverei in den muslimischen Ländern, auch mit anderen ›Barbaren‹, vor allem Slawen verbunden zu werden.27 Die Minderwertigkeit der Farbigen wurde noch nicht im Sinne nachauf klärerischer, auf pseudowissenschaftlichen Klassifikationen beruhender Rassismen begründet, sondern durch ein klimatheoretisches Konzept, wie es bereits in der Antike entwickelt worden war. Schon nach Hippokrates, an den Aristoteles anknüpfte, konnte die Zivilisation – anders als despotische Regierungsformen – nur in ausgeglichenen, weder überreichen noch kargen Landschaften, vor allem aber in weder zu kaltem noch zu heißem Klima gedeihen.28 Die Afrikaner, deren Hautfarbe man als »verbrannt« beschrieb, waren durch das klimatische Extrem, wie man meinte, kulturell herabgedrückt worden. Klimatheoretische Argumentationen ließen an-
26 Gomes Eanes de Zurara, Chronicle of the Discovery and Conquest of Guiné, hg. von Charles Raymons Beazley/Edgar Prestage, London 1896. 27 Siehe zur diskursiven Konfiguration von ›Afrika‹: Valentin Y. Mudimbe, The Idea of Africa, Bloomington/Indianapolis 1994, 44-97, 201ff. 28 Vgl. Reimar Müller, Die Entdeckung der Kultur. Antike Theorien über Ursprung und Entwicklung der Kultur von Homer bis Seneca, Düsseldorf 2003. Vgl. auch: Reimar Müller, Montesquieu über Umwelt und Gesellschaft. Die Klimatheorie und ihre Folgen, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 80 (2005), 19-32.
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fangs immerhin noch den Gedanken zu, dass die Versklavten sich in anderen Weltgegenden zu höheren Zivilisationsformen emporarbeiten könnten.29 Auf den Karibikinseln und darüber hinaus etablierten die meist selbst ernannten Konquistadoren ihr Regime nicht als Soldaten, auch nicht im Auftrag der Krone, sondern meist mehr oder weniger auf eigene Faust und unter Missachtung oder Beugung spanischer Gesetze. Früh prangerten Missionare – Minoriten, Dominikaner und Hieronymiten – die Missstände an und beschworen die Obrigkeit, die Kolonien regulierend unter ihre Kontrolle zu nehmen. Das immer wieder zitierte Beispiel ist der Dominikanerpater Bartolomé de Las Casas, der 1502 im Alter von achtzehn Jahren nach Hispaniola gelangt war, 1510 zum Priester geweiht wurde und dann gegen die Versklavung der indigenen Bevölkerung protestierte. Eine heroisierende Geschichtsschreibung übersieht bis heute oft, dass er schon 1516 empfahl, statt der in seinen Augen konstitutionell schwachen Ureinwohner Amerikas die vermeintlich kräftigeren Afrikaner zu importieren. In seinem Prinz Philipp II. gewidmeten Kurzgefaßten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder (Brevísima relación de la destrucción de las Indias), in dem er die unmenschliche Behandlung der indigenen Bevölkerung geißelte, wiederholte er diesen Vorschlag noch 1552. Erst 1561 äußerte er in seiner Geschichte der westindischen Länder (Historia de las Indias) öffentlich Bedauern. Zum Umdenken hatte ihn die kritische Lektüre des mehr als einhundert Jahre alten Werks Zuraras gebracht.30 Las Casas’ Schriften wurden zwar gedruckt, zirkulierten zu dessen Lebzeiten jedoch nur in kleinen Kreisen. Erst die antispanische Propaganda veranlasste im Zuge der Kriege der 1570er Jahre Übersetzungen, die in höherer Auf lage erschienen, insbesondere in protestantischen Ländern.31 Die spanischen Könige – zuerst Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien, dann Karl V. und Philipp II. – bedauerten die Fehlentwicklungen in den Kolonien zwar, duldeten sie aber, da sie zunehmend auf die Geldf lüsse
29 Vgl. Ibram X. Kendi, Stamped from the Beginning. The Definite History of Racist Ideas in America, New York 2017, 24f, dort weitere Angaben. 30 Vgl. Lawrence A. Clayton, Bartolomé de las Casas. A Biography, Cambridge 2012, 342-428. Siehe auch: Kendi, Stamped, 26f. 31 Vgl. Katharina Niemeyer, Die ›Cronicas de Indias‹, 1493-1700, in: Friedrich Edelmayer/Bernd Hausberger/Barbara Potthast (Hg.), Lateinamerika 1492-1850/1870, Wien 2005, 96-114.
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aus Amerika angewiesen waren.32 Von Ferdinand dem Katholischen über Karl V. zu Philipp II. machten die Herrscher Schulden, um Königs- und Kaiserwahlen zu manipulieren und ihr Territorium in Europa auszuweiten, etwa um die habsburgische Dominanz in Flandern und Italien gegenüber Frankreich durchzusetzen.33 Mit dem Reichtum aus Amerika bedienten sie ihre gigantischen Außenstände mehr schlecht als recht – doch sicherte ihnen die Aussicht auf den Gewinn sagenumwobener Gold- und Silberschätze lange über jedes Maß wirtschaftlicher Vernunft hinaus den Kredit. In einem komplexen Gef lecht von Interessen und Mythen wurden die karibischen Inseln für Jahrhunderte zu Sklavenhalterkolonien. Gegenüber den zwangsverfrachteten Schwarzen blieben die zumeist spanischen Kolonisatoren in der Minderzahl; anders als später Nordamerika wurde gerade Mittelamerika nicht zur Besiedlung, sondern zur wirtschaftlichen Ausbeutung durch Großplantagen kolonisiert.34 Antwerpen hatte schon vor dem Kolonialhandel ein Netz des Güterverkehrs aufgebaut, das von Spanien und England in die Ostsee, aber auch die Schelde, die Maas und den Rhein hinauf reichte und darüber hinaus ganz Europa einbezog. Umgeschlagen wurden Wolle, seit dem Spätmittelalter aus Spanien importiert, und Tuche, die teilweise in England hergestellt, in den Niederlanden gefärbt und veredelt, dann zurück gehandelt wurden, aber auch andere Luxusgüter wie Geschirr aus verschiedenen Materialien – darunter rheinische Salzkeramik, Glas und Zinn. Vertrieben wurden auch Lebensmittel wie Getreide, Bier und Heringe. Diese waren ein komplexes Produkt internationalen Kommerzes, denn um sie in Fässern einsalzen und transportieren zu können, benötigte man wiederum Eichenholz, das aus dem Baltikum herbeigeschafft wurde.35 Das einzigartige Handelsnetz 32 Kamen, Spain’s Road to Empire, 82-97, 274-297. Vgl. auch: Mark A. Burkholder/Lyman L. Johnson, Colonial Latin America, New York/Oxford [1990] 2004, 1-181, dort finden sich umfassende Literaturangaben. 33 Vgl. Michael Erbe, Die Habsburger, 1593-1918. Eine Dynastie im Reich und in Europa, Stuttgart 2000, 19-67. 34 Kamen, Spain’s Road to Empire, 136ff. Zum weiteren Kontext systematisch einführend: Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München [1995] 2009, 7-35. 35 Zum europäischen Handel allgemein: Immanuel Wallerstein, The Modern World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, Berkeley/Los Angeles/London [1974] 2011; John Huxtable Elliott, Europe Divided, 1559-1598, Oxford/Malden [1968] 2000, 24-41; zum frühen niederländischen Handel: Oscar Gelderblom, Cities of Commerce. The Institutional Foundations of International Trade in the Low Coun-
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wurde bald durch Verbindungen in die Karibik oder nach Mexiko, z.B. zur Hafenstadt Veracruz, weiter ausgeweitet. Die Stadt an der Schelde stieg in diesen Jahren nicht nur zu einem der weltweit größten Umschlaghäfen für Waren jedweder Art, sondern aufgrund des Imports von Zuckerrohr auch zum bedeutendsten Zentrum der Zuckerraffinerie auf. All dies ist der Hintergrund dafür, dass sich seit 1540 auch der europäische Handel mit Kunstwerken und, zu Bruegels Zeiten, mit Grafiken ausweitete – wie die berühmten Serien, die Hieronymus Cock, der Verleger des Künstlers, vertrieb.36 Die Komposition der Brüsseler Gemälde, in denen wir den stürzenden Ikarus erst nach einiger Suche ausmachen (Abb. 1 und 2), zeugt davon, dass sich der Blick des gebildeten Europäers der heimischen Landschaft als naheliegendem Erlebnisraum gerade in dem Augenblick versicherte, als das Weltganze in die Reichweite seines Handelns geraten war.37 Zugleich ist das Szenario von humanistischer Selbstref lexion über jenes Blickregime38 geprägt, das eben erst anhob, sich in der entstehenden Gattung der Landschaftsmalerei zu verfestigen. Die anspruchsvollen grafischen Blätter nach von Bruegel gezeichneten Vorlagen, die Cock zwischen 1557 und 1559 vertrieb, trugen nicht unerheblich dazu bei, die Genrekonventionen auch bei einem größeren
tries, 1250-1650, Princeton/Oxford 2013; zum Handel in Antwerpen: An M. Kint, The Community of Commerce: Social Relations in Sixteenth-Century Antwerp, Columbia Diss. 1996, 110-199, 247-290; sowie: An M. Kint, The Ideology of Commerce: Antwerp in the Sixteenth Century, in: Peter Stabel/Bruno Blonde/Anke Greve (Hg.), International Trade in the Low Countries (14th-16th Centuries), Leuven/Apeldoorn 2000, 213ff.; insbesondere über Sorgen des Stadtrats, dass religiöse Streitigkeiten den Handel behindern würden – dokumentiert 1566, im Jahr des Bildersturms. 36 Vgl. Dan Ewing, Marketing Art in Antwerp, 1460-1560. Our Lady’s Pand, in: The Art Bulletin 72 (4/1990), 558-583; zum Grafikhandel: Nadine M. Orenstein, The professionalization of etching: the Netherlands in the 1550s, in: Catherine Jenkins/Nadine M. Orenstein/Freyda Spira (Hg.), The Renaissance of Etching (Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art), New Haven/London 2019, 241-265. 37 Marijnissen, Bruegel, 378f.; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. 42 a und b, 302f. 38 Über Blickregime: Martin Jay, Scopic Regimes of Modernity, in: Hal Foster (Hg.), Vision and Visuality, Seattle 1988, 3-28; grundlegender Text: Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. [1975] 1977, 251-292; vgl. dazu: Burkhard Wolf, Panoptismus, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch, Stuttgart 2008, 279-284. Die Fruchtbarkeit des Begriffs wurde unlängst unter Beweis gestellt von: Nicholas Mirzoeff, How to See the World. An Introduction to Images, from Self-Portraits to Selfies, Maps to Movies, and More, New York 2016, hier 1-28.
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Publikum zu verwurzeln.39 Erst nachdem der Maler mit gedruckten Bildern – unter denen Landschaften eine prominente Rolle einnahmen – erfolgreich war, realisierte er auch anspruchsvollere Unikate in der Malerei. Doch nicht nur die technisch neu zugerüstete und kommerziell offenbar erfolgreiche Bildproduktion markiert den Kontext der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus. Verorten muss man das Bild auch in einem mit ethisch-religiösen Argumenten geführten Streit um die Legitimation insbesondere religiöser Bildwerke, darüber hinaus über den Wert visueller Sinnlichkeit im Allgemeinen – zwischen Welterkenntnis und Verführung, vanitas und schönem Schein.40 Es wäre, da ist sich die Forschung inzwischen einig, verfehlt, Bruegel als malenden Zeithistoriker zu deuten, der mit einzelnen Bildvorwürfen unmittelbar auf kontroverse Ereignisse reagiert hätte, etwa auf religiöse Streitigkeiten.41 Dennoch – und ohne Schillersches Pathos – sei daran erinnert, dass die Niederlande vom 10. August 1566 bis Ende des Monats durch einen bürgerkriegsartigen Bildersturm erschüttert wurden, der Herzog von Alba am 22. August 1567 in Brüssel einzog und die Grafen Egmont und Hoorn am 5. Juni 1568 hingerichtet wurden – und dies nur, weil sie sich den Reformatoren 39 Vgl. Jürgen Müller, Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä., München 1999, hier 54-76; vgl. auch Jürgen Müller, Von Korbträgern und Vogeldieben. Die Zeichnung Die Imker Pieter Bruegels d. Ä. als Allegorie der Gottessuche, in: Mössinger/ Müller (Hg.), Pieter Bruegel, 25-46. 40 Die Literatur zum Werk Pieter Aertsens (ca. 1509-1575, von 1530-155 in Antwerpen tätig) informiert umfassend über Fragen des Bilderstreits und der Legitimation von Bildern. Sie ist zu umfangreich, um hier angeführt werden zu können. Der Streit über die Weltverfallenheit der Bilder wird sich später weiter zuspitzen, einerseits in Vanitas-Bildern, die der Vergänglichkeit der Welt, aber auch der Vergängnis visuellen Vergnügens gelten, dazu etwa: Ingvar Bergström, The Masters of the Vanitas-Still-Life, in: Ingvar Bergström (Hg.), Dutch Still Life Painting in the Seventeenth Century, New York 1983, 154-190. Andererseits wird nicht nur die Freude am Seherlebnis, sondern auch die visuell vermittelte Erkenntnis durch Allegorien ausdrücklich zum Thema gemacht, siehe auch: Eric Jan Sluijter, Venus, Visus, and Pictura, in: Eric Jan Sluijter (Hg.), Seductress of Sight. Studies in Dutch Art of the Golden Age, Zwolle 2000, 86-159. 41 Zu Bruegel und dem »Nikodemismus« – einer Gruppe von Katholiken, die verdeckt mit der Reformation sympathisierten: David Freedberg, Allusion and Topicality in the Work of Pieter Bruegel: The Implications of a Forgotten Polemic, in: The Prints of Pieter Bruegel the Elder (Ausst.-Kat. Tokyo, Bridgestone Museum of Art), hg. von dems., Tokyo 1989, 5365; vgl. auch: Müller, Das Paradox, 19-30. Demgegenüber sei betont, dass es keinen Beleg dafür gibt, dass Bruegel dem Nikodemismus anhing oder mit den Reformatoren sympathisierte. Plausibel ist allerdings, dass er vielfältig an Erasmus anknüpfte.
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gegenüber zu nachgiebig gezeigt hatten.42 Schon bevor Philipp II. – bestrebt, absolutistisch durchzuregieren und zugleich die Gegenreformation im Sinne des 1563 abgeschlossenen Konzils von Trient durchzusetzen – die Konf likte weiter anfachte, standen religionspolitisch ebenso wie sozial grundierte Bilderstreitigkeiten auf der Tagesordnung. Der Infragestellung visueller Imagination stand der Erfolg einer neuen Bildgattung, der Landschaft, gegenüber, in Bruegels Werk zunächst im neuen Medium großformatiger, teils über 40 cm breiter Kupferstiche. Beide Pole markieren ein Spannungsfeld, zu dem, so die These, Bruegel mit der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus Stellung bezog. Diesen Kontext sollte man im Auge behalten, wenn man gleichzeitig betont, dass beide Gemälde dazu beitrugen, die Gattungskonventionen der Landschaftsmalerei zu verfestigen und das neue Genre dabei zu legitimieren.43
III. Zeitlichkeit und Ironie: Ovids Erzählfolge und die Erschließung des Sujets durch den Betrachter Es lohnt sich, der Bilderzählung noch genauer zu folgen. Obwohl schon Friedländer mit dem Gemälde auch die Entstehung der Landschaft verstehen wollte, wollen wir dabei seiner Deutung nicht folgen. Im Sinne des zu Anfang des 20 Jahrhunderts modischen Vitalismus las er das landschaftliche Szenario als Apotheose der Naturkräfte, die auch den Menschen durchwalten und nun in der frühen Neuzeit ästhetisch wie auch wissenschaftlich entdeckt würden. Mit ihnen im Einklang solle der Mensch agieren, wolle er vermeiden, dass das Schicksal umstandslos über ihn – wie über Ikarus 42 Kamen, Spain’s Road to Empire, 177ff.; vgl. Phyllis Mack Crew, Calvinist Preaching and Iconoclasm in the Netherlands, 1544-1569, Cambridge/London/New York 1978, 51-82; vgl. auch Huxtable Elliott, Europe Divided, 81ff. 43 Zur Gattungspoetik: Ulrich Pfisterer, Kunstwissenschaftliche Gattungsforschung, in: Rüdiger Zymner (Hg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart 2010, 274-277 [das Handbuch bietet einen guten Überblick über die weit getriebene, literaturwissenschaftliche Diskussion]; vgl. auch Andrea Gottdang, Bildgattungen, in: Frank Büttner/Andrea Gottdang, Einführung in die Malerei. Gattungen, Techniken, Geschichte, München 2012, 143-194. Neue Ansätze im Sinne einer medialen Theorie der visuellen Erzählung können wesentliche Anhaltspunkte finden bei den philosophischen Aufzeichnungen (Anfang der 1920er Jahre) des frühen Michail M. Bachtin, Zur Philosophie der Handlung, hg. von Sylvia Sasse, Berlin 2011; sowie bei Bachtins 1952 verfasster Schrift: Michail M. Bachtin, Sprechgattungen, hg. von Rainer Grübel/Renate Lachmann/Sylvia Sasse, Berlin 2017.
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– hinweggeht.44 Friedrich Nietzsches Auffassung der týche, des fatum, das gerade über die Schwachen bestimmt, während die Mächtigen und Vitalen sich Freiheitsspielräume erkämpfen könnten, wirkt in Friedländers Beschreibung nach.45 – Auch wird das Gemälde im Folgenden nicht, wie bei Wyss, der erneut beispielhaft für einige andere Autoren genannt sei, primär ikonografisch, sondern narratologisch erschlossen.46 Es wird insofern nicht als Bilderrätsel betrachtet, welches durch die Entschlüsselung von Einzelmotiven aufgelöst werden könnte, sondern vor allem als gelenkte, visuelle Erzählung.47
44 »Das einzige bekannte mythologische Bild Bruegels, der ›Ikarusssturz‹ in der Brüsseler Galerie, mag das letzte Wort sein, das von dem Meister zu uns dringt. Der Beobachter stand gerade an dieser Stelle und nahm als zufälliger Zeuge von dem Vorfalle dies und nicht mehr wahr. Da er auf der Erde stand, Ikarus aber aus gewaltiger Höhe abstürzte, sah er sehr wenig, erblickte in seiner Nähe den pflügenden Bauer und den Schäfer. Bruegels Phantasie entzündete sich an dem Örtlichen. Das Außerordentliche fand er in der räumlichen Ausdehnung, in dem Abstande des Gestirns von der Erde. […] Dargestellt ist die strahlende Sonne des Südens, die sich in der See spiegelt und Schlagschatten auf den Erdboden malt. Man kann den Mythos nicht mehr antiplastisch, antiheroisch und unantikisch verbildlichen. Mit einer Voraussetzungslosigkeit, die wie Travestie aussieht, hat der Maler die Naturkraf t verherrlicht, die den Helden ohne Haß und ohne Mitleid vernichtet, da er sich überhebt und gegen ihre Gesetzlichkeit zu handeln wagt, und hat den stetigen Erdengang geschildert, der durch das Abenteuer nicht unterbrochen wird.« Friedländer, Pieter Bruegel, 114. 45 Volker Gerhardt, Der Wille zur Macht, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, Stuttgart [2000] 2011, 351-355. 46 Zur Grundlegung einer visuellen Narratologie: Wolfgang Kemp, Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983, 10-40; Siehe auch Wolfgang Kemp, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992, 7-28. Diskurstheoretische Anknüpfungspunkte finden sich im Werk Michael Baxandalls zur Rekonstruktion historischen Sehens; dazu umfassend: Peter Mack/Robert Williams (Hg.), Michael Baxandall, Vision and the Work of Words, London/New York 2015. Ansätze zu einer praxistheoretischen Fundierung finden sich in einem nicht narratologisch ausgerichteten Werk: Sophia Prinz, Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014, 225-327. 47 Vgl. Wyss, Pieter Bruegel, 9f., 52f f. Die Argumente zur Narratologie von Bruegels Komposition finden sich auch in: Michael F. Zimmermann, Bilder als Erzählung: Neue Wege der Erschließung von Malerei für Nutzer aktueller Medien – vorgestellt am Beispiel einer Analyse von Pieter Bruegels Landschaf t mit dem Sturz des Ikarus (späte 1560er Jahre), in: Johannes Kirschenmann/Frank Schulz (Hg.), Kunst – Geschichte – Unterricht, Bd.
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Abb. 4: Hans Bol (Mechelen 1534-Amsterdam 1593), Landschaf t mit dem Sturz des Ikarus, Deckfarben auf Papier, 13,3 x 20,6 cm. Antwerpen, Museum Mayer van den Bergh. Gehen wir zunächst auf Ovid ein, der in Buch VIII der Metamorphosen die Geschichte von der Flucht aus Kreta gestaltet, wo Daedalus mit seinem Sohn durch König Minos festgehalten wurde.48 Der Vater, Urfigur aller Erfinder und Ingenieure, baut Flügel aus Wachs und Federn und mahnt den Sohn, weder der Erde zu nahe zu kommen, damit die Schwingen, denen der Vögel nachempfunden, nicht feucht und schwer würden, noch der Sonne, damit das Wachs nicht schmelze. Auch solle er sich vor Sternbildern wie dem Schwert tragenden Orion nicht fürchten. Nach einem väterlichen Kuss geht es los. »Wer sie erblickt, ein Fischer vielleicht, der mit schwingender Rute angelt, ein Hirte, gelehnt auf den Stab, und, auf die Pf lugschar gestützt, ein Bauer, sie schauen und staunen und glauben, Götter zu sehen, da diese am Himmel reisen konnten«, so Ovid.49 Der Ausgang ist bekannt. Folgt man nur dieser Episode, so erscheint Ikarus als der überhebliche Sohn, der den stoi1: Fokussierungen. Kunst- und Bildgeschichte als kunstpädagogisches Bezugsfeld, München 2020 [tatsächlich: 2021], 196-245. 48 Vgl. Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, hg. von Erich Rösch, München 1952, 183-235. 49 Ovidius Naso, Metamorphosen, 284f f., hier 287 [doch Übersetzung verändert].
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schen Mittelweg zwischen der Erde und der Sonne nicht zu halten weiß und aus Leichtsinn die väterliche Ermahnung in den Wind schlägt, alles Maß überschreitet und sich dadurch selbst richtet.50 Spätere Künstler haben diese Episode mehrfach akkurat und leicht lesbar dargestellt, d.h. sie zeigen die Hauptfiguren in jener Positionierung, die Ovid nennt. Plakativ in den Mittelpunkt rücken sie stets den herabstürzenden Ikarus und den Vater, der sich nach ihm umwendet – also den Höhepunkt, die Peripetie der Tragödie, deren klassische Regeln Ovid hier neben den Konventionen des Epos befolgt. Beispielhaft für andere Bilder, die das Thema illustrieren, seien hier eine Gouache Hans Bols (Abb. 4) und ein Gemälde auf Holz von der Hand Josse de Mompers angeführt (Abb. 5). In einer breitformatigen, reliefartig angelegten Komposition reiht Bol die von Ovid genannten Begleitfiguren in der vordersten Bildebene unterhalb einer Landschaft aus Bergen und Kastellen auf. Das Auf blicken des Schäfers, des Pf lügenden und des Anglers wird zudem durch zwei weitere Hirten unten links zu einem Chor des Erstaunens verallgemeinert. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf die Hauptfiguren gerichtet, die gleich zweimal dargestellt sind. Vater und Sohn sind nicht nur am Himmel zu sehen, sondern, unter Durchbrechung der zeitlichen Einheit der Handlung, aber nicht fernab damaliger Bildkonventionen, ein zweites Mal im Mittelgrund bei vorhergehenden Flugversuchen auf einer Insel.51 De Momper (Abb. 5) gewährt Dädalus und Ikarus in seinem annähernd quadratischen Gemälde mehr Platz; jedoch machen wir hinter dem Pf lügenden und dem Angler den Hirten erst in der Bildtiefe aus. Der Betrachter trifft auf beiden Leinwänden also auf die bei Ovid erwähnten Schauenden, deren Erstaunen ihn umstandslos mit erfasst: auf den Fischer, den Hirten – die bei Bol und de Momper, gemäß dem Text, aber anders als bei Bruegel, 50 Eine stoische Lesart des Ikarus scheint ein früherer Landschaftsstich Bruegels nahezulegen: Simon Novellanus (zugeschrieben) nach Pieter Bruegel, Flußlandschaft mit Dädalus und Ikarus, um 1595, inschriftlich auf eine 1553 in Rom von Bruegel festgehaltene Komposition zurückgeführt, Radierung, 27,5 x 33,7 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung. Der Stich ist beschriftet: »inter utrumque vola, medio tutissimus ibis«. Doch wurden die mythischen Figuren offenbar auf Veranlassung des Verlegers Joris Hoefnagel beigefügt. Vgl. die Katalognotiz von Tobias Pfeifer-Helke in: Mössinger/Müller (Hg.), Pieter Bruegel, 100f. 51 Vgl. Hans Nieuwdorp/Iris Kockelbergh, Museum Mayer van den Bergh, Antwerpen, Brüssel 1992, 56f.; Hans Bols Landschaft ist im Inventar unter Nr. 48 verzeichnet. Von seiner Hand sind mehrere Darstellungen des Stoffs überliefert.
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Abb. 5: Josse de Momper d.J. (Antwerpen 1564-1635), Ikarussturz, um 1590, Öl auf Holz, 154 x 173 cm. Stockholm, Nationalmuseum. zum stürzenden Ikarus auf blicken –, auf den Bauern, der den Pf lug im Voranschreiten in die Erde rammt, schließlich auf den vorausf liegenden Vater, der sich zu dem bei Bol hinter ihm, bei de Momper in der Tiefe des Bildes, taumelnd niedergehenden Sohn umwendet.52 Mehr noch als Bruegels Holztafel im Museum van Buuren leuchten diese Darstellungen illustrativ zunächst eher ein als das Brüsseler Leinwand-Gemälde. Ganz textgetreu sind sie nicht: Nach dem Ovidschen Text blickte sich Dädalus gar nicht nach dem 52 Vgl. Görel Cavalli-Björkman, Dutch and Flemish Paintings, Bd. 1, C. 1400 - c. 1600, [Nationalmuseum Stockholm] Stockholm 1986, 90f. Die Tafel, die sich 1621 in Prag befand und in einem Inventar Pieter Bruegel zugeschrieben wurde, bildete mit einer weiteren zur Abfahrt der griechischen Flotte aus Troya ein Paar; sie ist unter Nr. 731 inventarisiert. Siehe auch: Klaus Ertz, Josse de Momper der Jüngere (1564-1635). Die Gemälde mit kritischem Oeuvrekatalog, Freren 1986, Kat. Nr. 549, 615. Das zuvor auch Hans Bol zugeschriebene Gemälde wird dort auf 1590 datiert.
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Fallenden um, sondern schaute erst zurück, als er von diesem nichts mehr vernahm und der Sohn auch nicht mehr zu sehen war. Bei Bruegel sehen wir – in gegenüber Ovid genau umgekehrter Reihenfolge – im Vordergrund zuerst den Pf lügenden, der fast zur Hauptfigur wird, dann dahinter den Schäfer, schließlich den Fischer und erst vor diesem die zappelnden Beine des Ikarus. Wer den Text kennt, wundert sich darüber, dass der Pf lügende nicht zu den vermeintlichen »Göttern« emporblickt. Auch der Schäfer schaut wohl nicht zu Dädalus hinauf, sondern prüft vielleicht eher die Witterung, die ihn dazu zwingen könnte, seine Herde heimzutreiben. Nicht einmal der Angler, vor dessen Augen der antike Anti-Held doch ins Meer stürzt, wird dadurch im mindesten von seinem Tun abgelenkt. Was hat es damit auf sich? Diese Frage kann in zwei Schritten beantwortet werden, zunächst durch einen erneuten Blick in den Text, dann durch eine Ref lexion darüber, warum Ikarus hier, wie schon Friedländer auffiel, durch die Gleichgültigkeit des wenig neugierigen Bildpersonals sozusagen ein zweites Mal bestraft wird.53 Bei Bol und de Momper scheinen die erstaunt und vielleicht auch empört Auf blickenden die – vermeintlich eindeutige – Moral der Geschichte bereits zu kommentieren. Bei Bruegel jedoch bleibt sie unklar. Die geläufige Lesart des Mythos von Ikarus und seinem Vater war von mittelalterlichen Autoren aktualisiert worden. In seiner moralisierenden Deutung hatte etwa Pierre Bersuire die Episode in den weiteren Kontext der Kreta-Mythen eingestellt. Dädalus hatte das Labyrinth für den Minotaurus errichtet, jenes Monstrum, das Pasiphae, Mutter der Ariadne und Gemahlin des Königs Minos, ehebrecherisch mit einem Stier gezeugt hatte. Später half Ariadne mit ihrem berühmten Faden dem Helden Theseus, der damit durch das Labyrinth finden konnte, das Ungeheuer zu töten. Doch Theseus wurde der Gehilfin später untreu, worauf hin Dionysos die auf Naxos Schlafende erblickte, sie zur Gattin nahm und schließlich als Sternbild ans Firmament versetzte. Bersuire las Theseus, den später doch untreuen, aber heldenhaften Sieger über das Böse, allegorisierend als Vorwegnahme Christi, was nur vor dem Hintergrund seiner Interpretation der Ariadne als mythische Verkörperung des Judentums plausibel wird. Ikarus dagegen deutet er gemäß der schon in der Spätantike ansetzenden Tradition des Ovidius Moralizatus als Inbild der Hybris.54 53 Vgl. Friedländer, Pieter Bruegel, 114. 54 Vgl. Petrus Berchorius [Pierre Bersuire (1290-1362)], Reductorium Morale. Liber XV: Ovidius moralizatus, 4 Bd., 1960-1971 (Bd. 1 und 2 nach Pariser Drucken aus dem Jahre 1509). Auch:
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Abb. 6: Anonymer Künstler, Dädalus blickt sich nach seinem stürzenden Sohn um und begräbt ihn hernach auf Ikaria, beides unter den Augen Perdix’, des Rebhuhns, Holzschnitt, in: Nicolò degli Agostini, Tutti li libri de Ovidio Metamorphoseos tradotti dal litteral in verso vulgar con le sue allegorie in prosa, Buch VIII, Venedig, 1522, s.p. [Blatt 92 verso]. Vordergründig hatte schon Ovid in Ikarus, der den väterlichen Rat in den Wind geschlagen hatte, den Übermut verkörpert gesehen. Doch der Skeptiker unter den großen, klassischen Dichtern der Augusteischen Zeit, der eine umfassende mythopoetische Erzähldichtung ironisch zu inszenieren vermochte, hat es nicht dabei belassen.55 Er liefert eine zweite Erzählung nach, die alles ändert. In einem Rückblick, einer Analepse, erinnert er daran, dass Dädalus noch vor seinem Aufenthalt auf Kreta in all seiner Genialität durch einen jugendlichen Schüler in seiner Obhut, seinen Neffen, überf lügelt worden war, als dieser die Säge, den Zirkel und die Töpferscheibe erfand. Zornig hatte der Eifersüchtige den Schüler, der zum Rivalen geworden war, die Akropolis hinabgestürzt – doch Athena, den Kreativen wohlgesonnen, wie Ovid schreibt, hatte den StürMichèle Dancourt, Dédale & Icare. Métamorphoses d’un mythe, Paris 2002 (auch online aufrufbar unter: https://books.openedition.org/editionscnrs/4919), 5-22. 55 Vgl. Niklas Holzberg, Ovids Metamorphosen, München 2007. Weiterführende Literatur zu Ovid findet sich im Portal Kirke, einsehbar unter: http://www.kirke.hu-berlin.de/ovid/ovbibfr.html [letzter Zugriff: 11.10.2020] und dem von der UB Heidelberg und der BSB München betriebenen Fachportal: Propylaeum. Virtuelle Fachbibliothek Altertumswissenschaften.
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zenden in ein Rebhuhn verwandelt, lateinisch Perdix, so auch der Name des Neffen. Die Agilität seines Geistes beseelte, wie es heißt, nun seine Federn und Flügel. In Erinnerung seines Sturzes mied Perdix fortan jeden Höhenf lug.56 In Gestalt des schwerfälligen Vogels schaut er nun lachend zu, während der Sohn seines eifersüchtigen, mörderischen Lehrers umkommt. Mittelalterliche Mythografen, die von Ikarus schrieben, haben diese Episode in der Regel weggelassen. Perdix wurde getrennt von Ikarus allegorisiert: Das Rebhuhn f liegt nur bodennah, und es weiß sich zu tarnen. Doch der Physiologus und frühmittelalterliche Traktate haben in ihm keineswegs ein Inbild kluger Bescheidenheit gesehen, sondern, da es angeblich die Eier anderer Vögel stehle und ausbrüte, einen trügerischen Vogel.57 In der frühhumanistisch geprägten Mythologie fand Perdix wieder Eingang in die Ikarus-Legende. Im Jahre 1522 wurden auf einem Holzschnitt (Abb. 6) zwei Sequenzen miteinander kombiniert: Oben blickt Dädalus sich vor dem stürzenden Ikarus nach diesem um, und unten begräbt er ihn auf der Insel, die seither Ikaria heißt. Perdix schaut bei beidem zu.58 Auch Bruegel gibt ihm als Zuschauer von Ikarus’ Todeskampf einen Platz. Wir müssen lange nach dem gut getarnten Vogel suchen (Abb. 7). Mit den Mitteln seines Mediums – der durch Perspektive und Größenverhältnisse geleiteten Blickregie – liefert Breugel wie Ovid die Episode des Perdix sozusagen nach. Auch vor seinem Gemälde wirft sie nun erst im Nachhinein – als zweiter Gedanke – die Frage nach dem ethischen Sinn auf. Bereits zuvor hatte Bruegel 56 Vgl. Ovidius Naso, Metamorphosen, 286ff.; vgl. auch: Ulrich Weisstein, The Partridge without a Pear Tree: Pieter Bruegel the Elder as an Illustrator of Ovid, in: Comparative Criticism, (4/1982), 58-83. Der Autor wundert sich über die Ausdruckslosigkeit des Vogels in Bruegels Komposition. 57 Vgl. Friedrich Lauchert, Geschichte des Physiologus, Straßburg 1889, 136, 296. 58 Vgl. Bodo Guthmüller, Mito, poesia, arte. Saggi sulla tradizione ovidiana nel Rinascimento, Rom 1997, 66f., 75ff., 97ff., 269ff.; vgl. auch die im Aufbau begriffene Forschungsdatenbank von Claudia Cieri Via, Cattedra di Iconografia e Iconologia, Dipartimento di Storia dell’arte e spettacolo, Facoltà di Lettere e Filosofia, Sapienza Università di Roma, Iconos.it, Viaggio interattivo nelle Metamorfosi d’Ovidio [s.d.], einsehbar unter: http://www.iconos.it/le-metamorfosi-di-ovidio/libro-viii/pernice/immagini/02-pernice/ [letzter Zugriff: 21.02.2020]. Die Illustration wurde folgendem Traktat entnommen: Nicolò degli Agostini, Tutti li libri de Ovidio Metamorphoseos tradotti dal litteral in verso vulgar con le sue allegorie in prosa (Buch VIII), Venedig (Jacomo da Leco) 1522, Blatt 92 verso. Eine Online-Version ist über die Österreichische Nationalbibliothek einsehbar unter: http://digital.onb.ac.at/OnbViewer/viewer. faces?doc=ABO_%2BZ173201300 [letzter Zugriff: 21.02.2020].
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jedoch, anders als der Dichter, sogar die Hauptfigur des Ikarus sozusagen nachgeschoben. Die Vordergrundfiguren entlang gleitet der Blick, bevor er auf Ikarus – und dann erst auf Perdix – stößt. Die scheinbar periphere Platzierung des namengebenden Helden, durch die wir ihn erst nach längerer Betrachtung entdecken, ist gegenüber Ovid eine entscheidende Inversion der Erzählfolge. Die Inversion der Ikarusund der Perdix-Geschichte durch den Dichter wird darin allerdings in raffiniertester Weise bildlich weitergedacht. An dieser Stelle sei daran erinnert, Abb. 7: nach Pieter Bruegel, dass die Perspektive nicht als leerer Landschaft mit dem Sturz des Raumkasten erfunden wurde, sondern Ikarus, Brüssel, Musées Royaux zur Schaffung von Erzählräumen, die des Beaux-Arts, Ausschnitt mit den eine Entfaltung der Narration auch in Beinen des ertrinkenden Ikarus und die Tiefe ermöglichen. Michael Baxan- dem Rebhuhn. dall hat in Giotto and the Orators (1986) nachgewiesen, dass die Begriffe, die Leon Battista Alberti für die Komposition von Gliedern, Figuren und einer ganzen historia verwendet, der klassischen Rhetorik entlehnt wurden: Das Arrangement eines zugkräftigen Arguments wird so in Analogie zu dem einer überzeugenden Bildkomposition gesetzt.59 Dem gleichen Repertoire entstammt, so Baxandall, auch die Terminologie, die etwa für die perspektivische Gestaltung eines verkürzten Plattenfußbodens und des sich darüber erhebenden Raums verwendet wird: Wenn eine Platte einen »braccio« breit sei, so sei dies auch der Name für ein »Glied« in einer rhetorischen Argumentation oder in einer proportionsgerechten Figurenkomposition. Die Perspektive ist also keine Technik zur Schaffung einer neutralen Bühne für Figuren, die allein eine historia erzählen können, sondern ein Verfahren zur Schaffung eines kohärenten, komplexen Erzählraums, der selbst 59 Michael Baxandall, Giotto and the Orators, Oxford/New York 1974, 1-49, 121-139. Über die Wiederholung des Rahmens im Szenario des Gemäldes: Johannes Grave, Architekturen des Sehens. Bauten in Bildern des Quattrocento, Paderborn 2015, 35ff., 66f.
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an der Narration beteiligt ist. Wenn Bruegel das Bildgeschehen in der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus nicht (wie de Momper) von den Hauptfiguren aus in Richtung auf eine in die Tiefe hinein entfaltete Vorgeschichte erzählt, sondern umgekehrt derart, dass die Nebenfiguren den Blick erst auf die viel zu kleinen Helden und Antihelden der Erzählung führen, so gestaltet er damit nicht nur die Zeitlichkeit von Ovids Gedicht im visuellen Medium nach. Der Maler, den wir hier als Bruegel identifizieren, – oder seine humanistischen Gesprächspartner – haben offenbar nach einer Blickregie gesucht, die Ovids gerissener Erzählfolge nicht einfach analog, sondern im tieferen Sinne angemessen wäre. Nicht nur bei Ovid, sondern auch vor dem Gemälde stellt Perdix die geläufige Moral der Geschichte erst in Frage, wenn man die Erzählung schrittweise, d.h. im temporalen Nacheinander – und nicht mit einem Mal, in der Synchronie des Bildes – nachvollzogen hat.60 In der oft hervorgehobenen kunstvollen Staffelung eines hoch gelegenen Vordergrunds, des weiter unten liegenden Mittelgrunds und dahinter des – im Vergleich zur Blickhöhe, mit der man auf die Stadt und das Gebirge schaut – viel zu nahen Gestades, wendet der Maler die Perspektive nicht nur an, sondern er manipuliert, ja thematisiert sie – und damit auch den beherrschenden, die Welt durchmessenden Weitblick, den sie ja inszeniert. Insofern werfen Ikarus, hat der Betrachter ihn einmal ausgemacht, dann Perdix, und schließlich der abwesende Dädalus, eine ethische Frage auf: die nach der Berechtigung der durch avancierte Maltechnik zugerüsteten, überf liegenden Überschau, die uns hier gewährt wird. Zugleich schließt dieses frühe Landschaftsgemälde die Legitimation einer solchen Gattung mit ein – und zwar gerade dadurch, dass es sie – in vorwegnehmender Kritik – in Frage stellt. Die nachgeschobene Vorgeschichte von Dädalus’ Mord am eigenen Neffen ist geeignet, den ethischen Sinn des Ikarus-Berichts in sein Gegenteil zu verkehren. Die Tugend des mahnenden Erfinder-Vaters hat sich in Luft aufgelöst. Der Sohn wird entlastet: Vielleicht hat ihn gar nicht sein Übermut das Leben gekostet, sondern das unerbittliche Schicksal. Hatte es der Vater nicht schon heraufbeschworen, als er aus Eifersucht den Perdix getötet hatte, und nahm es nun nicht am Mörder durch den Tod seines Sohnes Rache? Das gleiche fa60 Allgemeiner zu solchen bildspezifischen Temporalitäten (nicht nur, aber auch im narratologischen Sinne): Johannes Grave, Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Michael Gamper/Helmut Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung: Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014, 51-71.
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tum, dessen Macht schon für die Antike das menschliche Handeln beschränkte, wurde später mit der Vorherbestimmtheit der Schöpfung durch Gott, der Prädestination, verbunden. Die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Prädestination, Verdienst und Gnade hatte schon den Hl. Augustinus umgetrieben; sie barg den Keim späterer Konfessionsstreitigkeiten.61 In der Reformation war sie Anlass für eine klassische Kontroverse über den ›arbitrium‹, das freie Ermessen des Menschen. Während Gott, so Erasmus von Rotterdam 1524, die menschliche Freiheit als Ausnahme von seiner eigenen Allwissenheit gewollt hatte, um so den Menschen die Entscheidung für ihn erst zu ermöglichen, sah Luther in ihr, wie er 1525 antwortete, die Quelle aller Täuschung. Sie sei daran schuld, dass der Mensch seine Verdienste überheblich sich selbst zuschreibe. In Wahrheit versklave er sich durch seinen beschränkten Blick auf das Geschehen nur an die Sinnlichkeit, Quell allen sündigen Begehrens. Sie mache ihn auch für das Vertrauen auf Gottes allein seligmachende Gnade blind.62 Eine Diskussion darüber, ob Ikarus schon durch das Handeln des Vaters im Vorhinein (durch Prädestination) verdammt war – etwa wie Esau, der von den Reformatoren als Beispiel genannt wurde – oder er sich selbst erst durch seinen Übermut gerichtet hatte, konnte vor diesem Hintergrund theologische Aktualität beanspruchen. Zugerüstet mit theologischem Wissen, konnten Anhänger*innen des Erasmus der Verdammnis entgehen, auch wenn sie nicht auf ihre Vorherbestimmtheit zur ewigen Seligkeit vertrauen konnten. Doch nicht nur für die Reformatoren, sondern auch für den katholisch gebliebenen Erasmus war die Freiheit und die Lust an ihr, nicht nur die zu Gott, unhintergehbar mit der Erbsünde verquickt. Diese umfasst hier sicherlich die Blicklust mit. Dennoch führt sie – fasst man sie mit Erasmus auf – den Gläubigen, sofern dieser seine eigene Verfallenheit erkennt, nicht unweigerlich ins Verderben. Erst vor diesem Hintergrund macht ein unscheinbares, gut getarntes Rebhuhn die anfangs doch klare Moral der Gschicht’ zum konfessionellen Streitfall. 61 Zur Prädestination im Rahmen der Gnadenlehre des Hl. Augustinus: Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart [1986] 2000, 37-53, 671ff. 62 Über Prädestination und Reformation: Desiderius Erasmus, De libero arbitrio, [1524]; Martin Luther, De servo arbitrio, [1525], beide diskutiert in: Marjorie O’Rourke Boyle, Rhetoric and Reform. Erasmus’ Civil Dispute with Luther, Cambridge 1983, 5-142; vgl. auch: Christine Christ-von Wedel, Erasmus von Rotterdam. Anwalt eines neuzeitlichen Christentums, Münster 2003, 167-181; Martin Marty, Martin Luther, New York 2004, 130ff.; vgl. auch die brillante, obschon journalistische Darstellung von: Michael Massing, Fatal Discord. Erasmus, Luther, and the Fight for the Western Mind, New York 2018, 600-606, 670-676.
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IV. Malen wider die Hybris. Der Blick in die Ferne und seine innerbildliche Infragestellung Perdix stellt also mit einem Male alles in Frage. An der Problematisierung der visuellen Neugierde freilich haben der Bauer mit seinem Schwert und die weiteren Nebengestalten ihren Anteil, und diesen gilt es nun näher zu bestimmen. Erneut müssen wir darüber nachdenken, warum Bruegel – anders als de Momper – weder den Pf lügenden noch den Angler zum mythischen Hauptgeschehen auf blicken lässt. Den Schäfer könnte man in der Version des Museums van Buuren noch so deuten, als schaue er zu Dädalus hinauf, doch mindestens vor der Leinwand aus den Musées Royaux scheint sein eher skeptisch einschätzender als erstaunter Blick jenen Wolken zu gelten, die links über dem Gebirge aufziehen (Abb. 1). Über der untergehenden Sonne – nicht um sie herum – erscheint ein gleißender Lichtkreis, als würde sie nun zweimal in zeitlicher Folge auf leuchten: zuerst oben am Himmel, als sie dem Ikarus die Flügel versengt, dann – zur Orchestrierung seines Untergangs – beim Versinken hinter dem Horizont. Dies könnte das Ergebnis einer Planänderung sein, die wohl nur einem Bruegel selbst zuzutrauen wäre: Möglicherweise hat er die Abendsonne erst spät hinzugefügt. Seit Charles de Tolnay wurden die Figuren oft als Rebus vor gelehrtem Hintergrund gedeutet; die Kontexte, die dazu jeweils namhaft gemacht wurden, reichen von der Astrologie zu Hesiods Lehre von den Weltaltern.63 In Wyss’ komplexer Ausdeutung steht der Pf lügende auch ideell im Vordergrund. Vorn fällt ein Attribut ins Auge, nämlich ein Schwert, das auf einem Geldbeutel liegt (Abb. 8). Darin sieht er einen Hinweis auf den kriegerischen Charakter des ehernen Zeitalters, für das auch die Arbeit des Pf lügens stehe. Frühere Interpretationen, die derartige Details unter Berufung auf niederländische Spruchweisheit deuten, lehnt er als geradezu banausisch ab. Da pf legte man bei Gelegenheit zu mahnen, dass das Schwert – und die Geldbörse – mit Bedacht zu nutzen seien.64 Ein weiteres Detail kann die Deutungsarbeit nicht aussparen. Über der Kruppe des Pferdes, das den Pf lug zieht, erkennt man 63 Astrologisch-neuplatonische Deutung: Karl von Tolnai [Charles de Tolnay], Studien zu den Gemälden Pieter Bruegels d. Ä., in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 8 (1934), 105-135, hier 109. 64 Wyss, Pieter Bruegel, 38f f. Deutungen mit Blick auf Spruchweisheit, wie schon Tolnay sie vertreten hatte, weist Wyss zurück.
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klein im Gebüsch den Kopf eines auf dem Rücken liegenden Toten, als würde Bruegel hier Antonionis Film Blow up vorwegnehmen (Abb. 9). Wyss sieht darin erneut einen Hinweis auf das Eherne Zeitalter, in dem der Tod herrscht.65 Tolnay hatte dieses rätselhafte Detail vor dem Hintergrund eines Sprichworts gelesen: »Es bleibt kein Pf lug stehen um eines Menschen willen, der stirbt«.66 Dieser Spruch hat auch biblische Untertöne. In Lukas 9, 62, wird gemahnt, dass jemand, der die Hand an den Pf lug lege, sich dabei aber umschaue, nicht auf das Reich Gottes vorbereitet sei.67 Sowohl mit Blick auf Bruegels Oeuvre als auch vor dem Hintergrund einer Abb. 8: nach Pieter Bruegel, humanistischen Mode scheint die Deu- Landschaft mit dem Sturz des tung durch den Verweis auf weithin Ikarus, Brüssel, Musées Royaux des bekannte niederländische Sprichworte Beaux-Arts, Ausschnitt mit Schwert nach wie vor hilfreich. Nicht nur für den und Geldbörse des Pf lügenden. Bruegel der »Wimmelbilder« wie die berühmten Niederländischen Sprichworte (1559) in Berlin,68 sondern auch für den späteren, der zu plakativen Bildfiguren findet, waren Sprichworte eine wichtige Inspiration. Das kleine Holzgemälde Bauer und Vogeldieb (Abb. 10) zeigt den Landmann als besserwisserischen Wanderer, der auf einen Nesträuber zurückweist. Der den Betrachter anblickende Held deutet dabei selbstgerecht mit dem Finger auf den Nestplünderer hinter ihm, der auf einen Baum geklettert ist und gerade nach den Eiern langt – und dies, obwohl er selbst 65 Wyss, Pieter Bruegel, 41. 66 Von Tolnai [de Tolnay], Studien zu den Gemälden Pieter Bruegels d. Ä., 110. 67 Kenneth Lindsay/Bernard Huppé, Meaning and Method in Brueghel’s Painting, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 14 (1956), 376-386, hier 383. 68 Bruegel, Die niederländischen Sprichwörter [zeitgenössische Bezeichnung Der blaue Mantel], 1559, Öl auf Eichenholz, 117,5 x 163,5 cm. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie; Müller, Das Paradox, 155-171; Marijnissen, Bruegel, 133ff.; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. 3, 279.
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doch gerade geistesabwesend einen Schritt tut, der ihn sogleich ins Wasser stürzen lassen wird. Der Maler nimmt damit gleich einen ganzen Schatz von Redensarten und Sprichworten auf, von denen die einen die Nesträuber vor dem Fall sehen, die anderen deren zupackende Entschlossenheit dem folgenlosen Wissen anderer gegenüberstellen – teils sogar mit Anspielungen auf das in Liebesfragen angeratene Vorgehen: »wer’s weiss, weiss es – wer’s hat, Abb. 9: nach Pieter Bruegel, Landschaft hat es«. Eine im Hintergrund vor dem reichen Gehöft sichtbare junmit dem Sturz des Ikarus, Brüssel, ge Bäuerin bringt wohl auch diese Musées Royaux des Beaux-Arts, Sinnschicht mit ein. Bruegel scheint Ausschnitt mit dem rücklings im das Treiben des Diebs gleichermaGebüsch liegenden Toten. ßen wie das Besserwissen des Bauernburschen zu verurteilen und den Betrachter dazu aufzufordern, nach einer dritten, höheren Einstellung zu suchen.69 Er folgt damit der zuvor undenkbaren, dann aber folgenreichen Aufwertung der Adagia (von adagium, Sprichwort) durch Erasmus von Rotterdam.70 Dieser hatte in seiner Sammlung, die anfangs vorwiegend lateinische, dann auch griechische Beispiele umfasste, schließlich auch zeitgenössische Redensarten mitberücksichtigt. Der Autor des ironischen Lobs der Narrheit (Laus stultitiae; 1511 in Paris gedruckt) wertet das Spruchwissen aller Zeiten 69 Bruegel, Bauer und Vogeldieb oder Der Nesträuber, 1568, Öl auf Holz, 59,3 x 68,3 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum. Marijnissen, Bruegel, 348ff.; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. 33, 296f.; vgl. auch: Müller, Von Korbträgern, 25-46. Für eine Interpretation des Gemäldes im Kontext der Praxis der gelehrten Auseinandersetzung, die durch mehrdeutige Bildvorwürfe auf den Plan gerufen wird, und in diesem Rahmen insbesondere des Streits um den relativen Wert der klassisch-humanistischen, mit Italien verbundenen im Verhältnis zur eigenen, niederländischen Tradition, siehe: Todd M. Richardson, Pieter Bruegel the Elder. Art Discourse in the Sixteenth-Century Netherlands, London/New York 2011, 149-162. 70 Zu Bruegel als Erasmianer und seiner Rezeption der Spruchweisheit in anderen Gemälden: Müller, Das Paradox, 76f f.
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Abb. 10: Pieter Bruegel, Bauer und Vogeldieb, 1568, Öl auf Holz, 59 x 68 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum. als Volkserfahrung auf und wendet es gegen zeitgenössische Missstände. Zudem sieht er in dieser Überlieferung Zeugnisse einer Zeiten und Schicksale übersteigenden Weisheit, die dem stoischen Gleichmut, der Erlangung innerer Freiheit aufgrund von emotionaler Unbeeindruckbarkeit, griechisch apátheia, nahe sei.71 Diese ethische Grundeinstellung fand er auch in den Sprichworten seiner eigenen Heimat. Schon für die Zeitgenossen zeugen die Adagia von einer ebenso uranfänglichen wie aktuellen Wahrheit. Die um sich 71 Erasmus von Rotterdam, Collectanea adagiorum [später Adagia, erstmals 1500, jeweils erweitert 1503, 1508 und postum 1533]. Eine ausführliche Studie der Sprichwörter, die in das niederländische Volkstum oder die Literatur eingegangen sind: W.H.D. [Wilhelm Heinrich Dominicus] Suringar, Erasmus over nederlandsche spreekwoorden en spreekwoordelijke Uitdrukkingen van zijnen Tijd, Utrecht 1873 [mit umfassender niederländische Einleitung zu den Adagia und späteren Sprichwortsammlungen]; Suringer, Erasmus, 572-593 [Artikel (auf Latein) zu einzelnen Stichworten, nützlicher Index zu niederländischen Sprichwörtern].
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greifende Begeisterung, die wohl Menschen unterschiedlicher Bildung zusammenführte, ist früher Ausdruck eines idealisierenden »Primitivismus« des Volkes, wie Arthur O. Lovejoy und George Boas ihn seit den 1930er Jahren rekonstruiert haben.72 Erasmus fand reiche Nachfolge – von Rabelais bis zu den zahlreichen Sammlungen französischer, niederländischer und auch deutscher Spruchweisheit, die bis Mitte des 16. Jahrhunderts in rascher Folge verlegt wurden.73 Sein christlicher Stoizismus ist vielleicht die Lektion, die Bruegels Bauer und Vogeldieb (Abb. 10) uns letztlich erteilt – jenseits der Botschaft der Hauptfigur. Denkt man an den von Erasmus initiierten und vor allem in Löwen gepf legten stoischen Humanismus, so scheint es naheliegend, auch im Ikarussturz Exempel jener Tugenden zu suchen, die der für alle Stoiker maßgeblichen senatorischen Geschichtsschreibung der römischen Kaiserzeit, etwa Titus Livius oder Seneca, am Herz lagen. Die Bürger der römischen Republik orientierten sich ebenso wie der auf Kontinuität des »mos maiorum« bedachte Senatsadel der Kaiserzeit an den darin vorbildlichen Helden.74 So können Schwert und Geldbeutel auch auf die Staatsgeschäfte verweisen, denen sich der römische Gutsbesitzer bei Bedarf verpf lichtet weiß, ohne sich deswegen vom Ehrgeiz eines Politikers treiben zu lassen. Denn letztlich ist der römische Bürger an seinen Oikos, und damit an seinen Grund, gebunden. Cincinnatus, der, in den Krieg gerufen, den Acker verließ, obwohl Frau und Kinder dadurch brotlos wurden, wäre das topische Tugendexempel bei Livius, und tatsächlich wird er bisweilen als Pf lügender mit Schwert gezeigt.75 Ein weiteres Beispiel ist Cato Uticensis, der seine niedrige Abkunft 72 Arthur O. Lovejoy/George Boas, Primitivism and Related Ideas in Antiquity, Baltimore 1935, 103ff. [über »›nature‹ as norm«], 243ff. [über Cicero und die Stoiker]; vgl. auch George Boas, Primitivism and Related Ideas in the Middle Ages, Baltimore 1948, 129ff. [»The Noble Savage«]. 73 Tanja Michalsky, ›Perlen vor die Säue‹. Zu Pieter Bruegels visueller Reflexion über die Speicherung kulturellen Wissens in den ›Niederländischen Sprichwörtern‹ [1559], in: Jost Schieren (Hg.), Bild und Wirklichkeit. Welterfahrung im Medium von Kunst und Kunstpädagogik, München 2008, 11-37; zu publizierten Sprichwortsammlungen [mit weiteren Literaturhinweisen]: Michalsky, ›Perlen vor die Säue‹, 21f. 74 Zum durch Erasmus 1517 begründeten, zunächst bis 1590 fortbestehenden Collegium Trilingue in Löwen und seiner Nachwirkung: Jozef Ijsewijn, Humanism in the Low Countries, in: Albert Rabil Jr. (Hg.), Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Legacy. Humanism beyond Italy, 3 Bde., Philadelphia 1988, Bd. 2, 156-215, hier 163f. 75 Boris Dunsch, Exemplo aliis esse debetis. Cincinnatus in der antiken Literatur, in: Ulrich Niggemann/Kai Ruffing (Hg.), Antike als Modell in Nordamerika? Konstruktion und Verargu-
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durch herausragende republikanische Tugenden zu kompensieren wusste. Unbeugsam und nahezu anachronistisch, wie Theodor Mommsen meinte, an den Idealen republikanischer Adelstugenden festhaltend, stürzte er sich in sein Schwert, mit welchem er vorher Caesar bekämpft hatte, nachdem eine Koalition, an der er sich beteiligt hatte, dem Tyrannen in Nordafrika unterlegen war. Er, dessen Unbeugsamkeit gegenüber dem Schicksal ihn bis in den Tod zum Verteidiger der Freiheit gemacht habe, war für Plutarch der Stoiker schlechthin.76 Nach dem Einzug des Herzogs von Alba in die spanischen Provinzen der Niederlande wäre eine Anspielung auf die Bereitschaft zum Freitod durch das Schwert – angesichts eines siegreichen Tyrannen – ebenso aktuell wie gefährlich gewesen; vielleicht sind wir in gut versteckter Form jedoch mit so etwas konfrontiert. Auch der rätselhafte Tote im Gebüsch neben dem Pf lügenden fügt sich in diese Deutung. Anna Blume interpretiert die Figur intelligent mit Walter Benjamin. Zusammen mit dem sterbenden Ikarus würde sie auf den Ausgang verweisen, auf den zu warten ist, bevor das Geschehen in seinem zeitlichen Ablauf angehalten und zur Geschichte zusammengezogen werden kann. Erst der Tod ermöglicht so die ethische Wertung der zu ihrem Ende gelangten, damit auch erst erzählbaren Geschichte – aber auch deren abschließende Verewigung im Medium, sei dies nun eine Tragödie oder ein Gemälde.77 Der Gedanke bleibt auch dann attraktiv, wenn wir ihn im Sinne einer Mahnung zuspitzen, an den Tod zu denken, diesen aber zugleich schon stoisch – wie ein Cincinnatus oder ein Cato Uticensis – zu verachten. Die prominenteste Figur der Komposition, die, wie wir nun erfahren haben, nicht nur den Pf lug, sondern, denkt man an das Sprichwort, auch Schwert und Geldbeutel zu führen weiß, lässt sich also selbst durch das Erregungspotential fallender Heroen nicht ablenken. Wie sie sind auch die anderen Staffagefiguren sämtlich von ihrem Tun absorbiert. Der Schäfer schaut auf die Wolken, die ihn dazu veranlassen können, seine gerade noch ruhig grasende Herde bald heimzutreiben, und auch der Angler beugt sich geradezu plakativ über seine Beschäftigung – in jener kugeligen Körperhaltung, die Hans Sedlmayr unter mentierung. 1763-1809 (Historische Zeitschrift 55), München 2011, 219-248. 76 Piero Pecchuira, La figura di Cato Uticense nella letteratura latina, Turin 1965. 77 Anna Blume, In the Wake of Production: A Study of Breugel’s Landscape with the Fall of Icarus, in: Donald E. Morse (Hg.), The Delegated Intellect. Emersonian Essays on Literature, Science, and Art in Honor of Don Gif ford, New York/Washington/Bern 1995, 236-261.
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Rückgriff auf einen Ausdruck, den er bei Benedetto Croce gefunden hatte, als »macchia«, Flecken, beschrieb, für den Wiener Kunsthistoriker der Zwischenkriegszeit ein »Strukturäquivalent« zu Bruegels satirischem Blick auf die Bauern.78 Ähnlich kugelgestaltige Hingabe findet man bei genauem Hinsehen sogar bei den Seeleuten, die in der Takelage der Karacke zu erkennen sind. Die Abweichung von Ovids Text ist Programm: Hier tut ein jeder – wie der Stoiker, der sich nur dadurch frei weiß – unbeirrt seine Pf licht. Niemand gönnt sich den Blick ins Weltganze – außer Daedalus, der bei Ovid, als er zurückschaut, gar nicht, wie hier, den Sohn, sondern nur noch die Federn von dessen Flügeln auf den Wellen des Meeres erblickt, nahe der Insel, die er Ikaria taufen sollte. Möglicherweise hat der Ingenieursvater auf der Brüsseler Leinwand, dessen Blick dem Betrachter unterschoben wird, die zappelnden Beinchen des Sohnes ja noch gar nicht entdeckt. Jedenfalls finden wir hier den Grund, warum von Ikarus so wenig – wenn auch etwas mehr als nur die Federn – zu sehen ist. Ein paar Federn hätten jedoch kaum gereicht, um den Betrachter schlussendlich doch auf das Ovidische Sujet zu bringen. Seit dem hohen Mittelalter wurden Blicke in landschaftliche Weiten mit der Mahnung verbunden, dass die Erhebung des Menschen über das Ganze der Schöpfung eigentlich verboten sei. Ein berühmtes Beispiel, wie man die Hybris zugleich auf den Plan rufen und doch den Blick bis zum Horizont schweifen lassen kann, ist Jan van Eycks Madonna des Kanzlers Rolin (Abb. 11). Andächtig kniet der Emporkömmling, der sich hier so selbstbewusst in vollem Ornat inszeniert, vor der Mutter Gottes. Zwischen seinem und ihrem Haupt öffnen drei Bögen den Blick auf das weite Tal eines Flusses, der sich ins Meer ergießt – auch dies sicherlich eine frühe ›Weltlandschaft‹, die hier aber nur den Hintergrund ausfüllt. Über dem Kopf des Auftraggebers erkennt man ein Kapitell, das auf romanische Kunst anspielt (Abb. 12). Dessen Beschreibung sei Karin Gludovatz überlassen, der die Interpretation des Gemäldes, die hier vorgetragen wird, zu verdanken ist: Während Sem (oder Japhet?) die Blöße seines Vaters bedeckt, Ham aber darauf hinweist, wendet sich Japhet (oder Sem?) ab (Genesis 9, 20-27). Auch dieser Text erzählt von verbotenen Blicken, denn Ham fällt schließlich in Ungnade, weil er, anders als seine Brüder, sieht, wo er nicht sehen dürfte. 78 Hans Sedlmayr, Die ›Macchia‹ Bruegels, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 8 (1934), 137-160.
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Mit bestürzter Geste hält einer der guten Söhne die Hände an seinen Kopf, eine weitere Person neben ihm deckt ihre Augen ab (Abb. 12). Dieser Mann steht in der Fläche als Endpunkt des Kapitells und bezeichnet mit dieser Position den Übergang von Drinnen und Draußen, Stein und Himmel, Skulptur und Malerei, altem und neuem Bund – aber auch altem und neuem Bild. Nicht weil die skulptierten Figürchen einer stilistisch älteren Phase angehören sollen, sondern weil eben dieser Mann, den wir unbenannt lassen müssen (der Bibeltext nennt nur drei Söhne Noahs) inhaltlich und räumlich der Innenraumszene integriert ist. Dort wird uns der Prozess der Andacht vorgeführt, nur dass das Andachtsbild sich verlebendigt hat, um gleichzeitig mit dem Anbetenden im Bild zusammengeschlossen zu werden.79 Signifikant ist für Karin Gludovatz auch, dass ein Mann mit rotem Turban, der in der Bildmitte auf der Landschaftsterrasse vor der Zinnenwand als Rückenfigur zu sehen ist, zu erkennen ist. Identifiziert man, wozu eine Inschrift auf dem Bilderrahmen anregt, van Eycks Porträt eines Manns mit rotem Turban als programmatisches Selbstbildnis,80 so wird erkennbar, dass der Maler sich selbst erneut vor der weiten Landschaft der Rolin-Madonna als autopoetische Figur ins Spiel bringt (Abb. 11). Hier sei an die Ausgangsthese erinnert, nach der derartige Weitblicke geradezu systematisch das Subjekt mit zum Thema haben. Das verwundert aus mittelalterlicher Sicht wenig, erhebt es sich doch vor der Welt, die sich ihm öffnet, in einzigartiger Weise, indem es sich das visuelle Wissen des Schöpfers anmaßt. Hams Vergehen, der Blick auf das Organ des trunkenen Noah, mit dem dieser die Welt mit Blick auf die Folgen der Flut sozusagen ein zweites Mal gezeugt hatte (Abb. 12), wiederholt sich in dieser visuellen Weltzeugung. Die Sünde des schandhaften Blicks und ihre Sühne wurden in den Bilderstreitigkeiten des 16. Jahrhundert wieder aktuell. In überraschender Weise gilt dies auch für die Erzählung von Noahs Trunkenheit. Die biblische Episode wurde bald weithin für die Legitimation des Sklavenhandels und 79 Karin Gludovatz, Der Name am Rahmen, der Maler im Bild. Künstlerselbstverständnis und Produktionskommentar in den Signaturen Jan van Eycks, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 54 (1/2005), 115-175, hier 173. 80 Vgl. Karin Gludovatz, Jan van Eyck, Der Mann mit dem roten Turban, in: Ulrich Pfisterer/ Valeska von Rosen (Hg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2005, 34-35.
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Abb. 11: Jan van Eyck, Madonna des Kanzlers Rolin, um 1435-1437, Öl auf Holz, 65 x 62,3 cm. Paris, Louvre.
Abb. 12: Jan van Eyck, Madonna des Kanzlers Rolin, Paris, Louvre, Ausschnitt mit dem Relief zum Thema Noahs Schande auf dem Kapitell über der Landschaf t.
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des damit einhergehenden Rassismus herangezogen. Wieder nüchtern geworden, verf luchte Noah den schamlosen Sohn – in der Bibel ist in einem plötzlichen Perspektivwechsel von »Kanaan« die Rede, um damit die von Israel bei und nach der Landnahme verdrängten Völker zu bezeichnen.81 Hams Nachkommen sollten, wie man später erzählte, den Brüdern Sem und Japheth als Sklaven zudienst sein. Neben die verbreitete klimatheoretische Begründung des Sklavenhandels trat schon Ende des 16. Jahrhundert auch eine biblische: Die Schwarzen seien die von Noah verf luchten Hamiten.82 Ein klassischer Text über das Spannungsverhältnis zwischen skopischer Schöpfungsfreude und der Bescheidung auf das dem Sünder Zustehende ist Petrarcas auf den 26. April 1336 datierter Brief von seinem Aufstieg auf den provenzalischen Mont Ventoux. Erstmals in der abendländischen Literatur- und Kulturgeschichte versammelt der Blick des Dichters das Land unter dem Horizont des Weltozeans. Die Voraussetzung für dieses neue Sehen von Natur als Landschaft ist die Ref lexion des Sehenden. Durch sie macht er sich bewusst, dass sein Bewusstsein von der Natur entfremdet ist – eine Entfremdung, die er zugleich durch Ästhetisierung zu überbrücken sucht.83 Tatsächlich war Petrarca, für Jacob Burckhardt »der früheste vollständige moderne Mensch«, auch literarisch einer der ersten, die das Ich in der Lyrik und besonders in Briefen autopoetisch zur Sprache kommen liessen.84 In dem berühmten Text hat der Erzähler, wie er beschreibt, bei seinem Anstieg manche Schwierigkeiten zu überwinden, und nur der Übermut der Jugend führt zum Ziel, wo sich dann ein überwältigendes Panorama von den Pyrenäen zum Apennin präsentiert und gleichsam die Höhe des Olymps vor Augen führt. Vor 81 Vgl. Gerhard von Rad, Das 1. Buch Mose. Genesis, Göttingen 1987, 101ff. 82 Vgl. Kendi, Stamped, 31f. 83 Vgl. Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Münster 1963, 146, 174; vgl. auch: Joachim Ritter, Natur und Landschaft, in: Vorlesungen zur philosophischen Ästhetik, hg. von Ulrich von Bülow/Marc Schweda, Göttingen 2010, 129-152. Zur kritischen Diskussion der umfangreichen Literatur: Jens Pfeiffer, Petrarca und der Mont Ventoux (Zu Familiares IV, 1), in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 47 (1997), 1-24; vgl. auch: Dieter Mertens, Mont Ventoux, Mons Alvernae, Kapitol und Parnass. Zur Interpretation von Petrarcas Brief Fam. IV, 1 ›De curis propriis‹, in: Andreas Bihrer/Elisabeth Stein (Hg.), Nova de veteribus: mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, München/ Leipzig 2004, 713-734 [Diskussion über Deutungen und Interpretationsstreitigkeiten]. 84 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Stuttgart [1860] 1958, 277; vgl. auch: Karlheinz Stierle, Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München 2003.
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diesem unglaublichen Szenario blickt der Dichter auf die Wirrungen seines bisherigen Lebens zurück. Und dann kommt ihm der Gedanke, aufs Geratewohl die Confessiones des Hl. Augustinus, die er mit sich führte, aufzuschlagen, wo er auf die Stelle getroffen sei: »Und die Menschen ziehen aus, die Gipfel der Berge, die weiten Fluten der Meere, die breiten Ströme der Flüsse, den immensen Ozean und den Lauf der Sterne zu betrachten, und sie vernachlässigen sich selbst.«85 Inmitten seines von sich selbst durchaus mitergriffenen Ergreifens der Weltlandschaft erkennt der Dichter seine Freude am Seherlebnis als Befriedigung einer cupiditas videndi – und damit einer Sünde wider jene Bescheidenheit, mit der allein sich ein Geschöpf der göttlichen Schöpfung zuwenden sollte. – Auch in der in Brüssel erhaltenen Landschaft mit dem Sturz des Ikarus steht dem berauschenden Höhenf lug des Helden die Selbstbescheidung jener entgegen, die schicksalsergeben – hier zudem mit stoischer Apathie gegenüber den Verlockungen des Gesichtssinnes, des visus – ihre Pf licht tun. Mit der Macht und Ohnmacht des Blicks hat Bruegel sich in weiteren Gemälden befasst. Eine Zeichnung, nach der ein Stich gedruckt wurde, zeigt »Elck«, den niederländische Jedermann des 16. Jahrhunderts, der mit einer Laterne in der Hand im Diesseitigen nach seinem Glück forscht – eine Parodie des Diogenes, der sich aus seiner Tonne aufmachte, um am helllichten Tag mit der Laterne in der Hand einen »Menschen« zu finden (Abb. 13). Schon 1558 war der moralische Blick auf skopische Regime also durchaus Bruegels Sache. »Elck« forscht in mehrfacher Gestalt im Gerümpel nach sich – ja er streitet sogar mit sich selbst vor einer Tafel, auf der er ein weiteres Mal, und zwar als Narr, dargestellt ist. Beide Bemühungen erweisen sich als gleichermaßen vergeblich. Aber anders als der von den damaligen Stoikern neu erzählte Diogenes hinterfragt der närrisch vervielfältigte »Elck« nicht nur das Ich und das wahre Menschsein, sondern er tut dies unter Rückgriff auf die Volksweisheit. Damit wird nicht nur der Egoismus, sondern auch das sich selbst durch antike Bildung ermächtigende Subjekt in Frage gestellt. Dies markiert auch gegenüber dem Humanismus einen Bruch in der Subjektphilosophie. Wie so oft, erweist Bruegel sich als Erasmus verpf lichtet. Schon dieser hatte das Renaissance-Subjekt in seiner »Torheit« mit der Volkserfahrung konfrontiert und es dadurch beschämt. Hintergründig ist der in seiner 85 Augustinus, Confessiones (X, 8, 15), zit. von Petrarca, Familiarum rerum libri (Bd. IV, 1, 27); vgl. die Ausgabe: Francesco Petrarca, Le Familiari (I) (Edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca, 10), hg. von Vittorio Rossi, Florenz 1933, 153-161, Anhang 199ff.
