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German Pages 218 Year 2020
Johannes Grave, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen (Hg.) Sehen als Vergleichen
BiUP General
Johannes Grave (Prof. Dr.), geb. 1976, lehrt Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Projektleiter im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Seine Forschungen konzentrieren sich auf die Kunst um 1800, die Frührenaissance sowie bildtheoretische Fragen. Joris Corin Heyder (Dr. des.), geb. 1981, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte der Universität Bielefeld. Im Rahmen seines Habilitationsprojekts geht er im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens« derzeit der Frage nach dem Imperativ des vergleichenden Sehens in kennerschaftlichen Praktiken zwischen dem 17.-19. Jahrhundert nach. Britta Hochkirchen (Dr. phil.), geb. 1982, ist Akademische Rätin am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld und Teilprojektleiterin im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Sie forscht zu kuratorischen Praktiken des Vergleichens in Kunstausstellungen und zur französischen Kunst im Zeitalter der Aufklärung.
Johannes Grave, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen (Hg.)
Sehen als Vergleichen Praktiken des Vergleichens von Bildern, Kunstwerken und Artefakten
Dieser Band entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« (Teilprojekt C01 »BildVergleiche. Formen, Funktionen und Grenzen des Vergleichens von Bildern«).
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Inhalt
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht Eine Einleitung Johannes Grave/Britta Hochkirchen ................................................. 7
Farbe und Kennerschaft Joris Corin Heyder ................................................................. 27
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs Hans C. Hönes ...................................................................... 51
Dekorative Beliebigkeit oder anregende Offenheit? Vergleichspraktiken und Pendantbildungen in der französischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts Johannes Grave ..................................................................... 81
Die Große Galerie des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn auf Schloss Weißenstein in Pommersfelden als Vergleichsanordnung Robert Eberhardt.................................................................. 107
Im Referenzraum der Zeiten Kuratorische Praktiken des Vergleichens in der Ausstellung Time is Out of Joint in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom Britta Hochkirchen .................................................................127
Relationalität statt Kulturvergleich Zum vergleichenden Sehen im enzyklopädischen Museum Sophia Prinz .......................................................................147
Harun Farockis Schnittstelle Die filmische Montage als eine Praxis des Vergleichens Eva-Maria Gillich/Helga Lutz ....................................................... 189
Ein Blick zurück Zur Unhintergehbarkeit des Blickwechsels beim vergleichenden Sehen Joris Corin Heyder ................................................................ 207
Autorinnen und Autoren..................................................... 215
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht Eine Einleitung Johannes Grave/Britta Hochkirchen
1.
Bild-Vergleiche: Verkettungen von Praktiken, Akteuren und Objekten
Zu einem »Imperativ«1 ist das Vergleichen von Bildern und Kunstwerken nicht erst mit der disziplinären Etablierung der akademischen Kunstgeschichte geworden. Dass eine eingehende Betrachtung, korrekte Einordnung und angemessene Bewertung von Kunst ohne vielfaches Vergleichen kaum denkbar sei, bildete vielmehr schon das Credo der connoisseurs des 18. Jahrhunderts, d.h. jener Kunstkenner, die bei allen Unterschieden in Erkenntnisinteresse und Selbstverständnis einige grundlegende Praktiken des späteren akademischen und musealen Diskurses der Kunstgeschichte vorprägten. In seinem Cours de peinture par principes von 1708 betont Roger de Piles mehrfach, dass sich der Wert von Kunstwerken allein über den Vergleich erschließe.2 De Piles formuliert damit früh den Leitgedanken einer Kunstkennerschaft, die in ständig neuen Vergleichen ein stummes, implizites Wissen erwirbt, dessen Differenziertheit und Nuanciertheit von keiner Kunsttheorie eingeholt werden kann, weil es sich der Versprachlichung entzieht. Jean-Baptiste Dubos knüpft nicht
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Heinrich Dilly, Einleitung, in: Hans Belting et al. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, 7-16, hier 12. Roger de Piles, Cours de peinture par principes, Paris 1708, 262: »La comparaison fait valoir les choses, et ce n’est que par elle qu’on en peut bien juger.«; 355 : »En Peinture comme en autre matiere, les choses ne valent que par comparaison. La pratique et l’experience rendent savant en cette partie.« – Vgl. auch Roger de Piles, Conversations sur la connoissance de la peinture et sur le jugement qu’on doit faire des tableaux, Paris 1677, 34f.
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nur daran an, wenn er betont, dass ein Urteil über die Qualität eines Gemäldes Vergleiche voraussetze,3 sondern er beschreibt auch die Herausbildung eines spezifischen durch Vergleiche verfeinerten Geschmacks. Erst dieser »goût de comparaison« ermögliche es dem Kenner, über den Vergleich zwischen direkt zugänglichen, nebeneinander zu sehenden Werken hinauszugehen und ein Gemälde mit der Erinnerung an früher betrachtete Bilder in Beziehung zu setzen.4 Der »goût« beruht mithin auf bereits vollzogenen Vergleichen und ermöglicht auf diese Weise weitere, komplexere komparative Praktiken. Bei Jonathan Richardson lässt sich beobachten, wie das kennerschaftliche Vergleichen dezidiert auf Zuschreibungsprobleme bezogen wird und nicht nur der wertenden Beurteilung vorarbeitet.5 Und Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville greift sowohl für die Unterscheidung von Qualitäten und für die Differenzierung zwischen Originalen und Kopien als auch für Fragen der Zuschreibung auf das Vergleichen zurück.6 Diese auf den ersten Blick hochspezialisierte Praxis des kennerschaftlichen Vergleichens dürfte im 18. Jahrhundert keineswegs gänzlich neu gewesen sein. Vielmehr wurde nun häufiger ausdrücklich dargelegt und erläutert, was sich zuvor vornehmlich implizit, eben im Tun, nach und nach etabliert und verbreitet hatte.7 Zudem fügte sich das kennerschaftliche Vergleichen in eine visuelle und ästhetische Kultur ein, die ohnehin in hohem Maße zu Vergleichen anregte. Dabei ist nicht nur an konkurrierende und einander überbietende Formen herrscherlicher oder kirchlicher Repräsentation mit den Mitteln der Kunst oder an die seit der Renaissance gepflegte
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Jean-Baptiste Dubos, Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture, 2 Bde., Paris 1719, Bd. 1, 680: »La perfection du dessein et celle du coloris sont des choses réelles et sur lesquelles on peut disputer et convenir à l’aide d’un compas ou de la comparaison.« Dubos, Reflexions critiques, Bd. 2, 378 : »Mais pour acquerir ce goût de comparaison qui fait juger du tableau present par le tableau absent, il faut avoir esté nourri dans le sein de la Peinture. Il faut principalement durant la jeunesse avoir eu des occasions frequentes de voir des tableaux dans une assiete d’esprit tranquille.« Vgl. Carol Gibson-Wood, Jonathan Richardson and the Rationalization of Connoisseurship, in: Art history 7 (1/1984), 38-56, bes. 47f. Vgl. Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville, Abrégé de la vie des plus fameux peintres [1745], Paris 1762, Bd. 1, XLVI u. LXXVII (comparaison) sowie XLVIII u. LXXIX (confrontation). Vgl. etwa die Praktiken, die Mancini in seinen im frühen 17. Jh. entstandenen, aber erst im 20. Jh. publizierten Considerazioni beschreibt; Giulio Mancini, Considerazioni sulla pittura, hg. von Adriana Marucchi und Luigi Salerno, 2 Bde., Rom 1956-1957.
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
Debatte um den Paragone der Künste zu denken.8 Vielmehr fällt die erste Hochphase kennerschaftlichen Vergleichens mit einer Zeit zusammen, in der sich ältere Präsentationsformen, die ihrerseits auf Vergleiche zielen, stark ausdifferenzieren und nochmals an Bedeutung gewinnen. Die paarweise Zusammenstellung von Bildern – sei es bereits bei ihrer Produktion, sei es nachträglich durch Sammler und Besitzer – erfreute sich im 18. Jahrhundert ebenso großer Beliebtheit wie die Hängung von Gruppen von Bildern nach dem Pendantprinzip. Derartige symmetrische Präsentationen einander in Format, Gattung, Sujet oder Stil entsprechender Bilder dienten nicht allein dekorativen Zwecken, sondern bargen stets auch Anregungen für vielfältige Vergleiche. Sie boten daher ideale Anwendungsfälle für jene Vergleichspraxis, die die Kunstkenner kultivierten. Sowohl die überkommenen Spuren und Informationen zu historischen Galeriehängungen als auch die aus dem 18. Jahrhundert bekannten Bilderpaare lassen darauf schließen, dass in dieser Zeit verbreitete Praktiken der komparativen Präsentation von Kunst zunehmend kreativ reflektiert und originell weiterentwickelt wurden. Daran, dass nun überraschende Zusammenstellungen gesucht wurden, zeigt sich zugleich, welche Stabilität inzwischen die Konventionen erlangt hatten, über die man sich dabei hinwegsetzte. Bereits im 18. Jahrhundert lässt sich mithin auf exemplarische Weise beobachten, wie eine spezifische Praxis, das vergleichende Betrachten von Bildern, mit den sie propagierenden oder reflektierenden Diskursen, dem Selbstverständnis der Akteure und insbesondere mit entsprechenden materiellen Zurichtungen und Präsentationsformen einherging. Praktiken, die sich zu Routinen herauszubilden begannen und eine community of practice, die Kunstkenner, entstehen ließen, traten auch hier gemeinsam mit diskursiven Prägungen sowie materialen und medialen Formatierungen auf, ohne dass sich die zeitliche oder gar kausale Priorität eines dieser Faktoren bestimmen ließe. Es liegt auf der Hand, dass diese für beide Aspekte – kennerschaftliche Praktiken sowie Formen der Zusammenstellung und Präsentation von Bildern
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Vgl. etwa Ulrich Pfisterer, Paragone, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. VI, Tübingen 2003, 528-546; Benedetto Varchi, Paragone – Rangstreit der Künste. Italienisch und Deutsch, hg. von Oskar Bätschmann und Tristan Weddigen, Darmstadt 2013; Christiane Hessler, Zum Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreitkultur des Quattrocento, Berlin 2014.
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– wechselseitig konstitutiven Zusammenhänge nur unzureichend und unvollständig in den Blick kommen, wenn man allein einem der beiden Stränge nachgeht. Weder eine Geschichte der Kennerschaft noch eine Rekonstruktion von Galeriehängungen, Bilderpaaren und Sammlungsarrangements kann für sich genommen jene enge Verkettung von Objekten, Akteuren und Praktiken erfassen, die für beide Phänomene tragend gewesen sein dürfte. Die dynamischen Entwicklungen, die sowohl die auf Vergleiche zielenden Präsentationsformen als auch die um Vergleiche organisierten kennerschaftlichen Praktiken und Diskurse im 18. Jahrhundert auszeichnen, werden erst aus ihrer Verkettung heraus verständlich. Insofern deutet sich an dem hier skizzierten Beispiel »eine heuristische, historische und praktische Priorität der Operationsketten vor den durch sie gestalteten Größen« an, »und zwar vor allen beteiligten Größen, seien diese Artefakte, Personen und Zeichen, oder technische Objekte, Praktiken und Wissensformen«9 . So unmöglich es mithin scheint, einen der genannten Aspekte als Ausgangspunkt aller anderen Phänomene zu verstehen und zu priorisieren, so klar zeichnet sich ab, wie sich die Entwicklungen sowohl im Feld der Kennerschaft als auch im Bereich der Präsentationsweisen und Zusammenstellungen von Bildern gegenseitig zu stabilisieren und voranzutreiben vermochten. Galeriehängungen oder auch einzelne Pendantkompositionen konnten kennerschaftliche Expertise widerspiegeln; zugleich dienten sie dazu, solche Expertise zu erwerben oder zu verfeinern. Mit anderen Worten: Es sind die Verkettungen von Objekten (hier Bildern), ihren Zurichtungen und Arrangements, von spezifischen Praktiken und Routinen im Umgang mit ihnen, von Akteuren mit einem spezifischen Selbstverständnis sowie von Diskursen, die im Zentrum stehen sollten, wenn man versucht, die Bedeutung des Vergleichens für den Umgang mit Kunst im 18. Jahrhundert genauer zu erfassen. 9
Erhard Schüttpelz, Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, in: Archiv für Mediengeschichte 6 (2006), 87-110, hier 91f. (Hervorh. im Orig.). Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den zitierten Vorschlag ausführlich zu diskutieren, mit dem Schüttpelz u.a. an die Kulturtechnikforschung, die Akteur-Netzwerk-Theorie und die Technikanthropologie André Leroi-Gourhans anknüpft, um ontologisch orientierte oder substanzialistische Beschreibungsmodelle durch einen konsequent relationalen Ansatz zu ersetzen. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist vor allem der Leitgedanke der Verkettung und ihrer Relationalität, nicht aber die Idee der Operativität relevant. – Für eine pointierte Kritik vgl. Dieter Mersch, Kritik der Operativität. Bemerkungen zu einem technologischen Imperativ, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 2 (1/2016), 31-53.
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
Was hier mit Blick auf das 18. Jahrhundert nur sehr thesenhaft skizziert werden kann, bedarf detaillierterer Untersuchungen, um überprüft und genauer nachgezeichnet zu werden.10 Für ein solches Anliegen bietet sich vor allem ein praxistheoretischer Ansatz an, der sich in seiner nicht-reduktionistischen Heuristik weder vorrangig auf menschliche Akteure und ihre mutmaßlichen Intentionen noch allein auf die Gegenstände von Praktiken oder auf die ihnen zugrundeliegenden sozialen Strukturen und diskursiven Ordnungen konzentriert.11 Mit den Praktiken kommt neben den Akteuren, den Objekten von Handlungen und möglichen Adressaten auch deren vielfältige Situiertheit in den Blick: Praxistheorien widmen daher der körperlich-leiblichen Verankerung von Praktiken, dem praktischem Know-how, den relevanten impliziten Wissensordnungen, den beteiligten Instrumenten, Hilfsmitteln und Dingen sowie Medien, Dispositiven oder auch Organisationen Aufmerksamkeit. Dabei stiften Praktiken nicht allein ein harmonisches oder spannungsvolles Zusammenspiel dieser verschiedenen Faktoren, vielmehr tragen sie erheblich dazu bei, die beteiligten Instanzen zu konstituieren oder zumindest zu stabilisieren und zu formen. Denn es sind verstetigte, relativ stabile Praktiken, die es zum Beispiel ermöglichen, dass sich der Typus des Kunstkenners herausbildet und ein spezifisches Selbstverständnis entwickelt, oder die dazu beitragen, dass bestimmte Formen des Arrangements von Bildern den Charakter von Konventionen annehmen können. Praxistheoretische Ansätze verstehen sich nicht allein als produktive Heuristik, mit der sich vorschnelle Blickverengungen und Reduktionismen vermeiden lassen. Vielmehr zielen sie darauf ab, die Entstehung und spezifische Ausprägung von sozialen Wirklichkeiten besser beschreibbar zu machen. Insofern Praktiken mehr sind als eine bloße Wiederholung oder Variation von Einzelhandlungen tragen sie dazu bei, Prozesse der Konstitution und Verstetigung von sozialen Tatsachen zu erklären. Zugleich können mit dem iterativen Moment von Praktiken, wie u.a. Andreas Reckwitz betont hat, stets auch
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Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Praktiken des Vergleichens« (SFB 1288) entstehen im Teilprojekt »Bild-Vergleiche« (C01) derzeit zwei Studien, die sich dieser Aufgabe annehmen. Vgl. Johannes Grave, Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen, in: Angelika Epple/Walter Erhart (Hg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt a. M. 2015, 135-159 (mit Hinweisen zur praxistheoretischen Grundlagenliteratur).
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Verschiebungen und Modifikationen einhergehen,12 die tiefgreifende Veränderungen oder umfassenderen Wandel anzustoßen vermögen. In jedem Fall aber machen Praktiken etwas mit den in ihnen involvierten Instanzen; sie lassen die beteiligten Akteure, Gegenstände, Instrumente, Medien etc. nicht unberührt. Eine praxistheoretische Annäherung an das vergleichende Sehen lädt daher in besonderem Maße dazu ein, danach zu fragen, welche – oftmals unbeabsichtigten – Folgen das Vergleichen von Bildern nach sich zieht, aber auch welche Eingriffe zuvor bereits erforderlich werden, um überhaupt Vergleiche zu ermöglichen. Während bisherige, stark auf Fragen der Methodik und ihrer Geschichte konzentrierte Untersuchungen zum vergleichenden Sehen vor allem behandelten, zu welchen Zwecken und mit welchen Ergebnissen Akteure den Vergleich von Bildern einsetzen,13 lenkt der praxistheoretische Ansatz die Aufmerksamkeit auch auf scheinbar beiläufige, möglicherweise aber folgenreiche Nebeneffekte, die von den Akteuren selbst oftmals gar nicht bemerkt werden, weil mit ihnen schon Vorentscheidungen getroffen sind, bevor die konkrete vergleichende Betrachtung durchgeführt wird.
2.
Den Blick lenken: Was macht das Vergleichen mit der Bildbetrachtung?
Dass mit dem vergleichenden Sehen der Prozess der Wahrnehmung selbst erheblich beeinflusst und disponiert wird, ist keineswegs übersehen worden. Bereits in den eingangs angeführten frühen kennerschaftlichen Schriften zeichnet sich ab, dass das unausgesetzte Vergleichen als eine ebenso körperliche wie kognitive Übung verstanden wird, die über den jeweiligen konkreten Vergleich hinaus zu einer Schärfung des Blicks führt. Ein langanhaltendes, differenziertes Vergleichen kann den Betrachter auf Details und Eigenschaften von Bildern stoßen lassen, die bei der Beschäftigung mit allein einem Bild unbeachtet geblieben wären. Das vergleichende Sehen lässt sich seine 12 13
Vgl. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (4/2003), 282-301, bes. 294f. Vgl. Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, München 2010; Ludmilla J. Jordanova, The look of the past. Visual and material evidence in historical practice, Cambridge 2012, 207-233; Matthias Bruhn/Gerhard Scholtz (Hg.), Der vergleichende Blick. Formanalyse in Natur- und Kulturwissenschaften, Berlin 2017; sowie – in globaler und transkultureller Perspektive – Jaś Elsner, Comparativism in Art History, London 2017.
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
Agenda weniger stark von den Vorgaben eines Bildes diktieren und erlaubt es dem Betrachter auf diese Weise, konsequenter von den Gewichtungen zwischen zentralen Motiven und peripheren Partien abzuweichen, die durch die Gestaltung und Komposition des einzelnen Bildes nahegelegt werden. Felix Thürlemann hat das vergleichende Betrachten von Bildern daher als »analytisch-reflektierende[s]« Sehen charakterisiert und von »einer identifizierend-personalen Blickeinstellung« unterschieden, wie sie für die eher einfühlende Rezeption von Einzelbildern typisch sei.14 Gerade bei Bildern, die einander in hohem Maße ähnlich sind, kann das Vergleichen zudem auf vermeintlich marginale, unbedeutende Abweichungen aufmerksam machen, die sich bei genauerer Betrachtung als durchaus signifikante Unterschiede erweisen können und zuvor übersehene Qualitäten hervortreten lassen.15 Wer vergleicht, so scheint sich mit diesen Überlegungen zu bestätigen, sieht mehr, schärfer und besser. Es ist daher auf den ersten Blick nur folgerichtig, wenn die Kunstgeschichte auch heute noch als »eine historisch fundierte Disziplin des vergleichenden Sehens«16 bezeichnet wird. Allerdings ist diese partielle Schärfung von Blick und Aufmerksamkeit mit Einbußen an anderer Stelle erkauft. Denn mit dem Vergleichen handelt sich der Betrachter neue Blickverengungen, Blindheiten und Unschärfen ein. Zu den Blickverengungen zählen jene impliziten Hierarchisierungen und Bewertungen, die Mieke Bal am Beispiel von Ausstellungen aufgedeckt hat, in denen Gemälde von Artemisia Gentileschi zusammen mit Werken anderer Maler präsentiert wurden. Tatsächlich könnte gerade das kennerschaftliche Erbe der Kunstgeschichte, die den Vergleich ebenfalls häufig zur Differenzierung zwischen Original und Kopie, Replik oder Fälschung einsetzt, dazu beigetragen haben, dass komparative Konfrontationen von Bildern oftmals unwillkürlich mit Werturteilen einhergehen, die gerade nicht die Augen für Neues öffnen.17 Im Fall von Artemisia Gentileschi wurde durch Bildvergleiche
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Felix Thürlemann, Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München 2013, 15. Für ein Beispiel vgl. Johannes Grave, Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens. Zu Goethes Falten-Philologie, in: Bader/Gaier/Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, 273-291. Sergiusz Michalski, Einführung in die Kunstgeschichte, Darmstadt 2015, 149. Vgl. Mieke Bal, Grounds of Comparison, in: dies. (Hg.), The Artemisia Files. Artemisia Gentileschi for Feminists and Other Thinking People, Chicago 2005, 129-167, bes. 129: »[…] comparison has two drawbacks. It quickly becomes a ground for (relative) judgment and establishing hierarchies, and it distracts from looking.«
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ihre Abhängigkeit von Caravaggio und Orazio Gentileschi suggeriert. Doch beschränkt sich das Problem nicht auf einzelne Werke oder Künstler. Vergleiche, die comparata aus verschiedenen kulturellen Kontexten heranziehen, scheinen in besonderem Maße mit der Gefahr behaftet zu sein, hierarchische Ordnungen schlichtweg zu reproduzieren, anstatt sie aus einer differenzierteren Betrachtung heraus in Frage zu stellen.18 Neben der impliziten ab- oder aufwertenden Hierarchisierung können Bildvergleiche, wie Peter Geimer dargelegt hat, auch zu voreiligen Gleichsetzungen veranlassen und Scheinevidenzen suggerieren. Der Aufweis von visuellen Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen gewinnt bisweilen eine so weitreichende Überzeugungskraft, dass nicht mehr genauer danach gefragt wird, was in welcher Hinsicht vergleichbar erscheint und welche Schlüsse daraus zu ziehen wären. Kommt es zu einer solchen »Gleichheit aus Versehen«19 , so trägt das gerade nicht dazu bei, an den verglichenen Bildern mehr oder Neues zu sehen; vielmehr »schluckt« der Vergleich in diesen Fällen, so Geimer, »das Spezifische«20 . Auf die im Anschluss an Bal und Geimer skizzierten problematischen Nebeneffekte des vergleichenden Betrachtens von Bildern ließe sich vermutlich mit methodischen Erwägungen antworten. Eine besonnene, reflektierte Anwendung des Vergleichens dürfte in der Lage sein, Automatismen der Wertzuschreibung oder Hierarchisierung zu unterbrechen und Scheinevidenzen aufzudecken, so dass deutlich würde, dass mit so manchem suggestivem Vergleich eigentlich noch nichts gewonnen ist. In diesem Sinne wäre zwischen guten, produktiven und schlechten, weil irreführenden Vergleichen zu differenzieren. Hätte man erst einmal die Kriterien für eine solche Unterscheidung bestimmt, so könnten fragwürdige Anwendungen des Vergleichens aufgedeckt und ausgeschlossen werden. Doch kann eine dezidiert praxistheoretische Untersuchung des vergleichenden Sehens darauf aufmerksam machen, dass das Bildersehen durch das 18
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Vgl. etwa Craig Clunas, The Art of Global Comparisons, in: Maxine Berg (Hg.), Writing the History of the Global: Challenges for the 21st century, Oxford 2013, 165-176. – Vgl. auch die abwägenden Überlegungen von Joachim Rees, Vergleichende Verfahren – verfahrene Vergleiche. Kunstgeschichte als komparative Kunstwissenschaft – eine Problemskizze, in: Kritische Berichte 40 (2/2012), 32-47. Peter Geimer, Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen, in: Bader/Gaier/Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, 45-69, hier 50. Geimer, Vergleichendes Sehen, 65.
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
Vergleichen deutlich stärker und tiefgreifender geformt und verändert wird – und zwar auf eine Weise, die sich durch methodische Vorsichtsmaßnahmen kaum wird eingrenzen lassen. Denn das Vergleichen strukturiert und diszipliniert in erheblichem Maße den Wahrnehmungsakt selbst – noch bevor sich Fragen der Interpretation oder der Beurteilung in den Vordergrund drängen.21 Auf folgenreiche Weise richtet das Vergleichen auf einer handfesten körperlichen und dinglichen Ebene die Konstellation ein, in der Bilder und Betrachter zusammenkommen. Die Absicht, einen Vergleich durchzuführen, impliziert nicht allein, dass der Betrachter sich mindestens zwei Bildern und eben nicht ausschließlich einem Objekt zuwendet. Vielmehr legt das Vergleichen mit der Wahl einer Hinsicht (Sujet, Komposition, Stil, Kolorit oder dergleichen) fest, welche Aspekte des Bildes bewusst in den Blick genommen werden. Es trifft auf diese Weise eine Vorentscheidung darüber, ob das Interesse primär der Erscheinung des im Bild Dargestellten (und damit der Transparenz des Bildes) oder aber den sinnlich-anschaulichen Eigenschaften der Darstellungsmittel und des Bildträgers (der Opazität des Bildes) gilt. Vor allem aber erfordert das Vergleichsinteresse einen mehr oder weniger regelmäßigen Wechsel der Konzentration auf das eine oder das andere Bild. Das vergleichende Sehen gibt dem Vollzug der Wahrnehmung daher ganz unvermeidlich eine eigene Rhythmik und Gliederung, durch die andere Formen der Betrachtung verunmöglicht werden. Nicht selten wird dabei auch darüber mitentschieden, welchen räumlichen Abstand der Betrachter zu den Bildern einnimmt. Das Vergleichen wird den Betrachter darüber hinaus dazu tendieren lassen, halbwegs klar umrissene und isolierbare Einheiten oder Elemente im Bild, also bestimmte Motive oder Details, zu fokussieren, um so innerhalb des umfassenden Bildvergleichs kontrollierbare und handhabbare Binnenvergleiche durchzuführen. Diese Tendenz leistet im Zusammenspiel mit der Rhythmisierung des Blicks einer Partikularisierung der Bildwahrnehmung Vorschub. Das dem Vergleich unterzogene Bild droht gleichsam in einzelne Elemente zu zerfallen. Wie jede gute Methode reguliert das vergleichende Betrachten den Handlungsspielraum und minimiert die Folgen von Kontingenzen oder situativen Einflüssen. Allerdings sind diese Effekte kaum je bedacht oder problematisiert worden – vermutlich, weil es am Bewusstsein für die Bedeutung fehlte, die dem zeitlichen Verlauf des Bildbetrachtens zukommen kann. Dabei
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Vgl. auch Grave, Vergleichen als Praxis, 150f.
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greift die Eigenlogik des Vergleichens tief in die Temporalität der Bildwahrnehmung ein.22 Bilder lassen ihren Betrachtern häufig viel Freiraum für eine schweifende, sprunghafte, fokussierende oder verweilende Blickführung, stets aber ermöglichen sie – und bisweilen verlangen sie gar – einen zeitlich erstreckten, in seiner Prozessualität komplexen Wahrnehmungsvollzug. So sehr dieser Rezeptionsprozess de facto immer auch durch kaum kontrollierbare externe Rahmenbedingungen, situative Einflüsse und individuelle Dispositionen beeinflusst wird, haben Bilder dennoch aufgrund ihrer Darstellung und ihrer Gestaltung erheblichen Anteil daran, welche zeitliche Erstreckung und Gliederung die Rezeption ausprägen kann. Ihnen eignet eine rezeptionsästhetische Temporalität, die freilich bei Praktiken des Sehens, die vor allem externen Vorgaben folgen, weitgehend in den Hintergrund gedrängt wird. Das vergleichende Betrachten von Bildern erweist sich damit als eine Situation, in der wichtige Potenziale von Bildern von vornherein von einer Realisierung im Wahrnehmungsprozess ausgeschlossen werden. Die Erfahrung einer langanhaltenden, die Zeit gleichsam aufhebenden Versenkung in ein Bild ist beim Bildvergleich ebenso wenig möglich wie das Erlebnis, dass ein Bild bei einer längeren konzentrierten Betrachtung zu immer neuen Beobachtungen Anlass geben kann, die sich einander wechselseitig erhellen oder aber untereinander unaufhebbare, produktive Widerstreite ausbilden. Die je spezifische rezeptionsästhetische Temporalität, die Bildern als ein Potenzial eigen ist, das in konkreten Wahrnehmungsvollzügen zur Geltung kommen kann, wird im vergleichenden Sehen regelrecht unterbunden und stillgestellt. Dass dieser Effekt des Vergleichens bislang kaum problematisiert wurde, könnte selbst eine Folge der erfolgreichen Implementierung des vergleichenden Sehens in der disziplinären Praxis der Kunstgeschichte sein. Weil sich das Fach unausgesetzt des vergleichenden Sehens bedient, sind die Potenziale, die sich mit der rezeptionsästhetischen Temporalität von Bildern verbinden, in der Regel schon eingehegt, bevor sie auffällig werden könnten.
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Vgl. Johannes Grave, Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Michael Gamper/Helmut Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014, 51-71.
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
3.
Vergleichbar machen: Was macht das Vergleichen mit den verglichenen Objekten?
Das Vergleichen wirkt sich nicht allein auf die Wahrnehmung von Objekten durch die Hervorhebung spezifischer Bildelemente, das Stiften von Ordnungen und Hierarchien sowie die Temporalität des Rezeptionsprozesses aus. Vielmehr vermag eine Untersuchung aus praxistheoretischer Perspektive aufzuzeigen, inwiefern auch die zu vergleichenden Objekte selbst Prozessen der Auswahl, Reproduktion und materiellen Zurichtung unterliegen, um schließlich zu comparata innerhalb einer spezifischen Vergleichsanordnung gemacht zu werden. Mit dem praxistheoretischen Ansatz wird die Verkettung verschiedener Instanzen, Akteure, Gegenstände, Instrumente und Medien, insofern deutlich, als dass davon auszugehen ist, dass die comparata in ihrer Zusammenstellung, aber auch in ihrer medialen und materiellen Beschaffenheit dem Akt des Vergleichens nicht vorgängig sind. Sie entstehen indes erst in der Verkettung der in das Vergleichen involvierten Instanzen, zudem werden sie durch den jeweiligen situativen räumlichen, medialen und materiellen Kontext geprägt, in dem der Vergleichsakt vollzogen wird. Bereits durch das Sammeln oder Zusammenstellen spezifischer Objekte werden Vorentscheidungen über die für das Vergleichen überhaupt zur Verfügung stehenden comparata getroffen.23 Der Evidenzcharakter, der dem Vergleich und dessen tertia oftmals eigen ist, kann durch die Untersuchung der dem vergleichenden Sehen vorgängigen, im Akt des Vergleichens selbst aber nicht sichtbaren Entscheidungen der Auswahl dekonstruiert werden. Der finalen Entscheidung für zwei oder mehrere Objekte als comparata gehen oftmals unterschiedliche Vergleichspraktiken im Prozess des Sichtens verschiedener Objekte voraus, die sich im ›finalen‹ Vergleich sedimentieren, aber selbst nicht mehr thematisiert werden. Die Selbstauskünfte von Sammlern geben in exemplarischer Weise Auskunft über die langwierigen Prozesse der Entscheidung für ein Werk, die aus zahlreichen Sichtungen und Vergleichen hervorgeht.24 Nicht immer folgt die Auswahl, die überhaupt erst den 23
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Zur Sammlung als »zugleich gezielte[m] und kontingente[m] Resultat einer wissenschaftlichen und kulturellen Praxis« vgl. Anke te Heesen/Emma C. Spary, Sammeln als Wissen, in: dies. (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2 2002, 7-21, hier 8. Siehe bspw. Frances Gage, Exercise for Mind and Body: Giulio Mancini, Collecting, and the Beholding of Landscape Painting in the Seventeenth Century, in: Renaissance Quarterly 61 (4/2008), 1167-1207; Stanley Mazaroff, Henry Walters and Bernard Berenson:
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Vergleich spezifischer comparata ermöglicht, der alleinigen Entscheidung des Sammlers. Sie obliegt vielmehr selbst Kontingenzen und Zwängen, da nicht jedes Objekt verfügbar oder auch nur erfassbar ist. Sind die Vorentscheidungen für die zu vergleichenden Objekte getroffen, kann der eigentliche Akt des Vergleichens jedoch in der Regel noch nicht vollzogen werden. Objekte müssen häufig zuerst bearbeitet oder aber verändert werden, um überhaupt verglichen werden zu können. Zugespitzt formuliert muss eine Vergleichbarkeit hergestellt, müssen comparata überhaupt erst geschaffen werden. Hierfür sind oftmals konkrete materielle und mediale Eingriffe nötig, die im Akt des Vergleichens selbst nicht mehr augenfällig, aus praxistheoretischer Perspektive aber zu befragen sind. Bereits im 18. Jahrhundert haben Kenner Reproduktionsgrafiken beschnitten und auf einer Albumseite angeordnet, um so eine Vergleichbarkeit herzustellen.25 Ausgehend von der Vorliebe für Pendants oder gar für die Bildform des Diptychons, können Bildobjekte auch in ihrem Format einander angepasst und in entsprechender Weise im Ausstellungsraum präsentiert werden.26 Es sind solche materiellen Zurichtungen und Anpassungen, die Objekte zu comparata werden lassen. Auch in der kuratorischen Praxis des 20. Jahrhunderts kommt es zu Formatanpassungen, um ein vergleichendes Sehen überhaupt erst ermöglichen zu können. Um im Saal 27 der documenta I ein Werk von Pablo Picasso aus dem Jahr 1932 demjenigen von Fritz Winter aus dem Jahr 1955 auf zwei eingezogenen Wänden an den Schmalseiten gegenüberzustellen und so einen Vergleich zwischen der europäischen Avantgarde der Vorkriegszeit und der deutschen Nachkriegsmoderne zu initiieren,27 wurde das großformatige Auftragswerk
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Collector and Connoisseur, Baltimore 2010; Christopher Baker/Caroline Elam/Genevieve Warwick (Hg.), Collecting Prints and Drawings in Europe, c. 1500-1750, Aldershot 2003. Vgl. Kristel Smentek, Mariette and the Science of the Connoisseur in Eighteenth-Century Europe, Farnham 2014, bes. 144-154. Vgl. Christine Taubers Hinweis auf Gerhard Richters Hängung seiner Lack-Hinter-GlasTafeln (heutiger Titel: Sindbad) als Diptychen in der Ausstellung Gerhard Richter. Abstrakte Bilder (Haus der Kunst, München, 2009). Christine Tauber, »Ceci n’est pas un pendant«. Drei Fallstudien grenzwertiger Bildpaare, in: Gerd Blum/Steffen Bogen/David Ganz et al. (Hg.), Pendant plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, 281-300, bes. 291-295. Es handelte sich um die folgenden beiden Werke: Pablo Picasso, Girl before a Mirror, 1932, Öl auf Leinwand, 162,3 x 130,2 cm, Museum of Modern Art, New York, Gift of Mrs. Simon Guggenheim; sowie Fritz Winter, Komposition vor Blau und Gelb (heutiger Titel: Durchbrechendes Rot), 1955, Öl auf Leinwand, 618 x 381 cm, Museum Abtei Liesborn des Kreises Warendorf, Wadersloh-Liesborn (Leihgabe Fritz-Winter-Haus, Ahlen).
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
Fritz Winters kurzerhand ›verkleinert‹. Die Leinwand wurde umgeschlagen, um das Werk auf der eingezogenen Wand präsentieren zu können und auf diese Weise mit Picassos Werk vergleichbar zu machen.28 Doch nicht nur am konkreten Material der zu vergleichenden Objekte werden Eingriffe vorgenommen. Oftmals wird das Vergleichen von Bildern anhand von Reproduktionen vollzogen, die in Form von Zeichnungen, Druckgrafiken oder aber Fotografien zuallererst hergestellt werden müssen. Allein die Herstellung einer Reproduktion bedeutet bereits einen medialen Transfer, mit dem immer auch qualitative und materielle Veränderungen einhergehen.29 Dieser Prozess, der dem Akt des Vergleichens vorausgeht, ihm aber auch im Vollzug eingeschrieben bleibt und ihn bedingt, ist häufig mit Praktiken der Vereinheitlichung und Standardisierung verbunden. Um beispielsweise zwei Bilder in einem Buch zu vergleichen, werden ihre Reproduktionen auf einer (Doppel-)Seite auf einer Horizontalen oder Vertikalen platziert.30 Diese spezifische Anordnung wirkt als Vergleichssignal, geht aber meist mit vorherigen ›Bearbeitungen‹ der reproduzierten comparata einher. Reproduktionen müssen häufig in ihrem Format einander angeglichen werden, um sie in einer Publikation vergleichbar zu machen. Dadurch verliert das ursprüngliche Objekt als comparatum zentrale Charakteristika, die ansonsten eher als
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Vgl. Walter Grasskamp, documenta – kunst des XX. jahrhunderts. Internationale ausstellung im museum fridericianum in kassel. 15. juli bis 18. September 1955, in: Simon Großpietsch/Kai-Uwe Hemken (Hg.), documenta 1955. Ein wissenschaftliches Lesebuch, Kassel 2018, 18-25, bes. 18 u. 21; Charlotte Klonk, Die phantasmagorische Welt der ersten documenta und ihr Erbe, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/Berlin 2010, 131-159, bes. 143; Britta Hochkirchen, Narrating Art History: Practices of Comparing in Exhibitions and Written Surveys with regard to documenta I, in: Martin Carrier/Rebecca Mertens/Carsten Reinhardt (Hg.), Narratives and Comparisons.Adversaries or Allies in Understanding Science?, Bielefeld 2020 (im Erscheinen). Vgl. Iris Herpers, Fritz Winter, ›Durchbrechendes Rot‹. Restaurierung und Transport eines großformatigen documenta I-Gemäldes, in: VDR-Beiträge zur Erhaltung von Kunstund Kulturgut (1/2011), 61-67, bes. 63. Vgl. Marion Heisterberg/Susanne Müller-Bechtel/Antonia Putzger, Nicht einzig-, aber eigenartig, oder: What do copies want?, in: dies. (Hg.), Nichts Neues Schaffen. Perspektiven auf die treue Kopie 1300-1900, Berlin/Boston 2018, 7-16. Als zentrales Beispiel für diese Vergleichsanordnung gilt Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915.
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Differenzkriterium hätten deutlich werden können.31 Nicht zuletzt geht die Reproduktion von Bildern häufig mit Verschiebungen im Kolorit oder einer Reduktion ins Schwarz-Weiß einher, so dass die vormals unterschiedliche Farbgestaltung der comparata zusätzlich eingeebnet wird. Nicht nur auf gedruckte Publikationen, sondern auch auf die »präsentative kunsthistorische Praxis« – so Heinrich Dilly mit Verweis auf die Diadoppelbildprojektion – hat das Vergleichen prägend Einfluss genommen.32 Durch die sich im späten 19. Jahrhundert innerhalb der kunsthistorischen Lehre etablierende Lichtbildprojektion war die Möglichkeit gegeben, nicht allein den kunsthistorischen Diskurs mit der unmittelbaren Anschauung zu verbinden, sondern darüber hinaus auch Objekte aus unterschiedlichen Jahrhunderten und kulturellen Zusammenhängen durch die fotografische Reproduktion miteinander in einen direkten Vergleich zu setzen. Dass dieses Vergleichen wiederum Prozeduren der Angleichung – im Format, aber auch in Hinblick auf den medialen Transfer – bedarf, ist vielfach hervorgehoben worden.33 Wie sehr sich die Diadoppelbildprojektion als mediales Dispositiv des Vergleichens in die kunsthistorische Lehre eingeschrieben hat, wird nicht zuletzt seit der ›apparativen‹ Umstellung auf die Präsentation durch die Einzelprojektion des Beamers bemerkbar: Auch hier und trotz der bisweilen wesentlich kleineren ›Grundfläche‹ wird immer noch mit dem Vergleich zweier Bilder gearbeitet. Doch stößt das Vergleichen – gerade von zwei Querformaten – oft an seine buchstäbliche Grenze, so dass entweder das Format bis zur Unkenntlichkeit reduziert oder aber das Vergleichen zweier nebeneinander projizierter Objekte aufgegeben werden muss. Die apparativ sedimentierte Vergleichsanordnung führt also wiederum zu medialen und materiellen Eingriffen in die zu vergleichenden Bildobjekte. Doch werden die comparata für das Vergleichen nicht nur medial verändert und materiell zugerichtet, sondern darüber hinaus diskursiv ›bearbeitet‹. Auch hier bleiben die Praktiken, die nötig sind, um zwei Objekte vergleichbar zu machen, den comparata nicht äußerlich, sondern wirken auf ihre 31 32
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Vgl. André Malraux, Das imaginäre Museum, in: ders., Stimmen der Stille, München/Zürich 1956, 7-122, bes. 12; Geimer, Vergleichendes Sehen, 50. Siehe die gleichnamige Kapitelüberschrift und den Abschnitt zur Lichtbildprojektion in Heinrich Dilly, Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt a. M. 1979, 133 sowie 158-160. Vgl. dazu auch Heinrich Dilly, Lichtbildprojektion – Prothese der Kunstbetrachtung, in: Irene Below (Hg.), Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, 153-172. Vgl. Malraux, Das imaginäre Museum, 12.
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
Gestalt ein und verändern damit die Bildwahrnehmung. Neben der Projektion von Bildern im Seminarraum ist die Arbeit mit Bilddatenbanken ebenfalls eine grundlegende kunsthistorische Praxis. Aus praxistheoretischer Perspektive ist auch hier eine Verkettung von Eingriffen in die Objekte zu konstatieren, die diese überhaupt erst digital vergleichbar machen. Der mediale Transfer geht häufig mit einer standardisierten (fotografischen) Reproduktion einher, die das Format, darüber hinaus aber auch die Farbigkeit in ein vorgegebenes Raster überführt. Diese medialen Praktiken bieten die Basis für eine diskursive Vereinheitlichung durch die Zuordnung von Schlagworten. Durch diese Zuteilung von sprachlichen Begriffen, die zumeist selbst auf vorausgehenden Vergleichen basiert, werden spezifische Objekte überhaupt erst vergleichbar gemacht. Gibt man ein solches Schlagwort in die Datenbank ein, wird eine Auswahl angeboten, die gleichsam eine implizite Vorentscheidung für das Vergleichen bildet. Darüber hinaus nehmen die Schlagworte eine Vereinheitlichung vor, indem sie in der Regel nur auf eine Dimension visueller Objekte fokussiert sind, nämlich auf das figürlich-motivisch Dargestellte. Die Darstellung oder Materialität des Bildes bleibt in diesem Prozess der Vereinheitlichung, der prägend in das Vergleichen einfließt, hingegen meistens unbeachtet. Auf diese Weise befördern auch diese standardisierenden Praktiken, die dem Vergleichen eingeschrieben sind, den Fokus allein auf die Ebene des Dargestellten und verhindern gerade das für das Bild so wichtige Wechselverhältnis zwischen Dargestelltem und Darstellungsform. Die medialen, materiellen und diskursiven Eingriffe und Vereinheitlichungen, die in ihrer Verkettung nicht isoliert voneinander zu verstehen sind, machen comparata vergleichbar, indem sie diese verändern. Die comparata sind dem Akt des Vergleichens nicht vorgängig, sondern werden durch eine Verkettung von Praktiken im jeweiligen situativen Kontext in ihrer (veränderten) Medialität, Materialität und zugeordneten Diskursivität überhaupt erst als Objekte eines Vergleichs hervorgebracht. Das Vergleichen wirkt folglich durch die ihm voraus- und mit ihm einhergehenden Praktiken auf die zu vergleichenden Objekte zurück.
4.
Blicke wechseln: historische und systematische Perspektiven auf das Vergleichen
Die geschilderten Auswirkungen des Vergleichens auf die Bildbetrachtung sowie auf die Medialität und Materialität der zu vergleichenden Objekte sind
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nicht isoliert voneinander zu sehen. Die hier erfolgte heuristische Trennung dient indes gerade der Sichtbarmachung der Verkettung zwischen Praktiken, Akteuren und Objekten im Prozess des Vergleichens. Mit einem praxistheoretischen Ansatz können diese Wechselwirkungen innerhalb der Verkettung zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung werden. Alle involvierten Instanzen – Praktiken, Akteure und Objekte – sind demnach im Prozess des Vergleichens nicht als distinkt und statisch anzusehen, sondern zeitigen aus praxistheoretischer Perspektive auf der Mikroebene gegenseitige Ein- und Auswirkungen, die sich sowohl synchron als auch diachron in den unterschiedlichen Ausformungen und Konsequenzen des vergleichenden Sehens niederschlagen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen die skizzierten Überlegungen zum Ausgangspunkt, um beispielhaft unterschiedliche Formen, Funktionen und Grenzen des Vergleichens von Bildern und Kunstwerken zu untersuchen. Die Beiträge vereint der Blick auf die Verkettungen und Wechselverhältnisse unterschiedlicher Instanzen, die in den konkreten Akt des Vergleichens involviert sind und das vergleichende Sehen bedingen. Damit findet im übertragenen Sinne ein Blickwechsel statt: Statt den Fokus vorrangig auf die Potenziale des Bildvergleichs zu richten, verschieben ihn die hier versammelten Beiträge vor allem auf die Voraussetzungen und Bedingungen der Praktiken des Vergleichens und auf deren Folgen für die Bildbetrachtung. Mit der Wahl epochal und medial verschiedener Fallbeispiele zeugen die Beiträge von der großen Varianz des vergleichenden Sehens und seiner Abhängigkeit von spezifischen situativen, medialen, materiellen, diskursiven und nicht zuletzt historischen Kontexten. Erst durch den Blickwechsel zwischen den in den verschiedenen Beiträgen dieser Publikation untersuchten Szenen des Vergleichens werden die Differenzen zwischen den Praktiken und ihrer jeweiligen historischen Einbettung bewusst. Diese Überschau mag deshalb eine Grundlage bieten für die weitere systematische Untersuchung der meist unsichtbaren Praktiken des vergleichenden Sehens. Die Beiträge dieses Bandes basieren in Teilen auf Vorträgen im Rahmen der Reihe »BlickWechsel. Vergleichendes Sehen in Kunst und Bildkulturen«, die 2017/18 vom Teilprojekt C01 »Bild-Vergleiche. Formen, Funktionen und Grenzen des Vergleichens von Bildern« (C01) innerhalb des Sonderforschungsbereichs »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« (SFB 1288) ausgerichtet wurde. Wir danken den Vortragenden für die erkenntnisreichen Diskussionen, die die Mitglieder des Teilprojekts dazu angeregt haben, eigene Fallbeispiele in die Blickwechsel dieses Bandes
Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
aufzunehmen. Robert Eibers und Philipp Flüß möchten wir für die umsichtige Mitarbeit bei der Redaktion des Bandes danken. Für die organisatorische wie auch finanzielle Unterstützung im Rahmen der Vortragsreihe sowie der Publikation dieses Bandes gilt der Dank dem Sonderforschungsbereich und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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Johannes Grave/Britta Hochkirchen
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Blickwechsel: Was das vergleichende Sehen mit Bildern und ihren Betrachtern macht
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Farbe und Kennerschaft Joris Corin Heyder
Abstract: Farbe ist eine der zentralen Kategorien in der kennerschaftlichen Bewertung von Kunstwerken, doch zugleich entzieht sie sich beharrlich einer formalistischen Einhegung. Darüber wie und vor allem nach welchen Kriterien die Farbigkeit von Bildern zu bewerten sei, wurde immer wieder und mitunter erbittert gestritten. Der Aufsatz versucht die zentrale Bedeutung von Praktiken des Vergleichens für den Umgang mit Farbe innerhalb der Kennerschaft aufzudecken. Es zeigt sich, dass dem Zustandekommen von Farburteilen im 18. Jahrhundert komplexe, vielschichtige Vergleichsoperationen vorausgingen. Am Beispiel von C harles Le Bruns Reines de Perse werden diese Verkettungen von Vergleichen zwischen Anschauung und Diskurs exemplarisch ausgeleuchtet.
»de gustibus et coloribus non disputandum«1
1.
Geschmacksfrage
Farbe2 ist eine zentrale Kategorie kennerschaftlicher Urteile und doch ist ihr besonders schwer beizukommen. In scholastischer Zeit wurde das lateinische Sprichwort »Über Geschmack lässt sich nicht streiten« um den Zusatz
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Scholastische Abwandlung des lateinischen Sprichworts: »de gustibus non disputandum« [Kursivierung durch den Verfasser].
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Die Farbe wird hier in ihrem umfassenden Sinne verstanden, also sowohl in ihrer materiell-stofflichen als auch in ihrer sensuell-optischen Dimension. Diese beiden Seiten sind im Niederländischen etymologisch durch die komplementären Worte »kleur«
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Joris Corin Heyder
»und über Farben« erweitert, als Philosophen wie Hugo von St. Viktor (10971141), Witelo (1230-1275) oder Bonaventura (1221-1274) umfassendere Reflexionen über Farben und Licht vorlegten.3 Entschieden richteten die Scholastiker ihre Gedanken über das Schöne (pulchritudo) nun nicht mehr allein auf das Intelligible, sondern mit gesteigerter Aufmerksamkeit für Farben mehr und mehr auf die sinnlich erfahrbare Welt.4 Ist die Farbe also unmittelbarstes Merkmal unserer sinnlichen Wahrnehmung? Entzieht sie sich vielleicht gerade deshalb eines allgemeingültigen Urteils, weil sie – anders als etwa die Proportion – oftmals als materiale Qualität eines Körpers oder eines Objekts in Erscheinung tritt und damit an das subjektive Urteil der Betrachterin oder des Betrachters gebunden bleibt? Diese Fragen deuten schon an, wie schwer es ist, so unterschiedliche Aspekte wie das physikalische oder sensuelle Farbensehen, das farbgebundene Rezeptionsangebot eines Artefakts, den ›normativen‹ Gebrauch von Farben durch Künstlerinnen und Künstler oder die ästhetische Einschätzung von Farbqualitäten zusammenzudenken. All diese Aspekte aber determinieren den ›Farbgeschmack‹ und nicht zuletzt das kennerschaftliche Urteil darüber, ob etwa in einem Bild der Einsatz der Farben bzw. des Kolorits im Sinne eines bestimmten Ideals erfolgte oder ob die Farben im Vergleich zu anderen Bildern gelungen oder weniger geglückt, typisch oder atypisch für einen Maler beziehungsweise eine bestimmte Schule oder mit gutem oder schlechtem Geschmack ausgeführt worden seien.
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(von lateinisch: color) und »verwe« (von nhd. Farbe) präsent, wie Karin Leonhard dargelegt hat, vgl. Karin Leonhard, verf, kleur : Farbtheorie und Stilleben im 17. Jahrhundert, in: Claudia Fritzsche/Karin Leonhard/Gregor J. M. Weber (Hg.), Ad Fontes! Niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts in Quellen, Petersberg 2013, 55-82. Als Kategorien der Ästhetikgeschichte wurden die deutschen Begriffe ›Kolorit‹ und ›Farbe‹ durch Christoph Wagner eingehender diskutiert, vgl. Christoph Wagner, ›Kolorit‹ und ›Farbe‹ als Kategorien der Ästhetikgeschichte, in: Jakob Steinbrenner/Christoph Wagner/Oliver Jehle (Hg.), Farben in Kunst- und Geisteswissenschaften (Regensburger Studien zur Kunstgeschichte, 9), Regensburg 2011, 94-121. Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963, 157, 175; sowie Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München/Wien 1991, 67-78. Eco, Kunst und Schönheit, 67-68.
Farbe und Kennerschaft
Wie intensiv im 17. und 18. Jahrhundert über Farben gestritten wurde, ist vielfach belegt, am prägnantesten sicher am Beispiel der Querelle du coloris, die 1671 durch einen Vortrag des Malers Philippe de Champaigne (1602-1674) in der Académie royale de peinture et de sculpture5 in die Öffentlichkeit getragen wurde und über Jahrzehnte schwelte, bis sich diejenigen Vertreter durchzusetzen vermochten, die der Farbe den Vorzug vor der Form bzw. dem Kontur gaben.6 Im Streit zwischen den Poussinisten und Rubenisten erfuhr der kunsttheoretisch von Giorgio Vasari (1511-1574) forcierte Paragone zwischen disegno und colore eine markante Aktualisierung.7 Die ambivalente Stellung der Farbe innerhalb kennerschaftlicher Debatten lässt sich exemplarisch aufzeigen: Einer der Protagonisten dieses Streits, Roger de Piles (1635-1709), hatte mit dem 1677 erschienenen Text Conversations sur la connoissance de la peinture, et sur le jugement qu’on doit faire des tableaux zugleich auch eine der ersten programmatischen Schriften zur kennerschaftlichen Praxis vorgelegt.8 Mit dem Qualitätsurteil, der Zuschreibung des Werkes an eine Künstlerin oder einen Künstler sowie der Unterscheidung zwischen Original und Kopie formulierte de Piles in dieser frühen Schrift prägnant die drei wichtigsten Aufgaben kennerschaftlichen Arbeitens.9 Hinsichtlich der Farben muten de Piles’ Überlegungen indes nicht widerspruchsfrei an. Obgleich den Farben in diesen drei Domänen jeweils eine entscheidende Rolle zukommt, rät de Piles jungen Kennern in seinem 1699 veröffentlichten Abregé de la vie des peintres, ihren Geschmack (goût) und ihre Einschätzungsgabe vor allem durch den Einsatz von Kupferstichen zu schulen: »rien n’est plus nécessaire que les bonnes Estampes.«10 Einzig im Akt des Vergleichens der künstlerischen Produktion verschiedener Meister mittels ei-
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Conference von Philippe de Champaigne am 12 Juni 1671, in: Les Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture, 1648-1793, hg. von Jacqueline Lichtenstein und Christian Michel, Bd. 1.1, Paris 2007, 406-409; vgl. auch das Volldigitalisat: https://www.perspectivia.net/publikationen/conference [letzter Zugriff: 27.10.2019]. Vgl. Jacqueline Lichtenstein, La Couleur éloquente: rhétorique et peinture à l’âge classique, Paris 1989, 195-231 sowie Bernard Teyssèdre, Roger de Piles et les débats sur le coloris au siècle de Louis XIV (Bibliothèque des Arts, 13), Paris 1957. Vgl. Manlio Brusatin, Histoire des couleurs, Paris 1986, 79-102. Roger de Piles, Conversations sur la connoissance de la peinture, et sur le jugement qu’on doit faire des tableaux. Où par occasion il est parlé de la vie de Rubens, & de quelques-uns de ses plus beaux ouvrages, Paris 1677. De Piles, Conversations sur la connoissance, 3-4, 7. Roger de Piles, Abregé de la vie des peintres, avec des reflexions sur leurs ouvrages, et un Traité du peintre parfait, de la connoissance des desseins, & de l’utilité des estampes, Paris 1699, 82.