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Abb. 13: Pieter Bruegels, Elck (Jedermann), 1558, Feder in dunklem Rotbraun, 20,8 x 29,3 cm. London, The British Museum, Department of Prints and Drawing. Selbstsuche und -sucht heruntergekommene »Elck« wohl ein Verwandter des Daedalus – und auch des Betrachters vor dieser Landschaft.86 Ähnliche Interessen finden sich auch in Bruegels spätem Gemälde Tanz unter dem Galgen, im Jahre 1568 und damit gemäß der hier vorgeschlagenen Datierung in zeitlicher Nähe zu unserem Ikarus entstanden. Zahlreiche Interpretationen wurden dieser komplexen Tafel gewidmet, die Bruegel seiner Frau hinterließ. Da gibt es die provozierende Gestalt eines Bauern, der links unten im Gebüsch kauernd seine Notdurft verrichtet – und dabei dem Betrachter das Hinterteil zuwendet. Direkt vor diesem erkennt man zwei Betrachtende, 86 Vgl. die frühe Zeichnung Pieter Bruegels, Elck (Jedermann), 1558, Feder in dunklem Rotbraun, 20,8 x 29,3 cm. London, The British Museum, Department of Prints and Drawings, in: Marijnissen, Bruegel, 100ff.; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. Z54. Zum Kupferstich nach der Zeichnung »Elck«, »Jedermann«, Pieter van der Heyden zugeschrieben (um 1558, 22,8 x 29,4 cm. Würzburg, Martin von Wagner-Museum der Universität Würzburg); siehe auch: Müller, Das Paradox, 56-76; Müller, Katalognotiz in: Mössinger/ Müller (Hg.), Pieter Bruegel, 180f.; Müller, Vom inneren und äußeren Sehen. Bilder verfehlter Gottessuche, in: Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, 66-113, hier 69f.
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die sich durch ihre Haltung von den tanzenden Bauern als Ref lexionsfiguren abheben. Der eine zeigt mit ausladender Geste in die Bildtiefe – man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob er damit auf die Tanzenden oder die Landschaft verweist. Seinen Überschwang kann man so ernst nehmen wie die vermeintliche Schläue (die Klugsch…) des Jünglings, der auf den Vogeldieb hinter ihm zurückweist (Abb. 10). Jedenfalls scheint der »Kacker« dies so zu kommentieren.87
V. Kartografie und darüber hinaus: zeitgenössische Diskurse um den Kolonialismus, seine Ziele und seine Legitimation Nils Büttner und Tanja Michalsky haben die Landschaftsmalerei Bruegels mit der Kartografie in Verbindung gebracht, letztlich unter Rückgriff auf Svetlana Alpers’ berühmtes Buch The Art of Describing (1983).88 Überzeugend rekonstruiert Michalsky einen visuellen Diskurs, der durch die Ausdifferenzierung eines komplexen medialen Systems gekennzeichnet ist.89 Dieses umfasste ebenso die Entstehung der Landschaftsmalerei – wovon Bruegels zur Weltlandschaft synthetisierte Komposition zeugt – wie die Kartografie, ob damit Seekarten gemeint sind, die genaue Küstenverläufe dokumentieren, nationale Karten wie die Darstellung der später belgischen Provinzen als »Bär« oder Atlantenwerke wie ein berühmtes, mit dessen Edition Bruegels Freund Abraham Ortelius jahrelang beschäftigt war. Ein Jahr nach dem Tod des Malers 1570 gab Ortelius unter dem Titel Theatrum orbis terrarum erstmals einen aus einzelnen Karten gleichen Formats bestehenden Atlas heraus, der hernach in weiteren Auf lagen immer wieder ergänzt wurde. Auf eine
87 Die Elster auf dem Galgen oder Tanz unter dem Galgen, 1568, Öl auf Holz, 45,9 x 50, 8 cm. Darmstadt, Hessisches Landesmuseum, in: Marijnissen, Bruegel, 370-375; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. 37, 299. 88 Svetlana Alpers, The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago 1983, 119-168; auch: Nils Büttner, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000, 47-60. 89 Vgl. Michalsky, Projektion und Imagination, 72-107; vgl. auch: Christine Göttler/Tine Magneck, Sites of Art, Nature and the Antique in the Spanish Netherlands, in: Sven Dupré/Bert De Munck/Werner Thomas et al., (Hg.), Embattled Territory. The Circulation of Knowledge in the Spanish Netherlands, Gent 2015, 333-370 [345-351 zu Ortelius Epitaph auf Pieter Bruegel].
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Abb. 14: Abraham Ortelius (1527-1598), Theatrum orbis terrarum, Antwerpen, 20. Mai 1570, erste Doppelkarte zur Weltgeographie. einführende Weltkarte (Abb. 14) folgten untereinander maßstabsgleiche Karten, doch noch ohne Skalierung oder Gitternetze.90 Michalsky hat den entstehenden Kolonialismus in diesem Zusammenhang nicht eingehender diskutiert. Doch gerade wenn man in Ortelius’ Kartenwerk nach dessen Wirkungsstätte Antwerpen sucht, stößt man auf die Funktion der Stadt im globalen Handel. Im Begleittext zur Karte Flanderns wird die Stadt eloquent als Zentrum des Welthandels gepriesen. Ortelius schreibt Antwerpen eine herausragende Stellung nicht nur in Flandern, sondern auch im Heiligen Römischen Reich, schließlich in ganz Europa zu. Die Türme an der Schelde vergleicht er mit anderen, die er sämtlich durch diejenigen Antwerpens überragt sieht – Metonymie für den herausgehobenen Rang der Hafenstadt.91 90 Vgl. Marcel van den Broecke, Abraham Ortelius (1527-1598). Life, Works, Sources and Friends, Bilthoven 2016. Zur Freundschaft zwischen Bruegel und Ortelius: Tanja Michalsky, Imitation und Imagination. Die Landschaft Pieter Bruegels d.Ä. im Blick der Humanisten, in: Hartmut Laufhütte (Hg.), Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 35), 2 Bde., Wiesbaden 2000, Bd. 1, 383-405. 91 Vgl. Abraham Ortelius, Theatrum orbis terrarum, Antwerpen [1570] 1571, 16.
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Abb. 15: Frans Huys nach Pieter Bruegel d. Ä., Seeschlacht in der Meerenge von Messina, 1561, Kupferstich und Radierung auf zwei Platten, 42,5 x 71,5 cm. Rotterdam, Museum Boimans van Beuningen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass Michalsky an der Identifikation der Stadt in der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus als Messina festhält. Wyss hatte die Felsen im Hintergrund als Skylla und Charybdis an der Meerenge dechiffriert – eine keineswegs zwingende Interpretation. Zu Recht erinnert Michalsky daran, dass Bruegel vermutlich selbst bis nach Messina gereist war und dort eine Seeschlacht zwischen spanischen und türkisch-osmanischen Schiffen in einem Kupferstich festgehalten hatte (Abb. 15).92 Wenn sie jedoch hervorhebt, dass die beiden gebogenen Molen vor der bei Bruegel dargestellten Stadt an Messina erinnern, dann kann man einwenden, dass sie auch in einem Neapel darstellenden Gemälde, das Bruegel bisweilen immer noch zugeschrieben wird, zu finden sind.93 Es handelt sich wohl einfach um plakative Merkmale, die in synthetischen Darstellungen 92 Frans Huys nach Pieter Bruegel d. Ä., Seeschlacht in der Meerenge von Messina, 1561, Kupferstich und Radierung auf zwei Platten, 42,5 x 71,5 cm, in: Marijnissen, Bruegel 164; Müller/ Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. G19, 412. 93 Bruegel zugeschrieben, Blick auf Neapel oder Schlacht im Hafen von Neapel, 1562, Öl auf Holz, 39,8 x 69,5 cm. Rom, Galeria Doria [unter »Fragwürdige Zuschreibungen« in: Marijnissen, Bruegel, 381 – mit Verweis auf die von Schiffsfachleuten hervorgehobene Genauigkeit der Darstellungen; nicht in: Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel].
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eine Hafenstadt als solche erkennbar machen. Doch selbst wenn man zugesteht, dass Bruegel sich an Messina erinnert haben mag, als er die Komposition anlegte, wäre die Stadt in dieser Weltlandschaft durchaus auch als Anspielung auf eine ganze Reihe mythischer Orte zu lesen: zunächst natürlich auf das antike Kreta und die Insel Ikaria – jedenfalls eher als auf Messina, wo die beiden Felsen Seeleute wie den Odysseus bedrohten. In der Synthese einer Hafenstadt, die auf Erzählungen von Homer bis Ovid und weiter auf den zeitgenössischen Seehandel anspielt, könnte Antwerpen durchaus mit gemeint sein. Auf dem Höhepunkt ihrer Blüte, vielleicht zu Anfang jener Konf likte, die dieser recht bald mindestens zeitweilig ein Ende bereiten sollten, suchte die Stadt im mythischen Europa – ebenso wie im unlängst erst kolonial erschlossenen Weltganzen – ihren Platz. Darauf, dass in der mythischen Lokalisierung sich zugleich auch globale Verortungen spiegeln, verweist das Schiff, das hier mit seiner Fracht auf den Hafen zufährt. Bruegel hat es aus einem früheren Stich kopiert; daher ist die Perspektive etwas unstimmig (Abb. 1). Man muss dies nicht als Zeichen dafür sehen, dass diese Komposition aus Versatzstücken des Meisters von einem Nachfolger zusammenmontiert wurde, wie gelegentlich behauptet. Was den Tiefenzug der Perspektive, auch der Entfaltung der narrativen Elemente angeht, ist das gut bewaffnete Handelsschiff wesentlicher Bestandteil dieser raffinierten Komposition. Es setzt die Abfolge, die von den Begleitfiguren auf den sterbenden Ikarus zuführt, in gleicher Richtung – und erneut mit provozierender Gleichgültigkeit dem Stürzenden gegenüber – in die Tiefe des Bildes hinein fort. Zugleich steht es für die Vernetzung der Hafenstadt im zeitgenössischen Welthandel, und damit für deren Prosperität. So verdoppelt es die skopische Selbstermächtigung des Schauenden in einer komplexen Allegorie.94 In Antwerpen und im nahen Löwen war die Eroberung der Welt auch das Thema philosophisch-theologischer Diskussionen.95 Zwischen Erasmianern und denjenigen unter den Humanisten, die für die Reformation mindestens teilweise offen waren, wurden über die Legitimation des Kolonialismus, aber auch die Richtung, die er nehmen sollte, durchaus Debatten geführt. In die94 Der Betrachter, der die demiurgische Rolle des Malers nachvollzieht, ist hier im starken Sinne ein »painter-beholder« gemäß der Auffassung von: Michael Fried, Absorption and Theatricality: Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago/London 1980, 107-160. 95 Vgl. Werner Thomas/Johan Verberckmoes, The Southern Netherlands as a Centre of Global Knowledge Concerning the Iberian Empires in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: Dupré/De Munck/Thomas u.a. (Hg.), Embattled Territory, 161-197.
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sem Milieu wäre die hier Bruegel zugeschriebene Bildfindung zu verorten. Philologisch müssten entsprechende Diskurse interdisziplinär noch genauer rekonstruiert werden. Wenn hier exemplarisch auf eine Hauptfigur, den Portugiesen Damião de Góis, verwiesen wird, so können damit nur spätere Forschungen vorweggenommen werden. In anderen Kontexten – z.B. im Rahmen der in Portugal und seinen ehemaligen Kolonien geleisteten Erinnerungsarbeit zum Post- und Dekolonialismus oder auch in der Afrikanistik – wird über ihn Abb. 16: (möglicherweise seit Langem geforscht, weniger aber mit Blick nach) Albrecht Dürer, auf die spanischen Niederlande im Vorfeld der Porträt Damião de Góis, Religionskriege.96 Obwohl ihm eine Reihe von 1520-21, Kreide und Pinsel auf gebräuntem Papier, 36,5 x Monografien und Sammelschriften gewidmet 28,5 cm. Wien, Albertina. wurde, bleibt seine Gestalt rätselhaft, ebenso wie übrigens auch sein Konterfei. Ein Blatt von Philips Galle trägt eine Inschrift, die wohl auf den Dürer-Umkreis, vielleicht auf Willibald Pirckheimer zurückgeht. Darin wird de Góis als Geschichtsschreiber der Äthiopier mit Thukydides, dem Historiker des peloponnesischen Kriegs, und Livius verglichen.97 Die Grafik legt es nahe, eine Zeichnung Dürers (oder die erhaltene Kopie danach) als Bildnis des portugiesischen Gelehrten zu identifizieren (Abb. 16).98 Sie war möglicherweise auch die Vorlage für ein
96 Literatur zu Damião de Góis: Elisabeth Feist Hirsch, Damião de Góis. The Life and Thought of a Portuguese Humanist, 1502-1574, Den Haag 1967. 97 Philips Galle, Porträt des Damião de Góis, 1587, Kupferstich, 16,9 x 11,9 cm. Amsterdam, Rijksmuseum, Rijksprentenkabinet; Vgl. Manfred Sellink, Philips Galle (1537-1612). Engraver and Print Publisher in Haarlem and Antwerp, Amsterdam 2001, Bd. 2, 261, einsehbar unter: https://research.vu.nl/ws/portalfiles/portal/42098299/sellinkphilipsgalleii+.pdf [letzter Zugriff: 12.10.2020]. 98 Die Dürer zugeschriebene Porträtzeichnung an der Albertina, Wien, Inv. Nr. 3166. Vgl. Walter Koschatzky/Alice Strobl, Die Dürer-Zeichnungen der Albertina (Nr. 134), Salzburg 1971; Matthias Mende, Dürer’s so-called Portrait of Damião de Góis: Toward a Reconstruction of a lost Painting of 1521, in: William W. Clarke (Hg.), Tribute to Lotte Brand Philip, Art Historian and Detective, New York 1985, 103-111.
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postumes, lebhaftes Porträt in Öl, welches sehr hypothetisch Jan Gossart zugeschrieben wird.99 Der Historiker hatte als 13-Jähriger erlebt, wie eine um Bündnis und Schutz bittende Delegation gelehrter Äthiopier am portugiesischen Hof abgewiesen wurde. Afrika und auch Indien interessierten ihn, seitdem er seit 1523 als portugiesischer Geschäftslegat tätig war und in dieser Mission sein international vernetztes Land in Flandern, aber auch im damals polnischen Litauen, in Dänemark und Schweden vertrat.100 Vorher hatte er in Padua, später zeitweilig bei Erasmus gelernt und 1531 auch Luther und Melanchthon getroffen.101 1532 widmete er Äthiopien, für ihn ein altchristliches Reich, eine Schrift, welche die kommentierte Übersetzung des Traktats eines äthiopischen Mönchs enthält; 1540 brachte er dieses Werk in erweiterter Form heraus.102 In dem ostafrikanischen Reich sah de Góis eine Tradition noch lebendig, die direkt auf das frühe Christentum zurückging. Seine Aufforderung, den christlichen Glauben und Kult bei den »Salomonischen« Kopten ernst zu nehmen und zu studieren, wurde sogleich und dann immer mehr als unterschwellig reformatorische Verabsolutierung der frühen Kirche gegenüber der theologischen Tradition des Abendlandes beargwöhnt. Der abenteuerliche Vorschlag, ein unter der katholischen Kirche geeintes Europa könne gemeinsam mit den Äthiopiern den Islam eindämmen, war in einer Zeit, als das Königreich Portugal zeitweilig sogar Hormuz am Persischen Golf besetzt hielt, weniger utopisch, als er heute anmutet. Äthiopische Herrscher, deren von 1509 bis 1527 verfasste Briefe an abendländische Herrscher und den Papst 99 Jan Gossart zugeschrieben (nach Philips Galle), Porträt des Damião de Góis, 1587-1600, Öl auf Eichenholz, 43.6 x 33,9 cm, versteigert bei Sotheby’s, London, 08.12.2005, Nr. 222. Zu Gossarts Porträtschaffen (ohne mutmaßliches Góis-Porträt): Marian W. Ainsworth (Hg.), Man, Myth, and Sensual Pleasures: Jan Gossart’s Renaissance (Ausst.-Kat., New York, The Metropolitan Museum of Art), New Haven/London 2010, 243-302, 402ff. 100 Zur Biografie: Hirsch, Damião de Góis, 50-63. 101 Zu Damião de Góis bei Erasmus, Luther und Melanchthon, insbesondere zum engen Verhältnis zu Erasmus: Hirsch, Damião de Góis, 64-89; Amadeu Torres (Hg.), Damião de Góis: humanista português na Europa do Renascimento, Lissabon 2002. 102 Vgl. Damianus a Goes, Legatio Magni Indorum Imperatoris Presbyteri Ioannis, Antwerpen 1532; Damianus a Goes, Fides, Religio, Moresque Aethiopum sub Imperio presbyteri Ioannis, Löwen 1540. Dazu auch: Siegbert Uhlig/Gernot Bühring (Hg.), Damian de Góis’ Schrift über Glaube und Sitten der Äthiopier, Wiesbaden 1994, 21-54, 38-53 [zu der Schrift, die ein Traktat des äthiopischen Mönches Ṣagā Za-՚ab enthielt. Dieser hielt sich seit 1527 in Portugal auf und traf 1533 de Góis].
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de Goís abdruckte, hatten schon früh vor einem Vorgehen der Mameluken gegen portugiesische Kolonien in Indien gewarnt. Doch bald verdammten Papst und Kaiser die Äthiopier als Häretiker: Ihre Sabbat-Pf lege wurde als jüdisch gebrandmarkt, man unterstellte ihnen gar muslimische Vielweiberei. Dabei hatte de Goís wichtigste Quelle, ein äthiopischer Mönch, derartige, seit Längerem zirkulierende Vorwürfe in dem abgedruckten Traktat zu entkräften versucht.103 Wenig später lasen Jesuiten, die sich seit 1557 um Mission in Äthiopien bemühten, de Goís’ Schrift und das darin kompilierte Material sehr aufmerksam.104 Auch in Löwen, wo der Gelehrte sich seit 1538 auf hielt, verfolgte man seine Arbeit mit Interesse. Nicht nur den Äthiopiern galt seine Aufmerksamkeit, sondern ebenso den »Lappen«, d.h. den Samen.105 In seiner Schrift über dieses Volk aus dem Norden Skandinaviens, die 1540 im Traktat über Äthiopien mit abgedruckt wurde, klingen primitivistische Vorstellungen einer von Natur aus guten Menschheit an. Die ›Gabe der Zivilisation‹ sollte diesen Völkern zwar gebracht werden, doch umgekehrt sollte das Abendland auch von ihnen lernen.106 Weniger anstößig waren de Goís’ Schriften zum Ruhm der portugiesischen Kolonisierungstätigkeit in Indien, etwa in Goa.107 Trotz dieser Panegyrik wurde er bereits als Lutheraner verdächtigt, als er 1546 einen Ruf König Joãos III. (genannt »der Fromme« oder auch »der 103 Zur Debatte um Damião de Góis’ Äthiopien-Utopien: Jean-Claude Margolin, L’Éthiopie et les Éthiopiens de Damião de Góis, in: António Maria Martins Melo (Hg.), Congresso Internacional Damião de Góis na Europa do Renscimento, Braga 2003, 743-768, hier 760f. Johan Stor, Erzbischof von Uppsala, hoffte, aus den Schriften über Äthiopien Lehren für die Evangelisierung der Lappen ziehen zu können. Siehe auch: Giuseppe Marcocci, Gli umanisti italiani e l’impero portoghese: una interpretazione della Fides, Religio, Moresque Æthiopum di Damião de Góis, in: Rinascimento 45 (2005), 307-366. gl. Andreu Martínez d’Alòs-Moner, The Prester John’s New Clothes, in: Andreu Martí104 V nez d’Alòs-Moner (Hg.), Envoys of a Human God. The Jesuit Mission to Christian Ethiopia, 15571632, Leiden 2015, 1-23. 105 De Góis, Fides, Religio, Moresque. 106 Siehe zu späteren Legitimationen des Kolonialismus auch: Ulla Haselstein, Die Gabe der Zivilisation. Kultureller Austausch und literarische Textpraxis in Amerika, 1682-1861, München 2000. 107 Über die erfolglose Belagerung der portugiesischen Kolonie Diu durch den Sultan von Gujarat und Suleiman I.: Damião de Góis, Legatio Magni Indorum Imperatoris Presbyteri Ioannis, Antwerpen 1532; Damianus a Goes, Commentarii rerum gestarum in India citra Gangem a Lusitanis anno 1538, Löwen 1539; Maria José Ferreira Lopes, Estudo historico, literário e linguístico da obra Commentarii rerum gestarum in India citra Gangem a Lusianis anno 1538 de Damião de Góis, Braga 2017, 205-455.
Weitsicht und Selbstbescheidung
Kolonialherr«) als Archivar und Historiograf nach Portugal annahm. Er veröffentlichte noch wichtige Werke zur zeitgenössischen Dynastiegeschichte. Doch bald wurden einige seiner Schriften auf den Index gesetzt. Noch als alter Mann wurde er von der Inquisition eingekerkert, was ihm einen Tod bald nach der Freilassung aus der Haft bescherte.108 In Löwen, wo de Goís gewirkt hatte, blieben die Arbeiten des portugiesischen Zeithistorikers in den Kreisen eines auf Erasmus eingeschworenen Humanismus sicherlich bekannt.109 In Antwerpen dürfte man seine Schriften über die Kolonien ohnehin aufmerksam zur Kenntnis genommen haben. In ihnen können wir durchaus eine frühe Umkehrung des kolonialistischen Blicks erkennen, der von den Äthiopiern oder den Samen auf die Welterkunder und -eroberer zurückfällt. Es war sicherlich Erasmus’ Weltoffenheit, auch seine religiöse Toleranz, die de Goís Blick auf die koptischen Christen und die ›Lappen‹ geformt hatte. Wenn der viel reisende und gewandte Gelehrte von einer interkulturellen Begegnung im Zeichen eines weltoffenen, reformorientierten Christentums träumte, so erkennt man auch darin seine Erasmianische Prägung. Zwar propagierte er durchaus Kolonialismus als Mittel der christlichen Missionierung. Doch trat er dabei auch für eine Strategie ein, die auf Kooperation statt auf Ausbeutung setzte. Die Realität des Dreieckshandels sah anders aus. Statt Dialoge zu eröffnen, haben die Weltreisen der kolonialen Ausbeutung den Weg gebahnt. Diente die primitivistische Idealisierung von Samen wie Äthiopiern anfangs vielleicht auch der Legitimierung der wirtschaftlichen Ausplünderung der Welt? Oder wurde hier doch eine Chance vertan, mit den Anderen – den Äthiopiern, den Samen – jenseits des Meeres zu dialogisieren? Wie auch immer: das Scheitern eines Idealisten wie de Góis lässt die Frage nach der Wertung seiner Vorstellungen in den Hintergrund treten. Gleich ob er Reformen predigte oder nur das im Auf bau befindliche Ungleichheitsregime neu legitimierte, blieb seinen Utopien nach den Religionskriegen eine tiefere politische Wirkung versagt. Allerdings wurden seine Schriften aus geografisch-ethnologischen Interessen heraus lange neu aufgelegt. Sein Werk belegt, dass es kurz vor den blutigen Auseinandersetzungen, die letztlich zur Abspaltung der vereinigten Niederlande von den spanischen, dem späteren Belgien, führten, in und um Antwerpen zur Legitimation des Kolonia108 Vgl. Hirsch, Damião de Góis, 208-220. 109 Zu de Góis Wirken in Löwen: Hirsch, Damião de Góis, 115-128.
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lismus durchaus einen Diskurs gab. In diesem galten Unterdrückung und Ausbeutung nicht einfach als durch die Bekehrung legitimiert. Bruegels Thematisierung visueller Macht hat wohl auch darin ihren Kontext.110 Schon wenige Jahre später hatte sich das Klima gewandelt. Die kritischen Schriften eines Bartolomé de Las Casas wurden bald bei den Gegnern Spaniens in den Religionskriegen verbreitet. Die Partei der spanischen Habsburger las weiter den oben erwähnten Gomes Eanes de Zurara zum Lobe Heinrichs des Seefahrers. Auch die Schrift eines Leo Africanus, Della descrittione dell’Africa, verfasst 1526 und im Jahre 1555 auf Italienisch, zugleich auf Latein und 1556 auf Französisch im Druck erschienen, diente der Propaganda für die Kolonisierungen.111 Der Autor war ein junger marokkanischer Intellektueller, der als Sklave verkauft und von Papst Leo X. befreit worden war. Zuvor will dieser Leo Africanus selbst mehrere Länder südlich der Sahara bereist haben. Er beschreibt die Bewohner Afrikas als zivilisatorisch auf niedrigster Stufe stehend, wollüstig und nahezu tierhaft barbarisch.112 Erasmus von Rotterdam, der so hart darum gekämpft hatte, sich von den Reformierten, denen er sich anfänglich doch nahe fühlte, nicht vereinnahmen zu lassen, wurde während des Tridentinischen Konzils von den Katholiken als Reformator verdächtigt; seine Schriften wurden teilweise auf den Index der verbotenen Bücher aufgenommen.113 In einer solchen Zeit wurde auch de Goís – ebenso wie Las Casas – verdächtigt. Anders als Las Casas ließ sich jedoch der portugiesische Erasmianer nicht bruchlos von englischen oder niederländischen Gegnern Spaniens vereinnahmen, die bald die spanische Vorherrschaft brachen und dann selbst am atlantischen Dreieckshandel – auch von schwarzen Sklaven – gut verdienten. Für uns bezeugt de Goís vor allem, dass zu Bruegels Lebzeiten der koloniale Seehandel Gegenstand einer Kontroverse war, in der auch die Frage nach der Legitimation auf kam (selbst, wenn diese vielleicht nicht grundsätzlich bezweifelt wurde).
110 Jürgen Müller schätzt die Landschaf t mit dem Sturz des Ikarus unlängst instinktsicher als »skeptische Fortschrittsallegorie« ein. Siehe den Katalogeintrag zu dem Gemälde in: Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, 302. 111 Vgl. Leo Africanus, The History and Description of Africa, hg. von John Pory/Robert Brown, London 1896. 112 Vgl. Kendi, Stamped, 28f., 518. 113 Vgl. Christine Christ-von Wedel, Erasmus von Rotterdam. Ein Porträt, Basel [2016] 2017, 169ff.
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VI. Europa in den globalen Blickregimen – und im dekolonialen Blick auf sich selbst Wenn durch das bewaffnete Welthandelsschiff der Kontext des Kolonialismus Eingang in die Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (Abb. 1, 3) findet, so steht es doch nicht im Vordergrund. Als Künder von ›neuen‹ Weltgegenden spielt es auf dieser Bühne seine Rolle im Zusammenspiel mit dem Lebensraum pf lichtbewusster Bauern, Schäfer und Fischer, wie sie schon in der antiken Literatur vorkamen. Die Karacke wird nicht bei der Ausfahrt in die Kolonien, schon gar nicht in fernen Landen verortet, sondern sie kehrt in den Heimathafen zurück. In der weit gespannten, frühen ›Weltlandschaft‹ findet sie sich als Fremdkörper – als »Bilderfahrzeug« oder auch als Vehikel des Blicks, das die Aufmerksamkeit in ferne Gegenden weg- oder daraus zurückführt. Bei Bruegel ist es ein Symptom für den Raum jenseits jener Landschaft, welche er als die eigene doch bevorzugt im Blick hält.114 Sein Bild nimmt insofern nicht die brasilianischen Landschaften des Malers Frans Post vorweg, der von 1637 bis 1642 in der kurzzeitig von den Niederlanden okkupierten Kolonie Südamerikas lebte. Posts Darstellungen sind übrigens eine Ausnahme geblieben.115 Auch in der weiteren Geschichte der Landschaftsmalerei, die hier anhebt, sollten die außereuropäischen Kontinente nicht oft in den ästhetischen Blick genommen werden. Dies gilt natürlich nur, wenn man davon absieht, dass die Besiedlungskolonie Nordamerika im 19. Jahrhundert, also im Zuge der fast vollständigen Eroberung durch Kolonisten, ihre Weite inszenierte und sich damit zugleich als neues gelobtes Land und als Lebensraum am westlichen Rand, der ›Frontier‹, einer ›biblischen‹ (und insofern abendländischen) Landschaft verortete. Diese setzt das christliche Europa nur in den Westen hinein fort.116 114 Parallelen in der Stilllebenmalerei wären Objekte des internationalen Welthandels wie orientalische Teppiche, chinesisches Porzellan, indonesische Muscheln oder die lange als exotisch wahrgenommenen Tulpen. Dazu: Julie Berger Hochstrasser, Still Life and Trade in the Dutch Golden Age, New Haven/London 2007. Die Ästhetisierung des eigenen ästhetischen Nahbereichs, der Welt der stilisierten Objekte des Eigengebrauchs, läuft der Ästhetisierung des ferneren Lebenskreises, der Landschaft, zeitlich parallel. 115 León Krempel (Hg.), Frans Post (1612-1680). Maler des verlorenen Paradieses (Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst), Petersberg 2006; Pedro Corrêa do Lago/Bia Corrêa do Lago, Frans Post (1612-1680). Catalogue Raisonné, Mailand 2007. 116 Vgl. Bilder aus der Neuen Welt. Amerikanische Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts. Meisterwerke aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza und Museen der Vereinigten Staaten (Ausst.-
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Zuvor war die Landschaftsmalerei weder thematisch, was den Kreis des Darstellungswürdigen angeht, noch hinsichtlich ihrer Produktion und Rezeption ein globales Genre gewesen. Vielmehr blieb die Bildgattung weitestgehend auf die Lebensräume der Kolonisatoren begrenzt. Nur ihnen war es fortan vergönnt, sich der örtlichen Natur visuell zu vergewissern und sie als ihre sie zugleich umfangende und von ihnen kultivierte Heimat zu ästhetisieren. Die Lebensräume der Kolonisierten sind Gegenstand anderer Medien, vor allem von Landkarten, später von Reisebildern u. ä. Nur in minder aufwändigen Darstellungen werden sie als Habitat in den Blick genommen. Die von Michalsky überzeugend herausgearbeitete Ausdifferenzierung von optischen Medien wie Globen und Atlanten aller Art und Landschaften wäre also zu erweitern um die Beobachtung, dass die Kunstgattung sich dem neu entdeckten Globus gegenüber als abendländisches oder westliches Privileg etabliert. Gerade in ihrer Frühzeit geben sich die präsentierten Landschaften aufgrund religiöser Anspielungen oder, wie bei Bruegel, auch durch mythologische Sujets dezidiert als europäische Kulturräume zu erkennen. Die Lebenswelten der herabgestuften Ethnien wurden in der Regel allenfalls abstrakt kartografiert, wenn sie nicht in Sequenzen von Einzelszenen vorgeführt wurden, die eher durch ihre geografische oder sittengeschichtliche Genauigkeit als aufgrund einer umfassenden Ästhetisierung das Interesse auf sich zogen. Die Erzeugnisse der schrittweise Unterworfenen wurden gleichzeitig als Kuriositäten oder Fetische in Wunderkammern gesammelt, in Stichwerken katalogisiert und in Schautafeln dargestellt.117 Zugleich jedoch tauchen orientalische Teppiche, chinesisches Porzellan oder Kat. Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie, Orangerie des Schlosses Charlottenburg), hg. von Thomas W. Gaehtgens, München 1988 [insbesondere die Beiträge von Heinz Ickstadt, Westward – Der amerikanische Westen als Realität und Mythos, 80-87; siehe auch: Françoise Forster-Hahn, Binghams Trapper und Bootsleute: Bilder vom Mythos der amerikanischen ›Frontier‹, in: ebd., 87-92]; vgl. auch: Haselstein, Die Gabe der Zivilisation. 117 Vgl. zur Kartografie: Walter D. Mignolo, The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality and Colonization, Ann Arbor 1995, 269-312; vgl. auch Cornelia Logemann/Ulrich Pfisterer, Götterbilder und Götzendiener in der Frühen Neuzeit. Bernard Picarts Cérémonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde und das Konzept der Ausstellung, in: Maria Effinger/Cornelia Logemann/Ulrich Pfisterer (Hg.), Götterbilder und Götzendiener in der Frühen Neuzeit. Europas Blick auf fremde Religionen (Schriften der Universitätsbibliothek Heidelberg, 12) (Ausst.-Kat. Heidelberg, Universitätsbibliothek Heidelberg), Heidelberg 2012, 9-22.
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indonesische Muscheln in Stillleben auf – ebenfalls als ›Bilderfahrzeuge‹, als symptomatische Verweise auf das neu erschlossene Weltganze, im heimischen Ambiente. Wie die Landschaft war also seit dem 16. Jahrhundert auch das Stillleben eine Bildgattung, in welcher der privilegierte Blick Europas auf sich selbst inszeniert wurde. Wenn ›Bilderfahrzeuge‹ fortan regelmäßig als Symptome die jeweils ästhetisierten Ambientes in Europa kreuzen, zeugen sie dabei von der Bereitschaft, diese nach außen abzuschließen und andere Lebensräume im Sinne des »Othering« zu exotisieren.118 Dennoch erweist sich auch in der europäischen Kunstgeschichte die koloniale Welteroberung keineswegs als peripheres Phänomen, auf das man nur am Rande einer sich als überlegen wähnenden, westlichen Zivilisation – zwischen Antwerpen, Messina und Kreta – gestoßen wird. Ein Ansatz der dekolonialen Theorie, den u.a. Walter D. Mignolo entwickelt hat, fordert dazu auf, die Symptome des Kolonialismus nicht nur bei den Anderen, den bald strukturell Benachteiligten, zu suchen, sondern auch beim vermeintlich aufgeklärten ›Weißen‹. Folgt man Mignolo und anderen Kronzeug*innen der dekolonialen Theorie, so hat das alte Europa nicht etwa aufgrund einer zuvor bestehenden zivilisatorischen Überlegenheit, sondern erst in dem Maße die wirtschaftliche, bald auch die wissenschaftlich-technische Übermacht errungen, wie es zugleich die zunehmend defavorisierten Gegenden der Welt beherrschte und ausbeutete – ein Prozess, der keineswegs mit der Dekolonisierung von den späten 1950er bis zu den 1970er Jahren abgeschlossen ist. Einzigartig war im alten Europa allenfalls die Bereitschaft zur aggressiven Landnahme, nachdem die iberische Halbinsel in einem säkularen Prozess erfolgreich von den Muslimen zurückerobert worden war. Zudem brachte die Kombination von Sklaverei und kapitalisierter Weltwirtschaft eine besonders effiziente Form der Etablierung, dann der Vertiefung und Beibehaltung globaler Unterdrückung hervor, ungeachtet kritischer Stimmen, die es durchaus gab, wie jener von 118 Der Ausdruck ›Bilderfahrzeuge‹, den Aby Warburg auf Flandrische Bildteppiche gemünzt hatte, wird hier abgewandelt verwendet auch für Objekte im Bild (nicht nur tatsächliche Fahrzeuge wie ein Schiff), die interikonisch umfassend Kontexte einbringen, welche ansonsten im fiktionalen Geschehen nicht zu finden wären. Vgl. Andreas Beyer/ Horst Bredekamp/Uwe Fleckner et al., Bilderfahrzeuge. Aby Warburgs Vermächtnis und die Zukunft der Ikonologie, Berlin 2018, 9-14 [Einleitung der Hg., Bildbewegungen nach Aby Warburg. Zur Einführung], 112-121 [Isabelle Woldt, Poesie in Bewegung. Tapisserien als Vehikel politischer Inszenierungen].
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Las Casas. Mignolo schreibt der mit dem Buchdruck und der Ausweitung des Lesepublikums im 16. Jahrhundert verbundenen Wissensordnung eine besondere Macht zu. In ihr wurde allem sein Platz zugewiesen – auch in den neu entstehenden Ordnungen von Völkern und Rassen. Diesem Wissen hatten die indigenen Völker Afrikas und Amerikas kein gleichermaßen wirkmächtiges Wissen entgegenzustellen.119 Auch Landschaften, zum Beispiel in grafischen Blättern, ebenso wie Landkarten und Atlanten, waren Teil zunehmend hegemonialer Epistemologien. Achille Mbembe hat unlängst – provozierend und für viele empörend – die Subjekte kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung verallgemeinernd unter dem Begriff des ›Negers‹ subsumiert. Ausgehend von Frantz Fanon (1925-1961), der als Philosoph, Aktivist und Psychiater tätig war, widmet sich Mbembe nicht nur der Diskursgeschichte, sondern zugleich auch der Psycho-Ökonomie des Rassismus und skizziert deren historische Etappen. Methodisch vermittelt er damit zwischen Michel Foucault und einer durch die Psychoanalyse inspirierten, historischen Sozialpsychologie. ›Neger‹, ›Weiße‹ oder ›Afrika‹ sind für Mbembe nicht nur Produkte einer Wissensordnung, sondern tiefsitzende und oft verschleierte Schlüsseltermini affektbeladener Praktiken, die sich über Jahrhunderte den Mentalitäten eingeprägt haben. Auf die ›Neger‹ – ein Begriff, den man erst im Laufe des 17. Jahrhunderts nahezu mit Sklaverei gleichsetzte – wurde fortan alles projiziert, was die dominanten Europäer als das andere ihrer selbst von sich abwiesen und abschieden – zunächst die ›bestialische‹ Seite des Menschseins, dann eine Disziplinierung, die das weiße Selbst sich auferlegte und sie zugleich, in der gesteigerten Form der Knechtschaft, dem dabei als grundsätzlich inferior konstruierten Teil der Menschheit auf bürdete. Im Zuge des Primitivismus auch in den Künsten des 20. Jahrhunderts wurde die diskursive Figur des ›Negers‹ dann zur Verkörperung der nicht sublimierten Seite des (eigenen) Menschseins – von befreiter Sexualität bis zu den musikalischen Rhythmen eines entfesselten Vitalismus, von Animismus bis zur Magie –, eine zwar weniger aggressive, doch ebenso immer noch rassistische, keineswegs harmlose Projektion. Schrittweise haben der Frühkapitalismus, die imperialistische Aufteilung der Welt im 19. Jahrhundert und der liberale und 119 Vgl. Mignolo, The Darker Side of the Renaissance, 69-124; vgl. auch: Walter D. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, Durham/London 2011, 1-24, 77ff.
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neo-liberale Kapitalismus aus dem ›Neger‹ einen Sammelbegriff nicht nur für dunkelhäutige Menschen der unterschiedlichsten Ethnien gemacht, sondern auch für all jene, die man aufgrund rassistischer Kriterien der einen oder anderen Art ihrer Menschenrechte beraubt hat – so Mbembe in provozierender Verallgemeinerung. Der Begriff des ›Weißen‹ wird erst im Zuge dieser Entwicklung zum dominanten Gegenbegriff des ›Farbigen‹; anders als dieser ist jener durch überlegene Eigenschaften statt durch deren Mangel definiert. Beide gehören dem gleichen Diskurs an und sind auch sozialpsychologisch miteinander verbunden: Bei den einen generieren sie Selbsthass, bei den anderen Selbstüberhebung. Beide Identitäten entfalten ihre Wirksamkeit auch in der jeweils anderen Gruppe; dies bringt Mbembe auf die Formel »le nègre de blanc« und »le blanc de nègre«.120 In dieser Ökonomie vermeintlichen Wissens und realen Begehrens beschädigt der ›weiße‹ Mensch gerade dadurch, dass er sich über die entmachteten Anderen erhebt, auch seine eigene Humanität. Dem stellt Mbembe einen integralen, neuen Humanismus entgegen. Dieser ist ebenso durch ein nachauf klärerisches Verständnis der Menschenrechte wie aus verschiedenen religiösen Perspektiven (einschließlich einer postkolonial christlichen) begründbar.121 Zur Typologie des auch nach dem Ende des Kolonialismus fortdauernden Rassismus hat Ibram X. Kendi die Trilogie von Segregationismus, Assimilationismus und Antirassismus vorgeschlagen. Segregationismus postuliert die Rassentrennung, auch zur Zementierung sozialer Ungleichheit. Assimilationismus bietet den vermeintlich sozial und kulturell rückständig gewordenen Schwarzen die Integration an – doch um den Preis, dass sie sich den Werten der dominanten Kultur anpassen. Allein wahrer Antirassismus schreibt die Gründe für die Ungleichheit nicht (auch) den Unterdrückten und ihren vermeintlichen Defiziten zu und bekämpft Diskriminierung radikal. Die Entwicklung des Rassismus seit der Frühneuzeit und seiner Überwindung erzählt Kendi also keineswegs als Geschichte von Unterdrückung und Befreiung. Vielmehr stehen für ihn Rassismus und Antirassismus dauerhaft in einem Kampf, in dem beide ihre Strategien bis in unsere Tage hinein beständig weiter perfektionieren.122
120 Achille Mbembe, Critique de la raison nègre, Paris [2013] 2015, 9-118, hier 73ff. 121 Vgl. Mbembe, Critique de la raison nègre, 191-217. 122 Vgl. Kendi, Stamped, 1-21, 497-511.
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Mbembe sieht sich selbst nicht als post- oder dekolonialen Autor. Seine Vision eines den Rassismus überwindenden, nicht an Einzelkulturen und deren Normen ausgerichteten Humanismus betrifft alle, nicht nur den ehemals kolonialisierten Teil der Welt.123 Man mag Mbembes Psycho-Ökonomik und seinem neuen Humanismus gegenüber skeptisch bleiben und es vorziehen, mit Mignolo Wissensordnungen zu erforschen und auf dieser Grundlage auf klärerische Arbeit zur Änderung von Haltungen und Mentalitäten zu leisten. In jedem Falle wäre post- und dekolonial nicht nur eine Kunstgeschichte, die ihren Blick auf die Künste außerhalb Europas oder Nordamerikas wendet. Es bedürfte vielmehr eines postkolonialen Blicks auf die Kunstgeschichte des ›Westens‹, auf die, so die These, auch ästhetische Etablierung bis heute fortbestehender Machtgefälle. Eine solche post- und dekoloniale Kunstgeschichte Europas wurde hier am Beispiel eines Bruegel zugeschriebenen Gemäldes skizziert. Sie ist kein akademisches Anliegen, denn die ästhetische Privilegierung der europäischen Landschaft wirkt lange fort. Sie steht noch hinter heutigen Erscheinungsformen der ›Externalisierung‹, der Auslagerung der Umweltfolgen unseres Wirtschaftens in die ›waste lands‹ der Soja-, Palmöl- und anderer Plantagen, um nicht von den Müllplätzen Westafrikas zu sprechen. Verankert ist diese Praxis nicht nur in wirtschaftlichem Egoismus, sondern auch in einer Vorstellungswelt, die Landschaft vor allem im Imaginären Europas und darüber hinaus allenfalls im touristischen Blick auf Urlaubsparadiese und Nationalparks verortet.124 Entsprechend wäre es interessant, die Externalisierungskritik des Soziologen Stephan Lessenich um die psycho-ökonomische Perspektive Mbembes zu bereichern. Mit solchen oder anderen Methoden wird der ›weiße‹ Mensch sich auch in seiner vermeintlich eigenen Kunstgeschichte im Sinne des Postkolonialismus mit den Auswirkungen des Kolonialismus auf die eigene Kultur befassen müssen, bevor er Anspruch auf eine innerlich befreiende Dekolonialität wird erheben können.125 Gerade in seinen eigenen Gefilden muss er sich seiner andauernden Verantwortung stellen, der er sich ebenso wenig
123 Zu Mbembes Abgrenzung von Post- und Dekolonialismus: Achille Mbembe, Postcolonial Thought Explained to the French, in: The Johannesburg Salon 1 (2009), 34-39. 124 Zum Problem der ›Externalisierung‹: Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben, München [2016] 2018, 31-76. 125 Zu den Begriffen Post- und Dekolonialismus: Pramod K. Nayar, The Postcolonial Studies Dictionary, Chichester 2015, 45ff., 124ff.
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entledigen kann, wie Peter Schlemihl seinen Schatten letztlich loswerden konnte. Dies wäre die Voraussetzung dafür, dass Europa sich von anderen Weltregionen seinerseits dialogisch in den Blick nehmen lassen kann – ein Anliegen, an dem der Kunstbetrieb seit einigen Jahrzehnten arbeitet. Einstweilen geht die Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (Abb. 1), die nicht von Bruegel ausgeführt wurde, ähnlich phantomhaft in der Kunstgeschichte um wie ein Gesicht (Abb. 16), dessen Ausdruck vielleicht vom utopischen Weitblick eines Damião de Goís zeugt. Beim Blick auf diesen Mann ist die Hoffnung nicht zum Schweigen zu bringen, dass seine Erasmianische Toleranz, ja seine Neugier auf die Anderen, sein Humanismus, ebenso wie der eines Bruegel, schon Keime jenes umfassenden Humanismus enthält, zu dem Mbembe uns einlädt.
VII. Visuelle Narratologie im Rahmen praxistheoretisch fundierter Kunst- und Mediengeschichte Die Genrekonventionen der frühen Landschaftsmalerei kommen also nicht allmählich auf, sei es mit zunehmender Weltbeherrschung, sei es im Zuge der Ausdifferenzierung von Medien, in denen geografisches Wissen visualisiert wird. Am Beispiel der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus konnte verfolgt werden, dass ein neues Genre sich auch in ›Weltlandschaften‹ nicht einfach durchgesetzt hat, indem die Zeitgenossen mit ihrer Zeit gegangen sind. Diese Gemälde stehen nicht für Jacob Burckhardts »Entdeckung der Welt und des Menschen« in der Renaissance126 – jedenfalls nicht, wenn man davon ausgeht, dass diese sich mit welthistorischer Fatalität durchsetzen musste. Vielmehr haben sich die Konventionen, die ein neues Genre entstehen lassen, inmitten von Konf liktszenarien verfestigt, zu Anfang eines religiösen Bilderstreits, dessen Folgen die Geschichte der südlichen wie der nördlichen Niederlande für ein Jahrhundert überschatten sollten, und vor dem Hintergrund der schwierigen Legitimationen, die der Humanismus den tief religiösen Bürgern einer auch durch Kolonialhandel reich gewordenen Metropolgegend bereitstellen konnte und wohl auch sollte. Hier wurde versucht, die Bilderzählung nachzuvollziehen und sie in ihrem diskurshis126 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860, 280-354 (Faksimile: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/burckhardt_renaissance_1860).
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torischen Kontext zu verorten. Die These ist, dass die genannten Konf liktszenarien in einem Gemälde ref lektiert werden, dem in der Geschichte der Landschaftsmalerei vielleicht eine ähnliche Schlüsselrolle zukommt wie Bruegels »Bauernhochzeit« in der Geschichte der Genremalerei.127 Doch für den modernen Betrachter stehen die Genreregeln, die wir bei Bruegel in statu nascendi verfolgen können, immer schon »vor dem Blick«. Wir kommen wohl kaum umhin, visuelle Konventionen, die sich längst durchgesetzt haben und auch unsere Erwartung an ein historisches Gemälde prägen, auf jene Frühzeit, in denen sie erst Gestalt angenommen haben, zurückzuprojizieren.128 Wenn wir dekonstruierend von ihnen absehen, um ihre Herausbildung nachzuvollziehen, können wir uns vielleicht ein Stückweit vom zunächst unvermeidlich anachronistischen Blick befreien. Das allein wäre der Mühe wert. Doch es geht um mehr: Nur wenn wir das Aufkommen der Erwartungen an ein Genre in Streitkulturen, aber auch in Dialogangeboten wie dem Bruegels, historisch-kritisch zurückverfolgen, statt eine Gattung wie die Landschaftsmalerei mit eingleisigen Fortschritts- und Modernisierungsgeschichten im Einklang zu bringen, können wir nicht nur unseren Blick auf die Welt historisch-kritisch erfassen, sondern ihn zugleich für den Blick der Welt zurück auf uns öffnen – wie dies von den Menschen in den früheren Kolonien mit wachsender Dringlichkeit von uns verlangt wird. Dieser Deutung liegt die Überzeugung zugrunde, dass Bilder nicht im Bewusstsein eines Künstlers entstehen, der sich dann durch ein Gemälde 127 Die Bauernhochzeit, in der Literatur zwischen 1565 und 1568 datiert, Öl auf Holz, unten beschnitten und um einen ca. 5 cm breiten Streifen ergänzt, 114 x 163 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, in: Marijnissen, Bruegel, 316-325; Müller/Schauerte (Hg.), Pieter Bruegel, Kat. Nr. 31, 295-296; vgl. auch Silver, Pieter Bruegel, 339-358 (dort im weiteren Kontext auch der Bauerntänze besprochen). 128 Für das »après coup« einer Operation, bei der dasjenige, was sich erst im Verlauf des Gebrauchs eines Mediums als dessen Regelwerk herauskristallisiert oder was durch Abstraktion von der medialen Praxis als solches isoliert und als dessen Ursprung und Grundlage zurückprojiziert wird, vgl. von Jacques Derrida, Résistances de la psychanalyse, Paris 1996, 79-81. Dazu: Manlio Iofrida (Hg.), Après coup. L’inevitabile ritardo. L’eredità di Derrida e la filosofia a venire, Bologna 2006, sowie zahlreiche Aufsätze, in denen die Herkunft des Konzepts der Nachträglichkeit aus der Psychoanalyse herausgearbeitet wird. Es spielt auch eine zentrale Rolle in Derridas Theorie der Schriftlichkeit im Unterschied zur Mündlichkeit, bei welcher der Gedanke im Vollzug des Sprechakts geformt und in diesem zeitlich präsent ist.
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nur mitteilt, während der Betrachter durch Empathie so etwas wie die ›Aussage‹ des Künstlers ›versteht‹ oder auch nur seine ›Intention‹ nachvollzieht. Vielmehr sind sowohl die Konzeption als auch die Rezeption eines Bildakts129 in einer geteilten, medial und diskursiv durchwirkten Praxis verortet, welche ein Künstler (und seine am Concetto beteiligten Freunde) ebenso wie die Betrachter stets nur mitgestalten. Nimmt man praxeologische oder praxistheoretische Ansätze ernst, so sollte man sich die radikalen Konsequenzen einer partizipativen Auffassung des Bildakts mitsamt seinen Konditionierungen und Zurichtungen vor Augen führen. Die Aisthesis, die medial nicht nur vermittelte, sondern durch historisch jeweils zur Verfügung stehende Bildsprachen durchwirkte Wahrnehmung von Welt, kann demnach niemals angemessen nur als die ›je meinige‹ verstanden werden.130 Auch im vermeintlich so ›authentischen‹ Blickerlebnis konfrontiert der Blickende das gesamte Bild der Welt, das er sich in seinem soziokulturellen Umfeld geformt hat, mit dem Erblickten. Das Ereignis des Blicks schließt sämtliche seiner historischen Grundlagen und Ermöglichungsbedingungen mit ein.131 Die Sprache haben wir erlernt – wir zweifeln nicht daran, dass sie nicht nur der Mitteilung dient, sondern ein Medium ist, in dem das Denken sich erst vollzieht.132 Die Aisthesis ist nicht weniger sozial vermittelt – auch das Sehen
129 Grundlegend, doch praxistheoretisch problematisch, da »Bildakt« auf Bildmagie hin verengt wird: Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen, Berlin 2010, 327-328. 130 Unterschiedliche Auffassungen des Konzepts Aisthesis: Wolfgang Welsch, Aisthesis. Gründzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, [1982] Stuttgart 1987, bes. 60-75, 381-388, 436-458; Jacques Rancière, Aisthesis. Scènes du régime esthétique de l’art, Paris 2011, 9-17, danach exemplarische Beobachtungen. Vgl. auch Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, bes. 29-43, 173188; Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2003, bes. S. 118-145 (Kap. »Erscheinen und Imagination«). 131 Für das Verständnis historisch kontingenter Ermöglichungsbedingungen ist Foucaults Konzept des »historischen a priori« nach wie vor hilfreich: Michel Foucault, Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a.M. 1973, 183-190; zur umfangreichen Literatur dazu einführend: Philipp Sarasin, Foucault zur Einführung, Hamburg 2005, 83-123; Clemens Kammler, Archäologie des Wissens, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2008, 51-62. 132 Spätere Einsichten der Sprachphilosophie sind vorweggenommen in: Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen [verf. 1916], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd.
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ist ein partizipativer Akt, nicht die Öffnung des solus ipse durch das Fenster der Augen zur Außenwelt. Darin läge die tiefere Parallele des ›linguistic turn‹ und des ›pictorial turn‹ – die sich dabei als konsequent miteinander verbunden, nicht als durchweg antagonistisch herausstellen.133 Statt von einem Subjekt auszugehen, das stillschweigend als Urheber und Ursprung seines mentalen Bildes vorausgesetzt wird, wird das Subjekt in seiner Wechselwirkung mit dem Bild der ›Welt‹ erkennbar, wie es sich in der visuellen Imagination formt. Die Aisthesis, die wahrgenommene, aber zugleich medial vorgestellte und dadurch konditionierte Welt des Subjekts ist dabei stets auch die seines kulturellen Milieus; erst im mehr oder weniger freien Dialog damit wird sie zu seiner eigenen.134 Ein partizipatives Verständnis von (Bild)Sprachen betrifft das Verhältnis des Subjekts zur imaginierten ›Welt‹ mit. Von sich selbst und seinem eigenen Wahrnehmen macht der Blickende einen stets auch teilhabenden Gebrauch; er dialogisiert also implizit mit seinen Zeitgenossen ebenso wie mit allen Vorläufern – kurz: mit all denjenigen, denen er die Bilder und die visuellen Schemata und Stereotype verdankt, die er mit dem jeweils Gesehenen konfrontiert. Wenn er sich dabei auch zu sich selbst aufgerufen sieht, zu möglichst freier Imagination, und zugleich damit auch zu einer nicht nur skopisch-epistemisch, sondern auch ethisch verantworteten Subjektivierung, so darf man dies als Aufforderung zu immer neuer Selbstinterpretation und -verortung in der jeweils geteilten sozialen und medialen Praxis verstehen. Für teilhabende Subjektivierung hat Michel Foucault den von Giorgio Agamben radikalisierten Begriff des ›Gebrauchs‹, griechisch ›chresis‹ auf2,1, Frankfurt a.M. 1977, 140-157. Vgl. dazu: Peter Fenves, The Messianic Reduction. Walter Benjamin and the Shape of Time, Stanford (CA) 2011, 133-140. 133 Vgl. den Reader mit historischen Texten zur (normal- oder idealsprachlich ausgerichteten) analytischen Philosophie, der vor allem wegen des Titels in die Annalen eingegangen ist: Richard Rorty (Hg.), The linguistic turn. Essays in philosophical method [1967], Chicago 1992. Zum ›pictorial‹ bzw. ›iconic turn‹ vgl. die Einleitung von Johannes Grave, Joris Corin Heyder und Britta Hochkirchen in diesem Band. 134 Zum Begriff des Milieus und anderen Metaphern partizipativer Betrachtung: Michael F. Zimmermann, »Savoir pour pouvoir«: Gustave Courbet, Auguste Comte, and the Emergence of Sociological Awareness, in: Stephanie Marchal/Daniela Stöppel (Hg.), Gustave Courbet and the Narratives of Modern Painting, in Vorbereitung; ders., »Milieu‹ et ›Modernité« – de Courbet à Baudelaire et Manet. Deux concepts d’observation participative, in: Pierre-François Moreau/Audrey Rieber/Baptiste Tochon-Danguy (Hg.), Moderne/modernism. La modernité en art, Paris, in Vorbereitung.
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gebracht, der denjenigen Gebrauch einschließt, den man von sich selbst, vom eigenen Körper, also auch vom eigenen Sehen macht. Damit wird eine Auffassung der Handlung begründet, die in sich selbst ref lexiv ist. Es wäre also verfehlt, erst auf einer theoretischen Ebene zwischen dem Vollzug von Praktiken und ihrer Ref lexion zu trennen.135 Dies wiederum schlägt sich in einem Verständnis von Subjektivierung nieder, die als ref lexiver Lebensvollzug aufgefasst wird, statt nur auf die Ebene von Intentionen, die einer Handlung vorausgehen oder ihr als Gewissen nach- oder in handlungsorientierende Selbstkonzepte ausgelagert werden. Fasst man Ref lexion als Aspekt jeglichen Handelns auf und Subjektivierung als prinzipiell ref lexiven Lebensvollzug, so ist dies auch für neuere, kulturwissenschaftliche und soziologische Praxistheorien von Belang. Jegliche Praxeologie ist mit der Herausforderung konfrontiert, die traditionell mit dem westlichen Individualismus verbundenen Ansprüche des erkennend beherrschenden Subjekts radikal zurückzunehmen und zu einem dialogischen Selbst- und Weltverhältnis zu gelangen. Geht Praxistheorie nicht mit dem Bemühen um eine die Epistemologie radikal mit umfassende Ökologie einher, so wird sie ein bloßer ›Ansatz‹ bleiben. Sobald sich das Subjekt jedoch in dieser Weise selbst bescheidet, relativiert es seinen Anspruch auf Welterkenntnis – nicht im Sinne eines Relativismus, der auf die ›soziale Konstruiertheit‹ von allem und jedem pocht, sondern mit Blick auf Andere und auf andere Gemeinschaften. Noch bevor der ›Sozialkonstruktivismus‹, wie heute, aus neokonservativer Perspektive angegriffen wird, hat ihn Ian Hacking zu Recht dafür kritisiert, dass ihm schlussendlich alle denkbaren Praktiken als prinzipiell dekonstruierbare Praxis gelten müssen.136 Übersehen wird dabei unser Habitus, die Übernahme von Verhaltensweisen, in die wir immer schon hineingeboren sind, und deren impliziten Regelwerken wir folgen, noch bevor wir sie ref lexiv durchdringen137 – und sie uns dann vielleicht verändernd oder auch »verandernd«, 135 Dazu: Michael F. Zimmermann, »L’inappropriabile«: Agambens Subjektphilosophie, Vollendung Foucaults?« in: Martin Kirschner (Hg.), Subversiver Messianismus. Interdisziplinäre Agamben-Lektüren, Baden-Baden 2020, 57-82. 136 Ian Hacking, The Social Construction of what?, Cambridge (MA) 2000; Alaida Assmann, Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen, München 2020, 89-96. 137 Grundsätzlich fußt diese Auffassung auf Wittgensteins Spätphilosophie – und ihrer späteren, oft widersprüchlichen Rezeption. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische
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um Derridas Ausdruck zu übernehmen, aneignen können.138 Neben den Ansprüchen überlegener Systemerklärung gilt es, auch den allzu auf klärerischen – und gerade daher nicht wirklich aufgeklärten – Anspruch eines rationalistisch verengten Sozialkonstruktivismus zurückzunehmen. Neben und teilweise an die Stelle sich als objektiv missverstehender Erklärung, oft befrachtet mit fragwürdig gewordenen Wissensansprüchen, tritt Erzählung. Praktiken im Einzelnen, gleich ob man sie als Sprachspiele oder als Sprech- und Bildakte auffasst, und Praxis im Allgemeinen sind stets etwas Ge- und Erlebtes. Ereignisse139 betrachtet man (anders als bloße Vorgänge) unter der Perspektive eines prinzipiell denkbaren Mit-Erlebens, also mit Empathie – ob diese nun kritisch ref lektiert ist oder nicht.140 Dies schließt auch ein, dass wir uns in die möglichen Handlungsabsichten und Untersuchungen/Philosophical Investigations, hg. von G. Elisabeth M. Anscombe/Peter M.S. Hacker/Joachim Schulte, Malden (MA)/Chichester 2009; Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Ausgabe, hg. von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman/Eike von Savigny/Georg Hendrik von Wright, Frankfurt a.M. 2001. Für eine Art der ›Praxeologie‹ in der Soziologie, die auf einer vereindeutigenden Lesart Wittgensteins als Praxis-, nicht als Sprach- und Medientheoretiker fußt, siehe: Theodore R. Schatzky, Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge (MA) 1996. Über Wittgensteins Auseinandersetzung mit der Frage, was mit »Regelfolgen« gemeint ist, und seine Theorie der Verankerung des Regelverständnisses letztlich in »Lebensformen«, siehe Gordon P. Baker/Peter M.S. Hacker, Wittgenstein: Rules, Grammar and Necessity. Volume 2 of An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations: Essays and Exegesis of §§ 185-242 [1985], Malden (MA)/Oxford 2014. Eine überraschende Aktualisierung von Wittgensteins Rückbezug auf eine prinzipiell nicht als System rekonstruierbare »Lebensform« im Zusammenhang mit der Debatte über »Biopolitik« findet sich in: Didier Fassin, La Vie. Mode d’emploi critique, Paris 2018 (Kap. 1, »Formes de vie«). 138 Zu Derridas Konzept der »Veranderung«: Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris 1967, 42-108; sowie, dieses weiterdenkend: Simon Glendinning, On Being with Others. Heidegger – Derrida – Wittgenstein [1998], Abingdon/New York 2006, 77-82, 107-127; Dirk Quadflieg, Dif ferenz und Raum. Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida, Bielefeld 2007, 40-52, 108-163. 139 Zum Begriff des (visuellen) Ereignisses: Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität – Präsenz – Ereignis, München 2002, 283-353, sowie die Aufsätze in Emmanuel Alloa (Hg.), Erscheinung und Ereignis. Zur Zeitlichkeit des Bildes, München 2013. 140 Über Möglichkeiten und Grenzen einer Hermeneutik des Bildes vgl. Michael F. Zimmermann, Sauerländers Stil(begriff) und die Selbstfindung der Kunstgeschichte im Nachkriegsdeutschland, in: Christine Tauber/Ulrich Pfisterer (Hg.), Willibald Sauerländer und die Kunstgeschichte seit den 1950er Jahren, in Vorbereitung. Darin auch Vorschläge zum Umgang mit den Konzepten ›Intention‹ und ›Intentionalität‹.
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-ziele der Anderen, auch historischer Akteure, einfühlen – und den fiktionalen Charakter des einfühlenden Nacherlebens dabei mitbedenken. Ein solches Verständnis von Empathie läuft nicht darauf hinaus, dass wir ›Intentionen‹ oder ›Intentionalität‹ als etwas auffassen, dass den Handlungen – auch künstlerischen ›Aussagen‹ – vorausgeht und sich in diesen dann niederschlägt oder ausdrückt. Ein derartiger Interpretationsgestus läuft nur allzu leicht Gefahr, die jeweils eigene Deutung vergangenen Epochen – oder Künstler*innen – als deren ›Intention‹ zu unterstellen.141 Vielmehr muss die ganze Bedeutungsfülle von Absicht und ›Intention‹ wiedergewonnen werden. Letztlich steckt die Absicht in der Handlung selbst, auch in der scheinbar spontansten, ohne Vorbedacht ausgeführten, ja sie kann sogar im Vollzug geändert werden.142 Dies gilt mutatis mutandis auch für Bildakte. Der Versuch des Nachvollzugs vergangener Handlungen, vergangener Praxis, wäre ohne Empathie nicht möglich. Sofern diese ein Verfahren einer historisch-kritischen Methode ist, die ihre grundsätzliche Fehlbarkeit immer mitbedenkt, muss sie ihre eigene Fiktionalität akzeptieren. Nur, wenn sie nicht als Gefühl missverstanden wird, sondern eben als ein immer schon erzähltes, wenn auch emotional grundiertes oder gefärbtes Narrativ aufgefasst wird, kann sie im Rahmen von Bildkritik nicht nur zugelassen, sondern als deren notwendiger Aspekt betrieben werden.143 Konzipiert wird Einfühlung also nicht nur im Kontext historischer Psycho-Ökonomik, wie wir sie oben skizziert haben, sondern auch im Rahmen und in den Grenzen einer praxistheore-
141 William K. Wimsatt/Monroe Beardsley, The intentional fallacy, in: William K. Wimsatt, The Verbal Icon. Studies in the meaning of poetry, Lexington (KY) 1954, 3-20. Einschränkend dazu: Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, Der »intentionale Fehlschluß« – ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften, Teil 1 und 2, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 14 (1983), 103-137 u. 376-411. 142 G.[ertrud] E. M. Anscombe, Intention [1957], Cambridge (MA) 2000. 143 Zum Problem der Psycho-Ökonomik medialer Narrative: Kerstin Schankweiler, Bildproteste. Widerstand im Netz, Berlin 2019, 59-62 (Absatz »Die Affektgemeinschaft der Bilder«). Zu einer Theorie von Emotionalität, die für die narratologische Analyse besonders anschlussfähig ist: Klaus R. Scherer/Angela Schorr/Tom Johnstone, Appraisal processes in emotion: theory, methods, research, Oxford 2001. – Zur sehr ausdifferenzierten, neuen Fachdebatte zur appraisal theory of the emotions kann hier nicht Stellung genommen werden.
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tisch fundierten Hermeneutik.144 Eine solche kann wiederum nur im Bewusstsein ihrer grundsätzlichen Perspektivität vorgeschlagen werden: Versucht man ref lexives Bild-Handeln vergangener Epochen und historischer Akteure (statt deren ›Intentionalität‹ oder ›Kunstwollen‹) zu verstehen, so sind die Wissenschaftsansprüche von vornherein dadurch beschränkt, dass wir dieses Verstehen als Dialog aus unserer eigenen Gegenwart heraus, mitsamt ihren Herausforderungen, mit Vergangenem auffassen. Die Akzeptanz dieser grundsätzlichen Perspektivität zwingt auch zur Relativierung von Wissensansprüchen, die mit der Rekonstruktion der eigenen und fremden, aktuellen und vergangenen sozialen Systeme verbunden sind.145 Zwar können wir Bild-Handeln nicht erfassen, ohne es in den medialen Systemen einer Gesellschaft oder Epoche zu verorten. Aber dieses mediale System konkretisiert sich jeweils erst im Einzelwerk, und nur durch die kontrollierte Phänomenologie des Bildes können wir versuchen, zu einem Verständnis auch des umfassenden, medialen Rahmens für dessen Produktion und Wirkung zu gelangen. So versuchte Benjamin, einem einzigen Bild aus der »Frühzeit der Photographie« abzulesen, dass die Fotografie ansetzte, das gesamte mediale System zu verschieben. Statt das Foto eines »Fischweibs aus New Haven« vom Mediensystem her verstehen zu wollen, versuchte er umgekehrt, den medialen Wandel aus der phänomenologischen Analyse dieses Bildes zu erschließen.146 Seine tastenden, oft scheiternden und von Neuan144 Georg Henrik von Wright, Explanation and Understanding, Ithaca (NY) 1971; Mihailo Marković, Von Wright on Explanation versus Understanding: The Relation of the Sciences of Nature and the Sciences of Man, in: Paul Arthur Schilpp/Lewis Edwin Hahn (Hg.), The Philosophy of Georg Henrik von Wright, La Salle (IL) 1989, 445-470, sowie William H. Dray, Von Wright on Explanation in History, in: ebd., 471-488, und Georg Henrik von Wright, A Reply to my Critics, in: ebd., 833-843. 145 Zur Kritik strukturalistischer oder systemtheoretischer Rekonstruktionen und zur Begründung der Praxeologie, auch unter Einbeziehung Foucaultscher Denktraditionen, siehe: Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms [2000], Weilerwist 2012; ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, u.a. 97-130 (Kap. »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, zuerst 2003 erschienen); ders., Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, 23-66. 146 Michael F. Zimmermann, Das Brautphoto Carl Albert Dauthendeys, Walter Benjamins Verwechslung und seine Theorie medialer Umbrüche, in: Eckhard Leuschner (Hg.), Der Photopionier. Carl Albert Dauthendey. Zur Frühzeit der Photographie in Deutschland und Russland, Petersberg 2021, 376-399.
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sätzen durchzogenen Überlegungen sind für eine praxistheoretisch pointierte Hermeneutik mehr wert als manche nur vermeintlich souveräne Systemanalyse. So ist auch die historische Analyse von Diskursen, Dispositiven und medialen Systemen nicht zuerst auf die ›Rekonstruktion‹, sondern zuvor auf das Verstehen historischer Handlungen und Absichten ausgerichtet. Eine Bildhermeneutik medialer Systeme versteht diese als wesentlichen Teil von ›Lebensformen‹, wie Ludwig Wittgenstein diese aufgefasst hatte. Insofern ist sie auch auf Empathie mit dem Bildgeschehen ebenso wie auf die situative Verortung des Bildakts in zeithistorischen Kontexten angewiesen. Ein rekonstruktives Verständnis medialer Systeme, die nicht unsere eigenen sind, kann sich letztlich nur auf den Vergleich unseres eigenen medialen Handelns mit dem in anderen, gegenwärtigen und vergangenen Kontexten gründen. Dieses beschreiben wir letztlich nicht behavioristisch als Vorgang, dabei beanspruchend, von Handlungsabsichten abzusehen, sondern wir erzählen es. Oft wird uns erst im Zuge der Erzählung klar, was wir sonst nur gewohnheitsmäßig tun. Mit Begriffen, die Gilbert Ryle schon 1949 eingeführt hat, könnten wir sagen, dass wir unser Know how in »knowing that« verwandeln.147 So begegnen wir unserem Medien-Handeln auf einer zweiten Ref lexionsebene. Dadurch schaffen wir erst die Voraussetzung dafür, dass wir unsere nunmehr umfassend ref lektierte Praxis mit derjenigen anderer sozialer Formationen, anderer Kulturen und historischer Zeiten vergleichen – und diese gleichfalls ref lexiv durchdringen. Visuelle und mediale Kultur, sofern sie nicht sogleich als System rekonstruiert, sondern zuvor aus eigenem Handeln erschlossen und dann aus um Teilhabe bemühter Sicht auch bei Anderen als sozial ereignishaft aufgefasst wird, wird also immer auch erzählt. Nach dem Ende der großen Fortschrittsutopien, die mit der Moderne verbunden waren, ist die Vielfalt historischer Erzählungen in den Vordergrund getreten, die von Ideologien und Nationen, Religionen und Kulturen zeitgeschichtlich gelebt werden. So sind wir erneut aufmerksam geworden für Narrative und Erinnerungskulturen – für geteilte, konkurrierende und gegenläufige Narrative.148 Entsprechend gerät auch 147 Gilbert Ryle, The Concept of Mind [1949], London 2000, 26-60. 148 Zum erinnerungskulturell grundierten Narrativ-Begriff, der aus einzelnen Kulturwissenschaften in die Geschichtswissenschaften übersprang, sei nur erwähnt: Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzif ferung einer Gedächtnisspur, München 1998. Eine mögliche Verengung der Arbeit von Historikern auf Erinnerungskulturen und deren Narrative wurde von verschiedenen Seiten auch vehement kritisiert. Derartiger Kritik trägt u.a.
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die Erforschung historischer Narrative in den Vordergrund. Schon die frühe Postmoderne hat dabei ein Bewusstsein dafür gewonnen, dass der historische Bericht selbst eine Erzählung ist, die nach den Regelwerken von Rhetorik und Narratologie strukturiert wird.149 Objektivität ist, dies ist seither Konsens, nicht durch die Fiktion möglich, man könnte unbeteiligt, prinzipiell neutral über Vergangenes berichten, sondern nur dadurch, dass man von eigener (auch fiktionaler) Anteilnahme abstrahiert, durch Abstandnehmen, »detachment«, vielleicht auch durch Ironie. Die historische Rekonstruktion vergangener Narrative hat sich mithin darüber Rechenschaft abzulegen, dass sie selbst als Narrativ präsentiert wird. Man kann zwischen einer Narratologie erster und zweiter Ordnung unterscheiden, von denen die erste auf das Verstehen vergangener Praxis und die zweite auf die Hermeneutik dieses Verstehens selbst ausgerichtet wäre. Gegenstand der ersteren wäre in Kunst- und Bildwissenschaft die mediale Bilderzählung, wie sie sich aus der Produktion und der Rezeption des Werks ergibt, während letztere auf das Erschließen medialer Systeme ausgerichtet wäre – immer vor der Folie derjenigen, an denen wir selbst teilnehmen. In einer praxistheoretisch fundierten Geschichte der Kunst und der visuellen Medien müssen Bildrhetorik und Narratologie erster wie zweiter Ordnung einen zentralen Platz einnehmen.150 Die Einrede, Narratologie Karl Schlögel Rechnung; erwähnt sei aus seinem Werk: Lob der Krise. Die Ukraine und die Sprachlosigkeit der Historiker, in: Katharina Raabe/Manfred Sapper (Hg.), Testfall Ukraine. Europa und seine Werte, Berlin 2015, 165-176. Schlögel rekonstruiert darin zeitnah unterschiedliche, gar widersprüchliche, religions- und sprachkulturell grundierte Narrative, die sämtlich das Nation Building der Ukraine orchestrieren. 149 Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore u.a. 1973, dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991. Zu diesem und anderen Werken Whites sowie zur umfangreichen kritischen Debatte, die sie ausgelöst haben: Robert Doran (Hg.), Philosophy of History after Hayden White, London 2013. 150 Gegenüber strukturalistischen Modellen wird eine Narratologie bevorzugt, die an künstlerische Entwicklungen selbst anschließt und auf dieser Grundlage die historische Rekonstruktion narrativer Praxis versucht. Die proto-strukturalistische Bewegung der russischen Formalisten bis zu Michail M. Bachtin knüpft unmittelbar an die Analyse künstlerischer Verfahren durch die historischen Avantgarde-Bewegungen an und spiegelt sie in die Geschichte zurück. Daher wäre der Rückblick auf ihre Geschichte hilfreich, um jenseits ahistorischer Modelle eine historisch grundierte Narratologie visueller Medien zu entwickeln. Eine systematische Narratologie auf der Grundlage der russischen Debatte: Schmid, Elemente der Narratologie. Zur historischen Rekonstruktion des Forma-
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wäre ›out‹ und gehöre auf die Müllhalde eines veralteten Strukturalismus, wird regelmäßig dadurch konterkariert, dass diejenigen, die dies feststellen, dann doch die Terminologie eines Gérard Genette anwenden, aber so, als wäre dies eine notwendige Fingerübung.151 Eine Narratologie visueller Medien muss also der Erkenntnis Rechnung tragen, dass nicht nur Bilder erzählen und erzählt werden, sondern auch eine Geschichte der Bilderzählung wiederum als Narrativ aufgebaut wird. Auf beiden Ebenen wird der Erzählende seinerseits narrativiert. Dies kann aus der Perspektive historischer Traditionsvereinnahmung im Sinne Gadamers erfolgen, bei der Kontinuitäten gesucht werden, aber auch aus der Perspektive von »appropriation«, bei der die Aneignung über räumliche, zeitliche und soziale Brüche hinweg erfolgt und die Konfrontation zwischen verschiedenen soziokulturellen Formationen insofern mitinszeniert werden muss. Die Skepsis gegenüber Hermeneutik ist oft darin begründet, dass mit Begriffen wie ›Traditionsaneignung‹ und ›Horizontverschmelzung‹ etc. ein identitärer Gestus verbunden wird.152 Man unterstellt, dass sich der solcherart um Verstehen Bemühte das Vergangene zu eigen machen will, um eine dabei idealisierte Tradition fortzusetzen – oder sein eigenes Handeln dadurch zu legitimieren. Die englische Übersetzung ›appropriation‹ bringt lismus und seiner historischen Etappen: Aage A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978. Dieses grundlegende Werk, dem und dessen Autor der Verfasser dieses Essays viel verdankt, legt nahe, dass dem Aufbau eines strukturalistischen Instrumentariums der Literaturanalyse eine temporale Folgerichtigkeit zugrunde liegt, die ihrerseits strukturalistisch analysiert werden kann (worüber gestritten wird). Grundlegend zur visuellen Narratologie: Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996; Kilian Heck/Cornelia Jöchner (Hg.), Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp, München 2006; zuletzt: Wolfgang Kemp, Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst, Konstanz 2015. Zur Bildrhetorik: Wolfgang Brassat (Hg.), Handbuch Rhetorik der bildenden Künste, Berlin/Boston 2017. 151 Grundlegend: Gérard Genette, Discours du récit, in: ders., Figures III, Paris 1972, 67-274; dt.: Genette, Diskurs der Erzählung. Aus der Sicht einer historisch-kritischen Hermeneutik wären derartige, strukturalistisch verallgemeinernde Ansätze daraufhin zu befragen, in welchem literarischen (oder bildkünstlerischen) Werk das jeweils ahistorisch beschriebene Verfahren zuerst angewandt und damit auch der systematischen Analyse erst erschlossen wurde. 152 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], Tübingen 1965. Vgl. Karl-Otto Apel u.a., Theorie-Diskussion. Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M. 1971.
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diese Bedeutungsebene aus dem Spiel: Wer von ›appropriation‹ spricht, eignet sich Fremdes an, über die Grenze zwischen Kulturen, Identitätsmodellen und historischen Zeiten hinweg.153 Wie aber verhält sich dabei Einfühlung zur Akzeptanz der grundsätzlichen Andersartigkeit des jeweils Untersuchten? Wiederum kann uns die Erinnerung an den narrativen Charakter aktueller und historischer Medienanalyse den Weg weisen. Erzählung richtet sich stets an Andere und mobilisiert dabei nicht nur Bindekräfte, sondern basiert auf der Bereitschaft zur Relativierung des eigenen Erlebens, auch des eigenen Erkenntniswegs, durch die Narrative der Anderen.154 Bruegels selbstref lexive Erzählung, wie sie hier vor der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus nachvollzogen wurde, gewinnt vom Anderen geradezu die Perspektive, von der aus die Metaebene des zweiten, nicht mehr nur absorbierten Blicks erst erreicht werden kann: Statt nur den Fernblick als den je meinigen eines dabei in seiner Identität bestärkten Betrachters zu inszenieren, fordern die in den Figuren verkörperten Erzählstränge zur SelbstInfragestellung, zur Selbstüberschreitung auf. Die Einladung zum Dialog, über Zeiten hinweg mit längst Vergangenem wie dem Kreta-Mythos, aber auch in der damaligen Gegenwart über Räume und Meere hinweg, nimmt dieses Gemälde aus seinem diskursiven Umfeld auf (zu dem oben Figuren wie de Góis gezählt wurden). Die Dialogizität ebenso wie die Agonalität des Gemäldes umfasst auch die Anderen, die nicht gezeigt werden: Äthiopier wie Muslime, schließlich die Sklaven, die den Dreieckshandel über den Atlantik erst lukrativ machten. Nach der hier vorgeschlagenen Lesart gibt die Landschaft mit dem Sturz des Ikarus diese Einladung zum Dialog an uns weiter. Die dialogische Imagination kennt dabei keine Grenzen: Sie reicht so weit, wie der Aktionsradius der Karacke, die hier unseren Blick an die Tiefe des Bildes vermittelt. Wie in wenigen anderen Bildern ist sie hier jedoch mit der Mahnung verbunden, sich selbst infrage zu stellen. 153 Vgl. u.a. Rahel Jaeggi, Aneignung braucht Fremdheit, in: Texte zur Kunst 12 (2002), Nr. 46, 60-69. 154 Auf die narratologische Debatte kann hier nicht weiter eingegangen werden. Exemplarisch sei nur erwähnt: Adriana Cavarero, Tu che mi guardi, tu che mi racconti, Mailand 1997, engl.: Relating Narratives. Storytelling and Selfhood, Abingdon 2000. Es wäre interessant, in den Kunstwissenschaften den Rückblick aus dem Werk auf den Betrachter narratologisch neu zu bedenken. Dieser wurde wirkmächtig zur Diskussion gestellt in: Georges Didi-Huberman, Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, Paris 1992, dt. Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999.
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Abbildungsnachweis Abb. 1-3, 5, 7-12, 14-16: Wikimedia Commons. Abb. 4: Larry Silver, Pieter Bruegel, New York/London 2011, 135. Abb. 6: https://books.google.de/books?id=_bJeAAAAcAAJ&printsec=frontco ver&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false. Abb. 13: https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1854-0628-36.
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Abstract: Between Rubens’ 300th and 400th birthday celebration, in 1877 and 1977 respectively, mechanical reproductions increasingly defined our perception and reception of art. Not only did they disseminate the artist’s images to a wider audience, they also illustrated Rubens’ canonical presence in Western art history. Reproduction media used various visual strategies to translate the artworks’ narratives into a modern perspective. In addition, the altered formal and material appearance of the original image in the remediation resulted in new interpretations of the artwork, based entirely on the medium-specific properties of the reproduction. By looking at illustrated art books and art documentaries from the late nineteenth century to the 1970s, this essay examines what Rubens’ modern remediation can teach us about reproducibility in the current post-digital age.
The development of art history as an academic discipline in the mid-nineteenth century coincided with the massification of mechanical reproductions through the professionalization of specialized photo companies and the adaptation of photomechanical techniques to the print industry.1 Ever since, photographic – and later on cinematic – reproductions have increasingly mediated our relation to art and our understanding of it. Although prominent art historians such as Max Jacob Friedländer and even Heinrich Wölff lin expressed skepticism vis-à-vis mechanical reproductions and advocated for a more conscious usage,2 we still see a profound lack of sensitivity within art historical practice toward the formal qualities of the true object of study. 1 Trevor Fawcett, Graphic versus Photographic in the Nineteenth-Century Reproduction, in: Art History 9 (2/1986), 185-212, see 200. 2 Cf. Max J. Friedländer, On Art and Connoisseurship, London 1942; Heinrich Wölfflin, How One should Photograph Sculpture, in: Art History 36 (1/2013), 52-71.
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This denial became a recurring pattern in the twentieth-century approach to reproductions. Danish art historian Hans Dam Christensen sees in this ignorance “the repressive logic of a profession.”3 Compared to their decontextualizing reproductions, original works often had little presence in the complex knowledge system that is art history. From the slide lecture in the classroom to the tourist guide, reproductions are the main visible and tactile referent, both to approach the original and to ref lect on it. Still, “the discourses and practices of Art History, as a rule, seem to repress this dislocation of the artwork.”4 Throughout most of the twentieth century, the material qualities of mechanical reproductions have mainly been discussed in terms of “objective,” “truthful,” and “honest” representations, and one of the major concerns has been the lack of any visual distinction between the copy and the original.5 Despite Walter Benjamin’s recognition of the subjective eye of the photographer – as opposed to the artistic hand of the engraver6 – in his seminal Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), he paid little attention to the intrinsic aesthetical differences between the original and its reproduction. In an attempt to shift the discourse toward the ontological status of these images, writers such as Benjamin and also André Malraux and John Berger instead focused on the consequences of reproductions’ materiality: their multiplication, dislocation, and circulation.7 Benjamin detected a loss of “aura” in the mechanical reproduction. The here and now of the original, its authenticity and singularity, is replaced by a serial and more actualized image.8 Instead of mourning the loss, Benjamin pointed out the socio-political potential of reproductions: the intrinsic logic of reproduction media such as art
3 Hans D. Christensen, The Repressive Logic of a Profession? On the Reproductions of Art History, in: Konsthistorisk tidskrift. Journal of Art History 79 (4/2010), 200-215. 4 Christensen, The Repressive Logic, 200-201. 5 Michelle Henning, With and Without Walls. Photographic Reproduction and the Art Museum, in: Michelle Henning (ed.), The International Handbooks of Museum Studies. Museum Media, Hoboken 2015, 577-602, see 581. 6 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, 10-11. 7 See: Benjamin, Das Kunstwerk; André Malraux, Psychologie de l’art. Le Musée imaginaire, Geneva 1947; John Berger, Ways of Seeing, London 2008. 8 Benjamin, Das Kunstwerk, 11-14.
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books and film lend themselves to a more distracted reception in an everyday context, in contrast with the contemplation in the traditional experience of art.9 Mechanical reproductions not only render art visible, but also illustrate existing Western art historical discourses and eventually establish new readings of artworks entirely based on the availability and visibility of mechanical reproductions. Drawing on Lars Elleström’s notion of “transmedial narration,”10 we can distinguish three layers of narration in the original artwork that mechanical reproduction aims to represent: (1) the narrative of the artwork as object, its material characteristics, provenance, and history of display; (2) the narrative of the artwork within art historical classifications and discourses; and (3) the narrative represented by the artist, the themes and motives, the depicted event and its iconographic features. Each mechanical reproduction translates these narratives differently, creating a fourth layer of visual interpretation that affects the beholder’s reading of the original. This impact is further inf luenced by the reproduction medium – for example, postcard, illustrated pocketbook, documentary, newsreel – and its formal and material qualities as well as its functionality. In Ways of Seeing (1972), Berger writes the following: [...] a reproduction, as well as making its own references to the image of its original, becomes itself the reference point for other images. The meaning of an image is changed according to what one sees immediately beside it or what comes immediately after it.11 Reproduction media can thus be understood as curatorial spaces that build a discourse through the combination of text and images using visual strategies such as isolation, succession, and juxtaposition. In what follows, I will examine the work of Peter Paul Rubens (1577-1640) as it was reproduced between 1877 and 1977, or between his 300th and 400th birthday celebrations, respectively. Within this period, mechanical reproduction gradually evolved from labor-intensive craftsmanship to an omnipresent medium for study and pleasure, and this accumulation of technolo9 Benjamin, Das Kunstwerk, 32-34. 10 Lars Elleström, Transmedial Narration. Narrative and Stories in Dif ferent Media, Basingstoke 2019, 39. 11 Berger, Ways of Seeing, 29.
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gies affected the reception of Rubens’ oeuvre in radically new ways. Taking Rubens as a case study for research on reproduction media is not an arbitrary choice. A friend of the printer-publisher Balthasar Moretus, Rubens designed several title pages for the prominent Antwerp publishing house Officina Plantiniana. Through his allegorical inventions, he defined a counterpoint in the history of book design: the presence of images has ever since been an essential element in the creation of meaning and in the formal appeal of the book as object.12 Besides his substantial impact on Baroque book design, Rubens founded his own reproduction workshop to distribute his work to a broader audience. Working with the best engravers of his time, he was well aware of the impact of graphic reproduction techniques on the original invention of the work and did not hesitate to change the composition according to the qualities of the printed medium. He left little to the imagination and artistic skills of the executor and kept strict supervision over the quality of the reproductions by correcting every state of the plate until it reached a final version.13 Rubens’ approach demonstrates the agency of the photographer or camera operator, the publisher, the distributor, and the printer in the creation of modern visual discourses on his oeuvre. This essay is divided into two chapters. In the first, I examine what happens in the act of remediation and explore how mechanical reproducibility changes Rubens’ images from within. In the second, I discuss the use of mechanical reproductions within various reproduction media and analyze how the visual discourses on Rubens evolved throughout the twentieth century. I will focus on two art-historical media that were particularly important for the development of such visual discourses – photo-mechanically illustrated art books and art documentaries – and thus compare printed, projected, and broadcast reproductions.
12 Nico Van Hout, Enkel op zondag. Rubens en het boek, in: Nico Van Hout (ed.), Copyright Rubens. Rubens en de grafiek, Gent/ Amsterdam 2004, 124. 13 Ingeborg Pohlen, Untersuchungen zur Reproduktionsgraphik der Rubenswerkstatt (Beiträge zur Kunstwissenschaft 6), Munich 1985, 141.
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I. Original versus Mechanical Reproduction Whereas nineteenth- and early twentieth-century art books still proudly mention the number of illustrations and systematically name reproduction studios underneath the image, this information quickly moved to the register, disappearing completely in many books published after the Second World War. Far too often, the formal characteristics of reproductions are disregarded. The many layers between original and reproduction – the chosen perspective, lighting, camera lens, printing process, or viewing device – change the appearance, size, and materiality of the artwork and, consequently, its whole experience and meaning. Reproductions, although existing in multiples, are thus originals in their own terms. Consequently, as reproduction techniques and media have evolved over time, the way we perceive artworks has fundamentally changed. Whereas attention is paid to the impact of engraving on original compositions, the formal characteristics of mechanical reproductions are highly understudied.14 With the camera, we found a mechanical means to generate an image of reality that corresponded to the Western conventions of linear perspective and confirmed the dominant teleological notion of realism within art history.15 The failure to appreciate the craftsmanship of the photographer and the printer is, in fact, the failure to recognize – or deliberate ignorance toward – the remediation that took place. Jay David Bolter and Richard Grusin tackle this inherent logic of remediation in their book Remediation: Understanding New Media (1999). According to Bolter and Grusin, media use two contradictory strategies in order to refashion prior media. A first strategy is “immediacy,” in which “the medium itself should disappear and leave us in the presence of the thing rep14 On the relation between engraved and mechanically reproduced copies, cf. Griet Bonne, Moved by Rubens. The Double Logic of Image Perception in the Age of Mechanical Reproduction (1877-1977), in: Olga Moskatova (ed.), Images on the Move. Materiality – Networks – Formats, Bielefeld 2021, 209-230, see 211-212. 15 Pierre Bourdieu (ed.), Photography. A Middle-brow Art, Cambridge 1996, 77 note 6. Norman Bryson refers in this context to Edmund Husserl’s term “Natural Attitude.” Cf. Norman Bryson, Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London 1983, 1-12. We could argue that mechanical reproducibility has taken over this attitude from painting. “Each ‘advance’ consists of the removal of a further obstacle between painting and the Essential Copy: which final stage is known in advance, through the prefiguration of Universal Visual Experience.” Bryson, Vision and Painting, 6.
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resented.”16 In art reproductions, all hints that we are looking at a mere photograph of the original should be left out, including the photographer. We want to be confronted with the true image, the authentic composition. The rather exceptional photograph of The Adoration of the Magi (1609-1610) (Fig. 1) by Lacoste y Cia. captured part of a fence in the Prado Museum. Most often, elements of the architectural context are excluded from the reproduction in order to heighten the immediacy of the image. However, to create such an immediate and transparent image, reproductions rely on a second strategy, “hypermediacy”17: the reproduction is not only expected to represent the pictorial reality of the painting, but also the painting itself, that is, the pictorial tactility that makes the image a masterpiece. It is precisely this aim to create the most objective visualization of the original that leads to hypermediacy, drawing our attention to the increased legibility, the absence of disturbing ref lections, or the need to step back in order to grasp the full picture. The act of remediation thus irreversibly alters the original image because the camera dictates an approach toward the original that differs from human, (inter) subjective bodily interaction.18 Aware of this impact, Barbara E. Savedoff (2000) examined the aesthetics of reproductions in her book Transforming Images. In what follows, I will analyze her observations on the material relation between original and reproduction in relation to Rubens’ oeuvre and explore the effect of the variations in color, surface, and scale, the altered physical presence, the absence of the frame and surrounding walls, and the different perspective of the beholder.
16 Jay D. Bolter/ Richard Grusin, Remediation. Understanding New Media, Cambridge 1999, 6. 17 Bolter/ Grusin, Remediation, 272. 18 According to Belting’s Anthropology of Images, images travel from objects in the physical world to our bodies and back, merging in our minds with other images, which can be both personal and collective. The image that I see in the original is different from what you see, as we both have a different (biologically determined) sight and different (psychologically and culturally defined) in-sights. Therefore, one could argue that there is no such thing as the image, but rather infinite copies of an image, multiplied by every gaze. Cf. Hans Belting, An Anthropology of Images. Picture – Medium – Body, Princeton 2011, 15-16.
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Fig. 1: Peter Paul Rubens, The Adoration of the Magi, 1609; 1628-1629, oil on canvas, 355.5 x 493 cm. Madrid, Prado Museum, image by Lacoste y Cia., in: Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 41. Ghent University Library.
A. Color, Surface, and Composition For Roger de Piles, Rubens’ paintings illustrated that color was the essential element that differentiated painting from the other arts. With his inf luential Dialogue sur le Coloris (1673), de Piles redirected the art historical discourse to the “facture”19 of the painting and its seductive effect on the viewer who is called into conversation.20 Similarly, Georges Didi-Huberman described the explosive power of “intense representational voids”21 where paint
19 Drawing on Erno Kálai, Henning described facture as “the artist’s expressive handling of their materials, the mark-making, and the sensuous materiality of the object evident in its texture and physical qualities.” Henning, With and Without Walls, 588. 20 Svetlana Alpers, The Making of Rubens, New Haven/ London 1995, 76-77. 21 Georges Didi-Huberman, The Art of Not Describing. Vermeer – The detail and the Patch, in: History of the Human Sciences 2 (2/1989), 135-169, see 156.
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is perceived “not as a descriptive sign but as colored matter.”22 As Michelle Henning pointed out, photography was especially constructive in displaying facture “when other kinds of reproduction did not. Black and white photographs, in particular, reinforced a modern way of seeing art by drawing attention to the mark-making and texture of paintings, and by emphasizing tone and mass over line and composition.”23 Moreover, unlike engravings, it seemed as if the “photograph itself did not possess facture.”24 Rubens’ splendid use of color and accurately applied brushstrokes lose, at least partly, their substance in the mechanical reproduction. In other words, it is precisely the distinct materiality of the mechanical reproduction that alters our perception of the originals. It was only around 1870 that the by then mass-produced photographs could successfully, and without fading, capture oil paintings in full detail and color shades.25 William Lake Price discussed the difficulties of reproducing oil paintings in his Manual of Photographic Manipulation (1858). First, he argued that the tonalities of the original colors could not be truthfully transposed by orthochromatic photography. As an early reproduction of Heraclitus (Fig. 2) reveals, the photograph fails to translate the subtle tonalities of the garment into black and white.26 The image also exposes the effect of varnish, which ref lects the light and creates a blurry surface. An early reproduction of Martyrdom of St. Catherine (Fig. 3) is exemplary of the difficulties in illuminating oil paintings in such a way that the relief of the surface does not become more apparent than the painted composition itself.27 The technical particularities of early photography highlighted – both by what was impossible to capture and what was unintentionally recorded – the artwork’s material qualities. However fruitful these images were in redirecting the gaze toward the original, on the side of the copy, these images did not qualify as
22 Didi-Huberman, The Art of Not Describing, 149. 23 Henning, With and Without Walls, 589. 24 Ibid., 588. 25 Fawcett, Graphic versus Photographic, 200-207. 26 Panchromatic reproductions were introduced at the end of the 19th century. Cf. ibid., 188. 27 William L. Price, Manual of Photographic Manipulation. Treating of the Practice of the Art and its Various Applications to Nature, London 1858, 189-193.
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Fig. 2: Peter Paul Rubens, Heraclitus, the Crying Philosopher, 1636-1638, oil on canvas, 183 x 64.5 cm. Madrid, Prado Museum, image by Lacoste y Cia., in: Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 16-17. Ghent University Library. “good reproductions,”28 and retouching by hand was a necessary and common practice in the late nineteenth century to enhance visibility, especially for the reproduction of Old Masters paintings.29
28 In a letter in Der Kreis (Spring 1930), Erwin Panofsky reacted to the “Hamburger FaksimileStreit,” in which facsimile reproductions were described as forgery by art professionals. Panofsky argued that “the facsimile reproduction (despite its misleading name) does not aim to be more than a ‘good’ reproduction. […] what the reproduction should convey, indeed, what it can convey, is an experience of the meaning that is contained in the artistic achievement of the original. Except that this meaning has been transferred, willingly or unwillingly, into the sphere of […] the reproductive and whose fundamentally mechanistic quality remains perceptible to the sensitive beholder.” Erwin Panofsky, Original and Facsimile Reproduction, in: Anthropology and Aesthetics (57-58/2010), 330-338, see 332-333. 29 Letterenhuis, R704/34 (6), Archive of Max Rooses [letter by C. Naya to Max Rooses, 17 June 1880].
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Fig. 3: Peter Paul Rubens, Martyrdom of St. Catherine, 1615-1622, oil on canvas, 364 x 243 cm. Lille, Museum of Fine Arts, in: Edward Dillon, Rubens, London 1909, CCXXXVI-CCXXXVII. Ghent University Library. Apart from capturing the original in all its details, the greatest challenge in the second half of the nineteenth century was the conversion to print.30 Even though black-and-white photomechanical technologies had been significantly optimized by the end of the nineteenth century, the printing of color reproduction remained a highly subjective craft throughout most of the twentieth century. Almost simultaneously with the first more or less successful appear-ances of color reproductions in art books in the mid-1930s, one of the first art documentaries in color took Rubens as its subject. Made with the revolutionary Gaspar color process, Rubens et son temps (1938) was praised for its unpreceded luminosity and accuracy of colors.31 Meanwhile, in 1943, Thomas M. Folds stated that “no process responsible for good color reproductions on
30 Fawcett, Graphic versus Photographic, 200. 31 Steven Jacobs/ Birgit Cleppe, A Museum of Moving Images. Mid-Twentieth-Century Art Documentaries on the Louvre, in: Oxford Art Journal 43 (3/2019), 373-393, see 383-384.
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the market today is completely mechanical.”32 In A Critique of Color Reproduction (1948), he considered the great variation in quality of color prints, depending on the purpose of the image and the rules of the market, the different print technologies – divided into three categories, namely halftone, photogravure, and stencil processes – and “the human judgement, care and manual skill” of the engraver and printer.33 However, the quality of the color print is also highly related to the formal and material characteristics of the original. Rubens’ monumental oil paintings in particular pose difficulties because the necessary reduction in size gives the print a “hard, tight look,” and accuracy of details has to be sacrificed for “a greater over-all fidelity.”34 Rubens himself had called awareness to color perception in his late landscapes, in which he studied the subtle nuances of light depending on the perspective, the weather conditions, and the hour of the day. Therefore, it is all the more telling that eminent Rubens scholars, such as Hans Gerhard Evers, remained suspicious toward color reproduction.35 There was a longstanding consensus that blackand-white reproductions were better suited for the representation of painting,36 with the consequence that until the 1960s the colorist par excellence was almost exclusively represented by reproduction media in black and white. And even the most accurate CMYK reproductions on the glossiest paper that have since occupied our coffee tables lack the opacity of the original colors, since the carefully applied paint layers are transposed into densely opposed dots.
32 Thomas Folds, A Consumer’s Guide to Color Prints, in: Magazine of Art 36 (4/1943), 185-188, see 186. 33 Thomas Folds, A Critique of Color Reproductions, in: College Art Journal 8 (2/1948-1949), 85-94. 34 Folds, A Critique, 88, 90. The first attempts to reproduce Rubens’ oil paintings in color date back to the mid-1930s. See for example: René Huyghe, Rubens et son temps au Musée de l’Orangerie, Paris 1936; Paul Jamot, Rubens, Paris 1936; Jacob Burckhardt, Rubens, Wien 1938. 35 Hans G. Evers, Fotografie, Wirklichkeit, Bewußtheit, in: Hans G. Evers, Schriften, Darmstadt 1975, 43-50, see 49. 36 Anne Hollander aptly explained that “the language of monochrome vision has been the great lingua franca of Western art. […] These early combinations of printed words and pictures helped to form the association between black-and-white printed representations and unadorned truthfulness that gives the term ‘graphic’ one of its meanings. We have built on this association the idea that if a picture is in black and white, it can be apprehended more clearly, even though it may be enjoyed less. By extension, photographs and movies in black and white are considered good because they are so true, not because they are so real.” Anne Hollander, Moving Pictures, Cambridge/ Massachusetts/ London 1991, 33-34.
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It is not surprising then that the earliest color reproductions in monographic art books on Rubens only represented drawings,37 the f lat surfaces and continuous tone of which could be reproduced with a facsimile quality that threatened the connoisseur.38 This might have been the reason why one of the first extensive catalogues on Rubens’ drawings, Die Handzeichnungen von Peter Paul Rubens (1928) by Gustav Glück and Franz Martin Haberditzl, seemed to highlight the remediation through the use of coated paper and through the poorly cropped images, revealing parts of the frames. In her 1977 catalogue of Rubens’ drawings, Marianne Bernhard seemingly reacted to Glück and Habertditzl’s book, which had served as a main reference. She not only used a less glossy coated paper but also explicitly directed the attention to the edge of the image: Bei manchen Zeichnungen sieht der Rand, zu erkennen am Schnitt des Sammlerstempels, auch einem abrupten Bruch der Strichführung oder der Aufschrift, beschnitten aus. Solche Bildschnitte wurden nicht vom Verlag vorgenommen, sondern sind durch das Passepartout bedingt. Gerade ältere Zeichnungen, wie solche Rubens’, werden von den graphischen Sammlungen in festen Passepartouts aufbewahrt und sind nur in diesen zu fotografieren. Das ist auch der Grund, warum die Proportionen einiger Blätter nicht mit den in der Bildunterschrift angegebenen Maßen übereinstimmen.39 As Bernhard explained, the frequent use of cropping in photomechanical reproductions is often related to the conservation conditions of the original. The practice of cropping or even cutting up images preceded photography,40 as the famous example of The Gonzaga Family in Adoration of the Holy Trinity (1604-1605) proves.41 In a less invasive act, disturbing shades or (unoriginal) 37 Folds, A Critique, 89. See for example: Emile Michel, Rubens. His Life, his Work, and his Time, London 1899; Gustav Glück, Rubens. Zeichnungen der Wiener Albertina in zwölf Faksimiledrucken, Munich 1921. 38 Cf. Panofsky, Original and Facsimile, 333; Henning, With and Without Walls, 581; Friedländer, On Art and Connoisseurship, 198. 39 Marianne Bernhard, Rubens. Handzeichnungen, Munich 1977, preface. 40 Daniel Arasse, Le détail. Pour une histoire rapprochée de la peinture, Champs 1996, 72-74. 41 This painting by Rubens was cut up during the French occupation of Mantua at the beginning of the nineteenth century. Cf. Ugo Bazzotti, La pala della Trinità, in: Ugo Bazzotti/ Germano Mulazzani (eds.), Rubens a Mantova, Milan 1977, 28-53.
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Fig. 4: Peter Paul Rubens, Bathsheba at the Fountain, ca. 1635, oil on wood, 175 x 126 cm. Dresden, Gemäldegalerie, in: Hugo Kehrer, Peter Paul Rubens. Mit Briefen des Künstlers und seiner Schrift “Über die Nachahmung antiker Statuen”, Munich 1919, 80-81. Rubenianum. frames are frequently cut away in the photomechanical process. Lens distortions often require even further cropping, resulting in the transformation and decontextualization of the original composition. As Friedländer pointed out, “the indivisible effect, which springs from the whole, cannot be conveyed when the reproduction is so fragmentary.”42 Not only is the mechanical reproduction fragmentary in its depiction of the color tonalities or the surface, but it also often presents fragments of paintings in order to display exactly “the texture of the pigments, their lustre, their brilliance, their smoothness or roughness, their grain, their impasto.”43 This is what Didi-Huberman described as the aporia of detail: “a paradoxical triple operation is at stake here, one which only gets you nearer something the better to cut it up, and which only cuts it up the better to deal with the whole. As if the ‘whole’ could
42 Friedländer, On Art and Connoisseurship, 198. 43 Ibid., 198.
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exist only in piecemeal form, on condition that the parts be totalizable.”44 The problem is that, unlike the viewer who steps closer to look at the original in detail, the photomechanical fragments or cinematic close-ups that appeared in the interwar period lose their direct correlation to the whole. Their isolation in either a white plane (in the case of the art book) or a black void (in the case of the cinema) transforms the iconography and composition.45 In one of the first art books on Rubens with photomechanical details, a pocket by Hugo Schmidt Verlag from 1919, a scene from the Hebrew Bible becomes a portrait of a young, naked girl (Fig. 4). The post-photographic art historian is used to considering the artwork from such a close-up perspective,46 which, certainly in the case of Rubens’ monumental paintings, was rarely accessible to the seventeenth-century observer. How photographic details and cinematic close-ups were used to visualize Rubens’ oeuvre will be further discussed in the second part of this text.
B. Size, Frame, and Physical Presence As to size and proportion, false ideas are conveyed to us. And these shortcomings are not even always made good to some extent by an indication of the real size. […] The important preliminary question of the condition of the picture can be answered from a reproduction only in cases of drastic disfigurement. (Friedländer, On Art and Connoisseurship, 198-199.) Besides the changes within the image, both its size and objecthood are transformed when it is remediated.47 In Rubens’ triptychs, these aspects are particularly important in the construction of meaning: the more than life-sized 44 Didi-Huberman, The Art of Not Describing, 136. 45 Berger, Ways of Seeing, 25. 46 Henning, With and Without Walls, 588. 47 Barbara E. Savedoff, Transforming Images. How Photography Complicates the Picture, Ithaca 2000, 160-165.
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Fig. 5: Peter Paul Rubens, The Raising of the Cross, 1610-1611, oil on wood, central panel: 460 x 340 cm, Antwerp, Cathedral of Our Lady, image by Braun & Cie., in: Jacob Burckhardt, Rubens, Wien 1938, pl. 218. Ghent University Library. figures in The Raising of the Cross (1610-1611) were meant to bring the churchgoers into the scene and, in line with the Jesuit reforms, convey its message emotionally rather than rationally. Especially when we consider the original hanging, high above the main altar of the church of St. Walburga,48 we can imagine how Christ was raised literally in front of the viewer. This impact is completely lost in a printed reproduction in an art book. Regarding the physical appearance of the artwork, the frame should also be taken into account. Generally, frames are not seen as an integral part of the artwork and are therefore not reproduced. This phenomenon can be understood as part of the aforementioned immediacy strategy of remediation. When frames are reproduced, it increases the awareness of the mediation that has taken place: the distinct materiality and tactility of the frame and painted surface are lost 48 The artwork is currently at the Cathedral of our Lady, where it hangs as a counter piece to the Descent from the Cross (1612-1614), each at one side of the transept. Originally, it was designed as the main altar piece for the church of St. Walburga, where it not only had a niche above the central panel and three predellas but also hung much higher than in the current setting. Cf. J. Richard Judson, Corpus Rubenianum Ludwig Burchard. VI. The Passion of Christ, Turnhout 2000, 90.
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in the f latness of the reproduction. However, although the frame is not regarded as part of the original invention, Savedoff rightly emphasized its important functions: not only does it preserve the work from damage and dust, but it also creates a division (or connection) between the work and the surrounding space, including walls, objects, and other artworks.49 Juxtaposed on the limited space of the page, various frameless reproductions are more easily assembled into one pictorial place. Therefore, a division is sometimes realized through graphic means to reconstitute the frame’s function. Polyptychs take the discussion of whether or not to reproduce the frame to yet another level because the separate panels are part of a three-dimensional object, often with a liturgical function. The frame plays an important role in the performance of this function. In the 1938 film Rubens et son Temps, for example, Rubens’ Le Christ à la Paille (c. 1618) is shown as it unfolds. Although the ref lections of the varnish prevent us from seeing the exterior wings, the objecthood of the work is highlighted through the effects of movement and disclosure. Its counterpart in print is double-foldable pages,50 which were used extensively in Phaidon’s Rubens monograph (Fig. 5) from that same year. How-ever, more than accurately and objectively representing the artwork, these reproductions turn the triptych into play. It seems to be more about the distraction of a Méliès-like magic trick showing a painting that can move all by itself or the pleasure of revealing an image by opening paper wings. How then do we successfully transpose the double-foldable architecture of the triptych onto a diptych, that is, the book spread? Can the panels be split up and reordered to increase the visibility of the separate panels without changing the narrative of the image? Can we preserve the pictorial unity between the different panels without the frame that holds them together? The somewhat clumsy ways in which Rubens’ triptychs were reproduced in art books throughout the twentieth century, often representing only parts of the frame, are rare occasions in which the artwork is reproduced as a picture rather than as an image.51 These reproductions convey an awareness of the artwork’s objecthood
49 Savedoff, Transforming Images, 164. 50 These folded reproductions typically reproduce only the interior wings. 51 I refer here to Hans Belting’s distinction between picture and image and his understanding of an image as that which circulates between pictorial media and our mind by means of the gaze. Belting, An Anthropology, 1-3.
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and, consequently, the absence of the object that is represented.52 Through their remediation, the configuration between image, space, and beholder has changed. To fully grasp the implications of this altered relationship, we need to understand reproduction media as curatorial spaces. Henning described how the interwar disputes on art’s mechanical reproducibility revealed two opposite notions of the museum’s function: “[…] one view took the museum to be the place you would go to experience the work of art in its full ‘presence’; the other saw the role of the museum as bringing museums into ‘the stream of contemporary life’.”53 Friedländer revealed himself as a defender of the first viewpoint: One should picture to oneself how the lover of art must have felt when he found himself face to face at Castelfranco with Giorgione’s altarpiece, at a time when no photographs of it existed, and when he looked upon this first contact with the picture, as maybe, also the last one. How his emotion must have increased receptiveness!54 Bernard Berenson, on the other hand, demonstrated that the romantic moment of the first encounter with an art work is generally rather disappointing. In an early text on mechanical reproducibility from 1893, he extensively elaborated on the poor lighting conditions and the disturbing ref lections of the varnish that render artworks in Venice churches, and even in the Academy, practically invisible.55 Against museum presence, the mechanical reproduction then offers a form of closeness and accessibility. It gives the art connoisseur the infinite possibility of comparison and the promise of completeness. It was with a similar intention to collect and compare all art, regardless of its location, material, or size, that Malraux praised the possibilities of the art book in Le Musée imaginaire (1947). Although he was certainly not the first to make the connection between the book and the museum,56 his lyrical title became exemplary of the curatorial potentials of the art book. In this 52 Belting, An Anthropology, 6. 53 Henning, With and Without Walls, 582. 54 Friedländer, On Art and Connoisseurship, 197. 55 Bernard Berenson, Isochromatic Photography and Venetian Pictures, in: Helene E. Roberts (ed.), Art History though the Camera’s Lens, London/ New York 1995, 127-131, see 127-128. 56 Walter Grasskamp, The Book on the Floor. André Malraux and the Imaginary Museum, Los Angeles 2016, 51-87.
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comparison between the museum and the book, we cannot deny the resemblance between the white pages and the walls of the so-called white cube of the museum space, turning the double-spread into the possibility of a three-dimensional space. The various spreads hence become the different galleries, and the act of browsing through the book can be understood as the parkour of the exhibition, which can be followed or neglected. However, in multiple ways, the beholder is freer in the space of the book than in the museum. As a reader/viewer, we can confront and compare different works. We can look at them upside down and even touch or distort the image. This decisive role is heightened by our perspective: the reader looks down at a page instead of up to see Rubens’ monumental masterpieces.57 In film, the viewer’s relation toward the work is more authentic in this respect. Although mostly from a seated position, we have to look up to the screen. Often the original museum décor is filmed, which generates the idea of being physically present in the room. When bystanders are filmed, we even have a sense of the original size of the artwork. However, the active role gained by the beholder in the art book is completely lost in filmed reproductions: we passively look, as anonymous witnesses to the images arranged in front of us. In English, Malraux’ book is translated as The Museum without Walls. This metaphor should not be read as a reference to the paper walls in the art book but to the space that the art book occupies within society. Unlike the museum, the art book is not separated from everyday life through monumental staircases and blinded windows. On the contrary, reality is there at the edge of every page. The illustrated art book brings art into “the stream of contemporary life,”58 as a souvenir and a commodity, as a tactile object reminiscent of an authentic experience. It is mainly the printed reproduction that accomplishes “the desire of contemporary masses to bring things ‘closer’ spatially and humanly,”59 because, unlike moving images, prints can be touched, manipulated, and rearranged by the beholder at will, an emancipatory power that the moving image only obtained with the advent of the smart-phone screen.
57 Savedoff, Transforming Images, 165. 58 Henning, With and Without Walls, 582. 59 Benjamin, The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction, in: Gerald Mast/ Marshall Cohen/ Leo Braundy (eds.), Film Theory and Criticism. Introductory Readings, Oxford 1992, 665-681, see 669.
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However, books themselves become part of a collection and hence of a fixed setting. Reproduction albums and bibliophilic coffee table books feature pictures that are fetishized for the graphic qualities of the photogravures, the vibrant colors, or the unseen level of detail. These books are not made to be read or simply looked at but to be collected. Their unbound pictures are to be held against the light or framed on the wall. Strategies of isolation re-auratize the copy as original.60 Whereas the art book as a curatorial space allows more open encounters with art, the book as an object becomes itself part of the same institutional framework as the museum. The realm of the public library, with its silent reading rooms and the conscious eye of the librarian, makes of the library a ritual site.61 To a certain extent, the same can be said about the cinematic experience. As the reverse of the white cube, the black movie theater generates a dream-like continuum that escapes everyday life.62 As I have explained in an earlier work, “the immersive attractiveness of cinematic reproductions lies not so much in their truthful representation of the original image, but in the reproduction of a genuine experience of that image.”63 According to Benjamin, the cinematic experience depends on a collective and distracted reception.64 In the movie theater, we collectively share an individual experience – an authentic moment of presence that is defined in time. Cinematic reproductions thus differ from printed reproductions, which generate individual collective experiences. By reading a book, we are in dialogue with the author and, through notes in the margins, possibly even with some of its readers. So, while one is individually looking at printed images, one is aware of their collective impact based on their material traces. Although broadcast documentaries do not leave a material trace, they similarly generate a collective impact through individual viewing. Television confronts us with the image of the outside world – and the inside of the museum – in the private context of our living rooms. Moreover, while traditional art books and art documentaries still mainly present artworks as images, television programs present artworks 60 Boris Groys, The Topology of Contemporary Art, in: Terry Smith/ Okwui Enwezor/Nancy Condee (eds.), Antinomies of Art and Culture. Modernity, Postmodernity, Contemporaneity, Durham 2008, 71-80, see 74. 61 Gary P. Radford, Flaubert, Foucault, and the Bibliothèque Fantastique. Toward a Postmodern Epistemology for Library Science, in: Library Trends 46 (4/1998), 616-634, see 618-621. 62 Bonne, Moved by Rubens, 212-213. 63 Bonne, Moved by Rubens 213. 64 Benjamin, Das Kunstwerk, 32-34.
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more often as three-dimensional objects that can be held and transported,65 packed and restored, auctioned, exhibited, damaged, stolen, or cut out of the frame. Along with many exhibitions, Belgium’s national public television broadcaster also documented the restoration of the Descent from the Cross (16121614) between 1960 and 1963, the theft of the Four Studies of the Head of an African Man from the Royal Museums of Fine Arts of Belgium in 1964, and the hasty rescue of Rubens’ masterpieces from a burning Saint Paul’s Church in Antwerp in 1968. In these programs, Rubens’ paintings are no longer presented as timeless images or still pictures on the wall but as historical artifacts on the move.
C. Still versus Moving Images Apart from the space they shape and the place they take, the differences between the original and mechanical reproductions are manifest, first and foremost, in their appearance as still or moving images. Film has some advantages over photography as a reproduction medium, namely its ability to mimic the contemplative attitude of moving closer and further away from the artwork. Like the museum visitor, the camera eye can move across the surface and explore the work from detail to detail. However, the filmed image also has disadvantages: its remediation transforms the original still image into a moving one. The work is now read as a script that guides the spectator into what the director wants us to see.66 Film directors, as curators, thus gain more authority than their colleagues in the museum gallery. Moreover, meaning is no longer only generated through text or through the comparison of works but is created within the picture itself. While the au-thor of an art book is bound to a strict separation of text and image, inevitably distracting the eye from the purely visual content, the voice-over commentator talks to the spectator while the camera leads the eye.67 Post-war cultural policy privileged the art documentary as a tool to enlighten and educate the 65 See for example the highly dramatized scene in the biopic Rubens: Schilder en Diplomaat (1977) by Roland Verhavert, in which Rubens presents St. Gregory the Great surrounded by other Saints (1606-1607) to the Duke of Mantua, accompanied by six servants who carry the 477 by 288 cm large canvas through a garden. 66 Berger, Ways of Seeing, 26. 67 René Huyghe, Summaries of Lectures and Speeches, in: Report on the First International Conference on Art Films (26 June - 2 July 1948), Paris 1948, 8.
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people, which resulted in the foundation of the Fédération Internationale du Film d’Art in 1948. At the time, discussions mainly focused on whether the art film should be seen as a pure registration of art or whether these films could claim artistic qualities themselves.68 On both ends of the discussion, multi-ple art documentaries took Rubens’ dramatic pictures as their subject, first in cinema and later on television.69 Among these films were some of the most inventive of the genre, which leads us to the question: What is it that moved these directors to put Rubens in motion? In the award-winning Rubens film from 1948 (Fig. 12), Paul Haesaerts described Rubens’ interchangeable paintings The Miracles of Saint Francis Xavier and The Miracles of Saint Ignatius of Loyola (1617-1618) for the main altar of the Jesuit Church in Antwerp as a proto-cinematic experience: “In a manner of speaking, the church became a theater, and the place where the paintings followed each other became a first screen.”70 According to Anne Hollander in her book Moving Pictures (1989), however, Rubens’ dynamic compositions cannot claim proto-cinematic features. In her examination of proto-cinematic art, she distinguished a type of painting that establishes dramatic movement through “optical experiences rather than formal ideas.”71 Their meaning is conveyed psychologically rather than being deliberately described.72 Proto-cinematic images appear as fragmentary and enigmatic, urging a distracted perception in the Benjaminian sense.73 For Hollander, proto-cinematic art did not focus on the medium’s specificity or the master’s genius.74 As a matter of fact, Rubens did both. In some works – the Descent from the Cross (1612-1614), to name only the most famous example – Rubens used the dramatic qualities of light, though only to enhance the work’s harmonious composition. His inventions remain a “cleverly created artificial space pop68 Steven Jacobs, Framing Pictures. Film and the Visual Arts, Edinburgh 2011, 3-4. 69 To name but a few: Rubens et son temps (1938) by Jacques Jaujard and René Huyghe; Rubens (1948) by Henri Storck and Paul Haesaerts; The World of Rubens (1958) by Irving Block and Benjamin Berg; Rubens en Liberté (1973) by Jean Cleinge and Rubens: 1577-1640 (1977) by Lorna Pegram. 70 Voice-over in: Paul Haesaerts/ Henri Storck, Rubens, 16 mm, Belgium 1948, 61 min. Translated by the author from the original Dutch version. 71 Hollander, Moving Pictures, 4. 72 Ibid., 7. 73 Benjamin, Das Kunstwerk, 39-41. 74 Hollander, Moving Pictures, 5-7.
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Fig. 6: Peter Paul Rubens, The Sacrifice of Abraham, 1620, oil on wood, 50 x 56 cm. Paris, Musée du Louvre, in: André Malraux, Psychologie de l’art. Le Musée imaginaire, Geneva 1947, 112-113. Ghent University Library. ulated by ravishingly believable fictions.”75 Rubens created a vibrant but idealized universe of which he himself and his unprecedented talent formed the center.76 While stretching the limits of figurative painting, however, he did not succeed in overcoming the immobility of the represented. Malraux came to the same conclusion (Fig. 6): Baroque art perfected the representation of movement but failed to modify the image to the extent that the image itself began to move. Following painting, photography embarked on the same quest. And, although the camera enabled movement to be seen in radically new ways, photography stopped at the same point as Rubens’ representations of the “decisive moment.”77 The introduction of film resulted in a new chapter, namely the photographing of movement. But for Malraux, the true essence of cinema was not to reproduce movement within the pic75 Ibid., 17. 76 Ibid., 14. 77 Cartier-Bresson’s photographic term implies a certain receptiveness of the moment, captured by a single click on the button. Rubens’ visionary style shaped that focal point, where a pivotal action in the depicted story culminated in a dramatic composition of forms.
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ture but to make movement a means of expression itself. It was thus through the artistic gesture of montage that the film medium reached its full potential. The possibilities of film for reproduction are therefore not situated in the creation of moving photographs but in the cinematic experience of a still image set into motion.78 As Hollander noticed, “the sources of cinema lie in this dynamic relationship between original visual ideas and their repeated translation, through which they can keep moving into the world’s aware-ness.”79 It is precisely the motionless representation of movement that inspired directors to transpose Rubens’ work to the cinematic medium. Compositional clearness is a conductive guideline for camera movements. It is as if Rubens painted a film script. Admittedly, we cannot see La Kermesse Flamande (16351638) as a single shot building up the suspense of what will come next; within this single picture, a complete plot is unraveled. As a pictorial universe, Rubens’ oeuvre features all the elements of a full movie. Rubens was not an idealist in his depiction of reality. We see the true colors of the blushing human f lesh and the impact of the light on a vast landscape at dawn. The allegorical way in which he composed this reality makes the image true to its own medium, that is, painting. Consequently, Rubens’ sense of drama is more related to theater, where, for a moment, we are fully absorbed by the scene that is displayed in front of us. Each painting opens up a whole new world with its own rules and truths. However, not for a single moment are we tempted to take this truth for reality. The realm of the scene stops where the frame begins. Hollander was right when she stated that “no photographic material can intrude, or the illusion would be lost.”80 However, by decomposing the image cinematographically into close-ups and travelling and panning shots, filmmakers such as Henri Storck (1907-1999) and Charles Dekeukeleire (1905-1971) often showed striking comparisons between everyday, volatile reality and Rubens’ vibrant creations.
78 Malraux, Psychologie de l’art, 111-113. 79 Hollander, Moving Pictures, 4. 80 Ibid., 104.
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II. Visual Strategies In the age of pictorial reproduction the meaning of paintings is no longer attached to them; their meaning becomes transmittable: that is to say it becomes information of a sort, and, like all information, it is either put to use or ignored; information carries no special authority within itself. When a painting is put to use, its meaning is either modified or totally changed. One should be quite clear about what this involves. It is not a question of reproduction failing to reproduce certain aspects of an image faithfully; it is a question of reproduction making it possible, even inevitable, that an image will be used for many different purposes and that the reproduced image, unlike an original work, can lend itself to them all. (Berger, Ways of Seeing, 24-25.) Now that we have defined the formal distinctions between original and mechanical reproduction, let us explore how these reproductions are put to use in Western art historical discourses by looking at some remediation strategies in art books and art documentaries on Rubens between 1877 and 1977. Besides Eurocentric art historical discourses, the image of Rubens – and the reproduction of his oeuvre – served socio-economic models of tourism and consumerism, political discourses on Belgian and especially Flemish nationalism, and androcentric viewpoints cultivated by Western modernity. Within this essay, however, I will not consider the impact of such ideological framing on our understanding of the artist’s work but rather will focus on the formal strategies that make such appropriations possible. Therefore, I will not consider the relation between text and image – however important in the creation of meaning – nor will I elaborate on how visual discourses impacted the written narratives on Rubens’ oeuvre, as this would lead to a whole new set of theoretical considerations. Instead, the structuring elements of the
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text, such as captions, titles, and page numbers, will be discussed only from a typographical point of view. Moreover, I do not aim to give an overview of the most important publications and films on Rubens. In considering the use of visual strategies, a popular Great Masters series can be analyzed alongside a groundbreaking scientific publication, and a broadcast news item can be equally revealing as a prizewinning art film. In some of the discussed cases, the author or director is responsible for the arrangement of the images, but this can equally well be the work of the publisher, the graphic designer, or the printer, and in some cases the arrangement of the reproductions is even entirely dependent on the perceiver. In general, we can distinguish three different visual strategies: isolation, succession, and juxtaposition. Usually, these strategies are combined in a single medium, and it is the rhythm of their alternation that determines the narrative f low of the visual discourse. Isolation is a strategy used to encourage contemplation, absorbing the attention of the reader and offering a surrogate for the original. However, isolation can also be used to single out details, zooming in on the work to reveal its true meaning. In quite the opposite way, succession situates different artworks in a context, making them part of a bigger picture. In illustrated art books and definitely in film, succession of images is inevitable. As with words in a text, our job is to discern the sequences – the sentences and paragraphs – that structure the narrative and give meaning to it. The succession of images in art books and art documentaries is mostly ordered according to standard art historical approaches: Chronological arrangements prioritize the development of the masters’ characteristic style. Thematically ordered sequences emphasize recurring motives. When images are organized geographically, the impact of local inf luences becomes apparent. However, for the creation of a visual argument, the direct confrontation of multiple images is the most productive. The strategy of juxtaposition has a long tradition within art history, with Heinrich Wölff lin’s double slide lectures and Aby Warburg’s Mnemosyne Atlas being two of the most significant early examples. The key to this strategy is that it allows for a purely visual understanding of art,81 but herein also lies its pitfall. As soon as two images are confronted, the resulting relation inf luences our approach and instantaneously changes the meaning they reveal to us. Wölff lin therefore did not like 81 However, we should not underestimate the importance of the captions in supporting the meaning of images.
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the rigid format of the book, with its direct and purely visual impact allowing little room for nuances.82 Malraux, on the contrary, saw the binary logic of the book spread as a playground to rethink art historical conventions in a musée imaginaire. However, juxtapositions are not only used as visual arguments by the author. They are often the result of publishers’ commercial considerations. Until the end of the nineteenth century, art books rarely combined multiple images on one spread. In addition to the technical difficulties of printing both image and text on the same page, the photo-mechanically illustrated art books emphasized the unprecedented accuracy of their images by isolating them. Photogravures were printed on slightly thicker paper, revealing the imprint of the plate, and were sometimes even provided with a transparent cover to protect the image.83 Eventually, however, as a result of the increasing importance of photo-mechanically illustrated books on the one hand and economical considerations on the other, art books confronting images on a single spread quickly became common practice from the early twentieth century onward. The lavishly illustrated 1909 Rubens monograph by the London-based publishing house Methuen, for example, displays a special attentiveness to the assemblage of images on a spread. Divided into two volumes, a text volume and a plate volume with more than five hundred plates, the book is part of the series Classics of Art: “a new library of art, which will be specially distinguished by profuseness and completeness of illustration.”84 Most of the printing blocks for the plates were supplied by the Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart, who published Methuen’s antitype P.P. Rubens: Des Meisters Gemälde in 551 Abbildungen (1905) as part of the series Klassiker der Kunst. Thus, both publications contain largely the same images, arranged chronologically in a separate plate section. Still, the result looks very different. The distinctive way in which the images are combined on the spread demonstrates how juxtaposition inf luences what meaning is conveyed. Where the Deutsche Verlags-Anstalt used the tormented pathos in the faces of St. Peter (1635-1640) and St. Andrew (1635-1638) to create a powerful
82 Frederick N. Bohrer, Photographic Perspectives. Photography and the Institutional Formation of Art History, in: Elizabeth Mansfield (ed.), Art History and its Institutions. Foundations of a Discipline, London/ New York 2005, 246-259, see 251. 83 See for example: Robert A. M. Stevenson, Peter Paul Rubens, London 1898; Michel, Rubens. His Life, his Work, and his Time. 84 Closing note in: Edward Dillon, Rubens, London 1909, n.p.
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Fig. 7: Top: Spread from Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 400-401. Bottom: Spread from Edward Dillon, Rubens, London 1909, CCCCXLIV-CCCCXLV. Ghent University Library.
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Fig. 8: Top: Spread from Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 50-51. Bottom: Spread from Edward Dillon, Rubens, London 1909, CCCXVI-CCCXVII. Ghent University Library.
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spread, Methuen used the same portraits to emphasize Rubens’ vigorously painted curly beards, which deviates our attention from the very different facial expressions of the respective paintings’ subjects (Fig. 7). Rubens’ numerous references to classical sculptures and Italian Renaissance masters led to frequently recurring poses, especially in his mythological depictions. These animated poses lend themselves perfectly to purely formal relations. The often-created mirror effects between the juxtaposed images accentuate the sensuality of the posing figures. In Methuen’s monograph, this is intensified by turning the landscape format of Rubens’ copy after Titian’s Rape of Europa (1628-1629) into a portrait format. Rubens’ use of the body to create dynamic compositions is less explicitly emphasized in the volume of the Deutsche Verlags-Anstalt. A spread combining two compositions after Titian forms an effective exception. Here, the graphic design catches Susanna (1610-1612) and Prometheus (1610-1612) in a dynamic centripetal spiral (Fig. 8). A common way to create a balanced page design is by connecting the figures in different reproductions by the direction of their gaze. Rubens used this strategy himself within his pictures, creating a network of gazes, often allowing an entry into the work through a figure audaciously facing the viewer. Likewise (Fig. 9), by following the gaze of the figures in the portraits assembled by Methuen, we end up with a figure facing us directly, thus mirroring the gaze of the spectator. The Deutsche Verlags-Anstalt imitated the intense gaze between Rubens’ Jupiter and Callisto (1613) by juxtaposing a study of two apostles with a portrait of a young man. While two men seem to look each other in the eye – similar to the two women in the mythological scene – the apostle in the background echoes the eagle behind Artemis’ back, revealing Jupiter’s disguised presence. Finally, juxtapositions can emphasize the composition of artworks. The Deutsche Verlags-Anstalt is less successful in highlighting the composition of the portraits of Albrecht and Isabella (1615-1620) than Methuen’s version of the same spread, determined by a strong vertical line and two diagonals enclosing the two governors (Fig. 10). The model of an extensive and densely composed plate section that the Classics of Art series provided became a standard in the publishing world of the first half of the twentieth century and was perfected by the Viennese publishing house Phaidon and their series Grosse illustrierte Phaidon-Aus-
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Fig. 9: Top: Spread from Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 70-71. Bottom: Spread from Edward Dillon, Rubens, London 1909, XXXII-XXXIII. Ghent University Library.
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Fig. 10: Top: Spread from Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 168-169. Bottom: Spread from Edward Dillon, Rubens, London 1909, CXXVIII-CXXIX. Ghent University Library.
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gabe.85 Phaidon conquered the German-speaking markets in the late 1920s with republications of canonical, cultural-historical texts. The rich use of illustrations brought these texts to life and made them attractive to a wider audience.86 Thanks to a combination of product optimization and printing in large print runs, these “Volksausgaben” could be offered for the price of a novel.87 The artist’s monographs published from 1935 onward equally succeeded in combining high-quality scientific contributions with a balanced design for an unprecedented low price. The 1938 Rubens book (Fig. 5) is one of the last of these monographs published in Vienna under the name of Phaidon founder Bela Horovitz.88 The visionary Ludwig Goldscheider was responsible for the attractive book design, which became Phaidon’s trademark.89 In some cases, Goldscheider provided the text himself,90 but in the Rubens monograph, they chose the republishing of an already widely available text, the posthumously published Erinnerungen aus Rubens (1898) by Jacob Burckhardt. However, the cover and title page do not mention this full title but only the name of the artist, in line with other monographs in the series. In the foreword of Rubens, we read that the four hundred illustrations in particular distinguish this publication from the many editions of Erinnerungen aus Rubens already available.91 In the text, some black-and-white illustrations are used discursively to illustrate comparisons with Caravaggio, Albani, Titian, Elsheimer, and Murillo. How Rubens drew inspiration from antique sculptures – such as the Venus statue that served as a model for Rubens’ Venus Frigida (1614) and Susanna and
85 Ernst Fischer, Zwischen Popularisierung und Wissenschaftlichkeit. Das illustrierte Kunstbuch des Wiener Phaidon Verlags in den 1930er Jahren, in: Katharina Krause/ Klaus Niehr, Kunstwerk – Abbild – Buch. Das Illustrierte Kunstbuch von 1730 bis 1930, Munich/ Berlin 2007, 239–265, see 239-240, 259-265. 86 Harvey Miller, Phaidon and the Business of Art Book Publishing. 1923-1967, in: Visual Resources 15 (3/1999), 343-353, see 343-344. 87 Ernst Fischer, The Phaidon Press in Vienna 1923-1938, in: Visual Resources 15 (3/1999), 289309, see 300-304. 88 From March 1938, Phaidon would operate under the London publishing house Allen and Unwin for a period of more than ten years in order to circumvent the Anschluss and the ban on publications produced by Jews. 89 Although he is not credited in the Rubens book, we can assume that Goldscheider was in charge of the arrangement of the images. 90 Elly Miller, Ludwig Goldscheider. A Memoir, in: Visual Resources 15 (3/1999), 331-342, see 334. 91 Foreword in: Ludwig Burckhardt, Rubens, Vienna 1938, n.p.
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the Elders (1635-1639) – is also illustrated by a direct juxtaposition of reproductions in the text. The separate plate section has its own thematic arrangement. Goldscheider set his own standards for the positioning of the images on the book spread and the selection of details: the figures in the juxtaposed artworks are always shown in proportion to each other, and their positioning on the page is either aligned at the top or at eye level. He consistently depicted details larger than the complete representation of the artwork. He often arranged these details prior to the artwork, as an introduction, or presented them autonomously, confronted with (a detail of) another work.92 In this way, Goldscheider emphasized the expressive qualities of the eccentric figures that set Rubens’ composition in motion and direct the viewer’s gaze. Moreover, a striking number of foldout pages are included in Rubens. The double-foldable pages are a creative solution to represent Rubens’ triptychs, as discussed above. The lateral fold-out pages fulfill a double function: closed, they present a close-up, while unfolded, they reveal the monumentality of the picture as a whole. Finally, six tipped-in color reproductions, photographed by Austrian pioneer C. Angerer & Göschl, give extra grandeur to this publication. At the same time, however, the mediocre quality of these reproductions testifies to the limitations of color printing at the time. The rich variety of reproductions and layouts are part of Horovitz and Goldscheider’s vision to reinvent the art book. Forty years after the first edition of Erinnerungen, Phaidon brought Burckhardt’s monographic study to life in an accessible edition that lies somewhere between illustrated text and picture book. The experiment with different types of reproductions and the framing of details was characteristic of Rubens books from the 1930s. In addition to the voluminous monographic publications mentioned above, the interwar period mainly produced smaller formats and so-called pocket editions for a wider audience. There was also an increasing diversification in terms of subjects. Books focused on only one aspect of Rubens’ oeuvre, such as his drawings or landscapes, or were devoted to a single painting or series of paintings, such as the reproduction albums The Life of Marie de Medici Told in Twenty One Pictures Conserved at the Louvre (1935) 93 or P. P. Rubens. La Kermesse
92 Miller, Ludwig Goldscheider, 336-338. 93 André Beucler, The Life of Marie de Medici Told in Twenty One Pictures Conserved at the Louvre, Paris 1935.
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Flamande (1938)94. In these reproduction albums, images are given free rein. The reader/viewer is encouraged to study the unbound photogravures and confront them in any chosen combination. In such albums, reproductions of the overall composition are often alternated with folio-size details possessing a strikingly graphic quality. A reproduction album (1936)95 that appeared on the occasion of the block-buster exhibition Rubens et son temps (1936) in the Musée de l’Orangerie in Paris also contains almost exclusively details. In the introduction to the album, Charles Sterling – who was involved in the organization of the exhibition – wonders, Mais ces richesses brusquement surgies dans une mine depuis longtemps explorée ne viennent-elles pas au jour grâce à un procédé purement mécanique, par trop artificiel? A-t-on le droit de morceler ainsi une composition où l’artiste a concerté toutes les parties en vue d’un effet unique?96 He then tries to convince the reader of the opposite by omitting all contextual information from the text and letting the images speak for themselves. Stripped of their iconography and their art-historical significance, these details mainly present a whirlwind of emotions or instances of intimate stillness. According to Sterling, it is precisely in such fragments that the stylistic essence of Rubens’ inventions can be captured in all its abundance: Pour les Primitifs, qui peignent, apparemment tout au moins, par petits fragments juxtaposés, l’appareil photographique a l’air de nous servir de loupe; il rapproche de nous les détails souvent inaccessibles des fonds de paysage, il permet à notre œil de se promener dans tous les recoins du tableau, d’en découvrir les charmes de miniature. Mais dans les œuvres du XVIIe siècle, ce premier temps héroïque de la peinture ‘moderne’, avec ses larges traînées de pâte, ses formes enchevêtrées, ses compositions mouvementées dont la confusion volontaire fait le prix, n’est-il pas contraire à l’idée de l’artiste luimême d’arracher au flux de couleurs et de lignes, de mains et de visages qui se répondent, d’arbres et de personnages qu’un même vent paraît plier, des fragments aux limites arbitrairement arrêtées? Peut-on, pour comprendre le 94 Jacques Dupont, P. P. Rubens. La Kermesse Flamande (Musée du Louvre), Brussels 1938. 95 Charles Sterling, La Peinture Flamande. Rubens et son temps, Paris 1936. 96 Sterling, La Peinture, n.p.
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ciel, n’en montrer qu’un nuage, pour décrire la mer ne se pencher que sur une seule vague? Demandez-le au berger, au marin: et pour de telles peintures, aux artistes. Leur réponse n’est pas douteuse: on le peut.97 In this way, the fragments draw attention to themselves (isolation strategy). However, unlike Brueghel’s peasant scenes, which could easily be divided into miniatures, photomechanical details of Rubens’ paintings do not give the impression of a self-contained totality. The details in these reproduction albums are unmistakably the result of a camera eye. Their rich tonality in shades of gray is indebted to photography, while their matte, inky depths can only be achieved by the photogravure. Their framing is modern, with seem-ingly arbitrarily defined boundaries, that capture the essence of the work as in a snapshot. They present an abrupt standstill so that the image, as a fragment of an endlessly expanding pictorial world, is set in motion. It is therefore not surprising that the first films about Rubens appeared during this same period. In addition to the many publications that appeared in the light of Rubens et son temps, René Huyghe and Jacques Jaujard made a short film (released in 1938) of the exhibition.98 The set-up was similar to that of Sterling, namely, they evoked Rubens’ style by zooming in on aspects of his work. We usually see the work in its entirety first, framed in the interior of the space. The camera subsequently moves closer to discover the works through travel-ing shots and close-ups, guided by music and a voice-over commentary that highlight the warm colors of a landscape at dusk or a hideous grimace on the face of a dead Christ. “Cinema, that great infant, has demonstrated to other media how to use past art to suit the present eye,”99 Hollander wrote, and although art books in the late 1930s certainly included details with a cinematic quality, it was Hans Gerhard Evers who introduced a truly cinematic approach to the book medium in his 1942 Rubens monograph100 (Fig. 11). Through a combination of 97 Sterling, La Peinture, n.p. 98 Jacques Jaujard/ René Huyghe, Rubens et son temps, 35 mm, Paris 1938, 11 minutes. 99 Hollander, Moving Pictures, 9. 100 Hans Gerhard Evers, Peter Paul Rubens, Munich 1942. The fact that formal discourse is often separated from its political dimension becomes clear in Evers’ books. Although these books have an important scientific merit and the innovative use of reproductions undoubtedly influenced the way in which Rubens’ work is portrayed in the following decades, they can nevertheless be regarded separately from the cultural policy of the
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Fig. 11: Spreads from Hans G. Evers, Peter Paul Rubens, Munich 1942, pl. 48-49, 107-108, 110-111, 116-117. Rubenianum. juxtapositions and successions of close-ups, he generated a sense of movement within the narrative sequences of his chapters. He displayed the formal similarities between a detail from The Hippopotamus and Crocodile Hunt (16151616) and a detail from The Lion Hunt (1621), not by the direct juxtaposition on the spread – a strategy peculiar to the book medium – but by their succession on the recto pages, creating a montage-like effect in which images follow each other in time. In his chapter Love and Fertility, he analyzed Diana’s Return from the Hunt (1616), then turned to Silenus (1592-1640), as if the camera were moving across the paintings’ surfaces. Mostly starting from the overall composition, he evoked the effect of a traveling shot on the consecutive pages, as, for example, in the vibrant spread with fragments from The Rape of the Daughters of Leucippus (ca. 1618). An image of The Kidnapping of Ganymede (1611-1612) is continued by a close-up of the claw, symbolizing the persistence of Jupiter’s grip. In his theory of photography, Evers, like Benjamin, talked about a Nazi regime in Flanders. Evers actively contributed to the framing of Rubens within a discourse on shared Flemish-German identity. During the war, Evers also published in magazines of collaborative movements, such as De Vlag.
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“shock effect” brought about by the contrast between human perception and the photographic gaze, and from which a greater receptivity follows.101 For Evers, photography was a visual language, which formed “a reduction of the visible, but a key to the imaginable.”102 In his follow-up book Rubens und sein Werk. Neue Forschungen (1943),103 he also incorporated cinematographic strategies. When the head of a hairdresser is confronted with the head of an elderly woman from Samson Asleep in Delilah’s Lap (ca. 1609), for example, they appear as two powerful cinematic close-ups. These details no longer belong to the category of portraits, as when the first details emerged in the interwar period (Fig. 4). In his Theory of Film (1952), Béla Balázs described the cinematographic close-up as follows: The close-up may sometimes give the impression of a mere naturalist preoccupation with detail. But good close-ups radiate a tender human attitude in the contemplation of hidden things, a delicate solicitude, a gentle bending over the intimacies of life-in-the-miniature, a warm sensibility. Good closeups are lyrical; it is the heart, not the eye, that has perceived them. Close-ups are often dramatic revelations of what is really happening under the surface of appearances. […] Close-ups are the pictures expressing the poetic sensibility of the director. They show the faces of things and those expressions on them which are significant because they are reflected expressions of our own subconscious feeling. Herein lies the art of the true cameraman.104 We no longer see the head of a hairdresser or an elderly woman but pure physiognomic expressions and intentions.105 The abstraction inherent in photography, which Evers attributed to the mathematical time manifested in the photographic image, hence finds its ultimate subject in “the face of man,” which, according to Balázs, appears through the camera-eye as if
101 Evers, Fotografie, 46-47; Benjamin, Das Kunstwerk, 36-39. 102 Hans G. Evers, Brief über Architektur-Fotografie, in: Hans G. Evers, Schriften, Darmstadt 1975, 51-60, see 60. 103 Hans G. Evers, Rubens und sein Werk. Neue Forschungen, Brussels 1943. 104 Béla Balázs, Theory of the Film, London 1952, 56. 105 Balázs, Theory, 61.
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outside of space.106 In the close-up, Rubens’ figures become modern movie stars.107 Nevertheless, the structure and design of Neue Forschungen are more in line with the medium-specific properties of the book and its binary logic. Cinematic details are presented in a simultaneous rather than a successive manner. The book is divided into three parts: First, a table reveals an extensive timeline, with the most important bibliographical data, the political context, Rubens’ correspondence, the works he produced, and the prints he published. Then follows the text in several chapters and an index. Finally, a separate plate section displays up to eight – and, in the case of prints, up to eighteen – images of various artists and art forms on each spread. The visual juxtapositions thus created are reminiscent of Warburg’s Bilderatlas Mnemosyne. Archive material shows how Evers carefully designed some of these compositions on the page using scissors and glue.108 In doing so, he constructed a visual discourse that, independently of the text, could stimulate our thinking. What, then, is the status of these images? Can someone claim the authorship of a sequence of reproductions? Can the specific arrangement of the images on the book spread, in other words, be subject to copyright? If we assume that a visual discourse is as meaningful as any written art historical statement, how then do we accurately quote it? The pertinence of these questions became clear when Erik Larsen published P. P. Rubens. With a Complete Catalogue of his Works in America109 exactly ten years after Evers’ monographs. In the preface to his book, Larsen discussed Evers’ substantial contribution to the vast Rubens literature: “The latter author has given us a work of considerable scope; he treats his subject from the psychological point of view, drawing on his vast erudition and thorough knowledge of the pertinent literature.”110 However, Larsen nowhere mentioned Evers’ innova106 Evers contrasted the “mathematical time” of photography, caused by the measured exposure time, to the “lived time” of human experience. He thereby indirectly refers to Henri Bergson’s time-duration concept. Cf. Evers, Fotografie, 45-46. Balázs, on the other hand, argued that “facial expression, physiognomy, has a relation to space similar to the relation of melody in time,” hereby referring to Bergson’s analysis of time and duration according to the relation between notes and melody. Balázs, Theory, 61-62. 107 Malraux described how the dramatic lighting on the faces of sculptures generated a similar ef fect. Cf. Henning, With and Without Walls, 592. 108 Rubenianum, Box 4, Archive Hans Gerhard Evers, Missale, RA 010.229. 109 Erik Larsen, P. P. Rubens. With a Complete Catalogue of his Works in America, Antwerp 1952. 110 Larsen, P. P. Rubens, 5.