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Joris Corin Heyder
ner großen Stichsammlung lasse sich die Urteilsfähigkeit der jungen Connoisseurs verbessern. Dass in einer solchen Praxis, die auf der ›Übersetzung‹ der Malerei in den unbunten Kupferstich basiert, die Einschätzung des Originals mit seinen farbigen Qualitäten in den Hintergrund rückt, wird von de Piles erstaunlich lautlos übergangen.11
2.
Streitpunkte zur Farbe
Für die kennerschaftliche Praxis des vergleichenden Sehens hat dieses Übergehen womöglich programmatischen Charakter, denn tatsächlich deutet das exzessive Sammeln, Ordnen und Beurteilen von Druckgraphik in Alben oder Portefeuilles aller Art darauf hin, dass die Linienführung und Manier der zugrundeliegenden Zeichnung sowie die Hell- und Dunkelwerte die besondere Aufmerksamkeit der Kenner auf sich zogen, wohingegen die Reflexion von farbigen Qualitäten entweder den eher seltenen Möglichkeiten zur Besichtigung von Originalen und/oder Kopien, ihrer Memorierung und anschließenden Reproduktion im Rahmen kunstliterarischer Beschreibungen vorbehalten blieben.12 Dieses Spektrum an Bildaspekten, denen besondere Aufmerksamkeit zukam, gründet auf kunsttheoretischen Prämissen des 16. Jahrhunderts. Zu den besonderen künstlerischen Herausforderungen (difficoltà) wurden in der italienischen Traktatliteratur der Kontur, die Draperie, der chiaroscuro und die Bewegung der Figur gezählt.13 Die Kenner des 17. und 18. Jahrhunderts gaben dieses Spektrum nicht einfach auf. Vielmehr wurde die Farbe nur selten losgelöst von anderen ästhetischen Phänomenen, wie etwa dem chiaroscuro oder dem Kontur diskutiert. Auch das Aufkommen erster aufwendig produzierter Editionen wie etwa Jean Baptiste Séroux dʼAgincourts (1730-1814) Histoire de l’art par des monumens, deren Illustrationen sich an einer Erfassung und Strukturierung mittelalterlicher Kunst versuchten, bilden keine Ausnahme in Bezug auf die Vernach11
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Vgl. hierzu auch die Überlegungen in: Joris Corin Heyder, Does Comparing Equal Judging? Aesthetic Judgment in Early Connoisseurship, in: Stephanie Marchal/Hubert Locher/Beate Söntgen (Hg.), Judgement Practices in the Artistic Field (Praktiken der Kritik), München [im Druck]. Grundlegend zur zentralen Stellung von Bildbeschreibungen für die Rezeption von Kunst, vgl. Oliver Kase, Mit Worten sehen lernen. Bildbeschreibungen im 18. Jahrhundert (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, 81), Petersberg 2010. David Summers, Michelangelo and the language of art, Princeton, N.J., 1981, 179.
Farbe und Kennerschaft
lässigung von farbigen Qualitäten.14 Zwar unternahmen beispielsweise die Herausgeber des Recueil Crozat 15 (Abb. 1) insbesondere bei den Zeichnungen und Bildern der venezianischen Schule den Versuch, die koloristischen Effekte in den Reproduktionen einzufangen, doch konnte auch mit den Chiaroscuro-Holzschnitten keine vollfarbige Wirkung erzielt werden.16 Wie schwer wiegt es also, wenn de Piles an anderer Stelle die Farbe als zentrale Qualität der Malerei charakterisiert? Eine entsprechende Passage findet sich in dem erstmals 1673 veröffentlichten Dialogue sur le coloris,17 der, wie auch die bereits zitierten Conversations sur la connoissance, in Form eines Dialogs der Kontrahenten Pamphilos und Damon angelegt ist. Hierbei vertritt Pamphilos die progressive Seite, Damon hingegen Ansichten, die de Piles zu überwinden trachtete. Für Damon steht außer Frage, dass Linie und Komposition der farblichen Ausführung überlegen sind.18 Pamphilos dagegen betont die Einheit des Bildganzen, die maßgeblich von der Farbe geprägt sei.19 Obgleich Damon umgehend bestätigt, dass die in Bildern dargestellten Gegenstände stets durch Farben vermittelt werden, hebt er in seiner Erwiderung darauf ab, diese Qualität nicht eigentlich der Farbe, sondern dem mit ihr erzeugten Chiaroscuro zuzuschreiben.20 Als Beispiel nennt Damon Polidoro da Cara-
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Vgl. hierzu Ingrid R. Vermeulen, Picturing Art History. The Rise of the Illustrated History of Art in the Eighteenth Century, Amsterdam 2010; Daniela Mondini, Mittelalter im Bild. Séroux d’Agincourt und die Kunsthistoriographie um 1800, Zürich 2005. Pierre-Jean Mariette/Joseph Antoine Crozat/Pierre-François Basan, Recueil d’estampes d’après les plus beaux tableaux et d’après les plus beaux desseins qui sont en France dans le cabinet du Roy, dans celuy de Monseigneur le Duc d’Orléans, et dans d’autres cabinets: divisé suivant les différentes écoles; avec un abbregé de la vie des peintres, et une description historique de chaque tableau, 3 Bde., Paris 1729-1741. Vgl. Benedict Leca, An Art Book and Its Viewers: The ›Recueil Crozat‹ and the Uses of Reproductive Engraving, in: Eighteenth-Century Studies 38 (4/2005), 623-649. Roger de Piles, Dialogue sur le coloris, Paris 1673. »Il est certain, reprit Damon, qu’un Ouvrage n’est jamais parfait quand il y manque quelque chose: mais voudriez-vous que le Coloris fust une partie aussi necessaire à la Peinture que le Dessein?«; de Piles, Dialogue sur le coloris, 10. »En doutez-vous? dit Pamphile, ne sçavez-vous pas que vous detruisez le tout si vous en retranchez une partie, principalement quand elle est aussi essentielle à son tout, comme est celle du Coloris à l’Art de Peinture«; de Piles, Dialogue sur le coloris, 10-11. »Je juge assez, reprit Damon, que vous voulez dire que tous les objets ne tombant sous la veuë que par la Couleur, & n’estant distinguez les uns des autres que par là, ils doivent estre imitez par leur Couleur aussi bien que par leur forme exterieure: j’en tombe d’accord. Mais que me répondrez vous quand je vous feray voir des Tableaux de Polidore de Caravage qui passent pour de tres-beaux Ouvrages de Peinture, quoy qu’ils
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Joris Corin Heyder
Abb. 1: Nicolas le Sueur nach einer Zeichnung von Polidoro da Caravaggio, gestochen durch den Comte de Caylus, La messe, ca. 1729/1764, Radierung und Aquatinta, 262 x 320 mm.
vaggio (um 1492-1543) und rekurriert damit auf einen typischen Vertreter der römisch geprägten Helldunkelmalerei des 16. Jahrhunderts, der – wie ein Beispiel im Recueil Crozat (Abb. 1) zeigt – von Connoisseuren des 18. Jahrhunderts noch immer hochgeschätzt wurde. Pamphilos begegnet Damons Einwand, indem er den Arbeiten Polidoros abspricht, wahrhaftige Malerei zu sein, und begründet seine radikale Sichtweise mit der normativen, aristotelischen Setzung, Malerei habe den Blick zu täuschen und die Natur insbesondere durch die farbliche Wiedergabe zu imitieren (»ars imitatur naturam«).21
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ne soient peints que d’une mesme Couleur de clair-obscur?«; de Piles, Dialogue sur le coloris, 11. »Il est vray, dit Pamphile, que ce sont de tres-beaux Tableaux; mais il est vray aussi que ce ne sont point de veritables Ouvrages de Peinture, & qu’ils sont fort éloignez de tromper la veuë; car vous tombez vous-mesme d’accord que pour imiter la Nature, il
Farbe und Kennerschaft
Eine solche Sichtweise auf die Stellung der Farben in der Wahrnehmung eines Kunstwerks bildete aber durchaus keinen kunsttheoretischen common sense ab, sondern wurde u. a. vom Kunstsammler und Connoisseur ClaudeHenri Watelet (1718-1786) in einem Kapitel zur Harmonie des Lichts und der Farben in der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich anders akzentuiert. Ein harmonisches Helldunkel, so der Autor, lasse sich durch den Betrachter rational und durch Übung beurteilen, wohingegen das Kolorit an die körperlichsubjektiven Wahrnehmungsmöglichkeiten gebunden bleibe.22 Watelets an die Position Damons erinnernde Gegenüberstellung von Helldunkel- und Farbsehen betont, wie individuell verschieden mithin der künstlerische Zugriff auf Farben sein kann und dass sich selbst in den unterschiedlichen Lebensphasen einer Künstlerin oder eines Künstlers ein sich wandelnder Umgang mit Farben feststellen lasse: »La différence avec laquelle plusieurs Artistes colorent un même objet qu’ils imitent ensemble, est une des plus fortes présomptions de ce que j’avance. Cette présomption augmentera de force, si l’on considere les exemples sans nombre des changements de coloris, dans différents temps de la vie d’un seul Artiste.«23 Deutlich werden an den erwähnten Äußerungen von de Piles und Watelet vor allem die unterschiedlichen Aspekte, die in der Thematisierung von Farben angesprochen werden können. Während im Dialog zwischen Pamphilos und Damon Farbe mittels eines sensualistischen Arguments normativ als zentrale Qualität der Malerei ausgewiesen wird, bestreitet Watelet – gerade mit Verweis auf die individuelle Sinneswahrnehmung – die Möglichkeit eines allgemeingültigen Farbensehens. Pamphilosʼ Behauptung, die Wahrnehmung eines Bildes sei allein vermittels Farben überhaupt denkbar, bleibt von Watelets
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faut l’imiter comme elle nous paroist, & qu’elle ne paroist à nos yeux que sous les apparences de la Couleur.«; de Piles, Dialogue sur le coloris, 11-12. Für diesen kunsttheoretisch einschlägigen Grundsatz, vgl. Arne Moritz (Hg.), Ars imitatur naturam. Transformationen eines Paradigmas menschlicher Kreativität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Münster 2009. Claude Henri Watelet, L’art de peindre : poëme; avec des réflexions sur les diffèrentes parties de la peinture, Paris 1760, 109-120, hier 119. Vgl. auch Ulrike Boskamp, Prismatische Augen, gemischte Sensationen. Farbensehen und Farbendruck in Frankreich um 1750, in: Werner Busch (Hg.), Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München 2009, 57-76, hier 61. Watelet, L’art de peindre, 116.
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Überlegungen dabei aber im Kern unberührt. Dessen Darlegung zielt vielmehr auf die Produktions-, statt auf die Rezeptionsebene und gründet in einem empirischen Vergleich von Differenzen zwischen der imitierenden Wiedergabe eines Objekts durch verschiedene Künstler sowie einem temporalen Vergleich der materialen Farbverwendung im Œuvre eines einzigen Künstlers oder einer Künstlerin. Dass sowohl die normative Setzung einer eingeforderten Naturabbildlichkeit wie auch die farbig-materiale Qualität eines Kunstwerks Gegenstand von vergleichenden Betrachtungen sein konnten, steht außer Frage. In kennerschaftliche Praktiken sind diese sehr unterschiedlichen Perspektiven ebenso eingegangen wie etwa Differenzierungsbemühungen des gattungs- und gegenstandsbezogenen Gebrauchs von Farben. Das zumindest legt der Lexikonartikel zum Begriff des »Coloris« von André Félibien (1619-1695) aus dem Jahr 1676 nahe, in dem der Autor darauf verweist, dass vom »Coloris« vor allem im Zusammenhang mit der Historienmalerei gesprochen werde und dass hier besonders die Qualität des Inkarnats gemeint sei.24 In seiner ausführlicheren Darstellung des Gegenstandsbereichs »Farbe« verweist Félibien außerdem auf drei zentrale Kriterien der Bewertung des »Coloris«. Erstens seien dies die gute oder schlechte Manier, in der die Farben aufgetragen werden, zweitens die Überzeugungskraft der Imitation der Wirklichkeit mittels Farben und drittens, der Kenntnisreichtum und die Übung, die darüber entscheiden, ob ein Maler Farben mit gutem oder schlechtem Geschmack gebrauche.25 Diese drei Kategorien weisen darauf hin, wie stark im Diskurs des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts die Bewertung von Farben mit anderen Bereichen wie der Maltechnik, dem Stil, dem antiken Prinzip der Mimesis oder einer grundsätzlicheren ästhetischen Einordnung verflochten sind. Zugleich wird bei Félibien deutlich, dass über Farbe gerade nicht als absoluten Wert nachgedacht wurde, sondern stets in Vergleichsoperationen. Die Farbigkeit eines Bildes, die in einer »manière qui est bonne ou mauvaise«, »plus ou moins pratiquée 24
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»COLORIS. Ce mot se prend generalement pour toutes les couleurs ensemble qui composent un Tableau. Lorsqu’elles sont bien placées & bien entenduës l’on dit d’un ouvrage que le coloris en est beau. Il est vray pourtant que cela s’entend plus particulierement des Tableaux d’histoires. Car on ne dit point d’un païsage que le coloris en est beau, mais qu’il est bien naturel & bien entendu; & mesme le mot de Coloris a plus de rapport aux carnations qu’à tout autre chose.«; André Félibien, Des principes de l’architecture, de la sculpture, de la peinture, et des autres arts qui en dépendent: Avec un Dictionnaire des termes propres à chacun de ces Arts, Paris 1676, 534. Félibien, Des principes, 393-395.
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sur le vray« oder aber mit »bon ou mauvais Goust« ausgeführt werde, ist überhaupt nur durch die Gegenüberstellung zu anderen comparata zu eruieren.26
3.
Vergleichendes Farbenwahrnehmen
Die vielleicht größte Herausforderung in der Erforschung der vormodernen Beschäftigung mit Farben liegt in ihrem Überspannen so unterschiedlicher Bereiche wie der Physik, der Physiologie, der Chemie, der Psychologie, Geschichte und Ästhetik, wie etwa Johann Wolfgang Goethes (1749-1832) phänomenologische Farbentheorie in Auseinandersetzung mit Isaac Newtons (1642/43-1726/27) physikalisch motivierter Entdeckung von Spektralfarben rund einhundert Jahre zuvor demonstriert.27 Newton gelang diese bahnbrechende Entdeckung im Jahr 1672 – also nur ein Jahr vor dem Erscheinen von de Pilesʼ Dialogue sur le coloris und ein Jahr nach Philippe de Champaignes vielbeachteter Conférence in der Académie royale zu einem Bild Tizians (1488/90-1576). Die mit Newton und Goethe anklingende Konkurrenz von naturwissenschaftlichem und phänomenologisch-ästhetischem Blick bzw. einer Unterscheidung zwischen physikalischer und phänomenaler Farbe bildete sich jedoch erst sukzessive heraus.28 Charakteristischer für das 17. und 18. Jahrhundert sind dagegen disziplinäre Mischformen, etwa die Idee, anhand von äs-
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Einer der wirkmächtigsten Kenner des 20. Jahrhunderts, Max J. Friedländer (18671958), hat bereits auf diese Eigenart in der Bewertung von Farben hingewiesen und das Problem dann vielleicht mit guten Gründen nicht weiter vertieft: »Where colours are concerned it is a question not of absolute differentiation but of something more or less.«; Max J. Friedländer, On Art and Connoisseurship, Boston 1942, 49. Johann Wolfgang Goethes Farbenlehre wird gemeinhin als der wichtigste Versuch um 1800 gewürdigt, diese unterschiedlichen Gegenstandsbereiche gesamtheitlich zu beschreiben und ihre Korrelationen herauszuarbeiten, vgl. Martin Dönike/Jutta MüllerTamm/Friedrich Steinle, Die Farben der Klassik. Farbwissen und Farbpraxis um 1800, in: dies. (Hg.), Die Farben der Klassik: Farbwissen und Farbpraxis um 1800 (Schriftenreihe des Zentrums für Klassikforschung, 3), Göttingen 2016, 9-14, hier 10. Vgl. auch Heinrich Zollinger, Farben, gesehen, erkannt und erlebt, in: Mane HeringMitgau (Hg.), Von Farbe und Farben. Albert Knoepfli zum 70. Geburtstag (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, 4), Zürich 1980, 9-12. Die notwendige Unterscheidung zwischen physikalischer Farbe und einem Begriff von phänomenaler Farbe wird auch von Christoph Wagner betont, vgl. Wagner, ›Kolorit‹ und ›Farbe‹, 98.
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thetischen Farbzuordnungen Pflanzen zu klassifizieren,29 oder aber wie der Versuch des Künstlers Jakob Christoph Le Blon (1667-1741), den eigens entwickelten Farbdrucken physikalischen Experimentalwert zuzuweisen. Ulrike Boskamp konnte plausibel zeigen, dass Le Blon durch »Farbstreifen unter dem ›Cardinal de Fleury‹ und dem Verkauf der Andrucke […] die farbtheoretische Auslegung seines Druckverfahrens«30 gezielt zu verbreiten versucht habe. In diesem trichromatisch gedruckten Porträt wurden durch drei über einander gedruckte Platten in Rot, Gelb und Blau eine vollfarbige Wirkung erzielt. Die Technik kann damit als Vorläuferin des heute gebräuchlichen RGBDrucks gelten. Die an den unteren Rand gedruckten Farbstreifen in Rot, Gelb und Blau verweisen explizit auf den Herstellungsprozess. Das von Le Blon wohlüberlegte Vorführen der »sensation mixte«31 , also die Vorstellung, dass das Auge die eingehenden Farbinformationen zunächst in die drei Primärfarben Blau, Gelb und Rot zerlege und sodann wieder zu einer gemischten Farbwahrnehmung zusammenführe, stellt für die Frage des kennerschaftlich vergleichenden Blicks eine erhebliche Herausforderung dar. Mussten die Kenner durch solche Wahrnehmungsexperimente nicht zwangsläufig auf das Farbsehen als blinden Fleck innerhalb der kennerschaftlichen Praxis stoßen, dessen abstrakte Funktionsweise durch das Nebeneinander und das Vergleichen von Andrucken überhaupt erst verständlicher gemacht werden konnte? Oder stellte die Konfrontation dieser unterschiedlichen Wissens- und Erkenntnisbereiche in Wirklichkeit eine praktisch unüberwindliche Hürde dar? Der kennerschaftliche Umgang mit Farben soll im Folgenden am Beispiel des zwischen 1660 und 1661 entstandenen Bildes Reines de Perse (Abb. 2) von Charles Le Brun (1619-1690) beispielhaft analysiert werden.
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»Obgleich es im späten 17. Jahrhundert einen Zeitpunkt gab, da es den Anschein hatte, als könne eben die Farbe den Schlüssel zu den Prinzipien der Pflanzenklassifikation liefern, wurde diese Mutmaßung bald von dem System des Carl von Linné verdrängt, das sich an den Geschlechtsorganen der Pflanzen orientierte.«, vgl. John Gage, Kulturgeschichte der Farbe: von der Antike bis zur Gegenwart, Ravensburg 1994, 170. Boskamp, Prismatische Augen, 71. Der Farbdruck mit dem Porträt des Kardinals von Fleury findet sich u. a. in der Sammlung des Londoner British Museum. Boskamp, Prismatische Augen, 68.
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4.
Vergleichende Blicke auf die Reines de Perse von Charles Le Brun
Le Bruns monumentales Werk Reines de Perse32 gilt als das erste Bild überhaupt, dem eine kunsthistorische Monographie gewidmet wurde. André Félibien verfasste nur zwei Jahre nach der Aufhängung des Bildes im Grand cabinet du Roi des Palais des Tuileries eine stilistisch in der Tradition panegyrischer Schriften stehende Abhandlung, die das für König Ludwig XIV. (1638-1715) gefertigte Gemälde in umfassender Weise würdigte.33 Félibien konzentrierte sich nicht allein auf die Wiedergabe der dargestellten histoire. Diese zeigt Alexander den Großen gemeinsam mit seinem Freund und Feldherrn Hephaistos im Zeltlager des besiegten Perserkönigs Darius, wie er Sisygambis, der Mutter des Darius, verzeiht, dass sie sich fälschlich Hephaistos und nicht ihm zu Füßen geworfen hatte. Vielmehr berührt der Autor außerdem Fragen der künstlerischen Ausführung, der Komposition, der gezielten Verwendung von Farben sowie psychologische Aspekte, die er in gestischen und physiognomischen Beobachtungen erkannte.34 Von Beginn an wurde neben der Entstehungsgeschichte des Werks35 und der darin enthaltenen Allusion auf den vermutlich unmittelbar vor der Fertigstellung des Bildes gekrönten Ludwig XIV. auch ein Interesse an der Bildwirkung gerade im Vergleich zu anderen Werken formuliert. Ein besonderer
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Versailles, Musée national du château, Inv. Nr. MV.6165, 298 x 453 cm. Unter den jüngsten Beiträgen zu diesem Hauptwerk der französischen Kunst seien – auch mit Blick auf die weiterführenden Literaturhinweise – vor allem Thomas Kirchners Monographie sowie die unmittelbar nacheinander publizierten Aufsätze von Michael Rohlmann und Marianne Cojannot-Le Blanc erwähnt: Thomas Kirchner, Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre de Charles Le Brun. Tableau-Manifeste de l’art français du XVIIe siècle, Paris 2013; Marianne Cojannot-Le Blanc, ›Il avoit fort dans le cœur son Alexandre…‹. L’imaginaire du jeune Louis XIV d’après La Mesnardière et la peinture des Reines de Perse par Le Brun, in: Dix-septieme siecle 251 (2/2011), 371-395; Michael Rohlmann, Die Kunst zu Füßen des wahren Alexander: Charles Le Bruns ›Reines de Perse‹, in: Wallraf-RichartzJahrbuch 71 (2010), 233-263. André Félibien, Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre, peinture du Cabinet du Roy, Paris 1663. Das vollständig digitalisierte Werk findet sich hier: https://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k8598931 [letzter Zugriff: 08.10.2019]. Vgl. Kirchner, Les Reines de Perse, 55. Kirchner, Les Reines de Perse, 85.
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Abb. 2: Charles Le Brun, Reines de Perse, 1660-1661, Öl auf Leinwand, 298 x 453 cm. Versailles, Musée national du château, Inv. Nr. MV.6165.
Umstand, nämlich die von 1669 bis 167336 und dann wieder spätestens ab Dezember 168237 nachweisbare Präsentation der Reines de Perse in unmittelbarer Nachbarschaft zu Paolo Veroneses (1528-1588) Emmausmahl38 (Abb. 3) dürfte zum wiederholten Vergleich der beiden Werke herausgefordert haben, die sich im Grand cabinet zunächst gegenüberhingen, wie Félibiens Beschreibung von 1679 zu entnehmen ist: »Nous entrâmes dans le Grand Cabinet, où sur la cheminée était le tableau de la famille de Darius aux pieds d’Alexandre, peint par M. Le Brun, et à l’opposite celui où Paul Véronèse a représenté Notre Seigneur avec les deux pèlerins en Emmaüs. Nous les considérâmes quelque temps, et Pymandre
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Jean-Pierre Habert/Nicolas Milovanovic, Charles Le Brun contre Véronèse. La ›Famille de Darius‹ et Les ›Pèlerins d’Emmaüs‹ au Château de Versailles, in: Revue du Louvre : La revue des musées de France 54 (5/2004), 63-72, hier 67. Habert/Milovanovic, Charles Le Brun contre Véronèse, 69. Paolo Veronese, Emmausmahl, Versailles, Collection de Louis XIII, Inv. nr. 146, 1559-1560, 242 x 415 cm, vgl. Habert/Milovanovic, Charles Le Brun contre Véronèse, 72, Anm. 1.
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Abb. 3: Paolo Veronese, Emmausmahl, 1559-1560, Öl auf Leinwand, 242 x 415 cm. Paris, Musée du Louvre, Collection de Louis XIII, Inv. nr. 146.
après avoir regardé avec plaisir celui de M. Le Brun dont il avait lu la description qu’on a imprimée, se tourna vers celui de Paul Véronèse, et admirant cette vérité et cette art incomparable qu’on y voit. Ce n’est pas sans raison, me dit-il, que ces ouvrages ont acquis de la réputation.«39 Dass diese »unvergleichliche« Kunst bezüglich ihrer Komposition, ihrer Qualität, aber eben auch ihrer farblichen Gestaltung durchaus ein breites Vergleichsangebot bereitstellte, steht außer Frage.40 Nicht unwichtig – auch für die Wahrnehmung des Kolorits – ist dabei zunächst das Format: Die beiden 39
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André Félibien, Entretiens sur les vies et les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes, Paris 1679, Bd. 3, 192-193 [Kursivierung durch den Verfasser]; das Volldigitalisat findet sich hier: https://archive.org/details/gri_entretienssu03feli [letzter Zugriff: 07.10.2019]. Vgl. auch: Nicolas Milovanovic, Le Roi et son peintre: La Famille de Darius de Charles Le Brun, in: Versalia. Revue de la Société des amis de Versailles 8 (1/2005), 166-178, hier 169. Jean-Pierre Habert und Nicolas Milovanovic haben dieser von höchster Seite befohlenen, nachträglichen Pendantbildung eine eigene Studie gewidmet; Habert/Milovanovic, Charles Le Brun contre Véronèse, 63-72.
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Bilder sind in der Wirkung etwa größengleich. Anhand eines 1671 nach der Vorlage von Le Bruns Reines de Perse gefertigten Stiches von Gérard Edelinck41 lässt sich nachweisen, dass die Leinwand der Reines de Perse ursprünglich erheblich größer gewesen sein muss. Tatsächlich resultiert das sehr ähnliche Format aus dem maximal möglichen Beschnitt der Ränder von Le Bruns Bild und dem nachträglichen Anstücken von Veroneses Emmausmahl. Dies geschah auf den expliziten Wunsch von Ludwig XIV., der sie im Salon de Mars in Versailles ab spätestens 1682 einzig getrennt durch einen Kamin nebeneinander präsentieren ließ.42 Im Gegensatz zu dem auf Ausgleich bedachten Félibien nimmt Charles Perraults fingiertes Streitgespräch zwischen »le président« und »l’abbé« in dem berühmten Parallèle des anciens et des modernes von 168843 die Gegenüberstellung der beiden Bilder von Le Brun und Veronese im Versailler Antichambre des Grand appartement du Roy zum Ausgangspunkt, um ein Plädoyer für die Überlegenheit der französischen modernen Maler über die ältere italienische Malerei zu formulieren.44 Im Dialog schließt sich »le président« der Meinung eines namentlich nicht genannten italienischen Geistlichen an, demzufolge Le Bruns Reines de Perse in der Nachbarschaft von Veroneses Emmausmahl immer verblassen werde,45 lässt aber offen, wie er zu diesem Schluss gelangt. In seiner Erwiderung führt der »abbé« zentrale
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Gérard Edelinck nach Charles Le Brun, La familles de Darius aux pieds d’Alexandre, 743 x 968 mm, 1671. Die Mischtechnik aus Radierung und Kupferstich ist in sechs Zuständen bekannt; besonders die ersten beiden Varianten kommen aber offenbar ausgesprochen selten vor, vgl. Alexandre-Pierre-François Robert-Dumesnil, Le peintre-graveur français ou catalogue raisonné des estampes gravées par les peintres et les dessinateurs de l’école française, Bd. 7, Paris 1844, Kat.-Nr. 42, 200-202. Vgl. auch die wesentlich handlichere Kopie des Stiches von Simon Gribelin von 1693 mit einer Größe von 280 x 364 mm. Habert/Milovanovic, Charles Le Brun contre Véronèse, 69. Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes; en ce qui regarde les arts et les sciences. Dialogues. Avec le Poëme du Siecle de Louis le Grand: Et une Epistre eu [sic!] Vers sur le Genie, Paris 1688, 220-232. Vgl. auch Thomas Kirchner, L’histoire d’Alexandre par Charles Le Brun: entre art et panégyrique, in: Bénédicte Gady/Nicolas Milovanovic (Hg.),Charles Le Brun (1619-1690) (Ausst.-Kat. Lens, Musée du Louvre-Lens), Paris 2016, 26-33, bes. 29. »On ne sçauroit mieux parler sur ces deux tableaux qu’a fait un Prelat d’Italie. Le tableau de Monsieur Le Brun, dit-il, est tres-beau et tres-excellent, mais il a le malheur d’avoir un méchant voisin, voulant faire entendre que quelques beau qu’il fust, il ne l’estoit gueres dés qu’on venoit à le comparer avec celuy de Paul Veronese«, vgl. Perrault, Parallèle des anciens et des modernes, 221.
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Beobachtungen aus Félibiens Monographie an, die schließlich auf die normativ verstandene Trias »l’unité d’action«, »l’unité de lieu« sowie »l’unité de temps« sowie die »vraysemblance«, die »bien-seance« und den »bon sens« der Komposition zulaufen.46 Wenngleich an dieser Stelle ein Vergleich der farbigen Qualität und Präsenz der besprochenen Bilder überraschenderweise keine Rolle spielt, wird der ambivalente Stellenwert der Farbe bei Perrault durch eine spätere Gegenüberstellung von Bildern Raffaels und Le Bruns verdeutlicht: Der Autor kritisiert hier den Farbgebrauch Raffaels als »trop vif«, »trop fort« und lobt im Gegensatz dazu die Abschwächung der »extremitez des couleurs« bei Le Brun.47 Doch ausgerechnet die Farbigkeit wird in der frühen kennerschaftlichen Literatur von Roger de Piles, Jean-Baptiste Dubos (1670-1742) und anderen immer wieder im Zentrum dieses spezifischen Bildvergleichs stehen. Die Fixierung und wiederholte Aufmerksamkeit für dieses Bilderpaar hat sicher verschiedene Ursachen: Ein Grund für die anhaltende Beliebtheit des Bildvergleichs dürfte das ungewöhnliche Mitwirken Ludwigs XIV. an der Pendantbildung selbst gewesen sein, ein anderer, dass hier geradezu idealtypisch Meisterwerke nebeneinander gestellt wurden, die nicht nur einen nationalen Stil, sondern auch eine bestimmte Zeitschicht versinnbildlichen. In spöttischer Weise machte Dubos allerdings auch darauf aufmerksam, wie elementar das bedeutungsvolle Nebeneinander von der Vorbildung des Publikums abhängig ist. Die Charakteristika der Bilder würden sich, so Dubos, den Laien nicht von allein erschließen.48 Geht man aber zunächst von einem idealtypischen, kunstinformierten Publikum aus, so wird man nicht nur die Kenntnis von Félibiens Text Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre von 1663, sondern auch die Vertrautheit mit den theoretischen Positionen und den Vorträgen des Malers Le Brun in der Académie royale annehmen dürfen, die die Rezeption der Bilder erheblich zugerichtet haben. Das sieht man an einer Reihe von Motiven, die immer wieder in den Beiträgen aufgegriffen werden, etwa an der bereits erwähnten »l’vnité de l’action«49 oder aber der Vorstellung von Ludwig XIV. 46 47 48
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Perrault, Parallèle des anciens et des modernes, 222-223, 225-226. Perrault, Parallèle des anciens et des modernes, 235. »Bien des courtisans ont vécu trente ans à Versailles, passant régulierement cinq ou six fois par jour dans le grand appartement, à qui l’on feroit encore accroire que les pelerins d’Emaüs sont de Le Brun, et que les reines de Perse, aux pieds d’Alexandre, sont de Paul Veronese«, vgl. Jean-Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, 2 Bde., Paris 1719, Bd. 2, 379. Vgl. Félibien, Les Reines de Perse, 22.
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als neuem Alexander.50 Andere Beobachtungen Félibiens, beispielsweise die »belle vnion de couleurs«51 sowie sein Vergleich zur Akkordharmonie in der Musik, demzufolge Le Brun ein stimmiges Farbkonzert gelungen sei,52 wurden dagegen kaum rezipiert. Le Brun, der in der Querelle du coloris bekanntermaßen auf der Seite der Poussinisten stand, verteidigte 1672 in einem Vortrag vor der Académie royale das Primat der Zeichnung vor der Farbe. In der letztgenannten erkannte er eine lediglich akzidentielle, materialgebundene Eigenschaft von Kunstwerken, die ohne die Zeichnung keinen Bestand habe. Ihre Aufgabe bestünde darin, dem Werk zur Perfektion zu verhelfen.53 Dieses deutliche Urteil Le Bruns zugunsten der Zeichnung wurde auch von Henri Testelin (1616-1695) geteilt, der mit seinen Sentimens des plus habiles peintres du tems, sur la pratique de la peinture et sculpture von 168054 eine Art Summe der akademischen Doktrin vorgelegt und bereits zuvor in einer Conférence des Jahres 1676 in eine ähnliche Richtung argumentiert hatte:55 Nicht nur charakterisierte er die Zeichnung als das dominante Element eines Bildes, sondern wies ihr allein die Rolle zu, intellektuell gefallen zu können.56
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»Et ce fidéle Peintre marquera avec des traits si forts & si hardis vostre Image [gemeint ist hier das Kryptoporträt Ludwigs XIV. in der Figur Alexanders], qu’on n’aura pas peine à la connoistre«; vgl. Félibien, Les Reines de Perse, 34. Vgl. Félibien, Les Reines de Perse, 23. »Or le Peintre a si bien connu le rapport qu’il y a des couleurs les vnes aux autres, l’ordre qu’elles gardent naturellement entre elles, leur force & leur & foiblesse; la diminution de leures teintes & demy teintes, qu’il en fait vn concert merveilleux«; vgl. Félibien, Les Reines de Perse, 26. Zum prominenten Gebrauch musikalischer Metaphern zur Beschreibung ästhetischer Phänomene, vgl. Elvira Bojilova, »In dem Gesang der Linie offenbart sich die Wahrheit der Form«. Die Faktur der Graphik als Metapher, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 64 (2/2019), 209-234. Les Conférences, hg. von Lichtenstein und Michel, Bd. 1.1, 449-456. Henri Testelin, Sentimens des plus habiles peintres du tems, sur la pratique de la peinture et sculpture: recueillis & mis en tables de preceptes, avec six discours academiques, extraits des conferences tenuës en l’Academie Royale desdits arts … par Henry Testelin, peintre du roi, professeur & secretaire en ladite Academie, Den Haag 1680. »[…] le dessein, en sorte que ce père des arts en puisse être le maître et le conducteur, comme en effet il doit dominer sur toutes les parties de cette profession«, vgl. Les Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture, 1648-1793, hg. von Jacqueline Lichtenstein und Christian Michel, Bd. 1.2, Paris 2007, 741. »si elle [la couleur] avait l’avantage de plaire aux yeux, le dessein a celui de satisfaire à l’esprit«, vgl. Les Conférences, hg. von Lichtenstein und Michel, Bd. 1.2, 741.
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Es verwundert unter diesen Vorbedingungen nicht, dass die Koloristen die Arbeiten Le Bruns gerade mit Blick auf ihre farbige Wirkung kritisierten. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts warf man vor allem den Reines de Perse vor, Schwächen hinsichtlich des Kolorits aufzuweisen.57 Die Schärfe der Kritik wird deutlich, wenn man sich etwa de Piles’ Urteil vor Augen führt: »Ses Couleurs locales sont mauvaises, & il n’a point fait assez d’attention à donner par cette partie le véritable caractére à chaque objet.«58 Als Beweis stellte de Piles »un des meilleurs Tableaux de le Brun […] quelque autre des meilleurs de lʼEcole Vénitiénne«59 diskursiv gegenüber. Das Bemerkenswerte an dieser Vergleichsoperation ist, dass sie weder in Form von Illustrationen noch durch die Benennung konkreter Bilder vollzogen wird, sondern indem die venezianische Malerei im Allgemeinen als eine Art Chiffre für koloristische Höchstleistungen einsteht. Vor dieser eher vagen Folie, die de Piles auch für andere Vergleiche des Lokalkolorits empfiehlt, kommt er zur Einschätzung, Le Brun habe etwa durch den wenig sorgfältigen Gebrauch des grundierenden Brauns zahlreiche Werke mit wenig Effekt geschaffen.60 Es ist auffällig, dass de Piles dem Hofmaler Ludwigs XIV. gerade bezogen auf dessen frühen Werke außerdem die »intelligence du Clair-obscur«61 abspricht und damit fast wörtlich die von Le Brun behauptete Dichotomie zwischen demjenigen, was den Augen und was dem Geist gefalle, gegen ihn wendet. An seiner Sympathie für die Malerei Paolo Veroneses lässt de Piles keine Zweifel aufkommen: »[…] Paul Veronese pour lʼharmonie dans la varieté des couleurs, est une source dʼexemples inepuisable.«62 Dass de Piles seine Argumentationsstrategie ganz wesentlich über Vergleiche organisierte, zeigt auch sein Einfall, die seines Erachtens nach wichtigsten Maler in einer Tabelle aufzuführen und anhand der vier Kriterien Komposition, Zeichnung, Ausdruck und Kolorit jeweils nummerisch auf einer Skala zwischen Null und Zwanzig zu bewerten. Der ungewöhnliche Ansatz der sogenannten »Balance de peintres«, eines der frühsten 57 58 59 60
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Habert/Milovanovic, Charles Le Brun contre Véronèse, 70. De Piles, Abregé de la vie des peintres, 519. De Piles, Abregé de la vie des peintres, 519-520. »Cette comparaison est éxcellente, non seulement, en cette occasion, mais en toute autre où il s’agira de jugér de la bonté des Couleurs locales. Cette pratique où étoit le Brun, jointe au peu de soin qu’il a eu d’employer les bruns sur le devant de ses Tableaux, & l’opinion où il étoit que les grans Clairs ne pouvoient être placez sur le derriére luy ont fait faire beaucoup d’Ouvrages de peu d’éffet.«, vgl. de Piles, Abregé de la vie des peintres, 520. De Piles, Abregé de la vie des peintres, 520. Roger de Piles, Cours de peinture par principes, Paris 1708, 194.
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westeuropäischen Ratings überhaupt, wurde schon wenige Jahre nach ihrer Veröffentlichung immer wieder kontrovers diskutiert, gerade aber von Kennern wie Jonathan Richardson (1665-1745) auch an prominenter Stelle übernommen und sogar erweitert.63 Eine der interessantesten Reaktionen auf de Pilesʼ Rating hat zweifelsohne Jean-Baptiste Dubos in seinen 1719 erschienenen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture beigesteuert.64 Auch der Abbé Dubos greift den Vergleich zwischen Veronese und Le Brun auf, hier allerdings erst, nachdem er bereits das numerische Gleichaufliegen der Maler Nicolas Poussin und Paolo Veronese scharf kritisiert hatte.65 Mit dem Vorwurf, de Piles habe nicht zwischen der »composition pitturesque« und der »composition poëtique« unterschieden, zielte Dubosʼ Kritik insbesondere auf das Verschleifen von feinteiligen Differenzierungen. Nur durch diese mangelnde Sorgfalt sei es überhaupt möglich gewesen, so Dubos, dass Paolo Veroneses Kompositionen mit 15 Punkten nicht nur auf dieselbe Stufe mit Nicolas Poussin (15 Punkte), sondern auch mit Charles Le Brun (16 Punkte) gehoben worden seien. Dabei gesteht er Veronese zwar zu, ein Meister in der pittoresken Komposition zu sein, also einer stimmigen und harmonischen Gruppierung aller Figuren, jedoch schwach darin, eine poetische Komposition zu erschaffen, in der die Figuren nach ihrer Bedeutung für die histoire positioniert seien und die Betrachter des Bildes emotional ergreifen müssten. In der Festlegung seiner Hinsicht, also des tertium comparationis, betont Dubos, allein die »comparaison poëtique« interessiere ihn in der Gegenüberstellung der »deux excellens tableaux, placez vis-à-vis l’un de l’autre, les pellerins d’Emmaüs par Paul Veronése et les reines de Perse aux pieds d’Alexandre par Le Brun«.66 Daraufhin kommt er zum zentralen Argument, das auf komplexe Weise verschiedene, durch Vergleichsoperationen erzielte Urteile miteinander verknüpft:
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Vgl. Jonathan Richardson, Two Discourses: I. An Essay on the Whole Art of Criticism as It Relates to Painting. Shewing How to Judge I. Of the Goodness of a Picture; II. Of the Hand of the Master; and III. Whether ‘tis an Original, or a Copy. II. An Argument in Behalf of the Science of a Connoisseur; Wherein Is Shewn the Dignity, Certainty, Pleasure, and Advantage of It. Both by Mr. Richardson, London 1719, 70. Dubos, Réflexions critiques, passim. »[…] il tombe dans des propositions insoutenables, comme est celle de placer au même degré de sa balance Paul Veronése et le Poussin en qualité de compositeurs […] Paul Veronése n’est nullement comparable dans la poësie de la peinture au Poussin«, Dubos, Réflexions critiques, Bd. 1, 258. Dubos, Réflexions critiques, Bd. 1, 259.
Farbe und Kennerschaft
»Un peu d’attention sur ces tableaux fera juger que si Paul Veronése est un si méchant voisin pour Le Brun quant au coloris, le françois est encore un plus méchant voisin pour l’italien, quant à la poësie pittoresque et à l’expression.«67 Dubosʼ Verweis auf die gefährliche Nachbarschaft der beiden Bilder ist fraglos ein Rückgriff auf Perraults Parallèle von 1688,68 allerdings mit der Präzisierung, dass Veroneses Emmausmahl den Reines de Perse hinsichtlich ihrer farblichen Gestaltung und vice versa die Reines de Perse dem Emmausmahl hinsichtlich ihrer »poësie pittoresque« überlegen seien. Von einer koloristischen Überlegenheit stand bei Perrault hingegen kein Wort. Hier rekurriert Dubos wahrscheinlich auf de Pilesʼ Urteil, demzufolge Veronese in der Kategorie »coloris« sehr gute sechzehn, Le Brun dagegen nur acht Punkte erreichte. Inhaltlich entfaltet dieser Vergleich zwischen hochwertigerem Kolorit und vermeintlich gelungenerer »poetischer« Komposition nur deshalb seine Wirkung, da Dubos ganz wie Le Brun der Zeichnung und damit implizit der Bildidee den höchsten Wert zumisst. Die Ebene des Vergleichs wechselt folglich in ein anderes Register: Es werden hier nicht mehr die Farbigkeiten zwischen den Bildern verglichen, sondern die besonderen Qualitäten der Bilder, die wiederum einem impliziten Stufensystem aus wichtigen und weniger wichtigen bildkonstituierenden Elementen folgen. Es handelt sich folglich um ein Vergleichen zweiter Ordnung, das auf der Relationierung zweier vorgängiger Vergleiche beruht. Keinerlei Beachtung findet bei Dubos der Umstand, dass Le Brun in de Pilesʼ »Balance de Peintres« eine der besten Gesamtbewertungen überhaupt erhielt. Der Verdacht stellt sich ein, gerade in den zunehmenden Vergleichsoperationen nicht nur durch das Nebeneinander der Kunstwerke selbst, sondern vor allem auch durch die sich immer weiter überlagernden und aufeinander verweisenden Textbeiträge einen Grund dafür zu sehen, dass Félibiens präzisen, noch ganz auf die genaue Beschreibung konzentrierten Bemerkungen zur Farbigkeit der Reines de Perse nahezu in Vergessenheit gerieten.
67 68
Dubos, Réflexions critiques, Bd. 1, 259. Der Autor verweist wenig später explizit auf dessen Werk. Für das Zitat, vgl. Anm. 45.
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5.
Ausblick
Die komplexen Verflechtungen zwischen der kennerschaftlichen Tätigkeit einerseits und der ambivalenten Stellung der Farbe als materialer aber eben auch qualitativer Eigenschaft von Bildern innerhalb dieser Tätigkeit andererseits lassen sich hier lediglich anreißen. Die besondere Herausforderung besteht darin, dass sich die Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstands Farbe bezogen auf kennerschaftliche Fragestellungen immer nur punktuell, nicht aber systematisch erfassen lässt. Es zeigt sich aber auch, dass der vergleichende Blick als zentrale Operation identifiziert werden kann, mittels derer die unterschiedlichen oben aufgezeigten Aspekte von Farben am intensivsten reflektiert wird. Jedoch bedarf es stetiger Blickwechsel, um das Spektrum an Farbreflektionen vielansichtig zu machen. Nicht nur unter Kennern blieb der Blick auf die Farben lange Zeit weitestgehend einansichtig, wie eine Bemerkung in Immanuel Kants (1724-1804) Kritik der Urteilskraft von 1790 belegt.69 Hier ruft der Autor einmal mehr das Primat der Zeichnung über die Farbe70 aus und will einzig in der ersten die »Anlage für den Geschmack« erkennen, wohingegen er die Farbe als ein dem Sinnenurteil zugehörigen Reiz deklassiert, der selber nicht einmal »anschauungswürdig und schön« sei. Man möchte noch heute erwidern: de coloribus disputandum.
69
70
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt a. M. 2001, Bd. 2, 479-880, bes. 550 (§14). Auch ein theoretisch versierter Künstler wie Johann Heinrich Füssli vertrat eine ähnliche Sichtweise: »Languages perish; words succeed each other, become obsolete and die; even colours, the dressers and ornaments of bodies, fade; Lines alone can neither be obliterated nor misconstrued […].« vgl. Gisela Bungarten, J. H. Füsslis (1741-1825) »Lectures on painting«. Das Modell der Antike und die moderne Nachahmung, 2 Bde., Berlin 2005, Bd. 1, 204. Dass Kant hier keine Außenseiterposition bezog, wird in exemplarischen Äußerungen um 1800 deutlich, die dem disegno den Vorzug vor der Farbe geben, vgl. Johannes Grave, Medien der Reflexion. Die graphischen Künste im Zeitalter von Klassizismus und Romantik, in: Andreas Beyer (Hg.), Klassik und Romantik (Geschichte der Bildenden Kunst in Deutschland, 6), München 2006, 439-455.
Farbe und Kennerschaft
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Farbe und Kennerschaft
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Mariette, Pierre-Jean/Crozat, Joseph Antoine/Basan, PierreFrançois, Recueil d’estampes d’après les plus beaux tableaux et d’après les plus beaux desseins qui sont en France dans le cabinet du Roy, dans celuy de Monseigneur le Duc d’Orléans, et dans d’autres cabinets: divisé suivant les différentes écoles; avec un abbregé de la vie des peintres, et une description historique de chaque tableau, 3 Bde., Paris 1729-1741, Nr. 71. Abb. 2: Wikimedia commons. Abb. 3: Wikimedia commons.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs Hans C. Hönes
Abstract: Der Beitrag analysiert europäische Reaktionen auf Produkte der ›Weltkunst‹ um 1800. Der Essay argumentiert, dass die vorherrschende Reaktion auf diese fremden Artefakte nicht so sehr ein Gefühl der ›Fremdheit‹ (und ästhetischen Relativität) war, sondern dass Künstler und Antiquare versuchten herauszuheben, was die globalen Kunsttraditionen verband – was ihnen ähnlich ist.
1.
Die Suche nach Gemeinsamkeit
Im Zuge der expandierenden ethnographischen Forschung im Jahrhundert der Aufklärung ist auch in der Kunstliteratur des 18. Jahrhunderts ein deutlich zunehmendes Interesse an außereuropäischen Artefakten zu vermerken.1 Kunsttheoretisch wurde diese Begegnung mit fremden und teils erheblich von europäischen Konventionen abweichenden Artefakten zentral, stellten sie doch eine beträchtliche Herausforderung für westliche Schönheitslehren dar. Es ist daher eine vielfach geäußerte und auch gut begründete Forschungsmeinung, dass die Begegnung mit der Kunstproduktion verschiedener außereuropäischer Völker zu einem zunehmendem Bewusstsein für die Relativität ästhetischer Kategorien führte und Zweifel an der Existenz eines künstlerischen Ideals generell laut werden ließ.2 Bereits 1683 hatte etwa der Kupferstecher und Kunsttheoretiker Gerard Audran, im Rahmen der Querelle des Anciens 1
2
Siehe etwa Maria Effinger/Cornelia Logemann/Ulrich Pfisterer (Hg.), Götterbilder und Götzendiener in der Frühen Neuzeit. Europas Blick auf fremde Religionen (Schriften der Universitätsbibliothek Heidelberg, 12), Heidelberg 2012. Vgl. Ulrich Pfisterer, Die Entdeckung der Welt-Kunst in der Frühen Neuzeit: Bildphantasien und Bilderproduktion der Vier Erdteile, in: Andreas Höfele/Jan-Dirk Müller/Wulf
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et des Modernes, argumentiert, dass die Antike keine absolute Norm sein könne, da ihre künstlerischen Leistungen unter besonders glücklichen klimatischen, geographischen, und kulturellen Bedingungen geschaffen worden seien.3 Die damals gefundenen Formen seien also kulturell bedingt und nicht notwendig auch im modernen Frankreich als beste Lösung künstlerischer Probleme anzusehen. Dies war kein gänzlich neuer Gedanke. Noch klarer formuliert findet er sich etwa bei dem deutschen Juristen Christoph Besold, der in seinem Traktat Natur der Völker von 1619 schreibt: »Zudem ist die Natur der Völker so sehr verschieden und abweichend, dass sie nicht nach der Wohlgefälligkeit oder der Schönheit des Körpers zu urteilen gleichförmig erkannt werden können«.4 Im 18. Jahrhundert finden sich dann viel weniger exotische Fundstellen für solche Zitate. Die berühmteste und unzählige Male zitierte Passage findet sich in David Humes Essay on the Standard of Taste, der mit der Feststellung beginnt, dass »die große Vielfalt der Geschmäcker und Meinungen, die man in der Welt finden kann, viel zu offensichtlich ist, als dass nicht jedermann diesen Umstand bemerkt haben sollte«.5 Ja sogar unter Menschen von gleichem Stand und Bildung unterscheiden sich die Vorlieben oft beträchtlich. Erst recht, wenn man »ferne Nationen und vergangene Epochen betrachtet, wird man noch mehr überrascht ob der großen Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit« in den allgemein herrschenden Geschmäckern. Man solle sich
3
4
5
Oesterreicher (Hg.), Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche (Pluralisierung & Autorität, 40), Berlin 2013, 163-199, hier 179-80. Gerard Audran, Les Proportions du Corps Humain, Paris 1690, Preface, unpag. (»Nos plus grands Maistres […] souvent ne conviennent pas entre eux; ils se forment differentes idées de beauté, lesquelles ils reglent presque toujours suivant leur païs & leur temperament«). Christoph Besold, De natura populorum, Tübingen 1619, 5 (»Ac adeo etiam varia et discrepans est natura populorum, ut nec de gratia seu pulchritudine corporis, pariliter iudicare deprehendantur.«). »The great variety of Taste, as well as of opinion, which prevails in the world, is too obvious not to have fallen under every one’s observation. Men of the most confined knowledge are able to remark a difference of taste in the narrow circle of their acquaintance, even where the persons have been educated under the same government, and have early been imbibed the same prejudices. But those who can enlarge their view to contemplate distant nations and remote ages, are still more surprised at the great inconsistence and contrariety. We are apt to call barbarous whatever departs widely from our own taste and apprehension; but soon find the epithet of reproach retorted on us«; David Hume, Of the Standard of Taste, in: ders., Selected Essays, hg. von Stephen Copley und Andrew Edgar, Oxford 1996, 133-154, hier 133-134.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
daher hüten, die Kunst eines fremden Volkes als »barbarisch« zu bezeichnen: Umgekehrt könnte einen schnell das gleiche Urteil treffen. Entgegen der weit verbreiteten und von klassizistischen Granden wie Sir Joshua Reynolds verteidigten Auffassung, dass Schönheit gleichsam »natürlich« sei, argumentierte Hume also dafür, dass ästhetische Qualitäten nicht den Objekten und ihren Formen inhärent, sondern von vielfältigen kulturellen Prägungen abhängig seien.6 Paradoxerweise waren es gerade erzklassizistische Autoren wie Johann Joachim Winckelmann, die einer derartigen kulturrelativistischen Perspektive auf die Kunstproduktion weltweit Vorschub leisteten. Wie bereits Audran identifizierte Winckelmann bekanntlich die klimatischen Bedingungen Griechenlands als Ursache der künstlerischen Sonderstellung dieses Landes. Diese Klimatheorie erlaubte es Winckelmann vor allem, für eine autochthone Kulturgenese in den verschiedenen Ländern zu argumentieren: »den ersten Saamen zum Nothwendigen hat ein jedes Volk bey sich gefunden«.7 Vor allem Griechenland konnte so zur autonomen Wiege der Kunst erklärt werden, die völlig unabhängig von inferioren Produkten wie den »abentheuerlichen Figuren der Aegypter« waren.8 Es ging hier also darum, im wahrsten Sinne des Wortes die Unvergleichlichkeit griechischer Kunst zu zementieren. Damit war einerseits eine programmatische ästhetische Wertung verbunden: Die griechische Kunst ist tendenziell »wie das vollkommene Wasser aus dem Schooße der Quelle«, rein und ohne »fremde Züge [, die sich] in die Schönheit mischen«.9 Umgekehrt argumentierte Winckelmann, ähnlich wie Hume, für einen klimatisch begründeten Relativismus: Wer sich etwa für längere Perioden in afrikanischen Ländern aufhalte, werde zwangsläufig schwarze Haut zu schätzen lernen.