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tive visual strategies, while a substantial number of Evers’ image sequences were reproduced unchanged in his book. This reveals that a framework for such referentiality was lacking, but also that the value of visual strategies as a form of discourse was – and still is – insufficiently recognized. Authorship, visual discourse, and a cinematic approach to Rubens’ work naturally brings us to Rubens (Fig. 12), a film released in 1948 by director Henri Storck and art historian Paul Haesaerts. Widely screened in Europe and the United States, the film was praised as a key example of the film sur lʹart genre that f lourished in the 1940s and 1950s.111 Inf luential film theorists such as André Bazin and Siegfried Kracauer, among many others, discussed the film, which was awarded prizes at the Venice Biennale and by the Comité International de Diffusion de l’Art et de la Littérature par le Cinéma (CIDALC).112 Although it was Storck who initiated the project for a Rubens film in the wake of the 300th commemoration of Rubens’ death,113 when the production was finally picked up after the Second World War, Haesaerts became responsible for “screenplay and the all-round assistance with the montage, the sound, the commentary, and all other artistic and technical problems that might occur.”114 Moreover, Haesaerts wrote the thematically arranged script, with extensive notes on the statement that the montage had to evoke. In doing so, he went beyond the typical role of scientific advisor who provided voice-over texts for art documentaries,115 which, according to Steven Jacobs and Joséphine Vandekerckhove, led to conf licts about who could claim the authorship of the film.116 Whereas Haesaerts theorized the project as a new
111 On the film sur l’art, see the recent contributions: Steven Jacobs/ Birgit Cleppe/ Dimitrios Latsis (eds.), Art in the Cinema. The Mid-century Art Documentary, London et al. 2021; Steven Jacobs, Camera and Canvas. Emmer, Storck, Resnais and the Post-war Art Film, in Steven Jacobs, Framing Pictures. Film and the Visual Arts, Edinburgh 2011, 1-37. 112 Steven Jacobs/ Joséphine Vandekerckhove, Art History with a Camera. Rubens (1948) and Paul Haesaerts’ Concept of Cinéma critique, in: Steven Jacobs/ Birgit Cleppe/ Dimitrios Latsis (eds.), Art in the Cinema. The Mid-century Art Documentary, London et al. 2021, 85-104, see 91-92. 113 Jacobs/ Vandekerckhove, Art History,88-89. 114 Ibid., 90. 115 Ibid. 116 Ibid., 98.
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form of art analysis, a “cinéma critique,”117 Henri Storck claimed the artistic realization of the film through his innovative camera work. In Rubens, all possible cinematographic techniques were used to bring Rubens’ paintings to life. Split screens and animation techniques compare his work to earlier masters. Rotating camera movements reveal his spiraling evocations. Traveling shots highlight the prominent use of diagonals. Details are isolated by means of irises and close-ups, and white lines underscore the main outlines of his compositions. As Jacobs and Vandekerckhove pointed out, “instead of explaining Rubens’ concept of a universe in motion and a fertile nature with words, a dissolve between paintings and footage of water, clouds, and f lames is used to evoke these ideas.”118 In an interview on Belgian television, Haesaerts described how the rhythm of the camera should match the style of the artist, while text plays a minor role and should be alternated in prominence with music.119 The work’s (hi)story and its relation to Rubens’ biography are almost completely left out. According to Jacobs and Vandekerckhove, first and foremost, Rubens consists of a formal and stylistic analysis of the works of the baroque painter, facilitated by the use of a variety of cinematic techniques in which the camera is presented as an instrument that enables us to compare the artworks. In doing so, Haesaerts and Storck present themselves as modernists […].120 Therefore, the film is an example of how the mid-century art film often blurred the thin line between educational documentary and experimental cinema, the
117 Already in 1931, Paul Haesaerts had developed “une critique par la photographie” together with his brother Luc Haesaerts, as a preface to their extensively illustrated book Flandre. The point of departure is the rigorous way in which art is researched by academia and the benefits of photography for an art analysis that remains closer to its visual perception. Juxtaposing details on each left page of the book, they already drew inspiration from a cinematic methodology, which led Paul Haesaerts to experiment with film after the Second World War. Paul Haesaerts/ Luc Haesaerts, Une critique par la photographie, in: Paul Haesaerts/ Luc Haesaerts, Flandre. Essai sur l’art flamand depuis 1880, Paris 1931, 12-25, see 12-17. 118 Jacobs/ Vandekerckhove, Art History, 93. 119 Joos Florquin, Ten Huize van Paul Haesaerts, 16 mm, Belgium, BRT, broadcast 6 April 1966, 54 min. 120 Jacobs/ Vandekerckhove, Art History, 94.
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latter using paintings as mere footage to make a cinematic statement.121 Both of these aspects of the film were critiqued for their intrusion into the original idea and coherence of the artworks represent-ed.122 Whereas with photography, the threat had always been that the reproduction medium would get too close to the original so that they would become interchangeable, film was now blamed for losing all connection to the essence of the painted medium, rendering the latter irrelevant and eventually obsolete. How-ever, Haesaerts reassured his critics, “l’analyse et l’explication des œuvres ne précèdent pas leur réalisation. La critique est méditation à posterio- Fig. 12: Stills from Henri Storck/ Paul ri, prise de conscience, exercice de Haesaerts, Rubens, 35 mm, Belgium, pensée sur du déjà pensé.”123 The art 1948, 61’. documentary generally – as is also the case in Rubens –124 already uses photographic reproductions as its footage instead of directly filming the actual artworks. Film is hence more than a mere representation, albeit a moving one, of the original. Like the art book, the film medium inherently and instantaneously combines discourse with reproduction. However, the discourse in film is elaborated within the image, making the distinction between presentation and representation almost indiscernible. After the Second World War, the art book further developed its visual strategies according to the effective model that film provided.125 With 121 Jacobs, Camera, 15-16. 122 Jacobs/ Vandekerckhove, Art History, 97-98. 123 Paul Haesaerts, Sur la critique par le cinéma, in: Le film sur l‘art: bilan 1950, études critiques, répertoire international (II), Brussels 1951, 17-19, see 17. 124 Jacobs/ Vandekerckhove, Art History, 90. 125 Haesaerts, Sur la critique, 18.
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Jan-Albert Goris and Julius S. Held’s Rubens in America (1947)126 and Leo van Puyvelde’s Rubens (1952)127, a standard was set in which cinematic close-ups became an essential element in postwar Rubens publications to emphasize his impasto and bravura brush work. Sometimes, inspiration was literally taken from cinema, as on a spread from Jo Gérard’s Rubens et son époque (1977)128, in which a film still from Storck and Haesaerts’ Rubens was recreated, or on the dust cover of Frans Baudouin’s Rubens en zijn eeuw (1972)129, in which a film strip is evoked. Benjamin wrote, [e]s wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen.130 It is, therefore, often in scientific publications based on connoisseurship or restoration practices that the most radical visualizations of works of art appear. Extreme close-ups, depicting cracks and gaps as pictorial elements,131 or X-ray images and infrared photography, looking right through the painting, 132 show Rubens’ works in their most abstract form. It is precisely these unrecognizable images, whose properties are inextricably linked to the photographic medium, that are often used as proof of an artwork’s authenticity, which takes grotesque forms in Robert Druwé’s pseudo-scientific Rubens’ Naam en Jaartaltechniek from 1944 (Fig. 13). However, film also inspired publishers and book designers to deal with their own medium in a more innovative way. From the late 1950s onward, typography became an increasingly important element in art books about Rubens. Titles, captions, and even entire blocks of text were used as a visual and structuring element on the page.133 Images were increasingly positioned 126 Jan-Albert Goris/ Julius S. Held, Rubens in America, Antwerp 1947. 127 Leo van Puyvelde, Rubens, Brussels 1952. 128 Jo Gérard, Rubens et son époque, Brussels 1977. 129 Frans Baudouin, Rubens en zijn eeuw, Antwerp 1972. 130 Benjamin, Das Kunstwerk, 35. 131 See for example: Pasquale Rotondi, Rubens. La circoncisione della ciesa dell Gesù a Genova, Genoa 1955. 132 As in Giuliana Biavati/ Ida Maria Botto, Rubens et Genova. Catalogo della mostra, Genoa 1977. 133 In the English tradition, for example: Elizabeth Ripley, Rubens a Biography, New York 1957; Cicely V. Wedgwood, The World of Rubens, New York 1967; Christopher White, Rubens and
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Fig. 13: Details of Peter Paul Rubens, Christ Appointing Saint Roch as Patron Saint of Plague Victims, ca. 1926, [painted copy], 85 x 56 cm. private collection/ Peter Paul Rubens, Portrait of Albert and Nicolaas Rubens, 1625-1626, oil on panel, 157 x 93 cm. Vienna, Liechtenstein Museum, in: Robert Druwé, Rubens‘ Naam en Jaartaltechniek, Brasschaat 1944, 54-55. Ghent University Library. in an acentric manner or printed with bleed, and color became an important factor in the visual appeal of the art book.134 In the 1970s, some publications got their inspiration from other forms of printed matter, such as magazines. In The Life and Times of Rubens (1970),135 from the series Portraits of Greatness, Rubens’ life and work is treated in 36 spreads, each with a playful grid of snapshots and accompanied with juicy titles, such as “his father was the lover of a princess,” “demonic brio in the peasant dances,” or “a gentleman taking a walk in his garden.” This popularizing trend and the increased use of details were unmistakably also affected by the broadcast reproductions on televihis World, London 1968; and Cicely V. Wedgwood, The Political Career of Peter Paul Rubens, London 1975. 134 Early publications combining color prints with innovative design are Pierre Cabanne, Rubens, Paris 1966; Marcel Fryns, Rubens, Van Dyck, Jordaens, Paris 1962. 135 Mario Lepore, The Life and Times of Rubens, London 1970. Other books using a magazinelike template include Alfredo Pallavisini, Rubens, Milan 1976; Hermann Bauer, Rubens. 1577-1640, Munich 1977.
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sion after the 1950s. Due to the small size and the relatively low quality of the television screen, longer shots of close-ups better suited the medium.136 In a news broadcast about the restoration of the Descent from the Cross (1612-1614), close-ups of strong working hands, bolts, ropes, and other rough materials were edited between images of the artwork being wrapped and transported.137 This contrast highlighted both the fragile and the monumental aspect of the operation. In addition, the educational value of art documentaries was maximized on television. The innovative animation techniques that we saw in Storck and Haesaerts’ film were used by the Belgian broadcaster for documentaries on Rubens for school-aged youth.138 In Roland Verhavert’s biopic Rubens: Painter and Diplomat (1977), ordered by the Belgian Television Broadcaster in the context of the 1977 Rubens celebrations, reproductions were used as the connecting element between scenes that otherwise paid little attention to the artistic qualities of Rubens’ oeuvre. The few reproductions of paintings that are shown in this series serve as conversation pieces, as props around which the story of the man behind the artist – a prototypical portrayal of the Flemish bon vivant – unfolds.139 That the series did not succeed in ref lecting the vastness and complexity of his oeuvre is exemplary of the reverse side of the coin of mechanical reproductions’ democratizing power.140
III. Concluding remarks In many ways, the formal evolution in the modern representation of Rubens’ oeuvre is the result of the technological innovations that succeeded each other between 1877 and 1977. These innovations certainly led to more “realistic,” 136 Jean-Marie Drot, Ten Years of Film on Art with the French Radio and Television Service (RTF), Seminar on Television and Films on Art in Ottawa, Paris 1963, 8. 137 Transport van schilderij ‘De Kruisafneming’ van Rubens van Antwerpen naar Brussel, 16 mm, Belgium, BRT, broadcast 7 July 1960, 2 min. 36. 138 See: Valentin Denis/ Jo de Meester, Rubens. Aspecten van de barokschilderkunst, 16 mm, Belgium, BRT, broadcast 1 February 1965, 36 min.; Jo de Meester, Rubens de schilder, 16 mm, Belgium, BRT, broadcast 17 February 1977, 24 min. 42; Jo de Meester, Rubens de tekenaar, 16 mm, Belgium, BRT, broadcast 11 March 1977, 20 min. 32. 139 Roland Verhavert, Rubens. Schilder en Diplomaat, Belgium, Kino NV for BRT, October 1977, 260 min. 140 Bonne, Moved by Rubens, 219-220.
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“accurate,” and “truthful” representations in terms of detail, color, and appearance. However, I have argued that, rather than jeopardizing the distinction between original and reproductions, these innovations instead led to a more creative use of media in which Rubens’ work was not so much represented as revived and remediated. The mid-twentieth century was pivotal in transforming the technological advances of the previous decades into radically new visions of Rubens’ artworks. Mechanical reproductions no longer conveyed the intrinsic nature of the original painting, but imbued Rubens’ images with a cinematic quality. What has changed since digital technology came into play? The visual discourse that was communicated by an artwork’s reproduction depended first on the artist himself, who assured the quality of the graphic reproductions that left his studio, and later on the author, director, or publisher working closely together with photographers, printers, graphic designers, and camera operators. In the current (post)digital age, such linear communication is subverted, as every viewer/participant is given full agency to blow up pictures, cut out pieces, and change colors almost to infinity. Apart from the improvements in accuracy and detail, what has really shifted with the omnipresence of the digital screen is the reproduction’s tactility. Digital reproductions are now subject to “distracted scrollers,” whose “[…] critical and […] receptive attitude coincide”141 in the symbol of the like button. The reproduction is no longer only the a priori and a posteriori of every art experience; it also instantaneously replaces the original as it is seen directly through the gaze of our smartphones. Whereas Rubens acquired cinematic qualities in the twentieth century, art now becomes ‘instagrammable.’ Belting rightfully asked himself, “Can we continue to speak in the same way of the image, when we, as spectators, have lost connection to traditional ways of image perception, when we no longer perceive images via physical media but rather through virtual media?”142 In a post-digital society, we visit exhibitions through online guided tours. Digital reproductions travel alongside hashtags on social media, and immersive augmented reality experiences bring Rubens’ pictorial world to life. The accuracy of reproductions has gained uncanny new levels thanks to digital scanning technology and three-dimensional printing. Through deep 141 Benjamin, The Work, 676. 142 Belting, An Anthropology, 25.
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learning algorithms, we can now experience artworks for which the painter himself ran out of time.143 Although these representations of art may look radically new to us, their distinctive features are not very different from their predecessors. The hyperreal and the spectacularly immersive recall the vexations already expressed with the advent of photomechanical reproductions and later with the art film. What defines the post-digital reproduction is not its multiplicity, its accuracy, its mobility, or even its virtuality.144 Since the mid-nineteenth century, mechanical reproductions have invigorated the virtual properties of art in that they “shifted the relationship between artifact and imagination in favor of imagination, creating f luid transitions for the free play of the mental images of their beholders, at least in terms of their perception.”145 However, mechanical reproductions have long failed to activate their virtual properties, paradoxically because of the technology that has made them possible. People have been fascinated by the new levels of representation, but even more they have been baff led by the techniques that have produced these images. By the time we got used to the technologies, mechanically made images had already re-inhabited the institutions and structures which Benjamin had hoped they could escape. The creation of reproductions is no longer the privilege of the professional, the artist, and the amateur, but of all people, including those who have no interest in aesthetical, political or economic usage. Hito Steyerl defended the people’s “poor images”146 as a means of visual thinking and a means to create “visual bonds.”147 Fluidly migrating through virtual pages, however, even digital reproductions “[end] up being perfectly integrated into an information capitalism”148 and, while “operating against the fetish value of high 143 See for example the project The Next Rembrandt (2016), https://www.nextrembrandt. com/ [last accessed, 19 December 2021]. 144 For a historical account on virtuality, see Anne Friedberg, The Virtual Window. From Alberti to Microsoft, Cambridge 2008. 145 Belting, An Anthropology, 41. 146 Hito Steyerl, In Defence of the Poor Image, in: e-flux (10/2009), 1-9. 147 Steyerl, In Defence, 7-8. Although our hypermediated society can be defined by a lost connection or attention to the physical world, we can also argue that the smartphone camera has renewed our interest in the world, at least in its quality as image. While we copy the pictures in the museum gallery – like the old masters copied their predecessors – we explore how these images work. 148 Steyerl, In Defence, 7.
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resolution,”149 both image and beholder find themselves trapped in the quantitative labyrinth of algorithms. Hence, both reproductions and people have found their way back to the museum gallery. Today, we no longer connect to the overwhelming presence of the originals, but are seeking the authentic in immersive experiences, light shows, and virtual reality. These intense copies are able to recreate aura because they offer us a bodily experience of images, something we have lost in our daily engagement with the f low of reproductions surrounding us.150 It seems as if the history of art’s reproducibility keeps reproducing itself. If we want to see Rubens’ images, it is therefore in the dynamic relationship between image, space, and beholder that we should look for them.
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149 Ibid., 7. 150 Of course, the almost unconscious finger movements we perform to scroll, to enlarge, or to swipe images are a bodily engagement as well. However, in these cases we move the images far more than the images move us.
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Fig. 8: Top: Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 50-51. Bottom: Edward Dillon, Rubens, London 1909, CCCXVI-CCCXVII. Ghent University Library. Fig. 9: Top: Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 70-71. Bottom: Edward Dillon, Rubens, London 1909, XXXII-XXXIII. Ghent University Library. Fig. 10: Top: Adolf Rosenberg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart 1905, 168-169. Spread from Edward Dillon, Rubens, London 1909, CXXVIII-CXXIX. Ghent University Library. Fig. 11: Hans G. Evers, Peter Paul Rubens, Munich 1942, pl. 48-49, 107-108, 110111, 116-117. Rubenianum. Fig. 12: Stills from Henri Storck/ Paul Haesaerts, Rubens, 35mm, Belgium, 1948, 61’. Fig. 13: Robert Druwé, Rubens‘ Naam en Jaartaltechniek, Brasschaat 1944, 54-55. Ghent University Library.
Bildreste, Bildereignisse und Existenzweisen des Bildlichen Jacobus Bracker
Abstract: Mit der Formulierung der Begriffe ›Bildrest‹ und ›Bildereignis‹ verfolgt der Beitrag das Ziel, die Schwierigkeiten in der kulturwissenschaftlichen – beispielsweise archäologischen – Analyse von Bildern als Medien vergangener Kommunikationsprozesse einerseits zu verdeutlichen und andererseits einer Lösung zuzuführen. Ausgangspunkt der Untersuchung sind zwei Besuche in der Hamburger Kunsthalle und im Nationalmuseum von Phnom Penh. Auf Basis der Bilderfahrungen des Autors vor Objekten wird eine Reihe von Umständen festgestellt, die potenziell Einfluss auf die Bilderfahrung nehmen und sie zu einem individuellen Ereignis machen. Das Bild wird für die Analyse als Bildrest betrachtet, weil zu seiner Vollständigkeit immer der vergangene Blick vergangener Rezipient*innen fehlt. Anhand von Konzepten aus der Multimodalitätsforschung werden sodann Analysekategorien erarbeitet, mit denen Bildmedien zum einen als Kommunikationsmedien und zum anderen als Teilnehmende vielfältiger Netzwerke und somit in unterschiedlichen Existenzweisen dicht beschrieben werden können.
Das Bild liegt vor dem Blick, könnte man sagen. Zumindest konfiguriert sich das Bildereignis aus einer Vielfalt von Gegebenheiten, die vor dem Blick auf das bildliche Medium liegen. Um diese Vielfalt zu veranschaulichen, werden wir zunächst der Hamburger Kunsthalle und dann dem Nationalmuseum in Phnom Penh einen Besuch abstatten. Für eine erste theoretische Annäherung werden wir sodann einen Ausf lug ins Atmosphärische unternehmen, was uns veranlassen wird, die Begriffe des Bildrestes und des Bildereignisses zu formulieren. Um die Vielfalt der Umstände, die zu einem konkreten Bildereignis führen, zu systematisieren, greifen wir abschließend auf Konzepte der Multimodalität von Medien zurück.
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I. Zwei Museumsbesuche Unser erster Besuch führt uns in die Galerie Alte Meister der Hamburger Kunsthalle (Abb. 1). Gegenüber dem Eingang zum ersten Ausstellungsraum sehen wir das Retabel des ehemaligen Hochaltars der Petrikirche in Hamburg.1 Zusammen mit dem geschnitzten Flügelschrein an der linken Wand wurde es 1379/1383 von Meister Bertram gefertigt.2 Ich denke dabei zuerst an meine Kindheit. In unserem Wohnzimmer stand irgendwo in einem der vielen Bücherregale ein Bildband mit Fotografien der Tafeln. Wie Kain Abel erschlägt, das war in Schwarzweiß wiedergegeben, und wie die Soldaten des Herodes die Neugeborenen ermorden und ihre klaffenden Wunden, in Farbe, das sind die Bilder, die sich mir nachdrücklich eingeprägt haben, obwohl diese Bilderfahrung nun schon beinahe vierzig Jahre zurückliegen mag. Warum gerade diese Szenen und nicht Adam bei der Feldarbeit und Eva beim Spinnen, ist sicher eine Frage der verschiedenen Affektpotentiale dieser unterschiedlichen Bilder. Gleichzeitig kann ich mich an meine Faszination erinnern, als wir dann das erste Mal in die Kunsthalle gegangen sind und die Bilder ›in echt‹ gesehen haben. Ich wusste ja aufgrund der vorbereitenden Unterweisungen meiner Mutter, einer promovierten Klassischen Archäologin, die im Nebenfach Kunstgeschichte und Altgriechisch studiert hatte, dass es sich bei diesem Altar um etwas ganz Besonderes handelt. Diese persönlichen Erfahrungen wird nicht jede*r teilen, und wenn ich heute – archäologisch ausgebildet und bildtheoretisch forschend – diesen Ort besuche, dann nehme ich auch noch ganz anderes wahr: wie zum Beispiel den Umstand, dass ich die geschnitzten Innenseiten, den geschnitzten Mittelschrein und die geschnitzte Predella (links) sowie die bemalten Innenseiten (rechts), so wie sie mir da entgegentreten (Abb. 1), nie hätte sehen können, als beide Teile noch zusammengesetzt, erst in Sankt Petri und nach dem Verkauf des Altars 1726 dann in der Grabower Stadtkirche, in ihrer originären Funktion in christliche rituelle Praktiken eingebunden waren. Die vier bemalten Flügel des Retabels sind die erste Öffnung. Die beiden mittleren fungierten als Rückseiten der Flügel des geschnitzten Schreins. So auf1 Inv.-Nr. HK-500. – Ausstellungssituation im November 2018. 2 Hamburger Kunsthalle, URL: https://online-sammlung.hamburger-kunsthalle.de/en/ objekt/HK-500/retabel-des-ehemaligen-hochaltars-der-petrikirche-in-hamburg-grabower-altar [letzter Zugrif f: 06.02.2020].
Bildreste, Bildereignisse und Existenzweisen des Bildlichen
Abb. 1: Hamburger Kunsthalle, Galerie Alte Meister, geschnitzte Flügel, geschnitzter Mittelschrein und geschnitzte Predella (links) sowie bemalte Innenseiten (rechts) des ehemaligen Hochaltars der Hamburger Petrikirche (sog. Grabower Altar). geklappt konnte man die Bilder allein sonntags sehen, wochentags nur die Rückseiten der äußeren Flügel des Retabels, deren Bilder verloren sind. Und der Skulpturenschrein, die zweite Öffnung, war überhaupt nur an den hohen Feiertagen sichtbar. Die Sichtbarkeit der einzelnen Teile des Altars war damit stark reglementiert. Wir können also festhalten, dass das, was wir bei unserem Museumsbesuch heute sehen, sich als eine Bilderfahrung darbietet, die unseren neugierigen Blicken freies Wandern erlaubt, allenfalls gestört von Lichtref lexen durch die Beleuchtung, uns der Eindruck des Besonderen jedoch entgeht, weil unsere Bilderfahrung nicht eingeschränkt wird. Machen wir uns diesen Umstand bewusst, werden wir auch gewahr, dass uns die museale Präsentation weiteres entgehen lässt, etwa was der Kirchenraum an Atmosphärischem, die Sinne vielfältig Reizendem, unserer Bilderfahrung hinzugefügt hätte. Anderes tritt an dessen Stelle, eine Präsentation in der Tradition des säkularisierten Galeriebildes, obwohl sich manche*r vielleicht auch an das schlichte Interieur
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moderner Kirchenbauten erinnert fühlt. Aber in der Kunsthalle geht es um Kunst, wir besuchen die Galerie Alte Meister und der Connaisseur der Kunst des Mittelalters betritt diesen Raum erwartungsvoll gestimmt. Nun stellt sich die Frage, ob ich als Kind und heute unterschiedliche Bilder wahrgenommen habe. Oder welches Bild mag dem Connaisseur erscheinen? Oder sehen wir alle das gleiche, egal wann und wo? Hätte es auch keinen Unterschied gemacht, wenn wir uns alle gemeinsam 1859 zur Messe in Grabow eingefunden hätten? Gleicher Bildträger, gleiche Bilderfahrung? Unser zweiter Museumsbesuch führt uns in die Hauptstadt Kambodschas, nach Phnom Penh und in das dortige Nationalmuseum, das vor allem eine beeindruckende Sammlung der Groß- und Bauplastik, der Bronzen und der Keramik der verschiedenen Angkor-Perioden beherbergt. Wir begeben uns auf den üblichen Rundgang und beginnen mit den Kleinbronzen, bewundern die Großplastik der frühen Khmer, passieren Jayavarman VII., der fast jeden Tempel im Bereich von Angkor und darüber hinaus gebaut hat, schlendern vielleicht noch über den Innenhof und stehen schließlich vor einer Gruppe sitzender Buddhas aus der Post-Angkor-Zeit aus dem 16. Jahrhundert, die letzten Reste archäologischer Energie mobilisierend, um noch einmal die motivischen und stilistischen, sozialen und kulturellen Wandlungen durch die Jahrhunderte nachzuvollziehen, wie sie sich in diesen Objekten materialisiert haben.3 Und dann das: Wir stehen also vor diesen materiellen Hinterlassenschaften (Abb. 2), davor sitzen zwei Männer auf einer Matte im Gespräch, die Schuhe ausgezogen, wie es üblich ist, bevor man einen buddhistischen Tempel betritt. Dazu gestellt ein paar Pf lanzen, es brennen Räucherstäbchen und es sind Wasserf laschen und andere Dinge davor deponiert, ganz offensichtlich Opfergaben. Das hatte ich nicht erwartet, obwohl diese Reise durch Kambodscha meinen ältesten Sohn Julian und mich schon zu einigen Tempeln des antiken Khmerreiches geführt hatte, in denen wir genau das bereits gesehen hatten, nämlich dass – wie dazugestellte Räucherstäbchen und Opfergaben anzeigten – die ein Jahrtausend alten Buddhas und Bodhisattvas noch immer Gegenstand religiöser Verehrung sind. Im Museum war das aber noch einmal etwas anderes. Und als Leser*in dieses Textes haben Sie vermutlich eine solche Situation ebenfalls nicht erwartet, nachdem gerade noch von der 3 Der Rundgang fand am 07.03.2017 statt.
Bildreste, Bildereignisse und Existenzweisen des Bildlichen
Abb. 2: Buddhastatuen aus der Post-Angkor-Zeit im Nationalmuseum in Phnom Penh. Wirkung des säkularisierten Galeriebildes die Rede war. Hier werden sich für jeden von uns ganz unterschiedliche Erfahrungen einstellen. Für mich traten zunächst die Plastiken in den Hintergrund, insbesondere als archäologische Objekte. Es f log eine sakrale Stimmung heran, nicht zu ernst, denn die Männer unterhielten sich sichtlich entspannt, waren nicht ins Gebet versunken, der museale Raum schien sich aufzulösen. Gleichwohl handelte es sich für mich um keine Erfahrung der Diskrepanz, sondern eher der Ingression, um die Terminologie Gernot Böhmes zu verwenden,4 und doch um einen Prozess, der die Differenz zwischen der für mich üblichen Museums- und damit verbundenen Bilderfahrung und diesen ganz anderen Erfahrungspotentialen in aller Deutlichkeit hervortreten ließ. Mit Blick auf diese Erfahrung könnte man folgern, dass die Bilder, die sich zeigen, immer andere sind. Im letzten Fall war ich zunächst darauf eingestellt, faszinierende archäologische Objekte zu betrachten, aber das war nicht das, was mir die Buddhastatuen zu sehen gegeben haben, sondern sie zeigten sich in einem merkwürdigen Grenzbereich, in dem die Erfahrung zwischen Musealität und Sakralität changierte.
4 Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, 46f.
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Wie lassen sich diese unterschiedlichen Bilderfahrungen nun analytisch greifen? Es hat sich gezeigt, dass sehr unterschiedliche Faktoren in die jeweilige Bedeutungskonstitution einf ließen. In beiden Beispielen habe ich bewusst meine persönlichen Erfahrungen mit den Objekten geschildert, um darauf zu verweisen, dass individuelle Vorerfahrungen und Vorwissen sowie die Verwobenheit in bestimmte Bedeutungsnetze Hauptrollen spielen, wenn im Angesicht eines Bildmediums Bedeutungen assoziiert werden, die das erscheinende Bild konfigurieren, wenn es zum Beispiel um Vorstellungen davon geht, was ein musealer Raum ist. Sodann ist es aber auch die räumliche Umgebung der Bildträger, die meinen Blick und meine Erwartungshorizonte formiert, ebenso wie die Einbettung in performative Kontexte und Praktiken aller Art. Ich betrete die Galerie Alte Meister oder ich komme an einem bestimmten Punkt einer Ausstellung an, während sich durch das Erkunden einer chronologisch aufgebauten Sammlung ein bestimmter Erwartungshorizont ausgebreitet hat. Schließlich spielen andere Menschen eine Rolle, die gleichzeitig mit mir eine Bilderfahrung machen, die sich jedoch offensichtlich von meiner unterscheidet. Die Medialität des Bildes spielt in die Erfahrung hinein: Ereignet sich das Bild beim Betrachten des ursprünglichen Bildträgers oder zuhause vor einer Schwarzweiß- oder Farbfotografie in einem Bildband? Wenn wir uns im Zusammenhang mit Bildern all diese Dimensionen vergegenwärtigen, liegen wir nach William J. T. Mitchell ganz im Trend des pictorial turn, der, wie er 1992 schreibt, was auch immer er sei, jedenfalls »a postlinguistic, postsemiotic rediscovery of the picture as a complex interplay between visuality, apparatus, discourse, bodies, and figurality« sei.5
II. Der Atmosphärenbegriff als analytischer Ausgangspunkt Da hier phänomenale Wirklichkeiten betroffen sind, die in einer aktuellen Wahrnehmung gegeben sind und eine Bilderfahrung erzeugen, die eine Abhängigkeit von ›Atmosphären‹ assoziieren lässt, wird im Folgenden zunächst geprüft, ob ein aisthetischer Ansatz die verschiedenen Aspekte integrieren kann. Atmosphären werden nach Gernot Böhme gespürt, indem man affektiv von ihnen betroffen ist. Dagegen wird die Atmosphäre als ein 5 William J. T. Mitchell, The Pictorial Turn, in: Artforum International 30 (7/1992), 89-94, hier 91.
Bildreste, Bildereignisse und Existenzweisen des Bildlichen
Etwas, das vom Subjekt zu unterscheiden ist, erst in anderen Erfahrungen entdeckt.6 Und hier zeichnet sich ein gewisses Problem ab, denn, wie es scheint, sind Atmosphären etwas, das sehr subjektiv empfunden wird, das aber gleichzeitig vom Subjekt verschieden ist, das also zum Beispiel auch in Bezug auf antike Gesellschaften nachvollziehbar sein müsste, wenn es sich irgendwie materialisiert hat – immer natürlich unter dem Vorbehalt der nie restlos nachvollziehbaren first person experience eines anderen.7 Böhme schreibt dazu: Atmosphären haben also als gestimmte Räume etwas quasi Objektives. […] Die Melancholie mag atmosphärisch in der Luft liegen, aber wenn ich melancholisch bin, dann im Sinne meiner affektiven Betroffenheit durch Melancholie. Nenne ich letzteres meine Melancholie, dann ist sie eine subjektive Tatsache im Sinne von Hermann Schmitz, während die quasi objektive Melancholie, die atmosphärisch in der Luft liegt, etwas ist, das viele Menschen spüren können, und zwar sogar so, daß sie trotz der Subjektivität des Spürens sich über den Charakter dessen, was sie spüren, verständigen können.8 Würden Sie in Phnom Penh auch vom Hauch des Sakralen angeweht oder können Sie nachvollziehen, wie es mir ergangen ist? Böhme betont zunächst sehr hartnäckig, dass die Atmosphäre als Wahrnehmungsgegenstand nur in aktueller Wahrnehmung zu haben ist und dass man sich ihr aussetzen muss, um ihren Charakter bestimmen zu können.9 Diese These stellt Forschende, die sich der Erkundung der Gegebenheiten in vergangenen Gesellschaften verschreiben, vor ein erhebliches Problem. Wenn aktuelle Wahrnehmung die Bedingung der Erfahrung einer Atmosphäre ist, wie sollen dann zum Beispiel Archäolog*innen oder Kunsthistoriker*innen 6 Vgl. Böhme, Aisthetik, 46. 7 Dazu der Aufsatz von Thomas Nagel, What Is It Like to Be a Bat?, in: The Philosophical Review 83 (4/1974), 435-450. Søren Brier weist darauf hin, dass sämtliche Wissensformen nur durch eine intersubjektive Kommunikation zwischen verkörperten lebenden Systemen erzeugt werden können, deren endgültige Wahrheit nicht beweisbar ist, Søren Brier, Cybersemiotics: A New Foundation for a Transdisciplinary Theory of Consciousness, Cognition, Meaning and Communication, in: Liz Swan (Hg.), Origins of Mind (Biosemiotics 8), Dordrecht 2013, 97-126, hier 103. 8 Böhme, Aisthetik, 49. 9 Vgl. ebd., 50-52.
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jemals auch nur ansatzweise beschreiben können, welche Atmosphären sich in antiken Räumen oder vor bestimmten Bildern ausgebreitet haben mögen? Die kläglichen Reste eines Athenatempels inmitten von Touristenschwärmen abzulaufen, ist eben etwas anderes, als den Parthenon im ausgehenden 5. Jh. v. Chr. hoch über Athen und in vollem Glanz erblickt zu haben. Nun gelangt Böhme über den Umweg der ästhetischen Berufe, deren Aufgabe es ist, Atmosphären zu erzeugen – Beispiele sind Bühnenbildnerei, Kosmetik, Innenarchitektur, Design – zu der Erkenntnis, dass es auch eine objektive Seite der Atmosphäre geben muss, den von ihm sogenannten Gegenstandspol. Böhme präzisiert seinen Atmosphärenbegriff also wie folgt: Schien es zunächst so, daß Atmosphären nur von der Wahrnehmung her und sogar nur in aktueller Wahrnehmung zugänglich sind, so sehen wir jetzt, daß sie ebenfalls vom Gegenstandspol her über die Praxis ihrer Erzeugung, von ihren dinglichen Konstituentien her zugänglich sein werden. […] Atmosphären sind ja offenbar weder Zustände des Subjektes noch Eigenschaften des Objektes. Gleichwohl werden sie nur in aktueller Wahrnehmung eines Subjektes erfahren und sind durch die Subjektivität des Wahrnehmenden in ihrem Was-Sein, ihrem Charakter, mitkonstituiert. Und obgleich sie nicht Eigenschaften der Objekte sind, so werden sie doch offenbar durch die Eigenschaften der Objekte in deren Zusammenspiel erzeugt. Das heißt also, Atmosphären sind etwas zwischen Subjekt und Objekt. Sie sind nicht etwas Relationales, sondern die Relation selbst.10 Hieraus ergibt sich, dass auch kunsthistorisch oder archäologisch Blickende die genannten Schwierigkeiten teilweise überwinden können. Für die Beschreibung der Atmosphären, die sich vor oder in den von ihnen erforschten Objekten, den materiellen Resten vergangener Gesellschaften, ausgebreitet haben könnten, können sie auf eben diese Objekte als dingliche Konstituentien, als die Gegenstandspole dieser Atmosphären zurückgreifen. Gleichzeitig bleibt es dabei, dass die Atmosphäre als ein Dazwischen von Objekt und Subjekt (dem wahrnehmenden Menschen) in ihrer vergangenen Konkretheit für immer verloren ist.
10 Ebd., 54.
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III. Das Bild als Bildereignis und der Bildrest Das Problem der Verschlossenheit der subjektiven Erfahrungsdimension, das sich für Erforschende des Vergangenen in besonderer Weise stellt, betrifft nicht nur Atmosphären, sondern umso mehr die Bilderfahrung. Der Ausf lug in die Böhme’schen Atmosphären – den Umweg hatte ich eingeschlagen, weil ich unter anderem bestimmte Stimmungen im Zusammenhang mit subjektiven Bilderfahrungen geschildert hatte – hat die Fragestellungen noch einmal scharf umrissen, die sich aus unseren Museumsbesuchen ergeben haben, bezogen auf individuell verschiedene Bilderfahrungen. Wie deutlich geworden ist, hängt das Erscheinen eines bestimmten Bildes von sehr spezifischen Umständen ab, die auf eine kulturelle und eine gesellschaftliche Dimension verteilt werden können. Manche dieser Umstände wie etwa die kulturelle Verwobenheit der Rezipient*innen können sich über längere Zeit aufgebaut haben, manche entwickeln sich sehr kurzfristig wie zum Beispiel der durch einen Museumsrundgang aufgebaute protentive Erwartungshorizont. Für den/die gleiche/n Betrachter*in können zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Bilder erscheinen, oder das Bild kann im Moment der Wahrnehmung changieren. Um die damit einhergehende Ereignishaftigkeit der Bilderfahrung zu fassen, führe ich den Begriff des Bildereignisses ein. Aus meiner Sicht ist es ganz entscheidend, dass sich das Bild in der konkreten Rezeptionssituation des Gegenübers von materiellem Bildträger und Betrachter*in für diese*n ganz individuell ereignet, indem aufgrund der sinnlichen Wahrnehmung etwas aus dem unbegrenzten Raum des Visuellen – noch besser sollten wir allgemeiner sagen: Sinnlichen – selektiert, aufgrund von Kontrasten, Rahmungen oder ähnlichem als Bild aufgefasst und ein entsprechendes Perzept realisiert wird. Verstehen wir Bilder wie Atmosphären als ein Dazwischen von wahrnehmendem Menschen und Bildmedium,11 dem signifikant geformten materiellen Träger des Bildlichen, müssen wir Bilder als einerseits individuell verschiedene Erfahrungen ansehen und andererseits auch als wandelbar 11 So für das Filmbild: Lars C. Grabbe/Patrick Rupert-Kruse, Äquilibration und Synkretismus. Überlegungen zu einer interaktionistischen Theorie der Filmbildrezeption, in: Lars C. Grabbe/Patrick Rupert-Kruse/Norbert M. Schmitz (Hg.), Multimodale Bilder: Zur synkretistischen Struktur des Filmischen, Darmstadt 2013, 16-41, 25ff.
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für das gleiche Subjekt. Sie teilen meine Bilderfahrungen in der Hamburger Kunsthalle nur begrenzt, und für mich waren sie damals als Kind und heute als Archäologe ganz verschieden. Betrachten wir jetzt den Altar in der Kunsthalle oder die Buddhas in Phnom Penh, denen wir wahrscheinlich alle, ohne zu zögern, bildliche Züge zuschreiben, würde ich, wenn wir den Versuch unternehmen, darin oder damit antike Bilder zu sehen, nur – in Anlehnung an den Begriff des materiellen Restes einer Gesellschaft, einer Kultur, eines Bedeutungsgewebes, dem Untersuchungsgegenstand der Archäolog*innen – von Bildresten sprechen. Die Bilder, die wir sehen, sind ganz gegenwärtige, die sich jetzt in diesem Moment für uns ereignen. Der Begriff ›Bildrest‹ soll darauf verweisen, dass – wenn wir von antiken Bildern sprechen, also Bildereignissen, die sich für damalige Menschen vollzogen haben – nur von Bildresten sprechen können, weil der materielle Träger alles ist, was übrig ist. Die Erfahrungen aus unseren Museumsbesuchen weisen uns darauf hin, dass es noch erheblicher Anstrengungen bedarf, sich dem anzunähern, was ein anderer Mensch zu einer anderen Zeit für ein Bild gesehen hat, als er sich dem gleichen Bildmedium gegenüber eingefunden hat. Aber wir haben nach wie vor das Problem des methodischen und analytischen Zugriffs nicht gelöst, denn die Erkenntnis des Dazwischen des Bildes und auch der Atmosphäre verschärft ja das Problem eher, insbesondere für materialorientierte Wissenschaften, und wir hatten auch gesehen, dass das Bildereignis von einer langen Reihe von Faktoren beeinf lusst wird, die der Systematisierung harren – zumindest wenn wir darauf aus sind, über phänomenologische Beschreibungen hinauszukommen und zu einem nachvollziehbaren kulturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu gelangen. Es bleibt uns nichts übrig, als uns auf das materielle Bildmedium zu konzentrieren, das dasjenige ist, was uns von einer vergangenen Gesellschaft erhalten ist und ihre Kultur, ihr Bedeutungsgewebe, materialisiert und medialisiert. Eine solche Perspektive auf Bilder als Medien der Kommunikation lenkt den Blick auf kultursemiotische und kommunikationstheoretische Zugriffe, die nun in die bisherigen Überlegungen integriert werden sollen, um den Bildrest differenzierter analysieren und mögliche Bildereignisse konkreter beschreiben zu können.
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IV. Das Bild als multimodales Gefüge Für eine Integration semiotischer und aisthetischer Zugriffe bietet sich die Multimodalitätsforschung an, die in der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre deutlich an Fahrt aufgenommen hat.12 Multimodale Kommunikation, als welche die Kommunikation mit Bildern hier betrachtet wird, meint dabei die Kombination unterschiedlicher Modalitäten von Medien in kommunikativen Kontexten zum Zweck der effizienteren Informationsvermittlung und intersubjektiven Verständigung.13 Die Multimodalität eines Mediums kann sich aus der Kombination diverser Ausdrucksformen – zum Beispiel Gestik, Haptik, Sprache, Tanz, Musik – und Sinneskanäle – zum Beispiel Sehen und Riechen – ergeben. Im Grunde genommen ist kaum eine rein monomodale Kommunikationsform denkbar.14 Dies gilt auch für die Kommunikation mit bildlichen Medien. Zwar werden Bilder in der Klassischen Archäologie und in der Kunstgeschichte traditionell als Gegenstände behandelt, die mit dem Sehsinn wahrgenommen werden, und andere Sinne bei der Analyse und Interpretation außer Acht gelassen.15 Diese Ansätze werden schon durch Phänomene der multisensoriellen Inte12 Vgl. aber auch das Konzept der Phänosemiose, Lars C. Grabbe, Körper und Zeichen. Das Verstehen interaktiver Mediensysteme im Kontext phänosemiotischer Wahrnehmungsdynamik, in: Visual Past 3.1 (2016), 199-223. 13 Vgl. Klaus Sachs-Hombach et al., Medienwissenschaftliche Multimodalitätsforschung, in: MEDIENwissenschaft 16 (1/2018), 8-25, hier 8. 14 Vgl. Sachs-Hombach et al., Medienwissenschaf tliche Multimodalitätsforschung, 8. 15 Vgl. Jacobus Bracker, Ancient Images and Contemporary Sensoria, in: Lars C. Grabbe/ Patrick Rupert-Kruse/Norbert M. Schmitz (Hg.), Image Embodiment. New Perspectives of the Sensory Turn (Yearbook of Moving Image Studies 2), Darmstadt 2016a, 17-36, hier 18; Fredrik Fahlander/Anna Kjellström, Beyond Sight: Archaeologies of Sensory Perception, in: Fredrik Fahlander/Anna Kjellström (Hg.), Making Sense of Things: Archaeologies of Sensory Perception, Stockholm 2010, 1-14, hier 2f.; Simon Lacey/Rebecca Lawson, Introduction, in: Simon Lacey/Rebecca Lawson (Hg.), Multisensory Imagery, New York 2013, 1-8, hier 1f.; Jenny Lauwrens, Welcome to the Revolution: The Sensory Turn and Art History, in: Journal of Art Historiography 7 (2012) 1-17, hier 1. – Sogar in den Filmwissenschaften wurde die Bedeutung des Tons für die Bedeutungskonstitution oft vernachlässigt, vgl. Hannu Salmi, Composing the Past: Music and the Sense of History in Hollywood Spectacles of the 1950s and early 1960s, in: Screening the Past 5 (1998), URL: http://www.screeningthepast. com/2014/12/composing-the-past-music-and-the-sense-of-his-tory-in-hollywood-spectacles-of-the-1950s-and-early-1960s/[letzer Zugriff: 28.07.2020]. – Zu neuen Ansätzen im Kontext des sensory turn vgl. die Beiträge im Sammelband Jacobus Bracker/Stefanie
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gration wie etwa den McGurk-Effekt in Frage gestellt, der vorführt, wie eng beispielsweise Hören und Sehen in der Sprachwahrnehmung interagieren und die Bedeutungskonstitution beeinf lussen: Beobachtete Lippenbewegungen verändern das Gehörte, es wird gehört, was gesehen wird, auch wenn der ›falsche‹ Ton zu den Lippenbewegungen abgespielt wird.16 Andersherum kann das, was wir zu sehen meinen, durch andere Sinne beeinf lusst werden, so etwa, wenn wir in einem startenden Flugzeug sitzen und den Mittelgang schräg nach oben gerichtet sehen: eine Information, die wir aus dem Gleichgewichtssinn und dem Tastsinn beziehen, wenn wir in den Sitz gedrückt werden.17 Solche Beobachtungen der kognitiven Neurowissenschaften werden durch Erkenntnisse der Visual Culture Studies ergänzt. Nach Mitchell gibt es keine visuellen Medien, sondern – bezogen auf die sensorische Modalität – nur gemischte Medien. Alle sogenannten visuellen Medien wie Fernsehen, Film, Fotografie oder Malerei involvierten auch andere Sinne. Es böte sich demnach an, Medien genauer danach zu differenzieren, in welcher Weise sie die verschiedenen Sinne ansprechen.18 Die Kommunikation mit bildlichen Medien involviert regelmäßig mehrere Zeichenfunktionen – fast nie nur ikonische, sondern auch indexikalische und symbolische – und adressiert diverse Sinne: neben dem Sehen häufig den Tastsinn und die Propriozeption, aus deren Verwirrung zum Beispiel der Blick aus dem Bild sein Irritationspotential bezieht.19 Oder denken wir an den Museumsbesuch in Phnom Penh: Die unerwartete Entfaltung einer sakralen Atmosphäre vor den Buddhas stabilisiert sich durch den Duft der Räucherstäbchen in der Nase. Die medientheoretische MultimodalitätsJohns/Martina Seifert (Hg.), Bildsinne. Image Senses (Visual Past. A Journal for the Study of Past Visual Cultures 5), Hamburg 2018. 16 Vgl. Marc O. Ernst/Marieke Rohde, Multimodale Objektwahrnehmung, in: Hans-Otto Karnath/Peter Thier (Hg.), Kognitive Neurowissenschaften, Heidelberg 2012, 139-148, hier 140; Lars C. Grabbe, Homo immergens: Immersion als Bestimmungsgröße für eine Medien- und Kulturtheorie medialer Hybridität, in: Visual Past 2.1 (2015), 527-551, hier 537f. 17 Vgl. Alva Noë, Action in Perception (Representation and Mind series), Cambridge, Mass. 2004, 26. 18 Vgl. William J. T. Mitchell, There Are No Visual Media, in: Journal of Visual Culture 4 (2/2005) 257-266, hier 257 und 260. 19 Vgl. Jacobus Bracker, The Borders of Metalepses and the Borders of the Image, in: Lars C. Grabbe/Patrick Rupert-Kruse/Norbert M. Schmitz (Hg.), Bildverstehen. Spielarten und Ausprägungen der Verarbeitung multimodaler Bildmedien (Bewegtbilder 4), Darmstadt 2017, 93-109, hier 96f.
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forschung hat noch keine einheitliche Terminologie entwickelt, mit der die verschiedenen angesprochenen Aspekte systematisiert werden können. Insbesondere die Begriffe Modalität und Modus werden unterschiedlich verwendet. Lars Elleström beispielsweise unterscheidet drei präsemiotische Modalitäten des Mediums – die materielle, die raumzeitliche und die sensorische – und die semiotische Modalität, die sich jeweils in verschiedenen Modi entfalten, die sensorische etwa in den verschiedenen Sinnen oder die semiotische in den drei Peirce’schen Objektzeichenklassen.20 Bei anderen sind etwa verschiedene Zeichensysteme wie Text, Bild, Diagramm, gesprochene Sprache, Prosodie unterschiedliche Modalitäten. Im Folgenden soll ein unter anderem von Klaus Sachs-Hombach vorgebrachter Vorschlag auf die Beispiele der Museumsbesuche angewendet werden. Nach diesem Konzept werden die vielfältigen Phänomene der Multimodalität, die explizit als in Materialität und Medialität verankert angesehen werden – vielversprechend für Archäolog*innen, deren Untersuchungsgegenstand materielle Reste sind –, in vier grundlegenden Dimensionen beschrieben. Ziel ist nicht zuletzt, auch Kombinationen unterschiedlicher Dimensionen von Multimodalität innerhalb komplexer medialer Arrangements – hierzu können wir angesichts der zahlreichen aufgeworfenen Fragen auch unsere Museumsbeispiele zählen – untersuchen zu können. Bei diesen vier Dimensionen der Multimodalität handelt es sich um die perzeptuelle, die semiotische, die referenzielle und die partizipatorische Multimodalität.21 Die erste Dimension von Multimodalität, die perzeptuelle, betrifft die unterschiedlichen Sinne, die im Kommunikationsprozess angesprochen werden. Perzeptuelle Multimodalität liegt danach vor, wenn ein Reiz oder eine Reizkonstellation durch mindestens zwei Wahrnehmungsmodi verarbeitet wird.22 Die Gruppe der Buddhastatuen in Phnom Penh spricht ganz offensichtlich das Sehen an, ihre Dreidimensionalität erfahren wir aber erst, indem wir sie umlaufen oder sensomotorisches und propriozeptives Wissen einsetzen, die Räucherstäbchen als Bestandteil des medialen Arrangements affizie-
20 Vgl. Lars Elleström, The Modalities of Media: A Model for Understanding Intermedial Relations, in: Lars Elleström (Hg.), Media Borders, Multimodality and Intermediality, Basingstoke 2010, 11-48, hier 36; Lars Elleström, A Medium-centered Model of Communication, in: Semiotica 224 (2018), 269-293, hier 286. 21 Vgl. Sachs-Hombach et al., Medienwissenschaf tliche Multimodalitätsforschung, 10-12. 22 Vgl. ebd., 12.
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ren unseren Geruchssinn, wir hören andere Besucher*innen, die Klimaanlage usw. An dieser Stelle kann auch beschrieben werden, welche Sinne besonders dominant adressiert werden und welche weniger; bei bildlichen Medien ist es regelmäßig das Sehen, was unter anderem dazu führt, dass von – vermeintlich rein – visuellen Medien gesprochen wird. Das Phänomen der Synästhesie und multisensorielle Effekte, wenn etwa das Sehen das Hören oder der Gleichgewichtssinn das Sehen überspielt, können hier berücksichtigt werden. Bezogen auf die Buddhas in Phnom Penh lässt sich sagen, dass die sakrale Atmosphäre sich nicht nur einstellt, weil wir die Buddhas und die Räucherstäbchen sehen, sondern auch, weil wir olfaktorisch affiziert werden. Die säkularisierte Stimmung in der Hamburger Kunsthalle entsteht, weil die nüchterne Gestaltung der Ausstellungsräume unser Sehen auf die Bilder lenkt, diese durch die Zerteilung des ursprünglichen Altaraufsatzes in einer Fülle zu sehen gegeben werden, in der sie im früheren sakralen Kontext nicht erschienen sind. Die Beteiligung unserer anderen Sinne wird gezielt ausgeschlossen, wir können die Flügel des Retabels nicht anfassen oder umlaufen, wir riechen nichts Spezifisches. In der zweiten Dimension von Multimodalität, der semiotischen, werden die Zeichenprozesse untersucht, die von einem Medium angestoßen werden.23 Es liegt auf der Hand, dass sich hier enge Verknüpfungen mit der perzeptuellen Dimension ergeben, denn es geht ja nicht nur darum, die adressierten Sinneskanäle auf der einen und die Zeichenprozesse auf der anderen Seite zu untersuchen, sondern auch um die Frage, welche Semiosen über welche Sinne realisiert werden. Untersucht werden können verschieden gefasste Modi, wie zum Beispiel die Frage, welche Objektzeichenklassen in den Medien zum Einsatz kommen: Vermittelt ein Bild im konkreten Fall Bedeutung vorrangig ikonisch, also über Ähnlichkeitsrelationen, oder symbolisch, also aufgrund von Konvention? Wozu weist der Buddha eine Ähnlichkeitsrelation auf: zu einer männlichen anthropomorphen Figur, zu einem mentalen Bild, das sich aus kanonischen Beschreibungen in der buddhistischen Literatur ergibt? Und welche symbolischen Bedeutungen sind an seine Darstellung geknüpft, insbesondere seine Handhaltungen, die Mudras? Ferner können die eingesetzten Zeichensysteme wie Text und Bild beschrieben werden, aber auch verschiedene Ebenen von Codes, im Falle von Bildern also Wahrnehmungscodes, ikonografische und ikonologische Codes, narrative Codes und andere.24 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, Paderborn 2002, 244ff.
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Während mentale Präfigurationen wie individuelle Vorerfahrungen und Vorwissen aus archäologischer Perspektive regelmäßig nicht in der Analyse berücksichtigt werden, weil antike Betrachter*innen nicht mehr befragt werden können, so ist es doch in gewissen Grenzen möglich, die Verwobenheit bestimmter Gruppen von Rezipient*innen in bestimmte Bedeutungsnetze abstrahierend zu beschreiben. Es geht dabei darum zu ermitteln, welche Codes und damit Verstehensmöglichkeiten in diesen Gruppen allgemein verfügbar waren, also um einen kultursemiotischen Zugriff. Nach dem semiotischen Kulturbegriff von Clifford Geertz sind Kulturen die selbstgesponnenen Bedeutungsnetze, die Menschen umgeben.25 Zwar ist letztlich jeder einzelne Mensch mit einem individuellen Bedeutungsnetz verknüpft, das seine spezifische Identität zu einem bestimmten Zeitpunkt ausmacht.26 Zu meiner eigenen Bedeutungsverwobenheit gehört es zum Beispiel, als Archäologe ausgebildet und an säkularisierte museale Räume gewöhnt zu sein; beides hat sich, wie gesehen, auf meine Bilderfahrung vor den Buddhastatuen in Phnom Penh ausgewirkt. Die Beschreibung eines bestimmten, als stabil verstandenen Bedeutungsnetzes, das maßgeblich für die Identität einer bestimmten Gruppe sein soll, bringt demgegenüber also immer Verallgemeinerungen und Komplexitätsverluste mit sich. Außerdem liegt es nahe, Kulturen nicht als fest abgegrenzte Einheiten aufzufassen. Gruppen als Träger von Bedeutungsnetzen stehen regelmäßig in kommunikativen Beziehungen mit anderen Gruppen, sodass zwischen ihnen ständig Bedeutungen übersetzt, transferiert, adaptiert oder modifiziert werden.27 Gerade an den kommunikativen Berührungspunkten entstehen neue maßgebliche Bedeutungen, sodass die Grenzen immer verschwommen und beweglich bleiben.28 Grundsätzlich sind Kulturen in Abhängigkeit von sozialen Praktiken dynamische Gebilde.29 25 Vgl. Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, 5. 26 Vgl. Jacobus Bracker, Einleitung: Homo pictor meets homo narrans, in: Visual Past 3.1 (2016b), 1-12, hier 4. 27 Die unendliche Semiose (Eco, Einführung, 77) ist hier ein zum Verständnis hilfreiches Modell. 28 Diese Berührungen sind ihrerseits häufiger Gegenstand von Geschichten, z.B. im Fall der griechischen Mythen, vgl. Dominik Kloss, Mit Mauern leben – mithilfe von Mauern erzählen. Vom assoziativen Potential antiker Stadtbefestigungen und seiner Bedeutung für die Ausprägung und Nachwirkung frühgriechischer Dichtung und Bildsprache, in: Visual Past 3.1 (2016), 339-365, hier 340f. 29 Vgl. Marita Sturken/Lisa Cartwright, Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture, New York 2001, 4; Sigrid Schade/Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein
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Kombiniert man sodann die Untersuchung der perzeptuellen und der semiotischen Multimodalität, kommt man schon recht weit bei der Untersuchung der Frage, wie sich etwa eine sakrale oder säkulare Atmosphäre einstellen kann, wie es passieren kann, dass ein Raum als gestimmt erscheint, dass uns eine Atmosphäre anweht. Aufgrund von uns zur Verfügung stehenden ikonografischen Codes können wir die Statuen als Buddhastatuen identifizieren. Der Umstand, dass Männer vor ihnen hocken, wobei sie sich die Schuhe ausgezogen haben und vermeiden, dass ihre Füße auf die Buddhas zeigen, signalisiert uns, dass die Statuen hier in eine religiöse Praktik eingebunden und nicht einfach nur als Kunstobjekte ausgestellt sind. All dies sehen wir, wobei sowohl ikonische als symbolische Objektreferenzen eine Rolle spielen.30 Wir riechen Räucherstäbchen, die uns über unseren Geruchssinn anzeigen, dass eine religiöse Praktik vollzogen wird. Passiert gleiches in einem Tempel, hören wir vielleicht dazu noch die Gesänge der Mönche usw. Die dritte Dimension der Multimodalität ist die referenzielle. Damit ist gemeint, dass ein Werk verschiedene Modi des Weltbezugs enthalten kann. Traditionell ist beispielsweise die Unterscheidung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Darstellungsformen.31 Im Fall der Buddhas und des Retabels in der Kunsthalle ergibt sich die referenzielle Multimodalität aus dem hier stärkeren, dort schwächeren Changieren, der Ko-Präsenz als Kunstobjekte oder materielle Reste vergangener Gesellschaften infolge musealer Ausstellung und ihren religiös-sakralen Bezugnahmen. Schließlich zur vierten Dimension von Multimodalität, der partizipatorischen. Hier geht es um das […] soziohistorische, politische, technologische und ästhetisch unterschiedliche Werden multimodaler Ensembles, in denen und durch die das Partizipatorische gleichermaßen ermöglicht wie auch verunmöglicht wird. […] Als eine Art ›grammar of existence‹ […] ermöglicht das Konzept partizipatorischer Multimodalität den Zugriff auf relationale Existenzweisen medialer transdisziplinäres Forschungsfeld (Studien zur visuellen Kultur, 8), Bielefeld 2011, 9, verwenden den Begriff des »kulturellen Komplexes« anstatt von Kultur, um der Unschärfe Rechnung zu tragen. 30 Zur semiotischen Analyse von Atmosphären vgl. Martin Siefkes, Sturm auf die Zeichen. Was die Semiotik von ihren Kritikern lernen kann, in: Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik 1 (2015), 7-42, hier 12ff. 31 Vgl. Sachs-Hombach et al., Medienwissenschaf tliche Multimodalitätsforschung, 17.
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Konfigurationen, die anhand konkreter, situierter Gebräuche bestimmt und analysiert werden können.32 Es geht also darum, in welcher Weise Objekte und Menschen als Akteure zusammenwirken, sich als mediales Ensemble versammeln und in unserem Fall Bildereignisse erzeugen, damit aber auch gleichzeitig ihre Existenzweise transformieren. Auch dies kann anhand des Beispiels aus dem kambodschanischen Nationalmuseum gut veranschaulicht werden. Die Museumsbesuche haben deutlich gemacht, dass die Erfahrung eines Bildes und die Bedeutungszuschreibung, das konkrete Bildereignis, nicht nur von dem Bedeutungsgefüge abhängen, mit dem Betrachter*innen mental präfiguriert sind, sondern ebenso von verschiedenen räumlichen Gegebenheiten, der An- oder Abwesenheit anderer materieller Dinge oder Menschen. Die Erfahrung des zwischen Musealität und Sakralität changierenden Bildes war hier nur aufgrund einer ganz spezifischen Konstellation möglich. Die einzelnen Elemente hatte ich schon beschrieben. Wären die Opfergaben und die hockenden Männer nicht gewesen, hätte sich in der Relation zwischen mir, den Bildträgern und der Institution Nationalmuseum wahrscheinlich nur ein archäologisches Bild ereignet. Dass sich aber ein sakrales Bild – auch – ereignete oder es zu einem Changieren kam, war nur in der Versammlung der Bildträger, des Museums, meiner Person, der hockenden Männer und der Opfergaben möglich. Gleichzeitig dürfte es zu einer Transformation anderer potentieller Existenzweisen gekommen sein, denn auch wenn die zusätzlichen Akteure jetzt wieder fortfallen, wird in der Relation zwischen diesen Statuen und mir jetzt immer ein anderes Bild mitschwingen, als das vorher der Fall war. Nicht zuletzt hat mich diese Situation veranlasst, sie in die Digitalität meines Smartphones zu bannen, um mir die Existenz dieses ephemeren Bildes einer bildtheoretisch reizvollen Versammlung für spätere Untersuchungen zu sichern. Mit diesen vier Dimensionen wird auch etwas beschrieben, was ich als Biosphäre des Bildlichen bezeichne, als Lebensraum, in dem sich Bilder auf die eine oder andere Weise ereignen können. Ich knüpfe dabei an Mitchells Metapher von den lebenden und begehrenden Bildern33 an und verwende sie auch wei32 Sachs-Hombach et al., Medienwissenschaf tliche Multimodalitätsforschung, 18f. 33 Vgl. William J. T. Mitchell, What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005.
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ter als Metapher, als ein produktives Bild des Bildlichen. Mitchell wählt diese Perspektive, weil wir in unserem Alltag – für wie rational und aufgeklärt wir uns auch halten mögen – zahllose Verhaltensweisen an den Tag legen, die Bildern ein Eigenleben, eine inhärente Wirkmacht zusprechen, die sich ohne unser Zutun entfaltet.34 Wie ist es diesen Buddhas nur gelungen, dass sie mir trotz besten Vorsatzes als archäologische Objekte vollständig entglitten sind? Ich habe sogar vergessen, die Beschriftungstafeln zu fotografieren. Die Erklärung liegt darin, dass das Netzwerk, das die Übertragung archäologischer und musealer Bilder ermöglichte, durch die überraschende Begegnung mit der religiösen Praktik unterbrochen war.35 Wir wissen, dass die Bilder nicht leben, aber wir verhalten uns so, als wenn wir es doch glaubten. Die konkrete Ausprägung dieses Doppelbewusstseins in unterschiedlichen Gesellschaften ist für Mitchell ein vielversprechender kulturwissenschaftlicher Ansatz. Er hilft darüber hinaus gleichzeitig, die Bildumwelten vom Bildträger aus und Bildmedien als Akteure in Netzwerken im Sinne Bruno Latours zu betrachten. Welche Bedingungen ermöglichen das Erscheinen – den Fluss – welcher Bilder? In welchen Umwelten können bestimmte Bilder nicht existieren oder ihre Wirkmacht entfalten? Ist die Tradition des säkularisierten Galeriebildes eine letale Zone für sakrale Bilder? Diese Fragen können, wie gezeigt, systematisch untersucht werden. Zunächst sind die Bildmedien im Rahmen eines Kommunikationsmodells – ich verwende das medienzentrierte von Elleström, ergänzt um ein Modell kommunikativer Ebenen36 – in ihren Modalitäten und Modi zu untersuchen. Sodann sind ihre Produktions- und Rezeptionsumwelten, die dritte und vierte Ebene bei Sachs-Hombach et al., dicht zu beschreiben, um die Voraussetzungen ihrer Existenz zu klären.
34 Vgl. Mitchell, What Do Pictures Want?, 2. 35 Vgl. Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, 70. 36 Näher Jacobus Bracker, Mehrdeutigkeiten in der Kommunikation mit bildlichen Medien, in: Elisabeth Günther/Johanna Fabricius (Hg.), Mehrdeutigkeiten. Rahmentheorien und Affordanzkonzepte in der archäologischen Bildwissenschaft (Philippika 147), Wiesbaden 2021, 163-183.
Bildreste, Bildereignisse und Existenzweisen des Bildlichen
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Helen Beckmann, 22.11.2018. Abb. 2: Foto des Autors.
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Sehen vergleichen Empirisch-experimentelles Forschen mit widerspenstigen Bildern Hanna Brinkmann Abstract: Das komplexe Zusammenspiel von Bild und Blick ist voraussetzungsreich und von Seherwartungen mitbestimmt, die auf Seherfahrungen gründen. Beide können durch die Kenntnis bestimmter Darstellungskonventionen sowie eine Vertrautheit mit spezifischen Bildpraktiken bewusst oder unbewusst erlernt und aufgebaut worden sein. Dieser Beitrag vergleicht am Beispiel von Japan und Österreich das Sehen bei der Kunstbetrachtung, sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene. Hierzu werden theoretische Annahmen zu Sehkonventionen in Verbindung mit erhobenen Eye-Tracking- und Fragebogen-Daten analysiert. Die Brücke zwischen den Kunstwerken, die häufig aus vergangenen Epochen stammen, den Texten, die sich darauf beziehen, und den heute lebenden Betrachtenden, die diese Werke ansehen, stellt die Idee des ›Nachlebens‹ von bestimmten Darstellungskonventionen und -traditionen dar. Dies zeigt sich in unterschiedlichen Medien etwa in der Populärkultur, wodurch sich eine Verortung des Themas im ›Feld der Studien zur visuellen Kultur‹ ergibt.
I. Einleitung Vergleichen ist eine essenzielle Praxis in der Kunstwissenschaft. Das Vergleichende Sehen hat sich als spezifische Methode der Kunstgeschichte etabliert und dient der Kontrastierung, der Differenzierung und der Detailbeobachtung.1 Durch komparative Ansätze sollen sowohl grobe als auch feine Unter1 Vgl. Matthias Bruhn, Gegenüberstellungen. Funktionswandel des Vergleichenden Sehens, in: Matthias Bruhn/Gerhard Scholtz (Hg.), Der vergleichende Blick. Formanalyse in Natur- und Kunstwissenschaften, Berlin 2017, 11-40.
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schiede zwischen Werken, Epochen und Stilen sprachlich herausgearbeitet und fassbar gemacht werden. Die Ergebnisse eines solchen Unterfangens hängen nicht nur ganz wesentlich von den Vergleichsbeispielen, sondern auch von den Betrachtenden und Beschreibenden ab. Das komplexe Zusammenspiel von Bild und Blick ist voraussetzungsreich und von Seherwartungen mitbestimmt, die auf Seherfahrungen gründen. Beide können durch die Kenntnis bestimmter Darstellungskonventionen und Bildinhalte sowie eine Vertrautheit mit spezifischen Bildpraktiken bewusst oder unbewusst erlernt und aufgebaut worden sein. Zu einem Irritationsmoment durch unbekannte visio-kulturelle Elemente kommt es bei Betrachtenden dann, wenn mit ihren Seherfahrungen und Seherwartungen gebrochen wird. Lässt sich ein Kunstwerk nicht oder nicht unmittelbar in dieses Bezugssystem einordnen, findet eine Differenzerfahrung statt.2 Die Kategorien ›vertraut‹ und ›unbekannt‹, häufig auch als das ›Eigene‹ und das ›Fremde‹ bezeichnet, funktionieren nur in ihrer Gegenüberstellung3 und sind eng verwoben mit Stereotypen, Projektionen und Konstruktionen.4 Diese Kategorisierung ist zudem dynamisch; Fremdes kann vertraut und zum Eigenen werden, die Grenzen können sich verschieben und adaptiert werden. Ob es zu einem Irritationsmoment bei der Kunstbetrachtung kommt, hängt also stark damit zusammen, inwieweit sich das, was vor dem Blick auf das Bild stattgefunden hat, etwa die Sedimentierung impliziten Wissens, auf die Kunstbetrachtung auswirkt. Ein empirischer Nachweis einer Auswirkung von visuellen Konventionen auf Sehgewohnheiten erfordert eine Differenzerfahrung, zum Beispiel durch die Betrachtung eines Werkes, welches die herkömmlichen Seherwartungen 2 Vgl. Uta Schaffers, Konstruktionen der Fremde – Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan (Spectrum Literaturwissenschaft, 8), Berlin 2006, 21-27. 3 Vgl. Bettina Lockemann, Das Fremde Sehen. Der europäische Blick auf Japan in der künstlerischen Dokumentarfotografie, Bielefeld 2008, 20-24; Schaffers, Konstruktionen der Fremde, 21-27; Sylke Bartmann/Oliver Immel, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Vertraute und das Fremde. Dif ferenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs, Bielefeld 2012, 7-18. Siehe auch Mariko Takagi, Formen der visuellen Begegnung zwischen Japan und dem Westen. Vom klassischen Japonismus zur zeitgenössischen Typographie, Braunschweig Diss. 2012, 23-27. 4 In den angloamerikanischen Cultural Studies wird für die Konstruktion des ›Anderen‹ auch der Begriff ›othering‹ verwendet. Damit ist ein einseitiger Prozess gemeint, bei dem die aktive bezeichnende Seite die passive Seite als das ›Andere‹ definiert, wobei die Macht bei der bezeichnenden Seite liegt. Vgl. hierzu Lockemann, Das Fremde Sehen, 42-44. Gerade die Wissenschaft und die bildende Kunst haben maßgeblich zu einer Konstruktion des ›Anderen‹ beigetragen, vgl. z.B. Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt a.M. 2017.
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nicht erfüllt. Erst dadurch lässt sich das ›Vertraute‹ fassen und durch das ›Unbekannte‹ näher bestimmen. Hierbei werden ein Bildgedächtnis und die Vertrautheit mit bestimmten Bildpraktiken, die kollektiv geteilt werden und somit kulturell variieren können, wie etwa Darstellungskonventionen, virulent. Solche Differenzerfahrungen wurden und werden in der westlichen Kunstgeschichte häufig als Argument zur Differenzierung von westlicher und nicht-westlicher Kunst verwendet, wobei dem Sehen eine bedeutende Rolle zukommt. Dieser Beitrag soll das Sehen bei der Kunstbetrachtung vergleichen, sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene am Beispiel von Japan und Österreich. Hierzu werden theoretische Annahmen zu Sehkonventionen aus der Literatur den Ergebnissen einer explorativen empirischen Studie mit Eye-Tracking-Daten und Antworten einer Befragung gegenübergestellt.5 Die Brücke zwischen (1.) den Kunstwerken, die häufig aus vergangenen Epochen stammen, (2.) den Texten, die sich darauf beziehen, und (3.) den heute lebenden Betrachtenden, die diese Werke ansehen, stellt aus kunst- und bildwissenschatlicher Sicht die Idee des »Nachlebens« von bestimmten Darstellungskonventionen und -traditionen im Sinne Warburgs dar.6 Nach einer kurzen Verortung des Themas sowohl im kunstwissenschaftlichen Diskurs als auch hinsichtlich des Kulturbegriffs folgt ein Abschnitt zur Nachwirkung und zum Nachleben, der an Beispielen zeigt, dass und inwieweit gewisse Darstellungskonventionen und -traditionen, die mit einem spezifischen Blickverhalten verknüpft werden, in einer globalisierten und internationalisierten Welt heute noch wirksam sind; wie sie tradiert oder wiederholt werden und wie sie von konventionellen Mustern abweichen. Der Abschnitt Empirisch-experimentelles Forschen mit widerspenstigen Bildern geht auf die Fragen ein, inwiefern solch ein Nachleben von Darstellungskonven5 Die folgenden Überlegungen und Ergebnisse basieren auf meiner Dissertation »The Cultural Eye.« Eine empirische Studie zu kulturellen Varianzen in der Kunstwahrnehmung, Wien Diss. 2017, aus der Textteile übernommen wurden. Die Dissertation wurde im Rahmen des DOCteams »Bildpraktiken. Transdisziplinäre Studien zu Materialität und Habitualität visueller Konventionen« von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gefördert. Der Auslandsaufenthalt in Japan 2014 wurde vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, FWF (P25821) finanziert. 6 Vgl. Bernd Villhauer, Aby Warburgs Theorie der Kultur. Detail und Sinnhorizont, Berlin 2002 sowie Aby Moritz Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000 und Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010.