6
7
8 9
Reynolds dagegen schrieb: »We may therefore conclude, that the real substance, as it may be called, of what goes under the name of taste, is fixed and established in the nature of things; that there are certain and regular causes by which the imagination and passions of men are affected; and that the knowledge of these causes is acquired by a laborious and diligent investigation of nature […]«; Joshua Reynolds, Discourses on the Fine Arts, London/Edinburgh 1853, 30. Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1776, 4. Siehe auch ebd., 128: »Der Einfluß des Himmels muß den Saamen beleben, aus welchem die Kunst soll getrieben werden, und zu diesem Saamen war Griechenland der auserwählte Boden.« Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, 25. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, 150.
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Für zahlreiche Autoren, die sich in der Nachfolge Winckelmanns dieser klimatheoretischen Modelle bedienten, war damit impliziert, dass ein jedes Land seine eigenen ästhetischen Normen setzen muss. So argumentierte etwa der vor allem für seine Publikationen über chinesische Architektur bekannte britische Architekt William Chambers: »Von der künstlerischen Praxis in verschiedenen Zeiten und Ländern können wir zurecht schlussfolgern, dass es nichts Absolutes in den Formen irgendeiner Erscheinung oder irgendeines Dinges gibt«.10 So wichtig und einflussreich dieser relativistische und polygenetische Diskurs, gerade in Hinblick auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auch war, in der Kunsttheorie zwischen 1750 und 1850 waren seine Vertreter keineswegs in der Mehrheit. Im Gegenteil: Wenn es um die Frage des historischen Zusammenhanges der antiken Zivilisationen ging, war die Leitdisziplin während der gesamten Frühen Neuzeit die Chronologie, also jenes Fach, das explizit eine Konkordanz der historischen Überlieferung der Weltkulturen unter dem Mantel der Heilsgeschichte anstrebte.11 Auch der wissenschaftliche Kenntnisstand in Disziplinen wie Geologie und Biologie deutete vielmehr auf eine monogenetische Kulturgenese, etwa ausgehend von einer globalen Sintflut hin.12 Nur wenige Stimmen bewerteten die Unterschiede innerhalb der weltweiten Kunstproduktion als so offensichtlich und fundamental wie etwa Winckelmann oder Hume. Wenn mit Werken aus verschiedenen künstlerischen Traditionen konfrontiert, sahen die meisten Betrachter vor allem das, was ihnen ähnlich schien. In einer durchaus klassizistischen Absicht ging es dabei zentral darum – so möchte ich im Folgenden argumentieren –, eine gemeinsame, normative Basis für die gesamte Weltkunst zu finden. Die große Verführung des Bildvergleichs lag in diesem Zusammenhang darin, dass von einer visuellen (oder auch ikonographischen) Ähnlichkeit rasch auf eine genealogische Verbindung, auf eine gemeinsame historische 10
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12
»[W]e may fairly infer from the practice of different times and countrys that there is nothing absolute in the forms of any apertures or any thing«; William Chambers, Royal Academy Lectures, Royal Academy Archive, CHA/2/4. Anthony Grafton, Defenders of the Text: The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450-1800, Cambridge/Mass. 1994, Kapitel 5, 145-160. Zur Ablösung dieses Modells siehe Helmut Zedelmaier, Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hamburg 2003. Siehe etwa Arno Seifert, ›Verzeitlichung‹. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), 447-477.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
Abstammung geschlossen werden konnte. Im antiquarischen und kunsttheoretischen Diskurs um 1800 ist dieses Denkmuster omnipräsent; wie kaum ein anderes eignete es sich zur Verteidigung eines diffusionistischen Weltbildes, das die Kunst und Kultur aller Völker der Welt von einer gemeinsamen Wurzel abzuleiten suchte.13
2.
Muster der Ähnlichkeit
Auch jenseits von Denkmustern, die von Disziplinen wie der Chronologie popularisiert wurden, scheint die Zeit um 1800 in vieler Hinsicht fundamental darauf konditioniert zu sein, beim vergleichenden Sehen von Kunstwerken verschiedener Epochen und Geographien zuallererst die Ähnlichkeit zu erfassen. Trotz aller Rhetorik der Originalität (und damit der Unvergleichbarkeit) waren bis weit ins 19. Jahrhundert frühneuzeitliche Kategorien wie die aemulatio noch höchst relevant. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Maler wie William Turner, der oft als emblematischer moderner Künstler beschrieben wird. Für Turner blieb der Wettstreit mit den alten Meistern eines der bestimmenden Ziele und ein leitender Faktor seiner Karriere. Am augenfälligsten ist dies verdeutlicht in Turners Testament. Bekanntlich hinterließ der Maler der britischen Nation seinen gesamten Nachlass mit Dutzenden Hauptwerken aus allen Werkphasen. Dies geschah unter der Bedingung, dass zwei seiner Landschaftsgemälde in einem Raum der National Gallery neben zwei Werken von Claude Lorrain gehangen würden – und hier konstant mit dem bewunderten Gipfelpunkt der klassischen Landschaftsmalerei wetteifern könnten (Abb. 1 und 2).14 Die Gegenüberstellung von historischer und zeitgenössischer Kunst folgt dabei Praktiken der Pendanthängung, nach der die Gemäldegalerien der meisten Auftraggeber Turners und seiner Zeitgenossen strukturiert waren. Sammler wie der einflussreiche Richard Payne Knight bestellten dabei bevorzugt zeitgenössische Pendants zu berühmten historischen Werken in ihrer
13
14
Zu diesem Motiv, siehe Hans Christian Hönes, Kunst am Ursprung. Das Nachleben der Bilder und die Souveränität des Antiquars, Bielefeld 2014, wo ich auch einige der im Folgenden nur knapp diskutierten Autoren wie Richard Payne Knight und Pierre d’Hancarville ausführlicher analysiere. Vgl. Ian Warrell et al. (Hg.), Turner Inspired. In the Light of Claude, London 2012.
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Abb. 1: J.M.W. Turner, Dido Building Carthage, ca. 1815, Öl auf Leinwand, 155 x 230 cm. London, National Gallery.
Sammlung.15 Knight gab 1807 etwa ein Bild bei Turner in Auftrag, das als Gegenstück zu einem der Hauptwerke seiner Sammlung, einer Rembrandt zugeschriebenen Heiligen Familie, fungieren sollte (Abb. 3 und 4).16 Das von Turner gelieferte Gemälde zeigt eine moderne Familienszene über einen verschwenderischen Sohn, wobei sowohl die Tonalität als auch die zentrale Dreiergruppe wesentliche formale Elemente des RembrandtVorbildes aufnehmen.17 Gerade die von der Kritik viel gelobte »harmonische Distribution von Licht und Schatten« zeigt deutlich an, dass es hier um eine
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16 17
Seltener ist der Fall, dass ein Auftraggeber ein Bilderpaar bei einem zeitgenössischen Künstler bestellte. Ein berühmtes und programmatisch verstandenes Beispiel dieser Praxis ist etwa Lord Berwicks Auftrag an Richard Westall für zwei Historiengemälde in Aquarell, vgl. David Solkin, Art in Britain 1660-1815, New Haven/London 2015, 253-254. Zu Knights Patronage moderner Kunst: Michael Clarke/Nicholas Penny (Hg.), The Arrogant Connoisseur: Richard Payne Knight. 1751-1824, Manchester 1982. Vgl. David Solkin (Hg.), Turner and the Masters (Ausst.-Kat. London, Tate Britain; Paris, Galeries nationales du Grand Palais; Madrid, Museo Nacional del Prado), London 2009, 148, Kat.-Nr. 40 und 41.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
Abb. 2: Claude Lorrain, Hafen mit der Landung der Königin von Saba, 1648, Öl auf Leinwand, 149 x 196 cm. London, National Gallery London.
aemulatio des historischen Vorbildes geht, das mit, nicht gegen rembrandteske Gestaltungsmittel arbeitet.18 Impliziert ist damit eine gewisse Kontinuität von künstlerischen Aufgaben und deren Lösungen, die sich wiederum deutlich von einem emphatisch modernen Fortschrittsdenken absetzt. Wie Turner in seinen Vorlesungen als Perspektivprofessor an der Royal Academy schrieb: Es ergebe keinen Sinn »die Alten herabzustufen, denen wir so viel verdanken«.19 Dies bedeutet keinesfalls Resignation angesichts der Übermacht der Geschichte; den Kunststudenten rief Turner zu: »Lasst uns nicht innehalten in unserer Suche nach Perfektion, und lasst uns nicht glauben, dass es nichts Herausragendes mehr in der
18 19
»The chief merit of this production is in the harmonious distribution of its light and shade […]«, in: Public Ledger, 06.05.1808, 2. Zit. nach David Solkin, Turner and the Masters: Gleaning to Excel, in: Solkin (Hg.), Turner and the Masters, 13-27, hier 20.
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Abb. 3: J.M.W. Turner, The Unpaid Bill, 1808, Öl auf Leinwand, 59,4 x 80 cm. Privatbesitz.
Natur für uns aufzuklauben gebe: Wir müssen unbeirrt nach Exzellenz streben«.20 Ein gewisser epigonaler Defätismus ist in diesen Worten, namentlich der Wortwahl des »Aufklaubens« (»to glean«), dennoch herauszuhören.
3.
Komparatistik im Zeichen des Diffusionismus
Hier beginnt sich abzuzeichnen, dass das Interesse an den Gemeinsamkeiten zwischen Kunstwerken unterschiedlicher Epochen und Geographien sich nicht allein aus einem rein ästhetischen Interesse erklärt. Vielmehr motivierte der überhistorische Vergleich auch weiterreichende Reflexionen über Historizität und geschichtliche Entwicklungslogik. Dieser Befund erhärtet sich 20
»But let us not stop in our pursuit after Perfection & think there is no excellence in Nature left for us to glean: we ought to endeavour to excell«; zit.n. Solkin, Turner and the Masters: Gleaning to Excel, 20.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
Abb. 4: Schule Rembrandts, Heilige Familie, 1642-1648, Öl auf Holz, 66,5 x 78 cm. Amsterdam, Rijksmuseum.
zumal angesichts der Konjunktur »vormoderner« Temporalitäten in Turners Werk; besonders typologische Zeitstrukturen sind wiederholt das strukturierende Element in Bildpaaren wie dem berühmten Shade and Darkness – The Evening of the Deluge und Light and Colour (Goethe’s Theory) – The Morning after the Deluge (1843).21 Sowohl die Referenz auf Goethes Theorie wie auch die Figur Moses (als Autor des Sintflutberichts) im Zentrum des »Morgen nach der Sintflut« verweisen darauf, dass Turner hier weniger den Bruch durch die Katastrophe hervorzuheben gedachte, sondern die Instanzen betonte, die die Zeit vor und nach der Flut zusammenbinden. Insgesamt scheint Turners Interpretation der Naturgeschichte stärker von Kontinuitäten als von Brüchen geprägt zu sein. Wie er in einem seiner Notizbücher schrieb: »Nature holds
21
Dazu einschlägig: Gerald E. Finley, The Deluge Pictures: Reflections on Goethe, J. M. W. Turner and Early Nineteenth-Century Science, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 60 (4/1997), 530-547.
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each link / In the great chain that is a zone where cause and its effect are one«.22 Ein derartiges Verständnis von Geschichte als Abfolge von Ursache und Folge garantiert für historische Kontinuität. Turner zeigt hier seine Affinität zum Kernmotiv des antiquarischen Diffusionismus, wie ihn auch sein Auftraggeber Payne Knight verteidigte. Knight bestätigte, »dass es im Bereich der Sitten, wie in der Physik, keine Wirkung ohne einen adäquaten Grund gibt«.23 Vom Anfang der Geschichte an ist damit eine bruchlose Tradition postuliert, die eine prinzipielle Verwandtschaft der globalen Kunstproduktion aller Zeiten annimmt. Für Knight ist die Kunstgeschichte eine ununterbrochene Abfolge von Replikationen früherer Modelle. Durch Tradition legitimiert werden sie weiter kopiert, auch nachdem sich der ursprüngliche symbolische Sinn überlebt haben mag.24 Kunstgeschichte ist damit als permanentes ›Nachleben‹ der ältesten Kulturschichten und -traditionen beschrieben. Knights Hypothesen mögen teils abenteuerlich klingen: Die Formen keltischer Obelisken leben für ihn fort in den Kirchturmspitzen und Filialen der modernen gotischen Kirchen. Beide Traditionen seien wiederum auf antike Phalluskulte zurückzuführen. Das Sinnbild des gehörnten Mose sei eine Adaption des (vor allem aus dem antiken China bekannten) Symbols des Bullen, des Sinnbilds männlich-generativer Kraft, der symbolischen Urszene politischer Herrschaft (Abb. 5).25 Alle Kulturformen sind damit verstanden als »Emanationen«, als Ausflüsse einer vorgängigen Quelle.26 Nicht nur die Kunst-, auch die Menschheitsgeschichte wurde von Knight entschieden auf eine gemeinsame biologische Wurzel zurückgeführt. In Übereinstimmung mit der Anthropologie seiner Zeit argumentierte Knight, dass »der Schwarzafrikaner der wahrhaft 22 23
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Zit. nach Mordechai Omer, Turner’s Biblical Deluge and the iconography of ›homo bulla‹, in: Comparative Criticism 5 (1983), 125-152. »In moral, as well as physics, there is no effect without an adequate cause«; Richard Payne Knight, A Discourse on the Worship of Priapus, and its connection with the mystic theology of the ancients, London 1786, 25. »Like many other customs, both of ancient and modern worship, the practice, probably, continued long after the reasons upon which it was founded were either wholly lost, or only partially preserved in vague traditions«; Knight, Discourse, 51. Knight, Discourse, 116-117, 186, 48. »From an original entity secondary images are continuously flowing. The word convenient for both, ›emanation‹, means to flow from«; Wayne Glausser, Atomistic Simulacra in the Enlightenment and Blake’s Post-Enlightenment, in: The Eighteenth Century 32 (1/1991), 73-88, hier 80.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
Abb. 5: »Bulle der das Ei des Chaos zerbricht«, in: Pierre-Francois Hugue d’Hancarville, Recherches sur l’Origine, l’Esprit et les Progrès des arts de la Grèce; sur leur connexion avec les arts et la religion des plus anciens peuples connus, 3 Bde., London 1785.
ursprüngliche Mensch ist und alle anderen nur Variationen davon sind«.27 Stärker als der Biologie ist Knight allerdings dem epikureischen Atomismus verpflichtet, dem zufolge nichts aus nichts entsteht und nichts zu nichts vergeht: Eine creatio ex nihilo, ein absoluter Ursprungspunkt also, ist nicht denkbar, da alles bereits auf Atomzusammensetzungen beruht.28 Zur Begründung dieser monogenetischen Theorie der Kultur- und Menschheitsgeschichte war das vergleichende Sehen einer der zentralen und meist praktizierten Ansätze. Wiederum standen die Ähnlichkeiten von Objekten unterschiedlichster Provenienz im Fokus, die dabei zum Beweis 27
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Richard Payne Knight, An Analytical Inquiry into the Principles of Taste, London 1805, 15: »The late great physiologist, John Hunter, used to maintain (and I think proved it) that the African black was the true original man, and all the others only different varieties derived from him, and more or less debased or improved«. »nothing could come from nothing, and that no power whatever could annihilate that which really existed«; Knight, Discourse, 130. Vgl. Andrew Ballantyne, Architecture, landscape and liberty. Richard Payne Knight and the picturesque, Cambridge 1997, 65.
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eines gemeinsamen genetischen Ursprungs herangezogen wurden. Diese antiquarische Logik zeigt sich exemplarisch in viel gelesenen Schlüsselwerken der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, wie Joseph-François Lafitaus Moeurs des sauvages, comparées aux moeurs des anciens. Der Titel des Werkes beschreibt bereits sein zentrales Anliegen: Der Verfasser suchte nach Analogien zwischen den Sitten der amerikanischen »Wilden« und des antiken Europas. Zentrale These seiner Forschung ist, dass in ersteren »Fußstapfen des entfernten Altertums anzutreffen« seien, die Kultur der nordamerikanischen Ureinwohner also von der europäischen Antike abstamme. Ziel von Lafitaus Werk ist dabei eine Apologie der Bibel als historischer Quelle. Der Jesuit argumentiert dafür, dass im Rahmen eines diffusionistischen Weltbildes alle Völker der Erde Nachkommen der Stammeltern der Genesis seien, die somit als Ausgangspunkt aller Geschichte begriffen werden könne. Glaubenssätze und Sitten dieser frühesten Zeit fänden sich, »gleichsam als eine Art einer allgemeinen Erbschaft«, in Resten überall auf der Welt.29 Wie zentral der Vergleich zwischen verschiedenen Objekten und Bildern für diese Theorien war, illustriert insbesondere Lafitaus Frontispiz (Abb. 6). Während der Gelehrte (so informiert uns die beigegebene Erklärung) zwischen verteilten Artefakten griechischer und amerikanischer Provenienz, die ihm zwei Genien zuführen, an seinem Schreibtisch sitzt und die materielle Überlieferung beider Zivilisationen vergleicht, wird ihm eine Vision zuteil, in der er der himmlischen Heerscharen und der Stammeltern ansichtig wird. Gleichsam visionär wird er des Schlusses gewahr, dass sich alle kulturellen Traditionen auf die biblischen Ureltern, das erste Menschenpaar, zurückführen lassen. Nicht nur dem Gelehrten, auch dem Leser wird hier, angesichts der formalen Ähnlichkeit des himmlischen Geschehens mit den modernen Objekten, ihre gemeinsame Abkunft von einem göttlichen »Vorrat« vor Augen geführt.30 29
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Joseph François Lafitau, Allgemeine Geschichte der Länder und Völker von America. Erste Abtheilung, Halle 1752, 8. Vgl. auch ebd., 5, wo Lafitau schreibt, es »findet sich in dieser Religion des ersten Heidentums eine so grosse Aenlichkeit mit verschiedenen Glaubenspuncten, die uns die Religion lehret, und welche eine Offenbarung voraussetzen […] dass es scheinet, als ob beinahe alles Wesentliche aus einerley Vorrat hergeholet worden. Niemand kan diese Aenlichkeit und Uebereinstimmung leugnen«. Die Ähnlichkeiten, die hierfür erforderlich sind, sind dabei oft recht lose. So argumentiert Lafitau, dass die Amerikaner »dasjenige, was ihnen von Begriffen des Geheimnisses der heiligen Dreifaltigkeit übrig geblieben, in den dreyen Seiten der Pyramiden [haben] abbilden wollen«; Lafitau, Allgemeine Geschichte, 72.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
Abb. 6: Joseph-François Lafitau, Moeurs des sauvages amériquains, comparées aux moeurs des premiers temps, Paris 1724, Frontispiz.
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Dies sind nur einige Beispiele, die hier exemplarisch illustrieren sollen, dass die diffusionistische Perspektive auf die Weltkulturen und ihre Verschiedenheiten um 1800 die dominante kulturtheoretische Meinung war, gerade wenn es die künstlerische Produktion weltweit betraf. Dies war dabei keineswegs ein nur in antiquarischen Zirkeln populäres und verbreitetes Modell. Auch und gerade unter Künstlern lassen sich vielfach ähnliche Argumentationsmuster nachweisen. Der irische Maler James Barry argumentierte etwa ausdrücklich dafür, dass die Kunst der Antike aus einem gemeinsamen (vielleicht vorsintflutlichen) Erbe abzuleiten sei. »Ein fast unbekanntes Volk, das jetzt unter der Entfernung der Antike beerdigt ist, muss im Besitz eines extensiven und kompletten Wissens gewesen sein, von welchem die Chaldäer, Ägypter, Hindus, und andere antike Völkerschaften nur noch Fragmente kannten, welche Homer, Thales, Pythagoras, Plato und andere nach Griechenland gebracht haben«. Dieses Volk sei wahrscheinlich mit Atlantis zu identifizieren, jener Nation in deren geheimnisvolle Existenz die ägyptischen Priester Plato eingeweiht haben.31 Datieren lasse sich dieser Ursprung, der damit tendenziell ein mythischer Urgrund bleibt, allerdings nicht. Die Logik ist dennoch klar: Aus den Ähnlichkeiten der Kunst weltweit wird auf einen geteilten Ursprung geschlossen, von dem aus die Kunst über den Globus diffundierte. Barry war keineswegs der einzige Künstler seiner Zeit, der über einen atlantischen Urgrund der Kunstgeschichte spekulierte. Etwas klarer, wenn auch eher noch spekulativer, hat diese Genealogien der niederländische Maler Humbert de Superville ausgeführt. In seinem Essai sur les signes inconditionnels vertritt Humbert die These, dass die Geschichte der Kunst Wurzeln in einer fernen Vergangenheit habe, die zurückreiche bis vor die »letzte Umwälzung der Erde, während der ganze Zivilisationen versprengt und untergegangen sind«.32 Humbert argumentiert also, im wahrsten Sinne des Wortes, für eine vorsintflutliche Kunst. Er zieht zudem in Betracht, dass es in entlegeneren Regionen der Welt »Überlebende der Zerstörung« geben könnte und 31
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»… that some almost unknown people, now buried in the remoteness of antiquity, must, however, have been in possession of very extensive and complete knowledge, of which the Chaldeans, Egyptians, Gentoos, and other ancient nations, possessed only the fragments, which Homer, Thales, Pythagoras, Plato, and others, brought to Greece«; James Barry, A Letter to the Society of Dilettanti, London 1798, 62. David Pierre Giottino Humbert de Superville, Essai sur les signes inconditionnels dans l’art, Leiden 1827, 43.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
dass Artefakte wie die »formlosen und gigantischen Skulpturen der Osterinseln« und anderer eventuell »Überreste« dieser frühesten Kunstformen seien.33 Ähnliche formale Merkmale sieht er in anderen antiken Zivilisationen gegeben: Besonders die ägyptischen Mumiensarkophage und Monumentalskulpturen scheinen ebenfalls noch den Gestaltungsprinzipien der vorsintflutlichen Kunst verpflichtet.34 Die Analyse dieser Artefakte hat für Humbert dabei mehr als nur historisches Interesse. In den ältesten Dokumenten der Kunstgeschichte hoffte der niederländische Zeichner vielmehr, die universell gültigen Prinzipien künstlerischen Ausdrucks zu finden.35 Die geometrisch simplen und ausdrucksstarken Skulpturen Ägyptens und der Osterinseln führten Humbert zu der Überzeugung, dass Formen – etwa horizontale und vertikale Linien – eine universelle Bedeutung und emotionale Qualität haben und dass diese absoluten Gestaltungsprinzipien für die Kunst aller Zeiten und Kontinente von Relevanz sind.36 Identifiziert ist damit ein abstraktes System an Ausdruckswerten, an dem auch noch die griechische Kunst teilhat. Auch der Apollo Belvedere wird von Humbert in einer abstrakten Umzeichnung analysiert und die Komposition damit auf ein rudimentäres Gerüst »unbedingter« Formen zurückgeführt. Aus der Fülle der historischen Überlieferung will Humbert einen vergleichbaren, gemeinsamen und damit potentiell normativen Kern herausfiltern, den Griechenland, Ägypten und die Osterinseln teilen. Der Vergleich zweier (oder mehrerer) Bildkulturen dient in diesen klassizistischen Kunsttheorien vor allem einer Absicht: Die formellen Gemeinsamkeiten in der weltweiten Kunstproduktion erlauben den Schluss auf einen normativen Grundsatz. Die Ähnlichkeit wird als historisches Argument für künstlerische Normen genommen, der Vergleich in eine ästhetische Analyse gewendet.
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Humbert, Essai, 43-44. Humbert, Essai, 46-47. Zur Wirkungsgeschichte dieser Ideen siehe etwa: Ernst H. Gombrich, Reflections on the History of Art. Views and Reviews, hg. von Richard Woodfield, Berkeley/Los Angeles 1987, 212. Humbert, Essai, 23 (synoptische Tafel).
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4.
Weltkunst und die Verteidigung der ästhetischen Norm
Derartige Spekulationen sind keineswegs als rhetorische Überbleibsel einer barocken Denktradition abzutun. Sie scheinen vielmehr Beleg dafür, dass die Begegnung mit ›Weltkunst‹ nicht zwangsläufig eine Relativierung eines klassizistischen, auf ein Ideal ausgerichtetes Denken zur Folge hat. Im Gegenteil eignete sich der antiquarische Diffusionismus besonders für eine Verteidigung des Ideals, auch wenn dieses teils andere Formen als Winckelmanns »edle Einfalt« oder der »grand style« des Akademiepräsidenten Sir Joshua Reynolds annahm. Mit einem neuen Relativismus sind diese spätklassizistischen Versuche der Rettung eines uniformen Kanons nicht zu verwechseln. Dies zeigt in aller Deutlichkeit etwa der Fall eines Malers wie Johann Heinrich Füssli, der vielfach zum Wegbereiter eines neuen ästhetischen Relativismus stilisiert wurde. Füssli gilt gerne als Paradebeispiel einer sich entwickelnden »Schwarzen Romantik«, der mit dem Gipsklassizismus und Winckelmanns Vorliebe für weißen Marmor brach.37 In der Tat finden sich im Werk des »wild Swiss« zahllose unorthodoxe Motive, die sich eher den chthonischen Sphären antiker Kultur, und nicht den olympischen Höhen voll »edler Einfalt und stiller Größe« widmen. Zu den spektakulärsten Zeugnissen für dieses Interesse an einer devianten Antike gehören die zahlreichen ›pornographischen‹ Zeichnungen, die sich aus Füsslis römischen Jahren erhalten haben (Abb. 7).38 In der neueren Forschung wurde dieses Interesse nachdrücklich als Indiz für eine Abkehr des Künstlers vom Gedanken einer moralisch und ästhetisch erhabenen griechisch-römischen Antike gelesen.39 Griechenland war nun, ganz kulturrelativistisch, nur eine unter vielen primitiven Zivilisationen geworden. Komplementiert wird dies in Füsslis Werk durch Zeichnungen wie das Blatt des Indischen Gottes Kamadeva, also durch eine Szene der antiken indischen Mythologie (Abb. 8). Statt die Existenz einer normativen griechischrömischen Antike zu postulieren, scheint Füssli hier einen kulturellen Plura-
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Johannes Grave, Unheimliche Bilder. Die ›Nachtseiten‹ der bildenden Kunst um 1800, in: Felix Krämer (Hg.),Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst, Ostfildern 2012, 30-40. Zu Füsslis römischen Jahren, siehe Nancy R. Pressly, The Fuseli Circle in Rome. Romantic Art of the 1770s, New Haven 1979. Zu den Zeichnungen, etwa David H. Weinglass, The Elysium of Fancy: Aspects of Henry Fuseli’s Erotic Art, in: Peter Wagner (Hg.), Erotica and the Enlightenment, New York 1991, 294-353. Andrei Pop, Greek Tragedy and Cultural Pluralism, in: Art Bulletin 94 (1/2012), 78-98.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
Abb. 7: Heinrich Füssli, Couple on an Altar before a Herm of Priapus, ca. 1776, Feder und Aquarell auf Papier, 26,1 x 37, 6 cm. Florenz, Museo Horne.
lismus aufscheinen zu lassen, der verschiedene Antiken nebeneinander akzeptiert. Als Beleg für diesen Kulturpluralismus hat vor allem Andrei Pop auf Füsslis Rezeption der Schriften Johann Gottfried Herders hingewiesen. In einer 1800 publizierten Übersetzung von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit finden sich einige, von der Forschung wenig beachtete Fußnoten aus Füsslis Feder.40 Die Berührungspunkte zwischen dem englischschweizerischen Maler und dem Vordenker einer liberalen, pluralistischen Humanitätsidee scheinen also denkbar eng.41 Doch Füsslis Fußnoten deuten teils eine deutlich andere, nicht notwendig pluralistische Perspektive auf die antiken Kulturen an. Zu den Stellen, die
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Erstmals dazu: Marcia Allentuck, Henry Fuseli and J.G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit in Britain: An Unremarked Connection, in: Journal of the History of Ideas 35 (1/1974), 113-120. Zu dieser Lesart Herders einschlägig: Isaiah Berlin, Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, New York 1976.
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Abb. 8: Heinrich Füssli, The Indian God Camadeva and his lover Rati, ca. 1790-1800, Sepia auf Papier, 19,4 x 29, 9 cm. Basel. Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett.
der Maler mit einer Fußnote kommentierte, gehört etwa eine Passage über die ägyptische Kunst. Herder fällt hier ein überraschend klares Werturteil und schreibt, dass »no deviations toward ideal beauty, which without a natural prototype is a mere phantom, were in the least to be expected in this country«.42 In der Kunst Afrikas kann es also keine Annäherung an ein absolutes Schönheitsideal geben, da die lokalen Physiognomien keine natürlichen Vorbilder für ein derartiges Ideal bereitstellen würden. Füssli widerspricht genau diesem Punkt: »[…] that African forms may coalesce with Ideal Beauty is proved by every head of Medusa, but chiefly that of the palace Rondanini at Rome«. Afrikanische Formen können also mit idealer Schönheit »zusammenfließen« oder sich mit ihr »vereinigen«. Hier geht es nicht – im Sinne von Winckelmanns klimatologischem Relativismus – darum, dass auch die Ägypter/Afrikaner ein (lokalspezifisches) Ideal haben. Vielmehr argumentiert Füssli dafür, dass sich, wie im Fall der Medusa Rondanini, auch schwarzafrika-
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Johann Gottfried von Herder, Outlines of a Philosophy of the History of Man, London 1800, 99.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
nische Physiognomien mit der idealen Schönheit »vereinigen« können.43 Die Existenz eines normativen Ideals scheint damit deutlich bestätigt. Beide hier skizzierten Momente, das Interesse an der indischen Antike wie an der sexuellen Symbolik der griechisch-römischen Kunst und Kultur, lassen sich wohl entscheidend auf Füsslis Lektüre der Schriften von Autoren wie dem umtriebigen Antiquar Pierre d’Hancarville zurückführen.44 In seinen dreibändigen Recherches, einem Werk, das zentral für den bereits diskutierten Richard Payne Knight werden sollte, vertritt der französische Mythograph die These, dass der Ursprung der Kunst in der Verehrung der generativen Kräfte der Natur liege.45 Sexuelle Symbolik wird damit zum Urgrund der Kunstgeschichte und zum Ausgangspunkt einer monogenetischen Diffusion erklärt; den Ursprungsort der Kunstgeschichte suchte d’Hancarville dabei in Ostasien. Füsslis Bildwelten scheinen sich entscheidend aus den hier skizzierten monogenetischen Denkmustern zu speisen. Die indische und griechische Kunst, beide geprägt von einer Lust an sexueller Symbolik, wären demnach nicht nur metaphorisch vergleichbar, sondern tatsächlich als kulturell verwandt zu betrachten. In genau diesem Sinne lässt sich nun auch die Parallelität von Szenen einer devianten griechischen Antike und einer außereuropäischen Klassik in Füsslis Werk verstehen. Für die Zeichnung von Kamadeva lässt sich etwa ein klares Vorbild, nämlich eine Skulptur von Thomas Banks benennen (Abb. 9).46 Im Vergleich zu Füsslis Version sehen wir hier aber eine sehr züchtige Szene. Der Schweizer hat die Szene klar und deutlich sexualisiert – und somit eine Engführung mit jenen Bildwelten erreicht, die ihm in der griechischitalischen Antike begegnet waren und die er in Rom ins Bild gesetzt hatte. In der Zusammenschau zweier verschiedener Bildkulturen ging es Füssli also 43
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Zu der zumindest seit Diodorus Siculus weitverbreiteten Deutung des Medusenhaupts als schwarzafrikanisch siehe etwa Marjorie Garber/Nancy J. Vickers (Hg.), The Medusa Reader, New York/London 2003, 26-27. Dazu auch: Andrei Pop, Antiquity, Theatre, and the Painting of Henry Fuseli, Oxford 2015, 180-181. Pierre-François Hugues d’Hancarville, Recherches sur l’Origine, l’Esprit et les Progrès des arts de la Grèce; sur leur connexion avec les arts et la religion des plus anciens peuples connus, 3 Bd., London 1785. Zu den Recherches zuletzt: Tomas Macsotay, Baron D’Hancarville’s ›Recherches‹ on the evolution of sculpture: submerged emblems and the collective self, in: Caroline van Eck (Hg.), Idols and Museum Pieces, Berlin/Boston 2017, 127-144. Sarah Monks, Making Love: Thomas Banks’ Camadeva and the Discourses of British India, c. 1790, in: Visual Culture in Britain 11 (2/2010), 195-218.
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Abb. 9: Thomas Banks, The Hindu Deity Camadeva with his mistress on a crocodile, 1794, bemalter Gips, 67 x 59 x 27 cm. London, Sir John Soane’s Museum.
augenscheinlich darum, beide einander anzunähern. Der Vergleich resultiert nicht in einer Diagnose von Differenz, sondern in einer Überblendung verschiedener Traditionen in einem Kollektivsingular ›Antike‹.
5.
Verschmelzende Vergleichsformen
Diese Tendenz zur Überblendung soll hier abschließend an zwei weiteren Beispielen diskutiert werden. Zugleich können diese dazu dienen, die Wichtigkeit des Vergleichs für die hier skizzierte Logik herauszuheben. Besonders deutlich wird dies in Joseph Gandys Comparative Characteristics of 13 Styles of Architecture.47 Gandy, am besten bekannt als Perspektivmaler für Sir John Soane, 47
Zu diesem Werk: Brian Lukacher, Joseph Gandy. An Architectural Visionary in Georgian England, London 2006, Kap. VI, 168-197. Für die Werkbeschreibung des Künstlers siehe: The
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
hat in einem ambitionierten und großformatigen Aquarell in einer Art Baumdiagramm eine vergleichende, doch zugleich auch genealogische Synopse der Weltgeschichte der Architektur konstruiert (Abb. 10). Ein Turm auf der Linken illustriert die ostasiatischen Architekturen, auf der Rechten sehen wir die nahöstlichen Traditionen, beginnend mit den babylonischen Pylonen, während in der Mitte die westliche Tradition, von Griechenland über Rom bis zur Gotik präsentiert ist. Der Theorie des Künstlers – und der Logik des Baumdiagramms – zufolge erwachsen alle drei Traditionen aus denselben Wurzeln: An der Basis der drei Türme sind Megalithen und ähnliche prähistorische Strukturen zu sehen, gleichsam als primitive Vorläufer der Weltarchitektur. Gemeinsame Wurzel all dieser Entwicklungen ist jedoch einmal mehr ein göttlich inspiriertes Werk: Es ist die Arche Noah, die hier zur Urszene der Architektur, zum Primärobjekt, von dem alles Weitere abstammt, erklärt wird.48 Zunächst mag es scheinen, als sei hier wiederum vor allem eine Substraktionslogik angewandt. Die gemeinsamen Merkmale, die allen Produkten der Weltarchitektur gemeinsam sind, wären damit als abstrakte »Prinzipien« auszumachen. Doch genau einen solchen analytischen Vergleich sucht Gandy nicht. Das Urprinzip der Architektur, die Arche, ist vielmehr durch eine ideale Überkomplexität gekennzeichnet. Die Arche, gefertigt mit »scientific carpentry«, so schrieb Gandy in einem kurzen Text über die Philosophy of Architecture, ist Überlieferungsträger allen vorsintflutlichen Wissens – und damit auch wahrhaftes Archiv der Weltarchitektur.49 Eine derartige Logik scheint sich auch im Verhältnis der drei Türme der Weltarchitektur untereinander ausmachen zu lassen. Es ist augenfällig, dass
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Exhibition of the Royal Academy 67 (Ausst.-Kat. London, Royal Academy of Arts), London 1835, Kat.-Nr. 936. Gandy selbst (vgl. The Exhibition of the Royal Academy 67, Kat.-Nr. 936) beschrieb dieses Sinnbild wie folgt: »At the base of the centre is an emblem of the Deluge, a rocking stone embowered in wood between tumuli mounds.« »The ark built by Noah was held together by scientific carpentry […] it became a sacred model and a traditionary image, impressed on the minds of the successive descendants of Noah. […] The ark subsequently became an object of adoration. […] The ark of Noah was an observatory, a temple, and a palace, resembling a cavern on a pyramidal mountain«. »Temples and oracles took the ark as a model«; Joseph Gandy, On the Philosophy of Architecture, in: The Magazine of the fine arts: and monthly review of painting, sculpture, architecture, and engineering 1 (1821), 289-293 und 370-379, hier 292, 372 und 373.
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Abb. 10: Joseph Michael Gandy, Comparative architecture: Architectural composition to show the comparative characteristics of thirteen selected styles of architecture, 1836, Feder und Aquarell auf Papier, 120 x 83 cm. London, Sir John Soane’s Museum.
gerade die westliche Tradition sehr flamboyant erscheint; vor allem die römische Architektur erinnert eher an die französische Renaissance, womit sie stilistisch zunächst vor allem wie eine Brücke zur Gotik, dem Gipfelpunkt des mittleren Turmes, anmutet. Doch ihre Mittelstellung mag auch anders zu lesen sein. Verglichen mit den benachbarten Stilen aus dem asiatischen
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und nahöstlichen Raum scheint die römische Architektur fast als Kompromiss oder Kombination zwischen der säulenbetonten chinesischen Tempelarchitektur links und den filigranen, maßwerkartig dekorierten Rundbogenfenstern des maurischen Pavillons rechts aufgefasst zu sein. Der Vergleich der Weltarchitekturen scheint hier gleichsam die westliche Tradition als ideales ›Durchschnittsbild‹ hervortreten zu lassen. Der titelgebende Vergleich resultiert wiederum nicht in einer strikten Differenzierung der Phänomene, sondern animiert dazu, sie in einem Konglomerat additiv aufgehen zu lassen. Ins Extrem gesteigert findet sich diese Überlagerung historischer Schichten zugunsten eines definitiven, gewissermaßen enzyklopädischen Gemenges in einem Werk wie William Blakes Stich Joseph of Arimathea among the Rocks of Albion (Abb. 11).50 Die Komposition selbst ist im Wesentlichen ein Reproduktionsstich nach einem Detail aus Michelangelos Kreuzigung Petri in der Cappella Paolina (ca. 1546-1550). Die anachronistische Aufladung der Szene ergibt sich wesentlich aus der von Blake beigefügten Bildunterschrift: »Engraved by W. Blake 1773 from an old Italian Drawing. This is one of the Gothic Artists who Built the Cathedrals in what we call the Dark Ages Wandering about in sheep skins & goat skins. Of whom the World was not worthy such were the Christians in all Ages. Michel Angelo Pinxit« Sowohl ikonographisch als auch kunsthistorisch wird das Werk damit als historisch vielschichtig ausgewiesen.51 Die neutestamentliche Figur des Joseph von Arimathea wird betitelt als »einer der gotischen Künstler, welche die Kathedralen bauten«. Als dritten historischen Referenzrahmen zitiert Blake den neutestamentlichen Hebräerbrief (11:37-38: »sie sind umhergezogen in Schafpelzen und Ziegenfellen […] Sie, deren die Welt nicht wert war«). So wie im Protagonisten der Szene eine mindestens dreifache historische Identität überblendet wird, so ist auch das Kunstwerk selbst als mehrschichtige Kreation ausgewiesen: Die erste Version ein Gemälde Michelangelos, das dann in
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Zur Genese des Stichs, siehe David Bindman/Deirdre Toomey (Hg.), The Complete Graphic Works of William Blake, London 1978, 401, und Robert N. Essick, The Separate Plates of William Blake: A Catalogue, Princeton 1983, Nr. I (2C). Hierzu und zum Folgenden, siehe Jonah Siegel, Desire and Excess. The NineteenthCentury Culture of Art, Princeton 2000, 76-80.
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Abb. 11: William Blake, Joseph of Arimathea among the Rocks of Albion, ca. 1810-1820 (überarbeitete Fassung), Kupferstich, 25,4 x 13, 8 cm. London, British Museum.
eine »alte italienische Zeichnung« übersetzt, 1773 erstmals von Blake gestochen und schließlich 1820 in die finale Komposition überführt wurde. Ähnlich wie Gandy die Arche als göttlich inspiriertes Archiv und Repositorium der künstlerischen Formen aller Zeiten zu rekonstruieren suchte, entwarf auch Blake eine Komposition, die alle historischen Epochen in einer ultimativen kunst- und heilsgeschichtlichen Hieroglyphe zusammen zu ziehen sucht. Die legitimierende Instanz ist in diesem Falle allerdings weniger historisch, in der Urgeschichte der Kunst zu suchen, sondern scheint
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
maßgeblich in der Autorität des Künstlers zu liegen, der diesen Kulminationspunkt konstruiert.
6.
Vielfalt in Einheit
Anliegen meines Essays war es herauszustellen, dass die hier diskutierten Protagonisten der Kunst(-theorie) um 1800 einen Bildervergleich priorisierten und praktizierten, der hinter dem Rauschen der verschiedenen Formen der weltweiten Kunstproduktion eine gemeinsame und potentiell normierende Ordnung erkennt. Die Ähnlichkeit zweier Beispiele wird stets als Argument für eine gemeinsame Abkunft interpretiert, die formalen und ikonographischen Unterschiede der Bildproduktion verschiedener Kulturen werden somit auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt, die Garant einer fundamentalen Einheit menschlicher Kultur und Ästhetik ist. Es handelt sich hierbei um jenes Phänomen, das Erwin Panofsky treffend als »Pseudomorphismus« beschrieben hat.52 Aus einer rein visuellen Ähnlichkeit wird auf eine genealogische Verbindung geschlossen. Entgegen solchen Kurzschlüssen hat sich die moderne kunsthistorische Methodik dem Vergleich als Methode der Differenzierung verschrieben. Insbesondere Heinrich Wölfflin postulierte sehr direkt, dass ein Vergleich immer das herauszuarbeiten habe, was nicht (mehr) ähnlich ist.53 Derzeitige kunsthistorische Methodendiskussionen scheinen sich vornehmlich dieser Position anzuschließen und das nichthegemoniale Potential komparatistischer Ansätze hervorzuheben. Der (formalistische) Vergleich erlaube demnach einen Blickwechsel, der neue, unvoreingenommene und überraschende Perspektiven sowohl auf das Eigene wie auf das Fremde eröffne. Indem der Kunsthistoriker im Vergleich Objekte verschiedener Kulturen in eine formale Relation zueinander setzt, gelinge es, sie unvoreingenommen zu betrachten, sie zu kontrastieren und letztlich als »unvergleichlich«, ganz für sich wahrzunehmen.54 Whitney
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Erwin Panofsky, Tomb sculpture. Four lectures on its changing aspects from ancient Egypt to Bernini, London 1964. Vgl. Hans Christian Hönes, Wölfflins Bild-Körper: Ideal und Scheitern kunsthistorischer Anschauung, Berlin/Zürich 2011, 115-122. Siehe etwa Margaret Olin, Redundancy, Transformation, Impersonation, in: Jaś Elsner (Hg.), Comparativism in Art History, London/New York 2017, 60-78 (»comparison made in descriptions can be seen as forms of dialog that cross time and space and migrate
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Davis hat dies kürzlich sogar als den »ethischen Grundsatz von Komparatistik« benannt, nämlich »Vielfalt und Verschiedenheit« zu dokumentieren und zu akzeptieren – mithin also eine relativistische Perspektive zu entwickeln.55 Spontan ist man wohl geneigt, dem zuzustimmen: Die antiquarische Logik, die alles mit allem zu verbinden sucht, scheint eher der Domäne der Verschwörungstheorie denn der Wissenschaft anzugehören. Umgekehrt zeigt aber die Renaissance von Ansätzen wie Aby Warburgs anthropologisch inspirierter Kunstgeschichte, die ähnlich wie das 18. Jahrhundert dem »primitiven Menschen«56 nachspürt, dass die Attraktivität und Suggestivität diffusionistischer Denkmuster wenig Faszination eingebüßt hat. »Es ist ein altes Buch zu blättern. Athen – Oraibi, alles Vettern«.57 Die Verführungen der Ähnlichkeit machen auch vor den Modernen nicht halt.
Literatur Allentuck, Marcia, Henry Fuseli and J.G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit in Britain: An Unremarked Connection, in: Journal of the History of Ideas 35 (1/1974), 113-120. Audran, Gerard, Les Proportions du Corps Humain, Paris 1690. Ballantyne, Andrew, Architecture, landscape and liberty. Richard Payne Knight and the picturesque, Cambridge 1997. Barry, James, A Letter to the Society of Dilettanti, London 1798. Berlin, Isaiah, Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, New York 1976. Besold, Christoph, De natura populorum, Tübingen 1619. Bindman, David/Toomey, Deirdre (Hg.), The Complete Graphic Works of William Blake, London 1978.
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from one discourse to another«) und die Ausstellung Unvergleichlich. Kunst aus Afrika im Bode Museum (2017-2019, Bode Museum Berlin). Whitney Davis, Visuality and Virtuality. Images and Pictures from Prehistory to Perspective, Princeton 2017, 110. Zu den Schwierigkeiten einen solchen Anspruch auch einzulösen, siehe James Elkins, Chinese Landscape Painting as Western Art History, Hong Kong 2010. Zum Beispiel Aby Warburg, Fragmente zur Ausdruckskunde (Gesammelte Schriften, Bd. 4), hg. von Ulrich Pfisterer und Hans Christian Hönes, Berlin/Boston 2014, 159. Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung zu Luthers Zeiten, in: ders., Die Erneuerung der Heidnischen Antike (Gesammelte Schriften, Bd. 1.2), hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998, 490.
Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs
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Abbildungsnachweis Abb. 1-4: David Solkin (Hg.), Turner and the Masters (Ausst.-Kat. London, Tate Britain; Paris, Galeries nationales du Grand Palais; Madrid, Museo Nacional del Prado), London 2009, 214 (Abb. 1 und 2) und 148 (Abb. 3 und 4). Abb. 5: Ian Jones. Abb. 6: Ian Jones. Abb. 7: Pop, Greek Tragedy, 88. Abb. 8: Pop, Greek Tragedy, 91. Abb. 9: Pop, Greek Tragedy, 91. Abb. 10: Lukacher, Joseph Gandy, 174. Abb. 11: Trustees of the British Museum.
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Dekorative Beliebigkeit oder anregende Offenheit? Vergleichspraktiken und Pendantbildungen in der französischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts Johannes Grave
Abstract: Im 18. Jahrhundert lässt sich im Umgang mit Druckgraphiken sowohl ein hohes Interesse an der vergleichenden Betrachtung von Bildern als auch an der Zusammenstellung von Bilderpaaren beobachten. Vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte konnten Reproduktionsgraphiken dabei sehr frei zu Paaren oder Serien kombiniert werden. Teils stammten die Vorlagen von unterschiedlichen Künstlern, teils wurden auch die Stiche von verschiedenen Graphikern ausgeführt, so dass es dazu kommen konnte, dass mehrere Pendants miteinander auf dem Markt konkurrierten. Der Beitrag stellt einige solcher druckgraphischen Pendants näher vor, um auf dieser Basis auf Vergleichspraktiken zurückzuschließen, die den Betrachtern offenkundig von den Stechern unterstellt wurden und deren Kalkül erst erklärbar machen.
1.
»La comparaison«
Als Jean-François Janinet 1786 seine Reproduktionsgraphik nach einer Zeichnung von Nicolas Lavreince mit dem Titel La comparaison veröffentlichte, dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass diese Betitelung einen spannungsvollen, ironischen Bezug zwischen dem Sujet des Bildes und einer Vorliebe seiner potenziellen Käufer implizierte. Die als Farbdruck ausgeführte Aquatinta (Abb. 1)1 zeigt zwei junge Frauen in einem Boudoir, die sich vor einem vom Betrach1
Vgl. Emmanuel Bocher, Nicolas Lavreince (Les gravures françaises du XVIII siècle ou Catalogue raisonné des estampes, eaux-fortes, pièces en couleur, au bistre et au lavis, de 1700 à 1800, Fasz. 1), Paris 1875, 18, Kat.-Nr. 12. Vgl. auch Kristel Smentek, Sex, senti-
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ter abgewandten Spiegel aufhalten, um die Schönheit ihrer entblößten Brüste zu vergleichen.
Abb. 1: Jean-François Janinet nach Nicolas Lavreince, La comparaison, 1786, Radierung und Aquatinta, Farbdruck, 48,4 x 36 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
Das reichlich konstruierte Sujet dient kaum verhohlen dazu, das erotische Begehren männlicher Betrachter zu wecken, um so die Aufmerksamkeit auf die Szene und damit auf den Kupferstich zu ziehen. Der im Titel angesprochene Vergleich bezeichnet aber nicht allein die dargestellte Situation, ment, and speculation. The market for genre prints on the eve of the French Revolution, in: Studies in the history of art 72 (2007), 221-243, bes. 232f.
Dekorative Beliebigkeit oder anregende Offenheit?
sondern zugleich eine Praxis, die Janinets Adressaten, die sogenannten ›Liebhaber‹ und Sammler von Druckgraphiken, selbst ständig vollzogen. Sie verglichen zwischen Originalen und Kopien, zwischen stärkeren und schwächeren Abdrucken, zwischen verschiedenen Plattenzuständen und anderen Qualitätskriterien druckgraphischer Blätter; daneben unterzogen sie aber auch verschiedene Künstler oder ›Schulen‹, unterschiedliche Darstellungen desselben Sujets oder Werke verschiedener Epochen vielfältigen Vergleichen.2 Wie in der Malerei bildete sich zudem im Umgang mit Druckgraphiken die Praxis heraus, Blätter paarweise oder zu Folgen zusammenzustellen und entsprechend zu präsentieren. Solche Pendants oder Serien regten ihrerseits zu weiteren Vergleichen an. Die ästhetische und soziale Kultur der Graphiksammler lässt sich daher ohne Vergleichspraktiken nicht denken. Eine Praxis, die derart eng mit dem Medium des Kupferstichs verbunden ist, wird nun bei Lavreince und Janinet auf etwas überraschende Weise zum Gegenstand der Darstellung.3 Denn wie den amateurs und connoisseurs, die im ständigen Vergleichen zum Beispiel den perfekt erhaltenen, klaren Abdruck eines seltenen Zustandsdruckes (also einen Abzug von einer später weiterbearbeiteten Platte) suchen, geht es auch den beiden Frauen um Fragen von Schönheit und Makellosigkeit. Wenn man Lavreince und Janinet etwas mehr als nur einen plumpen, gut verkäuflichen Herrenwitz unterstellen darf, so mag es ihre Absicht gewesen sein, die vermeintlich so ernsthafte und langwierig eingeübte Praxis des kritischen Vergleichens, mit der sich Sammler und ›Liebhaber‹ die Expertise von Kennern zu erwerben versuchten, zu ironisieren und als bisweilen belangloses, selbstverliebtes Spiel herauszustellen. Janinets Druckgraphik ist aber nicht allein durch ihren Titel mit den Vergleichspraktiken von Sammlern und ›Liebhabern‹ verknüpft. Sie gehört viel-
2
3
Zur Bedeutung des Vergleichens für kennerschaftliche Praktiken vgl. Carol GibsonWood, Jonathan Richardson and the rationalization of connoisseurship, in: Art history 7 (1/1984), 38-56; dies., Studies in the theory of connoisseurship from Vasari to Morelli, New York 1988, u.a. 63, 84, 128, 159, 242; Pascal Griener, La République de l’œil. L’expérience de l’art au siècle des Lumières, Paris 2010, u.a. 65-90; Kristel Smentek, Mariette and the science of the connoisseur in Eighteenth-Century Europe, Farnham 2014, u.a. 3, 17, 142 und bes. 154160; vgl. ferner Valérie Kobi, Dans l’œil du connaisseur. Pierre-Jean Mariette (1694-1774) et la construction des savoirs en histoire de l’art, Rennes 2017. Dass das Vergleichen bei Lavreince und Janinet zum Sujet eines Genrebildes wird, ist nicht singulär; vgl. auch Alexandre Chaponnier nach Louis-Léopold Boilly, La comparaison des petits pieds, 1791, Stipple-Manier; dazu Marcel Roux, Inventaire du fonds français. Graveurs du XVIIIe siècle, Bd. IV: Cathelin – Cochin père, Paris 1940, 182, Kat.-Nr. 9.
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Abb. 2: Jean-François Janinet nach Nicolas Lavreince, L’aveu difficile, 1787, Radierung und Aquatinta, Farbdruck, 48,7 x 36, 3 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
mehr auch zu den zahlreichen Kupferstichen und Radierungen des späteren 18. Jahrhunderts, die ganz gezielt um Pendants ergänzt wurden, so dass man dem interessierten Publikum Bilderpaare zum Kauf anbieten konnte. Nur ein Jahr nach La comparaison brachte Janinet – ebenfalls nach einer zeichnerischen Vorlage von Lavreince – einen nahezu formatgleichen Farbdruck mit dem Titel L’aveu difficile (Abb. 2)4 heraus.
4
Vgl. Bocher, Lavreince, 15f., Kat.-Nr. 8.