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tionen heutige Betrachtende überhaupt noch tangiert und ob es sich auf das Sehen auswirkt. Sehen wird im vorliegenden Text als Praxis verstanden und bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen bewusster Tätigkeit und habitualisierter Handlung.7 Der Blick wurde hierfür mit einem Eye-Tracker erfasst sowie in einer umfangreichen Nachbefragung von den Betrachtenden ref lektiert.8 Die Bilder, die dabei betrachtet wurden, sind auch im Hinblick auf einen Kulturtransfer zu analysieren, den es zwischen Österreich und Japan gerade im Bereich der bildenden Kunst bereits seit langem gibt und eine dichotome Unterscheidung in ›ostasiatische‹ und ›westliche‹ (europäische und nordamerikanische) Kulturen zusehends obsolet werden lässt. Somit entziehen sich die Werke in einigen Fällen selbst oft einer klaren Zuordnung. Dies ist Teil des Forschens mit ›echten‹ Kunstwerken (im Gegensatz zu EyeTracking-Studien aus der Psychologie, in denen oft künstlich hergestellte, streng kontrollierbare, klar voneinander abzugrenzende ›Stimuli‹ eingesetzt werden), da die Vermischung und Widersprüchlichkeit ein essenzieller Teil vieler Kunstwerke ist und im Titel mit ›widerspenstig‹ anklingt.
7 Vgl. Eva Schürmann, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M. 2008; Dies., Sehen als performative Praxis, in: Christiane Schürkmann/Nina Tessa Zahner (Hg.), Wahrnehmen als soziale Praxis. Künste und Sinne im Zusammenspiel, Wiesbaden 2021, 31-41; Sophia Prinz, Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014. 8 Erhoben wurden neben soziodemografischen Daten Fragen zum Interesse und der Bekanntheit der zehn gezeigten Bilder. So wurde z.B. erfragt, ob visuell neue Inhalte oder Elemente in dem Kunstwerk ausgemacht werden konnten. Außerdem wurde nach der vermuteten Aussage des Bildes gefragt und ob es Gefühlsregungen ausgelöst hat. Bei den beiden obligatorischen offenen Fragen ging es darum, das gesehene Bild in Stichworten zu beschreiben und die eigenen Gedanken, die bei der Kunstbetrachtung aufgekommen sind, zu notieren. Dieser Fragebogen zu den Einzelbildern wurde von einem professionellen Übersetzer ins Japanische übersetzt und von einer japanischen Kunsthistorikerin mit guten Deutschkenntnissen dann wieder rückübersetzt, bevor mit der eigentlichen Datenerhebung begonnen wurde.
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II. Verortung des Themas Kunsthistorische Vergleiche stellen häufig zwei Werke diametral gegenüber, was sich besonders eindrücklich in den Diaprojektionen manifestierte, die das Fach Kunstgeschichte über hundert Jahre lang bestimmten.9 Diese Bipolarität spiegelt sich aber auch in der Versprachlichung wider: So findet sich die Verwendung bipolarer Adjektive auf einer ganz basalen Ebene, etwa wenn es um die Wirkung von Linien und Farben als Grundelementen der Malerei geht (z.B. warm-kalt), angefangen bei Goethes Farbenlehre10 über Wassily Kandinskys theoretische Schriften,11 in den Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen Wölff lins12 bis hin zu Kategorien in Messinstrumenten wie zum Beispiel dem Semantischen Differenzial, das unter anderem auch zur empirischen Erfassung von Kunstwahrnehmung verwendet wird.13 Gerade Wölff lins fünf Grundbegriffspaare sind untrennbar mit der Methode des vergleichenden Sehens verbunden, welche laut Heinrich Dilly »ohne die Diaprojektion nicht denkbar wäre«.14 Dass sich bei Wölff lin kein Begriffspaar für Farbwerte wiederfindet, belegt für Dilly den maßgeblichen Einf luss der Zurichtung der Bilder als damals reine Schwarz-Weiß-Fotografien auf seine Kategorien.15 Der Mediziner und Kunsthistoriker Curt Glaser, der 1907 bei Wölff lin promoviert wurde, kritisierte dessen Modell, da es sich nicht auf ostasiatische Kunst übertragen lasse: Aber selbst die unbedenkliche Anwendung der uns geläufigen ästhetischen Grundbegriffe auf das neue, fremde Material muß bedenklich erscheinen. Diese Begriffe sind auf empirischem Wege gewonnen, aus der Analyse west9 Vgl. Lena Bader, Bricolage mit Bildern. Motive und Motivationen vergleichenden Sehens, in: dies./Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, München 2010, 16-42. 10 Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre, Tübingen 1810. 11 Z. B. Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche: ein Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, Bern-Bümpliz 1973. 12 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegrif fe: das Problem der Stilentwickelung in der neueren Kunst, München 1915 [1979]. 13 Vgl. Hanna Brinkmann et al., Ferocious Colors and Peaceful Lines: Describing and Measuring Aesthetic Effects, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 65 (2018), 7-26. 14 Heinrich Dilly, Die Bildwerfer. 121 Jahre kunstwissenschaftliche Dia-Projektion, in: Zwischen Markt und Museum (Rundbrief Fotografie, Sonderheft 2), Göppingen 1995, 39-44, hier 41. 15 Dilly, Die Bildwerfer, 41.
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lichen Kunstschaffens. […] Es kann nicht die Aufgabe sein, östliche Formen in das an westlicher Kunst erprobte Begriffssystem zu zwingen.16 Wölff lin formulierte jedoch im Vorwort zur sechsten Auf lage 1922 das Gegenteil und ging von einer universalistischen Sicht auf die Kunst(-geschichte) aus, indem er die gewinnbringende Anwendung seiner Grundbegriffe speziell für japanische Kunst betonte.17 Hier klingt bereits an, was in den Kulturwissenschaften heftig diskutiert wird und ebenfalls auf zwei polarisierenden Gegensätzen beruht: der »Über- und Unterbetonung des kulturellen Faktors«18 sowie der »essentialisierenden Extrempositionen des Universalismus und Partikularismus«.19 Gleichzeitig können die in diesem Punkt konträren Auffassungen Wölff lins und Glasers aber auch darauf hinweisen, dass in Ostasien, im Gegensatz zu Europa, kunsthistorisch stets mehrere Stile in einem pluralistischen Nebeneinander bestehen konnten und eine Geschichtsschreibung von linear aufeinanderfolgenden Stilen nicht so stark forciert wurde. Wölff lin vertritt eine entwicklungsgeschichtlich angelegte europäische Kunstgeschichte20 mit universalistischem Anspruch, die Glaser in seiner Arbeit hinterfragt, indem er eine durch Koexistenz geprägte ostasiatische
16 Curt Glaser, Aufgaben und Methode europäischer Forschung im Bereich östlicher Kunst, in: Der Cicerone. Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers und Sammlers 15 (6/1923), 246-247, hier 246. Dieser Aufsatz wurde auch im Jahrbuch der asiatischen Kunst von 1924 veröffentlicht. 17 Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 6; vgl. Ulrich Pfisterer, 1915: Kunstgeschichten und Grundbegriffe, in: Matteo Burioni/Burcu Dogramaci/Ulrich Pfisterer (Hg.), Kunstgeschichten 1915: 100 Jahre Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegrif fe, Passau 2015, 1-13 und Tanehisa Otabe, Drei Stufen der Globalisierung im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Europa und Japan. Ein Beitrag zur interkulturellen Ästhetik, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Helmut Schneider (Hg.), Zwischen den Kulturen. Im Gedenken an Heinz Paetzold, Kassel 2012, 30-43, hier 40. 18 Hakan Gürses, Der Name des Zeigefingers. Zur kritischen Rolle der Kulturalität als eine Differenz, in: Ursula Hemetek et al. (Hg.), Transkulturelle Erkundungen. Wissenschaftlichkünstlerische Perspektiven, Wien 2019, 31-46, hier 32. 19 Gürses, Der Name des Zeigefingers, 32. 20 Für einen Überblick vgl. hierzu: Raphael Rosenberg, Vom technischen Fortschritt zur Geschichte des Sehens: Entwicklung als Paradigma der Kunsthistoriografie, in: Pierre Monnet/Thomas Maissen/Barbara Mittler (Hg.), Les usages de la temporalité dans les sciences sociales/Vom Umgang mit Temporalität in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Bochum 2019, 175-196.
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Kunstgeschichte beschreibt21 und vorschlägt, beide Ansätze zu verbinden. Auf diese Weise könnten auch in ostasiatischer Kunst Stile sichtbar und in der europäischen die ›Ismen‹ pluralistischer und nicht als eine zeitliche Abfolge dargestellt werden.22 Glasers Vorschlag wurde ins Japanische übersetzt und in Japan rezipiert, was sich etwa in Tetsurō Watsujis Über den Stil der östlichen Kunst niederschlug.23 Glaser, der 1911 ein Jahr in Japan verbracht hatte,24 legte sein Buch Die Kunst Ostasiens25 kulturwissenschaftlich an und beschrieb die japanische Kunst im Vergleich zur westlichen und, was für diesen Beitrag entscheidend ist, auch in Bezug auf Sehgewohnheiten. Eine Analyse solcher theoretischen Aussagen zu bestimmten Sehgewohnheiten, die sich gerade in der Kunstgeschichte häufig finden lassen und zumeist auf subjektiven Erfahrungen basieren, zeigt ebenfalls die Argumentation in Dichotomien, welche in Diskursen um den Blick auf die Kunst immer wieder auftauchen. Dabei wird mit Vergleichen gearbeitet – sowohl auf der Ebene der Bilder als auch auf der Ebene des Blickes – und in Wölff lin’scher Tradition mit Gegensatzpaaren und dem Sehen argumentiert. Neben einem ›meditativen Sehen‹ in Ostasien und einem ›kognitiven Sehen‹ in Europa26 lassen sich Diskurse um einen ›peripatetischen‹ und einen ›konzentrierten‹ Blick in der Literatur ausmachen.27 Aber auch von einer ›Ästhetik des Weglassens‹ in Ostasien und einem ›Horror Vacui‹ im Westen sowie von der Schreib- und Leserichtung können Implikationen für die Kunstbetrachtung abgeleitet werden. Da Kunsthistoriker wie Wölff lin vergangene Stilepochen vergleichen, stellt sich dieser »ersten Generation von Wahrnehmungshistorikern«, wie To21 Curt Glaser, Die Kunst Ostasiens. Der Umkreis ihres Denkens und Gestaltens, Leipzig 1920, 35f. Siehe auch Otabe, Drei Stufen der Globalisierung, 40. 22 Vgl. Otabe, Drei Stufen der Globalisierung, 41. 23 Tetsurō Watsujis, Über den Stil der östlichen Kunst, 1927, zitiert in: Otabe, Drei Stufen der Globalisierung, 42. 24 Andreas Strobl, Curt Glaser. Kunsthistoriker – Kunstkritiker – Sammler. Eine deutsch-jüdische Biographie, Köln 2006, 71. 25 Glaser, Die Kunst Ostasiens, passim. 26 Vgl. Hanna Brinkmann, Auf den Spuren von Seh-Modi bei der Kunstbetrachtung, in: Christiane Schürkmann/Nina Tessa Zahner (Hg.), Wahrnehmen als soziale Praxis. Künste und Sinne im Zusammenspiel, Wiesbaden 2021, 303-331. 27 Vgl. Hanna Brinkmann, Kulturelle Varianzen bei der Kunstbetrachtung. Überlegungen zur empirischen Erforschung von Sehgewohnheiten, in: 21: Inquiries into Art, History, and the Visual. Beiträge zur Kunstgeschichte und visuellen Kultur 2 (1/2021), 159-194.
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bias Teutenberg schreibt,28 das Problem der zeitlichen Distanz, denn: »Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser ›optischen Schichten‹ muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden«.29 Michael Baxandall führte diese Tradition mit seinem Konzept des »Period Eye« weiter, indem er den Vergleich zweier vergangener Stilepochen durch eine praxeologische Rahmung30 und einen Fokus über die Kunst hinaus zur visuellen Kultur erweiterte, um zu einer breiteren Wahrnehmungsgeschichte zu kommen.31 Dadurch ist seine Herangehensweise auch anschlussfähig für einen empirischen Zugang zur Kunstbetrachtung in der Gegenwart, wobei im Sinne eines »Cultural Eye« nicht mit vergangenen, sondern mit gegenwärtigen visuellen Kulturen gearbeitet werden kann.32 Genau dies war die Ursprungsidee der bereits genannten empirischen Studie, die 2014 durchgeführt wurde und auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird. Das Konzept des »Cultural Eye« geht davon aus, dass bestimmte Darstellungskonventionen, die kulturell variieren können, teilweise bis heute nachwirken, etwa in der Populärkultur. Dadurch ist zum einen eine historische Anbindung, aber auch eine Verortung des Themas im »Feld der Studien zur visuellen Kultur«33 gegeben. Doris BachmannMedick sieht einen notwendigen Fokus in diesem Feld auf Prozessen der visuellen Wahrnehmung.34 Mit Referenz auf Hans Belting fährt sie fort: »In this connection we can even talk of a visual turn that is shifting the focus from the image to performance and that is shedding light on perceptual practices such
28 Tobias Teutenberg, Die Unterweisung des Blicks: Visuelle Erziehung und visuelle Kultur im langen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2019, 22. 29 Wölfflin, Grundbegriffe, 24. 30 Der wechselseitige Einfluss von Pierre Bourdieu und Michael Baxandall ist bereits mehrfach beschrieben worden. 31 Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1972. 32 Siehe hierzu ausführlicher: Brinkmann, Kulturelle Varianzen bei der Kunstbetrachtung, passim. 33 Sigrid Schade/Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011. Siehe auch: Sophia Prinz/Andreas Reckwitz, Visual Studies, in: Stephan Moebius (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies, Bielefeld 2014, 176-195. 34 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. New Orientations in the Study of Culture, Berlin/ Boston 2016, 257.
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as seeing, observing and forms of the gaze as social and cultural processes.«35 Beltings Text, auf den sie sich bezieht, handelt von der Iconology of the Gaze und er beschreibt diese als Widerspruch, da der Blick nicht porträtiert und bildlich erfasst werden könne und unsichtbar bleibe.36 Er betont, dass eine Geschichte des Blicks nicht nur historische Veränderungen, sondern die Diversität von sozialen Sehpraktiken ref lektieren solle und zwar auch die der Gegenwart.37 Im Fokus dieser Überlegungen stehen kollektiv geteilte Wahrnehmungsschemata (diese sind implizit und habitualisiert) sowie die Frage, worauf diese zurückzuführen seien. Empirische Studien stellen eine Möglichkeit dar, sich dem komplexen Thema Kunstwahrnehmung von einer anderen Perspektive zu nähern. Wenn es speziell um den Sehsinn geht, bietet sich hierfür Eye-Tracking als Erhebungsmethode an. Durch die Visualisierungen der erhobenen Daten (sogenannter ›Events‹, die vom Softwarealgorithmus automatisch als Fixationen, Sakkaden oder ›Blinks‹ klassifiziert werden, siehe Fußnote 81) können die Blicke, die auf die Bilder gefallen sind, sichtbar gemacht werden. Bisher liegen nur wenige Eye-Tracking-Studien vor, die das Sehen bei der Kunstbetrachtung vergleichen und dabei das reziproke Verhältnis von Werk und Betrachtenden berücksichtigen.38 Kulturvergleichende Studien aus einer psychologischen Perspektive stellen zumeist keine Kunstwerke ins Zentrum.39 Eine frühe Untersuchung aus dem Jahr 1935 von Guy Buswell, die 35 Bachmann-Medick, Cultural Turns, 257. 36 Hans Belting, The Gaze in the Image: A Contribution to an Iconology of the Gaze, in: Bernd Hüppauf/Christoph Wulf (Hg.), Dynamics and Performativity of Imagination: The Image between the Visible and the Invisible, London/New York 2009, 93-115, hier 93. 37 Belting, The Gaze in the Image, 93. 38 Ein Vergleich von Laien und Experten findet sich bei Raphael Rosenberg/Christoph Klein, The Moving Eye of the Beholder: Eye Tracking and the Perception of Paintings, in: Joseph Huston et al. (Hg.), Art, Aesthetics and the Brain, Oxford 2015, 79-110. 39 Julie E. Boland/Hannah F. Chua/Richard E. Nisbett, How We See it: Culturally Different Eye Movement Patterns over Visual Scenes, in: Keith Rayner (Hg.), Cognitive and Cultural Influences on Eye Movements, Tianjin 2008, 363-378; Hannah F. Chua/Julie E. Boland/Richard E. Nisbett, Cultural Variation in Eye Movements during Scene Perception, in: Pnas 102 (35/2005), 12629-12633; Takahiko Masuda et al., Culture and Aesthetic Preference: Comparing the Attention to Context of East Asians and Americans, in: Personality and social psychology bulletin 34 (9/2008), 1260-1275; Richard E. Nisbett/Yuri Miyamoto, The Influence of Culture: Holistic versus Analytic Perception, in: Trends in Cognitive Sciences 9 (10/2005), 467-473. Diese Studien arbeiten nicht mit Kunstwerken und sind von einer anderen Idee
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zwar mit Kunstwerken arbeitet (Schwarz-Weiß-Reproduktionen), jedoch methodische und technische Einschränkungen aufweist, stellt eine Ausnahme dar.40 Aktuellere Studien, die Kunstwerke zeigen, fanden, vermutlich aus forschungspraktischen Gründen, lediglich in einem Land statt – zwei davon in Deutschland41 und eine in China42 – und alle Teilnehmenden wurden auch im jeweiligen Land rekrutiert. Diese Einschränkung stellt eine methodische Schwäche dar, weil davon auszugehen ist, dass die westlichen Studierenden mit der chinesischen und die chinesischen mit der deutschen Kultur zumindest bis zu einem gewissen Grad vertraut gewesen sein dürften. Eine Forschungslücke ergibt sich auch für die Präsentationsdauer der Bilder, die in allen Studien mit wenigen Sekunden sehr kurz war. In der Studie von Liu et al. wurde den Probanden zudem vor Beginn des Experiments mitgeteilt, dass es um eine kulturvergleichende Studie zur Kunstwahrnehmung gehe.43 Diese Instruktion ist insofern problematisch, da sie einen Versuchsleiter-Effekt provozieren kann. Durch derartige Informationen können reaktive Messefgetrieben, welche sich vor allem mit der auf Hofstede zurückgehenden IndividualismusKollektivismus-These erklären lässt (Geert Hofstede, Culture’s consequences. International differences in work-related values, Beverly Hills 1980). Einer angeblich kollektivistischen und interdependenten ostasiatischen Gesellschaft und deren kontextabhängigen Weltsicht wird eine individualistische und independente westliche Gesellschaft gegenübergestellt. Mit einem höheren Individualismus gehe eine objektbezogenere Wahrnehmung und ein analytischeres Denken einher, mit einem stärker ausgeprägten Kollektivismus dagegen eine umgebungsbezogene Wahrnehmung und ein holistischeres Denken. Begründet wurde diese These unter anderem mit der Unterscheidung zweier gegensätzlicher Denktraditionen, siehe z.B.: Richard E. Nisbett, The Geography of Thought. How Asians and Westerners think dif ferently…and why, New York 2003. Vgl. eine weitere aktuelle kulturvergleichende Studie, die Muster präsentierte: Helmut Leder et al., Symmetry is Not a Universal Law of Beauty, in: Empirical Studies of the Arts 37 (1/2019), 104-114. 40 Guy Thomas Buswell, How People Look at Pictures. A Study of the Psychology of Perception in Art, Chicago 1935. 41 Linda Marie Tepfer, Kulturbedingte Wahrnehmung Bildender Kunst. Eine Eye-Tracking-Studie, Magisterarbeit (unpubl.), München 2011 und Reinhold Kliegl/Jochen Laubrock/Andreas Köstler, Augenblicke bei der Bildbetrachtung. Eine kognitionswissenschaftliche Spekulation zum Links und Rechts im Bild, in: Verena Lepper/Peter Deuflhard/Christoph Markschies (Hg.), Räume, Bilder, Kulturen, Berlin 2015, 77-90. 42 Zaijia Liu et al., Culture Influence on Aesthetic Perception of Chinese and Western Paintings: Evidence from Eye Movement Patterns, in: ACM International Conference Proceeding Series, New York 2013, 72-78. 43 Liu et al., Culture Influence, 74.
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fekte entstehen, weil die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf die Fragestellung des Experiments gerichtet und so das Verhalten beeinf lusst wird. In den rein psychologischen Studien spielen einzelne Kunstwerke oder visuelle Kulturen keine wesentliche Rolle, was neben der kurzen Betrachtungsdauer aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive unbefriedigend scheint. In Bezug auf habitualisierte Blickbewegungen kommt etwa der Schreib- und Leserichtung eine besondere Rolle zu. »Sprachen sind distinktive Merkmale von Kulturen«44 – insbesondere der visuellen Kultur – und erlernbar. Implizit und explizit erlerntes Wissen ist ausschlaggebend für die Kunstbetrachtung. Geteiltes Wissen durch Sinnsysteme stellt die Grundlage des bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriffs dar, der vielen aktuellen Kulturtheorien zugrunde liegt, die sozialwissenschaftlich orientiert sind.45 Das Heranziehen der Kategorie ›kulturelle Praktiken‹ – im Fall der durchgeführten Studie wesentlich spezifischer, nämlich der ›Vertrautheit mit einer visuellen Kultur‹ – birgt stets die Gefahr einer Essentialisierung, weshalb unbedingt auch andere Kategorien wie etwa Alter, Geschlecht, Bildung und Persönlichkeitsfaktoren berücksichtigt werden sollten, da diese unter Umständen einen größeren Einf luss auf die Kunstbetrachtung haben könnten. Aus der hier besprochenen Studie werden beispielhafte Blickbewegungsauswertungen auf der Ebene von einzelnen Werken unter Einbeziehung von Antworten, die die Betrachtenden im Rahmen der Nachbefragung gegeben wurden, dargestellt und analysiert. Während die Blickbewegungsdaten Aufschluss darüber geben, wann, wo und wie lange auf das Bild geschaut wurde, ob es geteilte Blickmuster gibt und welche Betrachtungsstrategien von welchem Bild evoziert werden, können ergänzende Antworten im Fragebogen Hinweise auf die Art der Informationsverarbeitung und die bei der Bildbetrachtung hervorgerufenen Emotionen und Assoziationen geben, worüber die Eye-Tracking-Daten selbst keine Rück44 Gregor Paul, Einführung in die interkulturelle Philosophie, Darmstadt 2008, 20. 45 Stephan Moebius, Kulturforschungen der Gegenwart – die Studies, in: ders. (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies, Bielefeld 2012, 7-12; Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, 85. Da Kunstbetrachtung, wie aus neueren neurowissenschaftlichen Studien mittlerweile bekannt ist, zu einem hohen Prozentsatz top-down und somit wissensgeleitet ist – siehe etwa Andy Clark, Whatever next? Predictive Brains, Situated Agents, and the Future of Cognitive Science, in: The Behavioral and brain sciences 36 (3/2013), 181-204 –, scheint dieser Kulturbegriff für die vorliegende Studie adäquat zu sein.
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schlüsse erlauben. Ähnlich wie bei einem klassisch kunsthistorischen Vorgehen erfolgt dann eine Interpretation der Daten. Ein solcher Zugang soll als Ergänzung und keinesfalls als ein Ersatz klassisch kunstwissenschaftlichen Vorgehens gesehen werden, welches, wie oben nur kursorisch dargestellt, bereits seit langem den Vorgang der Bildbetrachtung äußerst komplex und differenziert behandelt hat. Bis heute wird die Kunstwahrnehmung immer wieder hermeneutisch-historisch analysiert, und gleichzeitig herrscht eine große Skepsis gegenüber einem empirisch-experimentellen Zugang zum Thema, der häufig mit der Verwendung statistischer und quantitativer Verfahren einhergeht. Baxandall hingegen stand als Kunsthistoriker einer solchen Herangehensweise bereits sehr offen gegenüber und war insbesondere an Eye-Tracking zur Aufzeichnung des Blicks interessiert.46
III. Die Nachwirkung und das Nachleben von Darstellungskonventionen Als die Autorin im Herbst 2014 für einen Forschungsaufenthalt in Tokyo war, erschienen zeitgleich zwei neue Alben der japanischen Metal Band Onmyōza – das elfte sowie das zwölfte Album, Fūjin Kaiko und Raijin Sosei – und wurden in der Presse besprochen. Die beiden CD-Cover zeigen Darstellungen des Donner- (Abb. 1) und des Windgottes (Abb. 2), Fūjin und Raijin, die in der japanischen Kunst eine lange Tradition haben und häufig als Paar dargestellt werden, wobei ersterer als auf brausend und aggressiv (Donner) und letzterer als zurückhaltend und bedächtig (Wind) gilt. Vorbild für die meisten Darstellungen der beiden Götter sind zwei Skulpturen aus der KamakuraZeit (1185-1333) im Kannon-Heiligtum Sanjūsangen-dō in Kyoto (Abb. 3 und 4). Mit der Zeit erhielten die beiden Gestalten eine humoristische Note, wie sie etwa auf den berühmten Stellschirmen aus der frühen Edo-Zeit (16031868) zu erkennen ist (Abb. 5). 46 Michael Baxandall/Richard Cándida Smith, Substance, Sensation, and Perception. Michael Baxandall Interviewed by Richard Cándida Smith, 1998, in: Getty Research Institute Archive, URL: http://archives.getty.edu:30008/getty_images/digitalresources/ spcoll/gri_940109_baxandall_transcript.pdf [letzter Zugriff: 10.01.2022] und Michael Baxandall, Fixation and Distraction. The Nail in Braque’s Violin and Pitcher (1919), in: John Onians (Hg.), Sight & Insight. Essay on Art and Culture in Honour of E. H. Gombrich at 85, Oxford 1994, 399-415.
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Abb. 1 und 2: CD-Cover der japanischen Metal Band Onmyōza, erschienen am 24. September 2014 bei King Records Japan.
Abb. 3 und 4: Wind- und Donnergott aus dem Gefolge Kannons, Kamakura Zeit (13. Jh.), Holz und Glasaugen. Kyoto, Sanjūsangen-dō.
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Abb. 5: Ogata Kōrin, Donnergott und Windgott, undatiert (17. Jh.), Papier-Faltschirm, 164,5 x 181,8 cm. Tokyo, Nationalmuseum. Darauf ist rechts der Windgott mit seinem Windsack dargestellt, links der Donnergott, der wild mit seiner Trommel im Himmel tanzt. Diese Ikonografie wird auf den beiden CD-Covern aufgegriffen, der sanfte Windgott wird von einem elfenhaften, der Donnergott von einem gehörnten Wesen mit blonder Haarpracht verkörpert. Die Bildästhetik erinnert an Fantasy-Darstellungen, nimmt jedoch auch Elemente aus der Metal-Szene, wie etwa schwarzen Nagellack, auf. Im Sinne einer Bildwanderung fand hier eine motivische Übertragung von einem Bildträger auf einen anderen statt, wobei auf die bereits existierende Darstellungskonvention zurückgegriffen wurde, die Bilder jedoch dem Thema entsprechend einige Modifikationen erfuhren. Ganz deutlich lässt sich an diesem Beispiel zeigen, dass über lange Zeit gewachsene ikonografische Traditionen auch noch heute wirksam sind, dass sie ›nachleben‹ und zu einer gewissen Vertrautheit mit bestimmten Motiven durch Wiederholung führen. Ein zeitnahes Beispiel aus Österreich, das ebenfalls mit Musik zu tun hat und für eine Bildwanderung im Sinne Warburgs stehen kann, ist eine Fotografie von Ellen von Unwerth (Abb. 6), die für eines der Plakate zum Life Ball 2015, der unter dem Motto »Gold – Ver Sacrum« stand, angefertigt wurde. Die Kunstfigur Conchita Wurst (verkörpert von Thomas Neuwirth), die seit ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014 zur Symbolfigur für Toleranz und Gleichberechtigung wurde und sich einer klaren Einordnung in heteronormative Strukturen (Mann-Frau) entzieht, posiert auf dem Plakat, das in ganz Wien zu sehen war, in ähnlich manierierter Haltung wie Adele BlochBauer in Gustav Klimts Gemälde, das als motivisches Vorbild und Referenz diente (Abb. 7).
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Abb. 6: Conchita Wurst fotografiert von Abb. 7: Gustav Klimt, Adele Bloch Ellen von Unwerth für das Plakat zum Bauer I, 1907, Öl, Silber und Gold auf Life Ball 2015. Leinwand, 138 × 138 cm. New York, Neue Galerie New York. Da Klimt in Österreich einer der bekanntesten Künstler ist, war der Bezug den meisten Betrachtenden mit hoher Wahrscheinlichkeit offensichtlich.47 Gleichzeitig findet sich in diesem Werk der Einf luss japanischer Kunst wieder, so erinnert etwa der grüne Boden mit der schachbrettartigen Borte an Tatamimatten, wie wir sie in Abbildung 9 finden, die f lächige Gestaltung und die goldene Ornamentik deuten auf den Einf luss Ogata Kōrin hin. Ein weiteres Beispiel für die Nachwirkung spezifischer Darstellungstraditionen wurde von Machiko Kusahara untersucht und geht über einen rein motivischen Charakter hinaus. Ausgehend von Erwin Panofskys Studie über die Perspektive als »symbolische Form«48 analysierte sie die Darstellung von Perspektive oder, wie sie schreibt, »non-perspective« in der heutigen digitalen Kultur Japans.49 Dabei zeigt sie Kontinuitäten im visuellen System auf, die von bildlichen Darstellungen ohne Zentralperspektive und Schatten aus der
47 Das Bild blieb auch nach der Restitution 2006 ein Identifikationsobjekt der WienerInnen, vgl. Simon Lindner, Abschied einer Ikone, in: Merten Lagatz/Bénédicte Savoy/Philippa Sissis (Hg.), Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe, Berlin 2021, 308-311. 48 Erwin Panofsky, Die Perspektive als »symbolische Form«, Leipzig 1927. 49 Machiko Kusahara, Toward Digital Biodiversity. A View on Correlation of Digital Technology and Culture through Analysis of Media Art and Entertainment, Tokyo 2001.
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Abb. 8: Still aus dem Spiel Emakimono von Handsome Dragons Games, 2015, Screenshot. Kunstgeschichte bis in die Gegenwart reichen.50 Heute findet sich diese Darstellungsweise in anderer Form, aber nach dem gleichen Prinzip, in der virtual reality japanischer Spiele wieder, wo eine Vorliebe für 2D-Bilder herrscht – vor allem im Vergleich zum Westen, wo nach wie vor die Zentralperspektive bestimmend ist und ein dreidimensionaler Bildeindruck angestrebt wird. Dabei ist nicht mehr wie bei der Zentralperspektive der Malerei von einem festen Betrachterstandpunkt auszugehen, vielmehr »bedarf es ›immersiver Techniken‹«,51 die die Betrachtenden in das Bildfeld integrieren. Kusahara führt diese Varianzen im Cyberspace auf eine »cultural correctness« zurück, die auch als ›Vertrautheit‹ bezeichnet werden kann. In filmischen Anime leben Drucke aus der Edo-Zeit ebenso fort wie in Computerspielen.52 Die australischen Spiele-Entwickler »Handsome Dragon Games« gestalteten im Rahmen des 48 hour Game Jam das Spiel Emakimono, das sich visuell innerhalb einer Bilderrolle entfaltet. Eine kleine Schwalbe soll durch eine Tuschelandschaft gef logen werden, und zwar schneller, als sich das Blatt wieder einrollt.53 Dies geschieht jedoch nicht, wie es aus japanischer Sicht und im Sinne der Emakimono-Tradition korrekt wäre, von rechts nach links, sondern, den Sehgewohnheiten der Entwickler entsprechend, von links nach rechts (siehe Abb. 8). 50 Kusahara, Toward Digital Biodiversity, 103. 51 Hubertus Kohle/Katja Kwastek, Computer, Kunst und Kunstgeschichte, Köln 2003, 142. 52 Melanie Stumpf, Im Spiegelkabinett von expressionistischem Stummfilm, Film Noir, Manga, Anime und japanischem Computerspiel, Hildesheim 2011. 53 URL: https://handsomedragongames.itch.io/emakimono [letzter Zugriff: 06.02.2020].
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Die Leserichtung bei Comics verläuft von links nach rechts, bei Mangas aus westlicher Sicht von hinten nach vorne und von rechts nach links sowie von oben nach unten. Bis in die 1940er Jahre hinein wurden Mangas viel deutlicher vom japanischen Schrifttext beeinf lusst, als dies heute der Fall ist. Nach und nach kam es zu einer horizontalen Bild-Text-Reihung, wie sie in der westlichen Comictradition üblich ist. Schließlich folgte eine Verbindung beider Traditionen. Bei einigen älteren Mangas, die in den 1990er Jahren auf Deutsch erschienen waren, wurden die Seiten gespiegelt, um sie an die europäische Leserichtung angleichen zu können. Mit der gespiegelten Version gingen jedoch ein Zerfall der Bildkomposition im Sinne Wölfflins und eine ungleichmäßige Panelaufteilung einher, zudem wurden alle Protagonisten zu Linkshändern. Dragon Ball (Doragon boru) von Akira Toriyama war 1997 die erste Serie, die unter der Auf lage des Shueisha-Verlags ungespiegelt in original japanischer Leserichtung von oben nach unten und von rechts nach links im Carlsen Verlag erschien und zu einem der erfolgreichsten Mangas wurde.54 Fortan erschienen alle weiteren Mangas in der
Abb. 9: Tosa Mitsuyoshi, Illustration des Genji Monogatari: Bd. 4, Blue Trousers Scroll C, Scene 2, 17. Jh., Farbe und Platin auf Papier, 26,67 cm hoch. Seattle Art Museum, Eugene Fuller Memorial Collection. 54 Paul Malone, Hybrides Spielfeld Manga. Adaption und Transformation japanischer Comics in Deutschland, in: Michiko Mae/Elisabeth Scherer (Hg.), Nipponspiration. Japonismus und japanische Populärkultur im deutschsprachigen Raum, Köln/Weimar/Wien 2013, 233-258, hier 241.
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Originalversion. Mangas werden meist in Schwarzweiß gedruckt, so dass kunstvolle Schattierungen und Ton-in-Ton-Abstufungen im Gegensatz zu den farbig ausgefüllten Flächen der westlichen Comics stehen. Abbildung 9 zeigt einen Teil einer Schriftrolle, welche die Geschichte des Prinzen Genji illustriert, ein Roman, der ursprünglich zu Beginn des 11. Jahrhunderts vermutlich von einer heute mit Murasaki Shikibu identifizierten Hofdame verfasst wurde.55 Er gilt als einer der frühesten Romane überhaupt und hat in der japanischen Kultur einen sehr hohen Stellenwert, da er für die Konstruktion einer eigenständigen japanischen Identität – vor allem in Abgrenzung zu China – sehr wichtig war. Die Geschichte des Prinzen Genji ist in Japan auch heute noch überaus bekannt; sie gehört zum Lehrstoff an Schulen, wurde mehrmals verfilmt, in den 1990er Jahren entstanden Mangas dazu und 2009 wurde auch ein Playstation Spiel mit dieser Thematik herausgegeben. Insgesamt gibt es über zwanzig verschiedene Serien, die sich der Geschichte des Prinzen angenommen haben. Im Folgenden wird die Version der Mangaka Yamato Waki als Beispiel herangezogen, die auch auf Englisch vorliegt.56 Dabei handelt es sich um einen romantischen Mädchen-Manga, der die Emotionen rund um die Liebesgeschichten Genjis in den Mittelpunkt stellt. In den 1990er Jahren wurden über 12 Millionen Exemplare der japanischen Version verkauft und im Jahr 2000 wurde sie als Musical aufgeführt.57 Yamato Waki’s Genji zeichnet sich, was für viele andere Mangas auch gilt, durch den Einsatz kinematografischer Mittel aus.58 Neben häufigen Perspektivenwechseln gibt es Zoom-Effekte und filmschnittartige Übergänge sowie viele ›stumme‹ Panels, die keine Schrift beinhalten und meist auch keine Handlung zeigen, sondern wie fotografische Momentaufnahmen, meist von Naturmotiven, anmuten. Häufig sind sie extrem schmal und hochformatig und zeigen beispielsweise den Blick von oben in einen Koi-Karpfen-Teich, auf Kirschblütenblätter, die auf dem Boden liegen oder durch die Luft geweht werden, oder auf die Zweige eines Ahornbaumes (Abb. 10). In westlichen Comics sind steile 55 Deutsche Übersetzung: Murasaki Shikibu, Die Geschichte vom Prinzen Genji. Genji monogatari. Ein Liebesroman aus dem 11. Jahrhundert, Zürich 2014. 56 Waki Yamato, The Tale of Genji. Flowers, Tokyo 1993. 57 Lynne K. Miyake, Graphically Speaking: Manga Versions of The Tale of Genji, in: Monumenta Nipponica 63 (2/2008), 359-392, hier 369. 58 Ryozo Maeda, Rasender/Lesender Stillstand. Zur Wahrnehmung von Schrift- und Textbild im Manga, in: ders./Teruaki Takahashi/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schriftlichkeit und Bildlichkeit. Visuelle Kulturen in Europa und Japan, München 2007, 197-218, hier 198.
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Abb. 10: Panels aus dem Manga The Tale of Genji: Flowers von Yamato Waki, 1993. Hochformate weitaus seltener zu finden. Im Manga scheint die Darstellungstradition des japanischen Schlankstreifens nachzuwirken.59 Extreme Formate finden sich in ostasiatischer Kunst etwa in Hängerollen (Kakemono, in der Regel 57 x 30 cm60) und in sogenannten Pfostenbildern (Hashira-e), einem Holzschnittformat, das auf 70 x 25 cm festgelegt ist und ursprünglich wohl für die Verzierung von Holzpfosten in japanischen Häusern vorgesehen war.61 Neben diesen steil hochformatigen Panels greift Yamato Waki auch bei der Darstellung der Figuren auf Konventionen aus der Kunstgeschichte zurück. Sie orientiert sich eindeutig an historischen Genji-Darstellungen, wie etwa jenen in der oben genannten Querrolle (Abb. 9). Vom Faltenwurf und Muster der Gewänder bis hin zur Architektur, wobei versucht wurde, die visuelle Kultur der HeianZeit (794-1185) historisch korrekt darzustellen.
59 Siegfried Wichmann, Das steile Hochformat im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert unter dem Einfluß des japanischen Schlankstreifens und Pfostenbild, in: ders. (Hg.), Weltkulturen und moderne Kunst. Die Begegnung der europäischen Kunst und Musik im 19. und 20. Jahrhundert mit Asien, Afrika, Ozeanien, Afro- und Indo-Amerika, München 1972, 253-258, hier 253. 60 Wichmann, Das steile Hochformat, passim. 61 Ebd., 257.
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IV. Empirisch-experimentelles Forschen mit widerspenstigen Bildern Wie die oben besprochenen Beispiele zeigen, gibt es in gewissen Bereichen der visuellen Kultur ein Nachleben von motivischen, aber auch formalen Konventionen. In der von mir durchgeführten empirischen Studie mit 50 österreichischen und 51 japanischen Studierenden wurden habitualisierte Sehgewohnheiten und die Vertrautheit mit spezifischen Darstellungskonventionen, die sich unbewusst im Bildgedächtnis sedimentiert haben, untersucht. Insgesamt wurden zehn digitalisierte Bilder (japanische und westliche) auf einem hochauf lösenden Bildschirm präsentiert, die Betrachtungsdauer betrug zwei Minuten pro Bild. Aufgezeichnet wurden die Augenbewegungen mit einem binocular remote Eyetracker der Marke SMI (120 Hz). Nach der Betrachtungszeit von insgesamt zwanzig Minuten wurde ein Fragebogen zu den gezeigten Bildern beantwortet.62 Die Daten der österreichischen Gruppe wurden in Wien aufgezeichnet, die der japanischen in Tokyo.63 62 Die Datenerhebung erfolgte im Herbst 2013 in Wien und im Herbst 2014 in Tokyo. Vorangegangen war 2012 bereits eine Pilotstudie. Danke an Chiara Pompermaier für die Unterstützung bei der Datenerhebung. Der Datenkorpus besteht zum einen aus den emotionalen und kognitiven Reaktionen der Betrachtenden auf die Bilder, die in Form von beantworteten Fragebögen vorliegen und zum anderen aus den Blickbewegungsdaten, ergänzt durch soziodemografische Daten, einem Persönlichkeitsfragebogen und eine Kurzversion des Embedded Figures Test. Zur Ermittlung von Persönlichkeitsmerkmalen wurde der NEO-FFI Fragebogen verwendet, der auch in einer standardisierten und kategorisierten japanischen Version vorliegt. Unter Persönlichkeitsausprägungen wird die Merkmalsmenge einer Person verstanden, die relative zeitstabil und individuell ist. Dabei wird auf fünf Faktoren getestet, die sich seit den 1990er Jahren als anerkannte Persönlichkeitsausprägungen etabliert haben. So konnte durch Einbeziehung dieser Variable in die statistische Auswertung kontrolliert werden, dass Varianzen auf den Einfluss der Vertrautheit mit visueller Kultur und nicht auf Persönlichkeitseigenschaften, wie etwa ›Extraversion‹ zurückgehen. Es könnte nämlich durchaus sein, dass Personen mit ähnlichen Persönlichkeitsmerkmalen auch ein ähnliches Blickverhalten aufweisen – ganz unabhängig von der visuellen Kultur, mit der die vertraut sind. Insbesondere wenn es um Kunstwahrnehmung geht, spielt der Faktor ›Offenheit für neue Erfahrungen‹ eine große Rolle, was bereits in mehreren Studien nachgewiesen werden konnte, siehe Gregory J. Feist/Tara R. Brady, Openness To Experience, Non-Conformity, and the Preference for Abstract Art, in: Empirical Studies of the Arts 22 (2004), 77-89 und Mark C. Gridley, Preference for Abstract Art According to Thinking Styles and Personality, in: North American Journal of Psychology 15 (2013), 463-481. 63 Bei allen Teilnehmenden handelte es sich um Studierende, die unterschiedlichste Fächer studierten, jedoch nicht Kunstgeschichte. Die österreichischen Teilnehmenden wurden in Österreich geboren und sind auch dort aufgewachsen, die japanischen wurden in Ja-
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Auch die empirische Studie wurde als Vergleich angelegt. Johann Arnason hat Japan als »most compared country« bezeichnet.64 Japanisch ist statistisch gesehen die beliebteste Sprache, die in der Linguistik für komparative Studien herangezogen wird.65 Günther et al. gehen davon aus, dass die Idee von Japan »als besonders erkenntnisträchtigem und den Vergleich lohnenden Gegenstand«66 mit der Fetischisierung von Japan als etwas Einzigartigem einhergehe.67 Auch wenn diese Überlegungen richtig sein mögen, sind sie aus Sicht der Verfasserin nicht der alleinige Grund dafür, dass Japan so häufig als Vergleichsbeispiel in den (westlichen) Wissenschaften herangezogen wird, insbesondere was empirische und experimentelle Forschungsdesigns betrifft. Ganz im Gegenteil: Es scheint eher eine ›Ähnlichkeit in der Andersheit‹ ausschlaggebend zu sein. Damit ist gemeint, dass Faktoren wie das Bildungsniveau oder wirtschaftliche Standards sowie die Vertrautheit mit technischen Geräten vergleichbar sind. Die präsentierten Kunstwerke stammen aus unterschiedlichen Epochen und sollen ein breites Spektrum abdecken. So wurden sowohl Landschaftsgemälde, figürliche Darstellungen mit narrativem Bildinhalt als auch zwei abstrakte Gemälde gezeigt. Da eine Betrachtungszeit von zwei Minuten festgesetzt wurde – dies ist länger als bei fast allen bisher existierenden Studien zur Kunstbetrachtung68 –, musste die Anzahl aus forschungspraktischen Gründen auf zehn Bilder beschränkt werden, um eine zumutbare Dauer der Teilnahme zu gewährleisten. Aus bereits durchgeführten Studien konnte auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden, die zeigten, dass bei Laien die Aufmerksamkeit nach ca. zwei Minuten nachlässt und eine gepan geboren und sind dort aufgewachsen. Alle nahmen freiwillig an der Studie teil und erhielten als Aufwandsentschädigung 10 € bzw. 1000 Yen. Die Akquirierung erfolgte über Aushänge und E-mail-Verteiler. 64 Johann P. Arnason, Comparing Japan: The Return to Asia, in: Japanstudien – Jahrbuch des Deutschen Instituts für Japanstudien der Philipp Franz von Siebold Stiftung, München 1998, Bd. 10, 33-54 und Johann P. Arnason, Is Japan a Civilization sui generis?, in: Japanstudien 14 (1/2002), 43-68. 65 Götz Wienold, Linguistische Typologie und Japanisch, in: Japanstudien 14 (1/2002), 267-285. 66 Ines Günther/Irmela Hijiya-Kirschnereit/Matthias Koch, Japan als Fallbeispiel in den Wissenschaften – Eine Einführung, in: Japanstudien 14 (1/2002), 17-42, hier 17. 67 Günther/Hijiya-Kirschnereit/Koch, Japan als Fallbeispiel, passim. 68 Ausnahme: Raphael Rosenberg/Juliane Betz/Christoph Klein, Augensprünge, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 6 (1/2008), 127-129.
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wisse körperliche Unruhe einsetzt.69 Es würde den Umfang dieses Aufsatzes sprengen, auf alle Bilder einzugehen. Im Folgenden werden daher lediglich drei Werke näher besprochen und einige ausgewählte Ergebnisse der empirischen Studie vorgestellt. Das Paradies von Lucas Cranach (Abb. 11) ist ein querformatiges Ölgemälde. Dieses Bild hat in der Cranach-Literatur relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren, obwohl es sich um eine besondere Bildschöpfung handelt: Cranach verwendet den Darstellungstypus einer polychronen Narration, eine bekannte Konvention, vor allem in mittelalterlichen Gemälden. Dieselben Personen werden in verschiedenen Szenen und an unterschiedlichen Orten im Bild gezeigt, was die Betrachtenden dazu veranlasst, dies als verschiedene zeitliche Momente zu deuten. In der Kunstgeschichte wird dieser Bildtyp als ›Simultanbild‹ bezeichnet, da mehrere Handlungen simultan oder zeitgleich gezeigt werden. Ein Nacheinander kann also nur gemeint, aber nicht dargestellt werden.70 Bei der Betrachtung eines solchen Bildes müssen die einzelnen Szenen aber sehr wohl nacheinander angesehen und verarbeitet werden. Beate Fricke weist darauf hin, dass bei klassischen Simultanbildern der Blick der Betrachtenden durch Wege und Durchgänge entsprechend der Leserichtung geleitet wird, nicht jedoch bei Cranach.71 Folgt man der Bibel (Gen. 2,4b-3,24), beginnt die Erzählung rechts hinten im Bild mit der Erschaffung Adams oder des Menschen an sich. Wir sehen eine unförmige Kreatur, weder Mann noch Frau, die an einen Lehmklumpen erinnert. Ihr Gesicht sieht aus wie das eines Kindes, ohne den Bart, den Adam in den anderen Darstellungen auf diesem Gemälde trägt. Gottvater wird als alter Mann dargestellt, eine typische Tradition oder Konvention. Die zweite Szene 69 Bei einer so langen Betrachtungszeit sind Kunstwerke sinnvoll, die einen relativ hohen Grad an Komplexität aufweisen, damit die Aufmerksamkeit gerichtet werden muss. In einer Studie mit über 90 Bildern wurde deren Komplexität auf einer siebenstufigen Skala (1 = wenig komplex, 7 = sehr komplex) von Experten eingeschätzt. Die zehn in meiner Studie verwendeten Kunstwerke waren Teil dieser 90 Bilder und wurden vor Studienbeginn hinsichtlich ihrer visuellen und inhaltlichen Komplexität evaluiert. Laura Commare/Raphael Rosenberg/Helmut Leder, More Than the Sum of Its Parts: Perceiving Complexity in Painting, in: Psychology of Aesthetics Creativity and the Arts 12 (4/2018), 380-391. 70 Ehrenfried Kluckert, Die Erzählformen des spätmittelalterlichen Simultanbildes, Tübingen 1974. 71 Beate Fricke, Kommentare als Archiv. Relektüren der Genesis von Lucas Cranach und Martin Luther, in: Burkhardt Wolf/Thomas Weitin (Hg.), Gewalt der Archive: Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung, Konstanz 2012, 315-344.
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Abb. 11: Lucas Cranach d. Ä., Paradies, um 1530, Öl auf Lindenholz, 81 x 114 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum. ist die Erschaffung Evas aus der Rippe des schlafenden Adams oben in der Mitte. Im Vordergrund findet sich sehr prominent und vergleichsweise groß eine Darstellung von Gott mit Adam und Eva, die zu der Annahme veranlasst, dass es sich hierbei um die wichtigste Szene auf dem Gemälde handelt. Gezeigt wird der Moment, in dem Gott Adam und Eva anweist, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Es könnte sich jedoch auch um die Szene handeln, in der Gott das Paar aus dem Paradies verweist. Hierfür würde die verdeckte Scham der beiden sprechen und die Geste Adams, der mit seiner rechten Hand auf Eva deutet. Der Gesichtsausdruck der Beteiligten und die fehlende Dramatik der Situation lassen auf die Belehrungsszene schließen. Der Sündenfall mit der frauengestaltigen Schlange, die um den Baumstamm gewunden ist, und Eva, die Adam den Apfel reicht, ist rechts hinten dargestellt. Das Haupt Gottes schwebt in beiden Versionen sonnengleich im Himmel, umgeben von einem Kranz aus Wolken. Damit wird Gott als Allwissender und Allsehender repräsentiert, vor dem sich Adam und Eva in einem Busch verstecken. Links hinten befindet sich die letzte Szene, die Vertreibung aus dem Paradies.
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Die bereits erwähnte Illustration des Genji Monogatari (Abb. 9) kann als ein Beispiel für eine Darstellung gelten, die eine in Japan noch heute bekannte Narration zeigt. Die Geschichte spielt während der Heian-Zeit und umfasst 54 Kapitel mit 95 waka (japanische Gedichte). Das farbenprächtige Bild ist Teil einer Querrolle, bei welcher Bild und Text alternieren. Für die Studie wurde jedoch nur einer der Bildteile ohne Text ausgewählt. Im Inneren des Hauses sind ein Mann, vermutlich Genji, und eine Hofdame zu sehen. Sie sind in kostbare Gewänder aus aufwendigen Stoffen gekleidet, und zwischen ihnen befindet sich ein Arrangement mit einem blühenden (Pf laumenbaum-)Zweig, auf dem ein Vogel sitzt, und zwei kleinen Körben (髭籠72). Vor der Dame liegen ein Lackkasten mit Schreibutensilien und ein Papierbogen. Auf der Veranda ist eine weitere Frau zu sehen, und im Garten sind zwei Dienerinnen mit Zweigen in den Händen dargestellt, die rechte wendet sich den Betrachtenden zu, die linke ist als Rückenfigur konzipiert. Der blühende Pf laumenbaum verdeutlicht, dass die Szene im Frühjahr spielt. In Kapitel 23 geht es um die Frühlingsfestlichkeiten, der Garten wird ebenso beschrieben wie der Wind, der den »so köstlichen Pf laumenblütenduft« herbei weht.73 Die niederen Dienerinnen begnügen sich damit, »im Garten kleine Kiefern herauszuziehen«74, und Akashi, eine Geliebte Genjis, hatte von »ihrer Mutter Bambusschachteln und Körbchen, die mit allem möglichen gefüllt waren, zum Fest geschenkt [bekommen]. Die künstliche Nachtigall, die auf dem Zweig einer herrlichen Fünfnadligen Kiefer saß, sollte wohl anzeigen, wie bewegt sie in ihrem Herzen war.«75 Die Abbildung zeigt die beiden Körbchen und einen Zweig mit der künstlichen Nachtigall. Allerdings handelt es sich um einen Pf laumenbaumzweig und nicht um eine Kiefer. Dafür halten die beiden Dienerinnen im Garten kleine Kiefern in den Händen, was zur Textstelle passt, wie auch die Passage: »Er brachte ihr den Tuschkasten herbei und drängte sie zu schreiben.«76 Demnach ist mit ziemlicher Sicherheit Kapitel 23 »Der erste Gesang« dargestellt. Für dieses Bild gilt dasselbe wie für Cranachs Paradies: Auch wenn die Betrachtenden die Szene nicht zweifelsfrei zuordnen können, sollten sie mit der gesamten Geschichte, dem Kon72 Danke an Akimi Iwaya für diesen Hinweis. 73 Shikibu, Die Geschichte vom Prinzen Genji, 681. 74 Ebd., 683, ein Brauch am »Tag der Sieben Gräser«. 75 Ebd., passim. 76 Ebd., passim.
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text und den üblichen Darstellungskonventionen vertraut sein, das heißt, sie sollten das Blatt mit der Geschichte des Prinzen Genji und dem Hof leben in der Heian-Zeit in Verbindung bringen. Um die Vertrautheit mit spezifisch ›ostasiatischen‹ bzw. ›westlichen‹ Darstellungskonventionen in der jeweiligen Gruppe zu untersuchen, wurden die Antworten in den Fragebögen analysiert. Alle Teilnehmenden sahen alle Bilder und zu jedem Bild wurden dieselben Fragen gestellt. Die Kategorie ›Kennen‹ gibt Aufschluss darüber, wie vertraut die Betrachtenden mit dem gezeigten Bild waren. Dabei ging es nicht darum, abzufragen, ob etwa Thema, Künstler und Jahreszahl richtig genannt werden konnten, sondern entscheidend war der subjektive Eindruck von Vertrautheit. Von allen zehn Werken wurde Cranachs Paradies in der österreichischen Gruppe als das bekannteste Bild eingestuft. 20 von den insgesamt 50 Personen gaben an, dass ihnen das Bild bekannt vorkomme. In der japanischen Gruppe war das Bild von Hokusai am bekanntesten (29 von 51), Tosa Mitsuyoshis Genji, das zweitbekannteste (24 von 51). Nachdem die deskriptive Analyse ergeben hatte, dass diese beiden Werke in der jeweiligen Gruppe unter den bekanntesten waren, erfolgte eine ausführliche qualitative Analyse der Antworten auf die offenen Fragen. Durch die Aufforderung »Bitte beschreiben Sie die Gedanken, die Ihnen beim Betrachten des Bildes durch den Kopf gegangen sind« sollte eine Möglichkeit geschaffen werden, die auf kommenden Assoziationen und Fragen der Betrachtenden zum Bild sowie ein eventuelles Abschweifen zu anderen Themen zu erheben. Teilnehmende der Gruppe ›Tokyo‹ berichteten im Hinblick auf Cranachs Paradies in ihren Antworten, dass die Konvention, Gottvater als alten Mann oder gar nur als Kopf im Himmel darzustellen, Irritationen auslöste. So finden sich etwa Fragen wie »Wieso ist rechts oben in der Sonne ein alter Mensch zu sehen?« (Jp 9), »Führen die bekleideten alten Menschen die anderen Menschen an?« (Jp 12), »Ich verstehe nicht, warum ein Menschenkopf herumf liegt.« (Jp 25) und »Was schwebt da bloß am Himmel?« (Jp 26). Auch wenn viele Studierende die Darstellung von Adam und Eva als Thema des Bildes erkannten, wurde ein Moment der Irritation in der Gruppe ›Tokyo‹ deutlich, wohingegen die Gruppe ›Wien‹ überhaupt keine Schwierigkeiten hatte, die Darstellung des bärtigen Mannes als ›Gottvater‹ zu identifizieren. Aus einigen Antworten der Gruppe ›Tokyo‹ geht auch hervor, dass die polychrone Narration als solche nicht erkannt wurde: Es war nicht allen Betrachtenden klar, dass es sich immer wieder um dieselben Personen handeln soll. Dies verdeutlicht, wie sehr das Wissen über die dargestellte Narration die
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Interpretation des Bildes beeinf lusst und weniger die »ikonische Evidenz«.77 Wenn die Narration nicht bekannt und eine Vertrautheit mit dieser Art der Darstellungskonvention nicht gegeben ist, lässt sich allein vom Bild her nicht unbedingt darauf schließen, dass jeweils dieselben Personen repräsentiert werden. Dies könnte auch daran liegen, dass die Gruppe ›Tokyo‹ aufgrund der japanischen Darstellungstradition des hikime kagihana davon ausging, dass die Personen zwar gleich aussehen, jedoch nicht dieselben Charaktere darstellen sollen. Der Begriff hikime kagihana (›Strichaugen und Hakennase‹) beschreibt eine starke Idealisierung, vor allem von Gesichtern, in der Malerei. Männer wie Frauen wurden insbesondere in der Heian-Zeit nach einem bestimmten Schema gemalt, so dass die dargestellten Personen aufgrund ihres Äußeren nicht unterschieden werden können.78 In der Gruppe ›Wien‹ wurde bei der Aufgabe »Bitte beschreiben Sie die Gedanken, die Ihnen beim Betrachten des Bildes durch den Kopf gegangen sind« häufig der Versuch geschildert, die Szenen chronologisch zu ordnen, etwa: »Ich bin die Geschichte, wie sie in der Bibel steht, gedanklich durchgegangen und habe dazu die jeweilige Szene im Bild gesucht« (Oe 3), »Versuch, das Bild sinnvoll und in der richtigen Reihenfolge zu deuten und zu lesen« (Oe 6), »Ich habe versucht, die Chronologie herauszufinden« (Oe 36) und »Hier habe ich eindeutig versucht, eine Erzählung nachzuvollziehen, da auch Adam und Eva (so vermute ich) mehrmals im Bild auftauchen« (Oe 47). In Bezug auf Tosas Genji-Darstellung finden sich bei der Bildbeschreibung wie auch in den Antworten auf die Frage »Welche Gedanken sind Ihnen beim Betrachten des Bildes durch den Kopf gegangen?« in der Gruppe ›Tokyo‹ Aussagen wie: »Ich dachte, dass dies vielleicht eine Szene aus der Geschichte vom Prinzen Genji darstellt, und hatte das Gefühl, so ein Bild schon einmal gesehen zu haben« (Jp 1), »Es erinnerte mich an Unterrichtsmaterialien, die ich in der Oberschule [10.-12. Schulstufe] im Unterricht über japanische Geschichte verwendet habe« (Jp 10), »Die Gesamtheit des Bildes (auch der nicht ausgefüllte Raum) zeigt das entspannte Leben der Adeligen in der Heian-Zeit« (Jp 15), »Habe ich im Gesellschaftsunterricht einmal gesehen. Die Geschichte vom Prinzen Genji (Jp 18), »Die Kimonos und die Pf laumenblüten sind schön. Wie 77 Klaus Speidel, Narration visuelle et récit iconique: raconter une histoire en une image (unpubl.), Paris Diss. 2013, 294. 78 Vgl. z.B. Masako Watanabe, Narrative Framing in the »Tale of Genji Scroll«: Interior Space in the Compartmentalized Emaki, in: Artibus Asiae 58 (1/1998), 115-145, hier 120.
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ein Werk aus der friedlichen Heian-Zeit« (Jp 31) und »Ich glaube, dass das Bild am Einband eines Schulbuches abgebildet war« (Jp 67). In der Gruppe ›Wien‹ kannte niemand die Geschichte des Prinzen Genji, es finden sich hingegen viele Antworten, die eine Irritation über die Darstellungskonvention des »weggewehten Daches« äußern, wie etwa: »Ich habe mit dem Raum gekämpft, da sich mir die Geometrie am Anfang nicht ganz erschlossen hatte« (Oe 2), »Ich habe versucht, die Perspektive des Bildes zu verstehen« (Oe 3), »Weiterhin war ich verwundert über das Gebäude, die Perspektive an sich. Ich habe etwas länger gebraucht, um festzustellen, dass es eine Art Terrasse war« (Oe 4), »Seltsame Darstellung des Hauses« (Oe 8), »Mehrere Etagen, Frau schläft im Wohnzimmer, Mann auf grünem Boden?« (Oe 16), »Das Bild ist räumlich gesehen eher unlogisch, da sie die Stiegen von der Tür aus hinunterläuft, die aber auf der Höhe des Raumes wieder enden und außerdem den Fliesen 1:1 gleichen« (Oe 18) und »Ich habe versucht, die Perspektive zu verstehen« (Oe 36). In der Gruppe ›Tokyo‹ hingegen wurde die Perspektive lediglich zweimal erwähnt, wobei sich in nur einer der beiden Antworten eine Irritation ausdrückt: »Der Auf bau des Hauses ist seltsam« (Jp 7). Nicht nur ist die Thematik von Cranachs Paradies in Österreich und die von Tosa Mitsuyoshis Genji in Japan heute auch noch bei Laien bekannt, sondern bestimmte Darstellungstraditionen wie etwa die Perspektive oder die Konvention, Gottvater als alten Mann darzustellen, wirken bis heute nach. Gleichzeitig führt eine unbekannte und eventuell noch nie gesehene Art einer Darstellungskonvention, wie etwa die Perspektive in Tosa Mitsuyoshis Genji,79 zu einem Irritationsmoment und einer Differenzerfahrung. In einem nächsten Schritt wurde der Versuch unternommen, die Erkenntnisse aus den oben analysierten Antworten mit dem Blickverhalten der Befragten in Verbindung zu bringen. Hinsichtlich Cranachs Paradies stellt sich die Frage: Lässt sich kulturell vermitteltes Wissen und die Vertrautheit mit der Konvention, Gottvater als alten Mann bzw. nur als Haupt im Himmel abzubilden, oder das Irritationsmoment, welches ohne diese Vertrautheit ausgelöst 79 Die Darstellung wird aus der Vogelperspektive dargeboten, der Standpunkt der Betrachtenden ist viel höher als das Dargestellte und bedient sich der Methode des »weggewehten Daches« (fukinuki yatai, siehe z.B. Kazuaki Komine, Wort und Bild in japanischen Bilderrollen, in: Ryozo/Teruaki/Voßkamp, Schriftlichkeit und Bildlichkeit, 167-180), die trotz des Blicks von oben einen Eindruck vom Inneren des Raumes erlaubt, indem das Dach wie bei einer Puppenstube entfernt und das Interieur mit Tatamimatten, Schiebetüren und bemaltem Stellschirm sichtbar wird.
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Abb. 12: Vergleich von Heatmaps, die die Verteilung der Fixationen über das Bild Paradies (vgl. Abb. 11) während der Gesamtbetrachtungszeit von zwei Minuten zeigen. Nicht eingefärbt sind Bereiche, auf die im Schnitt weniger als 50 Fixationen pro Minute gefallen sind. wird, in den Blickbewegungsdaten wiederfinden? Um diese Frage beantworten zu können, ist es sinnvoll, zusätzliche Visualisierungen, wie beispielsweise Heatmaps, zur detaillierteren Analyse heranzuziehen. Einen ersten Überblick zur Verteilung der Aufmerksamkeit bieten die beiden Heatmaps, welche die Anzahl der gemessenen Fixationen80 verbildlichen (Abb. 12). Dabei wurde als Schwellenwert (Threshold) 50 Fixationen pro Minute eingestellt. Das bedeutet, dass nur die Bereiche eingefärbt werden, auf die mindestens 50 Fixationen pro Minute gefallen sind. So können die Regionen im Bild identifiziert werden, die während der Betrachtung die meiste Aufmerksamkeit auf sich zogen. Der Vergleich macht deutlich, dass die Aufmerksamkeit beider Gruppen insbesondere auf der Figurengruppe im Vordergrund, aber auch auf den Szenen der Erschaffung Evas und dem Sündenfall lag. Innerhalb dieses Musters lässt sich feststellen, dass es auch einen Unterschied zwischen den Gruppen gibt: Die Aufmerksamkeit in der Gruppe ›Tokyo‹ war breiter gestreut, die Fixationen decken fast das gesamte Bild ab, während sie in der österreichischen Gruppe ganz klar auf den Figurengruppen und den Tieren (vor allem auf den Köpfen der Tiere) lagen.
80 Die Daten, welche bei der Aufzeichnung von Blickbewegungen erhoben werden, enthalten vor allem zwei Parameter: Fixationen und Sakkaden. Eine Fixation findet dann statt, wenn das Auge für eine längere Zeit stillsteht und scharf gesehen werden kann. Detaillierte Informationen zu Eye-Tracking finden sich bei Kenneth Holmqvist/Markus Nyström, Eye tracking. A comprehensive guide to methods and measures, Oxford 2011.
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Um statistisch verwendbare Werte für die einzelnen Bereiche im Bild zu erhalten, wurden mit der Auswertungssoftware Eyetrace81 sogenannte ›Areas of Interest‹ (im Folgenden mit ›AOI‹ abgekürzt) erstellt. Dieses Verfahren dient dazu, das Bild differenzierter zu erfassen und die Regionen zu analysieren, die von besonderem Interesse für die jeweilige Fragestellung sind. So wurde das Gemälde von Cranach in insgesamt drei AOI-Kategorien unterteilt: (1.) Alle Personen(gruppen), die als die wesentlichen Elemente der Narration bezeichnet werden können (dazu zählt auch die Darstellung vom Haupt Gottes), (2.) all diejenigen Tiere im Bild, die sich in der zuvor erstellten Heatmap als saliente, das heißt, rot eingefärbte Bereiche erwiesen hatten, und (3.) die Landschaft mit Wiese, Bäumen, den Felsen und dem Himmel. Eine Auswertung über die Gesamtbetrachtungszeit von zwei Minuten zeigt, dass die Gruppe ›Wien‹ im Durchschnitt am häufigsten auf die Personen-AOIs schaute, die Gruppe ›Tokyo‹ hingegen auf die Landschaft. Die statistische Analyse mit linearen Regressionen mit Cluster Korrektur82 ergibt für alle drei AOI-Kategorien signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen (Personen: t = 2.28, p = 0.025; Landschaft: t = 3.19, p = 0.000 und Tiere: t = 4.74, p = 0.000).83 Dies trifft nicht nur auf die Anzahl der Fixationen, sondern auch auf die Zeit zu, die durchschnittlich in diesen AOIs verbracht wurde (Personen: t = 3.44, p = 0.001; Landschaft: t = 5.73, p = 0.000 und Tiere: t = 6.58, p = 0.000). 81 Zum Programm: Thomas Kübler et al., Analysis of eye movements with Eyetrace, in: Ana Fred/Hugo Gamboa/Dirk Elias (Hg.), Biomedical Engineering Systems and Technologies (Communications in Computer and Information Science, 574), Basel 2015, 458-471; die Datenaufbereitung erfolgte mit einer Version vom 09.11.2016 mit folgenden Parametern für die Definition von Fixationen: max. Radius 100 px, min. Dauer 80 ms, Outlier: 2. 82 Ausgeführt mit dem Statistikprogramm STATA. In der linearen Regression wird der Zusammenhang einer abhängigen (quantitativen) Variablen und Erklärungsvariablen durch eine lineare Funktion modelliert. Das Alpha-Fehler-Inflations-Problem wurde über die Multikollinearitäts-Kontrolle gelöst. Wenn Variablen miteinander korrelieren, sind sie nicht unabhängig, haben folglich einen gemeinsamen Fehler und es müsste für diese Variablen eine Alpha-Korrektur stattfinden. Im Modell sollten deshalb keine Variablen sein, die zu stark korrelieren. Um dies herauszufinden, wurde die Varianz-Inflationsstatistik berechnet (VIF Statistik). Es wurde darauf geachtet, dass der Varianzinflationsfaktor nicht über 5 lag. Die Cluster-Korrektur bezieht sich auf Korrelationen innerhalb der Personen (Autokorrelation) und wird deshalb benötigt, da mehrere Beobachtungen pro Person vorliegen. 83 Der p-Wert gibt den Signifikanzwert an. Für das Signifikanzniveau wird typischerweise (und auch hier) ein Wert kleiner 0.05 gewählt. Wenn der für einen Test gefundene p-Wert < Alpha ist, gilt das Testergebnis als statistisch signifikant. Der t-Wert gibt die Größe der Differenz an.
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Die Analyse der Blickbewegungsdaten hinsichtlich ihrer Lokalisation und Akkumulation in Cranachs Paradies zeigt, dass sich die Gruppe ›Wien‹, im Vergleich zur Gruppe ›Tokyo‹, stärker auf die dargestellten Personen als auf deren Umgebung konzentrierte. Die österreichische Gruppe blickte öfter und länger auf die Personen- und auf die Tier-AOIs, wohingegen die japanische Gruppe öfter und länger auf die Umgebungs-AOI schaute. Dies kann möglicherweise mit dem oft geschilderten Versuch erklärt werden, die Szenen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Werden innerhalb dieses Unterschieds nur die Personen-AOIs untersucht, so ergibt die Analyse, dass die Aufmerksamkeit beider Gruppen hauptsächlich auf der Belehrungsszene im Vordergrund lag. Ein direkter Zusammenhang zwischen den Aussagen im Fragebogen, zum Beispiel hinsichtlich der Darstellung von Gottvater als altem Mann bzw. Kopf, einerseits und den Fixationen andererseits lässt sich nicht nachweisen. Die Heatmaps von Tosa Mitsuyoshis Genji (Abb. 13) zeugen ebenfalls von einer größeren Aufmerksamkeit in der Gruppe ›Tokyo‹ für die Umgebung, wie etwa die Rollos und Tatamimatten. Hier war eine Aufteilung in verschiedene AOIs nicht ganz einfach, es wurde in Personen, Objekte und Umgebung unterteilt. Unter Objekte fielen der blühende Baum, das Schreibset, der Papierbogen und das Blumen-Arrangement; als Umgebung wurde der Rest gezählt. Nach dieser Aufteilung ergab sich ein statistisch signifikanter Unterschied in der Kategorie ›Umgebung‹, dort fanden sich in der Gruppe ›Tokyo‹ mehr Fixationen als in der Gruppe ›Wien‹, die hingegen verstärkt auf die Personen und Objekte blickte, der Unterschied war jedoch geringer als bei dem Gemälde Cranachs (t = 1.99, p = 0.049).
Abb. 13: Vergleich von Heatmaps, die die Verteilung der Fixationen über das Bild Genji Monogatari während der Gesamtbetrachtungszeit von zwei Minuten zeigen. Nicht eingefärbt sind Bereiche, auf die im Schnitt weniger als 50 Fixationen pro Minute gefallen sind.
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Auch hier zeigt sich die Irritation in der österreichischen Gruppe nicht in den Blickbewegungsdaten, lediglich die Fixationen auf der Stütze des Hauses können einen Hinweis darauf geben, allerdings nur mit dem Wissen der Antworten im Fragebogen. Dies spricht einmal mehr für den Einsatz beider Erhebungsinstrumente als sich ergänzende Methoden, um möglichst viele Mosaiksteinchen zu erhalten, die dazu beitragen, zukünftig ein Gesamtbild der Kunstbetrachtung zusammensetzen zu können. Diese beiden doch sehr spannenden Irritationsmomente wären aus den Blickbewegungsdaten allein nicht ersichtlich gewesen. Ähnliches gilt für die visuelle Auswertung der Blickbewegungen bei Caspar David Friedrichs Watzmann, ein Beispiel für eine Landschaftsdarstellung im Bilderset der Studie. Die Heatmaps zeigen, dass die Steinformation und der Gipfel in beiden Gruppen in den ersten Sekunden der Betrachtung im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Eine lineare Regression ergibt für Anzahl und Dauer der Fixationen in diesen AOIs keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Hier liegt somit im Durchschnitt ein sehr ähnliches Blickverhalten vor. Die Richtung der Sakkaden84 unterscheidet sich jedoch, wie Abbildung 14 zeigt, deutlich: vom Vordergrund zum Hintergrund, von unten nach oben in der Gruppe ›Wien‹ und genau umgekehrt in der Gruppe ›Tokyo‹. Die mittels Eyetrace visualisierten Sakkaden-Cluster zeigen Blickbewegungen an, die in die gleiche Richtung gehen und sich auch vom Winkel her wenig (3°) unterscheiden (Abb. 14). Dargestellt wird ein Durchschnittswert aller Personen pro Gruppe, jeder Pfeil verdeutlicht ein Bündel (cluster) von Sakkaden. Die Unterschiede beziehen sich auf die ersten fünf Sekunden der Betrachtungszeit. Dieses Ergebnis ist auch statistisch signifikant, eine Analyse der Sakkadenrichtung zeigt, dass die Gruppe ›Wien‹ etwas häufiger von unten nach oben rechts blickte, wohingegen die Gruppe ›Tokyo‹ eher von 84 Aufgrund der Abtastungsrate (Samplingrate) des verwendeten Eye Trackers von 120 Hz, wird die Lage der Augen alle 8,3 Millisekunden aufgezeichnet. Die Sakkaden werden bei der Eventklassifikation in Eyetrace indirekt über die Fixationen bestimmt, so dass sie korrekterweise als ›Interfixationsintervalle‹ bezeichnet werden sollten. Da sich in der Literatur jedoch der Begriff der Sakkade durchgesetzt hat, wird er auch im Folgenden gebraucht. Um die Fehlklassifikation von Sakkaden zu vermeiden, wurde die Einstellung für die Dauer von Fixationen, in deren Abhängigkeit die Sakkaden-Klassifikation stattfindet, auf ein Minimum von 80 Millisekunden gesetzt. Eine Folgestudie zu Sakkaden wurde bereits mit einem Highspeed-Eye Tracker durchgeführt, welcher in der Lage ist, tatsächliche Sakkaden zu messen.