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Abb. 3: Jean-François Janinet nach Nicolas Lavreince, L’indiscretion, 1788, Radierung und Aquatinta, Farbdruck, 48,7 x 36, 3 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
Erneut sind zwei junge Frauen in einem Boudoir oder Schlafgemach dargestellt, allerdings scheinen sie nun, wie schon der Titel vermuten lässt, in eine deutlich ernsthaftere Unterhaltung vertieft. Während der Betrachter beide Szenen miteinander vergleichen konnte, um sie z.B. in einen narrativen, vielleicht gar kausalen Zusammenhang zu bringen, ist das Vergleichen im zweiten Blatt nicht mehr Gegenstand der Darstellung. An der Zusammengehörigkeit als Bilderpaar gibt es jedoch keinen Zweifel; die Anzeige des zweiten Blattes im Journal de Paris wurde am 16. Juli 1787 eigens mit dem Zusatz »fai-
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sant pendant à La comparaison, d’après Lavrince, gravée par Janinet«5 versehen. Damit aber nicht genug. Nochmals genau ein Jahr später, 1788, legte Janinet eine weitere Farbradierung nach Lavreince vor: L’indiscretion (Abb. 3)6 , eine Szene, die – erneut in einem Interieur – eine etwas hölzern dargestellte Auseinandersetzung zweier Frauen um ein Billet oder einen Brief zeigt. Aus dem Bilderpaar war damit eine Serie geworden, so dass deren Betrachter nun im Vergleich der drei Druckgraphiken darüber nachdenken konnten, ob sich eine stringente narrative Abfolge rekonstruieren lässt. Im Journal de Paris dehnte man bei der Ankündigung des dritten Blattes den Begriff des Pendants, um es als »estampe gravée en couleur par F. Janinet, d’après Lavrins, faisant pendant à la Comparaison et à l’Aveu difficile«7 zu bezeichnen. Auch die kleine Folge von drei Szenen ließ sich mithin noch unter dem Rubrum ›Pendant‹ fassen.8 Dass mit dem Blatt von Janinet das Vergleichen explizit zum Sujet einer bildlichen Darstellung wird, die ihrerseits mit anderen Szenen zu einem Bilderpaar oder gar zu einer kleinen Serie verknüpft werden konnte, verdankt sich wohl einem Zufall. Und doch ist dieser Zufall signifikant; er verweist darauf, dass sich im 18. Jahrhundert ein besonders enger Zusammenhang zwischen der Vorliebe für druckgraphische Pendants und der ubiquitären Verbreitung von Praktiken des vergleichenden Betrachtens beobachten lässt. Die folgenden Überlegungen sollen diesem Zusammenhang näher nachgehen. Dabei wird das Augenmerk bewusst auf Reproduktionsgraphiken gelenkt. Denn so sehr die Druckgraphik in Produktion, Vermarktung und Rezeption auch eigenen Gesetzmäßigkeiten folgte,9 ist dennoch davon auszugehen, dass ihre Pendantbildungen eng mit Vergleichspraktiken verknüpft waren, die auch im Umgang mit Gemälden und Zeichnungen erprobt wurden und plausibel erschienen. Die Zusammenstellung von Bilderpaaren in der
5 6 7 8
9
Journal de Paris, 16.07.1787; zit.n. Bocher, Lavreince, 16. Vgl. Bocher, Lavreince, 29, Kat.-Nr. 30. Journal de Paris, 13.07.1788; zit.n. Bocher, Lavreince, 29. Den Blättern La comparaison und L’indiscretion wurde zum Teil auch die Graphik La Joueuse de guitare zugeordnet; vgl. Marcel Roux/Michèle Hébert/Yves Sjöberg, Inventaire du fonds français. Graveurs du XVIIIe siècle, Bd. XII: Janinet – Launay, Paris 1930, 17, Kat.-Nr. 25. Vgl. Anne L. Schroder, Genre prints in Eighteenth-Century France. Production, market, and audience, in: Richard Rand (Hg.), Intimate encounters. Love and domesticity in Eighteenth-Century France (Ausst.-Kat. Hanover, Hood Museum of Art), Princeton 1997, 69-86.
Dekorative Beliebigkeit oder anregende Offenheit?
Graphik dürfte vertraute Vergleichspraktiken vor anderen Bildern aufgegriffen, zugleich aber auch auf sie zurückgewirkt haben. Eine genauere Analyse druckgraphischer Pendants könnte daher, so ist zu hoffen, tentative Rückschlüsse auf allgemeinere Vergleichspraktiken zulassen.
2.
Le »pendant véritable«
Das Beispiel von Janinet und Lavreince lässt Strategien der Zusammenstellung von Druckgraphiken erkennbar werden, die im späteren 18. Jahrhundert in Frankreich sehr gebräuchlich waren.10 Pendants oder Serien wurden dabei keineswegs stets von allein einem Druckgraphiker und auf der Grundlage von Zeichnungen oder Gemälden eines einzigen Künstlers erstellt. Vielmehr war es problemlos möglich, dass ein bereits veröffentlichter Stich durch eine Arbeit eines anderen Stechers nach der Vorlage eines wiederum anderen Künstlers ergänzt wurde, wie ein weiteres Fallbeispiel zeigen kann. Im Sommer 1770 erschien eine Reproduktionsgraphik, die Jean-Michel Moreau und Jean-Baptiste Blaise Simonet nach einer Gouache von PierreAntoine Baudouin angefertigt hatten (Abb. 4).11 In einer verbreiteten Form der Zusammenarbeit hatte Moreau die Graphik zunächst als Radierung begonnen; Simonet hat sie dann mit dem Grabstichel weiter bearbeitet. Baudouin stand mit seinen freizügigen, erotischen Szenen in der Tradition seines Lehrers und Schwiegervaters François Boucher; und wie bei Boucher stießen seine Arbeiten sowohl auf ein breites Käuferinteresse als auch auf teils harsche Ablehnung seitens der jungen Kunstkritik. Im Salon von 1767 hatte Baudouin seine Gouache mit dem Titel Le coucher de la mariée präsentiert,
10
11
Vgl. Sean John Taylor, Pendants and commercial ploys. Formal and informal relationships in the work of Nicolas Delaunay, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 50 (1987), 509538; William McAllister Johnson, Anomalous pendants in late 18th-Century French prints, in: Gazette des Beaux-Arts 138 (2001), 267-280; Tomoko Yoshida, Doubling the pleasure. Pendants in Eighteenth-Century French paintings and prints, in: Kayo Hirakawa (Hg.), Aspects of narrative in art history, Kyoto 2014, 127-140; William McAllister Johnson, The rise and fall of the fine art print in Eighteenth-Century France, Toronto 2016, bes. 54-65; Antony Griffiths, The print before photography. An introduction to European printmaking 1550-1820, London 2016, bes. 168-175. Vgl. Emmanuel Bocher, Pierre-Antoine Baudouin (Les gravures françaises du XVIII siècle ou Catalogue raisonné des estampes, eaux-fortes, pièces en couleur, au bistre et au lavis, de 1700 à 1800, Fasz. 2), Paris 1875, 18f., Kat.-Nr. 16.
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Abb. 4: Jean-Michel Moreau und Jean-Baptiste Blaise Simonet nach Pierre-Antoine Baudouin, Le couché [coucher] de la mariée, 1768, Radierung und Grabstichel, 46,7 x 33 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
in der dargestellt wird, wie eine besorgt weinende junge Frau von Bediensteten (und vielleicht ihrer Mutter) in ein großes Ehebett begleitet wird, während der Ehemann vor seiner Frau kniet und zu ihr aufblickt. Denis Diderot hatte in seiner ausführlichen Besprechung der Gouache nicht mit Kritik an dieser ambivalenten Darstellung gespart, die eine auf den ersten Blick familiäre eheliche Szene in eine Situation umschlagen lässt, in der die gerade verheiratete
Dekorative Beliebigkeit oder anregende Offenheit?
Braut herzlos ihrem wollüstigen Ehemann ausgeliefert zu werden scheint.12 Der Stich von Moreau und Simonet scheint allerdings keine vergleichbare Kritik hervorgerufen zu haben. Er wurde bereits im September 1770 im Mercure de France gewürdigt, wo der Szene eine »volupté douce et pure« bescheinigt wird.13 Anerkennend ist auch die kurze Besprechung in der Zeitschrift L’année littéraire; und selbst in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste erschien eine kurze, lobende Anzeige des Blattes.14 Die von Diderot aufgezeigte Ambivalenz entfaltete sich jedoch auf anschauliche Weise in den folgenden Jahren, als dem Stich gleich zwei miteinander offenbar konkurrierende Pendants zur Seite gestellt wurden. Zunächst kam 1780 der Stich L’enlèvement nocturne (Abb. 5) auf den Markt,15 den Nicolas Ponce ebenfalls nach einer Vorlage von Pierre-Antoine Baudouin erstellt hatte. Die am 18. November 1780 im Mercure de France erschienene Anzeige wies die Arbeit von Ponce sogleich als »[e]stampe faisant pendant au Coucher de la Mariée«16 aus. Im Journal de Paris wurde dieser Hinweis, nachdem er in der ersten Anzeige am 28. November 1780 fehlte, am 13. Dezember 1780 eigens in einem Nachtrag ergänzt.17 Das Blatt von Ponce führt vor Augen, wie zwei junge Frauen mit Hilfe einer Leiter über eine Mauer – das Gebäude links im Hintergrund lässt an ein Internat oder eine Klosterschule denken – steigen, um unten von Männern mit einer Kutsche empfangen zu werden. Da es hier offenkundig darum geht, zu einem amourösen nächtlichen Abenteuer aufzubrechen, und der Titel mit dem »enlèvement« auf das »coucher« des Pendants antwortet, wird die latente sexuelle Konnotation des ersten Stiches von Moreau und Simonet vereindeutigt und bekräftigt.
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13 14 15 16 17
Denis Diderot, Ruines et paysages. Salon de 1767, hg. von Else Marie Bukdahl, Michel Delon und Annette Lorenceau, Paris 1995, 286-290. Vgl. auch Michel Hilaire/Sylvie Wuhrmann/Olivier Zeder (Hg.), Le Goût de Diderot. Greuze, Chardin, Falconet, David … (Ausst.Kat. Lausanne, Fondation de l’Hermitage), Paris 2013, 117 u. 315, Kat.-Nr. 19. Mercure de France, September 1770, 177; vgl. auch Bocher, Baudouin, 18. Vgl. L’année littéraire 5, 1770, 70f.; Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 11, 1770, 357f. Vgl. Bocher, Baudouin, 21f., Kat.-Nr. 20. Mercure de France, Nr. 47, 18.11.1780, 143; vgl. auch Bocher, Baudouin, 22. Vgl. Journal de Paris, Nr. 351, 13.12.1780; zit.n. Bocher, Baudouin, 22: »L’enlèvement nocturne, annoncé dans notre feuille du 28 novembre dernier, est de même grandeur et destiné à faire pendant à l’estampe du Coucher de la mariée, peint aussi par M. Baudouin.«
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Abb. 5: Nicolas Ponce nach Pierre Antoine Baudouin, L’enlèvement nocturne, 1780, Radierung und Grabstichel, 47 x 33 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
In die entgegengesetzte Richtung weist jedoch ein 1781 veröffentlichter Stich von Philippe Trière, der bereits durch seinen Titel Le lever de la mariée (Abb. 6)18 unmissverständlich den Anspruch erhebt, als das eigentliche Pendant zur Graphik von Moreau und Simonet gelten zu können.
18
Vgl. Marcel Roux (unter Mitarbeit von Edmond Pognon), Inventaire du fonds français. Graveurs du XVIIIe siècle, Bd. VII: Deny (Mlle Jeanne) – Du Duy-Delage, Paris 1951, 447f., Kat.-Nr. 165.
Dekorative Beliebigkeit oder anregende Offenheit?
Abb. 6: Philippe Trière nach Jean Démosthène Dugourc, Le lever de la mariée, 1781, Radierung und Grabstichel, 47,5 x 34 cm. Chicago, The Art Institute of Chicago.
Das Blatt zeigt die junge Frau in einer glücklichen morgendlichen Familienszene. Sie hat das Bett verlassen, ist bereits angekleidet, sitzt nun neben einem älteren Mann, vermutlich ihrem Vater, vor dem wiederum ihr im legeren Morgenmantel gekleideter Ehemann steht. Bedienstete kümmern sich derweil darum, im Bett und am Tisch der morgendlichen Toilette für Ordnung zu sorgen. Bis in Details der Gestaltung des Interieurs greift der Stich die Vorgaben der Graphik Le coucher de la mariée auf, um sich als das angemessenere, ja ›legitime‹ Pendant behaupten zu können und dabei auch eine Korrektur an der Deutung des ersten Blattes vorzunehmen. Denn in der Zu-
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sammenschau dieser beiden Stiche wird die Ambivalenz der abendlichen Szene in den Hintergrund gedrängt. Zur Sorge um die junge Braut scheint nun kein Anlass mehr zu bestehen. Vor allem die Figurenkonstellation von Vater und jungem Ehemann erinnert an Familienszenen von Jean-Baptiste Greuze, namentlich an sein erfolgreiches Gemälde L’accordée de village (1761), das u.a. durch einen Reproduktionsstich von Jean Jacques Flipart (1770) breit rezipiert worden war.19 Während das Pendant von 1780 mit der nächtlichen ›Entführung‹ auch auf einem Werk von Baudouin basiert, folgt der Stich von Trière ausweislich der Beschriftung unten links allerdings einer Vorlage von Jean Démosthène Dugourc. Ein Zeichner und ein Stecher scheinen sich mithin zusammengetan zu haben, um eine Arbeit zweier anderer Künstler mit einem Pendant zu versehen. Was heute überraschend erscheinen mag, war im 18. Jahrhundert durchaus verbreitet. Künstler konnten auf diese Weise versuchen, an frühere Verkaufserfolge anderer Stecher anzuschließen. Allerdings barg diese Strategie auch Risiken, weil es zu unverhofften Konkurrenzsituationen kommen konnte, die das kommerzielle Kalkül ins Wanken zu bringen vermochten. Einem solchen Problem könnten sich Trière und Dugourc gegenübergesehen haben. Denn mit L’enlèvement nocturne war ihnen Ponce zu einem Zeitpunkt zuvorgekommen, als die Arbeiten am eigenen Stich schon weit fortgeschritten oder fast abgeschlossen gewesen sein müssen. Umso hartnäckiger nahm Trière für seine Druckgraphik in Anspruch, das korrekte Pendant und nicht nur ein weiteres Blatt einer offenen Folge darzustellen. In der Gazette de France vom 19. Januar 1781 wurde das Blatt von Trière offensiv als »pendant véritable du Coucher de la Mariée«20 gekennzeichnet. Während es sich wenig später im Fall von Janinets Reproduktionsgraphiken nach Lavreince als vollkommen unproblematisch erweisen sollte, eine Szene nach und nach um zwei alternative Pendants zu ergänzen, so dass sie eine kleine Serie formierten, deutet sich in der Formulierung der Gazette de France ein Kampf um den Status als »pendant véritable« an. Bloße Behauptungen genügten dabei freilich nicht,
19
20
Vgl. Edmond Pognon/Yves Bruand, Inventaire du fonds français. Graveurs du XVIIIe siècle, Bd. IX: Ferrand – Gaucher, Paris 1962, 237f., Kat.-Nr. 143. – Auf die Bekanntheit des Stichs lässt u.a. eine Nachricht zum Tod von Flipart schließen, in der die Reproduktion von L’accordée de village als eines von insgesamt drei Blättern eigens genannt wird; vgl. Nécrologie, in: Journal encyclopédique ou universel 7 (3/1782), 511f. Gazette de France, Nr. 6, 19.1.1781; zit.n. McAllister Johnson, Anomalous pendants, 279, Anm. 17.
Dekorative Beliebigkeit oder anregende Offenheit?
um Ansprüche durchzusetzen. Das Journal de Paris versah hingegen die Anzeige des Stichs am 18. Januar 1781 mit einem kritischen Zusatz, der Zweifel an Trières entschiedener Setzung erkennen lässt. Dessen Graphik wird zunächst als »estampe faisant pendant au Coucher de la Mariée« vorgestellt; nach der Wiedergabe weiterer Angaben zum Stich heißt es dann allerdings: »On a conservé dans ce pendant le même fond que dans le Coucher de la Mariée, par Baudouin. Nous laissons au Public à faire la comparaison du Coucher au Lever : nous avons cru remarquer des différences sensibles entre l’un et l’autre.«21 Letztlich sollte also der vergleichende Blick der Kenner und des Publikums entscheiden.22 Viele Betrachter dürften dem Stich von Ponce schon deswegen den Vorzug gegeben haben, weil seine Vorlage etwas raffinierter war, vor allem aber weil Ponce die Möglichkeiten der Radiernadel und des Grabstichels weitaus wirkungsvoller eingesetzt hatte. Jenseits der dargestellten Szene bestach seine Reproduktion durch graphische Qualitäten und lud auch auf dieser Ebene zu Vergleichen ein.
3.
»On n’achète guère des estampes qu’en qualité des meubles«
Die Beispiele führen vor Augen, welch unerwartet hohes Maß an Variabilität und Flexibilität die Pendantbildungen in der Druckgraphik des 18. Jahrhunderts auszeichnete. Die Bilderpaare in der Druckgraphik reproduzierten keineswegs stets Pendants, deren Zusammengehörigkeit bereits im Medium der Malerei oder der Zeichnung festgelegt worden war. Oft wurden hingegen Reproduktionen von Bildern zu Paaren oder Suiten zusammengeführt, deren Vorlagen unabhängig voneinander von verschiedenen Künstlern geschaffen worden waren. Es waren dann vor allem die Parerga, d.h. Formate, Rahmungen und Formen der Beschriftung, die aus den vormaligen Einzelwerken Teile eines Paares oder einer Folge machten, wobei teils signifikante Eingriffe in die Darstellung erforderlich wurden.23 Die Frage, ob ein Graphiker ein Paar oder 21 22
23
Journal de Paris, Nr. 18, 18.1.1781, 72; vgl. auch McAllister Johnson, Anomalous pendants, 272. Die Entscheidung wurde damit einer Instanz übertragen, die sich selbst notorisch einer präziseren Bestimmung entzog; vgl. Eva Kernbauer, Der Platz des Publikums. Modelle für Kunstöffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Köln 2011. Nicolas Delaunay sah sich z.B. veranlasst, bei der Reproduktion von Peter Paul Rubens’ Trunkenem Silen eine Figur zu tilgen, um den Vorgaben seines vereinheitlichenden Rahmens gerecht zu werden; vgl. Taylor, Pendants and commercial ploys, 525f., Anm. 19.
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eine Serie zusammenstellte, unterlag nicht zuletzt unterschiedlichen ökonomischen Erwägungen: Während Pendantbildungen darauf zielten, dass sich potenzielle Käufer gedrängt sahen, beide Blätter zu erwerben, spekulierten vor allem längere, offene Serien weniger entschieden darauf, dass Sammler sie komplett ankauften. Die Entscheidung zwischen Pendant oder Suite implizierte aber auch Vorfestlegungen bezüglich möglicher Bezüge und Vergleichshinsichten zwischen den jeweiligen Blättern. Serien luden dazu ein, narrative Verknüpfungen zu suchen oder die lockere Variation eines Motivs zu verfolgen; Bilderpaare weckten indes eher die Erwartung, dass ihnen konkretere Relationen (vorher – nachher, gut – böse etc.) zugrunde lagen. Besonders systematisch scheint sich Nicolas Delaunay der Praxis der Etablierung von Paaren und Serien in der druckgraphischen Reproduktion bedient zu haben. In einer um 1789 publizierten Angebotsliste Delaunays finden sich mehrere Pendants sowie Serien, die häufig Werke verschiedener Künstler, darunter Baudouin, Lavreince, Jean-Honoré Fragonard, Sigmund Freudenberger oder Jean-Baptiste Le Prince, zusammenführten.24 Dabei konnten sich innerhalb der offenen, fortlaufend erweiterbaren Serien lockere Paarbildungen ergeben, so dass sich, um eine treffende Begriffsbildung von Sean J. Taylor aufzugreifen, »pendants en suite«25 bildeten. In der Zusammenschau derartiger Pendants und Suiten tritt unverkennbar hervor, in welch hohem Maße diese Praxis kombinatorische Spielräume bot. Den Stechern kam dabei zugute, dass die Paare und Serien auf gleich mehreren Ebenen Vergleichshinsichten anboten: Zusammenhänge, Ähnlichkeiten oder Differenzen konnten auf der Ebene des Dargestellten ebenso gesucht werden wie im Vergleich der Künstler, welche die Vorlagen geschaffen hatten, oder – sofern unterschiedliche Stecher beteiligt waren – im Nebeneinander verschiedener individueller druckgraphischer Stile. In Einzelfällen konnte zu diesen drei Ebenen noch eine vierte hinzutreten, wenn man das Wagnis einging, Reproduktionsgraphiken als Pendants zu vereinigen, die mit grundlegend verschiedenen graphischen Techniken erstellt worden waren: Mit vier Jahren Verzögerung, 1787, ergänzte Pierre Viel mit einem klassischen Kupferstich nach Elisabeth Vigée-Lebruns Gemälde Der Frieden bringt Überfluss eine 1783 veröffentlichte Reproduktionsgraphik nach Vigée-Lebruns Darstellung Die Unschuld flieht in die Arme der Gerechtigkeit.26 Für letztere hatte
24 25 26
Ausführlich zu Delaunay und seinen Serien: Taylor, Pendants and commercial ploys. Taylor, Pendants and commercial ploys, 527. Vgl. McAllister Johnson, Anomalous pendants, 271.
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sich Francesco Bartolozzi allerdings der sogenannten Stipple-Manier bedient, die, statt mit den strengen Linien des Kupferstichs zu arbeiten, Punktierungen verwendet, so dass sich deutlich weichere Übergänge ergeben. In diesem Fall konnte es kaum ausbleiben, dass zeitgenössische Betrachter beim Blick auf Viels und Bartolozzis Arbeiten auch die Charakteristika und jeweiligen Vorzüge der druckgraphischen Verfahren miteinander verglichen. Der Fall von Janinet, Ponce und Trière steht nicht nur exemplarisch für eine verbreitete Praxis, sondern wirft zugleich grundlegende Fragen auf: Waren der Zusammenstellung von Bilderpaaren und -folgen in der Druckgraphik irgendwelche Grenzen gesetzt, oder ließen sich derartige Kombinationen wahllos und willkürlich vervielfachen? Dass Janinets Le coucher de la mariée sowohl L’enlèvement nocturne von Ponce als auch Le lever de la mariée von Trière zum Pendant haben konnte, scheint einer grundsätzlichen Kritik recht zu geben, die Pierre-Charles Lévesque im Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure äußerte. In der Blütezeit des französischen Kupferstichs im 17. Jahrhundert hätten Stecher wie Gérard Audran oder Gérard Edelinck in der Regel einzelne Kupferstiche geschaffen; ihre Arbeiten seien damals wie echte Kunstwerke wertgeschätzt worden. Im 18. Jahrhundert habe sich diese Situation aber gänzlich ins Gegenteil verkehrt: »Aujourd’hui qu’on n’achète guère des estampes qu’en qualité de meubles, un graveur ne peut se promettre un débit sûr d’une estampe, s’il ne l’accompagne pas d’une estampe correspondante. Dès qu’il a gravé une planche, il faut qu’il se hâte d’en graver le pendant. Quelquefois cependant on veut bien faire grâce à une bonne estampe isolée, et alors on la fait servir de milieu entre deux pendans.«27 Lévesque sieht die Pendantbildung allein dekorativen Zwecken verpflichtet. Der in Bilderpaare eingezwängte Kupferstich sei zum bloßen Möbelstück herabgesunken. Jede triviale kompositorische Symmetrie reiche nun aus, um die Zusammenstellung von Pendants zu rechtfertigen. Auf diese Weise werde die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Qualitäten der druckgraphischen Werke abgelenkt. Spätestens mit Lévesques harscher Kritik war der Verdacht ge-
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Pierre-Charles Lévesque, Pendant, in: Claude-Henri Watelet/Pierre-Charles Lévesque (Hg.), Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure, Paris 1792, Bd. 5, 1-3, hier 2f. – Vgl. auch Colin B. Bailey, Conventions of the Eighteenth-Century Cabinet de tableaux: Blondel d’Azincourt’s La Première idée de la curiosité, in: The Art Bulletin 69 (1987), 432447; und Yoshida, Doubling the pleasure.
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äußert, dass die Pendantbildung in der Druckgraphik allein dekorativen Zwecken diente und einem kommerziellen Kalkül folgte. Diese Modeerscheinung, so schien es, führte zu beliebigen Kombinationen und schwächte die vormals hochentwickelte kennerschaftliche Kultur des Umgangs mit Kupferstichen.
4.
»D’un effet agréable et piquant«
Ein weiteres Fallbeispiel, das abschließend näher in den Blick genommen werden soll, scheint Lévesques Verdacht auf den ersten Blick zu bestätigen. Es kreist um das vielleicht spektakulärste Pendant des 18. Jahrhunderts: JeanHonoré Fragonards Gemälde Le verrou, mit dem der Maler um 1777 eine wenige Jahre zuvor entstandene Darstellung der Anbetung der Hirten auf äußerst unkonventionelle Weise ergänzte.28 Doch verdient nicht allein dieses Gemäldepaar Aufmerksamkeit. Vielmehr macht Fragonards Entscheidung, einem traditionellen biblischen Historienbild eine anzügliche, erotische Szene als Pendant beizugeben, nur einen Teil dieser Geschichte überraschender Paarbildungen aus. Bekanntheit und Popularität erlangte Fragonards Le verrou weniger über das Gemälde, das sich überwiegend in Privatbesitz befand und so der Öffentlichkeit entzogen war, als über den Reproduktionsstich von Maurice Blot, der im Jahr 1784 veröffentlicht wurde (Abb. 7).29 Diese Reproduktionsgraphik war es, an der sich unter den Kritikern in den Journalen Diskussionen um das Sujet und die künstlerische Qualität der Darstellung entzündeten.30 Bereits 1786 wurde bekannt, dass Blot daran arbeitete, seinem Stich ein Pendant hinzuzufügen. Allerdings ging er offensichtlich nicht daran, Fragonards Adoration des bergers in Kupfer zu stechen. Er hatte sich indes entschieden, Le verrou mit der Reproduktion eines anderen Gemäldes von Fragonard,
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Zu Fragonards Bilderpaar vgl. Jean-Pierre Cuzin, Fragonard. Leben und Werk. OeuvreKatalog der Gemälde, München 1988, Kat.-Nr. 300 und Nr. 336; Pierre Rosenberg unter Mitarbeit von Marie-Anne Dupuy, Fragonard (Ausst.-Kat. Paris, Grand Palais), Paris 1987, 478f. u. 481-484, Kat.-Nr. 234 u. 236; Guillaume Faroult, Jean Honoré Fragonard. Le Verrou, Paris 2007; Guillaume Faroult (Hg.), Fragonard amoureux. Galant et libertin (Ausst.-Kat. Paris, Musée du Luxembourg), Paris 2015, 208-211. Vgl. Faroult, Fragonard amoureux, 214-217, Kat.-Nr. 74-76. Vgl. etwa Rosenberg, Fragonard, 483f.
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Le contrat, zu einem Bilderpaar zusammenzustellen.31 Nach Blots Plan sollten die zeitgenössischen Betrachter mithin nicht Fragonards eigene, ungewöhnliche Pendantbildung, sondern eine etwas konventionellere Kombination zweier Szenen mit einem jungen Paar kennenlernen. Als Blots Druckgraphik (Abb. 8) im Jahr 1792 schließlich auf den Markt kam, waren jedoch seit etwa vier Jahren mindestens zwei Alternativangebote verfügbar. Noël Le Mire hatte sich unmittelbar nach Erscheinen von Blots Graphik einen eigenen, ein Jahr zuvor, 1783, geschaffenen Kupferstich nochmals vorgenommen und um eine weitere Figur bereichert. Im ersten Zustand hatte der Stich nach einer Vorlage von Jean-Baptiste Le Prince – ganz im Einklang mit seinem Titel La crainte – eine junge Frau und einen Hund gezeigt, die offenkundig durch ein beunruhigendes Geräusch aufgeschreckt werden. Um daraus ein gut verkäufliches Pendant zu Blots Le verrou zu machen, fügte Le Mire sehr versteckt den Kopf eines Liebhabers in die Szenerie ein, der sich hinter dem Vorhang des Bettes verbirgt (Abb. 9).32 Nun war offenkundig nicht mehr ein Einbrecher, sondern eher die Rückkehr des Vaters oder Ehemanns zu befürchten.
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Blots Stich wurde am 6. Oktober 1786 in der Gazette de France angekündigt; vgl. Faroult, Fragonard amoureux, 214. Vgl. auch die erneute Erwähnung im Mercure de France, 6.1.1787, 46: »Le même Artiste [M. Blot] s’occupe actuellement du pendant du Verrou, qui aura pour titre : La promesse du Mariage [eine Titelvariante zu Le contrat]«). – Wo sich das Originalgemälde, an dem möglicherweise Marguerite Gérard mitgearbeitet hatte, heute befindet, ist unbekannt; vgl. Cuzin, Fragonard, Nr. 376 u. V 13. Es soll mit Maßen von 45 x 55 cm kleiner gewesen sein als Fragonards Gemälde Le verrou. Vgl. aber auch Jean-Pierre Cuzin/Dimitri Salmon, Fragonard. Regards croisés, Paris 2007, 71. Vgl. Jules Hédou, Noël Le Mire, 1724-1801, et son œuvre gravé, suivi du catalogue de l’œuvre gravé, Paris 1875, 42, Kat.-Nr. 11. Im Journal général de France wurde der Eingriff von Le Mire ganz unverbrämt dargelegt: »L’estampe intitulée : la Crainte, par le même Artiste [Le Mire], et que nous avons annoncée l’année dernière, vient d’acquérir un nouveau degré d’intérêt par l’addition d’une figure qui paroît cachée en partie derrière un rideau. C’est sans doute un jeune homme : mais il nous semble qu’il a les traits un peu trop effeminés, et qu’il ne partage pas assez la frayeur de sa belle. Cette estampe d’ailleurs, très digne de la réputation de son Auteur, fait pendant avec celle qui a pour titre : le Verrou.«; Journal général de France, Nr. 5, 11.1.1785, 19; vgl. auch die Anzeige im Mercure de France, 25.12.1784, 189. – Kristel Smentek hat darauf hingewiesen, dass Blots Le Verrou und Le Mires La crainte mehrfach um ein weiteres Blatt ergänzt wurden, so dass aus dem Bilderpaar eine kleine Serie wurde: Alexandre Chaponnier nach Frédéric Schall, La Soubrette officieuse, 1786, Stipple-Manier. Vgl. dazu Smentek, Sex, sentiment, and speculation, bes. 234f.
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Abb. 7: Maurice Blot nach Jean-Honoré Fragonard, Le Verrou, 1784, Kupferstich, 39,7 x 46 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
Obwohl Blot inzwischen seine Absicht, ein Pendant für den Verrou zu stechen, mehrfach öffentlich gemacht hatte,33 publizierte Nicolas François Regnault im Jahr 1788 seine in Stipple-Manier ausgeführte Reproduktion nach Fragonards Gemälde Le baiser à la dérobée (Abb. 10),34 die Blots Druckgraphik allein schon durch die markante dynamische Diagonale von links unten nach rechts oben in kompositorischer Hinsicht bestens ergänzte.
33 34
Siehe oben Anm. 31. Vgl. Charles Le Blanc, Manuel de l’amateur d’estampes, Bd. 3, Paris 1857, 292, Kat.-Nr. 8. – Für das Originalgemälde, das sich heute in Sankt Petersburg befindet und mit Maßen von 45,1 x 54,8 cm nahezu dasselbe Format wie Le contrat aufweist, vgl. Cuzin, Fragonard, Nr. 383; Rosenberg, Fragonard, 575-577, Kat.-Nr. 304.
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Abb. 8: Maurice Blot nach Jean-Honoré Fragonard, Le contrat, 1792, Kupferstich, 40,7 x 46, 9 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
Im Mercure de France vom 14. Juni 1788 ließ Regnault sein Blatt ausdrücklich als Pendant zu Blots Verrou anzeigen;35 und als sollte dieser Umstand unterstrichen werden, wiederholte der Mercure auch noch fast wortgleich das kurze Urteil, das er 1784 zu Blots Stich formuliert hatte. War dort von einem »effet agréable et piquant«36 die Rede gewesen, so lobte der Mercure nun etwas wortkarger »un effet agréable«37 . Wie Le Mire war Regnault damit dem Kollegen Blot bei dem Versuch, aus dem Erfolg des ersten Stiches weiteren
35 36 37
Vgl. Mercure de France, Nr. 24, 14.6.1788, 95. Mercure de France, Nr. 24, 12.6.1784, 91. Mercure de France, Nr. 24, 14.6.1788, 95: »Cette Estampe, qui fait pendant au Verrou, est gravée avec soin, et d’un effet agréable.«
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Abb. 9: Noël Le Mire nach Jean-Baptiste Le Prince, La crainte, 2. Zustand, 1785, Radierung und Grabstichel, 40,6 x 48, 8 (Platte). Privatbesitz.
Profit zu schlagen, deutlich zuvorgekommen. Während Blot erkennbar darum bemüht war, die Anstößigkeit der Szene des Verrou durch das von ihm gewählte Pendant, Le contrat, abzuschwächen,38 fügten le Mire und Regnault
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Pierre Rosenberg deutet die Folge von Le verrou, L’armoire (eine fast formatgleiche eigenhändige Radierung Fragonards, die den anderen beiden Blättern bisweilen zugeordnet wurde) und Le contrat als eine Narration, die amouröse Abenteuer in geregelte soziale Konventionen münden lässt. Für Rosenberg ›lesen‹ sich die Graphiken wie »trois chapitres d’un roman : la ›faute‹ (le Verrou), les amants surpris (l’Armoire), la régularisation (le Contrat)«; Rosenberg, Fragonard, 483. – Allerdings sind dieser Lesart, wie u.a. Guillaume Faroult betont hat, enge Grenzen gesetzt, da vor allem die Figuren und die rustikale Szenerie in L’armoire von den anderen beiden Darstellungen stark abweichen; vgl. Faroult, Fragonard amoureux, 214.
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Abb. 10: Nicolas François Regnault nach Jean-Honoré Fragonard, Le baiser à la dérobée, 1788, Stipple-Manier, 41,6 x 47, 9 cm (Platte). Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
dem ersten erotischen Übergriff noch einen weiteren amourösen Konventionsverstoß hinzu. Mit der attraktiveren Themenwahl und der klugen Symmetrie der durch Diagonalen strukturierten Kompositionen schien vor allem Regnault im Wettbewerb um Käufer die besseren Karten zu haben. Blot antwortete auf diese Herausforderung bei der Arbeit an Le contrat mit einem subtilen motivischen Detail, das in besonderer Weise den aufmerksamen Blick der Kenner für seinen Stich zu gewinnen versprach: Kurzerhand integrierte er in die Darstellung des neuen Stiches auf kunstvolle Weise dessen Pendant aus dem Jahr 1784. An der Wand des Interieurs, in dem der Ehevertrag unterzeichnet wird, lassen sich schemenhaft zwei gerahmte Bilder ausmachen. Links, knapp vom Paravent überschnitten, ist bei sehr nahsich-
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tiger Betrachtung eine seitenverkehrte Wiedergabe von Fragonards Le verrou, also Blots eigener Stich, erkennbar (Abb. 11); rechts wurde dieser Druckgraphik ein Abzug von Fragonards Radierung L’armoire beigefügt, die ziemlich genau dasselbe Format aufwies und daher auch in der derselben Weise gerahmt werden konnte.39
Abb. 11: Maurice Blot nach Jean-Honoré Fragonard, Le contrat, 1792 (Detail).
Das scheinbar so marginale, im Dunkel kaum hervortretende Detail hat mindestens zwei Effekte: Zum einen bekundet es Blots Anspruch, mit Le contrat das gültige Pendant zu Le verrou vorzulegen. Zum anderen impliziert es aber auch eine vielleicht einzigartige Sonderform der mise-en-abyme, die hier das Pendant eines Bildes miteinbegreift. Während bei der klassischen miseen-abyme das ganze Bild nochmals selbst als Detail im dargestellten Sujet erscheint, ist es hier ein Teil eines Bildpaares, der in seinem Pendant erneut 39
Siehe oben Anm. 38.
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einen Auftritt hat.40 Die Raffinesse dieses Details, so mag Blot gehofft haben, konnte die Verspätung seines Stiches gegenüber dem Blatt von Regnault ausgleichen. Die Flexibilität, mit der Fragonards Verrou in der Druckgraphik die verschiedensten Pendants zugewiesen werden konnten,41 scheint die Kritik von Lévesque an Paarbildungen im Kupferstich aufs Schönste zu bestätigen. In besonderer Weise gilt das für Le Mire, der ohne jeden Skrupel eine ältere Platte überarbeitete und dabei nicht zuletzt signifikant von der Vorlage abwich (wobei freilich deren Zeichner, Le Prince, weiterhin unten links als Urheber des Gemäldes ausgewiesen wurde). Wo Lévesque Beliebigkeit unterstellte, zeigt sich jedoch eine Variabilität und ein kombinatorischer Reichtum, der im Umkehrschluss einiges über Vergleichspraktiken von ›Liebhabern‹ und Sammlern des 18. Jahrhunderts sagen kann. Während Bilderpaare in der Malerei, sofern sie bis heute überliefert sind, den Eindruck erwecken, dass sich mit Pendants im 18. Jahrhundert eine klare, eindeutige Zusammenstellung lediglich zweier Bilder verband, lassen die druckgraphischen Pendants darauf schließen, dass Bilderpaare ephemerer Natur sein konnten und bisweilen durch andere Paarbildungen ersetzt wurden. Die erstaunliche Dynamik, die solche teils miteinander konkurrierenden Pendantbildungen in der Druckgraphik des späteren 18. Jahrhunderts auszeichnete, war zwar sicherlich auch der Eigenlogik des Graphikmarktes geschuldet. Dennoch müssen sowohl die Stecher als auch ihr Publikum in dieser liberalen und kreativen Kombinatorik geübt gewesen sein, um den sprunghaften Angeboten immer neuer Zusammenstellungen von Pendants folgen zu können. Nicht jedes dieser Bilderpaare zeichnete sich durch Subtilität und Raffinesse aus. Die druckgraphischen Pendants zu Fragonards bzw. Blots Verrou deuten aber an, dass die Konkurrenz verschiedener Gegenstücke auch dazu anregen konnte, neue Vergleichshinsichten in Betracht zu ziehen und originelle Querverweise zwischen den einzelnen Blättern zu stiften. Nimmt man diese Phänomene ernst, so spricht einiges dafür, auch für die zeitgenössischen Betrachter von Bildern der Malerei oder der Druckgraphik andere, elaboriertere und zugleich kreativere Vergleichspraktiken zu erwägen. Möglicherweise dienten die Pendants und die 40
41
Sean Joseph Taylor hat in einer Studie verschiedene Erscheinungsweisen der Inkludierung von Druckgraphiken als Detailmotiv in Druckgraphiken untersucht. Eine mise-enabyme, wie sie bei Blot vorliegt, hat Taylor dabei jedoch nicht beschrieben; vgl. Sean John Taylor, Engravings within engravings. Symbolic contrast and extension in some Eighteenth-Century prints, in: Gazette des Beaux-Arts 106 (1985), 59-70. Vgl. auch Cuzin/Salmon, Fragonard. Regards croisés, 88-91.
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sie begleitende Kultur des vergleichenden Sehens nicht allein dazu, zuvor von den Künstlern festgelegte Vergleichshinsichten und Bezüge zu identifizieren und nochmals nachzuvollziehen. Mindestens so wichtig dürfte es gewesen sein, dass Bilderpaare dazu einladen konnten, ein offenes, spielerisches Vergleichen einzuüben, das unter anderem im galanten Gespräch spontan entfaltet werden konnte. Weniger der spezifische, konkrete Vergleich als das Vergleichen selbst könnte dabei im Zentrum des Interesses gestanden haben. Erst ein solches Verständnis des Vergleichens, das dessen performative Potenziale anvisiert, macht plausibel, warum sich die vergleichende Kunstbetrachtung so effektvoll in die Kultur der Konversation einbringen ließ, die das 18. Jahrhundert kennzeichnete.42 Für einen solchen Zweck waren Bilder dienlich, die zugleich »agréable« und »piquant«, vor allem aber anspielungsreich und vielfältig kombinierbar waren.
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42
Vgl. Johannes Grave, Das Jahrhundert des Geschmacks. Zur Kultur des Sinnlichen im Zeitalter der Aufklärung, in: Monika Bachtler (Hg.), Wie es uns gefällt. Kostbarkeiten aus der Sammlung Rudolf-August Oetker (Ausst.-Kat. Bielefeld, Museum Huelsmann), München 2014, 15-29.
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Faroult, Guillaume, Jean Honoré Fragonard. Le Verrou, Paris 2007. Gibson-Wood, Carol, Jonathan Richardson and the rationalization of connoisseurship, in: Art history 7 (1/1984), 38-56. Gibson-Wood, Carol, Studies in the theory of connoisseurship from Vasari to Morelli, New York 1988. Grave, Johannes, Das Jahrhundert des Geschmacks. Zur Kultur des Sinnlichen im Zeitalter der Aufklärung, in: Monika Bachtler (Hg.), Wie es uns gefällt. Kostbarkeiten aus der Sammlung Rudolf-August Oetker (Ausst.-Kat. Bielefeld, Museum Huelsmann), München 2014, 15-29. Griener, Pascal, La République de l’œil. L’expérience de l’art au siècle des Lumières, Paris 2010. Griffiths, Antony, The print before photography. An introduction to European printmaking 1550-1820, London 2016. Hédou, Jules, Noël Le Mire, 1724-1801, et son œuvre gravé, suivi du catalogue de l’œuvre gravé, Paris 1875. Hilaire, Michel/Wuhrmann, Sylvie/Zeder, Olivier (Hg.), Le Goût de Diderot. Greuze, Chardin, Falconet, David … (Ausst.-Kat. Lausanne, Fondation de l’Hermitage), Paris 2013. Kernbauer, Eva, Der Platz des Publikums. Modelle für Kunstöffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Köln 2011. Kobi, Valérie, Dans l’œil du connaisseur. Pierre-Jean Mariette (1694-1774) et la construction des savoirs en histoire de l’art, Rennes 2017. Le Blanc, Charles, Manuel de l’amateur d’estampes, Bd. 3, Paris 1857. Lévesque, Pierre-Charles, Pendant, in: Claude-Henri Watelet/Pierre-Charles Lévesque (Hg.), Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure, Paris 1792, Bd. 5, 1-3. McAllister Johnson, William, The rise and fall of the fine art print in EighteenthCentury France, Toronto 2016. McAllister Johnson, William, Anomalous pendants in late 18th-Century French prints, in: Gazette des Beaux-Arts 138 (2001), 267-280. Pognon, Edmond/Bruand, Yves, Inventaire du fonds français. Graveurs du XVIIIe siècle, Bd. IX: Ferrand – Gaucher, Paris 1962. Rosenberg, Pierre, unter Mitarbeit von Marie-Anne Dupuy, Fragonard (Ausst.-Kat. Paris, Grand Palais), Paris 1987. Roux, Marcel (unter Mitarbeit von Edmond Pognon), Inventaire du fonds français. Graveurs du XVIIIe siècle, Bd. VII: Deny (Mlle Jeanne) – Du DuyDelage, Paris 1951.
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Abbildungsnachweis Abb. 1-5, Abb. 7-8, Abb. 10-11: Courtesy National Gallery of Art, Washington. Abb. 6: The Art Institute of Chicago. Abb. 9: Archiv d. Verf.
Die Große Galerie des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn auf Schloss Weißenstein in Pommersfelden als Vergleichsanordnung Robert Eberhardt Abstract: Mit der im Schloss Weißenstein in Pommersfelden eingerichteten Großen Galerie wird eine paradigmatische Pendanthängung des 18. Jahrhunderts vorgestellt. Der Beitrag schildert die Entstehung der multiplen ›Bildertapete‹ und stellt praxeologische Fragen hinsichtlich deren Einrichtung sowie deren Wahrnehmung. Im Zentrum stehen dabei Praktiken des vergleichenden Sehens. »[…] und will erweisen, daß man auch hierzulande etwas Hübsches machen kann.« Lothar Franz von Schönborn über seine Baupläne für Pommersfelden, 17111 Im kunsthistorischen Bildgedächtnis gilt sie als exemplarische barocke Hängung, als ›Pendantwand‹ schlechthin: die Große Galerie des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn (1655-1729) im Schloss Weißenstein im fränkischen Pommersfelden nahe Bamberg. Was zeichnete diese seinerzeit und späterhin bekannte Gemäldesammlung samt ihrer spezifischen Präsentationsform aus? War die Schönborn’sche Galerie schlicht übervoll ausgestattet, Resultat einer barocken Sammel- und Schauwut, bildliches Surrogat eines horror vacui, oder folgte der kunstliebende Regent mit seiner speziellen Präsentationsstrategie bestimmten ästhetischen Vorlieben, kunsttheoretischen Setzungen und 1
Zit. nach Wilhelm Schonath, 250 Jahre Schloss Pommersfelden (1718-1968), Würzburg 1968, 21.
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Abb. 1: Johann Georg Pintz nach Salomon Kleiner, Vue interieure de la Gallerie du Coté des Appartements, Radierung und Kupferstich, 22,9 x 42,5 cm, aus: Salomon Kleiner, Representation au naturel des chateaux de Weissenstein au dessus de Pommersfeld, Augsburg 1728, Tafel 18.
kunstpraktischen Gepflogenheiten? Welche Rolle spielten beim Arrangement, der Betrachtung und dem Nachleben dieser ›Bildertapete‹ Praktiken des Vergleichens? Fordert eine derart dichte Zusammenstellung und plurale Kombination von Bildern nicht zwingend den ›vergleichenden Blick‹ ein, setzt ihn geradezu als Modus des Betrachtens voraus? Wer heute das Schloss Weißenstein im Rahmen einer Führung besucht, wird beim Betreten der Bildergalerie überrascht – und enttäuscht sein. Die beiden Stiche des Raumes nach Zeichnungen von Salomon Kleiner aus den 1720er Jahren suggerieren in ihrer panoramatischen Weite, perspektivischen Verzerrung und zeittypischen Idealisierung einen flächenmäßig überaus großen Saal, dessen Hauptwand mit einer überbordenden Hängung von Gemälden beeindruckt (Abb. 1 und 2).2
2
Vgl. dazu Uta Hasenkamp, Die Schlösser und Gärten des Lothar Franz von Schönborn. Das Stichwerk nach Salomon Kleiner (Grüne Reihe. Quellen und Forschungen zur Gartenkunst, 24), Worms 2005; Peter Prange, Salomon Kleiner und die Kunst des Architekturprospekts, Augsburg 1997.
Die Große Galerie des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn
Abb. 2: Johann Georg Pintz nach Salomon Kleiner, Vue du dedans de la Gallerie vers la Cour, Radierung und Kupferstich, 22,9 x 42,5 cm, aus: Salomon Kleiner, Representation au naturel des chateaux de Weissenstein au dessus de Pommersfeld, Augsburg 1728, Tafel 17.
Doch ganz anders die Realität: Der Besucher gelangt heute, wie damals, lediglich in einen großzügigen Gang, einen Korridor, wenn er vom überwältigenden barocken Stiegenhaus in die direkt daran anschließende Galerie tritt (Abb. 3). Beim Eintreten wird der Blick geradezu perspektivisch in diesen schlauchartigen Raum gezogen. Anschließend führt die in Relation zur geringen Raumtiefe hohe Hauptwand den Blick des Betrachters, einem optischen Sog gleich, nach oben. Das Auge sucht sich mit einiger Mühe formale Fixierungspunkte und nimmt Auffälligkeiten dankbar an, um sich nach der visuellen Raumvermessung einem einzelnen Kunstwerk anzunähern und zu widmen und eine beruhigende Arretierung des rastlosen Blickes zu erwirken. Schon leitet die Museumsführerin weiter durch die Galerie, öffnet die in der Hauptwand zentrierte Tür zum einstigen Audienzzimmer und bittet weiterzugehen. Das versuchte Wegstehlen des neugierigen Kunsthistorikers in den rechten Teil der Galerie wird mit einem strengen Kommentar untersagt, und nach kurzen, schüchtern-begehrenden Blicken zu den Tableaus rutscht der demütig zurückgeschreckte Besucher in Filzpantoffeln weiter in
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Abb. 3: Pommersfelden, Schloss Weißenstein, Große Galerie, Fotografie aus dem Jahr 1946.
den nächsten Raum des entseelten Schlosses. Er wird während der Führung nicht mehr in die Große Galerie zurückkehren dürfen. Die Schilderung des Besuchs soll verdeutlichen, welchen externen Bedingungen die Kunstbetrachtung in einem derartigen Ausstellungskontext unterliegt, wie konträr der Wunsch nach entspanntem Kunstgenuss und das wissenschaftliche Anliegen der Objektschau zu den Zugangsbedingung dieser musealen Präsentation steht. Der Zugang zur Schönborn’schen Galeriewand ist restriktiv. Ihrer Bilder ansichtig zu werden, bedarf erhöhter Anstrengung. Damals wie heute grundieren und lenken außerhalb der Verfügung des Betrachters liegende Parameter die Wahrnehmung von Bildern. Dies sind nicht
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nur die Ausgestaltung der Zugangsmöglichkeiten, sondern auch andere kuratorische Praktiken des Sicht- und Unsichtbarmachens, der ermöglichten Zeitdauer des Verharrens vor einem Bild, der kontextuellen Einbindung in die Architektur und vieles mehr. Auf den heutigen Museumsbesuch in Pommersfelden gewendet bleibt festzuhalten: Aufgrund der Struktur der Museumsführung wird dem Betrachter die autoritär gelenkte Bildwahrnehmung überhaupt erst bewusst, denn wir sind heute weitgehend gewohnt (oder täuschen uns dies vor), dass wir uns selbstbestimmt und frei einem Bild nähern, mit ihm in ›Zwiesprache‹ treten können, es kurz oder lang anblicken und in seinem räumlichen Kontext sehend vergleichen dürfen. Die fränkische Museumserfahrung könnte, im Nachhinein und nach anfänglicher Enttäuschung betrachtet, nicht besser arrangiert gewesen sein, um eine Grundkonstitution der Bildbetrachtung klar zu machen: Vor dem Blick (auf ein Bild) stehen unzählige Bedingungen.3 Nicht nur der Kunstproduktion liegen soziale Praktiken zugrunde, sondern auch der Präsentation, Vermittlung und Rezeption von Kunst. Die temporalen wie lokalen Zugangsbedingungen waren für die Pommersfeldener Bilderwand früher wie heute restriktiv gestaltet und durch ungeschriebene, eingeschliffene, nicht verbalisierte Praktiken bestimmt. Die Praxis des beschränkten Zugangs ist geradezu ein konstituierendes Element der Schönborn’schen Bildwand – und dabei das kontradiktorische Element zu ihrer beinahe unbeschränkt wirkenden Bilderflut. Um die Konstitution der Sammlung und ihrer Zurschaustellung zu verstehen, sei der Blick auf die Entstehung des Baues gerichtet: Lothar Franz ließ sein ländliches Sommerschloss in den Jahren 1711 bis 1718 erbauen und schuf damit den paradigmatischen Gründungsbau des ›fränkischen Barocks‹. In wenigen Generationen hatte die Familie Schönborn die wichtigsten Machtpositionen im Reich errungen. Lothar Franz war früh für die geistliche Laufbahn bestimmt worden und hatte eine vorzügliche Ausbildung samt Auslandsreisen genossen. Im Alter von 34 Jahren übernahm er die erste verantwortliche Aufgabe, als er von Bischof Marquard Sebastian Schenk von Stauffenberg zum Präsidenten des Bamberger Hofrates ernannt wurde. Vier Jahre später, 1693, wurde er als Fürstbischof von Bamberg Regent. Zwei Jahre danach folgten mit dem Bischofsamt von Mainz die Kurwürde und das Erzkanzleramt des Alten
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Vgl. den in Vorbereitung befindlichen Band von Johannes Grave/Joris Corin Heyder/Britta Hochkirchen (Hg.), Vor dem Blick. Materiale, mediale und diskursive Zurichtungen des Bildersehens, Bielefeld.
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Reiches, die traditionell höchste Stellung in der Reichshierarchie. 1711 krönte er Kaiser Karl VI. im Frankfurter Dom.4 Der Machtaufstieg und Einfluss des Fürstbischofs verlangte nach baulichen Manifestationen, die jedoch mehr sein sollten als reine Repräsentationsprojekte: Gerade in Pommersfelden finden wir einen sehr persönlichen Bau vor, ein Sommerschloss, das mit privaten Mitteln finanziert wurde und in dem das Repräsentationsbedürfnis mit der Leidenschaft des Sammlers und Planers zusammentraf. Der Bau zeugt von dem Vergnügen des Bischofs an der Konzeption und Durchführung von Bauaufgaben, denn Lothar Franz war bei all seinen Prachtbauten nicht bloß Auftraggeber, sondern stets ein Bauherr, der teils bis ins kleinste Detail mitdachte und konzipierte. Er beschäftigte sich mit theoretischen Schriften der Kunst und Architektur, partizipierte an Planung und Ausführung seiner Bauten und darf damit auch als ›Mastermind‹ hinter der Hängung in der Großen Galerie gesehen werden.5 Er stand mit Baumeistern wie Malern in beständigem Austausch über kunsttheoretische wie praktische Fragen. Ebenso erteilte er dezidiert Aufträge für Gemälde – und dabei, den vorgesehenen Platz im Auge, gelegentlich mit Maßangaben.6 Lothar Franz reiste auch aus dezidiert architektonischem und kunstsinnigem Interesse. Die seinerzeit bedeutendsten Bauprojekte des süddeutschen Raumes waren ihm allesamt aus persönlicher Anschauung bekannt: Ludwigsburg, Raststatt, Mannheim und München. Selbstironisch äußerte er: »Das Bauen ist eine Lust und kostet viel Geld, aber einem jeden Narren seine eigene Kappe gefällt«.7 Aufgrund des brieflichen Austausches mit seinem Neffen und späteren Erben Friedrich Carl Graf von Schönborn-Buchheim (1674-1746) sind wir unter anderem über das Baugeschehen und den Aufbau der Gemäldesammlung informiert. Wie nur selten kann bei Schloss Weißenstein der Wunsch, einer im Aufbau befindlichen Gemäldesammlung ein bauliches Gehäuse zu geben, als ein
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Vgl. Karl Georg Bockenheimer, Lothar Franz von Schönborn, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 32, Leipzig 1891, 276; Friedhelm Jürgensmeier, Lothar Franz von Schönborn, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 15, Berlin 1987, 227-228. Vgl. Walter Jürgen Hofmann, Schloss Pommersfelden. Geschichte seiner Entstehung, Nürnberg 1968. Vgl. Frank P. Bär et al., Barocke Pracht: Hofkultur im 18. Jahrhundert, in: Daniel Hess/Dagmar Hirschfelder (Hg.), Renaissance, Barock, Aufklärung: Kunst und Kultur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Die Schausammlungen des Germanischen Nationalmuseums, Bd. 3), Nürnberg 2010, 322-335, hier 332. Zit. nach Max H. von Freeden, Die Schönbornzeit. »… aus Frankens besseren Tagen…«, Würzburg 1983, 36.