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Abb. 14: Caspar David Friedrich, Der Watzmann, Vergleich der SakkadenRichtung und -Länge als Sakkaden-Cluster in Eyetrace visualisiert, für die ersten fünf Sekunden der Betrachtungszeit. oben nach unten links schaute (t = 2.44, p = 0.016), was mit der jeweiligen Leserichtung konform gehen würde. Im Fragebogen erwähnten in der Gruppe ›Wien‹ zwei Personen die »Steinformation vorne in der Mitte« (Oe 38, Oe 50), als sie das Bild beschreiben sollten, in der Gruppe ›Tokyo‹ wurde diese bei der Bildbeschreibung einmal mit »angehäuften Steinen« (Jp 49) genannt. Bei der Frage, welche Gedanken den Teilnehmenden beim Betrachten des Gemäldes durch den Kopf gegangen waren, finden sich in der Gruppe ›Wien‹ keine Aussagen zur Steinformation im Mittelgrund, sie scheint keine besonderen Fragen oder Gedanken ausgelöst zu haben. In der Gruppe ›Tokyo‹ dagegen finden sich Antworten wie »Die Felsformationen vorne sehen wie Menschen oder andere Lebewesen aus« (Jp 9), »Die mittleren und linken Felsen sehen wie schlafende Riesen aus« (Jp 65), »Wofür stehen die angehäuften Steine?« (Jp 71), »Natürliche Berge versus künstlich angehäufte Steine« (Jp 72). Diese Antworten können einen Hinweis darauf geben, dass die Steinformation im Vordergrund in der Gruppe ›Tokyo‹ mehr Assoziationen und Fragen ausgelöst hat. Sie scheint die Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Die Unterschiede hinsichtlich der Sakkadenrichtung, die sich bei diesem Werk zeigen, legen den Schluss nahe, dass die Ursachen für diese Abweichungen weniger mit habitualisierten Sehgewohnheiten, die auf die Leserichtung zurückzuführen sind, zusammenhängen, sondern vielmehr auf Seite des Bildes zu suchen sind. Die Antworten auf die offenen Fragen können dabei eine Richtung weisen. Folgt man dieser Spur, so ist man geneigt, die Antworten mit der visuellen Kultur in Bezug zu setzen und kultu-
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Abb. 15: Suiseki, Stein-Landschaf t, in der Sammlung des National Bonsai and Penjing Museum, Washington, D.C. rell bedeutsame Elemente im Bild, wie dies etwa die Steinformation im Vordergrund sein könnte, mit den Blickbewegungen in Verbindung zu bringen. In diesem Sinne soll zum Abschluss ein etwas gewagter Vergleich angeführt werden: Erklärungsansätze für diesen Unterschied im Blickverhalten lassen sich möglicherweise in der tausend Jahre alten ästhetischen Wertschätzung von Steinen in Japan finden. Diese zeigt sich noch heute etwa in japanischen Gärten und der Kunst des Suiseki (Abb. 15). Dabei geht es um in der Natur vorgefundene Steine, die durch eine entsprechende Präsentation einen meditativen Charakter erhalten.85 Glaser schreibt in Bezug auf ›Ziersteine‹ in japanischen Gärten: Die rechte Kunst des Steinsehens wird keinem Europäer sich erschließen. Er sieht wohl die Merkwürdigkeit der Form, er hält sich gern an das Hineinsehen von Naturgebilden, wie es in spielerischen Benennungen einzelner Steine zum Ausdruck gelangt. Aber beides bedeutet nicht das Wesentliche. Und schwer nur begreift das ungeschulte Auge den Schönheitswert der abstrakten plastischen Form.86 85 Näheres zu Suiseki, vgl. Manette Gerstle, Beyond Suiseki. Ancient Asian Viewing Stones of the 21st Century, Arcata 2006. 86 Glaser, Die Kunst Ostasiens, 167.
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Dass Kunstwerke aufgrund eines kollektiven (Bild-)gedächtnisses auch kollektiv geteilte Assoziationen auslösen können, scheint naheliegend, wurde jedoch bislang nur unzureichend untersucht, vor allem hinsichtlich der Konsequenzen, die dies für die Kunstbetrachtung und den Blick hat. Der hier gewählte bedeutungstheoretische Kulturbegriff definiert Kollektive durch die Basis gemeinsamer Bedeutungshorizonte, gesteht ihnen jedoch eine Eigenständigkeit zu und verleugnet nicht »die Existenz von Universalien«.87 Aus der Forschungsfrage nach Varianzen visueller Kulturen ergibt sich bei dem Versuch, diese Varianzen zu fassen, eine erkenntnistheoretische Problematik, da es auch zur Herstellung und Tradierung eben dieser Differenzen durch das Design und die konkrete Durchformung der Untersuchung kommen kann. Die Gefahr, reduktionistische oder ethnozentrische Setzungen vorzunehmen und sie zu essentialisieren, lässt sich nur durch die Ref lexion der eigenen Perspektive und einer notwendigen Distanz zum Forschungsgegenstand vermeiden. Schließlich orientiert sich alles, was an einer Kultur als ›fremd‹ und ›anders‹ wahrgenommen wird, maßgeblich an dem, was als selbstverständlich und vertraut gilt. Was für die Frage nach Vertrautheit und Differenzerfahrung gilt, die zum einen Untersuchungsgegenstand war, sich zum anderen aber auch auf die Methode auswirken kann, betrifft auch visuelle Klischees, die das Japanbild im Westen, jedoch auch das Bild vom Westen in Japan prägen. Sie spiegeln sich nicht nur in den Antworten der Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer wider, sondern bis zu einem gewissen Grad auch in der Bildauswahl. »Bilder von ›Geishas‹, Samurais, Bogenbrücken, Teehäusern und dem Berg Fuji gehören seit dem 19. Jahrhundert zu den Grundmustern der westlichen Vorstellung von Japan.«88 Zwei japanische Teilnehmende bemerkten zur Auswahl der gezeigten japanischen Bilder im Hinblick auf Hokusai: »Ich habe früher gelernt, dass dieses Bild den Europäern sehr gut gefällt, aber um ganz ehrlich zu sein, habe ich persönlich nicht gefunden, dass es etwas Besonderes ist« (Jp 24) und »Ukiyo-e, ein japanisches Bild, das Ausländern gefällt« (Jp 11). Hier wäre es für zukünftige Studien lohnenswert, eine dritte Gruppe zu untersuchen, wie 87 Reinhard Bachleitner et al., Einleitung, in: ders. et al., Methodik und Methodologie interkultureller Umfrageforschung. Zur Mehrdimensionalität der funktionalen Äquivalenz, Wiesbaden 2014, 11-25, 17. 88 Claudia Delank, Japanbilder – Bilder aus Japan, in: Walter Gebhard (Hg.), Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation. Zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900, München 2000, 255-282, hier 255.
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dies auf theoretischer Ebene etwa im Hinblick auf arabisch geprägte visuelle Kulturen bereits geschehen ist.89 Aus forschungspraktischen Gründen hätte dies den Rahmen dieser Studie jedoch gesprengt.
V. Diskussion In Anlehnung an das vergleichende Sehen war das Ziel des Textes, Sehen zu vergleichen – genauer, das ›Kunstsehen‹ zu vergleichen. Die Visualisierungen der Blickbewegungsdaten wurden einander dabei ganz klassisch gegenübergestellt. Dass dies alleine nicht ausreicht, dürften die ergänzenden Auszüge aus der Nachbefragung gezeigt haben. Denn Sehen ist bekanntlich weit mehr, als Eye-Tracker erfassen können. Während von spezifischen Differenzerfahrungen beim Betrachten von Werken mit unbekannten Darstellungskonventionen zwar berichtet wurde, spiegelte sich diese Erfahrung nicht in der Aufmerksamkeitsverteilung der hier besprochenen Beispiele wider. Dafür finden sich andere feine Unterschiede im Blickverhalten, die in zukünftigen Studien näher untersucht werden könnten, wie etwa die breitere Verteilung der Fixationen in der Gruppe ›Tokyo‹ und die gegenläufigen Sakkadencluster im Beispiel von Friedrich. Ein großer Unterschied in der Betrachtung zeigt sich bei der Aufmerksamkeitsverteilung in Cranachs Paradies. Dieses Bild ist durch die polychrone Narration ein Sonderfall und nicht direkt mit dem Werk von Tosa Mitsuyoshi vergleichbar, welches zwar auch eine bekannte Narration und mehrere Personengruppen darstellt, jedoch keine unterschiedlichen zeitlichen Momente. Diese Besonderheit wirkt sich bei entsprechendem Wissen auf die Betrachtung aus. Da sich die Chronologie insbesondere über die Figurengruppen erschließt, konzentrierte sich die Gruppe ›Wien‹ stärker auf die biblischen Szenen als die Gruppe ›Tokyo‹, die ihre Aufmerksamkeit mehr auf die Umgebung richtete. Bei der Betrachtung des ›Genji‹-Bildes zeigt sich ebenfalls eine Tendenz in der Gruppe ›Tokyo‹, öfter und länger auf die ›Umgebungs‹-AOI zu blicken, und in der österreichischen Gruppe, öfter und länger auf die dargestellten Personen, wenn auch in einem geringeren Ausmaß 89 Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008; Gülru Necipoğlu, The Scrutinizing Gaze in the Aesthetics of Islamic Visual Cultures: Sight, Insight, and Desire, in: Muqarnas. Gazing Otherwise: Modalities of Seeing In and Beyond the Lands of Islam 32 (2015), 23-61.
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als bei Cranachs Paradies. Hier wäre in einer Folgestudie zu untersuchen, wie sich das Blickverhalten beider Gruppen bei einer polychronen Darstellung einer in Japan bekannten Narration unterscheidet. Festzuhalten ist, dass die Assoziationen innerhalb der Gruppen bei den beiden abstrakten Werken heterogener waren als bei den gegenständlichen. Bei Wassily Kandinskys Werk Einige Kreise von 1926 hatte fast die Hälfte aller Personen in beiden Gruppen die gleichen gedanklichen Verknüpfungen (Weltraum, All, Gestirne). Bei der Betrachtung von Karl Otto Götz’ Werk Bild vom 5.2.1953 teilten ebenfalls mehrere Personen ähnliche Überlegungen, jedoch zu wenige, um fundierte Schlüsse ziehen zu können. Gemeinsam waren lediglich einige wenige Antworten, die ein Nicht-Verstehen oder eine Ablehnung des Werkes zum Ausdruck brachten. In der Gruppe ›Tokyo‹: »Zeitgenössische Kunst, ich begreife es nicht« (Jp 15), »Verstehe den Sinn überhaupt nicht« (Jp 19), »Ich verstehe abstrakte Malerei prinzipiell nicht so gut« (Jp 29), »Ich habe darüber nachgedacht, was es bedeuten könnte, aber weil es so abstrakt ist, verstehe ich es ganz und gar nicht« (Jp 60) und in der Gruppe ›Wien‹: »Das kann ich auch, da ist nix dahinter oder zumindest mir nicht zugänglich« (Oe 17), »Ich habe mir ganz allgemein Gedanken darüber gemacht, was Kunst überhaupt ist« (Oe 20), »Ganz ehrlich: was soll daran Kunst sein? Keine schönen Farben oder Formen, keine Ästhetik. Für mich ist das Mist« (Oe 21) und »Ich weiß nicht genau, was ich mit abstrakter Kunst anfangen soll und ab wann Bilder, die nur Pinselstriche enthalten, als Kunst gelten« (Oe 24).90 Die Heatmaps zu diesen Werken zeigen über die Gesamtbetrachtungszeit von zwei Minuten hinweg eine sehr ähnliche Aufmerksamkeitsverteilung in den Gruppen mit dem Trend zu einer großf lächigeren Verteilung der Aufmerksamkeit in der Gruppe ›Tokyo‹, die statistisch jedoch nicht signifikant ist. An dieser Stelle soll auch darauf hingewiesen werden, dass die Betrachtenden zwar hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bildungsstand und dem Wohnort in einer Großstadt vergleichbar waren, es sich aber selbstverständlich um keine homogenen Gruppen handelt und abstrakte Werke 90 Es wurde bereits der Nachweis erbracht, dass sich Persönlichkeitseigenschaften, wie etwa ›Offenheit für neue Erfahrungen‹, auf die Bewertung von abstrakter Kunst auswirken. Da ein Persönlichkeitsfragebogen durchgeführt wurde, konnte der statistische Zusammenhang zwischen dem Persönlichkeitsmerkmal ›Offenheit‹ und der Variable ›Gefallen‹ in Bezug auf die abstrakten Werke überprüft werden. Der Korrelationskoeffizient ist 0.1188, was auf einen positiven, wenn auch sehr schwachen Zusammenhang schließen lässt.
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möglicherweise mehr individuelle und persönliche Erfahrungen evozieren. Auch ein spezifisches Wissen zu diesen Werken schien in beiden Gruppen gleich wenig vorhanden zu sein. Rein visuell konnten beide Gruppen gleichermaßen vertraute wie unbekannte Elemente ausmachen, da die Bilder weder inhaltlich noch formal spezifisch für eine der beiden visuellen Kulturen sind und sich deshalb gut für eine Überprüfung eignen. Den abstrakten Bildern kann eine gewisse ›Widerspenstigkeit‹ hinsichtlich einer eindeutigen Zuordnung attestiert werden,91 was freilich auch für Friedrichs Watzmann gilt. Mit Friedrich verhält es sich in Japan ganz ähnlich wie mit Hokusai in Österreich, er gilt als einer der beliebtesten deutschen Künstler.92 Im Jahr 1978 gab es in Tokyo und Kyoto große Friedrich-Retrospektiven und in der Folge einige japanische Publikationen zu seinem Leben und Werk.93 2005 fand erneut eine Ausstellung statt. Ein Grund für die große Beliebtheit Friedrichs in Japan kann in seiner Darstellung der Perspektive(n) ausgemacht werden. So verweigert er sich der Linearperspektive und erzeugt stattdessen eine ›Polyperspektivität‹ mit beweglichen Betrachtungsstandpunkten, ähnlich wie in ostasiatischen Darstellungen.94 Umgekehrt wurde bereits auf die westliche Art der Perspektive in einigen von Hokusais Holzschnitten verwiesen.95 Während sich bei Hokusai tatsächlich der Einf luss westlicher Kunst bemerkbar macht, was im Sinne eines Kulturtransfers gesehen werden kann, ist die Stimmung, die in Friedrichs Landschaften zum Tragen kommt, durch die romantische Naturauffassung beeinf lusst. Dass in der Wirkung dieser 91 Vergleichbar mit kalligrafischen Werken, die die Spur des Pinsels bewusst zeigen, ist auch in Götz’ Bild die Art der Herstellung noch sichtbar. Westgeest weist jedoch darauf hin, dass Götz’ Bilder zwar Assoziationen mit Zen-Kunst zulassen, jedoch »keinerlei Bezug zur Technik japanischer Kalligraphie besteht«. Helen Westgeest, Zen und nicht Zen. Zen und die westliche Kunst, in: Hans Günter Golinski/Sepp Hiekisch-Picard/Helen Westgeest (Hg.), Zen und die westliche Kunst, Köln 2000, 61-111, hier 85. 92 Momoko Ochiai, Die Rezeption von Caspar David Friedrich in Japan, in: 3. deutsch-japanisch-koreanisches Stipendiatenseminar (Veröffentlichungsreihen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin) 2010, 157-165. 93 Hans Joachim Neidhardt, Friedrich in Japan. Gedanken zur japanischen Naturauffassung anläßlich einer Ausstellung romantischer Malerei in Tokyo und Kyoto, in: Dresdener Kunstblätter 22 (1978), 109-115. 94 Beatrice Nunold, Landschaft als Topologie des S(ch)eins, in: IMAGE – Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 11 (2009), 52-81. 95 Z. B.: Endre E. Kadar/Judith A. Effken, Paintings as Architectural Space: »Guided Tours« by Cézanne and Hokusai, in: Ecological Psychology 20 (4/2008), 299-327.
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beiden doch sehr unterschiedlichen Landschaftsdarstellungen gewisse Gemeinsamkeiten ausgemacht werden können, lässt darauf schließen, dass es sich auch bei einem experimentellen Untersuchungsdesign mit ›westlichen‹ und ›japanischen‹ Bildern ein Stück weit um eine Idealvorstellung handelt, die einzelnen Aspekte streng voneinander trennen zu können. Die betrachteten Kunstwerke stellen die »Polarität binärer Differenzen«96 selbst in Frage, da sich in ihnen eine kulturelle Vermischung findet, die die Realität eines Kulturaustauschs und -transfers, aber auch die Widerspenstigkeit gegen eine eindeutige Einordnung offenlegt. Eine derartige Widerspenstigkeit ist vielen Kunstwerken inhärent, sie entziehen sich einer eindeutigen Klassifikation, was der Grund dafür ist, warum in vielen psychologischen Studien das Bildmaterial häufig manipuliert und ›vereinheitlicht‹ wird. Eine Arbeit mit ›echten‹ Kunstwerken, wie sie meiner Meinung nach für die Kunstwissenschaften sinnvoll ist, bringt »die ursprünglich eingeschriebene Differenz ins Oszillieren, ohne sie jedoch aufzulösen.«97 Diese Widersprüchlichkeiten sollen für Forschung dieser Art nicht negiert, sondern ref lektiert werden, so dass die Varianz, die Diversität, aber vor allem auch die Gemeinsamkeiten bei der Kunstbetrachtung vor diesem dynamischen Hintergrund kultureller Transformationen untersucht und interpretiert werden können.
96 Klaus Lösch, Begriff und Phänomene der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte, in: Lars Allolio-Näcke/Britta Kalschauer/Arne Manzeschke (Hg.), Dif ferenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdif ferenz, Frankfurt a.M. 2005, 22-45, hier 27. 97 Lösch, Begriff und Phänomene der Transdifferenz, passim.
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Literatur Arnason, Johann P., Is Japan a civilization sui generis?, in: Japanstudien 14 (1/2002), 43-68. Arnason, Johann P., Comparing Japan: The Return to Asia, in: Japanstudien – Jahrbuch des Deutschen Instituts für Japanstudien der Philipp Franz von Siebold Stiftung, München 1998, Bd. 10, 33-54. Bachleitner, Reinhard et al., Einleitung, in: ders. et al., Methodik und Methodologie interkultureller Umfrageforschung. Zur Mehrdimensionalität der funktionalen Äquivalenz, Wiesbaden 2014, 11-25. Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. New Orientations in the Study of Culture, Berlin/Boston 2016. Bader, Lena, Bricolage mit Bildern. Motive und Motivationen vergleichenden Sehens, in: dies./Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, München 2010, 16-42. Bartmann, Sylke/Immel, Oliver, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Vertraute und das Fremde. Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs, Bielefeld 2012, 7-18. Baxandall, Michael, Fixation and Distraction. The Nail in Braque’s Violin and Pitcher (1919), in: John Onians (Hg.), Sight & Insight. Essay on Art and Culture in Honour of E. H. Gombrich at 85, Oxford 1994, 399-415. Baxandall, Michael, Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1972. Baxandall, Michael/Smith, Cándida Richard, Substance, Sensation, and Perception. Michael Baxandall Interviewed by Richard Cándida Smith, 1998, in: Getty Research Institute Archive, URL: http://archives.getty. edu:30008/getty_images/digitalresources/spcoll/gri_940109_baxandall_ transcript.pdf [letzter Zugriff: 10.01.2022]. Belting, Hans, The Gaze in the Image: A Contribution to an Iconology of the Gaze, in: Bernd Hüppauf/Christoph Wulf (Hg.), Dynamics and Performativity of Imagination: The Image between the Visible and the Invisible, London/ New York 2009, 93-115. Belting, Hans, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008. Boland, Julie E./Chua, Hannah F./Nisbett, Richard E., How We See It: Culturally Different Eye Movement Patterns over Visual Scenes, in: Keith
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Abbildungsnachweis Abb. 1 und 2: © CD-Cover der japanischen Metal Band Onmyōza, erschienen am 24. September 2014 bei King Records Japan. https://www.discogs. com/de/release/6216719-陰陽座-雷神創世/image/SW1hZ2U6MTUxMD U4OTM= [letzter Zugriff: 08.03.2022]. Abb. 3 und 4: © Sanjūsangen-dō, Scan aus dem Tempelkatalog. Abb. 5: © Wikimedia Commons. Abb. 6: © Ellen von Unwerth/Trunk Archive. Abb. 7: © Wikimedia Commons.
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Abb. 8: Still aus dem Spiel Emakimono von Handsome Dragons Games, 2015, Screenshot. Abb. 9: Tosa Mitsuyoshi, Illustration des Genji Monogatari: Bd. 4, Blue Trousers Scroll C, Scene 2, 17. Jh., Farbe und Platin auf Papier, 26,67 cm hoch. Seattle © Seattle Art Museum. Eugene Fuller Memorial Collection 52.40.4. Abb. 10: Panels aus dem Manga The Tale of Genji: Flowers von Yamato Waki, 1993, Fotos: René Steyer. Abb. 11: © KHM-Museumsverband. Abb. 12: Vergleich von Heatmaps. Eigene Darstellung im Programm Eyetrace. Abb. 13: Vergleich von Heatmaps. Eigene Darstellung im Programm Eyetrace. Abb. 14: Vergleich der Sakkaden-Richtung und -Länge als Sakkaden-Cluster, eigene Darstellung im Programm Eyetrace. Abb. 15: © Wikimedia Commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Cape_San_Martin_suiseki,_October_10,_2008.jpg, »Cape San Martin sui seki, October 10, 2008«, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/ legalcode.
Bildschein und Begriffserfindung 1 Wolfram Pichler
»Jedem Irrtum der Sinne entsprechen seltsame Blumen der Vernunft.« Louis Aragon Abstract: Dass sie von diskursiven Rahmungen beeinflusst und gelenkt werden kann, gilt für die Bildbetrachtung genauso wie für andere Arten von Wahrnehmung. Hingegen gehört es zu den Eigentümlichkeiten der ersteren, dass sie ihrerseits auf ihre diskursiven Umgebungen Druck auszuüben vermag. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn man sich auf so problematische Gegenstände wie Bildgesichter, Bildtiere, Bildpflanzen… und Bildräume bezieht, denen man keine Existenz zuschreiben kann, ohne begriffliche Hintergrundannahmen in Frage zu stellen. Dieses gespannte Verhältnis von Bild und Diskurs wird im nachstehenden Text als ›Bildspannung‹ bezeichnet. Gezeigt werden soll, dass damit auf sehr unterschiedliche Weise umgegangen werden kann, sei es, (1) dass man sich auf die problematischen Bildinhalte nur in fiktionaler Redeweise bezieht, (2) Begriffsanpassungen vornimmt, um die Spannung aufzulösen, oder (3) dass man die unaufgelöste Spannung als solche zu einem Gegenstand ästhetischer Erfahrung macht.
1 Für wichtige Hinweise und Denkanstöße danke ich Johannes Grave, Richard Heinrich, Joris Corin Heyder, Helga Lutz, Aloisia Moser, Jakob Moser, Omar Nasim, Alina Payne, Esther Ramharter, Werner Rappl, Raphael Rosenberg, Klaus Speidel, Christopher Wood und Ralph Ubl. Entscheidend für die Konzeption des Aufsatzes waren Anregungen, die ich von Franz Josef Czernin erhalten habe. Ihm sei der Text gewidmet. Für etwaige Fehler und Missverständnisse trage selbstverständlich ich allein die Verantwortung. – Eine Kurzfassung des zentralen Arguments, die auch mit einer Akzentverschiebung einhergeht, wurde mittlerweile publiziert u. d. T. „How to Make Images Real“, in: Krešimir Purgar (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Image Studies, Cham 2021, 547-556.
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I. Das Problem der Bildspannung Viele Dinge, die heute als ›Bilder‹ bezeichnet werden, sind dadurch charakterisiert, dass sie mit Klassifikationsproblemen einhergehen. Ein Beispiel aus der Ägyptischen Sammlung des Kunsthistorischen Museums in Wien mag dies verdeutlichen (Abb. 1). Gut möglich, dass schon die Wahl des Beispiels einen Einspruch provoziert: »Aber das ist doch gar kein Bild!« Wenn dadurch am Anfang des vorliegenden Textes eine Irritation entsteht, so wird dieser Nachteil durch die Erinnerung an einen bedenkenswerten Umstand aufgewogen: Man ist sich über den Gebrauch des Wortes ›Bild‹ in der deutschen Sprache selten einig – nicht einmal im relativ eng begrenzten Bereich der sogenannten materiellen Bilder. Einerseits steht zu vermuten, dass dieses Wort heute von den meisten Sprachteilnehmern primär auf ›Flachbilder‹ bezogen wird, also auf Gemälde, Grafiken, Fotografien und nicht zuletzt Bildschirmbilder. Andererseits wurde und wird das Wort ›Bild‹ im Deutschen (genauso wie seine Entsprechung ›imago‹ im Lateinischen2) auch im Zusammenhang mit rundplastischen Gebilden gebraucht, und dieser Sprachgebrauch ist keineswegs ganz verschwunden. Beweis: In der deutschsprachigen Ägyptologie wurde zwischen ›Flachbildern‹ und ›Rundbildern‹ unterschieden; die Sache, mit der wir es hier zu tun haben, wäre demnach als ›Rundbild‹ zu bezeichnen.3 Auch der Verfasser dieser Zeilen gehört zu denjenigen, die das Wort ›Bild‹ so gebrauchen: Der Begriff schließt für ihn neben den Flachbildern auch Reliefs und rundplastische Werke mit ein. Mit diesen Schwankungen im Wortgebrauch haben die eingangs erwähnten Klassifikationsprobleme freilich gar nichts zu tun. Sie treten auch dann auf, wenn man es vorzieht, eine Sache wie diese hier (Abb. 1) nicht als Bild zu bezeichnen. Denn worum handelt es sich? Sicherlich um ein von einem Künstler bearbeitetes Stück Stein. Das Material lässt sich näher als Kalkstein bestimmen. Evident ist auch, dass der Stein auf kunstvolle Weise in die Form eines menschlichen Kopfes gebracht wurde. Kein Zweifel, wir haben es mit einer Skulptur zu tun. Können wir das Ding darüber hinaus auch, wie es seine Form nahelegt, als Menschenkopf bezeichnen? Dagegen spricht Einiges. Das 2 Vgl. etwa Maurizio Bettini, Death and its Double. Images, Ridiculum and Honos in the Roman aristocratic funeral, in: Katariina Mustakallio et al., (Hg.), Hoping for Continuity: Childhood, Education and Death in Antiquity and in the Middle Ages, Rom 2005, 191-202. 3 Vgl. Heinrich Schäfer, Von ägyptischer Kunst. Eine Grundlage, hg. von Emma Brunner-Taut, Wiesbaden 1963.
Bildschein und Begriffserfindung
Wort ›Menschenkopf‹ wird doch meist so verstanden, dass es einen bestimmten Teil eines menschlichen Körpers bezeichnet – eines Körpers, der einmal geboren wurde und gewachsen ist und früher oder später sterben wird. Ein Menschenkopf muss, diesem vermutlich weit verbreiteten, ja vorherrschenden Wortverständnis zufolge, zwar nicht unbedingt lebendig sein: Er kann auch zu einer Leiche gehören oder, vom Körper abgetrennt, als Kopftrophäe in Anspruch genommen worden sein. Das ist leider alles möglich und oft ge- Abb. 1: Ersatzkopf, ägyptisch, aus nug Realität. Hingegen hätte man wohl Gizeh (Mastaba G. 4350), ca. 2600 immer noch Schwierigkeiten zu sagen, v. Chr., Kalkstein, 27,7 x 17,3 x Menschenköpfe würden von Menschen 24,5 cm. Wien, Kunsthistorisches hergestellt. Daran dürfte auch der wach- Museum, ÄS 7787. sende Einf luss der Gentechnik noch nichts geändert haben. Wenn es sich aber so verhält, dann lässt sich der skizzierte Begriff vom Menschenkopf auf das Stück aus dem Kunsthistorischen Museum nicht anwenden, jedenfalls nicht vorbehaltlos. Die Genese des Dings – es ist zweifellos ein Artefakt – und der Stoff, aus dem es besteht – wie gesagt: Kalkstein –, sprechen deutlich gegen eine solche Klassifikation. So lässt sich beobachten, dass eine durch die Form des Dings nahegelegte Klassifikation durch andere, am selben Ding zu beobachtende Merkmale dementiert wird. Solche widerstreitenden Merkmale oder Momente sollen im Folgenden ›Kontraindikationen‹ genannt werden, und der dadurch bestrittenen Klassifikator – in diesem Fall: ›Menschenkopf‹ – soll ›kontraindiziert‹ heißen.4 Außerdem sei vereinbart, die daraus resultierende Spannung – eine Klassifikation wird nahelegt und zugleich in Frage gestellt – als ›Bildspannung‹ zu bezeichnen. Das hilft, die Frage zu formulieren, auf die der vorliegende Aufsatz eine Antwort zu geben versucht: Untersucht werden soll, wie 4 Vgl. Wolfram Pichler/Ralph Ubl, Images without Objects and Referents? A Reply to Étienne Jollet’s Review of our Bildtheorie zur Einführung, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 81 (1/2018), 418-424, hier 418.
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man als sprechendes Wesen mit solchen Bildspannungen umgehen kann, ohne gegen das oberste Vernunftprinzip, den Satz vom Widerspruch, zu verstoßen. Ein wesentlicher Teil des Aufsatzes wird dem Nachweis dienen, dass es dafür mindestens zwei grundverschiedene Methoden gibt. Die Zweizahl wird hier deshalb betont, weil einer der beiden Wege, so bedeutsam er in bildtheoretischer Beziehung sein mag, dennoch leicht übersehen wird – vielleicht, weil er sich überhaupt erst auf der Grundlage Abb. 2: Kopf eines alten Mannes, einer entwickelten bildtheoretischen Beägyptisch, ca. 3. Jh. vor Chr., griff lichkeit beobachten lässt. Siltstein, 31,3 x 15 x 14,5 cm. Wien, Bevor die Untersuchung aufgenomKunsthistorisches Museum, ÄS 42. men werden kann, bedarf der Begriff der Bildspannung freilich noch einer gewissen Klärung und vor allem Differenzierung. Lässt man den kopfförmigen Kalkstein hinter sich und bewegt sich tiefer in die Ägyptische Sammlung des Kunsthistorischen Museums hinein, wird einem bald das folgende, ebenfalls eindrucksvolle Stück begegnen (Abb. 2). Wieder handelt es sich um einen kunstvoll in die Form eines Kopfes gebrachten Stein, nur dass das Material diesmal grau ist und sich näher als Siltstein bestimmen lässt. Das dichte Material kommt auch wegen der Bruchstellen wunderbar zum Ausdruck. Diese Stein-Evidenz widerstreitet der – allerdings ebenfalls markanten – Kopf-Evidenz. Es baut sich eine erhebliche Bildspannung auf, denn dem »Was für ein Kopf!« antwortet ein ebenso emphatisches »Was für ein Stein!« Dieses zweite Stück ist im gegebenen Zusammenhang aber vor allem deshalb von Interesse, weil sich daran beobachten lässt, wie zum Widerstreit zwischen Stein-Sein vs. Kopf-Sein (oder Artefakt-Sein vs. Kopf-Sein) eine zusätzliche Diskrepanz hinzutritt – eine, die nicht genau demselben Register anzugehören scheint. Beim Anblick dieses Kopfes, der in gewisser Weise gar keiner ist, entsteht, speziell bei den Wangen und Lippen, der Eindruck von etwas Weichem. Diese Weichheit und auch eine gewisse Art von ›mimischer Anspannung‹ meint man zu sehen – ungeachtet der Tatsache, dass man sich andererseits des Eindrucks nicht erwehren kann, dass der in diese Form ge-
Bildschein und Begriffserfindung
brachte Stein hart ist, dass sich diese Härte tastend bestätigen ließe und dass es für die Anspannung, die etwa bei den Lippen zu bemerken ist, im Material keine Entsprechung gibt. So macht sich auf einer mit der Sinnlichkeit eng verwobenen Ebene des Bewusstseins ein Widerstreit zwischen weich und hart geltend. Um dergleichen theoretisch präzise zu fassen, empfiehlt es sich, zwei verschiedene Arten von Bildspannung zu unterscheiden, eine externe und eine interne. Von ›externer‹ Bildspannung soll immer dann gesprochen werden, wenn der kontraindizierte Klassifikator ein Allgemeinbegriff vom Typ ›Mensch‹, ›Kopf‹, ›Krokodil‹, ›Baum‹ und so weiter ist, wenn es sich dabei also um einen Substanzbegriff im Sinne von Aristoteles handelt oder um etwas nahe Verwandtes. Ist der kontraindizierte Klassifikator hingegen von qualitativer Art, wie es bei ›weich‹ oder ›hart‹ der Fall ist, soll von einer ›internen‹ Bildspannung die Rede sein. Solche internen Bildspannungen treten in vielen verschiedenen Varianten auf. Aus kontingenten Gründen wurde hier vom Gegensatz weich/hart ausgegangen, die geläufigsten Beispiele verweisen aber auf den Phänomenbereich ›Bildraum‹ und lassen sich auf den Gegensatz tief/f lach zurückführen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Mehr oder weniger vertraut sind auch Spannungen zwischen leicht und schwer, bewegt und unbewegt, glänzend und matt etc. Oft quert die Spannung die Grenze zwischen zwei Sinnesmodalitäten, aber das ist nicht notwendig so. Was gerade anhand des zweiten Bildbeispiels beschrieben und als ›interne Bildspannung‹ bezeichnet wurde, lässt sich hoffentlich leicht mit einem altbekannten Phänomen identifizieren, das man im Fach Kunstgeschichte gewöhnlich unter dem Titel ›Illusion‹ oder ›Illusionismus‹ diskutiert. Wenn es beispielsweise einem Bildhauer wie Edme Bouchardon gelingt, Marmor wie etwas Biegsames, Elastisches aussehen zu lassen (man denke an seine berühmte Statue L’amour se faisant un arc dans la massue d’Hercule von 1750), ist das Illusionismus – und zugleich ein Beispiel für interne Bildspannung. Hingegen hängt die externe Spannung mit jenem Problemkomplex zusammen, der in der kunsthistorischen Literatur gewöhnlich unter dem Titel ›Figurationʻ verhandelt wird. Die Unterscheidung zwischen externen und internen Spannungen findet ihre Entsprechung daher in der Differenz von Figuration und Illusion.5 5 Zur wichtigen, in der deutschsprachigen Diskussion vielleicht nicht hinreichend beachteten Unterscheidung von Figuration und Illusion bzw. figuration vs. representation vgl. etwa Clement Greenberg, Collage (1959), in: Clement Greenberg, Art and Culture. Critical Essays, Boston 1984, 70-83; Richard Wollheim, Painting as an Art, London 1987, 21.
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Darüber gäbe es viel zu sagen, es soll hier jedoch nur festgehalten werden, dass interne Bildspannungen weitgehend unabhängig von externen Bildspannungen, also auch unabhängig von ›Figuration‹ auftreten können. Beim barocken Treppengeländer des Schlosses Mirabell in Salzburg zum Beispiel (Abb. 3) sieht etwas Steinernes so aus, als ob es elastisch und bewegt wäre, man kann eine Art wellenförmiger Bewegung erkennen, ja es ist, als ob sich das Geländer selber die Treppe hinaufschwingen wollte. Die Rede ist hier, wohlgemerkt, vom Geländer, diesem merkwürdigen Mittelding aus architektonischer Form und Ornament, nicht von den darauf turnenden Putti. Dieses wunderbar beschwingte Gebilde lebt offenbar vor allem von internen Bildspannungen; Figuration spielt zwar in Form vegetabiler Details und Anmutungen herein, bleibt insgesamt aber nebensächlich. Der Begriff der Bildspannung und die daran vorgenommene Binnendifferenzierung werden hoffentlich noch deutlicher werden, wenn nun der angekündigte Versuch unternommen wird, zwei verschiedenartige Wege aufzuzeigen, wie man mit Bildspannungen umgehen kann, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln.
Abb. 3: Johann Lukas von Hildebrandt, Treppenhaus des Schlosses Mirabell in Salzburg, ab 1722.
Bildschein und Begriffserfindung
II. Zwei Lösungswege Der erste Lösungsweg6 ist derjenige der ›Fiktionalisierung‹ und dürfte wenigstens in Grundzügen vertraut sein. Fiktionalisierung bedeutet, dass man kontraindizierte Klassifikationen zurücknimmt, nicht aber aus dem Diskurs ausscheidet, sondern im Modus des Als-ob weiter prozessiert. Die relevante gesellschaftliche Praxis wird in der Theorie ›perceptual game of makebelieve‹ oder ›auf Wahrnehmung beruhendes Fiktionsspiel‹ genannt und ist zweifellos alt, auch wenn eine sorgfältige rationale Rekonstruktion – wir verdanken sie dem amerikanischen Philosophen Kendall Walton – erst vor relativ kurzer Zeit versucht wurde.7 Bilder sind nach Walton dadurch charakterisiert, dass sie als »props« in »games of make-believe« dienen, also die Funktion von Requisiten in Fiktionsspielen übernehmen. Die Bildbetrachtung versteht Walton als eine durch solche Requisiten gesteuerte intersubjektiv teilbare Form des Imaginierens. Wir stellen uns nicht einfach einen Kopf vor, schließen beim Imaginieren auch nicht etwa die Augen, sondern betrachten ein Ding, das uns hilft, sehend einen Kopf zu imaginieren, Beobachtungen an ihm anzustellen und uns darüber auszutauschen. Wenn ich angesichts des in Kopfform gebrachten Kalksteins (Abb. 1) zum Beispiel von ebenmäßigen Gesichtszügen, fein geschnittenen Augen und einer enganliegenden Kopf bedeckung spreche, weiß man ziemlich genau, was gemeint ist und kann entscheiden, ob man zustimmen möchte oder nicht. Gelegentlich kommt es vielleicht auch vor, dass man einen Stein wie diesen grüßt und so tut, als ob man eine Reaktion erwartete und beleidigt wäre, weil sie ausbleibt, und so weiter. Die Intersubjektivität des Spiels bleibt aber nur gewahrt, solange man nicht zum freien Phantasieren übergeht. Wenn ich jetzt zum Beispiel sage: »Lieber Kopf, weshalb errötest Du?« und den Einwand »Aber er ist doch immer noch leichenblass!« nicht gelten lasse, kann es dazu kommen, dass das Spiel den Kontakt mit dem Requisit und auf diese Weise überhaupt seine Form verliert. Das Spiel beruht also unter anderem darauf, dass man sich beim Imaginieren von den Wahrnehmungsangeboten des Requisits lei6 Dieser Abschnitt und der folgende beziehen Passagen eines kürzeren Aufsatzes des Verfassers ein, der sich speziell mit dem Problem des Bildraums auseinandersetzt: Wolfram Pichler, How to enter image-space, in: Res. Anthropology and aesthetics 71/72 (2019), 325-332. 7 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge/Mass./London 1990.
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ten lässt. Das Requisit dient dann als ›Bildvehikel‹, das den Zugang zu einem ›Bildinhalt‹ eröffnet. Ein solcher Bildinhalt kann ein einfaches Bildobjekt sein – im gegebenen Fall ist es ein Bildkopf –, es kann sich aber auch um einen von Bildobjekten bevölkerten Bildraum oder eine Szene handeln.8 Die von Kendall Walton in idealtypischer Form beschriebenen Fiktionsspiele werden, um dies noch einmal zu betonen, von Bildvehikeln gesteuert, wofür Steine ebenso in Frage kommen wie Wolken oder bemalte Leinwände oder ref lektierende Schirme etc. Diese Steuerung ist eine wesentliche Bedingung dafür, dass das Imaginieren zu einer sozialen Praxis werden und zum Auf bau fiktiver Welten beitragen kann. Als zusätzliche Regel kann hinzukommen, dass man sich beim Imaginieren an Erwartungen orientiert, die sich von realen Objekten der jeweiligen Art herleiten. Dann benützt man den Kalkstein nicht etwa, um einen unwahrscheinlich blassen, ja farblosen Kopf zu imaginieren, sondern man blendet das, was mit den Erwartungen an Menschenköpfe kollidiert, aus und abstrahiert vom Weiß des Bildvehikels. Dieses Weiß kommt dann zwar nicht mehr als Farbe (oder Farblosigkeit) des Bildkopfs in Frage, kann aber gerade deshalb auf anderen Ebenen bedeutsam werden, beispielsweise indem es Begriffe wie ›Reinheit‹ konnotiert. Wird von einer sinnlichen Qualität des Bildvehikels auf solche Weise abstrahiert, tritt die Differenz zum Bildinhalt – also zu dem, was mit Hilfe dieses Vehikels imaginiert wird – umso deutlicher hervor. Ich schaue den Stein eben nicht einfach nur an, sondern benütze ihn, um offenen Auges und bestimmten Regeln folgend (vielleicht ohne mir dieser Regeln bewusst zu sein) ein Bildobjekt zu imaginieren. Ein Wort noch zu den pragmatischen Kontexten, in denen Bild-Praktiken, die sich als Fiktionsspiele deuten lassen, vorkommen. Wenn Kendall Walton von »games of make-believe« spricht, so soll dies nicht zur Annahme verleiten, es ginge dabei um etwas rein Spielerisches und daher Unverbindliches. Fiktionsspiele können in den unterschiedlichsten Zusammenhängen wichtige Aufgaben übernehmen: nicht nur in ästhetischen, sondern auch in epistemischen, politischen oder kommunikativen. Oft sind dabei bestimm-
8 Zu den Begriffen ›Bildvehikel‹, ›Bildinhalt‹, ›Bildobjekt‹ und ›Bildraum‹ vgl. Wolfram Pichler/Ralph Ubl, Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014 sowie Wolfram Pichler, Vehikel, Inhalt, Referent: Grundbegriffe einer Bildtheorie, in: Sergej Seitz/Anke Graneß/Georg Stenger (Hg.), Facetten gegenwärtiger Bildtheorie. Interkulturelle und interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2018, 39-54.
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te Stellvertretungsbeziehungen von grundlegender Bedeutung.9 Um dies an einem naheliegenden Beispiel zu exemplifizieren, sei daran erinnert, dass im Vorhergehenden auf Steine hingewiesen wurde, wo in Wirklichkeit nur bedrucktes Papier vorhanden ist; dass die angesprochenen Steine also, streng genommen, nur als Bildobjekte gegenwärtig waren und sind; dass diese Bildobjekte aber dennoch als Stellvertreter in Anspruch genommen wurden, dergestalt, dass alles, was über sie gesagt wurde, tale quale auf bestimmte reale Steine zutreffen soll, die im Kunsthistorischen Museum aufgestellt sind und dort betrachtet werden können. Das ist ein typisches Beispiel eines epistemischen Fiktionsspiels. Die Fiktionalität, die dabei ›im Spiel‹ ist, hat selbstverständlich nichts mit dem Vortragen phantastischer Geschichten zu tun und steht auch nicht mit Ernsthaftigkeit im Widerspruch. Sie ist vielmehr die Möglichkeitsbedingung dafür, über Dinge, die eigentlich woanders sind, so zu sprechen, als ob sie wirklich da wären und am Ort des Vortrags oder der Lektüre beobachtet werden könnten. Das kann durchaus mit einem Anspruch auf Wahrheit geschehen. Ohne solche Fiktionsspiele wäre eine Disziplin wie die Kunstgeschichte mit ihren bildvermittelten Evidenzerzeugungsverfahren undenkbar. Merkwürdiger Sachverhalt: Es gibt Wissenschaften, die wesentlich auf Fiktionsspielen beruhen. Soviel zur ersten Methode des rationalen oder sagen wir vorsichtiger: rational rekonstruierbaren Umgangs mit Bildspannungen. Der zweite, viel weniger prominente Weg, der vielleicht noch gar nicht als solcher beschrieben wurde, soll hier mit Hilfe von Wörtern wie ›Begriffsanpassung‹ oder ›Begriffserfindung‹ charakterisiert werden. Statt dass man den jeweiligen Klassifikator – zum Beispiel den Begriff ›Menschenkopf‹ – angesichts bestimmter Kontraindikationen einklammert, um ihn nur noch in fiktionaler Redeweise gelten zu lassen, passt man ihn den widerstreitenden Momenten an oder erfindet einen neuen Begriff, der die konzeptuelle Diskrepanz auszugleichen vermag. Diesen Weg haben die Ägyptologen eingeschlagen, als sie sich entschlossen, Dinge wie den mehrfach erwähnten kopfförmigen Kalkstein als ›Ersatzköpfe‹ zu bezeichnen.10 Sie haben nämlich festgestellt, dass Steine dieser Art – sämt9 Vgl. Pichler/Ubl, Bildtheorie, 43-69; Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz: Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M. 2005, 37-80. 10 Vgl. etwa Jan Assmann, Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München 1991, 142-144. Eine anregende Deutung der Ersatz- oder Reserveköpfe bietet Roland Tefnin, Art et Magie au temps des Pyramides. L’énigme des têtes dites »de remplacement«, Brüssel 1991.
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liche bekannten Exemplare datieren aus dem Alten Reich – ursprünglich im Inneren von Gräbern aufgestellt waren, wo kein lebender Mensch sie sehen konnte. Fiktionsspiele wurden damit anscheinend nicht gespielt (außer vielleicht in Bildhauerwerkstätten), vielmehr scheint es, dass diese Requisiten den Lebensgeistern der jeweiligen Grabinhaber als Kopf-Ersatz oder eben ErsatzKopf dienen sollten. Und eines ist klar: Wenn es darauf ankommt, dass der Lebensgeist einer Person nach deren Tod möglichst lange weiterlebt, wenn er außerdem zum Weiterleben eines Körpers oder Kopfes bedarf, und wenn ihm im Zweifelsfall auch ein kopfförmiger Stein als Bleibe genügt, dann hat so ein Stück Stein einen gewaltigen Vorteil, ist er doch praktisch unverwüstlich. Der ägyptologische Terminus ›Ersatzkopf‹ sieht allerdings immer noch aus wie ein Kompromissprodukt. Er scheint eine Sache zu bezeichnen, die zwar als Kopf fungieren kann, die aber, strenggenommen, kein veritabler Kopf, sondern eben bloß ein Ersatz für einen solchen ist. Stattdessen könnte man die radikalere Auffassung vertreten, dass es für manche Ägypter zur Zeit des Alten Reichs neben den naturwüchsigen Köpfen noch eine andere Art von vollgültigen Köpfen gab, nämlich die ›Steinköpfe‹, die sich zu den naturwüchsigen nicht etwa wie eine Imitation oder ein Surrogat zu einem Original verhielten, sondern wie etwas Beständiges, Dauerhaftes zu etwas Vergänglichem. Genau darauf zielt Jan Assmann ab, wenn er von den zwei Welten im Alten Ägypten spricht: der »Lehmwelt« des täglichen Lebens und Sterbens auf der einen Seite, der »Steinwelt« der auf Dauer gestellten Gräber und Grabmonumenten auf der anderen. »Die steinernen Abbilder« schrieb Assmann in seinem großartigen Buch Stein und Zeit, »sind nicht Mimesis der lebensweltlichen und damit vergänglichen, f lüchtigen Wirklichkeit, sondern magische Poiesis einer zweiten, unvergänglichen Wirklichkeit.«11 Leider gebraucht er das Wort ›Abbild‹ – ein Wort, das hier, wie übrigens fast immer, für Verwirrung sorgt, weil es dazu verleitet, das in Frage stehende Klassifikationsproblem (»Kann ein behauener Stein zugleich ein Menschenkopf sein?«) mit einem Repräsentationsproblem (»Wen oder was repräsentiert der fragwürdige Kopf? Wofür steht er ein?«) zu vermengen. Dennoch ist die Zielrichtung von Assmanns Satz deutlich: Die altägyptische Steinwelt ist ihm zufolge keine Pseudowelt, nichts Fiktives, sondern mindestens ebenso real wie die Lehmwelt, nur dass sie eben eine gänzlich andere Zeitstruktur aufweist.
11 Assmann, Stein und Zeit, 21.
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Ist es nötig hervorzuheben, dass diese reizvollen ägyptologischen Begriffe – »Ersatzkopf«, »Steinwelt«, »Lehmwelt« – der Absicht dienen, an die impliziten konzeptuellen Voraussetzungen bestimmter altägyptischer Praktiken und Dinge heranzukommen? Es wird nicht etwa behauptet, dass schon im Alten Ägypten Begriffsanpassungen vorgenommen werden mussten, um mit kopfförmigen Steinen fiktionslos umgehen zu können, sondern man glaubt sich aus verschiedenen Gründen zur Annahme berechtigt, dass damit fiktionslos umgegangen wurde, und sucht nach einem Begriffssystem, innerhalb dessen eine solche fiktionslose Umgangsweise plausibel wird. Dabei erweist es sich als notwendig, sich ein Stück weit aus dem eigenen Begriffssystem hinauszubewegen – so weit, bis jene Kontraindikationen verschwinden, die es gewöhnlich ausschließen, Steinskulpturen als vollgültige Menschenköpfe zu klassifizieren. Im Museum steht es einem indessen weiterhin frei, mit dem kopfförmigen Stein ein Fiktionsspiel zu spielen, ja es wäre für uns vermutlich schwierig, im Umgang damit konsequent auf jede Art von Fiktionalisierung zu verzichten. Jedenfalls scheint ein- und dasselbe Ding in unterschiedlichen historischen und diskursiven Kontexten seinen Status radikal zu verändern: Was im Alten Ägypten vielleicht einmal eine bestimmte Art von Kopf gewesen ist, wird im Museum vor allem als ein so und so geformter Stein betrachtet, der es als Bildvehikel ermöglicht, offenen Auges einen Bildkopf zu imaginieren – in diesem Fall einen Bildkopf mit ebenmäßigen Gesichtszügen, an dessen Auge sich zwar keine Iris oder Pupille unterscheiden lässt, der aber dennoch mit einem wie in die Ferne gerichteten Blick begabt zu sein scheint. Man geht mit dem kunstvoll geformten Stein dann auf ähnliche Weise um wie mit einer Leinwand, die so mit Farben bedeckt wurde, dass man angesichts ihrer meint, Früchte und Blumen zu sehen. Ob wir den Spieß einmal umdrehen und mit einem Bild wie Jean Siméon Chardins Gemälde Fruchtkorb mit Walderdbeeren (Abb. 4) fiktionslos umgehen könnten – also ungefähr so, wie altägyptische Menschen oder ihre Lebensgeister möglicherweise mit kunstvoll geformten Steinen umgegangen sind? Das scheint praktisch ausgeschlossen. Ernst Gombrich hat einmal angedeutet, dass illusionistische Malerei überhaupt nur unter der Bedingung der Fiktionalisierung entwickelt werden konnte. Gombrich zufolge musste man sich vom Anspruch, reale Wesen hervorzubringen, lossagen, um die Kunst der Sinnestäuschung voll entwickeln zu können. Die Bezauberung durch Kunst setzt demnach eine gewisse Entzauberung der Welt voraus. Vielleicht
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Abb. 4: Jean Siméon Chardin, Korb mit Walderdbeeren, ca. 1761, Öl auf Leinwand, 38 x 46 cm. Paris, Privatsammlung. trifft diese These – Gombrich hat sie im berühmten Buch Kunst und Illusion formuliert – zu.12 Aber ganz egal, ob sie nun stimmt oder nicht, angesichts von Chardins Stillleben fällt es jedenfalls schwer sich vorzustellen, wie die darin zu sehen gegebenen Früchte und Blumen und das im Licht stehende Wasserglas von dem Fluch oder Segen befreit werden könnten, nicht wirklich da zu sein. An diesen Bildinhalten aber kommen wir selbst dann nicht vorbei, wenn wir eingef leischte Formalistinnen sind und uns hauptsächlich für Fragen der Komposition, Farbgebung und Faktur interessieren. Wir müssten uns bei der Beschreibung eines solchen Gemäldes schon sehr verrenken, um keine einzige kontraindizierte Bezeichnung zu gebrauchen, sei sie nun auf ein Bildobjekt oder ein Moment von Bildräumlichkeit wie die Unterscheidung von ›davor‹ und ›dahinter‹ bezogen. 12 Ernst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart/ Zürich 1986, 116-140.
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Woher rührt diese Schwierigkeit, sich angesichts eines Bildes dieser Art eine Alternative zur Fiktionalisierung vorzustellen? Vermutlich hängt sie mit einer bei Gemälden wie diesem vorherrschenden internen Bildspannung zusammen. Das entscheidende Stichwort heißt ›Bildraum‹. Grob gesprochen, hat man es ja mit einem undurchsichtigen f lachen Bildvehikel zu tun, angesichts dessen sich dennoch eine räumliche Tiefe bemerkbar macht, in der ein paar Dinge Platz finden, die sich so und so im Tiefenraum verteilen. Gewöhnlich geht man mit den daraus resultierenden Diskrepanzen wohl so um, dass man den Tiefenraum stillschweigend zum Schein erklärt und sich darauf nur in einem fiktionalen Redemodus bezieht. Dasselbe gilt dann auch für alle Dinge, die sich in diesem kontraindizierten Raum zu befinden scheinen, hier eben ein Korb mit Walderdbeeren, ein Wasserglas, weiße Nelken und so weiter. Sie sind eo ipso Scheindinge, d.h. Bildobjekte, auch wenn man gesprächsweise so tut, als ob man sich auf reale Dinge bezöge. Und diese Fiktionalisierung – denn um eine solche handelt es sich – scheint insofern unausweichlich zu sein, als die interne Bildspannung auf einem logischen Widerspruch beruht. Etwas kann nicht gleichzeitig und in derselben Beziehung f lach und tief (oder undurchsichtig und durchsichtig) sein, und wenn festzustellen ist, dass das in Frage stehende Ding – hier eine mit Farben bedeckte Leinwand – de facto f lach (und undurchsichtig) ist, dann scheint unweigerlich zu folgen, dass von einer Tiefe und allem, was sie bergen mag, nicht mehr die Rede sein kann – außer eben in fiktionaler Redeweise. Fiktionalisierung scheint folglich der einzige gangbare Weg zu sein, um sich den Umgang mit solchen Bildern plausibel zu machen – vorausgesetzt, es geht nicht bloß um einen Transport des Gemäldes oder um die Befreiung der Malschicht von Ungeziefer. Dasselbe scheint übrigens auch für andere, ja vielleicht sogar für alle Arten von interner Bildspannung zu gelten. Denken wir noch einmal an den zweiten, grauen Steinkopf aus dem Kunsthistorischen Museum (Abb. 2): Ein Material, das so hart ist wie dieses Stück Siltstein, kann doch nicht gleichzeitig weich sein, möchte man sagen. Aber wer weiß, vielleicht fehlt uns im Augenblick ja nur die Phantasie, die nötig wäre, um eine Alternative zur Fiktionalisierung ausfindig zu machen. Vielleicht bedürfen wir dazu eines Anstoßes von außen. Lesen wir also einen Philosophen oder philosophierenden Physiker – lesen wir Ernst Mach, der in seinem berühmten, zuerst 1886 erschienen Buch Die Analyse der Empfindungen über Spiegelbilder – klare Beispiele für das Auftreten einer internen Bildspannung – Folgendes gesagt hat: »Das Bild im Hohl- oder Planspiegel ist nur
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sichtbar, während unter andern (gewöhnlichen) Umständen dem sichtbaren Bild auch ein tastbarer Körper entspricht.«13 Und weiter: »Das Spiegelbild des Baumes, der Frucht, des Feuers ist sichtbar, aber nicht greif bar. […] So trennt sich das […] Sichtbare […] von dem Tastbaren […].«14 Diese Sätze sind vielleicht insofern kommentarbedürftig, als Mach mit einem extrem weiten Bildbegriff operiert, wie er in der Psychologie üblich war und bei dem alles sinnlich Gegebene, zumindest jeder halbwegs strukturierte Wahrnehmungseindruck als ›Bild‹ bezeichnet wird. Ansonsten aber sind die Aussagen ziemlich klar, und man wird sich über die Kühnheit von Machs Vorstoß nicht täuschen: Offenbar wollte er das, was hier ›innere Bildspannung‹ genannt wird, durch eine geeignete Begriffsanpassung aus der Welt schaffen. Er hatte es darauf abgesehen, die Unterscheidung von Schein und Sein, die er für metaphysisch und unwissenschaftlich hielt, aufzugeben. Wenn man Phänomene, die im Spiegel erscheinen, dort, wo sie erscheinen, nicht auch ertasten kann, so war das für Mach kein Argument dafür, dass es sich dabei um Scheingebilde – Illusionen – handelt. Er begnügte sich vielmehr mit der trockenen Feststellung, dass diese Phänomene nur einem einzigen Sinn, eben dem Gesichtssinn, zugänglich sind. Will man sie näher charakterisieren, so kann man sie, Mach folgend, als ›nur sichtbare‹ Phänomene bezeichnen. So wie Mach es versteht, ist dieses Nur-Sichtbare aber, wie gesagt, nichts Unwirkliches, keine Illusion. Der Baum im Spiegel ist nicht unwirklicher als der Baum, den man durchs Fenster betrachtet. Gefolgsleute von Mach müssen daher auch nicht den Freibrief der Fiktion in Anspruch nehmen, um sich über Dinge zu unterhalten, die in der Tiefe von Spiegeln ihren Ort haben. Was wird dann aber aus dem Widerspruch zwischen der Flächigkeit und Undurchsichtigkeit der ref lektierenden Oberf läche einerseits, dem Eindruck, durch sie hindurchzusehen, andererseits? Wie soll man mit diesem Widerspruch von Opazität und Transparenz umgehen? Darüber sagt Mach nichts. Vielleicht hätte er hier gar keinen Widerspruch diagnostiziert, sondern nur einen Schwellenbereich oder eine Grenze bemerkt, an der sich das rein Sichtbare vom Tastbaren sozusagen abspaltet. Ob man mit gemalten Bildräumen ähnlich umgehen könnte wie Mach mit Spiegelbildern? Marcel Proust jedenfalls hat es auf ein paar Seiten sei13 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Darmstadt 1987, 8. 14 Ebd., 84.
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nes 1918 erschienenen Romans Im Schatten junger Mädchenblüte getan. Der Erzähler des Romans erinnert sich, im Ferienort Balbec den Maler Elstir in dessen Atelier besucht und in den Gemälden so erstaunliche Dinge wie eine sprühende Meereswoge, die »nicht mehr benetzen« kann, beobachtet zu haben.15 Er begnügt sich nicht etwa mit der banalen Feststellung, dass eine Meereswoge, die im fiktiven Bildraum eines Landschaftsgemäldes vorkommt, keine Woge ist, ja dass es an der gedachten Stelle überhaupt nichts gibt, worauf man sich ernsthaft beziehen könnte, da doch die Stelle selber nur auf fiktionale Weise anzuzeigen sei. Stattdessen erinnert er sich an eine seltsame Art von Woge, die dem widerspricht, was man sich sonst darunter vorstellt, nämlich dass sie aus Wasser besteht und folglich feucht ist und befeuchtet. Ähnlich bei einer Jacke, die nicht mehr bekleidet und die der Erzähler ebenfalls in einem Gemälde gesehen haben will – nicht etwa als ein irgendwo abgelegtes Kleidungsstück, sondern als eines, das getragen wird von einem »jungen Mann in weißem Anzug, der sich auf dem Deck eines Bootes mit den Ellenbogen aufstützt[e]«16. Der Zusammenhang mit dem von Mach angedeuteten Begriff des Nur-Sichtbaren scheint evident: Gestrichen werden genau jene Bestimmungen von Woge und Jacke, die mit dem Tasten oder Fühlen zu tun haben. Aber Prousts Erzähler geht weiter als Mach: Er begnügt sich nicht mit der Destruktion der Unterscheidung von Schein und Wirklichkeit, sondern (er)findet höchst merkwürdige Wesen. Eine Woge, die nicht mehr netzt, ist doch beinahe so irritierend, aber auch faszinierend wie, sagen wir, eine Sonne, die niemals scheint, oder eine Uhr, die nie die Zeit anzeigt. Wie der Erzähler im selben Passus bemerkt, scheint die Woge um eine ihrer wesentlichen Bestimmungen gebracht worden zu sein – und muss dennoch nicht auf hören, Woge zu sein. Statt dass die Klassifikation des in Frage stehenden Phänomens als Woge aufgegeben wird, weil das Phänomen diesen Begriff nicht zu erfüllen vermag, ist es der Begriff, der sich eine Revision gefallen lassen muss. Analoges gilt für die nicht mehr bekleidende Jacke. Mein drittes und letztes Beispiel für die Anwendung der Methode der Begriffsanpassung auf innere Bildspannungen entstammt unserer eigenen Gegenwart. Einer der einf lussreichsten zeitgenössischen Bildtheoretiker, der Philosoph Lambert Wiesing, hat behauptet, dass Bildobjekte im Allgemeinen, 15 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Im Schatten junger Mädchenblüte, 7 Bde., Stuttgart 2014, Bd. 2, 555. 16 Ebd., 555.
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egal ob sie in Gemälden, Fotografien, Filmen, Videos usw. vorkommen, nur gesehen, aber nicht gefühlt oder gerochen werden können. Wiesing zufolge liegt es in der Natur dieser merkwürdigen Dinge, »rein sichtbar« zu sein. Versuchen wir uns anhand von Chardins Stillleben zu verdeutlichen, wie das gemeint sein könnte und was daraus folgt (Abb. 4). »Kein Gaumen wird die Erdbeeren schmecken, kein Mund wird seinen Durst mit dem Wasser im Glas stillen, keine Nase wird den Duft der beiden Blumen einatmen«, hat der Kunsthistoriker Louis Marin über dieses Gemälde einmal geschrieben.17 Wiesing geht über solche spielerischen Formulierungen hinaus, wenn er behauptet, dass Bildobjekte generell zwar sichtbar, aber körperlos seien. Ihm zufolge sind sie, selber physisch wirkungslos, ihrerseits jeglichem physischen Zugriff entzogen. Im Auftauchen solcher »physiklosen«18 Entitäten erblickt er nicht etwa einen kontingenten Nebeneffekt, sondern die Wesensbestimmung von Bildern: »Bilder sind Entmaterialisierungen, welche einen Gegenstand in reine Sichtbarkeit transformieren.«19 Tatsächlich scheint es unmöglich, irgendeines der in Chardins Stillleben erkennbaren Bildobjekte zu ergreifen.20 Beim Griff nach dem Pfirsich zum Beispiel stößt die Hand gegen die pigmentbedeckte Leinwand, das Bildvehikel. Und obwohl diese Kollision tatsächlich eine taktile Erfahrung ist, stimmt sie nicht ausreichend mit der visuellen Erfahrung überein, um als eine Erfahrung desselben Objekts verstanden zu 17 Louis Marin, Sublime Poussin, Paris 1995, 169. Die Passage verdient es, im originalen Wortlaut etwas ausführlicher zitiert zu werden: »Pas d’énigme cachée, tout est offrande mais nul palais ne goûtera la saveur de ces fraises, nulle bouche ne désaltérera sa soif à l’eau de ce verre, point de nez pour respirer le parfum de ces deux fleurs… seulement l’œil: il caresse et sent les saveurs et les odeurs, la texture des peaux et des enveloppes, les matières des objets. […] Et c’est parce qu’il s’agit en tout cela seulement de peinture que touches et empâtements, valeurs et modulations, renferment soudain, et cependant sans hâte ni surprise, les choses dépeintes sur elles-mêmes, inatteignables, infrangibles en leur profondeur parce qu’elles ne sont que des couleurs sur une surface et dans un certain ordre assemblées.« 18 Vgl. Wiesing, Artifizielle Präsenz, 33. 19 Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek 1997, 15. Vgl. die genaueren Bestimmungen ebd., 160-164 sowie Wiesing, Artifizielle Präsenz, 17-80 und Lambert Wiesing, Sehen lassen: Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013, 69-92. 20 Ich habe mich in den folgenden Sätzen bemüht, den Begriff der reinen Sichtbarkeit auf möglichst anschauliche Weise plausibel zu machen, bin aber nicht sicher, ob ich Wiesings Intention genau getroffen habe.
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werden. Denn die Oberf läche des Gemäldes ist f lach und etwas rau, während die des Pfirsichs den Eindruck erweckt, rund und samtig zu sein. Darüber hinaus findet das taktile Erlebnis sozusagen nicht an der richtigen Stelle statt: Die Hand stößt auf einen Widerstand, bevor sie die Frucht ergreifen kann, die schließlich nicht auf der Oberf läche des Bildträgers, sondern weiter hinten in der Tiefe des Bildraums erscheint. Der Pfirsich scheint sich in einen Raum zurückgezogen zu haben, in dem er sich nicht mehr haschen lässt. Dieser Raum ist übrigens ebenso merkwürdig wie die Dinge, die er in sich schließt. Wer ihn nicht zum bloßen Schein erklären will, wird ihn als eine besondere, höchst merkwürdige Art von Raum zu charakterisieren haben. Und obwohl Wiesing selbst diesen Umstand nicht ausdrücklich kommentiert hat, dürfte es vom Standpunkt seiner Theorie folgerichtig sein, den Bildraum als einen Raum zu beschreiben, in den man schauen kann, in den aber niemand und nichts eintreten kann, nicht einmal Licht.21 Und tatsächlich: Wer vor dem Bild steht und eine Taschenlampe zur Hand hat, mag mit ihr tun, was er oder sie will: Die Schatten im Bildraum werden bleiben, wo sie sind, d.h. das Licht der Taschenlampe vermag in den Bildraum nicht einzudringen.22 Zwar hat es den Anschein, als ob die Grenze dieses rätselhaften Raums stellenweise durchlässig würde: Der Stängel einer Nelke ragt herausfordernd über die Kante der Ablage hinaus und scheinbar in unseren Raum hinein. Anfassen lässt sich dieser Nelkenstängel trotzdem nicht, es hat vielmehr den Anschein, als ob er seine Körperlosigkeit in den Realraum mitnehmen könnte.23 Die von Wiesing angewandte Methode ähnelt derjenigen, die schon bei Mach und Proust zu beobachten war. Statt Bildobjekten die Realität abzusprechen und sie zu Fiktionen zu erklären, hat er gefragt: Wenn das, was wir hier sehen, real ist, von welcher Art wäre es dann? Er hat also nach einem Begriff gesucht, der es ermöglicht, auf eine Fiktionalisierung zu verzichten und die Realität von Bildobjekten oder allgemeiner: Bildinhalten zuzugestehen. So kam er auf Begriffe wie »reine Sichtbarkeit« und »Physiklosigkeit«. 21 Vgl. Pichler/Ubl, Bildtheorie, 175. Eine Diskussion dieser These bietet der in Anm. 6 zitierte Aufsatz des Verf. 22 Vgl. Wiesing, Sehen lassen, 71: »Die Nachtszene auf einem Bild wird nicht heller, wenn das Bild beleuchtet wird.« Zur genaueren Explikation dieses Phänomens könnte der kunsthistorische Begriff des ›Beleuchtungslichts‹ herangezogen werden, vgl. dazu Wolfgang Schöne, Über das Licht in der Malerei, Berlin 1954, 12-14. 23 Von diesem Stängel und seinem Vorkragen ist freilich nichts mehr zu sehen, wenn man das Bildvehikel im Profil betrachtet.
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Als er sie gefunden hatte, hörten Bildobjekte in seinem Begriffssystem auf, Pseudo-Dinge zu sein, und verwandelten sich in eine spezielle Art von Entitäten. Zur selben Art gehören wohl auch der von Ernst Mach erwähnte nursichtbare Baum im Spiegel oder Prousts »Woge, die nicht mehr netzt«. Angesichts von Wiesings Überlegungen mag man sich auch an Jan Assmann erinnert fühlen, der wenige Jahre vor ihm mit Blick auf das Alte Ägypten die Steinwelt von der Lehmwelt unterschieden und auf diese Weise einer Reihe von merkwürdigen Steindingen, zum Beispiel Steinköpfen, ein Daseinsrecht erstritten hatte. Doch nimmt es Wiesing – ähnlich wie Mach und Proust, aber anders als Assmann – mit den besonders widerspenstigen internen Bildspannungen auf. Auch wollte der Philosoph nicht etwa das Bildverständnis einer anderen Kultur rekonstruieren, sondern der eigenen Kultur ein anderes, von der Fiktionalisierung losgelöstes Bildverständnis vorschlagen.
III. Diskussion der Lösungen Darf aus all dem endlich der Schluss gezogen werden, dass man mit Bildspannungen, selbst den internen, tatsächlich auf mindestens zwei grundverschiedene Arten rational umgehen kann? Dass es uns also prinzipiell offensteht, ob wir den Weg der Fiktionalisierung oder denjenigen der Begriffsanpassung beschreiten möchten? Da bei dieser Frage viele Existenzen auf dem Spiel stehen, ist bei ihrer Beantwortung höchste Vorsicht geboten. An erster Stelle sei die Originalität eines Denkens hervorgehoben, bei dem nicht etwa die Realität der Bildinhalte dem Druck der Begriffe weichen muss, sondern wo umgekehrt die Begriffe sich den Bildinhalten anpassen. Die Methode der Begriffsanpassung vermag das Denken auf erfrischende Weise in Bewegung zu versetzen. Eine Woge, die nicht netzt, eine Jacke, die nicht kleidet, reine Sichtbarkeit, die Steinwelt…: was für staunenswerte Begriffe, Wesen und Welten! Und es sind dies vermutlich nicht die einzigen Wunderdinge, die diese Methode bislang hervorgebracht hat; eine genauere Untersuchung könnte mühelos weitere schöne Funde zutage fördern, etwa im Bereich der Bildzeit – jenem wichtigen Bereich interner Bildspannung, der auf dem Gegensatz von Bewegung und Ruhe auf baut.24 24 Vgl. Johannes Grave, Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Michael Gamper/Helmut Hühn, Zeit der Darstellung.