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entscheidendes Motiv für einen Repräsentationsbau konstatiert werden: 1710 erbte Lothar Franz von einem Vetter die Anlage im abgelegenen Pommersfelden. Am Vorabend der Kaiserwahl von Karl VI. erhielt der Reichserzkanzler zudem am 12. Oktober 1711 eine Zuwendung von 150.000 Gulden, weil er als ranghöchster Kurfürst dessen Wahl unterstützte. Dieses Geld ermöglichte den raschen Neubau des Schlosses.8 Von Anfang an war es Teil der Planung, in diesem neuen, privat finanzierten Sommerschloss die bereits vorhandene Gemäldesammlung von Lothar Franz zusammenzuführen und hier zu präsentieren. Beide Begebenheiten erlaubten sehr rasch mit dem Bau zu beginnen. Als Baumeister wurde Johann Dientzenhofer (1663-1726) beauftragt. Am 1. Oktober 1711 begann man mit dem Bau. Ende 1712 war der Ostflügel bereits fertig. In der anfänglichen Planung war der Mittelbau sechs Fensterachsen kürzer; erst während des Bauens wurden die Proportionen des Schlosses durch die gemeinsame Bauplanung von Lothar Franz und Dientzenhofer in Franken sowie via Korrespondenz und bei einem Besuch des Neffen Friedrich Carl und des Architekten Johann Lucas Hildebrandt in Wien verändert. Erst durch die Verlängerung entstand der langgezogene Raum der Großen Galerie, dessen Stuckdecke 1714 angefertigt wurde. Als im Sommer 1715 der Mittelbau sowie der Ostflügel eingedeckt waren, begann Lothar Franz sofort mit der Hängung in der Großen Galerie. An die Große Galerie schließt sich östlich das Blumenkabinett an, das ebenfalls wandfüllend behangen war, vor allem mit kleinformatigen Stillleben und Blumendarstellungen. Dahinter folgten unmittelbar die Privatgemächer des Fürstbischofs, so dass der Galeriebereich als semiprivater Bereich bewertet werden kann. Innerhalb einer Woche hängte man mit viel Einsatz und Elan über 250 Gemälde. Um die Hauptwand lückenlos zu füllen, musste aus dem mehrere hundert Bilder umfassenden Bestand geschickt kombiniert werden, denn ein nachträgliches Beschneiden und Umrahmen soll Lothar Franz im Gegensatz zu der damals üblichen Praxis nicht gestattet haben.9 Der Fürst konnte das Neuarrangement seiner Bildschätze augenscheinlich nicht mehr abwarten, denn der benachbarte Marmorsaal sowie das Treppenhaus wurden erst
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Zur Baugeschichte des Schlosses vgl. Hasenkamp, Die Schlösser und Gärten; Hofmann, Schloss Pommersfelden; Thomas Korth, Neue Überlegungen zur Planungsgeschichte des Schlosses Pommersfelden, in: Erich Schneider/Dieter Weiß (Hg.), 1711-2011: 300 Jahre Schloss Weißenstein ob Pommersfelden, Stegaurach 2014, 81-156. Max H. von Freeden, Kunst und Künstler am Hofe des Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn, Würzburg 1949, 19.
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anschließend gewölbt und stuckiert, so dass die Bilder der Gefahr von Verschmutzung durch Baustaub ausgesetzt wurden.10 Fertiggestellt wurde das Schloss weitgehend 1718, die Vollendung der Innenausstattung zögerte sich noch bis 1723 hin.11
1.
Die Galerie als politischer Repräsentationsraum
Der im Grundriss prominent angeordnete Galerieraum diente als ein zentrales architektonisches Element der fürstlichen Repräsentation, neben dem in seiner Konstruktion und Größe neuartigen und bis dato unbekannten Treppenhaus, dem mit einer Unzahl von originalen Muscheln ausgestatteten Grottensaal, dem Spiegelkabinett und dem Festsaal. Die Große Galerie folgte einer ästhetischen Strategie der Fülle und Opulenz und sollte den Betrachter durch die Menge und Dichte an Bildern beeindrucken. Als prächtiges Bildarrangement sollte der Raum den persönlichen Geschmack und den Reichtum des Fürsten zeigen. Die antizipierte Wahrnehmung durch spätere Betrachter war beim Entwurf konstituierend: Es wurde nicht etwa ein Raum geschaffen, dessen Wandbereiche zwischen Türen, Fenstern und anderen baulichen Elementen im Nachhinein mit Kunst bestellt werden sollten, sondern der Raum wurde genuin als architektonisches Gestell einer Bilderschau konstruiert. Diese sehr durchdachte Raumplanung ging mit veränderten Praktiken des Repräsentierens einher: Bei der Pommersfeldener Galerie fokussierten sich Bauherr und Architekten lediglich auf Gemälde und folgten nicht mehr der Tradition der Kunst- und Wunderkammer, die mit einer Zusammenschau der Weltund Naturdinge ein universalistisches Weltbild widerzuspiegeln beabsichtigte. Der fürstliche Kunstsinn wurde in diesen zentralen Räumen durch das
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Bzgl. des Treppenhauses und seiner Bedeutung für den Gesamtbau vgl. Wilfried Hansmann, Die Große Gesandtentreppe von Schloß Versailles und ihre Nachwirkung auf die Treppenhäuser der Schlösser in Pommersfelden und Brühl, in: IN SITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 10 (1/2018), 83-108. Zur künstlerischen Ausgestaltung von Pommersfelden sowie den Kunstbestrebungen des Fürstbischofs vgl. ferner Walter Boll, Zur Geschichte der Kunstbestrebungen des Kurfürsten von Mainz, Lothar Franz von Schönborn, Heidelberg 1926; Hanns Fischer, Kurfürst Lothar Franz von Schönborn und seine Gemäldegalerie, Bamberg 1927; von Freeden, Kunst und Künstler; ders., Die Schönbornzeit; Joseph Heller, Die gräflich Schönborn’sche Gemäldesammlung zu Schloß Weißenstein in Pommersfelden, Bamberg 1845; Alfred Schröcker, Die Patronage des Lothar Franz von Schönborn (1655-1729), Wiesbaden 1981.
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zweidimensionale, gerahmte Bild präsentiert. Auch wenn die Pommersfeldener Galerie in den Baukörper eingebunden ist, steht sie in ihrer Selbständigkeit in ideeller Korrespondenz zu zuvor oder zeitgleich gebauten Galerieräumen oder gar eigenständigen Galeriegebäuden, wie in München, Düsseldorf, Dresden oder Salzdahlum.12 Als Lothar Franz seine Bildwand für Schloss Weißenstein konzipierte, agierte er als erfahrener Sammler und Arrangeur von Gemälden.13 In seinem Schloss Gaibach hatte er als junger Domherr bereits Architektur und Räume unter dem Gesichtspunkt, wie in ihnen Kunst ausgestellt werden kann, geplant und arrangiert. Anschließend sammelte er Erfahrungen beim Weiterbau des von seinem Vorgänger begonnenen Schlosses Seehof bei Bamberg.14 Als es zum Bau der Pommersfeldener Galerie kam, konnte der Bauherr demnach – im wortwörtlichen Sinne – auf praktische Erfahrungswerte bauen und eine Bildpräsentation in idealtypischer Weise umsetzen. Anders als viele andere Hängungen der Zeit, die sich nach vorhandenen Raumstrukturen richteten und sich in diese einfügen mussten, stellte die Bildpräsentation in Pommersfelden ein bewusst in dieser Art und Ausführung angelegtes ›Display‹ dar. Von der Gemäldesammlung des Fürstbischofs sind heute noch etwa 600 Bilder in der familiären Sammlung.15 Franz Lothar ließ über seinen Agenten,
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Vgl. dazu Étienne François, Das Zeitalter der ›Haupt- und Residenzstädte‹, in: Bénédicte Savoy (Hg.), Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701-1815, Mainz 2006, 27-33. Unter seinen Vorfahren und Verwandten befinden sich zudem viele kunstsinnige und bauaktive Persönlichkeiten. Aus der Familie seiner Mutter, eine geborene Greiffenclau, stammten zwei Würzburger Bischöfe, die Giovanni Battista Tiepolo an den Hof holten, der 1752-1753 mit den Fresken in der Würzburger Residenz die bekanntesten fränkischen Werke des kollektiven Bildgedächtnisses schuf. Von Freeden, Kunst und Künstler. Obgleich heutzutage touristisch mit dem Slogan der »größten barocken Bildersammlung Deutschlands in Privatbesitz« für das Schloss Weißenstein geworben wird, verkauft(e) die Familie von Schönborn immer wieder bedeutende Stücke der Sammlung. Katharina Bott hat 1997 anhand des ersten Inventars der Schönborn’schen Sammlung von Johann Rudolf Byss (1719), des Stichwerks von Salomon Kleiner (1728) und des letzten Katalogs der Sammlung von Theodor von Frimmel (1894) herausgefunden, dass sich zwei Drittel der von Byss beschriebenen Werke bis heute in der Sammlung befinden. Anhand eines Abgleichs der verschiedenen Quellen konnte sie die ursprüngliche Sammlung fast vollständig rekonstruieren. Der von Byss erstellte Katalog verzeichnet 480 Gemälde in den Pommersfeldener Räumen. Katharina Bott, »Nur originalia von ei-
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den Maler Jan Joost van Cossiau, im großen Stil Kunst einkaufen.16 1713 wurden bei der Versteigerung der Sammlung des englischen Königs und niederländischen Statthalters Wilhelm III. von Oranien in Amsterdam die »Caritas« von Peter Paul Rubens und zwei Arbeiten von van Dyck erworben. Eine Vorliebe besaß der Fürst für Genre-Gemälde, »sogenannte Frühstück-, Blumenund Thier-Stücke«.17 Des Weiteren gehörten Gemälde von Artemisia Gentileschi, Tizian, Jan Vermeer und Gerard van Honthorst zur Sammlung. 1713 stellte Lothar Franz den Schweizer Johann Rudolf Byss (1660-1738) als Hofmaler und Kammerdiener für Pommersfelden an, was ebenso den Stellenwert der Kunst im Bauprojekt unterstreicht, denn Byss bemalte nicht nur das Muldengewölbe des Treppenhauses mit mythologischen Szenen, das Vestibül und den Galeriebereich, sondern betreute als Kustos auch die dortige Gemäldesammlung.18
2.
Patchworks auf Zeit
Wie war die Wand also aufgebaut? Welchen Regeln folgte die Hängung? Auf dem Stich nach der Zeichnung von Salomon Kleiner sehen wir das Schönborn’sche Bildarrangement, wie es in den 1720er Jahren präsentiert wurde, also kurz nach Fertigstellung des Schlosses (Abb. 1). An der Hauptwand hängen 60 Gemälde. Ziehen wir die Spiegelachse durch die mittig gesetzte Tür und lassen die beiden zentral hängenden Werke außen vor, finden wir auf der linken Seite 30, auf der rechten Seite 28 Gemälde. Der Überschuss auf der einen Hälfte beruht auf dem Einsatz von hochkantigen, kleineren Formaten in der untersten Reihe, an deren Spiegelstelle auf der linken Hälfte querformatige, doppelt so große Leinwände hängen. Dies zeigt bereits, dass es
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nem berühmten guten maister«: Kopie oder Original in der Kunstsammlung der Grafen von Schönborn, in: Städel-Jahrbuch 16 (1997), 257-288. Vgl. von Freeden, Kunst und Künstler, 17, sowie den neu herausgegebenen Gemäldekatalog von 1721: Jan Joost van Cossiau, Delitiae imaginum, oder wohl-erlaubte Gemählde und Bilder-Lust. Die Gemäldesammlung des Lothar Franz von Schönborn in Schloss Gaibach/Unterfranken. Der Gemäldekatalog von Jan Joost van Cossiau aus dem Jahre 1721, hg. von Katharina Bott, Weimar 2000. Heller, Die gräflich Schönborn’sche Gemäldesammlung, 11. Vgl. Rudolf Bys, Fürtrefflicher Gemähld- und Bilder-Schatz. Die Gemähldesammlung des Lothar Franz von Schönborn in Pommersfelden, Weimar 1999.
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sich bei der Wand um keine absolut spiegelsymmetrische Komposition handelt, wenngleich grundsätzliche Größenparameter auf beiden Seiten gleich sind. Die Bilder hängen in vier horizontalen Reihen. Die am Übergang zur gewölbten Stuckdecke befestigten Porträts dienen als Indikatoren der sechs Kompartimente, in die die Wand vertikal eingeteilt ist. Die Rahmen der Porträts entsprechen ebenso einer spiegelsymmetrischen Ordnung: Das zentrale Porträt ist von etwas größerem Format und nur die beiden äußeren Porträts besitzen eine gewölbte obere Rahmenleiste, was den symmetrischen Rhythmus der Wandkomposition auch im Detail des Rahmens zeitigt. Die 60 Bilder der Wand fügen sich puzzlegleich ineinander. Die Bildflächen der sich auf der Spiegelachse entsprechenden Gemälde sind nicht immer exakt deckungsgleich, was die schwierige und herausfordernde Aufgabe erahnen lässt, eine Bilderwand ohne größere Lücken zwischen den Rahmen zusammenzustellen. Lothar Franz beließ die meisten Bilder in ihren bereits vorhanden Rahmen, die sich freilich ähnelten und stets mit einer Kartusche mit Künstlernamen versehen waren. Pendanthängungen waren Patchworks auf Zeit. Sie wurden umsortiert und neu arrangiert und besaßen dadurch immer einen zeitgebundenen, performativen Charakter. In ihnen kulminierte eine Sammlung angesichts momentaner Dispositive der Zurschaustellung. Aufgrund der unterschiedlichen Rahmungen behielten die Einzelbilder in der Pommersfeldener Sammlung mehr objektauratischen Einzelcharakter als etwa bei einer ähnlich dichten Hängung im anhaltinischen Schloss Mosigkau19 (Abb. 4), bei der alle Bilder mit dem gleichen, vergoldeten Rahmenprofil versehen wurden, um eine homogene Ästhetik des Displays zu erreichen und durch das einheitliche Rahmensystem ein strukturelles Netz aufzuzeigen, in dessen Feldern sich die Leinwände einfügten: Bei einer solchen Wand dienen die Bilder noch stärker als bloßes Modul eines kuratorischen Gesamtkunstwerkes, als dies bei der Wand in Pommersfelden der Fall ist, an der die unterschiedliche Rahmung zugleich eine Vorgeschichte und faktische Provenienz des Einzelbildes anzeigt und eine temporale Vorstufe in der Wand sichtbar werden lässt. Kehren wir zurück zur anfänglichen Beobachtung und damit zu den Parametern der Bildrezeption und betrachten wir aus praxistheoretischer Sicht, wie eine Pendantwand im Allgemeinen und unser fränkisches Exemplum im 19
Schloss Mosigkau wurde 1752-1757 im Rokokostil nach Plänen von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff gebaut. Die schlanke Rahmenleiste in Mosigkau wird bis heute als ›Mosigkauer Leiste‹ bezeichnet.
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Abb. 4: Dessau, Schloss Mosigkau, Großer Festsaal, Fotografie von Rudolf Hesse, 29.11.1966.
Speziellen erschlossen wurde, denn trotz der einst lückenlosen Hängung dürfen wir die fürstliche Bildzusammenstellung nicht unter dem alleinigen Gesichtspunkt der ›Fülle‹ sehen. Wäre es Lothar Franz lediglich um einen visuellen Effekt gegangen, um Besucher schlicht durch Masse zu überwältigen, hätte er als kostenbewusst denkender Bauherr und Sammler auch auf Kopien oder Werke weniger renommierter Maler zurückgreifen können. Doch er veranlasste dezidiert den Ankauf wertvoller Bilder. Und stets muss bedacht werden, dass selbst bei der übervollsten Pendantwand ihr konstituierendes Hauptelement das Einzelbild ist: Als Grundbaustein der modularen Hängung geht es dieser voraus, es kann wieder extrahiert werden, bleibt intakt, ist nicht
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wie die Pendantwand eine Collage auf Zeit. Das ›Hyperimage‹20 folgt den Einzelwerken bzw. setzt sich aus diesen zusammen. Wer durch großflächige Malerei beeindrucken wollte, ließ Wandmalereien anfertigen. Die drei in Stuck eingefassten Deckengemälde der Galerie von Carlo Cignani von 171521 bringen diese konträre Wirkungsstrategie unauffällig und doch dringlich in die Gesamtkomposition des Raumes ein. Die Pendantwand lädt zweifellos zu einem vergleichenden Sehen ein. Die Wand wird einerseits als kuratorisches Gesamtwerk erfasst, zerfällt aber, wie geschildert, beim Betrachten in die Einzelteile seiner Komposition (die Gemälde) und öffnet schier unendliche Bezüge und Interdependenzen zwischen den Einzelbildern. Jede lokale Nachbarschaft setzt zwei Gemälde in Relation und lässt sie unter verschiedenen Hinsichten abgleichen. In der symmetrisch gedachten Wand findet jedes Bild sein Pendant eigentlich an der spiegelsymmetrisch entsprechenden Stelle auf der anderen Hälfte der Wand. Ein solches Bilderpaar im Blickwechsel zu betrachten und zu vergleichen, fällt bei der vorliegenden Wand aber aufgrund der räumlichen Distanz schwer, ist teils unmöglich. Salomon Kleiners ›Raumvedute‹ aus den 1720er Jahren täuscht in dieser Hinsicht. Selbst ein Betrachter, der in der Mitte stünde und so weit wie möglich Abstand nähme, also mit dem Rücken die Scheibe des mittigen Fensters zum Ehrenhof hin berührte, könnte die Bilder der äußeren Wandbereiche nicht deutlich sehen, geschweige denn vergleichend betrachten. Die Wand fordert daher zur Bewegung auf, zum Hin- und Hergehen, wobei das Gesehene auch im Kunstgespräch verbalisiert werden konnte – oder gar sollte. Denn eine solche Szenerie zeigt der Stich nach Salomon Kleiners Zeichnung: In der rechten Ecke unterhalten sich zwei Herren, der eine sitzend mit Buch oder Zeichenblock. Vom Treppenhaus kommend treten drei Personen in den Raum, zwei davon im Gespräch begriffen. Eine weitere Person übt sich in der Nahbetrachtung und beschäftigt sich dezidiert mit einem Gemälde der unteren Reihe. Als besondere optische Delikatesse des Bildes mag der kleine Hund gelten, der über den Galerieboden von links nach rechts durch den Raum huscht und adlige Lebenspraxis als animalisches Zitat ins Bild führt.
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Zum Begriff des ›Hyperimages‹ in Bezug auf das Pendantprinzip vgl. die maßgebliche Studie: Felix Thürlemann, Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München 2013. Gemeint sind hier die Bilder Vermählung von Bacchus mit Ariadne, Der Raub der Proserpina und Perseus befreit Andromeda.
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Nicht uninteressant ist insofern auch das Pendant der Architekturveduten, namentlich der Stich der hofseitigen Raumhälfte (Abb. 2). Acht Personen sind darauf zu sehen, vier davon treten gerade in den Raum ein. Die Szenerie zeigt jedoch nicht denselben Augenblick, der aus umgekehrter Perspektive dargestellt wäre. Die vier Eintretenden werden von einem Mann, der einen stattlicheren Hund an der Leine führt, betrachtet. Dies ist der einzige wirkliche Blickwechsel in der Darstellung, denn die drei anderen Personen schauen aus dem Fenster. Von sechzehn auf beiden Abbildungen dargestellten Besuchern der Galerie betrachtet lediglich einer dezidiert ein Bild. Mit den Stichen sollte das neue Schloss Pommersfelden in all seiner Pracht und Herrlichkeit präsentiert werden – es lag Kleiner also sicherlich fern, den Galerieraum durch die Abbildung von desinteressierten Besuchern und Hunden lächerlich zu machen. Vielmehr zeugt der gesellige Aufenthalt von Personen im Galerie-Raum von der natürlich-entspannten Atmosphäre und selbstredend auch vom vordergründigen Vergnügungswillen in einem solchen barocken Raum und Schloss. Auch im Treppenhaus wurde nicht nur flink zwischen den Stockwerken gewechselt, sondern es war Ort des Aufenthaltes, des Tanzes, sogar des Speisens. Die Bildwand soll weniger eine visuelle Plattform für kunsthistorische Diskurse sein, sondern vielmehr ein Ort des freien Gesprächs und der Assoziation über Kunst und Leben. Sie unterscheidet sich in ihrer Motivation noch deutlich von späteren Pendanthängungen wie jene, die Christian von Mechel 1779 mit einem aufklärerischen, ordnenden Impetus im Wiener Belvedere schuf.22 Befragen wir die Schönborn’sche Bilderwand hinsichtlich der damit verbundenen Praktiken, eröffnet sich uns geradezu das komplette soziale Aktionsspektrum des damaligen Adels, der Kunstproduktion und der Interaktionen zwischen Sammlern und Künstlern. Der Wand sind beinahe unendlich viele Praktiken eingeschrieben, die überhaupt erst zu ihrer Entstehung führten und schließlich, aufgrund der Kontinuität von Praktiken, ihren Erhalt bis in unsere Tage sicherten. Die Große Galerie war, wie das Schloss als solches, von Anfang an auf Besucher und Außenwirkung hin angelegt. Selbstzeugnisse geben Auskunft über die Praktiken der Bildbetrachtung. Und nicht nur die Besichtigung von heutigen Besuchern wird von diversen Dispositiven bestimmt. Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth berichtete über
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Vgl. Gudrun Swoboda (Hg.), Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums, Köln/Weimar/Wien 2013.
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den Besuch des Schlosses (jedoch schon unter dem Eigentümer Friedrich Carl von Schönborn-Buchheim, Lothar Franz’ Neffe) im November 1735: »Pommersfelden ist ein großes Gebäude, dessen Mittelbau von den Flügeln getrennt ist; dieser Mittelbau hat vier Nebenflügel; er ist viereckig und sieht von weitem wie eine Steinmasse aus. Nach außen weist er viele Fehler auf, kaum aber betritt man den Hof, so ändert sich der Eindruck, den man von diesem Schlosse erhält, und man gewahrt hier eine Großartigkeit, die man zuvor nicht ahnte. Erst steigt man fünf bis sechs Stufen empor, um durch ein schmales und schwerfälliges Tor zu kommen, das den Bau sehr verunziert; man gelangt nun zu einer prachtvollen Treppe, die die ganze Höhe des Schlosses freiläßt, denn diese Treppe reicht bis zur Kuppel empor; die Decke ist mit Fresken bemalt, die Geländer sind aus weißem Marmor und mit Statuen geschmückt; diese Treppe führt zu einer großen Vorhalle mit einem marmornen Fußboden, und man betritt von hier aus einen goldverzierten Saal. Hier hängen Bilder der größten Meister, wie Rubens, Guido Reni und Paolo Veronese. Die Ausschmückung selbst gefiel mir zwar nicht. Sie war mehr die einer Kapelle als die eines Saales, und es fehlte jene edle Architektur, die die Pracht mit dem Geschmack vereint; dieser Saal läuft in zwei Zimmerreihen aus, die alle mit Bildern geschmückt sind; eines dieser Zimmer enthält eine Ledertapete, die man sehr hochhält, da sie von Raffael gezeichnet ist. Die Bildergalerie ist wundervoll; die Maler können sich hier weiden. Da ich eine große Bilderliebhaberin bin, blieb ich mehrere Stunden lang hier, um die Gemälde zu betrachten.«23 Die Schilderung der Markgräfin führt anschaulich das dramaturgisch gestaltete Annähern an die Bilder und die Zugangsbedingungen vor Augen: die Anfahrt, den Eintritt in das Schlossgelände, den Aufstieg im Treppenhaus, den Marmorsaal, verschiedene Räume, die Bildergalerie. Zahlreiche optische Eindrücke waren zu verwerten und zu bewerten, bevor die große Anzahl an Bildern sie »mehrere Stunden« fesselte.
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Annette Kolb/Ingeborg Weber-Kellermann, Eine preussische Königstochter. Glanz und Elend am Hofe des Soldatenkönigs in den Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, Frankfurt a. M. 1988, 407.
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3.
Symmetrischer Imperativ
Ein Blick soll schließlich noch auf die Symmetrie der pluralen Bildkomposition gerichtet werden, denn die achsensymmetrische Ordnung der Bildwand fügt sich in ein grundsätzlich symmetrisch konzipiertes und ausgeführtes Gebäude, ja ästhetisches Grundempfinden ein. Lothar Franz beauftragte 1714 Maximilian von Welsch mit der Gartengestaltung. Die Symmetrie des Baukörpers und des Treppenhauses wurde bei der Außenanlage aufgenommen und in einen streng symmetrisch angelegten, terrassierten Garten übertragen. Garten, Gebäude, der Innendekor und die Bildergalerie gehorchen damit dem Symmetrie-Postulat der Zeit. Einige Bilder im Schloss Weißenstein sind durch dieses bausymmetrische Denken überhaupt erst nötig und produziert worden: Zwischen den Säulen und Pilastern des Großen Saals wurden gartenseitig ovale Fenster eingebaut. Ihre entsprechenden Stellen auf der ins Gebäude reichenden Seite wurden mit ovalen Gemälden ausgestattet. Der Raum und sein Wanddekor waren dabei das ausschlaggebende Dispositiv, in dessen Dienst die Gemälde genommen wurden: Für die Bilder der Mittelzone »werden die Rahmen vorgängig angefertigt und vorhandene Gemälde eingepasst, auch durch eine ergänzende Vergrößerung, oder dann nach Maß bestellt.«24 Als Auftragswerke fertigte Frans van Stampart in Wien 1718 sechs ovale Porträts an, die die untere Zone des Saals schmücken. Lothar Franz äußerte am 12. Juni 1717 zum Bildprogramm im Saal, dass es ihm gleich sei, »was für malereistücke in den saal kommen, wan selbe nur hübsch seind und sich dafür recht schicken«.25 Man mag dies kaum glauben, mischte sich der Fürstbischof doch sonst in alle Baudetails ein – doch er war auch ein auf Fertigstellung bedachter Bauherr, der zügig einen Abschluss zu finden wünschte. Die heutige Hängung unterscheidet sich sehr von der ursprünglichen. Zwar ist die Pommersfeldener Galeriewand auch heute noch mit mehreren Bildern behangen und diese sind in zwei Reihen geordnet (die Gemälde der oberen Reihe mit schwarzer, die unteren mit goldener Rahmung), doch erreicht die Hängung in keiner Weise die Symmetrie, Dichte und Komplexität der historischen Situation der 1720er Jahre. Auch die Präsentation in den anderen Räumen lehnt sich nur sehr fern an die einstige Pendanthängung an.
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Pius Bieri, Schloss und Gartenanlage Weissenstein in Pommersfelden, URL: https:// www.sueddeutscher-barock.ch/In-Werke/h-r/Pommersfelden.html [letzter Zugriff: 05.09.2019]. Zit. nach Hofmann, Schloss Pommersfelden, 158.
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Gewiss werden Bilderpaare als solche nebeneinander präsentiert, eine Interaktion mehrerer Bilder in der Logik des Pendantsystems sucht man indes vergeblich. Das ist aus museologischer Perspektive zu bedauern, fokussiert man doch allerorten auf ›historische Authentizität‹ und Rekonstruktion. Nirgends sonst könnten die Art der barocken Hängung und die damit verbundenen Bildkonzeptionen und ästhetischen Wertvorstellungen des 18. Jahrhunderts besser museologisch präsentiert werden als hier, im fränkischen, paradigmatischen ›Bilder-Schloss‹, dem als ein Vorbild für die Würzburger Residenz auch hinsichtlich der Bedeutung des Treppenhauses wie der Bilderhängung normative, prägende Funktion attestiert werden darf. In einigen anderen Museen gab es in den letzten Jahren Bemühungen, Alte Meister wieder in der Salonhängungen zu arrangieren, so unter anderem in zwei Sälen des Kunsthistorischen Museum Wien oder bei der Bildersammlung in der fürstbischöflichen Residenz in Bamberg, ebenso ein Wirkungsort von Lothar Franz von Schönborn. Hier streben die Verantwortlichen eine Anlehnung an die Pendanthängung an, achteten dabei jedoch nicht auf entscheidende Parameter der barocken Hängung (Hierarchie der Gattung, postulierte Unvergleichbarkeit des zentrierten Meisterwerks etc.). Der dieses Arrangement erklärende Paratext des Bamberger Museums lautet: »Die 40 Gemälde sind in ihren teils originalen Rahmen an zwei Wänden ausgestellt. In einer bunten Mischung der Stile, Gattungen und Themen veranschaulichen die Gemälde die Sammel- und Präsentationsgewohnheiten der Bamberger Kirchenfürsten. Im Mittelpunkt stehen die beiden Blumenstücke Peter van Kessels, die der Antwerpener Maler 1658 in Bamberg schuf. Schlachtenbilder, Architekturstücke, Landschaften, Jagdstücke und Stilleben sind jeweils als Pendants in strenger Symmetrie seitlich, darunter und darüber gehängt. Werke von David Vinckboons, Carlo Cignani, Karel Breydel, Johann Franz Ermels, Christian Wilhelm Ernst Dietrich (Dietricy) sind zu sehen.«26 Das historische Vorbild war sicherlich auch eine Mischung von Themen und Stilen, doch das Attribut »bunt« trifft es doch eher nicht, denn neben der strengen Pendant-Symmetrie wurde unter anderen Ordnungs- und
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Präsentation auf der Homepage Domberg. Museen um den Bamberger Dom (www.domberg-bamberg.de/highlights/das-fuerstbischoefliche-kabinett-in-derbarockgalerie/ [letzter Zugriff: 28.11.2018]).
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Vergleichshinsichten gehängt. Da hier die Sammel- und Präsentationsgewohnheiten des Barocks authentisch rekonstruiert werden sollen, wäre eine sprachlich genauere und kunsthistorisch fundiertere Beschreibung wünschenswert. Letztlich zeigt dieses Beispiel auch eine Schwierigkeit, welche die Rekonstruktion historischer Hängungen mit sich bringt: Die rein ästhetischen Komponenten mögen zwar nachempfunden werden können, doch werden die der Präsentation eingeschriebenen Praktiken dabei oft übersehen, was schließlich zu einer optischen Analogie samt inhaltlichen Verschiebungen und historischer Ungenauigkeit führen kann. Nach Vorstellung des Gegenstandes, der ›Vergleichsanordnung‹ der Pommersfeldener Galeriewand, und einigen am Material ausgeführten Überlegungen, bleibt festzuhalten, dass die Galerie des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn paradigmatisch für eine barocke Hängung steht, die ein Herrscher zusammenstellte, arrangierte, änderte und die bis heute, wenn auch dezimiert und verändert, kontinuierlich Bestand hat. In besagter Galerie kondensierten persönliches Sammlungsinteresse, fürstlicher Repräsentationswille, allgemeiner und spezifischer Kunstgeschmack, kuratorische Gepflogenheiten und technisch-praktische Möglichkeiten und schufen ein Display, an dem das vergleichende Sehen als Operation der Kunstbetrachtung zu einer hohen Komplexität geführt wurde – mit oder ohne Hund.
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Abbildungsnachweis Abb. 1: © Bildarchiv Foto Marburg, Bilddatei-Nr. fm64347. Abb. 2: © Bildarchiv Foto Marburg, Bilddatei-Nr. fm64346. Abb. 3: © Bildarchiv Foto Marburg, Bilddatei-Nr. fm204281. Abb. 4: © Bundesarchiv, Bild 183-E1129-0203-007 / Fotograf: Rudolf Hesse / Lizenz CC-BY-SA 3.0.
Im Referenzraum der Zeiten Kuratorische Praktiken des Vergleichens in der Ausstellung Time is Out of Joint in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom Britta Hochkirchen
Abstract: Ausstellungen organisieren nicht nur Kunstwerke im Raum, sondern damit verbunden auch ein spezifisches Verständnis von (historischer) Zeit. Am Beispiel der Ausstellung Time is Out of Joint in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom analysiert der Beitrag die kuratorischen Praktiken des Vergleichens. Durch diese Praktiken werden tertia hervorgebracht, die immer auch eine zeitliche Dimension der Bilder (Relata) implizieren. Mittels einer Untersuchung der tertia in der Ausstellung Time is Out of Joint werden die unterschiedlichen Dimensionen von Zeitlichkeit in ihrer Ähnlichkeit und Differenz und damit auch das dieser Ausstellung implizit zugrunde liegende Geschichtsverständnis dargelegt.
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Blickwechsel: Von einem Werk zu vielen Werken
Öffentliche Sammlungen moderner Kunst zeigen nicht allein Kunstwerke, vielmehr definieren sie durch die Auswahl und die Art des Zeigens auch das Verständnis von der ›Moderne‹. Freilich geschieht dies einerseits über die Entstehungsdaten der präsentierten Werke: Sie zeigen an, wie im Kontext der Sammlung bzw. des Museums Moderne ›datiert‹ wird. Andererseits offenbart die Art und Weise, wie die Kunstwerke in den Ausstellungsräumen präsentiert werden, welche Vorstellung von historischer Zeit und damit auch von Geschichte vorherrschend ist. Wird ein Verständnis von Zeit vermittelt, das auf Linearität und Chronologie basiert, oder bietet die Ausstellung mit ihrer sichtbaren Anordnung und in den Relationen der Werke zueinander einen
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anderen Zugang zu Temporalität und Geschichte der Moderne an? Darüber hinaus: Wie wird die Gegenwart des Besuchers – die durch die leibhaftige Präsenz im Ausstellungsraum verbürgt ist – in Bezug gesetzt zu den präsentierten Kunstwerken der (vergangenen) Moderne und Gegenwart? Ausstellungen entwerfen Vorstellungen von Geschichte, ja mehr noch eine Theorie von Geschichte im Raum. Will man sie als solche verstehen, lohnt es sich, die Konstellationen zu untersuchen, in denen sie einen raum-zeitlichen Zusammenhang stiften.1 Laut Beatrice von Bismarck ist es sogar die Besonderheit des Mediums Ausstellung, »dass in ihm die historische Bezüglichkeit der Kunst auf einer Metaebene zum Ausdruck kommt«.2 Eine Ausstellung besteht selten aus nur einem Kunstwerk, vielmehr ist für dieses Genre nahezu kennzeichnend, dass eine Vielzahl von Werken in einem Raum gezeigt wird. Sobald dies der Fall ist, sieht der Betrachter jedoch das Kunstwerk nicht mehr allein – für sich –, sondern die Wahrnehmung des Einzelwerks steht unter dem Eindruck der es in spezifischer raum-zeitlicher Weise umgebenden Werke. Innerhalb der kunsthistorischen Forschung liegen bereits unterschiedliche methodische Angebote vor, wie die Analyse aussehen kann, wenn der Forschungsgegenstand kein Einzelbild, sondern eine Vielzahl von Bildern in spezifischen Konstellationen und Kontexten darstellt. Felix Thürlemann hat unter dem Begriff des »hyperimage« vorgeschlagen, eine »kalkulierte Zusammenstellung« von Bildern dahingehend ernst zu nehmen, dass sie nicht in ihrer reinen Addition aufgehe, sondern dass in ihrem Plural ein Mehrwert für die Bedeutung stecke, die mithin eine neue, übergeordnete »Einheit« bilde.3 Mit dem »hyperimage« geht nach Thürlemann auch eine spezifische Form der Wahrnehmung einher, die gerade in einem stetigen Wechsel, einer Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher »Blickeinstellung[en]« besteht: der identifi-
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Beatrice von Bismarck beschreibt die Ausstellung deshalb als eine »raum-zeitliche Konstellation«; Beatrice von Bismarck, Der Teufel trägt Geschichtlichkeit oder Im Look der Provokation: When Attitudes become Form – Bern 1969/Venice 2013, in: Eva Kernbauer (Hg.), Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Paderborn 2015, 233-248, hier 235. Bismarck, Der Teufel trägt Geschichtlichkeit, 234. Felix Thürlemann, Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München 2013, 7. Vgl. dazu auch die Einzelstudien in: Gerd Blum/Steffen Bogen/David Ganz et al. (Hg.), Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012. Vgl. jüngst Bettina Dunker, Bilder-Plural. Multiple Bildformen in der Fotografie der Gegenwart, Paderborn 2018, ebenfalls mit Bezug auf Thürlemanns Konzept (17f.).
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zierend-personalen Rezeptionshaltung gegenüber dem Einzelbild sowie dem analytisch-reflektierenden Modus gegenüber der Bildzusammenstellung, die im Modus des vergleichenden Sehens wahrgenommen wird.4 Insofern beschreibt Thürlemann »die Rezeption eines hyperimage« als einen »dynamische[n] Prozess, weil er vom Betrachter einen beständigen Wechsel zwischen Einzelwahrnehmung und vergleichender Wahrnehmung fordert«.5 Die unterschiedlichen »hyperimage-Strategien« gelte es dann auf ihre spezifische Dynamik und die sich daraus ergebende – für Thürlemann stets als vom Autor intendiert gedachte – Deutungsdimension hin zu untersuchen.6 Auch der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp hatte innerhalb seines rezeptionsästhetischen Zugangs bereits den Vorschlag unterbreitet, das Kunstwerk über seine eignen materiellen Grenzen hinaus zu analysieren. Dabei geht es ebenfalls um eine spezifische Wahrnehmung, die durch Rezeptionsbedingungen ausgelöst wird.7 Kemp unterscheidet dabei zwischen »inneren Rezeptionsvorgaben« und äußeren, kontextuellen »Zugangsbedingungen«.8 Während die inneren werkimmanent die Rezeption des Betrachters veranlassen, verstehen
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Thürlemann, Mehr als ein Bild, 15. Thürlemann, Mehr als ein Bild, 16. Thürlemann, Mehr als ein Bild, 15. Thürlemann unterstreicht deshalb auch in einem Aufsatz die intendierte Deutung, die durch den Kurator im »hyperimage« der Ausstellung zum Ausdruck kommt und analysiert werden sollte: »Der Kurator agiert heute immer häufiger selbst als Künstler, als hyperimage-Bildner, der – ohne sich auf ein allgemein akzeptiertes System von ästhetischen Werten abstützen zu können – Bilder zu Bildwerken höherer Ordnung zusammenstellt. […] Ihre [die Kuratoren, Anm. der Verf.] Bildzusammenstellung – Hängungen und Installationen – sollten, wie ich meine, als ›Bedeutungsgeneratoren‹ von den Kunsthistorikern genauso ernst genommen werden wie die Werke, die sie manipulieren, um ihnen neue Sinnfunken zu entlocken.«; Felix Thürlemann, Von der Wand ins Buch – und zurück an die Wand. Nachträgliches zu Malraux’ Musée Imaginaire, in: Gudrun Swoboda (Hg.), Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums (Europäische Museumskulturen um 1800, 2), Wien/Köln/Weimar 2013, 513-528, hier 524. Wolfgang Kemp, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, 7-28. In Hinblick auf die Bilderzählung und die Untersuchung der narrativen Eigenschaften des Bildes unterscheidet Kemp entsprechend zwischen »inneren« und »äußeren« »Leerstellen«: Wolfgang Kemp, Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung, in: ders., Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp, hg. von Kilian Heck und Cornelia Jöchner, München/Berlin 2006, 247-266, hier 251. Kemp, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, 24 [Kursivierungen im Original wurden nicht übernommen].
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sich die äußeren als Verzahnung des Kunstwerks mit Raum und Kontext seiner Präsentation.9 So steht etwa ein Altar im direkten Kontext eines Kircheninnenraums und verlangt daher eine Rezeptionshaltung der Adoration. Auf diesen kunsthistorischen Theoriebildungen und Methoden aufbauend kann die hier folgende Analyse der kuratorischen Praktiken des Vergleichens dazu beitragen, einen präzisen Einblick in die Herstellung eines Verständnisses von historischen Zeiten im Plural der Bilder innerhalb des Ausstellungsraums zu erhalten und auszuwerten. Dies ist vor allem deshalb interessant, da hier nicht nur – wie bei den Ansätzen von Kemp und Thürlemann – die von Subjekten intentional gesetzten Bedeutungsdimensionen ersichtlich werden, sondern auch diejenigen, die sich im Raum zwischen unterschiedlichen Materialien und Medialitäten im Zusammenspiel mit einem sich bewegenden Betrachter ereignen. Der Betrachter ist durch Vergleichssignale, die ihm die Konstellation im Ausstellungsraum vorgibt, aufgefordert, ein Kunstwerk jeweils unter dem Eindruck der anderen wahrzunehmen. Auf der Basis der Ähnlichkeitsannahme (es handelt sich in der Regel bei allen gezeigten Objekten um Kunstwerke) werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den gezeigten Werken, die so zu den Vergleichsrelata werden, deutlich. Kuratorische Praktiken des Vergleichens können auf diese Weise dazu führen, dass spezifische Merkmale eines Werks hervorgehoben werden, andere dafür in den Hintergrund treten. Doch ist das Vergleichen nicht immer durch den Kurator berechenbar, da es sich durch den sich im Raum bewegenden Betrachter im Zusammenspiel mit der spezifischen Materialität und Medialität der Kunstwerke performativ ereignet – und in dieser performativen Leistung auch untersucht werden muss.10 Fragt man nach den kuratorischen Prakti9 10
Kemp, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, 24. Kemp benennt hier: »Architektur, Funktionszusammenhang, Rezeptionssituation«. Die folgenden Ausführungen orientieren sich daher auch an Dieter Merschs Forderung, nicht nur nach dem »Sinn« zu fragen, sondern vielmehr auch die Materialität mit in die Analyse einzubeziehen. Gerade mit Blick auf die (temporale) Präsenz der Präsentation ist damit eine weitere Perspektive auf die zeitlichen Dimensionen von Ausstellungen gewonnen. »Überall regiert so ein Primat des Hermeneutischen, dominiert das Bedeutungsproblem, die Frage nach dem Sinn, nicht aber nach etwas, was sich selbst ausstellen oder präsentieren muß, um erscheinen zu können oder vernehmbar zu werden. […] Dagegen beharren die vorliegenden Betrachtungen auf der Unverzichtbarkeit des Sinnlichen. […] Auf seine Spur führt dabei jenes ›Andere‹, das in die Signifikation eingeht und ›rückständig‹ bleibt, insofern es durch sie selbst nicht eingeholt werden kann, und das im weitesten Sinne als Ereignis ihrer Setzung beschrieben werden kann – die Tatsache, ›daß‹ die Zeichen sind oder ›daß‹ die Strukturen sich abgezeichnet
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ken des Vergleichens, geht es also darum, einerseits eine präzise Beschreibung und Analyse der Art und Weise der Nachbarschaft, des situativen Kontexts, zu geben, und andererseits darum, zu analysieren, auf welchen unterschiedlichen Ebenen die initiierten Vergleiche liegen, welche tertia herausgebildet werden. Erst auf der Basis einer solchen Analyse lässt sich nachvollziehen, welches geschichtstheoretische Modell (von Moderne) der Ausstellung zugrunde liegt. Denn auch das vermeintlich »stillgestellte« Bild birgt zeitliche Indikatoren.11 Es gibt unterschiedliche Markierungen von Zeit und damit auch von Geschichte in der Kunst: Die Temporalität kann auf der Ebene der Materialität, des Motivs, der formalen Komposition, in der Medialität, aber auch in der Gattung und ähnlichen kunsthistorischen Referenzrahmen ersichtlich werden.12 Heinrich Theissing hat in seiner Studie die temporalen Dimensionen des Bildes in Hinblick auf drei Aspekte zu systematisieren versucht: die »historische Zeit, in der das Werk existiert«, die Zeit der Bildrezeption und die dargestellte Zeit bzw. Zeit der Darstellung.13 Gottfried Boehm und Johannes
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haben und manifest geworden sein müssen: Ereignis einer Präsenz, das wiederum an Vollzüge und Performanzen, an die spezifische Note ihrer Materialitäten gebunden ist. […] Doch unfähig, selbst Gegenstand einer Bezugnahme zu werden oder Ort einer Struktur zu sein, erscheint es zunächst nur auf der Ebene einer Negativität, d.h. als dasjenige, was dem Semiotischen oder Semiologischen entgeht – und bildet gleichwohl deren Fundament.« Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, 16. Vgl. außerdem die methodischen Erläuterungen in Johannes Grave/Christiane Holm/Valérie Kobi et al., The Agency of Display. Objects, Framings and Parerga – Introductory Thoughts, in: dies. (Hg.), The Agency of Display. Objects, Framings and Parerga (Parerga and Paratexts. How Things Enter Language. Practices and Forms of Presentation in Goethes’s Collections, 2), Dresden 2018, 7-21, hier 10-13. Mit Lessing wird häufig das Bild als Raum-Kunst gegenüber der Dichtung als ZeitKunst verstanden. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: ders., Werke und Briefe, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1985-2003, Bd. 5.2: Werke 1766-1796, hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, 11-206, hier 116: »Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farbe in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit.« Vgl. Michael Gamper/Eva Geulen/Johannes Grave et al. (Hg.), Zeit der Form – Formen der Zeit (Ästhetische Eigenzeiten, 2), Hannover 2016; Michael Gamper/Helmut Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Ästhetische Eigenzeiten, 1), Hannover 2014. Heinrich Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987, 18.
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Grave haben theoretische Angebote geliefert, wie durch bildimmanente Differenzen eine spezifische Erfahrung von Zeitlichkeit eröffnet wird: Boehm verweist hier mit der ikonischen Differenz auf eine Eigenzeitlichkeit des Bildes, Grave geht von einer rezeptionsästhetischen Temporalität aus, die den Betrachter in Zeiterfahrungen verstrickt.14 Treffen mehrere Bilder in einer Ausstellung aufeinander, treten auch diese unterschiedlichen Temporalitäten in Relation zueinander.15 Die Art und Weise, wie eine Ausstellung in ihren Konstellationen die Dimensionen von Zeitlichkeit der gezeigten Werke durch den Einsatz von kuratorischen Praktiken des Vergleichens hervorhebt oder unterminiert, führt zu einem ›Zeitregime‹ im Raum, das auch ein spezifisches Verständnis von Geschichte vermittelt. Forciert eine Ausstellung durch kuratorische Praktiken des Vergleichens etwa immer das tertium der Zeitlichkeit auf der Ebene der Materialität, so kann sie eine – vermeintlich lineare – Geschichte erzählen von Holz über Leinwand bis hin zur modernen Installation. Durch die kuratorischen Praktiken des Vergleichens werden tertia hervorgebracht, die immer auch eine zeitliche Dimension der Bilder (Relata) implizieren. Mittels einer Untersuchung der tertia werden folglich unterschiedliche Dimensionen von Zeitlichkeit in ihrer Ähnlichkeit oder Differenz analysierbar, und damit auch das einer Ausstellung implizit zugrunde liegende Geschichtsverständnis (der Moderne).
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Gottfried Boehm, Bild und Zeit, in: Hannelore Paflik (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, 1-24; Gottfried Boehm, Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11 (1/2011), 170-178, hier 174; Johannes Grave, Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Gamper/Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung, 51-72, hier 51; Johannes Grave, Form, Struktur und Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität, in: Gamper/Geulen/Grave et al. (Hg.), Zeit der Form, 139-162. Mit Perspektive auf das Vergleichen: Johannes Grave, Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen, in: Angelika Epple/Walter Erhart (Hg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt a. M. 2015, 135-159, hier 151. Vgl. dazu auch Bismarck, Der Teufel trägt Geschichtlichkeit, 235.
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Time is Out of Joint: Eine Ausstellung im Referenzraum der Zeiten
Im Jahr 2018 präsentierte die Galleria Nazionale d’Arte Moderna e C ontemporanea in Rom ihre Sammlung in neuer Weise.16 Die Ordnung nach aufeinanderfolgenden Kunststilen, -strömungen und -schulen wurde aufgegeben zugunsten einer Zeigeordnung, die Relationen und Konstellationen und deren zeitliche Indikatoren inszeniert. Unter dem Titel Time is Out of Joint 17 ging es vor allem darum, zeitliche Bezüge der Werke zueinander neu zu hinterfragen. In der Ausstellungsbroschüre fasst die Direktorin, Cristiana Collu, das Anliegen der Ausstellung deshalb wie folgt zusammen: »In this exhibition time needs to be realigned, or ›set to rights‹, by weaving new, unexpected relationships in the symbolic space of the museum in a sort of simultaneous coexistence.«18 Im Folgenden soll diesem Anliegen mit Blick auf die kuratorische Praxis nachgegangen werden, indem zwei Mikrosituationen im Ausstellungsraum exemplarisch untersucht werden. Die Analyse fragt insbesondere nach den kuratorischen Praktiken des Vergleichens, um so Aufschluss über die unterschiedlichen temporalen Bezüge zu erhalten, die diese Ausstellung jenseits einer Chronologie – die auf den Entstehungsdaten beruht – hervorzukehren sucht. Im großen Saal 0.1 im Erdgeschoss der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea sind insgesamt neun Werke im Raum verteilt zu sehen, die – in Hinblick auf die Zeiten ihrer Entstehung – die Zeitspanne von 1795 bis 2002 umfassen (Abb. 1). Aber was ist ihr verbindendes zeitliches Moment? Was zeigen diese Werke in dieser Zusammenstellung in Hinblick auf die ›Moderne‹, deren Verständnis sie in der Ausstellung überhaupt erst konstituieren? Zwei plastische Arbeiten sind in den beiden Hälften des Raumes platziert, die übrigen sieben Kunstwerke hängen in großen, unregelmäßigen Abständen an den weißen Wänden. Bereits der Kunstkritiker Brian O’Doherty hatte 16
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Die Verfasserin hat die Ausstellung im Dezember 2018 besucht. Seit 2016 wird unter dem Titel Time is Out of Joint die Sammlung immer wieder in neuen Konstellationen präsentiert. Der Titel ist inspiriert von einem Vers aus William Shakespeares Tragödie Hamlet. Der Ausspruch wurde jedoch bereits mehrfach geschichtstheoretisch gedeutet: Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neuen Interpretationen, Frankfurt a. M. 2004, 34. Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016, 303f. Vgl. englischsprachige Ausstellungsbroschüre.
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Abb. 1: Ausstellungsansicht »Time is Out of Joint« in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom. Von hinten nach vorne: Giuseppe Penone, Spaglia d’oro su spine d’acacia, 2002; Antonio Canova, Ercole e Lica, 1795-1815; Pino Pascali, 32 mq di mare circa (Detail), 1967.
den »white cube« zum paradigmatischen Raum erklärt, in dem Zeit und Geschichte erstmal ausgeschlossen werden, damit sie dann jedoch ideologisch geprägt wieder in die Ausstellung und den zugeschriebenen Wert der Werke aufgenommen werden: »Schattenlos, weiß, clean und künstlich – dieser Raum ist ganz der Technologie des Ästhetischen gewidmet. […][Die] sauberen Oberflächen [der Kunstwerke, Anm. d. Verf.] erscheinen unberührt von der Zeit und ihren Wechselfällen. Hier existiert die Kunst in einer Art Ewigkeitsauslage, und obwohl es viele Perioden und Stile gibt, gibt es keine Zeit.
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Dieses Aufgehobensein in Ewigkeit verleiht der Galerie den Charakter einer Vorhölle: man muß schon einmal gestorben sein, um dort sein zu können.«19 Die kuratorische Entscheidung, die Werke in dieser lockeren Anordnung im weißen Raum zu präsentieren, führt dazu, dass der Besucher von jedem Standort aus mehrere Werke zugleich (nämlich gleichzeitig) sieht. Die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung unterschiedlicher Werke wird jedoch durch die Platzierung von Pino Pascalis Bodenplastik aus dem Jahr 1967 und Antonio Canovas Skulptur Ercole e Lica von 1795-1815 innerhalb des Raumes differenziert, indem nicht nur Werke in der Gleichzeitigkeit nebeneinander, sondern auch – und wiederum gleichzeitig – räumlich hintereinander wahrgenommen werden können (Abb. 1). Betrachtet man exemplarisch einige der so arrangierten Konstellationen, so wird deutlich, dass das vergleichende Sehen des Betrachters herausgefordert wird, dabei aber sehr unterschiedliche Ebenen von pikturaler Temporalität in den Blick geraten. Der Betrachter kann nicht nach Belieben im Raum umhergehen, sondern muss in jedem Fall die große azurblaue und spiegelnde Bodenarbeit von Pino Pascali aus dem Jahre 1967 ›umschiffen‹: 32 mq di mare circa (Abb. 2). Das große Rechteck setzt sich aus 30 einzeln gerahmten blauen Quadraten zusammen, die zumeist Seite an Seite die übergeordnete Form bilden. Je nach Standort des Betrachters erscheinen die so organisierten Quadrate aber je in einem anderen Blauton. Einzig an einer Ecke haben sich fünf Quadrate gelöst und treiben – wie Eisschollen – in den Raum. Die Ordnung scheint hier aufgehoben bzw. im Prozess der Umbildung erfahrbar zu werden. In der Oberfläche dieser Installation spiegelt sich dann auch schon das an der Wand hängende Ölbild Grande Composizione A con nero, rosso, grigio, giallo e blu von Piet Mondrian (Abb. 2). Dieses 1919-1920 entstandene Werk weist im Vergleich erstaunliche Ähnlichkeiten in der formalen Anlage der Komposition auf: Auch hier ist eine klare Ordnung der geometrischen Formen augenfällig. Das tertium liegt folglich in der Form, und erst auf dieser Basis werden die Unterschiede wie die verschiedene Farbigkeit, Materialität und Größe deutlich. Freilich ist der Betrachter durch das vergleichende Sehen dazu veranlasst, die beiden Werke auch mit Blick auf die Ordnung und deren Verlust zu betrachten. Bricht Pascalis Werk in einer Ecke aus der gegebenen rechteckigen Metaordnung mit den einzelnen Quadraten aus, so weist Mondrians quadratische Komposition durch den Wechsel unterschiedlicher rechteckiger Formen und Farben 19
Brian O’Doherty, In der weißen Zelle/Inside the White Cube, hg. von Wolfgang Kemp, Berlin 1996, 10f.