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Philosophen und Dichter haben darin Anschauungsbeispiele gefunden für den Begriff eines aus dem Fluss der Empfindungen extrahierten, wie auf Dauer gestellten Augenblicks – eines Augenblicks, der nicht etwa als erstarrter, sondern als dauerhaft in sich bewegter zu verstehen wäre: »Der junge Mann wird auf der Leinwand solange lächeln, wie sie besteht«;25 »Nie mehr wird sie [auch an dieser Stelle ist von einer gemalten Figur, also einem Bildobjekt die Rede] aus diesem Augenblick des Staunens oder Anstaunens herauskommen.«26 Interessant sind auch die historischen Motivationen und Kontexte der Begriffsanpassungen. Bei den Ägyptologen geht es offenbar um kulturelle Alterität, also um ein Übersetzungsproblem, bei Ernst Mach hingegen um Metaphysikkritik und die Etablierung eines monistischen Weltbildes, als dessen Basiselemente Sinnesempfindungen anzunehmen sind.27 Prousts Erzähler hat einiges mit Mach gemein, scheint aber nicht zuletzt an den Begriffsrevisionen als solchen interessiert gewesen zu sein – möglicherweise lässt sich bei ihm ein enger Nexus zwischen Begriffsanpassung und Metapher nachweisen.28 Hingegen dürfte bei Wiesing ein philosophisches Motiv Priorität haben, nämlich das Bestreben, die Phänomene zu retten. Die Begriffserfindung scheint bei ihm allein diesem Zweck zu dienen: Die Evidenz der Bildobjekte und Bildräume soll nicht logischer Kleingeisterei oder einer falschen ontologischen Zurückhaltung geopfert, sondern es soll ihr mittels philosophischer Begriffsarbeit zu ihrem Recht verholfen werden. All dies, speziell die historischen Hintergründe und Motive, verdienen natürlich eine genauere Untersuchung – eine Untersuchung, deren Ergebnisse hier nicht vorweggenommen werden können. An einem wichtigen Punkt jedoch zeichnet sich bereits ein Resultat ab: Es scheint, dass die MeÄsthetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Ästhetische Eigenzeiten, 1), Hannover 2014, 51-71. 25 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M. 1996, 191. 26 Peter Handke, Der Bildverlust, Frankfurt a.M. 2002, 158. Handkes Text bezieht sich an dieser Stelle auf ein gemaltes Bildnis Johannas I. von Kastilien, gen. Johanna die Wahnsinnige. 27 Vgl. Erik C. Banks, Ernst Mach’s World Elements: A Study in Natural Philosophy (The Western Ontario Series in Philosophy of Science, 68), Dordrecht 2003. 28 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 19626, 62; Roderich Billermann, Die »métaphore« bei Marcel Proust. Ihre Wurzeln bei Novalis, Heine und Baudelaire, ihre Theorie und Praxis (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste, 101), München 2000, 278-287; Kazuyoshi Yoshikawa, Proust et l’art pictural (Recherches proustiennes, 14), Paris 2010, 347-358.
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thode der Begriffsanpassung, so faszinierend sie sein mag, in systematischer Hinsicht Nachteile aufweist – Nachteile, die dagegen sprechen, sie, Wiesing folgend, zur Grundlage einer ganzen Bildtheorie zu machen. Drei Einwände, die sich speziell gegen Wiesings Theorie richten – eine Theorie, deren Anziehungskraft, ja Zauber evident sein dürfte –, sollen hier abschließend mitgeteilt werden. Erstens scheint es schwierig, Wiesings Überlegungen so zu verallgemeinern, dass dadurch alle Bildspannungen, interne wie externe, diskursiv aufgelöst werden können. Betrachten wir ein letztes Mal den grauen Kopf aus dem Kunsthistorischen Museum (Abb. 2). Obwohl Wiesing Beispiele dieser Art nicht diskutiert – er hat sich von vornherein auf Flachbilder festgelegt –, darf man überlegen, was vom Standpunkt seiner Theorie dazu zu sagen wäre. Ein solcher Versuch der Verallgemeinerung seiner Theorie scheint deshalb gerechtfertigt, ja geboten, weil die Phänomene, die hier unter dem Titel ›Bildspannung‹ subsumiert wurden, eng verwandt sind und daher nach einer gemeinsamen Erklärung verlangen. Überlegen wir also: Von welcher Art könnte dieser Kopf sein, wenn man ihn weder als fiktives Wesen betrachten möchte, noch durch einen simplen Willensakt zum Anhänger der von Assmann rekonstruierten ägyptischen Zwei-Welten-Theorie werden kann? Soll man so weit gehen, sich einen nur-sichtbaren, immateriellen Kopf zu denken, der zwar mit dem – wahrlich nicht immateriellen! – Stein räumlich zusammenfällt, aber dennoch scharf von ihm unterschieden werden muss? – Zugegeben: Diese Begriffserfindung – das Wort vom nur-sichtbaren, immateriellen Kopf – entbehrt nicht der Grundlage. Der Begriff findet insofern einen Rückhalt im Phänomen selbst, als die an der Steinoberf läche zu beobachtenden Bruchstellen das Gesicht kaum zu tangieren scheinen: Dieses Gesicht bleibt von den – vermutlich ikonoklastisch motivierten – Beschädigungen doch erstaunlich unberührt. Es scheint daher vom Stein völlig verschieden zu sein, ja es ist, als ob man ihm auf physischem Weg überhaupt nichts anhaben könnte. Dennoch fällt es schwer, die Wiesing’sche Erklärung konsequent durchzuhalten. Und zwar wird es umso schwieriger, je mehr man auf die hier gegebene interne Bildspannung – also den Widerspruch von hartem Stein und weicher Wange – achtet. Denn welchen begriff lichen Reim soll man sich auf eine Weichheit machen, die insofern klar kontraindiziert ist, als man da, wo man sie zu sehen vermeint, etwas Hartes ertastet? Müsste das nicht der merkwürdige, vielleicht allzu merkwürdige Fall einer – nicht-tastbaren, weil nursichtbaren Weichheit sein? So reizvoll dieser Begriff in ästhetischer Hinsicht
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Abb. 5: In einem italienischen Zug, Herbst 2017 (Foto des Verf.). sein mag, als Konsequenz einer Theorie, die bestimmte Phänomene rational erklären soll, wirkt er abschreckend. Und was den Umstand betrifft, dass die Beschädigungen auf das Gesicht keinen Einf luss zu haben scheinen, so ist Wiesings Theorie ja nicht die einzige Erklärungsmöglichkeit. Statt den Begriff der reinen Sichtbarkeit zu bemühen, kann man sich die Sache auch wie folgt verständlich machen: Die Bruchstellen im Stein helfen einem in diesem Fall nicht, ein verletztes oder schmerzverzerrtes Gesicht zu imaginieren, d.h. sie lassen sich nicht in das betreffende Fiktionsspiel integrieren. Dass dem so ist, hat jedoch keine prinzipiellen, sondern nur kontingente Gründe. Man kann sich andere Fälle vorstellen, wo das Gesicht und die Beschädigungen eine andere Form haben und letztere durchaus als Verletzungen des ersteren gesehen werden können. Wiesings Theorie würde sich, falls diese Überlegungen stichhaltig sind, nur mit Mühe in der gewünschten Weise generalisieren lassen. Sie scheint darüber hinaus auch – zweiter Einwand – auf ihrem eigenen Feld nicht immer erfolgreich anwendbar zu sein. Vermutlich soll sie nicht nur für Gemälde, Fotografien und so weiter, sondern auch für Spiegelbilder gelten. Dass
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solche Bilder in manchen modernen Räumen in komplexen, verwirrenden Varianten auftreten, ist bekannt. Man nehme zum Beispiel diesen Anblick, von dem der Verfasser in einem italienischen Zug überrascht wurde (Abb. 5). Der Einsatz semitransparenten Materials in der Konstruktion des Zugabteils hatte zu einer Art Überlagerung oder Durchdringung von Bildraum und Realraum geführt. Der Beobachterblick wurde von einem gespenstischen Wesen gefesselt. Mit Wiesing wäre vermutlich von einem Wesen zu sprechen, das sich, obwohl immateriell, dennoch an einem bestimmten Platz im Zug hingesetzt hatte. Hätte der Verfasser/Beobachter den Herren auf die immaterielle oder physiklose Person zu seiner Rechten aufmerksam machen sollen? Unter der Voraussetzung, dass es sich dabei um ein nur-sichtbares Wesen handelt, hätte auch der Andere es sehen können müssen, denn einem Blick in die betreffende Richtung stand nichts im Weg. Andererseits ist auf der Grundlage optischer Gesetze leicht auszurechnen, dass das nicht der Fall gewesen sein kann. Der Mann konnte nicht sehen, was der Beobachter sah, selbst wenn er aufgeblickt und den Kopf ein wenig nach rechts gewendet hätte. Die Annahme der Existenz eines immateriellen, nur-sichtbaren Wesens führt in diesem Fall also zu einem Widerspruch. Davon unberührt blieb und bleibt jedoch die – ebenfalls reizvolle – Möglichkeit, ein wahrnehmungsbasiertes Fiktionsspiel zu spielen und so zu tun, als ob man einen Reisenden mit Phantombegleitung beobachtete. Unter dieser Bedingung verzichtet man darauf, dem Bildobjekt Realität zuzusprechen und muss sich daher auch nicht über sein Eindringen in den Realraum wundern. Vielmehr ist es umgekehrt so, dass nun auch reale Wesen von der Fiktionalisierung angesteckt und als Teil eines komplexen Bildvehikels in Anspruch genommen werden. Man benützt ja nicht nur das Spiegelbild, sondern auch den Anblick des realen Abteils und seines Insassen, um eine Szene zu imaginieren, die es so nicht gibt oder gegeben hat. Wer nämlich den Mann als jemanden betrachtet und beschreibt, zu dessen Rechter ein Phantom Platz genommen hat, trifft über ihn eine fiktionale Aussage. Deren Wahrheit kann im Rahmen des Fiktionsspiels problemlos überprüft und – im speziellen Fall – bestätigt werden. Eine auf der Seite des Verfassers/Beobachters sitzende Person hätte mitspielen und ihm zuraunen können: »Tatsächlich, neben diesem Mann sitzt ein Gespenst! Und wo es sitzt, fängt sogar der Klapptisch an, verrückt zu spielen. Seine Materie ist ein bisschen durchsichtig geworden, nicht wahr? Die Hand des Phantoms ist durch die Tischplatte hindurch zu sehen!«
Bildschein und Begriffserfindung
Drittens scheint es, dass nicht einmal jene Evidenz, von der Wiesings Theorie ihren Anfang genommen haben dürfte, so unverbrüchlich ist, wie er gehofft haben mag. Denn so verführerisch die Rede von der Unantastbarkeit von Wesen sein mag, die sich sozusagen in Bildräume zurückgezogen haben, es gibt Fälle, wo sie ihre Plausibilität verliert. Denken wir zum Beispiel an Michelangelo als Zeichner. Charakteristisch für sein Zeichnen ist bekanntlich die Wechselbeziehung mit der bildhauerischen Arbeit. Er geht mit Meißeln um wie mit Zeicheninstrumenten und mit Zeicheninstrumenten wie mit Meißeln. Den Meißel, speziell das Zahneisen, handhabt er so, als ob es gälte, der Form der zu bildenden Oberf läche zu folgen. Er scheint sich dieser Form entlangzubewegen und sie genauer zu bestimmen, indem er sie abtastet. Die Spuren des Zahneisens erinnern an Schraffuren auf einem Zeichenblatt.29 Auch beim Zeichnen scheint Michelangelo der Oberf läche des jeweils hervorzubringenden Bildobjekts nachzuspüren – mit kurzen Schraffen, die nun umgekehrt an die Spuren des Zahneisens auf der Oberf läche einer Skulptur erinnern (Abb. 6). Michelangelos Verhältnis zur Papieroberf läche ähnelt tatsächlich seiner Beziehung zum Marmor beim Skulptieren – allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass das Papier beim Zeichnen plan bleibt, ja überhaupt seine Form nicht verändert. Nur der zu zeichnende Körper – ein Bildobjekt – nimmt plastische Form an. Die gezeichneten Schraffen liegen einerseits natürlich auf der Papieroberf läche, während sie sich andererseits dennoch den Formen des dargestellten Körpers anzuschmiegen scheinen, d.h.: Sie befinden sich in der Spannung von Bildvehikel und Bildobjekt. Doch obwohl Michelangelo, wenn man es genau nimmt, nur die Papieroberf läche berührt haben kann, hat man es doch immer wieder so gesehen, als ob er den imaginären Körper zeichnend berührt, ja als ob er dessen Oberf läche abgetastet hätte. »Il caresse ce qu’il fait«, »er liebkost, was er macht«, schrieb schon im 18. Jahrhundert PierreJean Mariette.30 Auch heute gehen Kunsthistoriker wie David Rosand davon aus, dass sich der Künstler beim Zeichnen von Phantasien dieser Art leiten ließ, dass bei ihm also die realen Tasterfahrungen, die er beim Zeichnen machen konnte, in ein komplexes, Sehen und Tasten integrierendes Fiktionsspiel mit eingef lossen sind: »Moving over the paper, for the duration of its contact the 29 Vgl. Rudolf Wittkower, Sculpture. Processes and Principles, London 1977, 114. 30 Pierre-Jean Mariette, Abecedario, hg. von Charles-Philippe de Chenevières/Anatole de Montaiglon, 6 Bde., Paris 1851, Bd. 1, 223. David Rosand zitiert diesen Satz Mariettes in David Rosand, Drawing Acts: Studies in Graphic Expression and Representation, Cambridge 2002, 204.
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Abb. 6: Michelangelo Buonarroti, Männliche Rückenfigur, 1503/1504, Feder in Braun auf Papier, 40,8 x 28,4 cm. Florenz, Casa Buonarroti.
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drawing hand remains responsive to the feeling of its own movements. Evoking form from paper, each stroke affirms, even as it defines, the reality of that form. The intent is plastic: to shape the f latness of paper.«31 Lambert Wiesings Theorie, die Bildlichkeit mit reiner Sichtbarkeit gleichsetzt, zwingt einen, die Möglichkeit komplexer Erfahrungen dieser Art auszuschließen und verfehlt daher ihr eigenes Ziel – nämlich das genuin phänomenologische Ziel, philosophierend den Phänomenen gerecht zu werden. Hingegen hat eine Theorie der Fiktionsspiele kein Problem, eine Bilderfahrung zuzulassen, bei der Optisches und Taktiles auf ein- und derselben Ebene zusammenwirken. Statt, wie Wiesing, zu behaupten, dass Bildobjekte immaterielle Sichtbarkeiten sind, geht diese Theorie ja davon aus, dass solche Objekte, wenn man es genau nimmt, überhaupt nicht wahrgenommen, sondern nur imaginiert werden können – allerdings unter Zuhilfenahme wahrnehmbarer Bildvehikel, die als Requisiten im Fiktionsspiel dienen. Eine solche Imagination kann aber ohne weiteres auch auf dem taktilen Register stattfinden, etwa beim Zeichnen einer Figur oder, woran man heute eher denken wird, beim Benützen eines touch-screens.32 Rein theoretisch betrachtet, scheint die Methode der Fiktionalisierung derjenigen der Begriffsanpassung also überlegen zu sein.
IV. Offene Enden Nach der Schlussfolgerung bleibt noch übrig, auf den gesamten Argumentationsgang zurückzublicken, um daran ein paar offene Enden zu markieren. Wenn zu Beginn ein Phänomenbereich angedeutet und mit Hilfe von Termini wie ›Kontraindikation‹ und ›Bildspannung‹ umrissen wurde, so sollte die in einem zweiten Schritt vorgenommene Unterscheidung zwischen internen und externen Spannungen helfen, sich von diesem Bereich, seinem Umfang und seiner Gliederung einen deutlicheren Begriff zu machen. Erst auf dieser Grundlage konnte die Methode der Begriffsanpassung entdeckt, beschrieben und als möglicher Forschungsgegenstand präsentiert werden. Wobei es 31 Rosand, Drawing Acts, 204. 32 Dazu etwa Bruna Petreca, Können wir digitale Textilien fühlen? Designforschung, Körpererfahrung und ein Ausblick auf zukünftige Technologien, in: Maske und Kothurn 62 (2/2016), 170-186. Zur Vorgeschichte Klemens Gruber, Taktile Medien: Theorien aus der Vorgeschichte, in: Maske und Kothurn 62 (2/2016), 207-234; Wanda Strauven, The Archaeology of the Touch Screen, in: Maske und Kothurn 58 (4/2014), 69-80.
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im gegebenen Rahmen lediglich darum gehen konnte, diese Methode mit dem – bereits bekannten – Verfahren der Fiktionalisierung auf systematischer Ebene zu vergleichen. Eine historische Untersuchung konnte nicht geleistet werden und bleibt zukünftigen Forschungen vorbehalten. Anknüpfungspunkte für Folgeuntersuchungen bieten auch die das Argument vorbereitenden Schritte. So mag bei der Einführung des Begriffs der internen Bildspannung aufgefallen sein, dass der Konf likt von Fläche und Tiefenraum, von dem in der modernen Kunstkritik so oft und ausgiebig die Rede war,33 nur ein Spezialfall einer allgemeineren Struktur ist: In dieselbe Struktur können eben auch Gegensätze vom Typ hart/weich, schwer/ leicht, unbewegt/bewegt etc. eingehen. Von der Berücksichtigung dieses umfassenden systematischen Zusammenhangs darf man sich auch historische Einsichten erwarten. Es könnte sich zum Beispiel herausstellen, dass das surrealistische Staunen über Architekturen aus Butter34, steinschwere Zuckerstücke35 oder rasenden Stillstand 36 nicht nur im Hinblick auf die Theorie und Geschichte der Metapher aufschlussreich ist,37 sondern zugleich auch jener – sich erst im Umriss abzeichnenden – Geschichte eines fiktionslosen Umgangs mit internen Bildspannungen angehört. Die surrealistische Beteiligung daran (falls von einer solchen gesprochen werden darf) mag darauf hindeuten, dass man sich im Verlauf dieser Geschichte zuweilen auch über den Satz vom Widerspruch hinweggesetzt, ja es mitunter darauf angelegt haben dürfte, widersprüchliche Bild-Evidenzen in den Dienst moderner Rationalitätskritik zu stellen. Louis Aragon: »Ich will mir die Irrtümer meiner Finger, die Irrtümer meiner Augen nicht mehr versagen. Ich weiß jetzt, dass sie nicht nur plumpe Fallen sind, sondern eigenartige Wege zu einem Ziel, das nur sie allein mir enthüllen können. Jedem Irrtum der Sinne entsprechen seltsame Blumen der Vernunft.«38 33 Eines der eindrucksvollsten Beispiele: Greenberg, Collage. 34 André Breton, Die kommunizierenden Röhren, München 1973, 95. 35 André Breton, Die verlorenen Schritte. Essays, Glossen, Manifeste (Critica. Diabolis, 25), Berlin 1989, 148f. 36 André Breton, L’Amour fou, Frankfurt a.M. 1975, 15f. 37 Dazu etwa Christian Strub, Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg/München 1991, 471-504. 38 Louis Aragon, Der Pariser Bauer, Frankfurt a.M. 1996, 12. Zum theoretischen Hintergrund Wolfgang Babilas, Aragon, théoricien du surréalisme, in: ders., Études sur Louis Aragon (Münstersche Beiträge zur Romanischen Philologie, 20), Münster 2002, Bd. 1, 64-85.
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Nicht zuletzt lenkt der Begriff der Bildspannung die Aufmerksamkeit auf eine eigentümliche Dimension der ästhetischen Erfahrung von Bildern, von der in bildhistorischen wie auch theoretischen Untersuchungen bislang nicht viel zu hören war – vielleicht deshalb, weil sie in einem merkwürdigen Überlappungsbereich von Ästhetik und Logik angesiedelt ist, für den sich keine Disziplin zuständig fühlt. Dazu ein letzter Hinweis. Die Methoden der Fiktionalisierung und der Begriffsanpassung mögen einander in mancher Hinsicht entgegengesetzt sein, sie konnten im Vorhergehenden nur deshalb sinnvoll miteinander verglichen werden, weil sie eine wichtige Gemeinsamkeit aufweisen: Im Prinzip können beide Methoden dazu dienen, den affirmativen Gebrauch kontraindizierter Klassifikatoren mit den Ansprüchen der Vernunft, insbesondere dem Satz vom Widerspruch, in Einklang zu bringen. Die Fiktionalisierung erreicht dies, indem sie das fragwürdige Phänomen zur Illusion erklärt und nur noch im Rahmen fiktionaler Behauptungen adressiert; die andere Methode kann als Versuch verstanden werden, das Begriffssystem dem Phänomen anzupassen, um letzteres mit philosophischen Mitteln zu ›retten‹. Nun scheint es aber, dass uns Bilder gerade auch deswegen in ihren Bann zu ziehen vermögen, weil sie mit der Erfahrung ungelöster Spannungen einhergehen.39 Lesen wir noch einmal einen der von David Rosand so sorgfältig formulierten Sätze über Michelangelos Zeichnungen: »The intent is plastic: to shape the f latness of paper.« Der Satz enthält offenbar einen Widerspruch, denn die Flächigkeit des Papiers als solche – »the f latness of paper« – kann ja gerade nicht plastisch geformt werden. Das tut der Wirkung des Satzes freilich keinen Abbruch: Er vermittelt nicht trotz, sondern wegen der darin enthaltenen Kontradiktion mit großer Eindringlichkeit die schmerzhaft schöne Spannung, die für die ästhetische Erfahrung von Zeichnungen wie dieser hier bestimmend ist.
39 Vgl. Grave, Akt des Bildbetrachtens, besonders 64-71, wo das am Beispiel temporaler Bildspannungen gezeigt wird.
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Abbildungsnachweis Abb. 1 und 2: KHM, Wien. Abb. 3: Bruno Grimschitz, Johann Lucas von Hildebrandt, Wien 1932, Abb. 163. Abb. 4: Marianne Roland Michel, Chardin, New York 1996, 78. Abb. 5: Verf. Abb. 6: Michael Hirst, Michelangelo and His Drawings, New Haven/ London 1989, col. pl. 1.
Zwischen Präsenz und Repräsentation Zur Rekonstruktion eines jesuitischen Sehstils Steffen Zierholz
Abstract: Der vorliegende Beitrag geht der virulenten Frage nach dem ›Jesuitischen‹ der jesuitischen Kunst nach. Der Fokus liegt dabei nicht, wie bislang, auf einem künstlerischen Stil, sondern auf der Ebene der Wahrnehmung. Im Zuge der spirituellen Konsolidierung des Ordens bildete sich ab 1580 ein Kanon der ordenseigenen, oftmals druckgrafisch illustrierten Literatur heraus, der den Jesuiten zur täglichen Lektüre und zum Selbst-Exerzitium diente. Dieser Kanon erlaubt eine idealtypische Rekonstruktion jesuitischer Sehweisen, die sowohl die Art und Weise der Wahrnehmung als auch die durch den Akt der Wahrnehmung erzeugte Bedeutung umfasst. Die durch die Erbauungsliteratur verinnerlichten Gebetspraktiken bilden, so die These, einen jesuitischen Sehstil aus, in dem die Wahrnehmung mentaler und materieller Bilder zwischen Präsenz und Repräsentation changierte.
I. Vom Jesuitenstil zum jesuitischen Sehstil Die jesuitische Kunsthistoriografie wurde lange Zeit von der Vorstellung eines sogenannten Jesuitenstils dominiert. Diesem zufolge wurden die sinnlich-visuellen Gebetspraktiken des Ordens im 19. Jahrhundert für die Entstehung eines künstlerischen Stils geltend gemacht, der vor allem negativ, als überbordend, manipulativ, trügerisch, oder propagandistisch etikettiert wurde.1 Gauvin Bailey und Evonne Levy haben die zeitgeschichtlichen und 1 Zusammenfassend zum Jesuitenstil siehe Gauvin A. Bailey, ›Le style jésuite n’existe pas‹. Jesuit Corporate Culture and the Visual Arts, in: John O’Malley et al. (Hg.), The Jesuits. Cultures, Sciences, and the Arts 1540-1773, Toronto/Buffalo/London 1999, 38-89, und Evonne A. Levy, Propaganda and the Jesuit Baroque, Berkeley 2004, 15-42.
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politischen Hintergründe nachgezeichnet, die als zentrale Faktoren auf die Entstehung des Jesuitenstils eingewirkt haben. Wenngleich die Existenz eines solchen Stils längst widerlegt ist, hat die Suche nach ordensspezifischen Charakteristika jesuitischer Kunst keineswegs an Attraktivität verloren, sie vollzieht sich nun aber innerhalb rhetorischer, funktionaler oder theologischer Sinnzusammenhänge, etwa im Dienst einer »subject formation« oder in der Ausformung einer »Lebenskunst«.2 Im Anschluss an jüngere Forschungsarbeiten versuche ich die Frage nach dem ›Jesuitischen‹ der jesuitischen Kunst aus einer anderen Perspektive zu beantworten. Nicht in einem künstlerischen Stil, sondern in einem durch spezifische Praktiken geformten Wahrnehmungshabitus, einem Sehstil, soll das eigentliche Wesen des Jesuitischen verortet werden. Die folgenden Ausführungen sind einer Rekonstruktion historischer Wahrnehmung verpf lichtet, die den zeitgenössischen Betrachter als »naheliegendes Korrektiv«3 heranzieht und die Bedeutung eines Werks aus dem Vorwissen, dem Bildungsstand und der Erfahrung eines Individuums oder einer bestimmten sozialen Gruppe erklärt. In diesem Sinne hat bereits Michael Baxandall ein durch sozio-kulturelle Kontexte determiniertes period eye postuliert.4 Nach Baxandall vollzieht sich der physiologische Akt des Sehens bei allen Menschen gleich, die Interpre2 Vgl. Levy, Propaganda, 110; Steffen Zierholz, Räume der Reform. Kunst und Lebenskunst der Jesuiten in Rom, 1580-1700, Berlin 2019; Friedrich Polleroß, ›Nuestro modo de proceder‹. Betrachtungen aus Anlaß der Tagung ›Die Jesuiten in Wien‹ vom 19. bis 21. Oktober 2000, in: Frühneuzeit-Info 12 (1/2001), 93-128, hier 103. 3 Sebastian Schütze, Zur Rekonstruktion historischer Wahrnehmung in den Kulturwissenschaften, in: Sebastian Schütze (Hg.), Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit. Ansichten, Standpunkte, Perspektiven, Berlin 2005, 7-14, hier 7; vgl. auch Thomas Frangenberg, Der Betrachter. Studien zur florentinischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts, Berlin 1990; Thomas Frangenberg/Robert Williams (Hg.), The Beholder. The Experience of Art in Early Modern Europe, Aldershot 2006. 4 Vgl. Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1988. Der Anteil des Betrachters hat durch Wolfgang Kemps Arbeiten zur Rezeptionsästhetik Einzug in das kunsthistorische Methodenrepertoire gefunden, siehe Wolfgang Kemp, Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983; Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985; siehe auch John Shearman, Only connect: Art and Spectator in the Italian Renaissance, Princeton 1992; Pamela Jones und Rudolf Preimesberger haben deutlich gemacht, wie sehr der individuelle bzw. gemeinschaftliche Bildungshorizont die Lektüre eines Werks beeinflusst, vgl. Rudolf Preimesberger, Berninis Cappella Cornaro. Eine Bild-Wort-Synthese des 17. Jahrhunderts? Zu Irving Lavins Bernini-
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tation des visuell Wahrgenommenen sei dagegen durch kulturelle Einf lüsse bestimmt, wobei unter anderem kaufmännische Praktiken im Vordergrund stehen.5 Allerdings bringt Baxandalls Fokus auf die »patronizing classes« unweigerlich eine Reduktion auf eine soziale, männlich geprägte Elite mit sich.6 Wenngleich diese kleine Fraktion als wichtigste Gruppe künstlerischer Patronage in Erscheinung trat, waren die in Auftrag gegebenen Werke zumeist öffentlich zugänglich, so dass sie in erster Linie von Betrachterinnen und Betrachtern rezipiert wurden, die nur zum geringen Teil mit jenen Praktiken vertraut waren. Dagegen erlaubt das Konzept des Sehstils bzw. der dem Konzept zugrunde liegende Stilbegriff eine differenziertere Betrachtung von unterschiedlichen Wahrnehmungsdispositionen innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts. Insbesondere die Kunstgeschichte, die wie keine andere akademische Disziplin mit dem Stilbegriff operiert und sich kritisch mit generalisierenden, vereinheitlichenden Stilkonzepten auseinandergesetzt hat, ist gegenwärtig für eine pluralistische Stilgeschichte mit ihren Stilvarietäten, Stilnuancen und Stildifferenzen sensibilisiert.7 Die Geschichte der Wahrnehmung kann damit als eine Abfolge von Sehstilen, aber auch als eine nebeneinander existierende Pluralität von Sehstilen beschrieben werden. Über eine bloße Allusion auf den Jesuitenstil hinaus soll der jesuitische Sehstil im Anschluss an Ludwik Flecks Konzept des Denkkollektivs als ein Resultat institutioneller, diskursiver und immaterieller Zurichtung von Wahrnehmung verstanden werden. Das Denkkollektiv ist zentraler Bestandteil seiBuch, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (2/1986), 190-219; Pamela M. Jones, Altarpieces and their Viewers in the Churches of Rome from Caravaggio to Guido Reni, Aldershot 2008. 5 Vgl. Baxandall, Painting and Experience, 29-108. 6 Ebd., 38; zur kritischen Rezeption siehe Allan Langdale, Aspects of the Critical Reception and Intellectual History of Baxandall’s Concept of the Period Eye, in: Art History 21 (4/1998), 479-497; Adrian W.B. Randolph, Gendering the Period Eye. ›Deschi da parto‹ and Renaissance Visual Culture, in: Art History 27 (4/2004), 538-562. 7 Vgl. Rainer Rosenberg et al., Stil, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, 7 Bde., Stuttgart/Weimar 2003, Bd. 5, 641-703; Josef A. Schmoll gen. Eisenwerth, Stilpluralismus statt Einheitszwang. Zur Kritik der Stilepochen-Kunstgeschichte, in: Werner Hager/Norbert Knopp (Hg.), Beiträge zum Problem des Stilpluralismus, München 1977, 9-19; Götz Pochat, Der Epochenbegriff und die Kunstgeschichte, in: Lorenz Dittmann/Oskar Bätschmann (Hg.), Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900-1930, Wiesbaden u.a. 1985, 129-167; Hans Ulrich Gumbrecht/ Karl L. Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1986.
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ner Erkenntnistheorie, deren grundlegende Prämisse lautet, dass Erkennen sozial bedingt sei: Erkennen, so Fleck, »stellt die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebilde katexochen«.8 In Flecks Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache von 1935 definiert der Mediziner und Wissenschaftstheoretiker das Denkkollektiv »als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«.9 Fleck erörtert das Konzept anhand einer Gruppe von naturwissenschaftlichen Spezialisten, es kann ihm zufolge jedoch auf alle Arten von sozialen Gruppen übertragen werden, wobei er religiöse Gemeinschaften explizit nennt. Indem die Mitglieder eines Denkkollektivs das gleiche Wissen, die gleiche methodische Herangehensweise und dasselbe Erkenntnisinteresse teilen, entwickeln sie nach Fleck ein stilbedingtes »Gestaltsehen«.10 Im Unterschied zum unklaren, anfänglichen, ungerichteten und stillosen Sehen zeichnet sich das Denkkollektiv durch ein »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« aus.11 Diese Art von gerichteter Wahrnehmung, die das Denkkollektiv zusammenhält und nach außen hin abgrenzt, bezeichnet Fleck als Denkstil. Dabei erkannte er als Erster die fundamentale Bedeutung der gemeinsamen Ausbildung für die Struktur des Denkkollektivs, die er entsprechend in religiöser Bildersprache einkleidet: »[D]er heilige Geist senkt sich auf den Neuling herab und bis jetzt Unsichtbares wird ihm sichtbar. Dies ist die Wirkung der Aneignung eines Denkstils.«12 In diesem Sinne verstehe ich den Jesuitenorden als ein Denkkollektiv, dessen Mitglieder über die langjährige Ausbildung, auch über Ländergrenzen hinweg, einen gemeinsamen Denk- und Sehstil entwickelt haben. Die Jesuiten bieten ideale Voraussetzungen für die Rekonstruktion eines ordensspezifischen Gestaltsehens, da ihre Ausbildung in hohem Maße formalisiert war und sie sich schon früh darum bemühten, die eigene schriftstellerische Tätigkeit zu dokumentieren und
8 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 1980, 58. 9 Ebd., 121, 130. 10 Ebd., 121. 11 Ebd., 130. 12 Ebd., 137; Claus Zittel, Ludwik Fleck und der Stilbegriff in den Naturwissenschaften. Stil als wissenschaftshistorische, epistemologische und ästhetische Kategorie, in: Horst Bredekamp/John Michael Krois (Hg.), Sehen und Handeln, Berlin 2011, 171-205.
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ihr Wissen zu kanonisieren.13 Charakteristisch für ein jesuitisches Bildersehen war der durch Gebetspraktiken eingeübte Umgang mit der Imagination, die als Schaltstelle zwischen materiellen und mentalen Bildern fungierte.
II. Kollektive Zurichtung: Gebetspraxis und jesuitisches Bildersehen Im Zuge der intellektuellen und spirituellen Konsolidierung des Ordens unter dem Generalat Claudio Acquavivas (1581-1615) bildete sich ein Kanon der ordenseigenen, oftmals druckgrafisch illustrierten Literatur heraus, welche die jungen Novizen mit der spezifischen Gebetspraxis des Ordens (orazione mentale) vertraut machte.14 Während die Geistlichen Übungen nur sporadisch, unter Anleitung eines Exerzitiengebers absolviert wurden, diente die ab 1580 sprunghaft angestiegene ordenseigene Literatur der täglichen Eigenlektüre und dem Selbstexerzitium. Mit Acquaviva konstituierte sich gleichsam ein jesuitisches Denkkollektiv, das sich nach Joseph de Guibert durch eine »théologie de la vie intérieure« auszeichnete, »à la fois traditionnelle et adaptée à son esprit, à sa vocation particulière«.15 Für die Ausformung eines jesuitischen Sehstils nimmt das Terziat eine herausgehobene Rolle ein. Während im Noviziat vorwiegend Werke der patristischen und mittelalterlichen Erbauungsliteratur gelesen wurden, wie etwa Augustinus’ Confessiones, Ludolf von Sachsens Vita Jesu Christi oder Thomas von Kempens De imitatione Christi, rekurrierte man für das dritte Probationsjahr auf die ordenseigene Literatur. So empfiehlt der Abschnitt Libri pro iis, qui in tertio Probationis anno versantur aus den Ordinationes vor allem Werke von Ordensmitgliedern (»et
13 Antonio Possevino, Bibliotheca selecta, 2 Bde., Rom 1593; Pedro Ribadeneira, Bibliotheca scriptorum Societatis Jesu, Antwerpen 1643. 14 Zu Acquavivas Generalat siehe zuletzt Pierre A. Fabre/Flavio Rurale (Hg.), The Acquaviva Project: Claudio Acquaviva’s Generalate (1581-1615) and the Emergence of Modern Catholicism, Boston 2017; Paolo Broggio et al. (Hg.), I Gesuiti ai tempi di Claudio Acquaviva. Strategie politiche, religiose e culturali tra Cinque e Seicento, Brescia 2007. 15 Joseph de Guibert, Le généralat de Claude Acquaviva (1581-1615). Sa place dans l’histoire de la spiritualité de la Compagnie de Jésus, in: Archivum Historicum Societatis Iesu 10 (1941), 59-93, hier 87.
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alia huiusmodi, praesertim ex nostra Societate«).16 Dieser Kanon erlaubt eine idealtypische Rekonstruktion jesuitischer Sehweisen, die sowohl die Art und Weise der Wahrnehmung als auch die durch den Akt der Wahrnehmung erzeugte Bedeutung umfasst. Die Verinnerlichung der mentalen Gebetspraxis war dabei, wie gezeigt werden soll, eng mit der Ausformung eines spezifischen Sehstils verbunden, bei dem die Wahrnehmung mentaler und materieller Bilder zwischen Präsenz und Repräsentation oszillierte. Der jesuitische Wahrnehmungshabitus wurde maßgeblich durch zwei Techniken geprägt, die der Gründer des Ordens, Ignatius von Loyola (1491-1556), in den Geistlichen Übungen, dem spirituellen Grundtext der Jesuiten, systematisiert hat. Zunächst werden in der Zusammenstellung des Raumes (compositio loci), eine obligatorische Vorübung vor jeder Meditation, der biblische Schauplatz und die szenische Konfiguration mit Hilfe der Einbildungskraft vergegenwärtigt: DIE ERSTE VORÜBUNG IST: Eine gewisse Weise, den Ort zusammenzustellen. Dafür ist festzustellen, daß wir bei jeglicher Besinnung oder Betrachtung über eine körperliche Wirklichkeit wie etwa über Christus uns gemäß einer Sicht der Einbildung einen körperlichen Ort vorstellen müssen, der das, was wir betrachten, vergegenwärtigt, etwa den Tempel oder einen Berg, wo wir Christus Jesus oder die Jungfrau Maria finden und was sonst zum Argument unserer Betrachtung gehört.17
16 Ordinationes Praepositorum Generalium. Communes toti Societati, Auctoritate Septimae Congregationis Generalis contractae, Rom 1617, 37; siehe auch Pedro de Leturia, Lecturas ascéticas y lecturas místicas entre los jesuitas del siglo XIV, in: Archivio italiano per la storia della pietà 2 (1959), 3-50. 17 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, in: Ignatius von Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu, hg. von Peter Knauer, Würzburg 1998, 85-269, hier §47; zur Zusammenstellung des Raumes siehe die grundlegende Studie von Pierre-Antoine Fabre, Ignace de Loyola. Le lieu de l’image. Le problème de la composition de lieu dans les pratiques spirituelles et artistique jésuites de la seconde moitié du XVIe siècle, Paris 1992; Michel Olphe-Galliard, Composition de lieu, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire, 17 Bde., Paris 1953, Bd. 2, Sp. 1321-1326; Nicolas Standaert, The Composition of Place. Creating Space for an Encounter, in: The Way 46 (1/2007), 7-20; Wietse de Boer, Invisible Contemplation. A Paradox in the Spiritual Exercises, in: Karl Enenkel/Walter S. Melion (Hg.), Meditatio–Refashioning the Self. Theory and Practice in Late Medieval and Early Modern Intellectual Culture,
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Im Anschluss wird die Szene durch die Anwendung der Sinne (applicatio sensuum) belebt und durch ein inneres Sehen, Hören, Fühlen, Tasten und Schmecken zu einem imaginären Erlebnis verlebendigt. Der Übende ist nicht mehr nur ein distanzierter Beobachter, sondern projiziert sich als handelndes und partizipierendes Subjekt in das Geschehen hinein: DER ERSTE PUNKT IST: Der Anblick der Personen, wie der jungfräulichen Gottesmutter und des Gatten Josef mit der Magd und Christi des Herrn als eines jetzt erst geborenen Kindes. Ich werde mir vorstellen, bei ihnen dabei zu sein wie ein kleiner Armer, der je nachdem ihren Notwendigkeiten mit höchster Ehrfurcht dient [Hervorhebung d. Verf.]. Und von daher werde ich ansehen, welche Hilfe aus einem solchen Schauspiel zu mir zurückkehren kann.18 Als Instrument der »Präsentmachung« (Rahner) überwindet die Anwendung der Sinne die zeitliche und räumliche Distanz der biblischen Ereignisse und macht den Meditierenden zu einem unmittelbaren Teilnehmer und Akteur des Geschehens. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die diskursive Durchdringung eines Glaubensgeheimnisses, sondern die affektive Selbststimulierung. Die Entwicklung des Darstellungsmodus von der Zusammenstellung des Raumes hin zur Anwendung der Sinne kann so als eine Verschiebung von der re-praesent-atio eines Ereignisses hin zu seiner praesentia
Leiden/Boston 2011, 233-256; Christine Göttler, Last Things. Art and the Religious Imagination in the Age of Reform (Studies in Early Modern Identity Formation, 2), Turnhout 2010, 278-317. 18 Loyola, Geistliche Übungen, §114; zur Anwendung der Sinne siehe Loyola, Geistliche Übungen, §§121-125. Zur jesuitischen Anwendung der Sinne siehe Philip Endean, The Ignatian Prayer of the Senses, in: The Heythrop Journal 31 (4/1990), 391-418; Josef Sudbrack, Die ›Anwendung der Sinne‹ als Angelpunkt der Exerzitien, in: Michael Sievernich/Günter Switek (Hg.), Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, Freiburg u.a. 1990, 96-119; Hugo Rahner, Die Anwendung der Sinne in der Betrachtungsmethode des heiligen Ignatius von Loyola, in: ders., Ignatius von Loyola als Mensch und Theologe, Freiburg i.Br. 1964, 344-369, hier 353; für einen mittelalterlichen Kontext siehe die Arbeiten von Niklaus Largier, Präsenzeffekte. Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 37 (3-4/2005), 393-412 und Niklaus Largier, Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte, in: Manuel Braun/Christopher Young (Hg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen (Trends in medieval Philology, 12), Berlin 2007, 43-60.
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charakterisiert werden. Die Darstellung verliert ihren Zeichencharakter, sie wird zum Dargestellten und gewinnt eine lebensähnliche Präsenz.19 Während des Noviziats wurde auf die Einübung dieser Techniken besonderen Wert gelegt. So explizierte der römische Novizenmeister Bartolomeo Ricci (1542-1613) in seiner 1600 publizierten Instruttione di meditare ausführlich die beiden zentralen Bestandteile jesuitischer Gebetstechnik, die von Ignatius von Loyola selbst nur spärlich kommentiert worden waren. Aus Riccis Abhandlung wird auch deutlich, dass die beiden Techniken an unterschiedliche Seelenvermögen gekoppelt waren. Die Zusammenstellung des Raumes war mit der Vernunft, dem intellectus, verbunden, wobei sich Ricci ganz im Rahmen scholastisch-aristotelischer Epistemologie bewegte, wonach der Verstand nicht ohne innere Bilder auskomme.20 Dagegen war die Anwendung der Sinne als Technik der emotionalen Selbstaffizierung dem Willen, der voluntas, zugeordnet. Der Affekt stimulierte nach scholastischer Auffassung die Transformation des Willens und wirkte sich so unmittelbar auf die christliche Lebenspraxis aus.21 Dem Willen wurde dabei eine Vorrangstellung gegenüber dem Verstand eingeräumt. Zwar wurden im Gebet Ricci zufolge Akte des Intellekts zuerst und länger ausgeübt, doch seien die Akte des Willens bedeutsamer, da sie sich direkt auf das gelebte Leben auswirken. Der intellectus erlaube zwar schöne und lange Diskurse, aber erst die voluntas setze die Bemühungen und Vorsätze um, mittels denen man ein spirituelles Leben führe (»ottengha e prenda la preda de’buoni desideri, e Santi propositi con i quai viviamo, e ci mantenghiamo nella vita spirituale«).22 Ein Tagebuch-Eintrag Peter Fabers (1506-1546), eines Mitbegründers des Ordens, illustriert im Hinblick auf materielle Bilder, wie das Gebet für die Ambiguität von Präsenz und Repräsentation sensibilisiert hat. Faber er-
19 Vgl. Caroline van Eck, Classical Rhetoric and the Visual Arts in Early Modern Europe, Cambridge/New York 2007, 19. 20 Bartolomeo Ricci, Instruttione di meditare, Rom 1600, 86. 21 Zu den anthropologischen Grundlagen siehe Mabel Lundberg, Jesuitische Anthropologie und Erziehungslehre in der Frühzeit des Ordens ca. 1540-ca. 1650, Uppsala 1966, hier 155-236; Walter S. Melion, Introduction. Meditative Images and the Psychology of the Soul, in: Reindert L. Falkenburg/Walter S. Melion (Hg.), Image and Imagination of the Religious Self in Late Medieval and Early Modern Europe, Turnhout 2007, 1-36; siehe auch Joseph Imorde, Affektübertragung, Berlin 2004, hier 83-139. 22 Ricci, Instruttione, 23.
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kannte, versunken vor einem Kruzifix, die Kraft des Bildes, dem Betrachter Abwesendes vor Augen zu führen und ihm präsent zu machen: Wie ich mich dem Kruzifix zuwandte, um zu Christus zu beten, verspürte ich ein tiefes Verständnis für den Nutzen solcher Bilder, die man deshalb (das kam mir da zum erstenmal zum Bewußtsein) als Dar-stellungen (sic!) [repraesentationes] bezeichnet, weil sie die dargestellten Personen wieder da sein lassen und sie gegenwärtig vor uns hinstellen [nobis praesentes ipsas faciunt]. So bat ich mit großer Andacht Gott Vater, Er möge mir diese Gnade der Gegenwart [praesentiae] Christi schenken und Ihn meinem Gemüt vergegenwärtigen [praesentem facere] – so, wie die heiligen Bilder für die fromm und katholisch denkenden Gläubigen eine große Kraft der Vergegenwärtigung [virtutem repraesentativam] haben.23 In der druckgrafisch illustrierten Erbauungsliteratur, die der Einübung der Gebetstechniken diente, spielte die charakteristische Ambivalenz von Präsenz und Repräsentation eine zentrale Rolle. So in der von Boetius Adamsz. Bolswert (um 1585-1633) gestochenen Geburt Christi aus der 1620 gedruckten Via vitae aeternae des Jesuiten Antoine Sucquet (1574-1627), der wie Ricci ebenfalls auf eine langjährige Erfahrung als Novizenmeister zurückgreifen konnte (Abb. 1). Die Zusammenstellung des Raumes entspricht der Bildkomposition (»Compositio loci, ut in imagine«).24 Das System der Buchstaben-Annotationen, das sich mit Jerónimo Nadals (1507-1580) 1595 erschienenen Adnotationes et Meditationes in Evangelia etabliert hat, erläutert die einzelnen Bildelemente und stellt konkrete Betrachtungs-
23 Siehe den Eintrag vom 6. Juli 1543 in Petrus Faber, Fabri Monumenta. Beati Petri Fabri Epistolae, Memoriale, et Processus (Monumenta Historica Societatis Jesu, 14), Madrid 1914, 659; in einem ähnlichen Kontext siehe Ralph Dekoninck, Visual Representation as Real Presence. Otto van Veen’s ›Naples Vision of Saint Thomas Aquinas‹, in: Caroline van Eck/Joris van Gastel/Elsje van Kessel (Hg.), The Secret Lives of the Artworks. Exploring the Boundaries between Art and Life, Leiden 2014, 179-199. 24 Antoine Sucquet, Via vitae aeternae, Antwerpen 1630, 517; 501: »Quid ergo Meditatio vel meditari? Est considerare cum animo suo, & velut in corde depingere mysterium, aut doctrinam aliquam è vitâ[m] Christi, vel denique perfectionem Dei cum circumstantiis personae, actionum, verborum, loci ac temporis.« Vgl. hierzu auch Jeffrey Chipps Smith, Sensuous Worship. Jesuits and the Art of the Early Catholic Reformation in Germany, Princeton 2002, 48.
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Abb. 1: Boetius Adamsz. Bolswert, Vis modum meditandi nosse?, in: Antoine Sucquet, Via vitae aeternae, Antwerpen 1630, 516f.
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punkte zur Meditation bereit.25 Die Hauptszene zeigt die Anbetung der Hirten vor einer verfallenen Architektur. Das von einem Nimbus hinterfangene Christuskind ist umringt von drei Hirten, die mit bewegten Gesten ihre innere Erregung und Andacht zum Ausdruck bringen. Maria sitzt demütig zur Rechten des Kindes, während Josef mit verschränkten Armen hinter ihr steht. Über dem Geschehen hat sich die Wolkendecke geöffnet, wodurch der Blick auf die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung frei wird. Sie blicken auf die Anbetung hinab und unterstreichen die heilsgeschichtliche Bedeutung des Ereignisses. Für uns von besonderem Interesse ist der auf einer leichten Anhöhe stehende Maler mit Pinsel und Palette im Vordergrund. Er hat sich die Geburt Christi imaginativ vergegenwärtigt und wohnt ihr als Augenzeuge bei. Sein Blick ist auf die Anbetung gerichtet, während die Personifikation der Seelenruhe ein Herz hält, das dem Maler als Leinwand dient. Diese ist in fünf Bildfelder eingeteilt, die überwiegend Details der Geburt Christi zeigen. Sie strukturieren die Meditation, indem sie die simultane Wirkung der Gesamtkomposition abschwächen und in ihre einzelnen Elemente zergliedern. In diesem Sinne vergleicht bereits das offizielle Direktorium die Meditation mit einer Bildbetrachtung, bei der man vom Ganzen immer mehr ins Detail gehe.26 Die Präsenz erzeugende Fähigkeit der Malerei, die Leon Battista Alberti (1404-1472) in den kunsttheoretischen Diskurs eingeführt hat, steht dabei sinnbildlich für den Akt der Meditation, bei dem die Räumlichkeiten, Personen und Handlungen gleichsam in das Herz gemalt werden (»velut in corde depingere«). Spätestens mit Gabriele Paleottis (1522-1597) Discorso intorno alle imagini sacre e profane (1582) stimmen Meditation und Malerei nicht nur in ihrer Fähigkeit zur Präsenzerzeugung überein, sondern fallen erstmals in ihrer wirkungsästhetischen Zielsetzung zusammen: Die affektive Wirkung, das movere, avancierte nun zur wichtigsten Funktion sakraler Kunst. 25 Vgl. Walter S. Melion, The Art of Vision in Jerome Nadal’s Adnotationes et meditationes in Evangelia, in: Jerome Nadal, Annotations and Meditations on the Liturgical Gospels I: The Infancy Narratives, hg. und übers. von Frederick Homann, Philadelphia 2003, 1-96. 26 Claudio Acquaviva, Directoria conscripta iussu et Auctoritate R.P. Cl. Acquaviva, in: Directoria Exercitiorum Spiritualium (1540-1599), hg. von Ignacio Iparraguirre, Rom 1955, Doc. 43, 150 [673]: »deinde vero in ipsa meditatione incipiat in singulis eius partibus immorari, easque ponderare et penetrare. Ut cum quis coniicit oculos in tabulam aliquam pictam, in qua sit varietas rerum pictarum, prius unico intuitu omnia confuse cernit, et scit quid in ea tabula contineatur; postea vero figit oculos in singulis particularibus rebus, quae ibi pictae sunt, easque sigillatim melius et accuratius perpendit.«
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Die in das Herz gemalten, Repräsentation gewordenen Bilder im Bild entsprechen den Meditationen, auf die der Schwerpunkt der Ref lexion gelegt werden soll. Die in die einzelnen Kompartimente eingeschriebenen Fragen Quis? (D), Quid? Quomodo? (E), Ubi? Quando? (F), Cur? (G), Quae virtus elucet? (H) und Qua eius occasio? (I) machen deutlich, dass die Meditationen eine intellektuelle Durchdringung und theologische Ref lexion über die Bedeutung der Geburt Christi für den Menschen zum Ziel haben. Dagegen sind die Elemente, die der Maler nicht als bildliche Repräsentation realisiert hat, sondern augenblicklich in ihrer körperlichen Präsenz erlebt, mit der Anwendung der Sinne verbunden. Die Buchstaben bei der Anbetungsszene verweisen auf spezifische auszuübende Affekte wie Dankbarkeit (L), Freude (M), Bewunderung (N) mit den Hirten, Mitleid (O) dagegen mit Joseph. Es handelt sich um bestimmte vordefinierte Affekte, die im Sinne Ignatius’ nach Meditationsgegenstand variieren: »Wenn die Betrachtung über die Auferstehung geht, um Freude mit dem freudigen Christus bitten; wenn über das Leiden, um Qual, Tränen und Pein mit dem gepeinigten Christus bitten.«27
III. Präsenz und Repräsentation in Gian Lorenzo Bernini’s Sant’Andrea al Quirinale Die für den jesuitischen Sehstil charakteristische Ambiguität von Präsenz und Repräsentation hat gleichermaßen die Ausstattung der römischen Sakralräume des Ordens beeinf lusst. Bereits das erste Ausstattungsprojekt des Ordens, die Cappella della Natività im Gesù, und noch Andrea Pozzos illusionistisches Gewölbefresko in Sant’Ignazio können im Hinblick auf eine solche Ambiguität beschrieben werden, wenngleich diese auf unterschiedliche künstlerische Weise realisiert worden ist. Im Mittelpunkt meiner folgenden Überlegungen steht allerdings Gian Lorenzo Berninis (1598-1680) Sant’Andrea al Quirinale – der Ort also, an dem die Novizen mit den ordensspezifischen Techniken des Gebets vertraut gemacht wurden. Anhand der Noviziatskirche des Ordens kann besonders eindrücklich gezeigt werden, wie mediale und materielle Ausstattungselemente auf diskursive Rezeptionsvorgaben Bezug nahmen und die
27 Loyola, Ignatius von, Geistliche Übungen, §48.
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Wahrnehmung im Sinne eines jesuitischen Sehstils disponierten.28 Der Fokus liegt dabei auf der Cappella maggiore, die im Rahmen des Neubaus in den Jahren 1658-1670 entstanden ist (Abb. 2). Das Altarbild von Guillaume Courtois, italianisiert Guglielmo Cortese (1628-1679), von rötlichem Diaspro di Sicilia gerahmt, zeigt das Martyrium des Apostels Andreas. Wie in der kurz zuvor abgeschlossenen Cappella Cornaro in Santa Maria della Vittoria in Rom verwendete Bernini vergoldete Strahlen und Engel, die von einer versteckten Lichtquelle beleuchtet werden. Sie ver- Abb. 2: Gian Lorenzo Bernini, klären das Martyrium und ziehen den Sant’Andrea al Quirinale, Blick des Betrachters unmittelbar auf Innenraum mit Blick auf den sich. Im gesprengten Altargiebel hat Hauptaltar, 1658-1670. Antonio Raggi (1624-1686) den Heiligen, nach einem Modell Berninis, als Stuckfigur mit nach oben gerichtetem Blick und ausgebreiteten Armen dargestellt. Courtois hat das Martyrium des Heiligen prominent in den Bildvordergrund gesetzt (Abb. 3). Andreas, an die crux decussata gefesselt, ist aus der zentralen Bildachse in die rechte Hälfte verschoben und von der Bildf läche leicht schräg nach hinten versetzt. Der in schwarz gekleidete Statthalter Egeas, der die Hinrichtung des Apostels anordnete, wohnt dem Ereignis bei. Seine innere Erregung spiegelt sich im unruhigen und bewegten Umhang wider. Zu seinen Füßen kniet Maximilla, eine Anhängerin des Apostels nobler Herkunft, die Egeas mit f le28 Zur Baugeschichte siehe Christoph L. Frommel, S. Andrea al Quirinale. Genesi e struttura, in: Marcello Fagiolo/Gianfranco Spagnesi (Hg.), Gian Lorenzo Bernini architetto e l’architettura europea del Sei-Settecento, Rom 1983/1984, 211-253, und Joseph Connors, Bernini’s S. Andrea al Quirinale. Payments and Planning, in: Journal of the Society of Architectural Historians 41 (1/1982), 15-37; Tod Marder, Bernini and the Art of Architecture, New York 1998, hier 187-209; vgl. die Beiträge in Mario Bevilacqua/Adriana Capriotti (Hg.), Sant’Andrea al Quirinale. Il restauro della decorazione della cupola e nuovi studi berniniani, Rom 2016; Tobias Glitsch, Sant’Andrea al Quirinale. Die Entstehung von Gian Lorenzo Berninis römischer Ovalkirche, Diss. RWTH Aachen 2018.
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hendem Blick darum bittet, Andreas zu verschonen. Unmittelbar an der vorderen Bildebene kniet eine Frau im verlorenen Profil, die mit ihrer linken Hand auf Andreas verweist. Sie ist so sehr vom Ereignis eingenommen, dass sie nicht bemerkt, wie sich ihr verängstigtes Kind im nächsten Moment aus ihren Armen entwinden wird. PieterMatthijs Gijsbers konnte anhand von jesuitischen Predigten nachweisen, dass die Szene als Ausdruck des unbedingten Wunsches nach Kreuzigung gedeutet werden muss.29 Die bedingungslose Kreuzliebe des Apostels ist sichtbarer Ausdruck Abb. 3: Guillaume Courtois, Martyrium seiner christoformitas, seiner des heiligen Andreas, um 1668, Öl auf Christusähnlichkeit, die sich in Leinwand. Rom, Sant’Andrea al Quirinale. der Form des Kreuzes manifestiert. Sie ist nicht dem lateinischen Buchstaben x, sondern dem Griechischen χ (chi) nachempfunden. Als Anfangsbuchstabe des Namens Christi in griechischer Schreibweise verweist die Form des Kreuzes somit zeichenhaft auf Christus selbst.30 29 Pieter-Matthijs Gijsbers, Claudio Aquaviva, Louis Richeome and Durante Alberti’s Altarpiece for Sant’Andrea al Quiriniale, in: Sible de Blaauw/Pieter-Matthijs Gijsbers/Sebastian Schütze (Hg.), Docere, Delectare, Movere. Af fetti, Devozione e Retorica nel Linguaggio Artistico del Primo Barocco Romano. Atti del Convegno organizzato dall’Istituto Olandese a Roma e dalla Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut) in Collaborazione con l’Università Cattolica di Nijmegen, Roma, 19 – 20 gennaio 1996, Rom 1998, 27-40; Giovanni Careri, Voli d’amore. Architettura, pittura e scultura nel ›bel composto‹ di Bernini, Bari 1991, 132-133. 30 Bernini war mit der theologischen Idee der christoformitas seit der Konzeption und Ausstattung der Vierungspfeiler von Sankt Peter vertraut; vgl. Irving Lavin, Bernini and the Crossing of St. Peter’s, New York 1968; Rudolf Preimesberger, Die Ausstattung der Kuppelpfeiler von St. Peter, Rom unter Papst Urban VIII., in: Jahres- und Tagungsbericht der GörresGesellschaft (1983), 36-55.
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Abb. 4: Giovanni Rinaldi nach Entwürfen Gian Lorenzo Berninis, Rahmenengel links.
Abb. 5: Giovanni Rinaldi nach Entwürfen Gian Lorenzo Berninis, Rahmenengel rechts.
Die zwei vergoldeten Stuckengel an den beiden oberen Ecken des Bildrahmens machen deutlich, dass eine zwischen Präsenz und Repräsentation oszillierende Zurichtung der Wahrnehmung als integraler konzeptioneller Bestandteil bei der Planung und Ausführung des Hauptaltars berücksichtigt wurde (Abb. 4 und 5). Sie führten zwei Zugangsmöglichkeiten des Bildersehens vor Augen, die von einem in jesuitischen Gebetstechniken geschulten Novizen als Rezeptionsangebote erkannt werden konnten. Während der Engel rechts den Charakter der Darstellung als Repräsentation unterstreicht – er blickt seitlich auf bzw. hinter den Rahmen und erweckt so den Eindruck, als hänge und justiere er gerade sorgfältig ein ›Bild‹ der Kreuzigung an die Wand, blickt der linke Engel in das Bild hinein und reagiert mit einem Gestus des Erstaunens auf das Martyrium. Er unterläuft den Charakter der Repräsentation und evoziert die Präsenz des Martyriums im Hier und Jetzt. Der Repräsentationscharakter des Ensembles respektive des Altarbildes, wird dem Betrachter durch die prominente Rahmen-Inszenierung bewusst gemacht. Die Altartafel geht keine direkte physische Verbindung mit einer Altarädikula ein. Ebenso wenig ist sie in die Architektur des Kirchenbaus inte-
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griert, sondern so vor die Altarrückwand gehängt, dass ihre Materialität augenscheinlich zur Geltung kommt.31 Während die obere Bildhälfte noch von vergoldeten Lichtstrahlen hinterfangen wird, liegt die untere Hälfte unvermittelt auf der Wandf läche auf. Dieser stoff liche und farbliche Kontrast trat vor der Aufstellung des Bronzetabernakels 1697 besonders eindrücklich in Erscheinung, doch ist die mediale Bruchstelle für den heutigen Betrachter noch immer deutlich nachvollziehbar (Abb. 6). Der breite und massive Rahmen, dessen ausgeprägte Profilierung Bernini in mehreren Studien erprobt hat, schwillt zur Rahmeninnenseite an und scheint als formgebende Kraft auf Courtois’ BildAbb. 6: Sant’Andrea al Quirinale, komposition eingewirkt zu haben (Abb. 7). in: Giovanni Giacomo de Rossi, Während in Durante Albertis (1538-1613) Insignium Romae templorum älterer Darstellung aus dem Vorgängerprospectus, Rom 1683, Tafel bau die Bildfiguren im Vordergrund be24. Bibliotheca Hertziana, Rom, schnitten werden, respektiert Courtois’ Signatur Dg 532-2830 gr raro. Altarbild die natürlichen Grenzen des materiellen Bildträgers. Die Bildfiguren im Vordergrund sind nun nicht mehr beschnitten, sondern werden im Gegenteil durch den Rahmen weiter befestigt. Frank Fehrenbach hat im Zusammenhang mit Leonardos Werken dargelegt, dass es dadurch dem Betrachter möglich ist, trotz der simultanen Wahrnehmungsbedingung des Bildes schnell einen klaren Gesamteindruck der Darstellung zu bekommen.32 Dass Bernini Wert auf eine harmonische Abstimmung zwischen Bildkomposition und Bildrahmung legte, zeigt ein 31 Vgl. Renate Jürgens, Die Entwicklung des Barockaltars in Rom, Diss. Universität Hamburg 1956, 199. 32 Vgl. Frank Fehrenbach, Blick der Engel und lebendige Kraft. Bildzeit, Sprachzeit und Naturzeit bei Leonardo, in: Frank Fehrenbach (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zur Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, 169-206.
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Passus aus dem Racconto di fabbrica von 1672, wonach Courtois das Gemälde mit Hilfe von wenigen Vorgaben (»qualche indirizzo«) des Cavaliere entworfen habe.33 Der Rahmen ordnet den überwältigenden Sinneseindruck, der durch Berninis gattungsübergreifenden Einsatz von Malerei, Skulptur und Architektur entsteht. Er betont den ästhetischen Eigenwert des Bildes und bietet dem Blick des Betrachters einen Fixpunkt, wo er zur Ruhe kommt. Nicht die schützende oder schmückende Funktion des Rahmens ist hier relevant, sondern seine Fä- Abb. 7: Gian Lorenzo Bernini, higkeit, ein visuelles Feld zu definieren, eine Rahmenstudien für den abgeschlossene innere Einheit zu erzeugen Hauptalter der Cappella und diese vom Betrachter und seiner Umge- maggiore, Feder, braune Tinte bung abzugrenzen. Diese Fähigkeit ist, wie und schwarze Kreide, 24,9 x die Arbeiten von Georg Simmel, Louis Marin 21 cm. Leipzig, Museum der oder Hilde Zaloscer gezeigt haben, wesen- bildenden Künste. haft für den Rahmen.34 Er unterstreicht die Differenz des Bildgeschehens zur Betrachterwirklichkeit und sensibilisiert den Betrachter für den Status des Dargestellten als ›Bild‹, als Repräsentation. Der Rahmen bindet den materiellen Bildträger und die gemalte virtuelle Darstellungsf läche aneinander und schließt sie zu allen Seiten ab. Simmel spricht in diesem Zusammenhang von einer »Antithese gegen uns und Synthese in
33 ARSI, F.G. 865, fasc. 17; zitiert nach Frommel, S. Andrea al Quirinale, 250. 34 Vgl. Georg Simmel, Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch [1902], in: Georg Simmel, Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Darmstadt 1998, 97-102; Hilde Zaloscer, Versuch einer Phänomenologie des Rahmens, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 19 (2/1974), 189-224; Louis Marin, Der Rahmen der Repräsentation und einige seiner Figuren [1988], in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 7 (1/2016), 75-97; besonders in jüngerer Zeit wird dem Rahmen wieder vermehrt Beachtung geschenkt, vgl. Hans Körner/Karl Möseneder (Hg.), Format und Rahmen. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Berlin 2008; Hans Körner/Karl Möseneder (Hg.), Rahmen – zwischen Innen und Außen. Beiträge zur Geschichte und Theorie, Berlin 2010; Vera Beyer, Rahmenbestimmungen. Funktionen von Rahmen bei Goya, Velázquez, van Eyck und Degas, Paderborn/München 2008.
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sich«.35 Felix Ackermann hat die künstlerische Abhängigkeit der Cappella maggiore zu anderen, im gleichen Zeitraum von Bernini realisierten Altarensembles aufgezeigt.36 Doch erst die Annahme eines jesuitischen Sehstils macht verständlich, warum der Orden gerade eine solche formale Lösung mutatis mutandis favorisiert haben musste.37 Wenngleich die Rahmen-Inszenierung, und damit der Status der Darstellung als ›Bild‹, vom Kircheneingang als dominierendes Element wahrgenommen wurde, registrierte der in oder vor der Cappella maggiore Meditierende neben den Rahmenengeln weitere dekorative Elemente, die den Charakter der Repräsentation unterlaufen und die Präsenz des Dargestellten evozieren. Courtois’ Darstellung orientierte sich an Albertis Altarbild, was die anhaltende Wertschätzung seiner invenzione bezeugte.38 Allerdings reduzierte er das Bildpersonal auf wenige Akteure, verzichtete auf einen weiten Landschaftsausblick, rückte das Ereignis näher an den Betrachter heran und erreichte so eine dramaturgische Steigerung und Präsenz des Geschehens. Neben die innerbildlichen Strategien der Erzeugung von Präsenz tritt eine subtile Verschränkung von Bild- und Realraum, die den Bildbetrachter zu einem unmittelbaren Teilnehmer am dargestellten Geschehen macht. Eine Verf lechtung von Raumebenen kann dabei besonders wirkungsvolle Präsenzeffekte zeitigen, da der Raum die leibliche Erfahrung des Betrachters stärker berücksichtigt als etwa ein Kupferstich. Zudem zeichnete sich die jesuitische Gebetspraxis, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, durch eine wechselseitige Verschränkung von imaginativer Betrachtungsweise und sinnlichem Realraum aus.39 Ein zentrales Mittel, um eine narrative und den Betrachter involvierende Kontinuität zu erreichen, ist Berninis Einsatz von Licht. Die einbrechende 35 Simmel, Der Bildrahmen, 97. 36 Vgl. Felix Ackermann, Die Altäre des Gian Lorenzo Bernini. Das barocke Altarensemble im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, Petersberg 2007, hier 138-154. 37 Für eine ausführliche inhaltliche Deutung, vgl. Zierholz, Räume der Reform, 108-162. 38 Vgl. Anna E. Signorini, Un contributo fotografico inedito per la scomparsa pala d’altare di Durante Alberti nella chiesa di Sant’Andrea al Quirinale, in: Arte christiana 102 (884/2014), 331-336; Gijsbers, Claudio Aquaviva, 27-40; vgl. auch Gauvin A. Bailey, Between Renaissance and Baroque. Jesuit Art in Rome, 1565-1616, Toronto 2003, 52. 39 Steffen Zierholz, ›To Make Yourself Present‹. Jesuit Sacred Space as Enargetic Space, in: Wietse de Boer/Karl A.E. Enenkel/Walter S. Melion (Hg.), Jesuit Image Theory (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture, 45), Leiden/Boston 2016, 419-460.
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Wolkengloriole aus vergoldetem Stuck, mit der die obere Bildhälfte umrahmt ist, setzt sich als gemaltes gold-gelbes Bildlicht im oberen Drittel der Leinwand fort. Dort wird sie sich im nächsten Moment auf Andreas herabsenken, ihn dem Blick des Betrachters entziehen und ihn gen Himmel tragen. Der Einbruch des göttlichen Lichts gewinnt durch die Auskleidung der gesamten Decke mit vergoldeten Strahlen eine eindrückliche physikalische Präsenz.40 Indem die vergoldete Engelsglorie das aus dem Oculus hereinströmende Tageslicht ref lektiert – eine Materialeigenschaft, die gerade Gold auszeichnet –, verklärt es den gesamten Altarraum. Nimmt der Betrachter nun einen Standpunkt unmittelbar vor der Cappella maggiore ein, stellt er durch das einfallende Tageslicht eine Spiegelung auf der gemalten Oberf läche fest, welche die Rezeption des Bildes erschwert. Derartig ungünstige Rezeptionsbedingungen sind gerade im Kirchendunkel vielfach anzutreffen, in diesem Fall scheint jedoch die Spiegelung als bewusstes wirkungsästhetisches Kalkül im Sinne der historia eingesetzt worden zu sein.41 Courtois konnte sich hierfür an der Textvorlage orientieren, wonach »calò dal cielo un grande splendore, a guisa di raggio, e circondò il corpo dell’Apostolo nascondendolo agli occhi dei circostanti«.42 Nach Pedro Ribadeneiras (1527-1611) Lebensbeschreibung des Apostels in der Flos sanctorum verbirgt das Einbrechen des himmlischen Glanzes (»grande splendore«) nicht nur den Körper des Apostels vor den Augen der Umstehenden, sondern blendet darüber hinaus alle anwesenden Personen (»che non poterono sostener tanto inusitata chiarezza«).43 Die Wahrnehmungsbedingung des Bildes macht den mit der Legende bestens vertrauten Betrachter zu einem unmittelbaren Zeugen des Geschehens. Die Verschränkung von Bild- und Realraum wird durch die Darstellung der beiden Stuckengel mit der Märtyrerkrone und Märtyrerpalme oberhalb des Rahmens forciert. Sie sind durch ihre plastische Gestaltung Teil der Betrachterwirklichkeit, doch narrativ auf das Martyrium im Bild bezogen. Die Dynamik des Hereinströmens suggeriert dabei, dass sie die ästhetische
40 Vgl. Frank Fehrenbach, Bernini’s Light, in: Art History 28 (1/2005), 1-42; siehe auch Fabio Barry, Lux and lumen. The Symbolism of Real and Represented Light in the Baroque Dome. For Peter Barry in memoriam, in: Kritische Berichte 30 (4/2002), 22-37. 41 Ich danke Tod Marder für diesen Hinweis. 42 Pedro Ribadeneira, Flos Sanctorum, cioè Vite de‹ Santi, Venedig 1656, 819; Erstausgabe Madrid 1599. 43 Ebd., 819.
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Abb. 8: Gian Lorenzo Bernini, Cappella maggiore mit Blick auf den Oculus, 1658-1670. Rom, Sant’Andrea al Quirinale. Grenze im nächsten Moment durchstoßen und damit ebenfalls den Charakter der Repräsentation unterlaufen (Abb. 8). Umgekehrt sind innerbildliche Elemente vorhanden, die Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Geschehen bieten, indem sie den Rezeptionsprozess des Betrachters auf den Rahmen lenken. Diese finden sich nicht zufällig zu Beginn und Ende der Narration in unmittelbarer Rahmennähe. Die Frau in Rückansicht führt als klassische Mittlerfigur in das Bildgeschehen ein und stellt dem Betrachter mit dem Zeigegestus ihrer linken Hand das zentrale Geschehen vor Augen.44 Dagegen vollzieht das Kind eine seiner Mutter vek44 Leon Battista Alberti, Della Pittura, in: Leon Battista Alberti, Opere volgari (Scrittori d’Italia, 254), 3 Bde., hg. von Cecil Grayson, Bari 1973, Bd. 3, 72f.: »E piacemi sia nella storia chi ammonisca e insegni a noi quello che ivi si facci, o chiami con la mano a vedere, o con viso cruccioso e con gli occhi turbati minacci che niuno verso loro vada, o dimostri qualche pericolo o cosa ivi maravigliosa, o te inviti a piagnere con loro insieme o a ridere. E così qualunque cosa fra loro o teco facciano i dipinti, tutto apartenga a ornare o a insegnarti la storia.«
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toriell entgegengesetzte Blickrichtung und Armbewegung. Es scheint den Rahmen ergreifen zu wollen, um dem für ihn unerklärlichen Geschehen im Bild zu entf liehen. Dass dieses Motiv so prominent am Beginn der historia, nahe der Bildgrenze und auf Augenhöhe des Betrachters platziert ist, erscheint merkwürdig. Möglicherweise verkörpert das Kind aufgrund seines fehlenden Abstraktions- und Urteilsvermögens eine Figur der Mahnung. Ricci etwa warnt davor, dass die inneren Bilder der Imagination Abb. 9: Guillaume Courtois, Martyrium während des Gebets derart inten- des Hl. Andreas, Detail des zeigenden siv wirken können, dass die Ge- Engels, um 1668, Öl auf Leinwand. Rom, fahr bestehe, diese mit Visionen Sant’Andrea al Quirinale (Detail von Abb. 3). zu verwechseln.45 Dies betreffe vor allem Melancholiker und Frauen sowie allgemein Menschen mit ausgeprägter Imagination – hierzu zählen letztendlich auch Kinder, die Ricci allerdings nicht explizit nennt. Auch dem mehrdeutigen Zeigegestus des Engels kommt vor der Folie eines jesuitischen Sehstils eine entscheidende Bedeutung zu (Abb. 9). Vom Hauptraum aus betrachtet, verweist der Zeigefinger seiner rechten Hand auf Raggis Stuckfigur im Giebel und antizipiert die Auffahrt der Seele des Apostels. Dem zelebrierenden Priester vor dem Altar offenbart er Gottvater im Oculus als Ursprung des himmlischen Lichts. Berücksichtigt man aber seine Position auf der Bildf läche, zeigt der Engel auf das obere abschließende Teilstück des 45 Ricci, Instruttione, 233: »Anzi in alcuni la Fantasia è tanto forte, e potente ò sia dalla natura, ò pure per qualch’accidente, e straordinaria passione, che rappresenta loro le cose tanto gagliardamente, che si danno à credere, di vederle realmente con gl’occhi esterni. Tali sono i molti malinconici, e le Donne; e pero anche, costoro sono esposti ad illusioni, e visioni false, non solamente cagionate da demonij; ma ancora dalla loro natura, quando molto fissamente si mettono ad immaginarsi le cose: De quali n’ho avuto qualche volta alcuni per le mani: e l’istesso cagionerà una vehemente paura.«
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Rahmens. Sein Finger berührt planimetrisch den Marmorrahmen, wobei die Fingerkuppe von einem wohl später hinzugefügten Messingstreifen an der Rahmeninnenseite beschnitten wird. Der Fingerzeig lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters, am höchsten Punkt der Bildnarration, auf eine Stelle, die den Bild- und Repräsentationscharakter des Martyriums verdeutlicht. Der Rahmen macht die Bindung des Bildes an einen materiellen Träger augenscheinlich und führt den Novizen seinen artifiziellen Charakter vor Augen.46 Mit Rekurs auf Jacques Derrida spricht Johannes Grave in einem ähnlichen Zusammenhang von einer parergonalen Ästhetik. Der Bildrahmen konstituiert hierbei eine ordnungsstiftende Grenze, die zwischen innen und außen trennt, zugleich aber als Drittes weder ganz dem Bild noch dem Umfeld zugehörig ist. Er besitzt einen Schwellencharakter, der die Ordnung destabilisiert und den Betrachter dazu auffordert, das dynamische Verhältnis zwischen innen und außen, Bild und Umfeld, Präsenz und Repräsentation immer wieder neu auszuhandeln.47 Berninis Rahmen-Inszenierung weckte das Bildbewusstsein des jesuitischen Betrachters, forderte ihn zu einem ref lektierten Umgang mit dem Bild heraus und hatte letztlich seine eigene Bildwerdung, das heißt, seine Transformation in ein jesuitisches Moralsubjekt zum Ziel.