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Abb. 2: Ausstellungsansicht »Time is Out of Joint« in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom. An der Wand: Piet Mondrian, Grande Composizione A con nero, rosso, grigio, giallo e blu, 1919-1920; auf dem Boden: Pino Pascali, 32 mq di mare circa (Detail), 1967.
eine stärkere innere »Unordnung« innerhalb der Ordnung auf. Hier eröffnet sich im Vergleich der beiden Werke ein Wechselspiel zwischen planen und plastisch-räumlichen (Ordnungs-)Formen, die sich zusätzlich in den unterschiedlichen Materialien – verzinktes Aluminium und Öl auf Leinwand – herausfordern und spiegeln. Wortwörtlich spiegelt sich der helle Schein von Dan Flavins »Leuchtskulptur« Monument for V. Tatlin aus dem Jahr 1964 in Pascalis Bodenplastik und korrespondiert gleichzeitig durch die symmetrische Pendanthängung zu bei-
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den Seiten der Tür mit Yves Kleins monochromem Gemälde International Klein Blue 199 aus dem Jahr 1958 (Abb. 3). Hier eröffnet sich im Vergleich die Ähnlichkeit monochromer Werke. Erst auf dieser Basis treten jedoch die völlig unterschiedlichen Materialien zu Tage, die jeweils auch eine unterschiedliche Form und (Im-)Materialität von Farbe und Licht in den Vordergrund treten lassen. Vergleicht man allein Kleins rechteckige blaue Arbeit mit den geometrischen Einheiten von Pascalis Bodenskulptur, tritt unmittelbar die rein formale Korrespondenz in den Fokus.
Abb. 3: Ausstellungsansicht »Time is Out of Joint« in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom. Links an der Wand: Dan Flavin, Monument for V. Tatlin, 1964; rechts an der Wand: Yves Klein, International Klein Blue 199, 1958; auf dem Boden: Pino Pascali, 32 mq di mare circa (Detail), 1967.
Aber diese Vergleichsrelation in Hinblick auf das tertium der Form ändert sich sofort, wenn durch die Bewegung des Betrachters die Perspektive auf die Relation wechselt und Flavins Lichtskulptur zusätzlich zum Relatum wird: Innerhalb dieser Vergleichskorrelation geht es dann weniger um formale Korrespondenzen oder Unterschiede, als dass vielmehr materiale und mediale Relationen in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit treten. In Kleins Werk spiegelt sich der Raum und damit auch eine relationale Landschaft zwi-
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schen Pascalis Bodenplastik (1967), Canovas Skulptur (1795-1815) und dem sich dahinter aufspannenden Panoramaformat von Giuseppe Penones Spoglia d’oro su spine d’acacia von 2002 (Abb. 1). Hier rücken im Vergleich der drei unterschiedlichen formalen, farblichen, materialen Werke vor allem die Relation der Formen und ihre Staffelungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In dieser Vergleichskonstellation geht es nicht um die Vermittlung einer höheren Bedeutung oder gar Lesart und entsprechend auch nicht um eine chronologische Narration der Kunstgeschichte, sondern um das offene und unabschließbare Spiel relationaler Qualitäten der Werke. Lineare Narrative werden innerhalb dieses Arrangements, das durch den in Bewegung befindlichen Betrachter nie stillgestellt ist, aufgebrochen zugunsten von Vergleichen auf unterschiedlichen Ebenen, die alle Indikatoren für sehr unterschiedliche Zeiten sein können: Material, Form, Motiv, Gattung bilden Relationen in der Gleichzeitigkeit des Ausstellungsraums. Dem Besucher wird durch die eingesetzten kuratorischen Praktiken des Vergleichens kein Thema einer spezifischen historischen Zeit vermittelt, sondern ein Zusammenspiel der Zeiten auf unterschiedlichen Ebenen eines Kunstwerks. Gerade das Umhergehen ermöglicht ein freies Spiel der Relationen,20 das immer wieder neue Vergleiche ermöglicht und auf diese Weise Zufälle und materielle Eigenkräfte einbindet. Auf ähnliche Weise, wenn auch mit der Hervorhebung eines anderen tertiums wirkt auch das konzentriertere Zusammenspiel zweier Werke in einem kleineren Ausstellungsraum. Alberto Burris Grande Legno G 59 aus dem Jahre 1959 zeigt bildfüllend Holzscheite, die ordentlich aufgestapelt ihre jeweils unterschiedliche Maserung an der Bildoberfläche präsentieren und mit dieser zusammenfallen. Eben jene Bildoberfläche bzw. die Schnittkanten der Holzscheite sind an zwei Stellen mit Brandflecken versehen, die sich in die Tiefe des Bildes fräsen. Das Bild und die Holzscheite werden so als Körper mit einer Tiefe und Fragilität offensichtlich. Auf der anderen Seite des kleinen Ausstellungsraumes hängen zwei Pferdekadaver von Berlinde De Bruyckere von Wand und Decke. Diese Installation, bestehend aus We are all Flesh (Istanbul) und We are all Flesh aus den Jahren 2011-2012, bietet per se schon einen Vergleich der beiden gräulichen Kadaver an: Der größere berührt den Boden des Ausstellungsraums, der kleinere bleibt in der Luft schweben. Beide Kadaver lassen den Kopf vermissen, durch ihre vertikale Hängung und ihr Volumen 20
Dieses ›freie Spiel der Relationen‹ entspricht selbst wiederum bestimmten Geschichtsbildern der Moderne, die sich auf die stets sich verändernden Verhältnisbestimmungen und Wechselverhältnisse beziehen.
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wird jedoch umso mehr ihr körperliches Gewicht, aber auch die Verletzlichkeit dieser Leiblichkeit erfahrbar. Die Installation und das Bild an der Wand sind weder auf der Ebene des Motivs oder hinsichtlich der formalen Komposition oder Gattung, noch auf der Ebene des Materials ähnlich, und doch wird durch den Vergleich das tertium der Körperlichkeit und deren Verletzlichkeit bei diesen beiden Werken hervorgehoben. Der Betrachter steht mit seinem eigenen Körper genau zwischen diesen beiden Werken und wird durch die kuratorische Entscheidung auf seine eigene Leiblichkeit verwiesen, die ebenfalls einen aktiven Part innerhalb dieses Vergleichs zugeteilt bekommt. Die kuratorischen Praktiken des Vergleichens ermöglichen hier durchaus auch einen emotionalen, leiblichen Zugang zu den unterschiedlichen Zeitschichten der Moderne.
3.
Kuratorische Praktiken des Vergleichens als Ermöglichungsraum von »Chronoferenzen«
Aber was ist durch eine solche kuratorische Praxis, die Vergleiche auf unterschiedlichen Ebenen ermöglicht, gewonnen? Die Untersuchung der unterschiedlichen Ebenen dieser Vergleiche hat gezeigt, dass es in der Ausstellung Time is Out of Joint nicht darum geht, eine fixe Bedeutung oder gar ein chronologisches Narrativ – basierend auf einem tertium, etwa dem Motiv, das sich über die Zeiten verändert – an einen Betrachter zu vermitteln.21 Über die methodischen Ansätze des »hyperimage« von Thürlemann oder der Rezeptionsästhetik von Kemp hinaus ermöglicht die Untersuchung der unterschiedlichen tertia, die die kuratorischen Praktiken hervorbringen, vor allem die Analyse der Diversität der temporalen Relationen zwischen Werken, Raum und Betrachter. Diese liegen eben nicht allein auf einer semiotisch oder motivischkompositionell fassbaren Ebene. Claire Bishop hat sich in ihrer Studie Radical Museology or, What’s ›Contemporary‹ in Museums of Contemporary Art dafür ausgesprochen, Museen und ihre Sammlungen (moderner und zeitgenössischer Kunst) darin ernst zu nehmen,
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An dieser Stelle soll deshalb auch darauf verwiesen werden, dass Praktiken des Vergleichens nicht immer intendiert sind, sondern ein Vergleichen auch Kontingenzen unterliegt. Vgl. dazu: Peter Geimer, Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen, in: Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen,München 2010, 45-69.
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dass sie das Potenzial haben, eine allzu ›flache‹ Perspektive auf die Gegenwart oder ›unsere‹ Moderne zu hinterfragen: »My argument is that museums with a historical collection have become the most fruitful testing ground for a nonpresentist, multi-temporal contemporaneity. This is in direct contrast to the commonplace assumption that the privileged site of contemporary art is the globalized biennial«.22 Was Bishop hier als ein fragwürdiges Verständnis von Gegenwart anspricht, ist von dem Geschichtsphilosophen François Hartog als »presentism« für unsere Zeit analysiert worden: Wir sind fixiert auf unsere Gegenwart, ohne dass diese in ihren Relationen zur Vergangenheit und Zukunft betrachtet wird.23 In jüngster Zeit hat der Historiker Achim Landwehr deshalb vorgeschlagen, aufbauend auf Konzepten wie Reinhart Kosellecks »Zeitschichten«,24 lineare, modernisierungstheoretische Narrative auch dadurch zu vermeiden, dass die Aufmerksamkeit stärker auf temporale Relationen gerichtet wird.25 Er bietet deshalb mit der »Chronoferenz« einen Ana22
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Claire Bishop, Radical Museology or, What’s ›Contemporary‹ in Museums of Contemporary Art?, Köln 2014, 23. Peter Osbornes Charakterisierung der notwendigen Qualitäten von Gegenwartskunst und ihrer Leistungen baut ebenso auf einem relationalen Verständnis von Zeit auf: »We do not just live or exist together ›in time‹ with our contemporaries – as if time itself is indifferent to this existing together – but rather the present is increasingly characterized by a coming together of different but equally ›present‹ temporalities or ›times‹, a temporal unity in disjunction, or a disjunctive unity of present times.« Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy and Contemporary Art, London/New York 2013, 17. François Hartog, Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York 2015 [Original 2003], 8: »As a historian who tries to be attentive to his time, I have, like many others, observed how the category of the present has taken hold to such an extent that one can really talk of an omnipresent present. This is what I call ›presentism‹ here.« Reinhart Koselleck, Zeitschichten, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 42015, 19-26. In seiner Einleitung zu dem gleichnamigen Band hatte Koselleck das Phänomen der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« als Relation zwischen den Zeiten vorgestellt: »›Zeitschichten‹ verweisen, wie ihr geologisches Vorbild, auf mehrere Zeitebenen verschiedener Dauer und unterschiedlicher Herkunft, die dennoch gleichzeitig vorhanden und wirksam sind. Auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, eines der aufschlußreichsten historischen Phänomene, wird mit ›Zeitschichten‹ auf einen gemeinsamen Begriff gebracht.« Reinhart Koselleck, Einleitung, in: ders., Zeitschichten, 9-18, hier 9. Achim Landwehr hat nun gerade diese Formulierung Kosellecks kritisiert, da mit ihr immer noch eine Hierarchie der Zeiten deutlich werde: Allein von der Gegenwart aus ließe sich die Ungleichzeitigkeit feststellen. Vgl. Achim Landwehr, Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, in: Historische Zeitschrift 295 (1/2012), 1-34. Vgl. Landwehr, Die anwesende Abwesenheit, 28.
Im Referenzraum der Zeiten
lysebegriff an, der die unterschiedlichen Ebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihrer Relation zueinander erfassen lässt:26 »Ziel müsste es sein, zu einem Verständnis von Zeit und Wandel zu gelangen, das nicht modernisierungstheoretisch funktioniert, das also ›Geschichte‹ nicht versteht als einen beständigen (und in eine Richtung verlaufenden) Prozess der andauernden Veränderung, bei dem fortlaufend Vergangenheit abgestoßen wird.«27 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft würden dann nicht mehr als dichotome Entitäten im Sinne einer »Ordnungsleistung des Nacheinander«28 begriffen, sondern gerade in ihrem Wechselverhältnis analysierbar.29 Ein solches neues Geschichtsverständnis wird von den kuratorischen Praktiken der Ausstellung Time is out of Joint befördert, indem auf die unterschiedlichen Bezüge und damit auch die Mehrdimensionalität von bildlicher Temporalität aufmerksam gemacht wird: Diese kann auf so unterschiedlichen Ebenen liegen wie etwa der Materialität, des Motivs, der stilistischenformalen Darstellung oder der Gattung.30 Damit schlägt die Ausstellung, wie sie hier auf der Basis der kuratorischen Praktiken des Vergleichens untersucht wurde, auch eine Sicht auf die Kunstgeschichte vor, die unterschiedlichen Kriterien und Hinsichten folgt: Der Fokus darf nicht nur auf allein einem Indikator liegen, nämlich der Entstehungszeit des Werks, nach der die Werke dann zeitlich sortiert werden, sondern – und hier liegen von Seiten der kunsthistorischen Forschung bereits Vorschläge etwa von George Kubler oder George Didi-Huberman vor31 – sollte auch (und womöglich sogar gleichzeitig) andere Ebenen der temporalen Relationalität als zeitliche Vektoren ernst nehmen. Nur auf diese Weise können in einem nächsten Schritt auch Rekursionen, Anachronismen und Zeitsprünge, ja multiple Zeiten der Kunstgeschichte innerhalb von Ausstellungen ihren Raum erhalten und 26 27 28 29 30
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Vgl. Landwehr, Die anwesende Abwesenheit, 28. Landwehr, Die anwesende Abwesenheit, 289. Landwehr, Die anwesende Abwesenheit, 293. Vgl. Landwehr, Die anwesende Abwesenheit, 286. Vgl. auch zu immanenten Differenzen in der temporalen Struktur von Kunstwerken Alexander Nagel/Christopher S. Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010. Vgl. in Hinblick auf die Frage von Geschichte Eva Kernbauer (Hg.), Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, München 2015; Eva Kernbauer, Anschauungsunterricht. Geschichtsarbeit in der Gegenwartskunst, in: Sabine Breitwieser (Hg.), Kunst/Geschichten, München 2014, 22-41. George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt a. M. 1982 [Originalausgabe 1962]; Georges Didi-Huberman, Remontagen der erlittenen Zeit. Das Auge der Geschichte II, Paderborn 2014.
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sichtbar werden – und mittels der Analyse der kuratorischen Praktiken des Vergleichens untersucht werden.32 Gerade weil eine Ausstellung (zumeist) kein klares räumliches Nacheinander der Kunstwerke vorgibt, sondern ein beweglicher Betrachter in Räumen Blicke schweifen lässt, ist sie der ideale Ort, um lineare, chronologische Ordnungsmuster zu hinterfragen und – gemeinsam mit der Geschichtstheorie – neue Formen eines Geschichtsverständnisses zu ermitteln: Kuratorische Praktiken des Vergleichens schaffen dabei die Grundlage dafür, dass eine Ausstellung, »anachronizes past, present and future; and reconstructs and decants a different time, while emphasizing intervals and durations, advances and setbacks«.33
Literatur Bishop, Claire, Radical Museology or, What’s ›Contemporary‹ in Museums of Contemporary Art?, Köln 2014. Bismarck, Beatrice von, Der Teufel trägt Geschichtlichkeit oder Im Look der Provokation: When Attitudes become Form – Bern 1969/Venice 2013, in: Eva Kernbauer (Hg.), Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Paderborn 2015, 233-248. Blum, Gerd/Bogen, Steffen/Ganz, David et al. (Hg.), Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012. Boehm, Gottfried, Bild und Zeit, in: Hannelore Paflik (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, 1-24. Boehm, Gottfried, Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11 (1/2011), 170-178. Buurman, Nanne, Exhibiting exhibiting. documenta 12 as a Meta-Exhibition, in: Kunsttexte 3 (2016), S. 1-13 Derrida, Jacques, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neuen Interpretationen, Frankfurt a. M. 2004. Didi-Huberman, Georges, Remontagen der erlittenen Zeit. Das Auge der Geschichte II, Paderborn 2014. 32
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Siehe dazu auch Bismarck, Der Teufel trägt Geschichtlichkeit, 235. Häufig wurde die Frage von Zeitlichkeit gerade mit Blick auf die Zeigeordnungen in Ausstellungen befragt und eben nicht auf der Ebene der Kunstwerke und den Zeitebenen, die die Ausstellung an ihnen hervorhebt. Als Beispiel für diese Analyse der Zeitlichkeit und Historizität von kuratorischen Strategien sei verwiesen auf: Nanne Buurman, Exhibiting exhibiting. documenta 12 as a Meta-Exhibition, in: Kunsttexte 3 (2016), 1-13. Englischsprachige Ausstellungsbroschüre.
Im Referenzraum der Zeiten
Dunker, Bettina, Bilder-Plural. Multiple Bildformen in der Fotografie der Gegenwart, Paderborn 2018. Gamper, Michael/Hühn, Helmut (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Ästhetische Eigenzeiten, 1), Hannover 2014. Gamper, Michael/Geulen, Eva/Grave, Johannes et al. (Hg.), Zeit der Form – Formen der Zeit (Ästhetische Eigenzeiten, 2), Hannover 2016. Geimer, Peter, Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen, in: Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, München 2010, 45-69. Grave, Johannes/Holm, Christiane/Kobi, Valérie et al., The Agency of Display. Objects, Framings and Parerga – Introductory Thoughts, in: dies. (Hg.), The Agency of Display. Objects, Framings and Parerga (Parerga and Paratexts. How Things Enter Language. Practices and Forms of Presentation in Goethes’s Collections, 2), Dresden 2018, 7-21. Grave, Johannes, Form, Struktur und Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität, in: Michael Gamper/Eva Geulen/Johannes Grave et al. (Hg.), Zeit der Form – Formen der Zeit (Ästhetische Eigenzeiten, 2), Hannover 2016, 139-162. Grave, Johannes, Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen, in: Angelika Epple/Walter Erhart (Hg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt a. M. 2015, 135-159. Grave, Johannes, Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Michael Gamper/Helmut Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Ästhetische Eigenzeiten, 1), Hannover 2014, 51-72. Hartog, François, Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York 2015 [Original 2003]. Kemp, Wolfgang, Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung, in: ders., Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp, hg. von Kilian Heck und Cornelia Jöchner, München/Berlin 2006, 247-266. Kemp, Wolfgang, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, 7-28. Kernbauer, Eva (Hg.), Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, München 2015.
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Im Referenzraum der Zeiten
Abbildungsnachweis Abb. 1: Foto: © Fernando Guerra | FG + SG. Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea. Giuseppe Penone, Spoglia d’oro su spine d’acacia, 2002/© VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Abb. 2: Foto: © Fernando Guerra | FG + SG. Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea (detail). Abb. 3: Foto: © Mattia Panunzio. Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea. Dan Flavin, Monument for V. Tatlin, 1964/© Estate of Dan Flavin/VG BildKunst, Bonn 2020; Yves Klein, International Klein Blue 199, 1958/© The Estate of Yves Klein/VG Bild-Kunst, Bonn 2020.
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Relationalität statt Kulturvergleich Zum vergleichenden Sehen im enzyklopädischen Museum Sophia Prinz
Abstract: Noch heute ordnen enzyklopädische Museen ihre Sammlungen nach den museologischen Prinzipien des 19. Jahrhunderts: Die Dinge werden nach Kunst und Nicht-Kunst, sogenannten ›Kulturkreisen‹ und Epochen aufgeteilt. Eine solche kulturvergleichende Perspektive kann jedoch das historische Gewordensein unserer gegenwärtigen, transkulturellen Gesellschaft nicht angemessen erfassen. Im Gegenteil – die Logik einer essenziellen, kulturellen Differenz wird auf diese Weise ganz selbstverständlich reproduziert. Ausgehend von einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem vergleichenden Sehen als einer Praxis, die in kulturellen Dispositiven ausgebildet wird, geht der Aufsatz der Frage nach, inwiefern Ausstellungsdisplays dazu beitragen können, ein anderes Wahrnehmungsschema einzuüben: eines, das auf die Relationalität und Verflechtung kultureller Praktiken zielt anstatt auf kulturelle Identitäten.
1.
Einleitung
Enzyklopädische Museen sind im 19. Jahrhundert mit dem Anspruch gegründet worden, die Ordnung der Welt samt ihrer historischen Entwicklung innerhalb eines einzigen, räumlich begrenzten und überschaubaren Tableaus abzubilden. Seitdem haben sich die globalen Machtverhältnisse grundlegend gewandelt. Die westlichen Museen können längst nicht mehr die Fiktion aufrechterhalten, aus dem Zentrum heraus zu sprechen. An der museologischen Ordnung der Dinge hat sich bislang jedoch kaum etwas geändert. So beginnt etwa ein Rundgang im British Museum mit der griechisch-römischen Anti-
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ke (inklusive der sogenannten »Elgin Marbles«1 ) im Erdgeschoss, die von den klassischen Geschichtswissenschaften zur ›kulturellen Wiege‹ Europas erklärt worden war, während das Zwischengeschoss und der erste Stock für Objekte aus »Amerika« und »Asien« reserviert sind. In der dritten Etage befinden sich die Abteilungen »Mittlerer Osten« und »islamische Kunst«, »ägyptische Antike« sowie die »Kunst Europas« seit dem Mittelalter. Im Kellergeschoss – und damit an einem wenig prominenten Ort – sind schließlich die Benin-Bronzen ausgestellt, die hier als »Masterpieces of African Art«2 bezeichnet werden. Die kulturellen Erzeugnisse der Welt, so legt der kursorische Blick auf den Gebäudeplan nahe, scheinen sich umstandslos in klar abgrenzbare Kulturen3 und Epochen aufteilen zu lassen. Doch nicht nur im Museum, auch im alltäglichen Gebrauch bleiben derlei Klassifikationen oftmals unhinterfragt. In den verschiedensten sozialen Kontexten und Situationen werden Dinge, Körper oder Verhaltensweisen als ›typisch‹ deutsch, arabisch, amerikanisch, japanisch etc. bzw. als ›eigen‹ oder ›fremd‹ eingestuft. Ein solches Denken und Wahrnehmen in vermeintlich feststehenden kulturellen Identitäten und Differenzen ist jedoch alles andere als selbstverständlich. So hat etwa Stuart Hall in seinen Schriften zu Rassismus und kultureller Identität 4 immer wieder betont, dass es sich bei der Identität nicht um eine positiv bestimmbare, essenzielle Eigenschaft eines Subjekts oder Objekts handelt, sondern um eine weitgehend arbiträre (bild-)diskursive Zuschreibung. Kulturelle Differenzen und Identitäten, so die These, werden erst durch eine differentielle »signifying practice« oder Politik der Repräsentation
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Zwischen 1801 und 1812 ließ Thomas Bruce, der 7. Earl of Elgin, ohne jede offizielle Genehmigung u.a. rund die Hälfte der Skulpturen und Reliefs des Parthenon in Athen abschlagen und nach London transportieren. Später verkaufte er sie an das British Museum. Zur Kritik der Übertragung des europäischen Kunstbegriffs auf afrikanische Kunst und zur Provenienzgeschichte der Benin-Bronzen siehe auch Abschnitt 4. Die traditionelle Vorstellung von Kulturen als in sich homogene und nach außen hin abgegrenzte Denk-, Sprach- und Lebenswelten einer Nation wurde Ende des 18. Jahrhunderts maßgeblich von Johann Gottfried Herder geprägt; vgl. Wolfgang Welsch, Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Dorothee Kimmich/Schamma Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld 2012, 25-40, bes. 26. Anders als viele Nationaltheorien des 19. Jahrhunderts geht Herder jedoch von einer Gleichwertigkeit aller Kulturen aus. Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität (Ausgewählte Schriften, 2), hg. von Ulrich Mehlem, Joachim Gutsche und Dorothee Bohle, Hamburg 1994.
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hergestellt:5 Dabei werden bestimmte Phänomene als charakteristisch identifiziert und nach Maßgabe einer Reihe kontingenter Kriterien verglichen, unterschieden und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Diese Praxis des Kulturvergleichs geht auf die Zeit der verstärkten europäischen Expansion und Kolonisation im 18. und 19. Jahrhundert zurück. Denn die Konstruktion eines »konstitutiven Außen«6 war nicht nur für die Stärkung der eigenen ›europäischen Identität‹ und die ideologische Untermauerung des imperialen Projekts von zentraler Bedeutung. Die epistemologische und visuelle Angleichung der in Europa unbekannten Geographien, kulturellen Erzeugnisse und Lebensweisen an die eigenen Seh- und Denkgewohnheiten sowie die daran anschließende Eingliederung in ein allumfassendes komparatives Schema stellte zudem die (bild-)diskursive Voraussetzung dafür dar, dass das ›Fremde‹ intelligibel und damit auch machttechnologisch beherrsch- und ökonomisch ausbeutbar gemacht werden konnte.7 Den unbekannten Phänomenen wurde mit anderen Worten zunächst ein vereinheitlichendes diskursives und perzeptives Raster übergestülpt, das sich über die jeweiligen lokalen Praxis- und Wissensordnungen hinwegsetzte, um sie dann als grundsätzlich ›anders‹ beschreiben zu können.8 Neben dieser epistemologischen Nivellierung und dem stereotypisierenden ›Othering‹ ist dem modernen Kulturvergleich aber noch ein weiteres gewaltsames Moment eingeschrieben. Denn die als ›anders‹ identifizierten kulturellen Praktiken
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Zur Identifizierung als Prozess siehe auch Homi Bhabha, Remembering Fanon: Self, Psyche and the Colonial Condition, in: Laura Chrisman/Patrick Williams (Hg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader, New York 1993, 112-124. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London/New York 1985, 127-134. Dieser Zusammenhang wurde insbesondere von den Postcolonial Studies und der Global History ausgearbeitet; vgl. Stuart Hall, Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität, hg. von Mehlem/Gutsche/Bohle, 137179, bes. 153; Walter D. Mignolo, On Comparison: Who is Comparing What and Why?, in: Rita Felski/Susan Stanford Friedman (Hg.), Comparison: Theories, Approaches, Uses, Baltimore 2013, 99-119; Robert Stam/Ella Shohat, Transnationalizing Comparison. The Uses and Abuses of Cross-Cultural Analogy, in: Felski/Friedman (Hg.), Comparison, 120146; Angelika Epple/Walter Erhart, Die Welt beobachten – Praktiken des Vergleichens, in: dies. (Hg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt a. M. 2015, 7-31. In diesem Sinne ist jedem Vergleich eine Ambivalenz inne: Die zu vergleichenden Entitäten müssen einander genügend ähnlich sein, um überhaupt sinnvoll unterschieden werden zu können.
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wurden nicht auf dieselbe Stufe mit den ›eigenen‹ gestellt, sondern hinsichtlich ihres vermeintlich niederen moralischen, geistigen oder ökonomischen ›Entwicklungsstands‹ in eine lineare Fortschrittsgeschichte hinter den westlichen Gesellschafts- und Kulturformen eingegliedert. Den nicht-westlichen ›Anderen‹ wurde so ganz grundsätzlich abgesprochen, an der Gegenwärtigkeit bzw. Modernität des Westens teilhaben zu können.9 Epistemologisch gefangen in einem historisch uneinholbaren ›noch nicht‹ oder kategorischen ›niemals‹ wurden sie so zu Objekten einer machtechnologischen Wissenspraxis, deren Akteur_innen sich selbst als evolutionär überlegen imaginieren konnten. Die »Auffassung, welche die Völker Europas und die westlichen Kulturen der Welt vermittelt haben, nämlich daß eine Identität aus einer einzigen Wurzel stammen müsse, die den Anderen ausschließt«, ist somit nicht nur »arrogant«, sondern auch »tödlich«.10 Davon abgesehen ist das essenzialisierende Narrativ der ›reinen‹, klar voneinander abgrenzbaren Kulturen epistemologisch nicht haltbar. So haben in den letzten Dekaden insbesondere die Postcolonial Studies, die Globalgeschichte und die Global Art History aufgezeigt, dass sich global verstreute kulturelle Praktiken und Wissensordnungen immer schon im Austausch miteinander befunden haben. In diesem Sinne besitzt auch Europa keine ursprüngliche kulturelle Identität, sondern ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen transkulturellen Verflechtungsgeschichte. Es hat – mit Nietzsche gesprochen – viele historische Herkünfte.11 Doch wie kommt es, dass sich die westlich-hegemoniale Vorstellung von eindeutig
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Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983. Edouard Glissant, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg 2005, 19. Für einen Überblick über den jüngeren Diskurs zur Globalgeschichte vgl. Sebastian Conrad/Shalini Randeria/Regina Römhild (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2013; Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013. Zur Global Art History vgl. James Elkins (Hg.), Is Art History Global? (The Art Seminar, 3), New York/London 2007; Kitty Zijlmans/Wilfried Van Damme (Hg.), World Art Studies. Exploring Concepts and Approaches, Amsterdam 2008; Kobena Mercer, Travel & See: Black Diaspora Art Practices Since the 1980s, New York 2016; Julia Allerstorfer/Monika Leisch-Kiesl (Hg.), »Global Art History«. Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft, Bielefeld 2017; Monica Juneja, »A very civil idea …«. Art History, Transculturation, and World-Making – With and Beyond the Nation, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 81 (4/2018), 461-485.
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voneinander abgrenzbaren, kulturellen Identitäten12 trotz anhaltender politischer und wissenschaftlicher Kritik nach wie vor so hartnäckig hält? Durch welche Praktiken und Medien wird die Logik des differenzierenden und hierarchisierenden Kulturvergleichs reproduziert? Wie mit dem einführenden Beispiel bereits angedeutet wurde, kann das Museum als eine der zentralen gesellschaftlichen Institutionen gelten, die das Denken in kulturellen Identitäten und Differenzen nach wie vor unhinterfragt vorauszusetzen scheinen oder zumindest nicht über die methodologischen Instrumentarien verfügen, diesem eine brauchbare Alternative entgegenzusetzen.13 Die meisten (westlichen) Museen sind nach wie vor nach den Prinzipien des 19. Jahrhunderts gegliedert. Das bedeutet, dass die Exponate in Kunst, Nicht-Kunst, europäisch-außereuropäisch, antik und modern aufgeteilt und verschiedenen Abteilungen oder gar Museumstypen zugeordnet werden. Damit wird das Paradigma des essenzialisierenden Kulturvergleichs
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Allerdings gilt es hier zwischen zwei Identitätspolitiken zu unterscheiden: Neben dem westlich-hegemonialen Diskurs, der dem ›Anderen‹ eine essentialisierende Identität von außen überstülpt, haben sich in den verschiedenen kolonialen und postkolonialen Kontexten auch Identitätspolitiken ›von unten‹ herausgebildet, die sich im Sinne einer ›Gegenidentität‹ gegen diese Fremdzuschreibung zu behaupten suchen. Wie Homi K. Bhabha, Gayatri Chakravorty Spivak oder Stuart Hall betont haben, handelt es sich dabei jedoch um eine andere Form der Identitätskonstruktion, die einen »strategischen Essentialismus« für eine widerständige Selbstbehauptung fruchtbar macht, ohne dabei die grundlegende Offenheit und Fluidität von Identifizierungen sowie die verschiedenen globalen Herkünfte von Identität zu negieren. Ein strategischer Essentialismus wurde erstmalig von Gayatri Spivak proklamiert; Gayatri C. Spivak, Subaltern Studies. Deconstructing Historiography, in: dies., In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York/London 1988, 197-221, bes. 205. Zu den verschiedenen Varianten der Identitätspolitik vgl. Lea Susemichel/Jens Kastner (Hg.), Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, Münster 2018. Im Folgenden geht es ausschließlich um den hegemonialen Identitätsdiskurs. Parallel dazu steht auch die Aufteilung der universitären Forschung in Disziplinen und Spezialdiskurse einer kulturenübergreifenden Perspektive grundsätzlich im Wege. Als eine weitere wirkmächtige Instanz des Identitätsdiskurses kann zudem die kapitalistische Markt- und Warenökonomie gelten, die strukturell auf einer radikalen Vergleichbarkeit von Werten und einer ökonomischen Ausbeutung (kultureller) Differenzen beruht, wie in jüngster Zeit vor allem im Zusammenhang mit »cultural appropriation« oder der »staged authenticity« im Tourismus diskutiert wurde, sowie – allgemeiner – in den stereotypen Repräsentation der ›Anderen‹ in audiovisuellen Medien; vgl. Stuart Hall, The Spectacle of the Other, in: ders. (Hg.), Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London/Thousand Oaks/New Delhi 1997, 223-290.
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nicht nur auf einer diskursiv-wissenschaftlichen Ebene reproduziert, sondern auch auf der Ebene der Wahrnehmung. Denn eine Sammlungspräsentation stellt allein aufgrund der Art und Weise, wie die Exponate räumlichkonstellativ zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, eine Beziehung zwischen ihnen her, die von den Betrachter_innen im Wahrnehmungsakt – vielleicht durch ein Hin- und Herblicken und ein eingehendes Studium der hervorgehobenen Details – performativ nachvollzogen wird. Gleichzeitig werden assoziative Querverbindungen zwischen Objekten, die im Nebenraum oder in ganz anderen Abteilungen ausgestellt sind, erschwert oder gar verunmöglicht. Das traditionelle Museum kann – mit anderen Worten – als ein komparatives Dispositiv verstanden werden, das aufgrund der Choreographie seiner Abteilungen und Ausstellungsdisplays nur solche perzeptiven Vergleichspraktiken ermöglicht, die zwischen den verschiedenen Kulturräumen kategorial unterscheiden. Doch was genau muss sich in der Institution Museum verändern, damit sich dieses kollektive Wahrnehmungsschema verschiebt und die Phänomene der Welt samt ihrer vielfältigen, oftmals auch widersprüchlichen Formen und Relationen in einer Weise in Erscheinung treten können, die sie nicht von vornherein auf eine bestimmte Position festlegen? Oder anders gefragt: Wie lässt sich ein Wahrnehmen einüben, das quer zu den bestehenden Kategorien und Komparativlogiken verläuft? Um dieser Frage nachzugehen, wird zunächst das vergleichende Sehen als eine kontingente, sozio-materiell bedingte Praxis ausbuchstabiert. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass jeder Wahrnehmungs- und Erkenntnisvollzug auf einer Unterscheidung und Relationierung verschiedener Entitäten basiert. Die Frage ist jedoch, wie dieser grundlegende Wahrnehmungsprozess vollzogen wird; also welche Entitäten und Details das Subjekt überhaupt als signifikant zu identifizieren gelernt hat, welche Modi der Unterscheidung ihm als zwingend erscheinen und welche Zusammenhänge und Verhältnisse ihm ins Auge fallen. Wie im Folgenden im Rekurs auf die Praxistheorie und die Leibphänomenologie näher darzustellen sein wird, laufen diese Differenzierungsprozesse weitgehend unbewusst ab. Sie beruhen auf einem impliziten Wahrnehmungsschema, welches das Subjekt durch die beständige, perzeptive und praktische Interaktion mit der Welt inkorporiert hat. Ausgehend von dieser grundlegenden Annahme wird zum einen herausgearbeitet, inwiefern jedem Wahrnehmungsvollzug eine implizite Vergleichstätigkeit innewohnt, und zum anderen die Praxis des expliziten vergleichenden Blicks im Verhältnis zu den bestehenden kulturellen Vergleichsdispositi-
Relationalität statt Kulturvergleich
ven näher bestimmt. Dabei wird auch zu diskutieren sein, ob und inwiefern das aktuelle Wahrnehmungswissen eines_r Akteurs_in von den in den diskursiven, räumlichen und visuellen Ordnungen eines Dispositivs angelegten perzeptiven Lenkungsmechanismen abweichen kann und welche Verschiebungen sich daraus ergeben können. Im letzten Teil wird das Museumsdispositiv als Medium des vergleichenden Blicks beleuchtet und am Beispiel der Ausstellung »Mobile Welten« diskutiert, ob ein Display allein aufgrund der Anordnung seiner Elemente auch solche Wahrnehmungspraktiken anregen kann, die – im Gegensatz zum Denken und Sehen in kulturellen Identitäten und Differenzen – von der Dynamik transkultureller Relationalitäten und Verflechtungen getragen werden.
2.
Wahrnehmen als Praxis
Um den kulturvergleichenden Blick, der zwischen kulturellen Identitäten eindeutig unterscheidet, als eine kontingente, sozio-materielle Praxis verstehen zu können, muss zunächst das Wahrnehmen praxistheoretisch bestimmt werden. Ausgangspunkt dafür bilden die weitgehend implizit belassenen Wahrnehmungs- und Visualitätstheorien von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, die beide als zentrale Stichwortgeber der soziologischen Praxistheorie gelten. Wie an anderer Stelle ausführlich dargestellt14 , zeichnet sich die Praxistheorie in erster Linie dadurch aus, dass sie die Reproduktion sozio-kultureller Ordnung weder von den objektiven Sozialstrukturen her denkt noch in das subjektive Sinnverstehen der einzelnen Individuen verlagert, sondern die weitgehend unbewusst ausgeführten körperlichen 14
Theodore R. Schatzki/Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001; Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (4/2003), 282-301; Hilmar Schäfer, Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013; für Praxistheorie und Wahrnehmung vgl. Sophia Prinz, Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014; Sophia Prinz, Dispositive und Dinggestalten. Poststrukturalistische und phänomenologische Grundlagen einer Praxistheorie des Sehens, in: Hilmar Schäfer (Hg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016, 181-198; Sophia Prinz, Das Tableau der ›weißen Welt‹. Wahrnehmung und Rassismus aus praxistheoretischer Perspektive, in: Susanne Gottuck/Irina Grünheid/Paul Mecheril et al. (Hg.), Sehen lernen und verlernen. Perspektiven pädagogischer Professionalisierung, Wiesbaden 2019, 45-70.
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Praktiken der sozialen Subjekte zur sozialtheoretischen Grundeinheit erhebt. In dieser Perspektive verhält sich das Subjekt also nicht nur deshalb sozial konform, weil es durch äußere Normen dazu gezwungen wird oder weil es sich bewusst dazu entscheidet, sondern weil es über ein kollektiv geteiltes, implizites ›Praxis-‹ oder ›Körperwissen‹ verfügt, mit dem es eine gegebene soziale Situation interpretiert. Das soziale Subjekt ›weiß‹ also ganz intuitiv, wie man sich auf einer öffentlichen Veranstaltung benimmt, wie man sich auf einem Flughafen zurechtfindet oder wie man sich in einem Museum zu verhalten hat. Dieses praktische Vermögen, sich in verschiedenen sozialen Situationen intuitiv zu orientieren, basiert Bourdieu zufolge auf den »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata«15 oder »Dispositionen«16 , die ein Subjekt durch die wiederholte, praktische Auseinandersetzung mit den »charakteristischen Strukturen« seiner konkreten sozialen Daseinsbedingungen erworben hat.17 Diese zu Schemata geronnenen inkorporierten Strukturen und Regeln bilden zusammengenommen den klassen- und feldspezifischen »Habitus«18 des Subjekts, der allen seinen Praktiken als generatives Erzeugungsschema zugrunde liegt.19 Foucaults Subjektivierungstheorie weist in eine ähnliche Richtung. Auch er geht von einem dezentralen Subjektmodell aus, setzt aber im Gegensatz zu Bourdieu seinen Schwerpunkt nicht auf intersubjektive Beziehungen und das implizite Körperwissen der Subjekte, sondern auf die ›objektiven‹ Ordnungen der Dispositive. Sowohl das Sag-, Denk- und Sichtbare einer Zeit als auch die Handlungsmöglichkeiten und Selbsttechnologien des Subjekts werden durch die historischen Formationen der Diskurse, Bilddiskurse, Architekturen und Artefaktordnungen samt der darin eingelassenen körperlich 15 16 17
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Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987, 101. Bourdieu, Sozialer Sinn, 129. Zu diesen sozialen Daseinsbedingungen gehören zum einen die vom Elternhaus vermittelten klassenspezifischen Arbeitsweisen, Glaubensformen, Konsumptionsgewohnheiten oder Objektwelten (Bourdieu, Sozialer Sinn, 101) sowie zum anderen die später erlernten »Spielregeln« und »kodifizierten Handlungsprogramme« bestimmter sozialer Felder (Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, 197). Bourdieu zufolge vermag der Akteur seinen im Elternhaus erworbenen klassenspezifischen »primären Habitus« (Bourdieu, Meditationen, 210) zwar nie gänzlich abzuschütteln, baut ihn aber nach Maßgabe der Felder, in denen er sich bewegt, zu einem »spezifischen Habitus« (Bourdieu, Meditationen, 210) aus. Bourdieu, Sozialer Sinn, 102.
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zentrierten Machttechnologien vorgezeichnet. Alle diese »heterogenen« Elemente bilden zusammengenommen einen gouvernementalen »Möglichkeitsraum«, der ein bestimmtes Verhalten eher wahrscheinlich macht als ein anderes.20 Inwiefern dabei auch die Wahrnehmung als ein von den Daseinsbedingungen bzw. der objektiven Welt bedingtes Praxiswissen verstanden werden kann, wird allerdings von beiden Theoretikern nur peripher oder nicht abschließend behandelt. So spricht zwar Bourdieu immer wieder von »Wahrnehmungsschemata«, wenn er die Funktionsweise des Habitus beschreibt, erläutert aber jenseits seiner Ausführungen zur Distinktionswirkung ästhetischer Geschmacksurteile nicht genauer, was er unter Wahrnehmung genau versteht und wie sich das körperlich verankerte Wahrnehmungsvermögen ausbildet. Demgegenüber hat sich Foucault in seinen frühen archäologischen Schriften relativ ausgiebig mit den historischen Bedingungen der Sichtbarkeit auseinandergesetzt. Allerdings neigt er zu diesem Zeitpunkt noch zu einer einseitigen Verabsolutierung des Diskurses, wonach alle Praktiken von den historisch spezifischen Aussageformationen abhängen.21 Folglich ist für ihn auch die Praxis des wissenschaftlichen Beobachtens kein eigenständiges Medium der Erkenntnisgewinnung. Was und wie gesehen werden kann, hängt vielmehr davon ab, welche Beziehung der Diskurs zwischen den Gegenständen der Beobachtung, ihrer räumlichen Anordnung, den Subjekten der Beobachtung, den Techniken der Wahrnehmung und den jeweiligen Wahrnehmungscodes herstellt. Auch wenn gerade in wissenschaftlichen Kontexten der Diskurs eine zentrale Rolle für die Herausbildung von Sichtbarkeiten und visuellen Zusammenhängen spielt22 , mag aus praxistheoretischer Perspektive der diskurstheoretische Ansatz jedoch nicht vollends zu überzeugen. Denn ähnlich wie die klassische (Sozial-)Phänomenologie geht auch die Foucaultsche Archäologie von einem latent kognitivistischen Subjektmodell aus, wonach der Körper und dessen Relation zur materiellen Umwelt
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Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (Band 4: 1980-1988), hg. von Daniel Defert, François Ewald und Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, 269-294. Eine Ausnahme bilden seine frühen Überlegungen zur Malerei als eine von dem Diskurs unabhängige visuelle Form. Allerdings nimmt er dieses Zugeständnis in der Archäologie des Wissens wieder zurück; vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973. Siehe dazu auch genauer: Prinz, Die Praxis des Sehens, 57ff. In jüngerer Zeit haben allerdings die Science and Technology Studies und die AkteurNetzwerk-Theorie die Bedeutung von Technik und Materialität für die Konstitution wissenschaftlichen Wissens herausgestellt.
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nur Epiphänomene sprachlich vermittelter Bedeutungen darstellen. Wahrnehmen wird hier also nicht als ein körperlicher Vollzug verstanden, sondern als ein von diskursiv vermittelten Regeln, Empfehlungen oder Zusammenhängen bedingter kognitiver Prozess. Dabei werden weder die wahrnehmungskonstitutiven »Aktionsprogramme«23 von optischen Instrumenten und Medien24 – wie beispielsweise Mikroskopen, Fernrohren oder Diaprojektoren – oder räumlich-dinglichen Konstellationen berücksichtigt noch das implizite Praxiswissen, das ein körperliches Subjekt durch den präreflexiven Umgang mit seiner sozialen und materiellen Umwelt erwirbt. Um demgegenüber das Wahrnehmungswissen als eine eingeübte, körperlich verankerte Kompetenz denken zu können, wird hier zudem auf die Phänomenologie der Wahrnehmung25 von Maurice Merleau-Ponty zurückgegriffen, die einige der fundamentalen Einsichten der aktuellen Praxistheorie vorweggenommen hat – allen voran die Thesen vom praktischen Sinn und vom impliziten Körperwissen.26 So hatte bereits Merleau-Ponty im Anschluss an Edmund Husserls Begriff des Leibes und Martin Heideggers Konzept des Daseins ein der Praxistheorie analoges dezentrales Subjektmodell anvisiert, dem zufolge das Individuum aufgrund seiner genuinen Körperlichkeit schon »zur Welt« ist (»être au monde«27 ), noch bevor es seine »Erkenntniskräfte« (Kant)28 überhaupt ausbildet.29 Dieses zur Welt-Sein ist dabei stets praktisch motiviert: Das leibliche Subjekt muss den konkreten Anforderungen, die die Welt an 23 24
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Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel, in: ders., Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, 47. So hat etwa die Medientechniktheorie den Wandel der visuellen Wahrnehmung an die historische Entwicklung der (technischen) Medien zurückgebunden. Siehe dazu exemplarisch Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964; Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996; Friedrich A. Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. Siehe dazu ausführlich Prinz, Die Praxis des Sehens, Kapitel 3.1, sowie Sophia Prinz, Das unterschlagene Erbe. Merleau-Pontys Beitrag zur Praxistheorie, in: Phänomenologische Forschungen (2/2017), 77-92. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 10. Zum Begriff der Erkenntniskraft siehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), Hamburg 1998, A234f./B287f. Um dies zu veranschaulichen, führt Merleau-Ponty in Die Struktur des Verhaltens das Beispiel des Fußballspielers ein, der den Fußballplatz nicht als ein zu analysierendes »Objekt« wahrnimmt, sondern als einen von Kraftlinien durchzogenen Raum, auf den die »praktischen Intentionen« seines Körpers ausgerichtet sind; vgl. Maurice Merleau-
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es heranträgt, durch eine »praktische« oder »fungierende Intentionalität«30 begegnen. Erst durch eine wiederholte, tätige Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Welt, so Merleau-Pontys zentrale These, bildet der Leib ein fungierendes »Körperschema«31 aus, das ihn dazu befähigt, sich in der Welt zu orientieren. Damit meint er im Grunde etwas Ähnliches wie später Bourdieu mit dem Begriff des Habitus, nämlich, dass all die praktischen Erfahrungen, die das Subjekt mit seiner (sozialen) Umwelt macht, sich im Leib oder Körper als dauerhafte Schemata oder Dispositionen sedimentieren. Während jedoch Bourdieu ganz generisch von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata spricht, nimmt für Merleau-Ponty die Wahrnehmung eine primäre Funktion gegenüber dem Denken und Handeln ein. Denn eine Praxis und bewusste Reflexion kann nur dann Anhaltspunkte in der Welt finden, wenn das Subjekt zuvor abgeschlossene Einheiten, Bewegungsmuster und Zusammenhänge als solche identifiziert hat. Dieses Vermögen zur synthetisierenden Wahrnehmung ist dem Leib jedoch nicht von vornherein gegeben, vielmehr muss er je nach Maßgabe der jeweiligen praktischen und sinnlichen Gegebenheiten lernen, sein Gesichtsfeld in sinnhafte Ding-, Körper- und Bewegungsgestalten einerseits und nicht explizit wahrgenommene Hintergründe andererseits zu unterteilen. Jeder gelungene Wahrnehmungsakt beruht somit auf einem differentiellen Prozess des Filterns, der zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Figur und Grund, Sichtbarem und Unsichtbarem unterscheidet. Wie im folgenden Abschnitt noch näher herauszuarbeiten sein wird, lässt sich also sagen, dass jedem Wahrnehmungsakt an sich schon ein Moment des Vergleichs inhärent ist. Aus der leibphänomenologischen Grundannahme, dass der Leib sein differentielles Körperschema erst innerweltlich erwirbt, folgt im Umkehrschluss, dass dem Wahrnehmen stets eine gesellschaftliche Dimension eigen ist. In diesem Sinne heißt es auch bei Merleau-Ponty, dass der Leib kein individuelles Wahrnehmungsvermögen ausbildet, sondern – vermittelt über die Sozialwelt – eine ihm vorgängige, kollektive »Wahrnehmungstradition«32 übernimmt.
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Ponty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin/New York 1976, 193f. Dieses Beispiel wird später von Bourdieu wieder aufgegriffen. Merleau-Ponty übernimmt den Begriff der Intentionalität von Husserl, verschiebt diesen aber vom Bewusstsein in das vorbewusste, praktisch-leibliche Tun; Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 15, 165ff., 488. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 123ff. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 279.
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In der Phänomenologie der Wahrnehmung werden mindestens drei konkrete Medien genannt, mittels derer der Leib diese »Wahrnehmungstradition« in sich aufnimmt: erstens der sich verhaltende Leib des Anderen, den MerleauPonty auch als den »erste[n] aller Kulturgegenstände«33 bezeichnet, zweitens die sedimentierten Bedeutungen der kollektiv geteilten »gesprochenen Sprache«34 sowie drittens – und das ist für die Frage von Ausstellungen besonders relevant – die stumme Welt der Artefakte. Die Dinge können dabei einerseits als materielle Manifestationen einer historisch spezifischen Weise des ZurWelt-Seins gelten und fordern andererseits von ihren jeweiligen Interaktionspartner_innen eine bestimmte Handhabung ein. Die Dinge verkörpern also eine »anonym[e] fungierende Intentionalität«, ein »man macht« oder »man sieht«, das von dem wahrnehmenden Leib intuitiv erfasst und aufgegriffen wird.35 Oder wie es Merleau-Ponty in Marxismus und Philosophie ausdrückt: »Der Geist einer Gesellschaft verwirklicht sich, überliefert sich und wird wahrnehmbar in den kulturellen Objekten, die sie sich gibt und mitten unter denen sie lebt. Ihre praktischen Kategorien sedimentieren sich darin, und umgekehrt legen sie den Menschen eine Seins- und Denkweise nahe.«36 Mit dieser Betonung der sozialen Aktivität der Dinge nimmt Merleau-Ponty nicht nur eine Grundthese der Akteur-Netzwerk-Theorie vorweg, sondern hilft auch die Bedingung von Wahrnehmung in Dispositiven näher zu bestimmen: Neben der Formation von Diskursen, die als historisches Apriori des Denkens gelten können, lässt sich mit Verweis auf Merleau-Pontys
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Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 400. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 459. Damit stimmt MerleauPontys Sprachkonzept in zweifacher Hinsicht mit Foucaults Begriff des Diskurses überein: Auch er interpretiert die tatsächlich gesprochene Sprache als ein »historisches Apriori«, das vom Subjekt verinnerlich wird, und geht des Weiteren davon aus, dass die Bedeutung weder im Bewusstsein präexistiert noch von einem starren System vorgezeichnet, sondern erst in der regelbasierten, diskursiven Praxis hervorgebracht wird. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Foucaults Archäologie die existentialphänomenologische Analyse des Zur-Gesellschaftseins lediglich auf eine Instanz, nämlich den Diskurs, verengt. Foucault zufolge ist es der Diskurs, der die Beziehungen und den Zusammenhalt der nicht-diskursiven Praktiken gewährleistet; siehe dazu: Foucault, Archäologie des Wissens, 106. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 399. Maurice Merleau-Ponty, Marxismus und Philosophie, in: ders., Sinn und Nicht-Sinn, München 2000, 179.
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Phänomenologie der Wahrnehmung auch das inkorporierte Wahrnehmungsschema als Resultat der praktisch-leiblichen Auseinandersetzungen mit einer kulturellen und historischen Formation dinglicher und visueller Formenkonstellationen beschreiben. Die sinnliche Ordnung der Formen, so die These, ist das historische Apriori des Wahrnehmungsvermögens. Oder wie man in Rekurs auf Bourdieus Habituskonzept noch weiter präzisieren könnte: Das Subjekt bildet sein Wahrnehmungsschema nach Maßgabe der klassen- und feldspezifischen Dispositive aus, in die es während seiner Primär- und Sekundärsozialisation durch wiederholte Interaktion involviert war.37 Wie sowohl Merleau-Ponty als auch Bourdieu herausgestellt haben, lässt sich ein solches Wahrnehmungsschema – wie alle anderen körperlichen Dispositionen – nur schwer wieder ablegen, wenn es einmal eingeübt wurde.38 Das bedeutet zum einen, dass jede Veränderung der gewohnten sinnlichen Ordnung eines Dispositivs eine grundlegende Herausforderung an das Praxiswissen des Subjekts darstellt, und zum anderen, dass das perzeptiv sozialisierte Subjekt dazu neigt, die inkorporierten Wahrnehmungsschemata auch auf solche Dispositive oder Konstellationen zu übertragen, die womöglich ein anderes Wahrnehmen erfordern. Beide Inkongruenzen zwischen Wahrnehmungsschema und Dispositiv implizieren einerseits potentiell Störungen und Konflikte, können aber andererseits auch im Sinne einer produktiven Irritation dazu führen, dass die Ordnung und Funktionsweise der Dispositive selbst einsichtig werden.39
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Bourdieus Ansatz zeichnet sich gegenüber der Subjekttheorie von Foucault dadurch aus, dass er im Anschluss an Merleau-Pontys Körperschemabegriff das inkorporierte Wissen betont. Zwar spielt die Inkorporierung der äußeren Verhältnisse spätestens seit der »genealogischen« Wende auch bei Foucault eine zentrale Rolle, aber erst in seinem Spätwerk differenziert er zwischen dem Dispositiv auf der einen und den »relativ freien« Selbsttechnologien auf der anderen Seite. Da hier jedoch nicht der Platz ist, die Parallelen und Differenzen von Bourdieus und Foucaults Subjektkonzepten und die Kompatibilität der Begriffe »Feld« und »Dispositiv« ausführlich zu diskutieren, sei an dieser Stelle auf Prinz, Die Praxis des Sehens, 319ff. verwiesen. Merleau-Ponty spricht auch von »Urgewohnheiten« (Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 116), die »nicht mehr annulliert zu werden [vermögen]« (MerleauPonty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 379). Bourdieu nennt das unerwünschte »Weiterwirken der Erstkonditionierungen« unter veränderten sozialen Bedingungen auch »Hysteresis-Effekt« (Bourdieu, Sozialer Sinn, 116f.).