IV. Vor dem jesuitischen Blick Der jesuitische Sehstil im Allgemeinen sowie der Blick der Ordensmitglieder auf das Altarbild der Cappella maggiore im Besonderen hatten ihre Voraussetzungen in einer zweifachen, in der Gebetspraxis des Ordens verankerten Zurichtung der Wahrnehmung. Charakteristisch hierfür war der Umgang mit den Bildern der Imagination, die abhängig von der eingesetzten See46 Vgl. Viktor Stoichita, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998; zur Bedeutung solcher Zeigefiguren als Instrumente einer metapikturalen Sensibilisierung siehe Johannes Grave, Architekturen des Sehens. Bauten in Bildern des Quattrocento, Paderborn 2015, hier 193-217. 47 Johannes Grave, Grenzerkundungen zwischen Bild und Architektur. Filippino Lippis parergonale Ästhetik, in: Andreas Beyer/Matteo Burioni/Johannes Grave (Hg.), Das Auge der Architektur. Zur Frage der Bildlichkeit in der Baukunst, München 2011, 221-249, hier 236-238. Zur zentralen Bedeutung einer zwischen Immanenz und Transzendenz vermittelnden Schwellenerfahrung religiöser Bilder, siehe Klaus Krüger, Bildpräsenz als Heilspräsenz. Ästhetik der Liminalität, Göttingen 2018.
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lenfakultät zwischen Repräsentation und Präsenz changierten. Als Repräsentation war das mentale Bild zunächst Ausgangspunkt einer rationalen Durchdringung von spezifischen Glaubensmysterien. Durch seine Präsenzhaftigkeit wirkte es dagegen affektiv auf den Betrachter und regte ihn zur moralischen Umbildung an. Wie die reichhaltige ordenseigene Meditationsliteratur belegt, wurden diese Sehweisen gegen Ende des 16. Jahrhunderts am materiellen Bild veräußerlicht, wobei die Meditation mit einer Bildbetrachtung oder mit der Arbeit eines Malers verglichen wurde. Die Emanzipation dieser Sehweisen vom druckgrafischen Meditationsbild war schließlich ein naheliegender Schritt. So empfahl ein Direktoriumsentwurf für die Zusammenstellung des Raumes auf eine historia zurückzugreifen, die man auf einem Altar gesehen habe.48 In diesem Sinne realisierte Bernini in der Ausstattung der Cappella maggiore Rezeptionsvorgaben, die ein dezidiert jesuitisches Bildersehen ermöglichten. Als künstlerische Manifestation des jesuitischen Sehstils oszillierte das Kapellenensemble kontinuierlich zwischen bildlicher Repräsentation und körperlicher Präsenz.
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Abbildungsnachweis Abb. 1: © Rijksmuseum, Amsterdam. Abb. 2: David Ganz, Barocke Bilderbauten. Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen 1580-1700, Petersberg 2003, 78. Abb. 3,8 und 9: Steffen Zierholz, Räume der Reform. Kunst und Lebenskunst der Jesuiten in Rom, 1580-1700, Berlin 2019, 285, 109, Taf. V. Abb. 4 und 5: Charles Avery, Bernini. Genius of the Baroque, London 1997, 222. Abb. 6: © Bibliotheca Hertziana, Rom. Abb. 7: Die Zeichnungen des Gianlorenzo Bernini (Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, 9-10), hg. von Heinrich Brauer und Rudolf Wittkower, 2 Bde., Berlin 1931, Bd. 2, Taf. 84b.
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Zwischen Repräsentation und Disziplinierung Die Wiener kaiserliche Gemäldegalerie im 18. Jahrhundert Gudrun Swoboda Abstract: In den 1720er-Jahren wurde die kaiserliche Gemäldegalerie in einem Teil der Wiener Hofburg neu eingerichtet. Diese barocke Neugestaltung spiegelt die politische Inszenierung unter Kaiser Karl VI. wider und hält zum Teil noch an Prinzipien der Wunderkammer fest. Rund 60 Jahre später, unter Josef II., wird die Galerie aus dem Hofburg-Komplex herausgelöst, in ein vorstädtisches Schloss transferiert und einer neuartigen Form von Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Durch ihr Erscheinungsbild tritt sie in einen visuellen wie textlichen Dialog mit einer sich gleichzeitig entwickelnden, ebenfalls neuartigen Kunstgeschichtsschreibung. Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, wie sehr beide Präsentations- und Deutungsweisen mit materiellen Zurichtungen an den Gemälden selbst einhergingen. Diese Zurichtungen inkludieren Beschneidungen, Formatangleichungen, Ergänzungen und sogar Übermalungen, die in Ikonografien eingriffen und die Gattungszugehörigkeiten von Gemälden veränderten.
Die kaiserlichen Kunstsammlungen in Wien waren lange Zeit in der Nachbarschaft von Pferden und Rüstungen zu finden. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein wurden sie in der »Stallburg« präsentiert, einem im 16. Jahrhundert erbauten, zum Baukomplex der Hof burg gehörenden Renaissancegebäude.1 1 Dieser Beitrag entspricht weitgehend dem Vortragstext von 2019; der Anmerkungsapparat wurde aus Platzgründen möglichst schlank gehalten. – Herbert Karner (Hg.), Die Wiener Hofburg 1521-1705. Baugeschichte, Funktion und Etablierung als Kaiserresidenz (Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg, 2), Wien 2014, insb. 294-310. Hellmut Lorenz/Anna Mader-Kratky (Hg.), Die Wiener Hofburg 1705-1835. Die kaiserliche Residenz vom Barock bis zum Klassizismus (Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg, 3), Wien 2016.
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Als Erzherzog Leopold Wilhelm (1614-1662), Statthalter in den Spanischen Niederlanden, im Jahr 1656 mitsamt seinen circa 1.400 Gemälden aus Brüssel nach Wien zurückkehrte, ließ er diese bedeutende Sammlung im zweiten Stock des repräsentativen Bauwerks aufstellen – über den Stallungen im Erdgeschoss und unter einer ebenfalls längst eingerichteten Rüstkammer im Dachgeschoss.2 Dafür ließ er das Gebäude adaptieren: Um die hofseitig gelegenen Gänge für die Aufstellung von Kunstwerken nutzen zu können, wurden die ursprünglich offenen Arkaden zugemauert und mit Fenstern versehen (was im 20. Jahrhundert wieder rückgängig gemacht wurde). Dieser Beitrag stellt exemplarisch zwei sehr unterschiedliche Präsentationsformen derselben kaiserlichen Galerie einander gegenüber, deren Erweiterung und Neugestaltung unter dem Großneffen Leopold Wilhelms, Kaiser Karl VI. (1685-1740), und später unter dessen Tochter Maria Theresia (1717-1780) ungewöhnlich gut dokumentiert ist.3 In Wien war zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits die Abspaltung einer Spezialsammlung – eben der Gemäldesammlung – vom Typus der Wunderkammer (wo Mirabilia aller Art 2 Zur Gemäldesammlung Leopold Wilhelms siehe: Nadja Lowitzsch, Studien zur Sammeltätigkeit Erzherzog Leopold Wilhelms und zur Aufstellung seiner Gemäldesammlung in Brüssel und in Wien, Wien Diss. 2004. Renate Schreiber, »Ein galeria nach meinem humor«: Erzherzog Leopold Wilhelm (Schriftenreihe des Kunsthistorischen Museums, 8), Wien/Mailand 2004. Gudrun Swoboda, Die Wege der Bilder. Eine Geschichte der kaiserlichen Gemäldesammlungen von 1600 bis 1800, Wien 2008, 40-87 (mit weiterführender Literatur); Sabine Haag (Hg.), Sammellust: die Galerie Erzherzog Leopold Wilhelms (Intermezzo, 06) (Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum), kuratiert von Anna Fabiankowitsch, Gerlinde Gruber u.a., Wien 2014. Zur Rüstkammer siehe: Stefan Krause/Mario Döberl, Ein Inventar der Wiener kaiserlichen Rüstkammer von 1678, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 19/20 (2017/2018), 147-228. 3 Karl Schütz, Aufstellungen der Wiener Gemäldegalerie im 18. Jahrhundert, in: Jochen Luckhardt/Michael Wiemers (Hg.), Museen und fürstliche Sammlungen im 18. Jahrhundert (Kolloquiumsbände des Herzog Anton Ulrich-Museums, 3), Braunschweig 2004, 44-50. Zur Sammlung Karls VI. siehe Swoboda, Wege der Bilder, 96-109 (mit weiterführender Literatur); insbesondere zur Galerie in der Stallburg siehe: Gudrun Swoboda, Die verdoppelte Galerie. Die Kunstsammlungen Kaiser Karls VI. in der Wiener Stallburg und ihr Inventar, in: Sabine Haag/Gudrun Swoboda (Hg.), Die Galerie Kaiser Karls VI. in Wien: Solimenas Widmungsbild und Storffers Inventar (1720-1733), Wien 2010, 10-31. Zur Gemäldesammlung unter Maria Theresia siehe: Swoboda, Wege der Bilder, 110-123 (mit weiterführender Literatur); Elfriede Iby/Martin Mutschlechner/Werner Telesko/Karl Vocelka (Hg.), Maria Theresia 1717-1780: Strategin, Mutter, Reformerin (Ausst.-Kat. Wien, Hofmobiliendepot Möbel Museum, Kaiserliche Wagenburg, Schloss Hof im Marchfeld, Schloss Niederweiden), Wien 2017; Stella Rollig/Georg Lechner (Hg.), Maria Theresia und die Kunst (Ausst.-Kat. Wien, Belvedere Museum), München 2017.
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– Naturalia, Artificalia und Scientifica – nebeneinander gezeigt wurden) größtenteils vollzogen. Mit der hier zu besprechenden Neugestaltung der selbstständigen Galerieräume – die zudem ein herausragendes Beispiel barocker Schaustellung veranschaulicht – wurden zahlreiche Gemälde aus ihrer ursprünglichen sinnstiftenden Aufgabe im höfischen Dekorum entbunden und erstmals als Ausstellungsstücke betrachtet und im buchstäblichen wie übertragenen Sinn zugeschnitten. Ich möchte also eine historische Form der Bildgefüge, wie sie der Präsentation der Bilder im Museum zugrunde liegt, zuerst näher vorstellen. Im zweiten Textteil wird die Transformation der barocken Galerie in ein ›modernes‹ Kunstmuseum skizziert. Nach ihrer Übersiedlung im Jahr 1776 – weg aus der inneren Stadt und dem Kern der Residenz hinaus über die Stadtmauern ins Schloss Belvedere – wurde sie als öffentlich zugängliches Kunstmuseum bei freiem Eintritt und nach wissenschaftlichen Kriterien neu aufgestellt, und zwar nach Kriterien, die noch heute Gültigkeit besitzen: nämlich in einer Ordnung nach nationalen bzw. regionalen ›Schulen‹ sowie innerhalb dieser Schulen in chronologischer Reihung.4 Anders als die ›private‹ kaiserliche Sammlung ist das Museum eine verhältnismäßig selbstständige, ihren eigenen Gesetzen gehorchende und zugleich einem unbestimmten Benutzerkreis, der ›Öffentlichkeit‹, verpf lichtete Institution der Kulturpf lege.5 Es soll also anhand von zwei unterschiedlichen Präsentationsformen von Gemälden deutlich gemacht werden, welche Folgen die Entwicklung des Museums für den Umgang mit Bildern hat.
I. Die Galerie Kaiser Karls VI. in der Stallburg Bereits im Vorfeld der Neueinrichtung der Galerie unter Kaiser Karl VI. ist das Bestreben erkennbar, wertvolle Gemälde aus anderen habsburgischen Residenzen – etwa von Schloss Ambras in Tirol oder aus Prag – nach Wien 4 Zur Geschichte, der Präsentationsform und den unterschiedlichen Ideen zu einem ›modernen‹ Museum und dem angedeuteten museumsgeschichtlichen Umbruch siehe: Debora J. Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780 (Schriften des Kunsthistorischen Museums, 2), Wien 1995; Gudrun Swoboda (Hg.), Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öf fentlichen Kunstmuseums, 2 Bde., Wien/Köln/Weimar 2013 (mit älterer Literatur). 5 Wolfgang Kemp, Kunst wird gesammelt, Kunst kommt ins Museum, in: Werner Busch/ Peter Schmoock (Hg.), Kunst, Die Geschichte ihrer Funktionen, Weinheim/Berlin 1987, 153-177.
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bringen zu lassen, um sie an einem zentralen Ort zu versammeln. Seit 1718 wurden in der Stallburggalerie Umbauten vorgenommen; hauptsächlich mussten die Gemälde in neue, aus Holz aufwendig gearbeitete Wandverkleidungen eingepasst und Deckengemälde angebracht werden. Die betreffenden Arbeiten dürften sich bis 1727 hingezogen haben. Die Galerie Karls VI. bestand nur etwa 50 Jahre in dieser Form. Schon im späten 18. Jahrhundert sollte sie zerstört werden,6 ihre Gestalt aber lebt in einem Buch fort (Abb. 1):7 1720 war der am Hof angestellte Vergolder Ferdinand Storffer beauftragt worden, die in der Stallburg versammelten Gemälde und ihre neuartige, von Generalbaudirektor Gundacker Ludwig Graf Althann (1665-1747) eingerichtete Präsentation mittels Gouachen auf Pergament zu dokumentieren. Speziell für den Kaiser sollte Storffer ein neues, illustriertes Inventar (Abb. 2) anfertigen – eine Art Miniaturausgabe der Galerie in Buchform. Es dauerte 13 Jahre, bis der Auftrag ausgeführt war. In drei kostbaren Bänden gab Storffer die Galeriewände und die darin versammelten 823 Gemälde wieder – nicht immer proportionsgetreu, denn er nahm zugunsten des Blattformats mitunter erhebliche Verzerrungen in Kauf. Dennoch vermitteln die Miniaturen zweifellos einen sehr guten Eindruck vom damaligen Erscheinungsbild der kaiserlichen Galerie, in die neben den Gemälden auch antike und frühneuzeitliche Skulpturen, in bestimmten Räumen auch Goldschmiedearbeiten, Naturalia, Münzen, Medaillen und Kuriositäten integriert waren. Da die Gemälde in der Galerie selbst nur im Zusammenhang von wandfüllenden »hyperimages« (Thürlemann)8 betrachtet werden konnten, erscheint es konsequent, dass in Storffers Inventar nicht das Einzelwerk, sondern die Bilderwand als grundlegende Einheit an6 Anna Mader-Kratky, Versteigern oder verschenken? Zur Geschichte der Galerieausstattung im späten 18. Jahrhundert, in: Haag/Swoboda, Galerie Kaiser Karls VI., 32-37. 7 Ferdinand Storffer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg welches nach denen Numeris und Maßstab ordiniret und von Ferdinand à Storf fer gemahlen worden, 3 Bde., Wien Bd.1: 1720, Bd.2: 1730, Bd.3: 1733. 8 Zum Pendantsystem siehe: Felix Thürlemann, Vom Einzelbild zum Hyperimage. Eine neue Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Ada Neschke-Hentschke (Hg.), Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle. Évolution et débat actuel, Löwen/Paris 2004, 223-247; Felix Thürlemann, Von der Wand ins Buch – und zurück an die Wand, in: Swoboda, Kaiserliche Gemäldegalerie, Bd. 2, 512-527; Felix Thürlemann, Mehr als ein Bild: für eine Kunstgeschichte des »hyperimage«, München 2013. Gerd Blum/Steffen Bogen/David Ganz/Marius Rimmele (Hg.), Pendant plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, darin insb. David Ganz, Sezierung des Pendantsystems: Zu Mechels und Pigages Galerie Elecotrale, 155-176.
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Abb. 1: Ferdinand Storf fer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd. 1 (1720). genommen wurde. Bild- und Textseiten wechseln einander ab: Auf eine nach Nummern geordnete Liste der an der jeweiligen Wand angebrachten Gemälde lässt Storffer die Wiedergabe einer Galeriewand folgen (Abb. 3a und 3b). Diese werden jeweils von links nach rechts durchnummeriert, beginnend mit der untersten und endend mit der obersten Reihe. Solche syste-
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Abb. 2: Ferdinand Storffer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd. 1 (1720), fol. 1: Dedikation an Kaiser Karl VI. matischen Bezugnahmen einer Nummerierung auf die vorgefundene räumliche Struktur sind seit frühesten Inventarisierungen gebräuchlich.9 Storffer 9 Thomas Ketelsen, Künstlerviten, Inventare, Kataloge: Drei Studien zur Geschichte der kunsthistorischen Praxis, Ammersbek bei Hamburg 1990, 165f.
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Abb. 3a: Ferdinand Storf fer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd. 1 (1720), fol. 10. vollzieht aber einen wichtigen Schritt in Richtung zum ›modernen‹ Katalog, indem er die wiedergegebenen Bilder selbst mit Nummern an den gemalten Rahmen versieht. Diese Nummern sind auf der jeweils folgenden Seite aufgelistet und mit Autorennamen und Sujetbezeichnungen versehen, so dass sich komplette Werklisten ergeben.
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Abb. 3b: Ferdinand Storf fer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd. 1 (1720), fol. 11. Die Anordnung der Bilder in der Galerie Kaiser Karls VI. folgte dem seit dem 17. Jahrhundert auch sonst vielfach nachweisbaren Pendantsystem.10 Aus10 Siehe Publikationen von Thürlemann: Thürlemann, Vom Einzelbild; Thürlemann, Von der Wand; Thürlemann, Mehr als ein Bild.
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wahl und Anordnung der an einer Wand oder in einem Raumteil zusammengestellten Bilder sollten im Hinblick auf den Maßstab und die Motive stimmig sein und auch in koloristischer Beziehung harmonisch wirken.11 Die zentralen Plätze jeder Wand blieben in der Regel den größten Gemälden vorbehalten, kleinere wurden als ›Satelliten‹ an die Ränder gesetzt, und zwar nach einem strengen Symmetrieprinzip: Einem Porträt links musste ein in Maßstab und Format entsprechendes Porträt an der symmetrischen Gegenposition rechts entsprechen, einer Landschaft eine andere Landschaft und so weiter. Die Werke wurden nicht einzeln, sondern als Elemente streng symmetrisch geordneter Ensembles zusammengestellt und als syntagmatisch größere Gebilde wahrgenommen.12 Da die größten, zentral platzierten Gemälde in der Regel Historienbilder waren, spiegelte sich in dem System auch die Hierarchie der Gattungen wider. Uns heute so geläufige Ordnungskriterien wie die Zugehörigkeit zu bestimmten Kunstschulen und Epochen spielten hingegen kaum eine Rolle.13 Inventare wie das Storffer’sche halten sich im Wesentlichen an die Reihenfolge, in der die darin verzeichneten Kunstwerke bei einer Besichtigung der Galerie gesehen werden (Abb. 4). Sie sind immer auch Itinerare, beginnen also mit dem ersten und enden mit dem letzten Raum der Galerie (ohne diese Situation jedoch explizit auszuweisen oder zu benennen). Der Weg durch Storffers Bücher ist daher auch ein Weg durch die – nicht mehr existierende – Galerie Kaiser Karls VI. Beim Durchblättern des ersten Inventarbandes folgt man den drei Gängen, die um den Arkadenhof der Stallburg führen – die »Galerie« genannt. Dass dieser erste Band des Inventars als einziger im Hochformat ausgeführt wurde, hat mit den Proportionen der betreffenden Wandjoche zu tun. Die Bilderwände (oder Bilderfassaden) wurden – der Hierarchie der Gattungen entsprechend – unten mit Landschaften und Genreszenen bespielt, die zentralen Positionen (die bei einem Gebäude dem piano nobile entsprechen würden) blieben, wie bereits angedeutet, nach Möglichkeit Historienbildern vorbehalten. Die oberste Zone schmückten Porträts – für eine kaiserliche Sammlung naturgemäß an prominenter Stelle.
11 Ein Überblick zur Systematik der Aufstellung bei Meijers, Kunst als Natur, 21-29. 12 Siehe Fußnote 10. 13 Das ältere Inventar Leopold Wilhelms von 1659 hingegen war nach Kunstschulen (italienische und nordische Gemälde) geordnet.
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Abb. 5: Francesco Solimena, Gundacker Graf Althann überreicht Kaiser Karl VI. das Inventar der Gemäldegalerie. Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 1601. Im zweiten und dritten Band des Inventars – diese Bände wurden erst zehn bzw. dreizehn Jahre nach dem ersten fertiggestellt – sind die straßenseitig gelegenen Kabinette und Säle wiedergegeben, die man nach der Besichtigung des hofseitigen Galerieumgangs erreichte. Band II beginnt mit dem Eintritt in das »Schwarze Kabinett«, in dem das Prinzip der ›Wunderkammer‹ fortlebte: Hier fand das Preziöse neben dem Kuriosen Platz. Unter antiken und neuzeitlichen Skulpturen war hier beispielsweise eine kleine, in ein Glasprisma eingeschmolzene schwarze Figur zu bestaunen, die »von verschiedenen als ein Teufel«, von anderen als »spiritus familiaris« angesehen wurde, der »ehemals von einem besessenen ausgetrieben und in dieses glas verbannet worden« sei.14 Auch das geheimnisumwitterte »Einhorn« (heute: Narwalzahn) befand sich hier in einer Ecke. Halbfigurige Porträts schlossen die Wände nach oben hin 14 Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, KK 6211, Abb. in: Swoboda, Die verdoppelte Galerie, S. 20.
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ab. Aus dem Schwarzen Kabinett führte eine Türe in eine von Licht durchf lutete, dreigliedrige Raumfolge aus zwei Kabinetten und einem größeren Saal in der Mitte. Diese in Weiß und Gold gehaltenen Säle wiesen die Besucher auf den eigentlichen Initiator der Gemäldegalerie in der Stallburg hin: auf den Großonkel von Kaiser Karl VI., Erzherzog Leopold Wilhelm, der viele der hier präsentierten Gemälde als Statthalter der Südlichen Niederlande erworben oder in Auftrag gegeben hatte. Die Blumen- und Früchtestillleben, zumeist von niederländischen Künstlern, sind für seinen Kunstgeschmack bezeichnend. In der von Leopold Wilhelm besonders geschätzten »barocken Blumenarchitektur« war es wohl möglich, einzelne Bildgrenzen zu überspringen und eine ganze Wand wie eine einzige Bildf läche wahrzunehmen.15 Wichtige Akzente zu einer politischen Ikonografie der Einrichtung der Stallburggalerie wie auch zur Sammlungsgeschichte setzten die Deckengemälde. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich Kaiser Karl VI. hier in eine Reihe ruhmreicher Vertreter des Hauses Habsburg stellt (Kaiser Leopold I, Erzherzog Leopold Wilhelm, aber auch Karl V.) – um, wie durchaus charakteristisch für ein Mitglied des Hauses Habsburg, die Kontinuität ihrer Machtausübung zu betonen. Band III von Storffers Inventar setzt dann den Rundgang fort und zeigt im vorletzten großen Saal Schauplätze des Mäzenatentums von Karl VI., darunter auch Erwerbungen, die ihm als König von Spanien (Karl III.) gelungen waren. In der Regel hatte man in diesen beiden Flügeln auch jene Gemälde versammelt, die der Kaiser aus anderen Residenzen – hauptsächlich aus Prag – nach Wien hatte bringen lassen.16 Im letzten Eckzimmer, dessen Wände wieder dunkel gehalten waren, findet man schließlich Hauptwerke des italienischen Cinque- und Seicento. Der anhand des Storffer’schen Inventars imaginierte Galeriebesuch endet dort, wo auch ein realer Besuch der Galerie seinen Abschluss finden musste, nämlich in einem reich ausgestatteten Saal, der von einem zeitgenössischen italienischen Gemälde dominiert wird: Francesco Solimenas Dedikationsbild.17
15 Günther Heinz, Geistliches Blumenbild und dekoratives Stilleben in der Geschichte der kaiserlichen Gemäldesammlungen, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien 69 (1973), 7-54, hier 8f. 16 Vgl. die Liste der Bildersendungen aus Prag 1723, in: Anton Ritter von Perger, Studien zur Geschichte der k.k. Gemäldegallerie im Belvedere zu Wien, in: Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien 7 (1864), 99-168, hier 133f. 17 Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie, GG 1601, Leinwand, 309 x 284 cm.
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Dieses aus Anlass der Neuordnung der Galerie beim führenden Maler Neapels in Auftrag gegebene Gemälde (Abb. 5) zeigt Kaiser Karl VI., dem sein Galeriebaudirektor Graf Althann kniend ein Inventar überreicht. Der Kaiser verweist den Betrachter auf den Grafen, dieser lenkt die Aufmerksamkeit auf die Realität der Galerie mit ihren Kostbarkeiten. Das im Bild übergebene Buch sollte wohl das Storffer’sche Inventar darstellen, das seit 1720 in Arbeit war. Solimenas Gemälde wurde im April 1728 in der neu eingerichteten Galerie präsentiert. Zum Ruhm des Kaisers geschaffen, erhielt es den Ehrenplatz am Ende des Rundgangs.
Zurichtung von Gemälden I Solimenas Gemälde wurde kurz nach seiner Ankunft in Wien in weiten Teilen von einem am Wiener Hof tätigen deutschen Maler überarbeitet.18 Beide Protagonisten und auch zahlreiche Details im Mittelgrund übermalte der aus Thüringen stammende Johann Gottfried Auerbach (1697-1753). Wie der Vergleich des ausgeführten Gemäldes mit einem bozzetto gezeigt hat, wurden die Gesichter des Kaisers und seines treuen Dieners aus der Profilansicht in eine frontale Position gedreht. Auch der detailfreudig gemalte Harnisch des Kaisers ist eine Übermalung: Gezeigt wird jener Harnisch, von dem angenommen wurde, er habe ursprünglich Kaiser Karl V. gehört. Dieses Stück wurde damals im selben Gebäude, in der Rüstkammer, aufbewahrt. Die Identifikation Karls VI. mit seinem berühmten Namensvetter spielte bei der Ausstattung der Stallburg insgesamt eine wichtige Rolle, aber nirgendwo tritt die Idee vom alter Carolus plastischer hervor als in dem von Auerbach überarbeiteten Gemälde. Hier schlüpft der Kaiser buchstäblich in die Hülle seines Vorgängers – eine Hülle, die man sich hier auch als »zweiten Körper« des Kaisers19 denken kann. Generell ist bemerkenswert, dass der Kaiser anlässlich einer Inventarsübergabe in Rüstung dargestellt wird. Dies ist wohl im Sinne der oft beobachteten Repräsentationspolitik Karls VI. zu interpretieren, die auf dem Grundsatz ex utroque Caesar beruhte und wonach sich der ideale Herrscher gleichermaßen in Kriegs- wie in Friedenszeiten 18 Vgl. Gudrun Swoboda/Robert Wald, Solimenas Dedikationsbild von 1728 und seine Überarbeitung in Wien, in: Haag/Swoboda, Galerie Kaiser Karls VI., 46-61. 19 Im Sinne von Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies: a Study in Mediaeval Political Theology, Princeton/Oxford 2016 [1957].
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Abb. 6: Ferdinand Storf fer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd.3 (1733), Montage aus fol. 47, 49, 51, 53, 39, 41 und 43. auszeichnet. Die ikonografische Anspielung mag umso sinnfälliger gewesen sein, als in der Stallburg neben der Gemäldesammlung und den Stallungen auch die Rüstkammer untergebracht war.20 Übrigens lässt sich ein vergleichbares Programm im Prunksaal der ehemaligen Hof bibliothek beobachten, die, vis-à-vis der Stallburg gelegen, wenige Jahre später ausgestattet wurde und wo sich Karl VI. als »Hercules Musarum« darstellen ließ.21 Auerbachs Überarbeitung von Solimenas Gemälde war keine oberf lächliche Modifikation, sondern führte zu einer radikalen Transformation, die auch einen Gattungswandel implizierte: Aus einem Historienbild wurde ein Doppelportrait, die fantasia des großen neapolitanischen Malers wurde durch die getreue Mimesis des Wiener Hofmalers ersetzt. Diese Veränderungen wurden vermutlich von Graf Althann veranlasst, um seinem maßgeblichen Anteil bei der Neugestaltung der Stallburg-Galerie Ausdruck zu verleihen. Das Gemälde Solimenas dürfte den Besuchern am Ende des Rundgangs reichlich Stoff für Konversation geboten haben. Als krönender Abschluss in Szene gesetzt, leitete es dazu an, die in der Galerie versammelten Reichtümer rühmend auf den kaiserlichen Auftraggeber zu beziehen. Das Porträt des 20 Swoboda/Wald, Solimenas Dedikationsbild, in: Haag/Swoboda, Galerie Kaiser Karls VI., 48. 21 Franz Matsche, Die Hofbibliothek in Wien als Denkmal kaiserlicher Kulturpolitik, in: Carsten-Peter Warnke (Hg.), Ikonographie der Bibliotheken (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 17), Wiesbaden 1992, 199-233, insb. 208-217; Christina PosseltKuhli, Kunstheld versus Kriegsheld?: Heroisierung durch Kunst im Kontext von Krieg und Frieden in der Frühen Neuzeit (Helden – Heroisierungen – Heroismen, 7), Baden-Baden 2017, 144155. Für den Hinweis und die Diskussion danke ich Gernot Mayer.
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Kaisers bildete den Flucht- und zugleich Ursprungspunkt der neu gestalteten Galerie (Abb. 6). Graf Althann ließ sich in der Rolle eines Autors darstellen, der dem Herrscher sein Werk wie in einem Dedikationsbild übergibt. Er tat offenbar alles, um am Ruhm des Kaisers partizipieren zu können.
II. Modell der Stallburg Galerie Storffer hat die Galerie auf solche Weise in Buchform gebracht, dass es möglich war, aus dem Buch ein Modell der Galerie zu generieren. Die durch Storffer übermittelten Informationen konnten mit dem bauhistorischen Befund abgeglichen und 2010 in ein kleines Holzmodell übersetzt werden (Abb. 7).22 Diese räumliche Präsentation der Gemäldeaufstellung ermöglicht nun Beobachtungen, die das gemalte Inventarbuch nicht so leicht Preis gegeben hätte. Eine davon betrifft den größten Saal der Galerie, der durch triumphbogenartige Zwischenwände gegliedert war: Im Durchblick durch den ers-
Abb. 7: Modell der Stallburg Galerie nach Storf fer 1720-1733.
22 Haag/Swoboda, Galerie Kaiser Karls VI., 92f.
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Abb. 8: Ferdinand Storf fer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd. 2 (1730), fol. 31. ten Bogen waren in Gehrichtung zwei von van Dyck gemalte »Printzen« zu sehen, die den zweiten Bogen f lankierten (Abb. 8). Hatte man den ersten Bogen durchschritten und wandte sich um, konnte man, sozusagen als Gegenstücke der hübschen Jünglinge, zwei nackte Frauen betrachten, Cambiasos Büßende Magdalena und Rubens’ Pelzchen (Abb. 9), was vermutlich Anlass und Stoff für galante Konversation bot. Am Modell wird auch die charmante Idee Storffers deutlich, atmosphärische Effekte in seine Wiedergabe der Galerieräume mit einzubeziehen. Er deutet im Rahmen des Galerierundgangs einen fiktiven Tagesablauf an – von Morgenlicht zu Abendlicht. Der Akzent liegt hier auf ›fiktiv‹, denn der angedeutete Ablauf entspricht nicht den realen Bedingungen: In den Ausblicken aus den Galerieräumen zeigt Storffer in Band II hellgelbes Morgenlicht (die betreffenden Ausblicke sind jedoch in nordwestlicher Richtung hin ausgerichtet), am Ende von Band III erscheint rotviolettes Abendlicht (die betreffenden Ansichten sind nach Südosten orientiert).23 Es ist, als ob die Galerie als Teil des absolutistischen Herrschaftskosmos dargestellt werden sollte.
23 In Band I, in dem die hofseitig gelegenen Räume gezeigt werden, spielt diese Lichtregie noch keine Rolle.
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Abb. 9: Ferdinand Storf fer, Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd. 2 (1730), fol. 23.
Zurichtung von Gemälden II Zugunsten des dekorativen Gesamteindrucks der Wandgestaltung wurden an zahlreichen Bildern – einerlei, ob sie auf Holz oder auf Leinwand gemalt waren – Formatveränderungen vorgenommen.24 Manche wurden seitlich verschmälert, andere in Ovalform gebracht oder oben halbrund beschnitten. Neben den gängigsten, einfachen Größenveränderungen im gleichen, zumeist rechteckigen Format wurden häufig aus quadratischen oder rechteckigen Gemälden ovale, polygonale bzw. runde, wie dies beispielsweise bei dem Bildnis von Giorgiones Laura (Abb. 10) der Fall war.25
24 Ina Slama/Gudrun Swoboda, Zur historischen Praxis von Formatveränderungen in der Stallburg-Galerie Kaiser Karls VI.: Guido Renis Reuiger Petrus, in: Technologische Studien Kunsthistorisches Museum. Konservierung – Restaurierung – Forschung – Technologie 4 (2007), 103-122. 25 Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie, GG 31, Leinwand auf Fichtenholz, 43,6 x 36,5 cm. Elke Oberthaler, Zu Technik, Zustand und Interpretation von fünf Gemälden Giorgiones und seines Umkreises, in: Sylvia Ferino-Pagden/Giovanna Nepi Scirè (Hg.), Giorgione. Mythos und Enigma (Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum), Wien 2004, 267-276, hier 268.
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Rechteckige Bilder bekamen mitunter oben einen geschweiften Abschluss.26 Noch exzentrischer muten heute die künstlich herbeigeführten Verlängerungen nach unten an, die oftmals der Bildidee diametral widersprachen.27 Dass dies jedoch nicht unbemerkt blieb, hielt ein anonymer Kritiker 1763 fest: »Man putzt sie auf, und verderbt sie; man f lickt, man vergrößert und verkleinert nach Belieben […]«.28 Die symmetrische Ausgewogenheit sowie eine hierarchisch organisierte Ord- Abb. 10: Ferdinand Storffer, Neu nung der Bilderwände hatte Vorrang vor Eingerichtes Inventarium der der Individualität der einzelnen Gemälde. Kayl. Bilder Gallerie in der Stallburg […], Wien, Bd. 3 (1733), fol. 18, Detail: Giorgione, Laura.
III. Mediale Verbreitung der barocken Aufstellung
Schon während der Arbeit Storffers am persönlichen Galerie-Inventar für den Kaiser kam es zu unterschiedlichen Plänen einer Vervielfältigung. 1728 wurde mit einem monumentalen Galeriewerk zur kaiserlichen Galerie, dem Theatrum artis pictoriae, begonnen (Abb. 11).29 Bis 1733 erschienen vier Teile mit jeweils 36 bis 40 Tafeln. Sämtliche Reproduktionen wurden sorg-
26 Als ein Beispiel unter vielen sei hier Rubens’ Gemälde Hl. Ambrosius und Kaiser Theodosius (KHM, GG 524, Leinwand, 362 x 246 cm) genannt, siehe Slama/Swoboda, Formatveränderungen, 106. 27 Etwa bei der in die Breite hin angelegten Beweinung Christi von Savoldo (KHM, GG 1619, Pappelholz, 72,5 x 118,5 cm), siehe Slama/Swoboda, Formatveränderungen, 2007, 106. 28 Nora Fischer, Kunst nach Ordnung, Auswahl und System. Transformationen der kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien im späten 18. Jahrhundert, in: Swoboda, Kaiserliche Gemäldegalerie, Bd. 1, 23-89, hier 25. 29 Anton von Prenner (Brenner), Theatrum artis pictoriae quo tabulae dipictae quae in Caesarea Vindobonensi Pinacotheca servantur leviore caelatura aeri insculptae exhibentur […] ab Antonio Iosepho de Prenner […], 4 Bde., Wien 1728-1733. Zu Galeriewerken allgemein siehe: Astrid Bähr, Repräsentieren, bewahren, belehren: Galeriewerke (1660-1800). Von der Darstellung herrschaftlicher Gemäldesammlungen zum populären Bildband, Hildesheim/Zürich/New York 2009.
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Abb. 11: Anton von Prenner (Brenner), Theatrum artis pictoriae quo tabulae dipictae quae in Caesarea Vindobonensi Pinacotheca servantur leviore caelatura aeri insculptae exhibentur […] ab Antonio Iosepho de Prenner […], 4 Bde., Wien 1728-1733, Bd. 1 (1728), fol. 9: Nach Pieter Bruegel d. Ä., Turmbau zu Babel. fältig mit Maßangaben und Künstlernamen versehen. Der Rückbezug auf den berühmten ersten illustrierten Gemäldekatalog von David Teniers, das Theatrum pictorium, das 1660 in Brüssel herausgegeben worden war,30 ist offenkundig. Da sich die Publikation des Theatrum artis pictoriae indessen als zu kostspielig und langatmig erwies, entschloss man sich, für einen größe30 David Teniers, Davidis Teniers Antverpiensis, Pictoris, et a Cubiculis, Ser[enissi]mis principibus Leopoldo Guil. Archiduci, et Ioanni Austriaco, Theatrum Pictorium. In quo exhibentur ipsius manu delineatae, eiusque cura in aes incisae Picturae Archetipae Italicae, quas ipse Ser[enissi]mus Archidux in Pinacothecam suam Bruxellis collegit. Eidem Ser[enissi]mo Principi Leopoldo Guil. Archiduci &c. ab auctore dedicatum. Bruxellae sumptibus auctoris, Antwerpen 1660. Siehe dazu etwa: Ernst Vegelin van Claerbergen (Hg.), David Teniers and the Theatre of Painting (Ausst.-Kat. London, Courtauld Institute of Art Gallery, Somerset House), London 2006.
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Abb. 13a: Prodromus […], hg. von Francisco de Stampart und Antonio de Brenner, Wien 1735, fol. 11: Grundriss der Stallburg.
13b: Prodromus […], hg. von Francisco de Stampart und Antonio de Brenner, Wien 1735, fol. 12: Einblick in die Galerieräume der Stallburg.
ren Kreis von Kunstinteressierten eine kompaktere Darstellung der Galerie herauszugeben, die Prodromus genannt wurde (Abb. 12)31. Dieser ›Vorläufer‹ sollte auf 23 Tafeln die Gemälde als eine Art ›Welt im Kleinen‹ auf engstem Raum und in all ihrer Fülle versammeln; insgesamt handelt es sich um circa 900 Bilder. Ihre Anordnung auf einer Seite ist losgelöst von realen Bedingungen der Galerie und ist nur den Gesetzen der Symmetrie unterworfen. Größenverhältnisse und die tatsächliche Anordnung der 31 Prodromus, seu praeambulare lumen reserati portentosae magnificentiae theatri, quo omnia ad aulam caesaream in Augustissimae suae Caesareae; & Regiae Catholicae Majestatis nostri gloriosissimè Regnantis Monarchae Caroli VI. Metropoli, et residentia Viennae recondita artificiorum, et pretiositatum decora […], Edita a Francisco de Stampart, et Antonio de Brenner, Caesareae Camerae Pictoribus, Wien 1735, in: Heinrich Zimerman, Franz v. Stamparts und Anton v. Prenners Prodromus zum Theatrum Artis Pictoriae von den Originalplatten in der K. K. Hofbibliothek zu Wien, abgedruckt und mit einer erläuternden Vorbemerkung neu herausgegeben, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 7 (1888), VII–XIV und folgende Tafeln, Reg. 4584. Siehe auch Sibylle Appuhn-Radtke, Druckgraphik, in: Hellmut Lorenz (Hg.), Barock (Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, 4), München/London/New York 1999, 607-640, hier 636f., Nr. 338. Astrid Bähr, Ein Blick in die Sammlung – Galeriewerke des 18. Jahrhunderts, in: Swoboda, Kaiserliche Gemäldegalerie, Bd. 2, 420-434, hier 424-427.
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Gemälde im Raum wurden kaum berücksichtigt. Nach einem kurzen »Vorbericht an die Liebhaber der Kunst« folgt ein Grundriss der Stallburg, dem Erläuterungen und Einblicke in die Räume hinzugefügt wurden (Abb. 13a und 13b). Auf diese Weise wurde – viel deutlicher als bei Storffer – ein Rundgang durch die kaiserliche Sammlung veranschaulicht. Wir finden also in Wien im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts drei unterschiedliche Arten von Bilderverzeichnissen vor: Das von Storffer angefertigte, persönliche Galerie-Inventar für den Kaiser, sowie die Galeriewerke Theatrum artis pictoriae und Prodromus. Diese Verzeichnisse, insbesondere das Storffer’sche, erfüllten vor allem eine repräsentative Funktion. Sie beschreiben Sammlungen, die ihrerseits bereits der (herrschaftlichen) Repräsentation dienten. Es wurde daher von einer »reduplizierten Repräsentation« (Foucault) gesprochen.32 In dem Moment, wo Storffers Inventar das Gemälde von Solimena abbildet, wird die Verdoppelung abgründig: Das gemalte Inventar, Repräsentation einer Repräsentation, begegnet am Ende des Galerierundgangs einem Bild seiner selbst. Der kniende Graf Althann übergibt dem Kaiser das Inventar, in dem die Galerie reproduziert ist. Das die Galerie reproduzierende Inventar reproduziert nun aber seinerseits dieses Gemälde, in dem es selbst mit enthalten ist.
IV. Neuorganisation der Gemäldesammlung im Oberen Belvedere Fünfzig Jahre nach der Einrichtung der Galerie in der Stallburg erschien diese bereits wieder aus der Mode gekommen, und aus diversen Gründen lag 1776 eine Ausgliederung der kaiserlichen Gemäldegalerie aus dem Komplex höfischer Repräsentation und eine Übersiedlung ins damals vorstädtische Schloss Belvedere nahe.33 Dies entsprach einer allgemeinen Tendenz in Europa, wo im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Rahmen der diversen Reformprogramme der aufgeklärt absolutistischen Staaten auch die Funk32 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1978 [1966], 98-102; Ketelsen, Künstlerviten, 192. 33 Meijers, Kunst als Natur; Annette Schryen, Die k.k. Bilder-Gallerie im Oberen Belvedere in Wien, in: Bénédicte Savoy (Hg.), Tempel der Kunst. Die Entstehung des öf fentlichen Museums in Deutschland 1701-1815, Mainz 2006, 279-307; Agnes Husslein-Arco/Katharina Schoeller (Hg.), Das Belvedere. Genese eines Museums, Wien 2011; Fischer, Kunst nach Ordnung.
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Abb. 14: Christian von Mechel, Verzeichniß der Gemälde der Kaiserlich Königlichen Bilder Gallerie in Wien, Wien 1781. tionen der Fürstlichen Kunstsammlungen erweitert wurden. Sie standen nun nicht nur einer höfischen Öffentlichkeit und den Mitgliedern der Kunstakademien offen, sondern waren auch für das allgemeine Publikum zugänglich. Nun wandelten sich die Gemäldegalerien »zu öffentlichen Schulen des Geschmacks, die im volkswirtschaftlichen Sinn der Konsumentenschulung und im staatsbürgerlichen Sinn der sittlichen Erziehung dienen sollten.«34 Dabei wurden auch die Galerieordnungen weiter differenziert. Es waren vor allem unterschiedliche historische Konzepte, die man nun der Gemäldehängung unterlegte – die kunstgeschichtliche Gliederung, der Stufengang ästhetischer Vollkommenheit und die entwicklungsgeschichtliche Perspektive. Eine Schlüsselposition innerhalb der Geschichte kommt dem Basler Kupferstecher und geschäftstüchtigen Verleger Christian von Mechel (1737-1817) zu, der in den Jahren 1779-1781 die Errichtung der kaiserlichen Galerie im
34 Kristine Patz, mündlicher Kommentar im November 2013.
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Wiener Belvedere leitete.35 Die 24 Räume des bis 1724 unter Johann Lucas von Hildebrandt (1668-1745) errichteten Barockschlosses ermöglichten eine stärkere Differenzierung der ausgestellten Sammlung, da nun der architektonische Raum das Medium der Gemäldeordnung bildete. So unterteilte Mechel in den fünf Zimmern im ersten Geschoss rechts die italienische Malerei nach fünf lokalen Schulen (venezianische, römische, f lorentinische, bolognesische und lombardische Schule) und trennte links die verschiedenen holländischen und f lämischen Schulen des 17. Jahrhunderts (Abb. 14). Im Obergeschoss waren die Werke der deutschen wie auch der niederländischen Malerei in der historischen Abfolge ihrer Entstehung gehängt.36
Zurichtung von Gemälden III Es mag vielleicht verwundern, dass noch im ausgehenden 18. Jahrhundert bei Neuaufstellungen von Gemäldegalerien den Kunstwerken erhebliche materielle Opfer abverlangt wurden. Auch um 1780-1781 scheute man im Belvedere nicht, an Bildträgern Beschneidungen oder Ergänzungen vorzunehmen.37 So liest man etwa in einem Verzeichnis von »Reparaturen«: »um es als Supraporten gebrauchen zu können, angesezt worden« oder »ein allegorisches Stück von Titiano […], welches sehr verschnitten war, ist um seinem Compagnon zu gleichen wieder ergänzt und angesezt worden« oder »vier Köpfe, von denen einige sind angesezt worden, um in die gleiche Größe zu kommen« oder »das Stück war sehr übel mißhandelt, und bis an die Knie der Figur abgeschnitten, daher es ergänzt, und so viel möglich in seinen ehemaligen format gerichtet wurde. Dem häuffig übermahlten darin aber, war nicht mehr zu helfen« oder »an der Fortuna […] waren unten die Füße weg35 Zu Mechel und seinen Innovationen siehe Fischer, Kunst nach Ordnung, 44-67 (mit älterer Literatur). 36 Alice Hoppe-Harnoncourt, Eine ungewöhnliche Einrichtung wird zum fixen Bestandteil der kunsthistorischen Ordnung. Die Malereischule der »alten deutschen Meister« von 1781 bis 1837, in: Swoboda, Kaiserliche Gemäldegalerie, Bd. 1, 90-114. 37 »Verzeichnis jener Gemälde der K. K. Bildergalerie,/welche bey Anlaß ihrer neuen Einrichtung in den Jahren 1780. & 1781./aus Nothwendigkeit wegen ihrem üblem Zustand/ sind gebutzt und repariert,/auch zum Theil wegen vorher geschehener Verstümmelung/und Wegschneidung sind ergänzt,/oder in ihre wahre Größe gebracht worden,/ desgleichen auch um einige als Supraporten/gebrauchen zu können«. Zit. nach: Swoboda, Kaiserliche Gemäldegalerie, Bd. 1, 286-291.
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Abb. 15: Giorgione, Laura, 1506, Leinwand auf Holz. Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 31, Auf licht- und Röntgenaufnahme. geschnitten, welche wieder sind angesezt worden«. Formfragen in Hinblick auf Proportion und Rhythmus in der Hängung blieben wesentlich. Als Beispiel sei nochmals Giorgiones Laura angeführt: Wie oben erwähnt, wurde das Leinwandbild für die Stallburg-Aufstellung zum Oval beschnitten und auf eine Holztafel übertragen bzw. marouf liert (Abb. 15). Nun aber, für die Belvedere-Hängung, wurde die Tafel wieder in ein rechteckiges Format gebracht, indem Holzleisten angesetzt wurden.38 Damit konnte Mechel das Portrait der Laura »aus Palma Schule« etwas vergrößern und dem »Bildnis eines jungen Frauenzimmers« von Palma dem Älteren (Abb. 16) als Pendant gegenüberhängen.39 Was bislang nur durch kritische Beobachtungen an den Gemälden selber festgestellt werden konnte, belegen inzwischen rezente Archivforschungen.40 So wurde etwa Mechel vorgeworfen, die Galerie sei »durch die viele theils
38 Oberthaler, Technik Giorgiones, 268. 39 Dieses Gemälde gelangte im Zuge der Napoleonischen Plünderungen über Paris nach Lyon, Musée des Beaux-Arts. 40 Grundlegend dazu: Elisabeth Hassmann, Quellen zur Geschichte der kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien (1765-1787). Eine Chronologie zu den Aufstellungen unter Rosa und Mechel, in: Swoboda, Kaiserliche Gemäldegalerie, Bd. 1, 116-167.
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angestückelte, theils abgeschnittene, grösten theils aber übermahlene vorhin kostbahre Gemählde sehr verunstaltet worden«.41 Die mit den Restaurierungsarbeiten beschäftigten Künstler gaben angefallene Kosten »zum Überschmieren der Gemählden« an,42 nicht aber für Formatänderungen. Dass diese jedoch vorgenommen wurden, belegt die detaillierte Aufstellung, die wohl von Mechel selbst erstellt wurde und in der Bild für Bild angegeben wird, welche Arbeiten 1780 und 1781 an ihnen durchgeführt wurden. Darin wird nicht nur die Rückführung mehrerer Werke in Abb. 16: Palma d. Ä., Weibliches deren ursprüngliches Format, sondern Portrait, um 1512/1514, Holz. Lyon, auch mehrfach die Formatangleichung Musée des Beaux-Arts, Inv. A 195. an den jeweiligen »Compagnon« angegeben. Damit sind nicht nur Bildpaare, sondern auch Gegenstücke im Kontext der symmetrischen Pendant-Hängung gemeint, die Mechel nachweislich umsetzen musste. Kaiser Joseph II. war mit der Einrichtung der Galerieräume nicht zufrieden, weshalb Staatskanzler Graf Kaunitz-Rietberg (1711-1794) dafür zu sorgen hatte, dass die Anzahl der Bilder reduziert wurde, ohne dabei das chronologische »systéme« zu stören. Zudem wurden schlechtere Bilder gegen bessere ausgetauscht und mehr Bedacht auf eine symmetrische Anordnung gelegt. Kaunitz versicherte dem Kaiser, dass die Reinigung und Restaurierung der Bilder, mit der vier »reparateurs discrets et intelligents« befasst seien, bis Ende Juli 1780 beendet sein würden. Im Hauptgeschoß hätten er [Kaunitz] und Mechel gleichfalls schlechtere gegen bessere Bilder ausgetauscht und darauf geachtet, dass mehr als bisher die erstrebte »simetrisation« erreicht werde.43 41 Vortrag von Oberstkämmerer Rosenberg an Kaiser Joseph II, 1782 Oktober 25, Wien, zit. nach Hassmann, Quellen, 157, Dok. 144. 42 Zit. nach Hassmann, Quellen, 154, Dok. 135. 43 Zit. nach Hassmann, Quellen, 142, Dok. 81. Gerlinde Gruber, »En un mot j’ai pensé à tout«. Das Engagement des Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg für die Neuaufstellung der Gemäldegalerie in Wien, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 10 (2008), 190-205. Zur einflussreichen und komplexen Person Kaunitz siehe: Gernot Mayer, Kulturpolitik der
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Im Katalog erläutert Mechel: Der Zweck alles Bestrebens gieng dahin, […] dass die Einrichtung im Ganzen, so wie in den Theilen lehrreich, und so viel möglich, eine dem Auge sichtbare Geschichte der Kunst werden möchte. Eine solche grosse öffentliche, mehr zum Unterricht noch, als nur zum vorübergehenden Vergnügen, bestimmte Sammlung scheint einer reichen Bibliothek zu gleichen, in welcher der Wißbegierige froh ist, Werke aller Arten und aller Zeiten anzutreffen, nicht das Gefällige und Vollkommene allein, sondern abwechselnde Kontraste, durch deren Betrachtung und Vergleichung (den einzigen Weg zur Kenntnis zu gelangen) er Kenner der Kunst werden kann.44 Der Grundgedanke Mechels, das Museum zu einer »sichtbaren Geschichte der Kunst« zu formen, erklärte die Geschichte der Kunst selbst zum Ausstellungsprogramm.45 Viele in diesem Zusammenhang wesentliche Phänomene wie das »vergleichende Sehen«46, der Einf luss von Ordnungsprinzipien, die aus Grafiksammlungen geläufig waren,47 der Zusammenhang mit der AusAufklärung. Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg (1711-1794) und die Künste, Diss. phil. Wien 2020. 44 Christian von Mechel, Verzeichniß der Gemälde der Kaiserlich Königlichen Bilder Gallerie in Wien […] nach der von ihm auf Allerhöchsten Befehl im Jahre 1781 gemachten neuen Einrichtung, Wien 1783, XIf. Siehe dazu auch Ketelsen, Künstlerviten, 190. Auf die Rolle von Hilchenbach im Zusammenhang mit der Neuaufstellung wurde mehrfach hingewiesen (etwa Hassmann, Quellen, 120). Hilchenbach schreibt bereits 1781, dass es Mechels Intention gewesen sei, »selbst die Eintheilung der Gemälde unterrichtend zu machen, und in ihr eine sichtbare Geschichte der Kunst aufzustellen, woran man stuffenweise ihre Entstehung, Zunahme und Vollkommenheit siehet« (Karl Wilhelm Hilchenbach, Kurze Nachricht/von der Kaiserl. Königl. Bildergalerie/zu Wien/und ihrem Zustande/im Jenner 1781, Frankfurt a.M. 1781, 10f.). 45 Siehe dazu und im Folgenden grundlegend Kristine Patz, Schulzimmer: »Nicht nur zum vorübergehenden Vergnügen«. Galerie – Bibliothek – Verschulung, in: Swoboda, Kaiserliche Gemäldegalerie, Bd. 2, 436-457, hier 449. 46 Tristan Weddigen, Die Sammlung als sichtbare Kunstgeschichte. Die Dresdner Gemäldegalerie im 18. und 19. Jahrhundert, Universität Bern (Habilitation) 2008, URL: https://doi. org/10.5167/uzh-122978 [letzter Zugriff: 17.12.2020]. 47 Zur wesentlichen Rolle der Druckgrafik im Zusammenhang mit Ausbildung von Kunstschulen siehe: Stephan Brakensiek, Vom »Theatrum mundi« zum »Cabinet des Estampes«. Das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565 – 1821, Hildesheim/Zürich/New York 2003; Joachim Penzel, Der umworbene Blick. Bildbetrachtung in Gemäldegalerien des 19. Jahrhunderts in der paragonalen Konstellation zwischen Buchmarkt und Kunstinstitution,
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bildung von Nationalschulen oder die Vorgeschichte des modernen Kunstmuseums im Allgemeinen48 bleiben hier ausgespart. In unserem Zusammenhang erscheint wesentlich, dass mit der Desemiotisierung der Kunstwerke durch die Entfernung aus ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhängen eine Resemiotisierung im neuen Kontext der Kunstgeschichte und Ästhetik einherging. Mit seiner Differenzierung der einzelnen Malerschulen lenkte Mechel den Blick nicht so sehr auf die qualitativen Unterschiede, sondern vor allem auf die formalen Gemeinsamkeiten benachbarter Gemälde und forcierte so eine Betrachtung nach stilistischen Gesichtspunkten. Darüber hinaus wurde der Bilderhängung partiell ein kunsthistorisches Entwicklungsmodell unterlegt, wobei Mechel immer noch an dem traditionellen organologischen Entwicklungsmodell von Aufstieg, Blüte und Verfall der Kunst festhielt. In Übereinstimmung mit dem klassizistischen Schönheitskanon (Winckelmann) wurde Geschichte als zyklisches Geschehen zur Darstellung gebracht.49 Auch die besondere Wertschätzung der italienischen Renaissancemalerei und der niederländischen Barockmalerei entsprach dem tradierten Wertekanon. Die repräsentative kunstgeschichtliche Praxis folgte auf diese Weise dem im akademischen und kennerschaftlichen Diskurs abgesicherten Wissen, so dass Alternativen zur Schulordnung am Ende des 18. Jahrhunderts kaum noch vorstellbar waren.50 Ergänzt und unterstützt wurde diese Präsentation durch den bereits erwähnten Katalog, der – ganz anders als das zuvor besprochene kaiserliche Inventar – richtungsweisende Neuerungen leistete. Zwar war auch der Mechel’sche Katalog als Itinerar, als Wegweiser beim Rundgang durch die Bildergalerie zu verwenden. Jedoch lässt sich nun anhand von Mechels handliin: Sabine Heiser/Christiane Holm (Hg.), Gedächtnisparagone – Intermediale Konstellationen, Göttingen 2010, 215-234. 48 Gabriele Bickendorf, Schule des Sehens. Die künstlerischen Schulen und der kunsthistorische Blick, in: Katharina Krause/Klaus Niehr (Hg.), Kunstwerk – Abbild – Buch. Das illustrierte Kunstbuch von 1730 bis 1930, München/Berlin 2007, 33-52; Savoy, Tempel der Kunst; Robert Felfe/Kirsten Wagner (Hg.), Museum, Bibliothek, Stadtraum. Räumliche Wissensordnungen 1600-1900, Berlin 2010. 49 Élisabeth Décultot, Wie Kunst zum Gegenstand von Geschichte wird. Winckelmanns Arbeit an organischen Entwicklungsmodellen, in: Johannes Grave/Hubert Locher/Reinhard Wegner (Hg.), Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800 (Ästhetik um 1800, 5), Göttingen 2007, 13-29. 50 Vgl. Hubert Locher, Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, München 2001.
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chem Buch die kunstgeschichtliche Konzeption der Sammlung nach Schulen einfach begreifen. Neben der wissenschaftlichen Fundierung des Galerieverzeichnisses51 legte Mechel besonderen Wert auf eine in vermittlungsdidaktischer Hinsicht einfache Benutzbarkeit des Buches im Galerieraum. So findet sich als eine Art Überleitung zwischen Vorbericht und Sammlungskatalog eine schlagwortartige Inhaltsangabe zu den einzelnen Gemäldesälen und Kabinetten, in der auf die nationalen und lokalen Schulen mit den ausgestellten Hauptmeistern und vereinzelt sogar auf wichtige Werke hingewiesen wird. Der von Mechel beschriebene Schnelldurchgang durch sämtliche Ausstellungssäle des Belvedere diente auch der Vororientierung des Publikums, vermittelte die kunstgeschichtliche Sammlungskonzeption und ermöglichte noch vor dem tatsächlichen Rundgang eine Selektion einzelner Meister und ihrer Werke. Dem Publikumsbedürfnis nach Übersicht, Auswahl und effizienter Suche trug er somit durch ein weiteres, historisch neues didaktisches Element Rechnung, das sich fortan als unverzichtbarer Bestandteil sämtlicher Galerieverzeichnisse und Führer erweisen sollte. Am Ende des Buches findet sich die mittlerweile vertraute, ausfaltbare Kupferstich-Tafel mit den Grundrissen der beiden Geschosse des Belvedere (vgl. Abb. 14) und der Angabe der nationalen und lokalen Malerschulen sowie teilweise der Hauptmeister. Mit diesen Raumplänen übertrug Mechel die topografischen Orientierungsprinzipien von Landkarten auf das Ausstellungsgebäude. Schon vor der physischen Erschließung des Galerieraums konnte eine kognitive Aneignung des Wegesystems und der darin verräumlichten Ordnungsstruktur der Kunstwerke erfolgen, denn in Gestalt des Lageplans wurde den Besuchern der Raum als Medium der Gemäldesystematik vorgestellt. Noch vor der visuellen Erfahrung der Gemäldesäle fand somit eine Voreinstellung des Sehens in kunsttheoretische Kategorien statt – es wurde der Blick auf die Werke mit den Grundbegriffen der malerischen Stilgeschichte (Schulen und Hauptmeister) programmiert. Der tatsächliche Rundgang musste danach teilweise einem Wiedererkennen von gerade einstudiertem Wissen gleichen. Mit der Öffnung der Galerie für das allgemeine Publikum versuchte Mechel den Zugang zu diesem verräumlichten Wissenszusammenhang durch ein einfaches schlagwortartiges Raum- und Bildbeschriftungssystem zu er51 Im Sinne eines modernen Katalogeintrags behandelt Mechel konsequent Fragen der Zuschreibung, verzeichnet Signaturen sowie die materielle Beschaf fenheit der Gemälde (Bildträger, Maße).
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leichtern. In seinem Katalog findet man in den einzelnen Schulabteilungen unter den jeweiligen Raumnummern die lokalen Schulen benannt. Darüber hinaus wurden Schilder mit Künstlernamen und Bildtitel an den einzelnen Gemälden angebracht. Durch diese Bild- und Raumbeschriftungen erschien die Abfolge der Galerieräume in dem ehemaligen Schloss als ein Land, »wo alle Wege mit Postsäulen bezeichnet« waren, wie ein Rezensent diese metaphorisch bezeichnete.52 Neben dieser »revolutionären« Neuaufstellung, die teilweise zu internationalen Polemiken führte (»Galeriemord«, »Bildermusterkarte«),53 war die Idee der öffentlichen Zugänglichkeit fundamental; die Galerie wurde als Bildungsinstitution verstanden. Mechels »sichtbare Geschichte der Kunst« hat sich von der eingeschränkten Sichtbarkeit der höfischen Stallburg Galerie distanziert und den Blick des Kaisers, Kenners oder Liebhabers durch ein – wie man meinte: allen scheinendes – Licht der Auf klärung ersetzt. Die Geschichte der Kunst war jetzt sichtbar, weil sie, der Idee nach, allen zugänglich gemacht worden war. Und sie war eine sichtbare Geschichte, weil die Gemälde nach kunsthistorischen Prinzipien gehängt worden waren, über die ein gedruckter Sammlungskatalog schwarz auf weiß Auskunft gab. Funktion und Charakter der Galerie hatten sich verwandelt: Aus einem Ort der Repräsentation war eine Bildungsstätte geworden. Im Vergleich bot sich nun den erkenntnisbegabten Besucherinnen die Möglichkeit, die Mannigfaltigkeit der Welt sich anzueignen und diese – nach Möglichkeit – zu ordnen.
52 Johann K. Wezel, Auszüge aus Briefen. I. Wien, den 15. Dez. 1782, in: Deutsches Museum 1 (1783), 182-185, hier 184. 53 »Mit wahrer Betrübniß habe ich gesehen, wie man diese vortrefliche Samlung, ich weis nicht, ob aus Gewinsucht, oder Neuerungssucht um den Karakter einer Gallerie gebracht und zu einer Bildermusterkarte reduzirt hat. Welch ein Einfall! Herr Roos und der bekante Kunsthändler von Mecheln werden für die Thäter dieses Galleriemords ausgegeben […]«. Zit. nach. [Anonym], Fortsetzung der Gedanken über den Zustand der Künste in Sachsen, bei Gelegenheit der Ausstellung vom Jahr 1781, zweiter Brief, Görlitz, den 5. Apr. 1781, in: Deutsches Museum 2 (1782), 253-262, hier 254.
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Literatur [Anonym], Fortsetzung der Gedanken über den Zustand der Künste in Sachsen, bei Gelegenheit der Ausstellung vom Jahr 1781, zweiter Brief, Görlitz, den 5. Apr. 1781, in: Deutsches Museum 2 (1782) 253-262. Appuhn-Radtke, Sibylle, Druckgraphik, in: Hellmut Lorenz (Hg.), Barock (Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, 4), München/London/ New York 1999, 607-640. Bähr, Astrid, Ein Blick in die Sammlung – Galeriewerke des 18. Jahrhunderts, in: Gudrun Swoboda, Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums, 2 Bde., Wien/Köln/Weimar 2013, Bd. 2, 420-434. Bähr, Astrid, Repräsentieren, bewahren, belehren: Galeriewerke (1660-1800). Von der Darstellung herrschaftlicher Gemäldesammlungen zum populären Bildband, Hildesheim/Zürich/New York 2009. Bickendorf, Gabriele, Schule des Sehens. Die künstlerischen Schulen und der kunsthistorische Blick, in: Katharina Krause/Klaus Niehr (Hg.), Kunstwerk – Abbild – Buch. Das illustrierte Kunstbuch von 1730 bis 1930, München/Berlin 2007, 33-52. Blum, Gerd/Bogen, Steffen/Ganz, David/Rimmele, Marius (Hg.), Pendant plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012. Brakensiek, Stephan, Vom »Theatrum mundi« zum »Cabinet des Estampes«. Das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565 – 1821, Hildesheim/Zürich/ New York 2003. Décultot, Élisabeth, Wie Kunst zum Gegenstand von Geschichte wird. Winckelmanns Arbeit an organischen Entwicklungsmodellen, in: Johannes Grave/Hubert Locher/Reinhard Wegner (Hg.), Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800 (Ästhetik um 1800, 5), Göttingen 2007, 13-29. Felfe, Robert/Wagner, Kirsten (Hg.), Museum, Bibliothek, Stadtraum. Räumliche Wissensordnungen 1600-1900, Berlin 2010. Fischer, Nora, Kunst nach Ordnung, Auswahl und System. Transformationen der kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien im späten 18. Jahrhundert, in: Gudrun Swoboda, Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums, 2 Bde., Wien/Köln/Weimar 2013, Bd. 1, 23-89. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1978 [1966].
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Abbildungsnachweis Abb. 1-15: © KHM Museumsverband. Abb. 16: https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:Portrait_of_a_woman-Palma_ Vecchio-MBA_Lyon_A195-IMG_0317.jpg.
Autorinnen und Autoren
Griet Bonne (M.A.), born 1995, is currently enrolled as a Ph.D.-researcher (FWO grant) at Ghent University with a project entitled »Rubens in the Age of Mechanical Reproduction: Studies on Reproducibility between 1877 and 1977.« Her research interests concern the formal characteristics of mechanical reproduction media in a pre-digital age, and their shifting agency in relation to the original artworks. Jacobus Bracker (Ass. iur., M. A.), geb. 1972, ist Abteilungsleiter und Justiziar bei der Hochschulrektorenkonferenz in Berlin. Seine Forschung konzentriert sich auf bild- und erzähltheoretische Fragestellungen in den Archäologien, kulturelle Austauschprozesse zwischen dem antiken Mittelmeerraum und Südostasien sowie die rechts- und kulturwissenschaftliche Analyse des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972. Hanna Brinkmann (Dr.), geb. 1985, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Donau-Universität Krems. Sie forscht inter- und transdisziplinär zu den Themen visuelle Kultur, Kunsterfahrung und Museologie. Johannes Grave (Prof. Dr.), geb. 1976, lehrt Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Projektleiter im Sonderforschungsbereich »Praktiken des Vergleichens«. Für seine Forschungen zur Kunst um 1800, zur Frührenaissance sowie zu bildtheoretischen Fragen wurde er 2020 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet.
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Vor dem Blick
Joris Corin Heyder (Dr. des.), geb. 1981, arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. In seinem Habilitationsprojekt forscht er zum Imperativ des vergleichenden Sehens in kennerschaftlichen Praktiken zwischen dem 17.-19. Jahrhundert. Britta Hochkirchen (Dr.), geb. 1982, ist Akademische Rätin a. Z. am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld und Teilprojektleiterin im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Sie forscht zu kuratorischen Praktiken des Vergleichens in Kunstausstellungen und zur französischen Kunst im Zeitalter der Auf klärung. Léa Kuhn (Dr.), geb. 1986, ist Akademische Rätin a. Z. am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte gelten den sich wandelnden Vorstellungen künstlerischer Arbeit und den Interdependenzen von künstlerischer Praxis und Kunstgeschichtsschreibung. Wolfram Pichler (ao. Prof. Dr.), geb. 1968, lehrt Kunstgeschichte an der Universität Wien. Forschungen zur europäischen Malerei und Grafik des 16. bis 20. Jahrhunderts und zu Fragen der Bildtheorie. Gudrun Swoboda (Dr. Mag.), geb. 1966, ist Kuratorin für italienische, spanische und französische Barockmalerei am Kunsthistorischen Museum und lehrt gelegentlich an der Universität Wien und Bern. Neben Arbeiten am Gemäldebestand und dem Kuratieren von Ausstellungen konzentrieren sich ihre Forschungen auf Fragen der Sammlungs- und Institutionsgeschichte. Steffen Zierholz (Dr.), geb. 1980, ist wissenschaftlicher Assistent am Kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er forscht zur Kunst und Lebenskunst der Jesuiten, zur Materialität in der Frühen Neuzeit sowie zur Kunst- und Wissensgeschichte des Dämonischen.
Autorinnen und Autoren
Michael F. Zimmermann (Prof. Dr.), geb. 1958, hat den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt inne. Schwerpunkt seiner Forschung ist die Kunst- und Mediengeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Frankreich, Italien und Deutschland.
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Bielefeld University Press Maristella Svampa
Die Grenzen der Rohstoffausbeutung Umweltkonflikte und ökoterritoriale Wende in Lateinamerika 2020, 156 S., kart., Dispersionsbindung 17,50 € (DE), 978-3-8376-5378-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5378-0
Olaf Kaltmeier
Refeudalisierung und Rechtsruck Soziale Ungleichheit und politische Kultur in Lateinamerika 2020, 162 S., kart., 7 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-4830-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4830-4
Néstor García Canclini
Demokratie im digitalen Kapitalismus Wie Bürger*innen durch Algorithmen ersetzt werden August 2021, 192 S., kart. 19,00 € (DE), 978-3-8376-5510-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5510-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.bielefeld-university-press.de
Bielefeld University Press Heinrich Wilhelm Schäfer
Die Taufe des Leviathan Protestantische Eliten und Politik in den USA und Lateinamerika Juli 2021, 838 S., kart., 30 SW-Abbildungen 55,00 € (DE), 978-3-8376-5726-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5726-9
Jeffrey Gould
Entre el bosque y los árboles Utopías Menores en El Salvador, Nicaragua y Uruguay April 2021, 120 p., kart., Dispersionsbindung 15,00 € (DE), 978-3-8376-5640-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5640-8
Klaus Meschkat
La crisis de los regímenes progresistas y el legado del socialismo de Estado April 2021, 108 p., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 15,00 € (DE), 978-3-8376-5641-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5641-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.bielefeld-university-press.de