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Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass jede soziale Praxis ein spezifisches ›Wahrnehmungswissen‹ verlangt, welches das situative Wahrnehmungsfeld nach Maßgabe der jeweiligen Praxisanforderungen aufteilt. Dieses für den Vollzug einer Praxis benötigte Wahrnehmungswissen erwirbt der Leib in der konkreten und wiederholten Auseinandersetzung mit den sinnlichen Ordnungen der jeweiligen gesellschaftlichen Dispositive. Das heißt, dass der Leib erst durch den praktischen Umgang mit den sinnlichen Anforderungen der sozio-materiellen Umwelt lernt, mit eben dieser Umwelt umzugehen.40 Dieses Wahrnehmungswissen ist dabei stets beschränkt – eine einfache Übertragung auf andere Dispositive, Praxiszusammenhänge oder Dingkulturen ist daher nicht ohne weiteres möglich.
3.
Implizites und explizites Vergleichen
Wie bereits in den Ausführungen zum differentiellen Sehen angedeutet wurde, beruht Merleau-Ponty zufolge jedes Wahrnehmen auf einer grundlegenden Strukturierung des Gesichtsfeldes in Wahrgenommenes und Nicht-Wahrgenommenes, in Sichtbares und Unsichtbares. Damit das Subjekt eine Gestalt positiv wahrnehmen kann, muss es gleichzeitig andere, potentiell ebenso sichtbare Teile des Gesichtsfeldes ausklammern. So heißt es in der Phänomenologie der Wahrnehmung: »Mein aktuelles Sehen ist stets umgeben von einem Horizont nicht gesehener, ja auch überhaupt nicht sichtbarer Dinge«.41 Diese wahrnehmungskonstitutive Scheidung von Gesehenem und NichtGesehenem nimmt verschiedene Formen an. Zum einen muss das sehende Subjekt, wenn es sich in der Welt praktisch orientieren will, stets zwischen Form und Hintergrund unterscheiden können. Denn
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In diesem Sinne heißt es bei Merleau-Ponty: »Das Sinnliche gibt mir nur wieder, was ich ihm leihe, doch habe ich noch dies selbst nur von ihm« (Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 252). Ebenso betont Bourdieu das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen dem praktischen Erkennen und äußerer Welt: Jedes »praktische Erkennen [sei] doppelt informiert durch die Welt, die es informiert: Zwangsläufig ist es durch die objektive Struktur der Konfiguration von Eigenschaften geprägt, die sie ihm darbietet; und es ist durch sie strukturiert vermittels der aus dem Einverleiben ihrer Strukturen hervorgegangenen Schemata, die es bei der Auswahl und der Konstruktion dieser objektiven Eigenschaften benutzt« (Bourdieu, Meditationen, 190). Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 254.
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»das Aussehen der Welt würde für uns erschüttert, wenn es uns gelänge, die Zwischenräume zwischen den Dingen als Dinge zu sehen – zum Beispiel den Raum zwischen den Bäumen auf der Straße – und umgekehrt die Dinge selbst – die Straßenbäume – als Hintergrund«.42 Eine andere Form der visuellen Rivalität zeigt Merleau-Ponty am Beispiel von Mond und Geldstück auf:43 Beide sind gleichermaßen Elemente des Präsenzfeldes, können aber de facto nicht zur gleichen Zeit fixiert werden – der Blick richtet sich entweder nur auf das kleine Objekt in der Hand oder auf den großen Himmelskörper in der Ferne. Schon diese, allen Wahrnehmungsakten inhärenten Differenzierungsleistungen beinhalten im Kern einen Grundmodus des Vergleichs: Zwei Ansichten werden danach hierarchisiert, ob sie eher zum Hintergrund gehören und damit vernachlässigbar sind oder aber zum Vordergrund und damit für die praktische Intentionalität von Belang. Eine Form kann mit anderen Worten nur dann als solche identifiziert werden, wenn sie im Vergleich mit ihrer Umgebung für die jeweils vorherrschenden Praxisanforderungen relevanter erscheint. Diese Annahme einer jedem Wahrnehmungsakt innewohnenden differentiellen Unterscheidungsleistung trifft sich mit einigen Grundthesen aus Das Vergleichen und die Relationserkenntnis des weitgehend in Vergessenheit geratenen Phänomenologen Alfred Brunswig. Ihm zufolge werden Vergleiche nicht immer und nicht vorwiegend durch ein kognitiv-bewusstes Urteil durchgeführt.44 Der Eindruck eines relationalen Verhältnisses – wie Verhältnisse der Ähnlichkeit, der Differenz oder der Steigerung – entsteht vielmehr ganz unwillkürlich in vorprädikativen Erfahrungssituationen: Ich nehme nicht nur wahr, dass heute schönes Wetter ist, sondern auch, dass es heute wärmer ist als gestern, ich sehe nicht nur, dass meine Gesprächspartnerin einen roten Pullover trägt, sondern auch, dass ihre Hose und ihr Hemd eine andere Farbe haben. Diese unwillkürliche Relationswahrnehmung entsteht sowohl in räumlich-zeitlicher Nachbarschaft von Elementen eines Wahrnehmungsfeldes45 als auch durch die sukzessive Folge von vergangenen und aktuellen Wahrnehmungen. Dabei müssen erstere im Bewusstsein nicht
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Maurice Merleau-Ponty, Das Kino und die neue Psychologie, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. von Christian Bermes, Hamburg 2003, 29-46, hier 30. Maurice Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in: ders., Das Auge und der Geist, 111-175, hier 125. Alfred Brunswig, Das Vergleichen und die Relationserkenntnis, Leipzig/Berlin 1910, 61ff. Brunswig, Das Vergleichen, 61.
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explizit präsent sein, sondern können dem Subjekt auch nur als »latentes Wissen«46 oder – wie man es praxistheoretisch formulieren würde – als »implizites Wissen« vorliegen. Etwas wahrzunehmen bedeutet somit nicht nur, die Gestalt im Vergleich zu dem bloß mitwahrgenommenen Untergrund als positive Einheit zu identifizieren, sondern auch, unwillkürliche Vergleiche mit aktuellen und vergangenen Wahrnehmungsbildern herzustellen.47 Dieser Mechanismus der intuitiven Relationswahrnehmung spielt auch in komplexeren sozialen Situationen eine Rolle: Wie sich mit Bourdieu argumentieren lässt, vermag eine Akteurin aufgrund ihres inkorporierten Praxiswissens ihre Interaktionspartnerinnen aufgrund ihres Verhaltens, ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Sprechweise intuitiv verschiedenen sozialen Feldern oder Klassen zuzuordnen. Ob sie damit immer richtig liegt oder nicht, sei einmal dahingestellt – die Grundoperation des Praxiswissens ist aber auch hier das Vergleichen. Man könnte also sagen, dass der in einer Welt praktisch tätige Leib grundsätzlich darauf ausgerichtet ist, relationale Verhältnisse – seien sie simultan oder sukzessiv – wahrzunehmen. Ein jeder Praxisvollzug beinhaltet somit stets eine implizite Vergleichstätigkeit. Sei es, um zwischen Form und Grund zu unterscheiden, um zwei Formen oder sinnliche Zustände zueinander ins Verhältnis zu setzen, oder sich spontan in einer sozialen Situation zurechtzufinden. Diese impliziten Formen der relationalen Wahrnehmung, die jeder Praxis inhärent sind, sind zu unterscheiden von den expliziten perzeptiven Vergleichspraktiken, die ein_e Akteur_in ausführt, um unter bestimmten Voraussetzungen ganz bewusst ein Verhältnis zwischen zwei sinnlichen Eindrücken herzustellen. Während erstere in jeder Situation ganz automatisch durchgeführt werden, bedürfen letztere eines spezifischen sozio-materiellen Settings oder Dispositivs, das eine Vergleichsoperation zwischen zwei oder mehreren Gegenständen oder Phänomenen ausdrücklich herstellt. Allerdings – und darauf wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein – ist davon auszugehen, dass die expliziten Vergleichspraktiken auf die implizite Vergleichswahrnehmung rückwirken und umgekehrt.
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Brunswig, Das Vergleichen, 64. Auch für Merleau-Ponty ist das Wahrnehmen keine Abfolge einzelner Wahrnehmungsbilder, sondern immer durchsetzt und geformt von »Protentionen« und »Retentionen«, vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 473.
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Wie verschiedentlich angemerkt wurde, handelt es sich bei der epistemologischen Praxis des Vergleichs im Allgemeinen – und des Kulturvergleichs im Besonderen – um ein spezifisches modernes oder neuzeitliches Phänomen.48 So hat etwa Michel Foucault anhand des analytischen Tableaus des naturhistorischen Herbariums, des »ärztlichen Blicks« in der Klinik und der Überwachung im Panopticon herausgestellt, dass sich im 17. und 18. Jahrhundert die Praktiken der (wissenschaftlichen) Beobachtung grundlegend verändern: An die Stelle des Denkens in Ähnlichkeiten tritt ein Denken in Identitäten und Differenzen, das alle Objekte und Phänomene der Welt individualisiert und in einer präzisen räumlichen Ordnung zueinander ins Verhältnis setzt.49 Dabei weisen alle modernen Vergleichsdispositive bestimmte Diskurs- und Artefaktkonstellationen auf, die auf eine Praxis des vergleichenden Sehens angelegt sind. Zu diesen Konstellationen gehört erstens, dass die Gruppe der zu vergleichenden Phänomene klar umrissen ist. Das bedeutet, dass die Formen oder Gegenstände, die aufgrund ihrer relativen Ähnlichkeit überhaupt die Basis der Vergleichbarkeit teilen, eindeutig identifizierbare sein müssen. Der Vergleich wird zweitens auf der Basis einer spezifischen räumlichen oder zeitlichen Anordnung der zu vergleichenden Phänomene gezogen. Wie diese Relationsbeziehung genau gestaltet wird, hängt dabei sowohl von der Beschaffenheit der Phänomene selbst als auch von den Hinsichten ab, unter denen sie betrachtet werden sollen. Neben der Anordnung kommen zudem drittens oftmals spezifische visuelle und diskursive Medien und Wahrnehmungstechniken zum Einsatz, um einen Aspekt oder die Struktur der zu vergleichenden Phänomene besser einsichtig zu machen. Dazu gehören beispielsweise die Doppelprojektion in der Kunstgeschichte, das Mikroskop im Labor oder die begleitenden Texte in einer Ausstellung. Wie die zu vergleichenden Phänomene jeweils angesehen werden, hängt viertens von den diskursiv oder praktisch festgelegten Wahrnehmungscodes oder Hinsichten ab, unter denen sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. So kann etwa ein Renaissance-Gemälde ganz anders erscheinen, je nachdem ob es hinsichtlich formalästhetischer und stilistischer Kriterien oder auf-
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Siehe etwa Bettina Heintz, »Wir leben im Zeitalter der Vergleichung.« Perspektiven einer Soziologie des Vergleichs, in: Zeitschrift für Soziologie 45 (5/2016), 305-323, hier 309; Epple/Erhart, Die Welt beobachten, 14; Mignolo, On Comparison, 99. Siehe dazu ausführlich: Prinz, Die Praxis des Sehens, Kapitel 2.1.
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grund des ökonomischen Werts der verwendeten Pigmente ausgestellt und beurteilt wird.50 Schließlich muss fünftens die_der Akteur_in, die_der den Vergleich durchführt, über ein mehr oder weniger spezifisches Wahrnehmungs- und Praxiswissen verfügen, um die von dem Dispositiv vorgezeichneten Praxisregeln und Wahrnehmungscodes befolgen und die Differenzen, Ähnlichkeiten oder Qualitäten der zu vergleichenden Phänomene erkennen zu können. Sie oder er muss also die jeweilige Praxis des Vergleichs eingeübt haben. Besonders deutlich wird dieses inkorporierte Wahrnehmungswissen bei professionalisierten Sehpraktiken:51 Eine Kunsthistorikerin, die das komparative Schema der Doppelprojektion durch jahrelange Einübung internalisiert hat, setzt womöglich zwei nebeneinander ausgestellte Objekte ganz intuitiv im Hinblick auf Herkunft, Epoche, Stil, Komposition, Technik usw. zueinander in Beziehung, ignoriert aber unter Umständen solche Details oder Zusammenhänge, die dem kunsthistorischen Vergleichsdispositiv nicht entsprechen.52 Demgegenüber vermag ein ›undisziplinierter‹ Blick solche Formen und Aspekte an einer künstlerischen Arbeit wertzuschätzen, die sich mit lebensweltlichen Erfahrungen in Verbindung bringen lassen,53 ist aber womöglich nicht dazu in der Lage, eine impressionistische von einer expressionistischen Malweise zu unterscheiden oder ein typisches holländisches Seestück als solches zu identifizieren. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass das vergleichende Sehen zum einen ein multidimensionales Dispositiv voraussetzt, dessen 50 51
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Siehe dazu etwa Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A primer in the social history of pictorial style, Oxford 1972. Siehe dazu etwa Charles Goodwin, Professional Vision, in: American Anthropologist 96 (3/1994), 606-633; Regula Valérie Burri, Bilder als soziale Praxis. Grundlegungen einer Soziologie des Visuellen, in: Zeitschrift für Soziologie 37(4/2008), 342-358, sowie Hanna Katharina Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld 2015, Sektion IV. Zur Disziplinierung des vergleichenden Sehens in der Kunstgeschichte siehe Johannes Grave, Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen, in: Epple/Erhart (Hg.), Die Welt beobachten, 135-159, bes. 150ff. Bourdieu zufolge zeichnet es den »illegitimen Geschmack« aus, dass er nicht von den Inhalten des Dargestellten zugunsten der formalen Gestaltung und dem praktischen Funktionalismus der alltagsweltlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata abstrahieren kann, vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, 604.
Relationalität statt Kulturvergleich
diskursive, räumliche, visuelle, materielle und performative Ordnungen eine Vergleichsrelation zwischen zwei oder mehreren Phänomenen herstellen, und zum anderen eine_n Akteur_in, die_der über entsprechende Wahrnehmungs- und Praxiskompetenzen verfügt. Gerade letzteres macht deutlich, dass der Übergang zwischen den impliziten Formen des Vergleichs, die jeder Wahrnehmung zugrunde liegen, und der expliziten, bewusst ausgeführten visuellen Vergleichspraxis fließend sind: Die in der primären Sozialisation gewonnenen Wahrnehmungsschemata bedingen, welche feldspezifischen Wahrnehmungsformen ausgebildet werden können, und umgekehrt verändert die einmal eingeübte Vergleichspraxis die Formen und Modi des impliziten Vergleichs. Die Relationen, die man durch beständige Einübung in Vergleichsdispositiven wahrzunehmen gelernt hat, werden intuitiv auch auf solche Dispositive übertragen, die andere perzeptive Anforderungen verlangen.
4.
Das Museumsdispositiv
Im oben skizzierten Sinne kann auch das enzyklopädische Museum als ein multidimensionales Vergleichsdispositiv charakterisiert werden,54 das aufgrund der konstellativen Anordnung seiner Elemente eine komparative Praxis nahelegt, die zwischen verschiedenen Kulturen sowie dem »Westen und dem Rest«55 klar unterscheidet. So haben etwa die interdisziplinären Museum Studies im Anschluss an Foucault herausgestellt, dass das räumliche Layout des Museums nicht nur darauf ausgerichtet ist, die Museumsbesucher_innen im Sinne der modernen Disziplinarmacht zu »normalisieren«56 . Indem es die Sammlungsobjekte 54
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Siehe hierzu auch den Beitrag von Britta Hochkirchen in diesem Band sowie Britta Hochkirchen, Genealogies of Modernism. Curatorial Practices of Comparing in the Exhibitions Cubism and Abstract Art and documenta I, in: Angelika Epple/Walter Erhart/Johannes Grave (Hg.), Practices of Comparing. Towards a New Understanding of a Fundamental Human Practice, Bielefeld 2020, 349-375. Hall, Der Westen und der Rest. Siehe dazu Eileen Hooper-Greenhill, Museums and the Shaping of Knowledge, London, 1992, 167ff.; Tony Bennett, The Birth of the Museum: History, Theory, Politics, London/New York 1995; Carol Duncan, Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums, London/New York 1995, sowie für einen Überblick über die Museum Studies: Ivan Karp/Steven D. Lavine (Hg.), Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington/London 1991; Reesa Greenberg/Bruce W. Ferguson/Sandy Nairne, (Hg.), Thinking About Exhibi-
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nach den systematischen Klassifikations- und Historisierungsprinzipien der neuen human- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufteilt und anordnet, reproduziert und stabilisiert es zudem das ›Macht-Wissen‹ der Moderne. Der ›Ordnung des Museums‹ war mit anderen Worten von vornherein eine eurozentrische und nationalistische Fortschrittsgeschichte der Vernunft eingeschrieben. In diesem Sinne heißt es bei Tony Bennett: »The birth of the museum is coincident with, and supplied a primary institutional condition for, the emergence of a new set of knowledges – geology, biology, archaeology, anthropology, history and art history – each of which, in its museological deployment, arranged objects as parts of evolutionary sequences (the history of the earth, of life, of man, and of civilization) which, in their interrelations, formed a totalizing order of things and peoples that was historicized through and through.«57 Wie Vertreter_innen der Postcolonial Studies wiederholt aufgezeigt haben, basiert diese eurozentrische Fortschrittsgeschichte der Vernunft nicht nur auf einer systematischen Verdrängung der »dunklen« Seite der Moderne,58 sprich der kolonialen Ausbeutung eines Großteils der Welt, sondern auch auf einer (epistemologischen) Appropriation und einem damit verbundenen ›Othering‹ nicht-westlicher Subjektivierungsformen und kultureller Praktiken. Diese doppelte Bewegung von Verdrängung einerseits sowie Appropriation und ›Othering‹ andererseits schlägt sich im modernen Museumsdispositiv in verschiedenen Operationen nieder: erstens in dem mangelnden kritischen Umgang mit der kolonialen Provenienzgeschichte ethnologischer Artefakte59 sowie mit kolonialen und rassistischen Stereotypisierungen in der europäischen Kunst60 ; zweitens in der grundsätzlichen Trennung der im Sinne der modernen Ästhetik als ›Bildende Kunst‹ kategorisierten europäischen
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tions, London/New York 1996, und Sharon MacDonald (Hg.), A Companion to Museum Studies, Malden, Mass./Oxford 2006. Bennett, The Birth of the Museum, 96. Walter D. Mignolo, Delinking: The Rhetoric of Modernity, the Logic of Coloniality and the Grammer of De-Coloniality, in: Cultural Studies 21 (2-3/2007), 449-514. In Deutschland hat sich die Debatte vor allem im Zusammenhang mit der Kritik am Humboldt Forum entzündet. Siehe etwa Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte, in: Beatrice von Bismarck/Irene Below (Hg.), Globalisierung, Hierarchisierung: Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg 2005, 19-38.
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(bzw. westlichen) Bildwerke und der als bloße ›Ethnographica‹ oder ›materielle Kultur‹ verstandenen kulturellen Erzeugnisse aus anderen Regionen der Welt; drittens in der Aufgliederung von Museumsabteilungen in verschiedene Epochen und (nationale) Kulturräume, wobei allen nicht-europäischen Kulturräumendie Möglichkeit einer genuinen Modernität abgesprochen wird,61 sowie viertens in der jeweiligen Zusammenstellung, Narrativierung und ästhetischen Gestaltung der Displays. Während etwa Kunstwerke aus dem europäischen Raum individualisiert und mit genügend Abstand und wenig Zusatzinformationen voneinander gehängt werden, um einen ›kontemplativen Blick‹ und ein eingehendes Studium ästhetischer Eigenheiten zu befördern, wurden beispielsweise ›Ethnographica‹ aus afrikanischen Ländern ihres eigentlichen Bedeutungs-, Wahrnehmungs- und Praxiskontexts entkleidet und nach Maßgabe des ethnologischen Wissens in didaktische Konstellationen oder Dioramen zusammengefügt, die eine ästhetische Betrachtung kaum zuließen.62 Durch die Choreographie der Räume und Displays wird somit eine Gruppe von Dingen als einander genügend ähnlich ausgewiesen (die europäische Kunst), während alle anderen Dinge – wie etwa Bronzemasken aus Benin, Porzellanschalen aus China oder Pashminaschals aus Kaschmir – räumlich, formal und diskursiv abgekoppelt werden. Der im klassischen enzyklopädischen Museum eingeübte Blick beruht demnach auf zweierlei Formen oder Ebenen des Kulturvergleichs: zum einen auf der klassischen kunsthistorischen Vergleichspraxis, die die als ›europäisch‹ identifizierten Kunstwerke in bestimmte regionale und historische Gruppen unterteilt (italienische Renaissancegemälde, flämische Stillleben, französische Landschaftsmalerei etc.) und mithilfe stilhistorischer Kriterien zueinander ins Verhältnis setzt, und zum anderen auf einer strikten Differenzierung von europäischen und nicht-europäischen Kulturkreisen, wobei alle nicht-europäischen Kulturen einer eurozentrischen Fortschrittsgeschichte 61
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Dies schlägt sich auch sammlungsstrategisch nieder: Moderne islamische Kunst, die nach 1800 entstanden ist, wird beispielsweise von den europäischen Museen kaum gesammelt, siehe Mirjam Shatanawi, Curating against Dissent: Museums and the Public Debate on Islam, in: Christopher Flood/Stephen Hutchings/Galina Miazhevich et al. (Hg.), Political and Cultural Representations of Muslims. Islam in the Plural, Leiden/Boston 2012, 177-192. Henrietta Lidchi, The Poetics and the Politics of Exhibiting Other Cultures, in: Hall (Hg.), Representation, 151-222; Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch, Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006; Susanne Leeb, Asynchrone Objekte, in: Texte zur Kunst 23 (91/2013), 40-61.
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gemäß untereinander hierarchisiert und hinter der europäischen Kultur als Kulminationspunkt einer als universal verstandenen zivilisatorischen Entwicklung eingeordnet werden. All diese Ebenen des Vergleichs beruhen letztlich auf der von Foucault identifizierten Logik von (kultureller) Identität und Differenz. In diesem Sinne erhalten die Exponate ihre Bedeutung durch ihre jeweils eindeutig bestimmbare, fixierte Position innerhalb eines eurozentrischen komparatistischen Tableaus, das die gesamte Welt abzubilden vorgibt. Aspekte, Relationen oder Artefakte, die diesem komparatistischen Wahrnehmungsschema nicht entsprechen, werden ausgeblendet oder gar nicht erst in das Tableau aufgenommen. Dazu zählen vor allem Objekte, die offensichtlich Verflechtungsgeschichte in sich tragen und daher nicht einfach ›identifiziert‹ werden können. Wie bereits einleitend angemerkt, ist aber das Museum nicht das einzige Dispositiv, das einen kulturvergleichenden Blick nahelegt – vielmehr handelt es sich um eine übergeordnete Wahrnehmungs-, Denk- und Praxisordnung, die alle gesellschaftlichen Bereiche der westlichen Moderne – wie die Schule, die Universität, aber auch die audiovisuellen Medien, die Konsumkultur oder den Tourismus durchzieht. In all diesen Dispositiven wird das Denken und Wahrnehmen in (kulturellen) Identitäten und Differenzen durch praktische Interaktion mit verschiedenen diskursiven und nicht-diskursiven Ordnungen eingeübt. Es wird auf diese Weise zum Teil des impliziten, also unbewusst ausgeführten Wahrnehmungswissens, mit dem das Subjekt in alltäglichen Zusammenhängen Phänomene oder Zusammenhänge intuitiv zu erfassen sucht – oder um es anders auszudrücken: Das kulturelle ›Othering‹ gehört zum kollektiven Wahrnehmungsschema der Moderne. Allerdings lassen sich die Welten innerhalb und außerhalb des Museums nicht (mehr) so ohne weiteres zur Deckung bringen. Das liegt nicht nur daran, dass der bildungsbürgerliche Kanon allgemein an Relevanz eingebüßt hat: Kaum ein_e Museumsbesucher_in verfügt noch über das Wissen, das den »Civilizing Rituals«63 der modernen enzyklopädischen Museen zugrunde liegt. Diese Inkongruenz von Museumsdispositiv und alltäglichen Wahrnehmungsschemata hat auch damit zu tun, dass die kulturellen Codes der gegenwärtigen post-migrantischen Gesellschaft64 ungleich heterogener und vielschichtiger sind, als es die Macht-Wissens-Komplexe des 19. Jahrhunderts vorge63 64
Duncan, Civilizing Rituals. Zum Begriff »post-migrantisch« siehe etwa: Erol Yildiz/Marc Hill (Hg.), Nach der Migration: Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, Bielefeld 2015.
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sehen haben. Im Zeitalter einer rapiden Globalisierung, Medialisierung und transnationalen Migration überlagern sich verschiedene Lebenswelten und Praktiken, die die imaginären Grenzen zwischen dem Westen und dem Rest permanent unterlaufen. Ein Dispositiv, das dennoch an national begrenzten, kulturellen Identitäten festhält, kann demnach weder die Komplexität und die Dynamiken der gegenwärtigen Welt noch ihr historisches Gewordensein erfassen.65 Die Frage ist also, wie Museen (und andere Institutionen) dazu beitragen können, das kollektive Wahrnehmungsschema an die praktischen, epistemologischen, perzeptiven und politischen Anforderungen der Gegenwart anzupassen: Wie müssen die bestehenden Sammlungen, die unter dem Vorzeichen des identifizierenden Kulturvergleichs entstanden sind, neu geordnet und präsentiert werden, um den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen gerecht zu werden? Welche epistemologischen Perspektivwechsel und welche Expertisen sind hierfür von Nöten?
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Vom Kulturvergleich zur Relation?
Im angloamerikanischen Raum wurden spätestens seit den 1980er Jahren Versuche unternommen, den Aporien des ethnologischen Museums mit neuen Ausstellungskonzepten zu begegnen.66 Eine der dabei zum Einsatz gebrachten Displaystrategien setzte bei dem epistemologischen Status der Sammlungsobjekte an: Anstatt sie als ›Ethnographica‹ zu präsentieren, die ohne den ethnologischen Metadiskurs nicht zu verstehen sind, wurden sie analog zu Kunstwerken der westlichen Moderne nach formalästhetischen Gesichtspunkten ausgestellt. Der bis dato für die westliche autonome Kunst reservierte ›ästhetische Blick‹ wurde somit auf afrikanische Artefakte übertragen, die auf diese Weise selbst zu Kunstwerken stilisiert wurden. Dieser Ansatz greift jedoch insofern zu kurz, als hier die Kategorien und Displayformen lediglich gewechselt, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Zwar mag es aus eurozentrischer Perspektive einer Aufwertung gleichkommen, wenn
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Siehe dazu exemplarisch Sharon MacDonald, Museums, National, Postnational and Transcultural Identities, in: Museum and Society 1 (1/2003), 1-16. Susan Vogel, Always True to the Object, in Our Fashion, in: Karp/Lavine (Hg.), Exhibiting Cultures, 191-204.
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vormals als ›rituelle Objekte‹ oder ›materielle Kultur‹ ausgewiesene Artefakte nunmehr als ›Kunst‹ präsentiert werden, den Artefakten selbst und ihren lebendigen Bedeutungen und Funktionen wird diese Überformung jedoch genauso wenig gerecht.67 Eine weitere Strategie, die sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat, ist die künstlerische Intervention: Dabei werden die ethnologischen Ausstellungsdispositive selbst zum Gegenstand einer künstlerischen Auseinandersetzung, die im Sinne der »institutional critique« die Arbitrarität und kolonialen Herkünfte von Sammlungen und Displays offenlegt.68 Auch wenn diese Eingriffe die Grundproblematiken des ethnologischen Museumsdispositivs aufzeigen, reichen auch sie oftmals nicht weit genug. Denn als bloß temporäre und auf einige wenige Objekte beschränkte Gesten rühren sie nicht an den diskursiven und machttechnologischen Grundfesten der Institution und können im Zweifel sogar dazu dienen, diese unter der Hand weiterhin zu stabilisieren.69 Eine Umgestaltung der Museumsdispositive muss mit anderen Worten tiefer ansetzen und ein Gegenmodell zu den etablierten Formen des Kulturvergleichs anbieten. Einen Ansatzpunkt dafür bilden Theorien der (globalen) Relationalität, wie sie etwa von dem postkolonialen Literurwissenschaftler und Philosophen Edouard Glissant ausgearbeitet worden sind. Angesichts der Erfahrungen der Jahrhunderte währenden Kreolisierung im karibischen
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Ein ähnliches Problem zeigt sich auch in der Ausstellung »Unvergleichlich«, die seit 2017 im Bode-Museum in Berlin zu sehen ist; vgl. Julien Chapuis/Jonathan Fine/Paola Ivanov (Hg.), Unvergleichlich. Kunst aus Afrika im Bode-Museum, Berlin 2017. Siehe dazu bspw. Clementine Deliss (Hg.), Objekt Atlas. Feldforschungen im Museum, Bielefeld/Berlin 2012; Leeb, Asynchrone Objekte; Martin Heller/Andrea Scholz/Agnes Wegner (Hg.), Prinzip Labor. Museumsexperimente im Humboldt Lab Dahlem, Berlin 2015. Die Debatte um das ethnologische Museum umfasst zudem u.a. auch Fragen der Zusammenarbeit mit sogenannten »Source Communities«, der Vermittlung sowie der Restitution. Leider kann hier nicht auf alle Aspekte eingegangen werden. Für einen Überblick siehe etwa Iris Edenheiser/Larissa Förster (Hg.), Museumsethnologie – Eine Einführung. Theorien – Debatten – Praktiken, Hamburg 2019. Siehe parallel dazu auch den Diskurs zu Rassismus, Migration und Museum; bspw.: Lorraine Bluche/Christine Gerbich/Susan Kamel et al. (Hg.), NeuZugänge. Museen, Sammlungen und Migration. Eine Laborausstellung, Bielefeld 2013; Natalie Bayer/Belinda Kazeem-Kamiński/Nora Sternfeld (Hg.), Kuratieren als antirassistische Praxis, Berlin 2017. Siehe auch aktuelle Debatten zur kulturellen Teilhabe und Vermittlung; Mark Terkessidis, Kollaboration, Berlin 2015; Carmen Mörsch/Angeli Sachs/Thomas Sieber (Hg.), Ausstellen und Vermitteln im Museum der Gegenwart, Bielefeld 2016.
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Raum hat Glissant in kritischer Fortführung von Theorien der Négritude, der französischen Existenzphilosophie und der postphänomenologischen Ansätze von Gilles Deleuze hervorgehoben, dass kulturelle Identitäten nicht als ein für alle Mal fixiert angesehen werden können.70 Aufgrund des relationalen Verhaftetseins des Subjekts mit der Welt und ihren Erscheinungen sind sie vielmehr stets im Wandel begriffen. In diesem Sinne fordert er dazu auf, das exkludierende Denken in Identitäten durch ein Denken der »Spur« abzulösen: »[W]ir müssen uns einem Denken der Spur annähern, einem Denken ohne System, das weder beherrschend, noch systematisch, noch bezwingend ist, sondern stattdessen vielleicht ein nicht-systematisches, intuitives, brüchiges, ambivalentes Denken, das der außerordentlichen Komplexität und der außerordentlichen Vielfältigkeit der Welt, in der wir leben, am besten gerecht wird.«71 Es gilt mit anderen Worten, das komparative Denken und Wahrnehmen in Identitäten und Differenzen durch eine andere Form der Relationierung zu ersetzen – eine Relationierung, die zwar kulturelle Differenzen anerkennt, sie aber de-essenzialisiert und an die Unvorhersehbarkeiten und Polysemien globalhistorischer Dynamiken und Migrationserfahrungen rückbindet.72 Für das Museumsdispositiv bedeutet ein solches Umdenken zunächst, die Sammlungsobjekte nicht mehr als in sich geschlossene Entitäten zu betrachten, die sich in ein starres klassifikatorisches Raster einpassen lassen, sondern sie als fluide Elemente – oder »Mittler« (Latour) – eines hochdynamischen, globalen Netzwerks zu verstehen. Anstatt bei der ›kulturellen Identität‹ der Dinge anzusetzen, zielt eine kuratorische Praxis der Relationalität vielmehr darauf, die transkulturellen Zwischenräume und weitverzweigten Verflechtungen zwischen ihnen offenzulegen. Oder wie man es in Rekurs auf Merleau-Pontys leibphänomenologische Analyse des Gestaltwahrnehmens formulieren könnte: Der relationale Blick konzentriert sich nicht auf die ›positiven‹ Gestalten, die von dem kollektiven Wahrnehmungsschema 70 71 72
Siehe Edouard Glissant, Poetics of Relation, Ann Arbor 1997, sowie Glissant, Kultur und Identität. Glissant, Kultur und Identität, 21. Ähnlich argumentiert auch die Literaturwissenschaftlerin Shu-mei Shih, siehe: ShuMei Shih, Comparison as Relation, in: Felski/Stanford Friedman (Hg.), Comparison, 7998. Für eine transkulturelle Perspektive in ethnologischen Museen siehe auch: Paul Basu (Hg.), The Inbetweenness of Things. Materializing, Mediation and Movement Between Worlds, London et al. 2017.
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des Kulturvergleichs vorgesehen sind, sondern auf die bloß mitwahrgenommenen Hintergründe oder Untergründe, die ihr Erscheinen bedingen. Es geht mit anderen Worten darum, das wechselseitige Bedingungsverhältnis von ›Figur‹ und globalhistorischem ›Grund‹ einsichtig zu machen. Die Ausstellung »Mobile Welten«, die 2018 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) zu sehen war, kann als ein Versuch gelten, eine solche Perspektivverschiebung auf die ›Zwischenräume‹, ›Untergründe‹ und dynamischen Verflechtungen auf der Grundlage einer bestehenden Museumssammlung durchzuführen.73 Leitende These war, dass sich mithilfe der Sammlung des MKG, die im Geiste der großen Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts gegründet worden war, eine ganz andere Geschichte der Welt erzählen lässt, die weder ›Kulturkreise‹ noch den linearen ›Fortschritt‹ als gegeben hinnimmt, sondern im Gegenteil aufzeigt, dass die ›europäische Kultur‹ und ›die Moderne‹ als das Ergebnis einer durch Handel, Migration, Kolonialismus und Kriege geprägten, jahrhundertelangen Verflechtungsgeschichte angesehen werden muss. Kuratorischer Ausgangspunkt dafür waren solche Sammlungsobjekte, die sich nicht so leicht einer Abteilung eindeutig zuordnen lassen, wie etwa eine persische Keramikschale aus dem 17. Jahrhundert, die chinesisches Porzellan imitiert (Abb. 1), ein aus Elfenbein geschnitztes Okimono in Gestalt einer Ägypterin aus dem späten 19. Jahrhundert oder ein Mantel von Alexander McQueen von 2009, der an eine dekonstruierte britische Kolonialuniform erinnert, deren Innenfutter aus Paisleymustern nach außen gestülpt wurde. All diese Objekte luden zum ›Spurenlesen‹ im Sinne Glissants ein: z.B. indem man den Handelswegen von Rohstoffen und Materialien samt den damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzung und Ausbeutungsverhältnissen folgte (wie Elfenbein, Porzellan, Kautschuk, Kaffee); indem man lokalen Techniken und Gestaltungsmustern sowie deren kolonialer Appropriation nachging (bspw. die indisch-persischen Botehmuster, die von den Webereien in Paisley nachgeahmt wurden); oder indem man den Bau historischer Infrastrukturen ins Zentrum rückte, die nicht nur im »Scramble of Africa« und für den Welthandel von zentraler strategischer Bedeutung waren, sondern
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Die Ausstellung wurde im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojekts »Mobile Welten – zur Migration von Dingen in transkulturellen Gesellschaften« realisiert und vom Johann Jacobs Museum, Zürich ko-finanziert. Sie wurde von Roger M. Buergel und der Verfasserin des Textes konzipiert und umgesetzt.
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Abb. 1: Teller mit Blatt und Pseudo-chinesicher Schrift im chinesischen Kraak-Stil, Iran, Safawiden-Dynastie, 17 Jh., Pseudomarke am Boden in Anlehnung an chinesische Ware, Quarzfritte, Kobaltblau unter der Glasur. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.
gleichzeitig auch Anlass für archäologische Grabungen (Bagdadbahn) oder Auslöser für bestimmte Moden wie die Ägyptomanie wurden (Sueskanal). Auf Displayebene schlug sich dieses Spurenlesen in assoziativen Konstellationen unterschiedlichster Objekte nieder – beispielsweise durch die Zusammenstellung der besagten persischen Keramikschale mit chinesischer Fakeschrift, chinesischem Exportporzellan für den arabischen Markt, Meißner Chinoiserien aus dem späten 18. Jahrhundert, einer Opiumpfeife sowie einem Foto des 1860 von einer britischen Division des anglofranzösischen Invasionsheers zerstörten Sommerpalastes in Yuanming Yuan. Diese Konstellationen wurden um ›Zwischentexte‹ ergänzt, die die historischen Hintergründe der Verknüpfungen beleuchteten – wie etwa die lange Geschichte des Porzellanhandels, die Erfindung des europäischen Porzellans und das Umschlagen der europäischen Chinaverehrung während und nach den Opiumkriegen in ihr Gegenteil (Abb. 2).
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Abb. 2: Vitrine zur Geschichte des Porzellans in der Ausstellung »Mobile Welten«, 2018. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.
Dabei ging es nicht darum, ein vollständiges Bild zu zeichnen, sondern im Sinne einer Collage die Komplexität der verschiedenen Elemente und Herkünfte sowie die genuine Polysemie einer historischen Situation aufzuzeigen.74 Um diese Geschichten der Relationen zu rekonstruieren und sie an aktuelle Debatten und Konflikte zurückzubinden, waren zudem andere Expertisen als die der Institution nötig: Zusammen mit Künstler_innen, Schüler_innen und verschiedenen Gruppen aus der Hamburger Stadtbevölkerung wurden thematische Schwerpunkte festgelegt und die relationalen Netzwerke bis in die Gegenwart ausgedehnt: Neben einer Soundinstallation, die der Stereotypisierung von (african) Beats in elektronischen Drummachines mit interak-
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Eine solche kuratorische Herangehensweise zieht ihre Inspiration aus verschiedenen Quellen. Genannt seien hier beispielsweise Lina Bo Bardis Displays im MAP in Salvador da Bahia und dem MASP in São Paulo, Fred Wilsons »Mining the Museum« oder Allan Sekulas »The Dockers’ Museum«.
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tiven Samplings zur Geschichte des »Black Atlantic«75 begegnete,76 entstand im Ausstellungsraum ein Tradinghub für den florierenden informellen Handel zwischen Hamburg und Westafrika,77 sowie eine Mode-Kollektion, die das Prinzip der Umwertung, Aneignung und Transformation verschiedenster Materialien und Formen zur zentralen Methode erhob. Gerahmt wurde die Ausstellung von einem Ausstellungsdesign, das sich offensiv gegen den Anschein von wissenschaftlicher Objektivität und einen ›entkörperlichten‹ Blick78 richtete (Abb. 3a, 3b, 3c): Anstelle ›neutraler‹ Farben und einer klar geordneten Raumstruktur stellten hellblaue Vorhänge, violette Teppiche, rosa Podeste aus Grobspanplatten und eine unregelmäßige Ausleuchtung eine gedämpft-sinnliche, fast filmische Atmosphäre her. In diesem Raum, so schien es, galten andere (Wahrnehmungs-)Regeln als in den übrigen Abteilungen des Museums. Unterstrichen wurde dieser Eindruck dadurch, dass die gesamte Ausstellung auf die Hochglanzästhetik von szenographischem Mobiliar verzichtete und stattdessen die Exponate in halb geöffneten Vierländer Bauernschränken präsentierte, die zum Teil kreuz und quer im Raum verteilt waren. Sowohl aufgrund ihrer Unbeweglichkeit und groben Oberflächen als auch hinsichtlich ihrer Sammlungsgeschichte79 bildeten sie einen Kontrapunkt zu den mobilen, transkulturellen Objekten, die sie beherbergten. Diese ›Neuordnung‹ der »Mobile Welten«-Ausstellung lässt sich anhand einer spezifischen Konstellation, die an die jüngere Restitutionsdebatte anschließt, etwas genauer darstellen. Kurz vor der Eröffnung der »Mobile Welten«-Ausstellung hatte das MKG eine Vitrine gleich links im Eingangsbereich neu eingerichtet, die der Provenienzgeschichte einiger Sammlungsobjekte gewidmet ist. Während sich die Provenienzforschung im Hause zunächst vor
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Paul Gilroy, The Black Atlantic: Modernity and Double-Consciousness, Cambridge 1993. Gemeint ist die Soundinstallation ARK (Arkestrated Rhythmachine Komplexities) von Johannes Ismaiel Wendt und Malte Pelleter (2018). African Terminal, Transaction II, 2018. Siehe zur Kritik des entkörperlichten Blicks in Museumsräumen den klassischen Text: Brian O’Doherty, In der weißen Zelle, Berlin 1996. Neben Kunst und Kunsthandwerk aus aller Welt, die er auf den Weltausstellungen in Wien und Paris zusammenkaufte, sammelte der Gründungsdirektor des Museums, Justus Brinkmann, auch eine ganze Reihe von bäuerlicher Volkskunst der Vierlanden im Hamburger Umland, die er durch die zunehmende Modernisierung bedroht sah; vgl. David Klemm, Das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Band 1: Von den Anfängen bis 1945, Hamburg 2004, 172ff.
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Abb. 3a-c: Ausstellungsansichten »Mobile Welten«, 2018. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.
allem auf enteignete Objekte aus ehemals jüdischem Besitz konzentriert hatte, wurde sie 2018 um die von dem Gründungsdirektor Justus Brinckmann angekauften Benin-Bronzen erweitert (Abb. 4).80 Genauso wie die Benin-Bronzen im British Museum gelangten die drei Bronzen in den Beständen des MKG über den Hamburger Hafen als Kriegsbeute nach Europa. Im Zuge einer sogenannten ›Strafexpedition‹ gegen das Königreich Benin, das sich geweigert hatte, einem vom British Empire diktierten Freihandelsabkommen beizutreten, hatten die Briten 1897 den königlichen Palast besetzt und geplündert, um im Nachhinein ihre immensen Kriegskosten begleichen zu können. Während die mehr als 3.000 Bronzen, die auf diese Weise in die europäischen und US-amerikanischen Museen gelangten, zumeist ohne Verweis auf ihre blutige Geschichte ausgestellt wurden, zielte die neu eingerichtete Vitrine darauf, ihren Status als ›Raubkunst‹ samt 80
Brinckmann war selbst an dem Handel mit den Beninbronzen beteiligt; vgl. Silke Reuther, Die Bronzen aus Benin. Herkunft und Geschichte, in: Sabine Schulze/Silke Reuther (Hg.), Raubkunst? Die Bronzen aus Benin im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Hamburg 2018, 18-59.
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ihrer Verkaufsgeschichte und der begleitenden ethnologischen und museologischen Diskurse der Jahrhundertwende erstmals in der deutschen Museumslandschaft offensiv zu thematisieren. Auch wenn dieser Vorstoß weitgehend positiv bewertet wurde,81 erscheint die Gestaltung der Vitrine insofern problematisch, als die Bronzen hier abermals ohne Bezug zu ihrer spezifischen lokalen Geschichte aus europäischer Perspektive identifiziert wurden – diesmal allerdings nicht als ›Ethnographica‹, sondern als ›Raubkunst‹. Formal wurde diese neuerliche Identifizierung dadurch unterstrichen, dass alle drei Bronzen nicht freistehend, sondern auf relativ engem Raum zusammengedrängt hinter einer mit grauen Dreiecken beklebten Glasscheibe platziert worden waren. Mit dieser diskursiven und formalen Einengung wurde die Chance verpasst, in Kollaboration mit afrikanischen Wissenschaftler_innen und Künstler_innen die Bedeutung der Bronzen für die vergangene und gegenwärtige afrikanische (Selbst-)Imagination herauszuarbeiten.
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Siehe etwa Hanno Rauterberg, Schluss mit dem falschen Frieden!, in: Die Zeit (11/2018), S. 39f., https://www.zeit.de/2018/11/raubkunst-kolonialzeit-deutschland-rueckgabe/komplettansicht [letzter Zugriff: 15.07.2020].
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Die »Mobile Welten«-Ausstellung reagierte auf diese Konstellation mit einer eigenen Interpretation der Benin-Bronzen (Abb. 3b, 5, 7). Eine in der Berliner Gipsformerei angefertigte, täuschend echte Kopie eines Königinnenkopfes aus der ethnologischen Sammlung in Berlin thronte ohne weiteren Schutz ganz oben auf einem Vierländer Schrank. Damit wurde nicht nur die klassische museologische Praxis der zu Studienzwecken angefertigten Abgusssammlungen zitiert, sondern auch ein Verfahren vorgestellt, die Bronzen neu zu kontextualisieren, ohne notwendigerweise mit den Originalen arbeiten zu müssen, die Bénedicte Savoys und Felwine Sarrs Empfehlung zufolge nach Afrika zurückgegeben werden sollten.82 Zu diesen neuen Kontextualisierungen gehörte in der »Mobile Welten«-Ausstellung zum einen der Verweis auf die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels zwischen Europa, West-Afrika und Südamerika. Der (bronzene) Benin-Kopf aus Gips korrespondierte mit einem Knebel aus Eisen, der im 19. Jahrhundert in Nordbrasilien als Folterinstrument in der Plantagenwirtschaft eingesetzt
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Bénédicte Savoy/Felwine Sarr, Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019.
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Abb. 4: Vitrine »Raubkunst? Die Bronzen aus Benin«, 2018. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.
worden war. Dieses Exponat zeugte ganz unmittelbar von der »dunklen Seite der Moderne« (Mignolo) und hat daher im Gegensatz zu den Benin-Köpfen in die traditionellen Sammlungen der enzyklopädischen und ethnologischen Museen keinen Eingang gefunden (Abb. 6).83 Der Brasilien-Bezug war dabei nicht beliebig: Abgesehen davon, dass der Hamburger Hafen sowohl als Umschlagplatz für Kolonialwaren inklusive brasilianischem Kaffee diente und nach der Abschaffung der Sklaverei umgekehrt viele verarmte Migrant_innen aus ganz Europa von Hamburg aus nach Südamerika übersiedelten, um dort auf den Plantagen zu arbeiten, wurde in der Ausstellung die Geschichte einer Bahianischen Kaffeeplantage rekonstruiert, die Anfang des 19. Jahrhunderts vom Hamburger Konsul Peter Peycke zusammen mit seinen Schweizer Kompagnons unter dem Namen »Helvécia« gegründet worden war. Entgegen der ursprünglichen Vereinbarung mit der brasilianischen Regierung, deren politisches Ziel es war, die gesamte Bevölkerung ›aufzuweißen‹, wurden hier nicht nur europäische Einwanderer_innen
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Der Knebel war eine Leihgabe des Museu Afro Brasil in São Paulo.
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Abb. 5: Ausstellungsansicht »Mobile Welten«, 2018. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.
beschäftigt, sondern mehr als 2.000 Versklavte vornehmlich aus Westafrika. Mittlerweile ist »Helvécia« eine eingetragene Quilombo84 , in der unter anderem die blauäugigen Brüder Krull leben, zwei Nachfahren von Peycke (Abb 7). Eine solche Umordnung des Displays stellte eine Herausforderung für die eingeübten Wahrnehmungsschemata der routinierten Museumsbesucher_innen dar: Entgegen ihrer Erwartungen wurden hier die Dinge weder identifiziert und klassifiziert noch wurde eine kommensurable Metaerzählung angeboten, die dem Wunsch, einen Überblick zu gewinnen, entgegenkommen wäre. Die von der Ausstellung nahegelegte Wahrnehmungspraxis belief sich mit anderen Worten nicht darauf, einander genügend ›ähnliche‹ Exemplare einer Gattung hinsichtlich ihrer jeweiligen Unterschiede zu prüfen, sondern selbst den Spuren zu folgen, die die globale »Migration der Form« (Buergel) 84
Als »Quilombos« wurden in Brasilien Siedlungen bezeichnet, die von aus der Sklaverei entflohenen Afrikaner_innen und Afrobrasilianer_innen gegründet worden sind. Seit 1988 wurden einigen Bewohner_innen von noch bestehenden Quilombos die Landrechte an den seit der Kolonialzeit besetzten Gebieten offiziell zugesprochen.
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Abb. 6: Knebel, Brasilien, 19. Jh., Eise (Museu Afro Brasil); Schale, Brasilien, 21. Jh., Ton (Johann Jacobs Museum). Ausstellungsansicht »Mobile Welten«, 2018. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.
in je unterschiedlichen sozio-materiellen Kontexten hinterlassen hat. Ein solches perzeptives ›Umlernen‹, das das relationale Dazwischen und die Dynamiken der (formalen) Beziehungen und Analogien gegenüber den Identitäten und abgeschlossenen Gestalten in den Vordergrund rückt, kann nicht nur dazu beitragen, das historische Gewordensein der globalisierten, postmigrantischen Gegenwart besser zu verstehen, sondern womöglich auch, mit ihrer Komplexität und ihren Widersprüchen intuitiv umgehen zu können.
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Abb. 7: Ausschnitt aus Ausstellungsansicht »Mobile Welten«, 2018 (mit Dom Smaz, Die Brüder Krull/Black Helvetia, 2015, Farbfotografie). Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.
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Abbildungsnachweis Abb. 1, 2, 3a: Foto: Daniel Ladnar. Abb. 3b, 3c, 7: Foto: Tim Kaiser. Abb. 4: Foto: Michaela Hille. Abb. 5, 6: Foto: Geneviève Frisson.
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Harun Farockis Schnittstelle Die filmische Montage als eine Praxis des Vergleichens Eva-Maria Gillich/Helga Lutz
Abstract: In der Zweikanalvideoinstallation Schnittstelle (1995) stellt Harun Farocki die zentrale Arbeit der filmischen Montage vor und weist sie dabei nicht nur als Methode des eigenen Filmemachens, sondern auch als eine des Bilderlesens aus. Die Montage stellt sich dabei als »Form des ausdrücklichen Vergleichs« heraus: Die filmischen Praktiken des Anordnens, Trennens, Verbindens, die in Schnittstelle systematisch vorgeführt werden, zielen darauf, die Blackbox des Vergleichens zu öffnen und diese zugleich als epistemisches Mittel erfahrbar zu machen.
1.
Zum Topos der künstlerischen Arbeit
»Heute kann ich kaum ein Wort schreiben, wenn nicht zugleich ein Bild auf dem Schirm zu sehen ist. Oder vielmehr auf beiden Schirmen« (Abb. 1). Was wir hören, ist die Stimme Harun Farockis in der Arbeit Schnittstelle1 (1995), was die Installation zu sehen gibt, sind zwei nebeneinander angeordnete Bildschirme. Auf dem linken erkennen wir die Hand Farockis, die die gesprochenen Worte zugleich in einem linierten Ringbuch noch einmal handschriftlich notiert, auf dem rechten verfolgen wir Fernsehbilder auf einem altmodisch anmutenden Apparat: das Bild einer Massenkundgebung oder Demonstration in einer Stadt, gefilmt aus einer deutlich erhöhten Position, vielleicht von einem Balkon. Dass es sich um Bukarest und den Sturz Nicolae Ceaușescus handelt, ist zu diesem Zeitpunkt nicht ersichtlich. Schnittstelle, so schreibt Christa Blüm1
Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
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Eva-Maria Gillich/Helga Lutz
Abb. 1: Videostill aus Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
linger: »is a sort of artistic self-portrait of Farocki, looking back on his own work. The artist settles down at his editing, or rather mixing table (as he is working on video), to go through his works, one by one.«2 Für Blümlinger erscheint es naheliegend und unproblematisch, diese Anfangsszene in die jahrhundertealte Tradition der Künstlerselbstbildnisse im Atelier zu stellen, in die vielen Selbstdarstellungen des Malers beim Malen. Schauen wir denn nicht Farocki in ganz ähnlicher Weise über die Schulter, wie wir dies von so vielen Beispielen aus der Geschichte der Malerei kennen? Geht es folglich nicht darum, einen altbekannten kunsthistorischen Topos unter veränderten medialen Bedingungen (Mischpult statt Leinwand) aufzurufen? Bei genauerer Betrachtung erweist sich die von Blümlinger vorgenommene Gleichartigkeitsannahme als problematisch. Trifft doch auf Farockis Arbeit gerade nicht zu, was Rachel Esner, Sandra Kisters und Ann-Sophie Lehmann in ihrem Sammelband über Hiding Making – Showing Creation für die Entwicklung des Bildtopos der Atelierbilder so überzeugend darlegen konnten: dass seit der Renaissance und im Rahmen der Trennung von Kunst und Handwerk die Darstellungen künstlerischer Arbeit die Konzeption künstlerischer Werke und nicht den tatsächlichen Arbeitsprozess zeigen. So schreiben die Autorinnen: 2
Christa Blümlinger, Harun Farocki, Schnittstelle, in: New Media Encyclopedia, URL: www.newmedia-art.info/cgi-bin/show-oeu.asp?ID=150000000035107&lg=GBR [letzter Zugriff: 28.12.2019].
Harun Farockis Schnittstelle
»One of the effects […] was the elevation of ›thinking‹ over ›making,‹ and by the nineteenth century the ›hiding‹ of the latter – both literally and figuratively – had established itself as a multifaceted artistic trope. The artist was no longer a man that worked but a man that conceptualized; his studio was no longer a workshop, but a private, even sacred place – a place of inspiration rather than labor.«3 Die Arbeiten von Farocki – und Schnittstelle in ganz besonderer Weise – treten allerdings an, genau diesen Mythos vom künstlerischen Schaffen zu dekonstruieren.
2.
Schnittstelle als Lehrfilm. Vergleichen (neu) lernen
Schnittstelle ist kein Film, der vor allem beansprucht, Kunst zu sein, und es ist auch keiner, mit dem sich Farocki als Autorenfilmer inszeniert sehen möchte. Es ist in gewisser Weise ein Lehrfilm. Auf eine unzeitgemäße, pedantische und pädagogische Art und Weise bekommen wir das Handwerk des Filmemachers, seine Arbeitsabläufe, Handgriffe, Gesten, Vorrichtungen und Apparaturen vorgeführt. Und das, was wir zu sehen bekommen, wird zusätzlich noch erklärt: »Das ist ein Arbeitsplatz. Ein Schnittplatz zur Bearbeitung von Bildern und Tönen.« Die Hände und ihr Tun werden nicht versteckt, selbst das simple Betätigen der Knöpfe am Steuerpult wird vorgeführt und ausführlich dokumentiert. Aber muss das, was man selbst bereits sieht, eigentlich wirklich noch einmal erklärt werden? Ist das nicht redundant? Eine geradezu enervierende Verdopplung? Farocki hat auf einen entsprechenden Vorwurf, der im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) geäußert wurde, eine mehr als scharfsichtige Antwort gegeben: »Der Vorwurf, das Bild einer Schlucht und einer der sagt ›Das ist ja wie eine Schlucht hier‹ wäre eine Verdopplung, behauptet, dass der Satz und das Bild identisch wären, aber die Differenz ist das Kino.«4 Sich mit Farocki auseinanderzusetzen, geht mit der Bereitschaft einher, vermeintlich Feststehendes, Allgemeingültiges, Selbstverständliches, Unbestrittenes, mit anderen Worten 3 4
Rachel Esner/Sandra Kisters/Ann-Sophie Lehmann, Introduction, in: dies. (Hg.), Hiding Making – Showing Creation, Amsterdam 2013, 9-13, hier 10. Harun Farocki, zitiert nach Volker Pantenburg, Wie Filme sehen. Harun Farocki als Lehrer an der dffb, URL: https://dffb-archiv.de/editorial/filme-sehen-harun-farocki-lehrer-dffb [letzter Zugriff: 25.01.2020].
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das sogenannte Wissen, einer grundlegenden Prüfung zu unterziehen. Und damit auch die scheinbar einfachsten Dinge nicht unhinterfragt und als gegeben anzusehen. Volker Pantenburg hat diese Haltung mit folgenden Worten beschrieben: »Farocki läßt keinen Zweifel an seiner Verachtung gegen Lehr- und Vermittlungspraktiken, die sich an der Oberfläche demokratisch geben, aber in Wirklichkeit einem wissensökonomischen Kalkül folgen. Der Idee von Lehre als Distribution (d.i. der Handel von Wissen als Informationswaren) stellt er die Vorstellung des Unterrichts als Produktion (d.i. die Herstellung von prozesshaftem Erkennen) gegenüber.«5 Und daraus folgt: Es sind die für die Wissensproduktion zentralen Praktiken, die besonders kritisch in den Blick genommen werden. Allen voran die Praktiken des Vergleichens. Es ist für die Autorinnen von zentraler Bedeutung, dass Farocki die Film- bzw. Bildmontage als »Form des ausdrücklichen Vergleichs« bezeichnet hat.6 Denn dies zeigt, dass die Montage für ihn sehr viel mehr ist als nur ein kinematografisches oder produktionsästhetisches Mittel. Ihr kommt eine epistemische Rolle zu. Entsprechend zielen Farockis filmische Praktiken des Anordnens, Neuordnens, Trennens und Verbindens, die in Schnittstelle so genau und systematisch vorgeführt werden, auf nichts Geringeres, als die Blackbox des Bildervergleichens zu öffnen, bereits Bestehendes in seine kleinsten Bestandteile zu zerlegen, um neue Möglichkeiten zu erschließen, überraschende Konstellationen zu erproben und geläufige Lesarten des Film- und Bildmaterials zu unterlaufen. Kein Vergleich erscheint zwingend, keiner versteht sich von selbst, jede Entscheidung mutet reversibel an, alles muss hinterfragt werden. Farockis Umgang mit dem Material verunmöglicht eine passive Rezeptionshaltung. Es geht darum, Montage als technische Bedingung und epistemisches Mittel von Vergleichsoperationen sichtbar und erfahrbar zu machen: ihre Potentiale sehen zu lernen. Wenn Vergleichen für Farocki bedeutet, den Konflikt zu verstehen, den ein Bild im Kontakt mit einem anderen Bild hervorbringen kann7 , dann besteht die Arbeit im Schneideraum darin, »beinahe jede
5 6 7
Pantenburg, Wie Filme sehen. Harun Farocki, Tagebuch/Diary. Immersion, in: Yilmaz Dziewior (Hg.), Weiche Montagen. Soft Montages, Bregenz 2011, 48-204, hier 95. Vgl. Helmut Draxler, Wie man vergleicht. Produktionsweisen und installative Montage bei Harun Farocki, in: Matthias Michalka (Hg.), Nebeneinander, Köln 2007, 93-99.
Harun Farockis Schnittstelle
mögliche Schnittverbindung zu probieren, bis man eine hat, die nicht selbst spricht, sondern das Material zum Sprechen bringt.«8 Die Montage des filmischen Materials, wie sie in Schnittstelle vorgeführt wird, ist nicht vom Diktum der Repräsentation, des Abbildens oder der Selbstdarstellung bestimmt – es handelt sich bei Schnittstelle eben nicht um ein artistic self-portrait. Die Montage ist ein offenes Experimentierfeld mit unterschiedlichen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Das Material entscheidet mit, wo geschnitten wird, wie Farocki es ausdrückt, indem es sich anbietet, ganz im Sinne eines »make do«.9 »Geht dieses Bild mit diesem? Dieses Bild zu diesem; Bietet es sich an? Dieses Bild zu diesem? Schließt es sich aus? Man kann diese Zweiheit so auffassen, dass da ein Bild das andere kommentiert. Bisher haben stets Worte, manchmal Musiken die Bilder kommentiert. Hier kommentieren Bilder Bilder.« (Farocki in Schnittstelle) Farocki weist uns ein, tritt zugleich aber auch selbst als Rezipient auf; kommentierend, erklärend, zeigend, aber eben auch abwägend, überlegend, fragend.10 Vielleicht handelt es sich bei Schnittstelle gar um den Versuch einer filmischen Fortführung oder Übertragung der offenen Seminarsituation, wie sie Farocki in den 1980er Jahren an der dffb erprobt hatte. Pantenburg spitzt zu: »Der Schneidetisch ist, so lässt sich ohne Übertreibung sagen, der eigentliche Protagonist in Farockis Seminaren, der Mittelpunkt, um den sich eine verschworene Gemeinschaft für einige Tage oder Wochen versammelt. So wie die Kamera der Brüder Auguste und Louis Lumière Aufnahmegerät und zugleich Projektor war, zeichnet sich auch der Schneidetisch dadurch aus, sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite agieren zu können. Beim Schneiden eines Films wird das Sehen von Bildern zum pro-
8
9 10
Harun Farocki, Schuß-Gegenschuß: Der wichtigste Ausdruck im Wertgesetz Film, in: ders., Harun Farocki, Nachdruck/Imprint, Texte/Writings, hg. von Susanne Gaensheimer und Nikolaus Schafhausen, Berlin 2001, 87-111, hier 109. Vgl. Antoine Hennion/Bruno Latour, Object d´art, object de science. Note sur les limites de l’anti fétishisme, in: Sociologie de l’art. Revue internationale 6 (1993), 7-24. Vgl. Volker Pantenburg, Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006, hier 172.
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Eva-Maria Gillich/Helga Lutz
duktiven Akt, und auch im Analysieren gilt es das Produktionsmoment zu betonen. Diese Wechselseitigkeit war für Farocki entscheidend.«11
3.
Das Archiv der Bilder und die Bilder der Geschichte
Farocki entwickelt das Medium des Films – jenseits von Unterhaltung – als ein theoretisch orientiertes Forschungsinstrument, das dem naiven, aber verbreiteten Glauben entgegenzuarbeiten vermag, dass Bilder historische Wahrheiten tatsächlich abbilden. Für Farocki stellt sich die Frage: Inwieweit kann durch die vergleichende Praxis der Montage ein neues Denken entstehen? Können Dinge sichtbar gemacht werden, die ansonsten verborgen blieben? »Was charakterisiert die Bilder, die im Aufzeichnungsprozess und der anschließenden Montage entstehen? Welchen Regeln folgt ihre Verknüpfung?«12 Und wie kann damit der Film als eine »denkende Form« gegen die allgemeine Denk-Ermüdung eingesetzt werden,13 gegen das wohlwollend-unkritische, geistige Dahin-Dämmern, das Farocki vor allem am Beispiel des Fernsehfeatures der 1970er Jahre kritisiert hat. Er schreibt: »Archiv und Schneidetisch sind […] ein scharfes Instrument gegen die rhetorische Hülle. Denn bei diesem traurigen Genre Feature sind beinahe alle Mittel der Darstellung Mittel der Vertuschung. Wie geschnitten wird, wie die Informationen aufeinanderfolgen, wie sich die Bilder auf Töne beziehen: all das ist zum Vertuschen da. So wie die Rede von einem, der nichts zu sagen hat und das Nichts in vollständige Sätze kleidet.«14 Immer wieder stoßen wir auf diese Figur: Die Montage als Mittel der Entlarvung, als Möglichkeit des Aufdeckens und als Antidot gegen inhaltsleere Bildrhetorik. Die Aneignung von Geschichte heißt für Farocki folglich, sich die Medien, mit denen Geschichte geschrieben wird, anzueignen, indem man die ihnen eigene Logik der Aufzeichnung und Anordnung von Ereignissen 11 12 13
14
Pantenburg, Wie Filme sehen. Pantenburg, Film als Theorie, 18. Vgl. Suzanne Liandrat-Guigues, Une forme qui pense, in: dies./Murielle Gagnebin (Hg.), L’Essai et le Cinema, Seyssel 2004, 193-200, und Raymond Bellour, The Cinema and the Essay as a Way of Thinking, in: Sven Kramer/Thomas Tode (Hg.), Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, Konstanz 2011, 45-58. Harun Farocki, Drückebergerei vor der Wirklichkeit. Das Fernsehfeature/Der Ärger mit den Bildern, in: Frankfurter Rundschau, 2.6.1973, 11.
Harun Farockis Schnittstelle
eingehend studiert.15 Denn jedes neue Aufzeichnungsmedium, so die Überzeugung, bringt neue Formen der Geschichtsschreibung mit sich. Zum anderen heißt dies aber auch, offenzulegen, dass die Machart von Bildern, ihre Motivwahl, ihr Gestus in Spielfilmen, Dokumentationen oder Werbung aus einem diachronen Vergleichsprozess hervorgehen. An der Bilderproduktion einer Gesellschaft arbeiten das Bildgedächtnis, das Archiv der Bilder, die Kulturtechniken des Vergleichens ständig mit. Es ist sicher kein Zufall, dass Schnittstelle mit Szenen aus Farockis Videogramme einer Revolution16 (1992, zusammen mit Andrei Ujica) beginnt. Videogramme thematisiert auf exemplarische Art und Weise die Wechselwirkung politischer Macht und der Macht der Bilder. Der Sturz Ceaușescus fällt zusammen mit der Störung des im Fernsehen ausgestrahlten öffentlichen Auftritts und der Aneignung der Bildproduktion durch die Revolutionäre, die die staatliche Fernsehanstalt besetzen (Abb. 2).
Abb. 2: Videostill aus Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
In besonderem Maße betont Farocki in Schnittstelle, dass der Sturz des Diktators zwischen zwei Bildern stattfindet – zwischen einem Bild und (s)ei15
16
Vgl. Ute Holl, Farocki’s Cinematic Historiography: Reconstructing the Visible, in: e-flux journal 59, November 2014, URL: www.e-flux.com/journal/59/61118/farocki-s-cinematic-historiographyreconstructing-the-visible/ [letzter Zugriff: 25.01.2020], und Martin Blumenthal-Barby, Der asymmetrische Blick. Film und Überwachung, Paderborn 2016. Harun Farocki/Andrei Ujica, Videogramme einer Revolution, Film, Farbe, Ton, Deutschland 1992, 106 Minuten, 16mm.
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nem Gegenbild. Indem uns Farocki einen Kameraschwenk eines Amateurfilmers von 1989 zeigt und diesen gleichzeitig selbst wiederholt, rückt die Szene das Zwischen-den-Bildern in den Fokus. Der Amateurfilmer Paul Kossigian schwenkt von der Aufnahme seines Fernsehapparats, der den durch die Massen bereits gestörten und in seiner Rede innehaltenden Ceaușescu zeigt, zum Fenster auf die Straße, auf der ein Menschenstrom zu erkennen ist (Abb. 3 a und b). Farockis Voice-Over kommentiert: »Er [Kossigian] stellte das offizielle Bild gegen das Bild der Straße – Bild und Gegenbild. Jetzt galt es den Fernseher zu verlassen und auf die Straße zu gehen. Das Kameraauge richtete sich auf die Straße, in der Hoffnung, dass dort etwas geschehen werde. Mit dieser Geste wurde die Straße beschworen, ein ergiebiger Schauplatz zu sein.« Der Kameraschwenk ist eine Bildmontage, die eine epistemische Funktion erfüllt, indem sie ein historisches Ereignis zuallererst aufzeichnet, herstellt, sichtbar und damit zugleich analysierbar macht. Damit tritt in Farockis Filmen außerdem zu Tage, dass Bilder, die zu Bildvergleichen herangezogen werden, immer schon selbst Sedimente von bestehenden Bildvergleichen darstellen: Bevor ein Bild mit einem anderen verglichen wird, ist es (und zwar in zunehmendem Maße) bereits durch eine unüberschaubare Menge von Bildvergleichen als vergleichbares Bild medial her- und zugestellt worden. Längst können Bilder nicht mehr betrachtet werden, ohne dass sich andere Bilder darüber legen.17 Farocki, so Georges DidiHuberman, ermahne uns beständig, dass wir die Welt in der Weise ansehen müssen, dass wir nicht Bilder von ihr, sondern Bilder ihrer Bilder produzierten.18 Farocki beschreibt diesen Umstand wie folgt: »Wer auch immer heute wo auch immer eine Kamera aufstellt, wird im Boden die Löcher vorfinden, die die Kamerastative derer hinterlassen haben, die zuvor dort waren. Wenn man heute seine Kamera auf irgendetwas richtet, dann ist man kaum noch mit der Sache selbst konfrontiert, sondern eher
17
18
Vgl. Peter Geimer, Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen, in: Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, München 2010, 45-69. Vgl. Georges Didi-Huberman, Remontagen der erlittenen Zeit. Das Auge der Geschichte II, München 2014, hier 178.
Harun Farockis Schnittstelle
mit vorstellbaren oder bereits im Umlauf befindlichen Bildern, die von ihr bereits existierten.«19
Abb. 3a: Videostill aus Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
Abb. 3b: Videostill aus Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
Auch die eigenen Aufnahmen und nicht nur vorgefundenes Material (found footage) sind somit vorbestimmt, überlagern sich und sind immer schon gese19
Harun Farocki, Produire et reproduire des images. Einleitender Text zur Installation von Schnittstelle 1995 in Lille, zit.n. Didi-Huberman, Remontagen der erlittenen Zeit, 178.
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hen und gelesen worden. Was dies für seine Arbeit bedeutet, erläutert Farocki in einem Gespräch mit Stefan Reinecke: »Man muß keine neuen, nie gesehenen Bilder suchen, aber man muß die vorhandenen Bilder in einer Weise bearbeiten, daß sie neu werden. Da gibt es verschiedene Wege. Mein Weg ist es, nach verschüttetem Sinn zu suchen und den Schutt, der auf den Bildern liegt, wegzuräumen.«20 Selbstverständliche und quasi naturalisierte Vergleiche werden aus der scheinbaren Zwangsläufigkeit ihrer Gleichartigkeitsannahme ebenso gelöst, wie das Auffinden eines Tertiums zur Herausforderung wird. Die Kühnheit seiner Montage, so Jan Verwoert, liege darin, jeden Schnitt in eine Geste zu verwandeln, die gleichzeitig sagen und fragen würde: ›Das macht Sinn! Macht es das?‹ und ›Das ist es! Was ist es?‹.21
4.
Der Schnittplatz als Geheimschreiber
Es sind unter anderem Bilder aus der Arbeit Bilder der Welt und Inschrift des Krieges22 , die Farocki den Betrachter*innen in Schnittstelle vorführt, indem er sie sowohl am Schneideplatz als auch in einer Doppelprojektion nebeneinanderstellt (Abb. 4a und 4b). Auf dem einen Bildschirm sehen wir in Nahaufnahme, wie das Auge eines weiblichen Modells in professionell anmutender Weise stark geschminkt wird, während gleichzeitig auf dem anderen Bildschirm der Stift eines altmodischen Pantographen langsam, kratzend, behäbig und mechanisch die Verkleinerung (oder Vergrößerung?) eines architektonischen,
20
21
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Harun Farocki, Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Stefan Reinecke im Gespräch mit Harun Farocki, URL: www.basisfilm.de/basis_neu/seite4.php?id=57&inhalt=zumFilm [letzter Zugriff: 06.02.2020]. Vgl. Jan Verwoert, Production Pattern Associations: On the Work of Harun Farocki, in: Afterall 11 (2005), 65-78, hier 66: »The boldness of the montage in Farocki’s essay films turns every cut into a gesture that says: ›This makes sense. It does! Does it?‹ With similar effect, the significance of the visual material in Farocki’s documentaries is simultaneously framed through careful montage and unframed through the complete absence of commentary or, conversely, through an elliptical commentary that provides multiple and conflicting interpretations of the material. The mode of presentation formulates a statement together with a question: ›This is it! What is it?‹« Harun Farocki, Bilder der Welt und Inschrift des Krieges, Film, Farbe, sw, Ton, BRD 1988, 75 min, 16mm.
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gebogenen Tür- oder Fenstersturzes von einer nicht sichtbaren Vorlage auf Papier überträgt.
Abb. 4a: Videostill aus Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
Abb. 4b: Videostill aus Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
Sowohl das geschminkte Auge als auch die Architekturzeichnung werden in Folge in den Kontext eines Aktzeichenkurses gestellt. Das In-Bezug-Setzen dieser Bilder, das zunächst vom Filmemacher am Schnittplatz vorgenommen wurde, wird in diesem Moment an die Betrachter*innen übergeben, die nun selbst aufgefordert sind, die Bilder zu vergleichen und auf ein Tertium hin zu
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bestimmen. Scheinen die disparaten, auf den ersten Blick sich kaum als Comparata anbietenden Bilder wenig geeignet, auf ein gemeinsames Tertium bezogen zu werden, so eröffnet Farockis Montage bei genauerer Betrachtung ein interessantes und produktives Feld von mannigfaltigen Vergleichsmöglichkeiten: Geht es um die Gegenüberstellung unterschiedlicher, zeichnerischer Weisen der Wiedergabe, um Formen der Re-Präsentation? Aber ist Schminken denn überhaupt eine Form des Zeichnens? Der Schminkpinsel ein Zeichenstift? Die Maske ein Bild? Und kann andererseits das, was der Stift des Pantographen hervorbringt, überhaupt als eine Form des Zeichnens bezeichnet werden? Und schließlich: Welche Rolle spielt in alledem die jeweils eingesetzte Übertragungstechnik? Diese und zahlreiche weitere sich sofort ergebenden Fragen adressieren unterschiedliche Vorgänge des Zeichnens als technisch, körperlich und medial geprägte Formen des Übertragens, Abbildens oder Verbildlichens. Und sie lassen vergleichend die je eigene Spezifik der unterschiedlichen Operationen hervortreten. Damit wird durch diese Bildvergleiche vorgeführt, dass, »was man sieht«, bei Farocki immer auch mit der Frage verbunden ist, »wie man sieht«.23 Schauen wir auf die letzten Minuten von Schnittstelle. Farocki führt uns darin die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg entwickelte Schlüsselmaschine Enigma vor, einen »Geheimschreiber« oder eine »Kodierungsmaschine« (Farocki), sowie Alan Turings Großrechner, die sogenannte TuringBombe, die den Code von Enigma entzifferte (Abb. 5). »Ich schreibe in die Bilder hinein und lese etwas heraus. Gegenwärtig bedenke ich einen Film über das Verschlüsseln und Entschlüsseln von Nachrichten. Geheimschriften; sie werden von Liebenden benutzt und vom Militär. Das ist die Kodierungsmaschine der Deutschen. Genannt ›Enigma‹.« Was wird mit dieser Einlassung, mit der der Film plötzlich auf eine ganz anders strukturierte Form der Vergleichs- oder Übertragungsoperation Bezug nimmt, nahegelegt? Sind die Bilder, die Farocki uns zu sehen gibt, denn überhaupt einem Code vergleichbar, den es zu entschlüsseln gilt? Und wenn ja: Wer und was ist daran beteiligt? Welche Apparaturen, welche Voraussetzungen wären notwendig, um Bilder zu entschlüsseln? In Schnittstelle führt uns Farocki den Ort und die Apparatur vor, an dem die ›Lektüre‹ in Gang gesetzt und vorgenommen wird: den Schnittplatz. Es ist der Ort, an dem zwei oder mehrere Bilder miteinander montiert werden und der selbst an 23
Vgl. Draxler, Wie man vergleicht, hier 99.
Harun Farockis Schnittstelle
Abb. 5: Videostill aus Harun Farocki, Schnittstelle, Zweikanalvideoinstallation, Video-BetaSp, Farbe, Ton, Deutschland 1995, 23 Minuten.
der ›Botschaft‹ der Bilder mitschreibt. Es ist kein beliebiger Ort im Prozess des Filmemachens, sondern der Schlüssel, um Bilder lesen zu lernen. An der Schnittstelle zweier Bilder muss auch die Lektüre ansetzen. Wie aber verhält sich dies zu der überraschenden Wendung, die gegen Ende des Films von Farocki vorgenommen wird, wenn er sagt: »Vielleicht ist dieser Schnittplatz ein Geheimschreiber oder eine Dechiffriermaschine? Geht es darum, ein Geheimnis zu enträtseln, oder zu bewahren?« Aber lassen sich ein Bild, der Zusammenhang von Bildern, die Schnittstelle zwischen ihnen, wirklich wie ein Code entschlüsseln, wie ein Geheimnis enträtseln? Trägt die Analogie, mit der Farocki hier experimentiert? Die Schlüsselmaschine überträgt einen Buchstaben auf einen anderen und so wird auch am Schnittplatz ein Bild auf ein anderes übertragen. »Metapher, das heißt Übertragung. Ich übertrage hier von Bild eins auf Bild zwei,« so Farocki kurz zuvor in Schnittstelle über den entsprechenden Arbeitsschritt. Aber so einfach ist es nicht. Anders als bei der Schlüsselmaschine lässt sich der ›Code‹ der Bilder nicht einfach ›lösen‹, so wie auch eine Metapher nicht einfach in ihren beiden Einzelteilen aufgeht. Und so konzediert auch Farocki 2004 im Interview mit Rembert Hüser: »Es geht um eine weiche Montage, bei der ein Bild nicht an die Stelle des anderen tritt, sondern das andere ergänzt, oder umwertet, gewichtet.«24
24
Harun Farocki im Gespräch mit Rembert Hüser. Neun Minuten in Corcoran. Überwachung, Krieg, Montage. Der Filmemacher Harun Farocki im Gespräch, in: Jungle World,
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5.
Labore zur Untersuchung von Bildverhältnissen
In der weichen Montage, dieser für Farockis Arbeiten so essenziellen Praxis, werden Bilder nicht nur, wie im Film üblich, hinter- und nacheinander, sondern im Split Screen oder durch Mehrkanalvideoinstallationen auch nebeneinander montiert. Die von André Bazin definierte horizontale Montage, in der das Wort das Bild kommentiert, wird um den Kommentar des Bildes durch ein zweites Bild erweitert. Die weiche Montage kann somit als die präzise Übertragung der Arbeitssituation am Schnittplatz auf den Film selbst oder den Ausstellungsraum verstanden werden. So ist Schnittstelle bezeichnenderweise auch Farockis erste Zweikanalvideoprojektion. »Bei einer Doppelprojektion gibt es sowohl die Sukzession als auch die Gleichzeitigkeit, die Beziehung von einem Bild zum folgenden als auch zum nebenstehenden. Eine Beziehung zum Vorgewesenen wie zum Gleichzeitigen. Man hat sich vorzustellen, daß drei Doppelbindungen zwischen den sechs Kohlenstoffatomen eines Benzolrings hin- und herspringen und ebenso doppeldeutig stelle ich mir die Beziehung eines Elements auf einer Bildspur zu seinem nachfolgenden oder nebenstehenden vor«,25 so Farocki selbst über die weiche Montage. Aus einer zweidimensionalen Gegenüberstellung wird ein dreidimensionales Vergleichsmodell. Es ist so überraschend wie charakteristisch für das Denken Farockis, dass er den Schneideraum, wie Pantenburg betont, in Schnittstelle als ein »Labor zur Untersuchung von Bildverhältnissen« bezeichnet.26 Wodurch suggeriert wird, dass die Verknüpfungsmöglichkeiten und Kraftfelder zwischen Bildern durchaus auch an Beispielen aus dem Bereich der Chemie (wie eben jener Doppelbindungen von Kohlenstoffatomen eines Benzolrings) erklärt werden können. Dadurch, dass Farocki Begriffe wie »Labor« oder »wissenschaftlicher Versuch« verwendet, um seine Arbeit zu charakterisieren, deutet er zugleich auf das zugrundeliegende Netzwerk an Praktiken und Gefügen hin, das an der Wissensproduktion teilhat, und stellt die Instanz des Filmemachers nicht
25
26
Nr. 2000/44, 01.11.2000, https://jungle.world/artikel/2000/44/neun-minuten-corcoran [letzter Zugriff: 25.01.2020]. Harun Farocki, Quereinfluss/Weiche Montage, in: new filmkritik, 12.06.2002, https:// newfilmkritik.de/archiv/2002-06/quereinflussweiche-montage/ [letzter Zugriff: 24.06.2020]. Vgl. Pantenburg, Film als Theorie, 175.
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als die entscheidende Deutungsinstanz dar. Farocki führt mit Schnittstelle en détail vor, »wie wir wissen, was wir wissen«.27 Die Beispiele verdeutlichen aber auch, wie Farocki vergleichend über die Möglichkeiten des Vergleichens nachdenkt. Die Doppelbindungen von Kohlenstoffatomen eines Benzolrings können ebenso wie die Kodierungsmaschine Enigma als Denkfiguren im Sinne einer imaginären Laborsituation herangezogen werden, um die darin waltenden Übertragungs-, Bindungs-, oder Kodierungsfunktionen auf ihre Übertragbarkeit auf Montagepraktiken am Schneidetisch gedanklich zu erproben und auszuloten. Vielleicht ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Farocki in den 1980er und frühen 1990er Jahren, also jener Zeit, in der er mit Studierenden der dffb am Schneidetisch konkrete Montageentscheidungen in einer kaum mehr vorstellbaren Genauigkeit analysiert hat – »ein Film [wurde] manchmal vier Tage lang von Anfang bis Ende […], Rolle für Rolle, im stetigen Wechsel zwischen Schneidetisch und Kinoprojektion [untersucht]«28 –, sich des Anachronismus der von ihm in der Lehre favorisierten Schneidetisch-Situation bereits durchaus bewusst war. Bild für Bild vergleichend vorzugehen war schon zu Zeiten von VHS-Kassetten hoffnungslos »antiquiert«, wie er selbst feststellte.29 Demgegenüber deutet sich im Aufgreifen von Strukturmodellen aus ganz anderen, dem Medium Film fremden Zusammenhängen ein vorausschauendes, die Potentiale zukünftiger Vergleichspraktiken erahnendes Vorgehen an. Dies führt uns schließlich zurück zu Enigma. Anders als beim manuellen Verfahren, verschlüsselt diese jeden Buchstaben auf eine andere Weise: Nach jeder Eingabe eines einzelnen Buchstabens ändert sich das Schlüsselalphabet, so dass in einer Nachricht kein Buchstabe zweimal auf denselben übertragen wird. Das Entscheidende – auch in Hinblick auf Schnittstelle – ist dabei, dass sich die Verschlüsselungsmöglichkeiten extrem vervielfachen und eine manuelle Entschlüsselung des Codes nicht länger in überschaubarer Zeit vorgenommen werden kann. Und so kann erst eine weitere elektromagnetische Maschine, Turings Großrechner, der im Grunde mehrere Schlüsselmaschinen hintereinanderschaltet, den Code in ausreichend kurzer Zeit entziffern. »Jede von einem Algorithmus gesteuerte Maschine [auch Enigma, Anm. der Verf.] kann geschlagen, ja überboten werden, vorausgesetzt, daß die Feindmaschine
27 28 29
Karin Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a. M. 1999, hier 11. Pantenburg, Wie Filme sehen. Vgl. Pantenburg, Wie Filme sehen.
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über eine Obermenge von Algorithmen verfügt. Genau das hat den Zweiten Weltkrieg entschieden«30 , so Friedrich Kittler. Was Farocki uns vorführt, sind folglich nicht nur Dekodiermaschinen, die Nachrichten/Botschaften entschlüsseln und an ihnen mitschreiben, sondern Permutationsprogramme und die mit ihnen angewachsenen Möglichkeiten von Übertragungen und Kombinationen. Damit kommt eine Vieldimensionalität ins Spiel, die sich zwar schon mit den »drei Doppelbindungen zwischen den sechs Kohlenstoffatomen eines Benzolrings« in Farockis Essay über die weiche Montage andeutet, die aber im Kontext der Schlüsselmaschinen entschieden erweitert werden kann, indem die Kombinationsmöglichkeiten hier nicht mehr vom Menschen allein überschaut, gelöst, gelesen und geschrieben werden. Die Übertragungsmaschinen, durch die »die Computerentwicklung ihren Anstoß bekam« (Farocki in Schnittstelle), deuten bereits auf eine mögliche unbegrenzte Kombinatorik und – im Kontext von Schnittstelle – auf eine quasi unendliche weiche (und mehrdimensionale) Montage. Wenn der Schnittplatz grundsätzlich immer bereits zwei Bilder nebeneinander zeigt, vergleicht und überträgt, so erweitert Farocki diesen Grundsatz in seinen Mehrkanalvideoinstallationen auf bis zu zwölf Monitore. Computer und Algorithmen können dies jedoch potenziell auf unendlich viele Bildvergleiche ausweiten. Somit treten mit der Schlüsselmaschine bereits früh Themenkomplexe und Fragestellungen in den Fokus, die im späteren Œuvre verstärkt von Bedeutung sein werden: Fragen nach den neuen Möglichkeiten algorithmischer und a-semantischer Bildvergleiche, den Funktionsweisen digitaler Bilder, die die Welt mehr denn je weniger repräsentieren als produzieren und nicht zuletzt die operativen Bilder. Bilder, die von Maschinen und Algorithmen generiert werden, die Bestandteil technischer Operationen sind und auf eine Eigengesetzlichkeit zielen, die neue visuelle Regime hervorbringt.31 Die Autorinnen danken der Harun Farocki GbR und dem Harun Farocki Institut.
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31
Friedrich Kittler, Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing, in: ders., Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, Berlin 2014, 232-253, hier 242. Vgl. Volker Pantenburg, Working Images: Harun Farocki and the operational image, in: Charlotte Klonk/Jens Eder (Hg.), Image Operations. Visual Media and political conflict, Manchester 2017, 49-62, und Trevor Paglen, Operational Images, in: e-flux journal 59, November 2014, URL: https://www.e-flux.com/journal/59/61130/operational-images/ [letzter Zugriff: 25.01.2020].
Harun Farockis Schnittstelle
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Abbildungsnachweis Abb. 1-5: Harun Farocki GbR, Berlin.
Ein Blick zurück Zur Unhintergehbarkeit des Blickwechsels beim vergleichenden Sehen Joris Corin Heyder
Wenn das vergleichende Sehen im Diskurs der Kunstgeschichte, aber auch im Selbstverständnis der Kunstkenner fast ausnahmslos als Königsweg zur Gewinnung von Erkenntnissen über Kunst und Bilder verstanden worden ist, so verdankt sich diese Hochschätzung des Vergleichens offenkundig einem bemerkenswerten blinden Fleck: Diskutiert wurde und wird allenfalls über die angemessene Wahl von comparata oder tertia, also über das zu Vergleichende und die Hinsichten, nicht aber über die Praktiken selbst. Die scheinbar triviale Beobachtung, dass jedes vergleichende Sehen eine spezifische körperliche Tätigkeit, ein Hin und Her von Augen und Kopf, erfordert, geriet daher kaum in den Blick. Doch ist gerade dieser Umstand keineswegs folgenlos; denn er bedingt, dass das Vergleichen das Sehen selbst modifiziert und den Blick auf das Verglichene verändert. Wenn das Sehen zum Vergleichen wird und der Blick zwischen zwei oder mehreren Objekten wechselt, werden Prozesse angestoßen, die weitreichende Folgen haben können: Die Aufmerksamkeit wird für einige Aspekte geschärft und von anderen abgelenkt; aktuelle Seheindrücke und ›Nachbilder‹ des zuvor Gesehenen können sich überblenden, der Wahrnehmungsprozess bildet eine eigene Taktung aus und nicht zuletzt kann der Betrachter angeregt werden, die zeitliche Ordnung des Davor und Danach in Ordnungen anderer Art, etwa in wertende Hierarchien oder in Narrationen, zu transponieren. Noch bevor über die Wahl von comparata oder Vergleichshinsichten nachgedacht wird, gilt es daher sich bewusst zu machen, dass sich jedes vergleichende Sehen nicht ohne einen oder mehrere Blickwechsel vollziehen kann. Diese Blickwechsel sind es, die gleichsam den blinden Fleck des bisherigen Nachdenkens über das vergleichende Sehen ausmachen.
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Die Beiträge dieses Bandes lassen sich als Anstoß verstehen, der Kopplung von vergleichendem Sehen und Wechsel des Blicks genauer nachzugehen. Was in den Beiträgen überwiegend implizit angesprochen ist, soll im Folgenden versuchsweise am Leitfaden des Begriffs ›Blickwechsel‹ entfaltet werden. In welchem Licht erscheint das in den Dienst des Vergleichens genommene Sehen, wenn man sich bewusst macht, dass jedes vergleichende Sehen Blickwechsel erfordert? Welche anregenden Potentiale, aber auch welche Verengungen des Blicks ergeben sich aus diesen Blickwechseln? Mit jedem Blickwechsel geht auch ein Moment unmittelbar nach dem Blick einher. Wie aber lässt sich dieser Zeitpunkt beschreiben, in dem ein Blick einen anderen überlagert, verstellt, bereichert, manipuliert oder forciert? Was wir uns schlecht vorstellen können, sind Blickwechsel, die ganz und gar folgenlos bleiben, zumindest dann, wenn mindestens zwei, in räumlicher Nähe zueinander stehende Entitäten (z.B. Kunstwerke an einer Wand, zwei Schnittmonitore in einem Film Farockis oder aber erotische Graphiken in Kleinserien etc.) den Betrachtern ein wie auch immer geartetes Vergleichsangebot unterbreiten. Das gilt aber nicht nur für sinnlich erfahrbare Situationen des Hin- und Herblickens. Auch spezifische Diskurse (z.B. über Kolonialität, über Farbe etc.), Beobachtungen oder Erfahrungen performativer Vollzüge (z.B. die Interaktion mit anderen Ausstellungsbesuchern) oder aber quantitative und diagrammatische Gegenüberstellungen (z.B. Rankings) motivieren Blickwechsel. Nur sind es nun solche zwischen Kulturen, Kunsturteilen, zeitlichen Erfahrungsräumen oder aber Ordnungsprinzipien. Man könnte von Blickwechseln im übertragenen Sinne oder vielleicht auch ›metaphorischen Blickwechseln‹ sprechen. Wie für den körperlich erfahrbaren Wechsel des Blicks zwischen zwei oder mehreren Gegenständen sind auch hier potentiell alle Formen der Konfrontation, Überlagerung, Manipulation, Bereicherung usf. denkbar. Die Lektüre zweier sich widerstreitender Kunstkritiken zu einem bestimmten Kunstwerk etwa wird die Leser nicht nur dazu herausfordern, die vorgebrachten Argumente gegeneinander abzuwägen, sondern ihren Blick auf das besprochene Kunstwerk spätestens bei der Betrachtung des Werkes verrücken, zurichten, schärfen oder verunsichern. Doch erweist sich der Moment nach dem Blick immer auch als Moment vor dem folgenden Blick, der der unmittelbaren apperzeptiven Erfahrung eines weiteren Artefaktes vorgängig ist. Fraglos bewegen sich die Blickwechsel in einer solchen Konstellation auf unterschiedlichen Ebenen, nämlich zwischen einem intellektuellen und sensuellen Hin- und Herblicken. Ist der Blickwechsel somit
Ein Blick zurück
also eigentlich ein ubiquitäres, vielleicht sogar triviales Phänomen, das in unsere alltäglichen Überlegungen und Praktiken ganz selbstverständlich eingewoben ist und keiner weiterführenden Erläuterung bedarf? Die Beiträge des Bandes zeigen, dass dem nicht so ist. Vielmehr ermöglichen Blickwechsel überhaupt erst Perspektivwechsel auf Akteure, Artefakte und Praktiken, und können somit als performative Nuklei par excellence für Veränderungen begriffen werden. Offenbar passiert etwas beim Blick von ›A‹ nach ›B‹ und meistens zurück zu ›A‹. Nur was? Bei aller thematischer, epochaler und methodischer Vielfalt wird in den im Band vorliegenden Aufsätzen rasch deutlich, wie der Blickwechsel von ›A‹ nach ›B‹ immer auch bedeutet, dass die Betrachter, ruht ihr Blick erst einmal auf ›B‹, ›A‹ schon explizit aus ihrem Sichtfeld oder ihrem intellektuellen Horizont ausklammern müssten, um ›B‹ nicht vermittelt durch oder in Abgrenzung zu ›A‹ wahrzunehmen. Der Blickwechsel ist also kontextsensibel und zuallermeist geht er – wie in der Einleitung dieses Bandes deutlich wird – mit Praktiken des Vergleichens einher. Das können solche sein, die hinsichtlich von Form- und Farbähnlichkeiten angestellt werden, aber auch solche, die etwa die Tragfähigkeit zweier konträrer Konzepte auf den Prüfstand stellen, oder gar solche, die die verglichenen Objekte selbst verändern oder transformieren.
1.
Vergleichsgebote
Manchmal gelangt das mit dem Blickwechsel einhergehende Vergleichen selbst in den Blick und manifestiert sich in Praktiken, wie etwa der Erstellung oder Variierung einzelner Graphiken zu Pendants oder Suiten, deren Pointe – wie Johannes Grave in seinem Beitrag zum Vergleichen und zur Pendantbildung in der französischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts zeigen kann – womöglich gerade darin lag, »ein offenes, spielerisches Vergleichen einzuüben«.1 Man könnte solche Praktiken der temporal versetzten Gegenüberstellungen als kontingente Nachgedanken abtun, aber man könnte sie auch als Kristallisationen intendierter Blickwechsel ansehen, die auf das Vergleichen selbst zielen und aus dem Vergleichsangebot ein Vergleichsgebot machen. Denn selbst dann, wenn etwa eine Suite nur aus dekorativen Gründen gebildet worden sein sollte, gründet ihre Zusammenstellung auf der Gleichartigkeitsannahme von zwei oder mehr Artefakten. Die von Grave 1
Vgl. im vorliegenden Band Seite 104.
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beschriebene Praxis der Pendantbildung war nicht allein auf die Druckgraphik beschränkt, sondern kann als ein Leitmotiv innerhalb des Umgangs mit Bildern im 18. Jahrhundert verstanden werden. Erstaunt in Graves Beitrag vor allem die große Freiheit, mit der immer neue Reproduktionsstiche zu Pendants spielerisch variiert wurden und die eher beiläufig darauf hinweisen, dass die Stecher dezidiert auf ein ›vergleichswütiges‹ Publikum zielten, dominiert in Sammlungspräsentationen wie derjenigen des Schlosses Weißenstein in Pommersfelden ein relativ statisches Display. Auch Robert Eberhardt konzentriert sich in seinem Beitrag zur Großen Galerie des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn auf Schloss Weißenstein auf die Frage nach der Rezeption, inwiefern also in diesem Fall eine symmetrisch gegliederte und übervoll ausgestattete Galeriewand den Modus des vergleichenden Sehens notwendigerweise herausfordert, zugleich jedoch partiell auch verunmöglicht. Die Beobachtung, dass eine Wand voller Bilder die Betrachter zwar notwendigerweise zum Blickwechsel zwingt, aber zugleich mit dem Gefühl einer körperlichen Überforderung oder Überwältigung einhergehen kann, führt zu einer bemerkenswerten Einsicht: Nicht jedes Vergleichs(an)gebot ermächtigt den Betrachter auch tatsächlich dazu, sinnfällige Vergleiche zu vollziehen. Das wird besonders dann deutlich, wenn Eberhardt die von Salomon Kleiner gestochenen Interieurveduten des Schlosses Pommersfelden analysiert, die das Überwältigungspotential der Bilderwand durch eine Verzerrung des Maßstabes – der Raum im Stich wirkt um ein Vielfaches höher und größer – derart simulieren, dass sie eine ›Lesbarkeit‹ und damit nachgerade eine Binnenvergleichbarkeit des abgebildeten Hyperimages nur unter größter Mühe zulassen. Doch scheint das auch gar nicht die Aufgabe der vor allem auf Repräsentation zielenden Stichserie gewesen zu sein; sie kann auf das in der Einleitung dieses Bandes beschriebene Selbstverständnis der Akteure ebenso hoffen wie auf ein fest in der Zeit verankertes Gespür für die materiellen Zurichtungen und Präsentationsformen von pluralen Bildarrangements im 18. Jahrhundert.
2.
Wissensgenerierende Blickwechsel
Der Wechsel des Blicks ist die performative Grundbedingung visueller Vergleiche. In den bislang beschriebenen, für das 18. Jahrhundert charakteristischen Präsentationsformen von Bildern wird zwar zum Blickwechsel und somit auch zu Vergleichsoperationen herausgefordert, aber doch ist es denkbar,
Ein Blick zurück
dass die Praktiken selbst weitgehend ›ziellos‹ bleiben, dass sie – mit anderen Worten – gerade nicht darin aufgehen, den Betrachter an bereits vorherbestimmte Erkenntnisziele gelangen zu lassen. In solchen Fällen kann das Vergleichen zu einer Praxis werden, die ihren wesentlichen Zweck in ihrem Vollzug selbst findet. Anders verhält es sich dort, wo Blickwechsel in zunehmendem Maße in routinisierte Handlungsverläufe überführt wurden, um gezielt Wissen zu generieren. Das gilt gleichermaßen für »communities of practice« wie die Kunstkenner und Antiquare. In seinem Beitrag »Farbe und Kennerschaft« geht Joris Corin Heyder der bislang kaum beachteten Frage nach der Bedeutung von Praktiken des Vergleichens für die Beurteilung von Farben innerhalb der Kunstkennerschaft nach. Um ein Urteil über die spezifische farbliche Gestaltung eines Bildes treffen zu können, bedarf es einer Verkettung von vorgängigen Vergleichsoperationen, die sowohl mit Blick auf die materialen Eigenschaften der Kunstwerke selbst wie auch auf die Urteile anderer Kenner erfolgten. Die Farbigkeit eines Gemäldes erweist sich als eine besonders schwer formalistisch zu fassende Eigenschaft, die im 18. Jahrhundert lediglich durch die subjektive vergleichende Betrachtung oder ihre diskursive Erfassung in bereits existierenden Beschreibungen, nicht aber durch das Vergleichen der überwiegend monochromen Reproduktionsgraphiken möglich war. Dass sich dieser Umstand durchaus gegenläufig zu den ansonsten auf Disziplinierungen hin angelegten ordnenden Vergleichspraktiken der Kenner verhielt, erklärt vielleicht, warum gerade für die Beurteilung von Farbe und Farbigkeit besondere Verdichtungen von Blickwechseln konstatiert werden können. Solche permanenten Blickwechsel zwischen aus der Empirie gewonnenen Informationen und strittigen Konzepten – wie sie etwa in der Querelle des Anciens et des Modernes aufscheinen – zeigen zweierlei: Vergleichsoperationen trugen erheblich zur Wissensgenerierung bei, waren aber in gleichem Maße dazu geeignet, Wissen in bestimmte Richtungen zu manipulieren. Ein Farburteil wurde also im Zweifelsfall nicht durch die Autopsie verschiedener Werke, sondern durch die diskursiv gewonnene Bedeutung eines Künstlers erzielt. Den manipulativen Charakter von Vergleichsoperationen kann Hans Christian Hönes in seinem Beitrag »Klassizismus, Weltkunst und die Verführungen des Bildvergleichs« aufzeigen. Hönes führt vor, wie durch Vergleiche von Formähnlichkeiten auf vermeintliche gemeinsame genealogische Wurzeln einer globalen Kunstproduktion geschlossen wurde. Die diffusionistische Perspektive verschloss sich freilich den auf die Differenzen hin ausgerichteten Vergleichen, indem sie auch in entferntesten Ähnlichkei-
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Joris Corin Heyder
ten noch Nachweise für eine historisch kontinuierliche Kulturausbreitung suchte. Überspitzt formuliert könnte man schlussfolgern: Blickwechsel, selbst mit dem Anspruch Wissen zu generieren, führen nicht immer nur zu einer Erweiterung von Perspektiven, sondern können umgekehrt auch dafür genutzt werden, sich stets nur passenden Argumenten zuzuwenden. Dem entgegen steht nach Hönes – spätestens seit Heinrich Wölfflin – der »Vergleich als Methode der Differenzierung«; die Blickwechsel seien in der Lage immer wieder »neue, unvoreingenommene und überraschende Perspektiven sowohl auf das Eigene wie auf das Fremde« zu eröffnen.2 Freilich sind auch differenzsensible Vergleichspraktiken charakterisiert durch Zurichtungen, die nicht nur in der Lage sind, den Blick auf einen bestimmten Aspekt scharfzustellen, sondern die ihn genauso gut verstellen können.
3.
Kuratierte Blickwechsel
Das ›Gemachte‹ oder die ›Gerichtetheit‹ von Blickwechseln lässt sich also kaum hintergehen; stets werden wir Situationen vorfinden, in denen der Blick in einer bestimmten Weise gelenkt wird. Das gilt in besonderem Maße für Kunstausstellungen, die nahezu immer dem Prinzip des vergleichenden Sehens verpflichtet sind. Anders als noch im 18. Jahrhundert finden sich heutzutage multiple Formen von nicht mehr normierten Ausstellungsdisplays, die damit die Gestaltung der Ausstellung durch die Kuratorinnen und Kuratoren selbst in das Licht der Aufmerksamkeit rücken. Mehr noch: Wie Britta Hochkirchen in ihrem Beitrag zu kuratorischen Praktiken des Vergleichens in der Ausstellung Time is Out of Joint belegen kann, fußen Praktiken des Kuratierens nicht nur ganz wesentlich auf vorgängigen Praktiken des Vergleichens, sondern sie stiften immer auch ein »spezifisches Verständnis von (historischer) Zeit«.3 Die Autorin arbeitet dabei die Verwobenheit der Eigenzeitlichkeit der Kunstwerke im Kontrast und Zusammenspiel zum ›Zeitregime‹ im Raum heraus. Was Hochkirchen an der von ihr analysierten Ausstellung exemplarisch nachvollzieht, lässt sich im Prinzip auch in anderen zeitgenössischen Ausstellungen beobachten, denen ein offenes, relationales kuratorisches Konzept konzediert werden kann: Durch ein freies Umherschreiten können die Betrachterinnen und Betrachter immer wieder in den 2 3
Vgl. im vorliegenden Band Seite 75. Vgl. im vorliegenden Band Seite 127.
Ein Blick zurück
Blickwechsel von einem auf das andere Werk verstrickt werden, bestimmte Vergleichshinsichten drängen sich dabei auf, andere treten in den Hintergrund. Es kann sich um Vergleiche der Materialität zweier Werke genauso wie um die leibliche Erfahrung zwischen den Kunstwerken handeln. Stets aber entbergen die Werke ihre Verkoppelung in unterschiedlichen Zeitschichten. In diesem Sinne vermögen es kuratorische Praktiken des Vergleichens in besonderer Weise, chronologische Ordnungsmuster zu durchbrechen und auf neue Formen des Geschichtsverständnisses zu etablieren. An diesen Gedanken schließt auch der Beitrag von Sophia Prinz zum vergleichenden Sehen im enzyklopädischen Museum an, der Einblick in die kuratorische Arbeit an einer zeitschichtensensiblen Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe bietet. Die Autorin arbeitet zunächst kritisch die überwiegend kulturvergleichende, identitätsgeleitete Perspektive enzyklopädischer europäischer Museumssammlungen heraus und fragt danach, wie man gerade durch die Nutzbarmachung des vergleichenden Sehens neue Wahrnehmungsformen einzuüben vermag, die dieses Paradigma zu überwinden in der Lage sind. Der Vorschlag, die essentialisierte kulturelle Differenz durch Ausstellungsdisplays abzulösen, die relationale und transkulturelle Verflechtungen erfahrbar werden lassen, können als Plädoyer für einen vielschichtigen, komplexen Wechsel des Blickes verstanden werden. Prinz’ Vorschlag zielt auf das performative Prinzip des nie endenden Blickwechsels, der nur darin aufgeht, dass immer wieder neue Perspektiven auf Artefakte und Geschichte(n) gesucht, gefunden und überwunden werden.
4.
Die Blickwechsel im Blickwechsel
So problemlos der Blickwechsel körperlich und metaphorisch erfolgen kann, so variabel kann er in verschiedenen Medien vollzogen werden. Doch wie verhält es sich, wenn das Medium der Betrachtung selbst nicht mehr statisch ist, wie das Artefakt in einer Ausstellung, sondern aus einer Aneinanderreihung von zahllosen Einzelbildern besteht? Der abschließende Beitrag des Bandes von Eva-Maria Gillich und Helga Lutz zur filmischen Montage als einer Praxis des Vergleichens widmet sich dem bewegten Bild und mithin dem medial integralen Blickwechsel. Das bemerkenswerte an der vorgestellten Arbeit des Filmemachers Harun Farocki besteht zweifelsohne darin, dass hier nicht nur die Praxis der Filmmontage selbst, sondern auch ihr Ergebnis als ein komplexes Geflecht aus Vergleichsoperationen thematisiert wird. Die Blickwech-
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Joris Corin Heyder
sel zwischen den Schnittmonitoren, die Verflechtungen mit den Voice-overs des Filmemachers sowie die permanenten Vergleichs(an)gebote arbeiten einer kritischen Wahrnehmung der Vergleichspraktiken zu. Ansichtig werden dabei auch die Blickwechsel im Blickwechsel: Mithilfe von Loops spielt Farocki wiederholt bestimmte Bildsequenzen ein. Der Blickwechsel wird performativ wiederholt und scheint in einer Mise en abyme gefangen. Diese Gefangenheit im unausweichlichen Vor- und Zurückblicken weist aber zugleich auch eine offene Tür: Nur wenn es gelingt, die Blickwechsel stets aufs Neue offenzulegen, lässt sich ihr epistemisches Potential einholen.
Autorinnen und Autoren
Robert Eberhardt (M.A.), geb. 1987, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte der Universität Bielefeld und forscht im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens« über »Typen und Funktionen von Pendants. Praktiken der paarweisen Zusammenstellung von Bildern im 18. Jahrhundert.« Eva-Maria Gillich (M.A.), geb. 1987, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bildwissenschaft/Kunstgeschichte der Universität Bielefeld und promoviert im Sonderforschungsbereich »Praktiken des Vergleichens« (SFB 1288). Johannes Grave (Prof. Dr.), geb. 1976, lehrt Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Projektleiter im Sonderforschungsbereich »Praktiken des Vergleichens«. Im Zentrum seiner Forschungen stehen die Kunst um 1800, die Frührenaissance sowie bildtheoretische Fragen. Joris Corin Heyder (Dr. des.), geb. 1981, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte der Universität Bielefeld. Im Rahmen seines Habilitationsprojekts geht er im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens« derzeit der Frage nach dem Imperativ des vergleichenden Sehens in kennerschaftlichen Praktiken zwischen dem 17.–19. Jahrhundert nach. Britta Hochkirchen (Dr.), geb. 1982, ist Akademische Rätin am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld und Teilprojektleiterin im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Sie forscht zu kuratorischen Praktiken des Vergleichens in
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Autorinnen und Autoren
Kunstausstellungen der Moderne und zur französischen Kunst im Zeitalter der Aufklärung. Hans C. Hönes (Dr.), geb. 1986, ist Lecturer in Kunstgeschichte an der Universität Aberdeen. Zuvor hat er am Courtauld Institute of Art, an UCL und dem Warburg Institute London gearbeitet. Hans Christian Hönes hat Kunstgeschichte an den Universitäten Würzburg und München studiert (Dr. phil. 2013) und zahlreiche Publikationen zur Kunst und Kunstgeschichte seit dem 18. Jahrhundert vorgelegt. Helga Lutz (Prof. Dr.), geb. 1965, lehrt Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld und ist Projektleiterin im dort angesiedelten SFB »Praktiken des Vergleichens« mit einem Projekt zu Harun Farocki sowie Teilprojektleiterin in der DFG-Forschergruppe »Medien und Mimesis« der Bauhaus-Universität Weimar. Sophia Prinz (Prof. Dr.), geb. 1979, ist seit 2018 Gastprofessorin für Theorie der Gestaltung an der Universität der Künste, Berlin. Sie forscht u.a. zu Praktiken der Wahrnehmung, zur Ausstellung als ästhetisch-epistemologisches Medium sowie der transkulturellen »Migration der Form« in der Globalen Moderne.