Mein Zeitgeist: Philosophieren vor dem Ende des Lebens 9783495997376, 9783495997369


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1. Der mächtigste Geist der Zeit
I. Der Teufel braucht den Menschen
II. Faust ist Schuld, nicht der Teufel
III. Die Unbedenklichen setzen sich durch
IV. Verführer und Verführte kooperieren
V. Der mächtigste Geist der Zeit ist nicht allmächtig
VI. Das neue Glück
VII. Leben als Quantität
2. Die Zeit ist aus den Fugen
I. Heilsgeschichtliche Verklärung des aus den Fugen
II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart
III. Die Überheblichkeit geistig-geistlicher Menschheitsretter
IV. Technomessianismus
V. Das hat die Evolution angerichtet
3. Die künftige Welt
Die Menschenwelt ist aus den Fugen, bleibt aus den Fugen. Der Stärkere wird nie damit aufhören, sich sein Recht zu nehmen, das in Wahrheit ein Unrecht ist. Heute sind es, global führend, die Mächtigen im Silicon Valley, die dieses Unrecht für sich zu nutzen verstehen. Lokal sind es Zerstrittene, die bis zur Grausamkeit bereit sind, ihr vermeintes größeres Recht durchzusetzen. Unsere Geschichte ließe sich auch schreiben als die des Aufstands gegen die Weltverstörer und Weltzerstörer im Großen und Kleinen. Mir hat der Antiheld gefallen, den Archilochos (um 700–645 v. Chr.) dichtet. Der fand das Sichabmetzeln in der Schlacht nicht gut und warf seinen Schild weg, um schneller vom Feind wegrennen zu können: »Was liegt mir an diesem Schild? Fahre hin! Demnächst kauf ich den gleichen mir nach«. Auch was Aristophanes (um 445–385 v. Chr.) in »Lysistrate« dramatisch als Komödie aufführt, fand ich eine gute Idee: Die Frauen verweigern sich den Männern, die am Krieg schuld sind, um sie zum Friedenmachen zu zwingen. Das war Verweigerung, gerichtet gegen den herrschenden Zeitgeist. Nicht so feinsinnig und auch nicht notwendig effizienter sind Revolution und Tyrannenmord. Doch eine Geschichte des erfolgreichen und erfolglosen Widerstands gegen die Betreiber des Aus-den-Fugen und ihren Zeitgeist zeichnete nicht das wahre Bild vom sich nach Eintracht und Frieden sehnenden Menschen. Sie unterschlüge, daß er sich weit mehr den geistigen und geistlichen Kräften, ja Mächten anvertraut hat, das Unrecht, das er in seiner Welt sieht und das ihm in ihr geschieht, zu überwinden. Er hat dann gegen das Unrecht nicht dessen Waffen genutzt, sondern die der Kunst, die Kunst des Denkens und die Kunst des religiösen Glaubens.
I. Die Philosophen
I.1 Nachdenken, ja – aber wie und über was?
I.2 Platon
I.3 Aristoteles
I.4 Kant
I.5 Adorno
II. Die Mystiker
II.1 Zhuang Zi
II.2 Heidegger
III. Die Gläubigen
III.1 Das Wunder der Religion
III.2 Religion versus Religion
III.3 Die Last mit der Religion
4. Das Leben als Kunstwerk
I. Gegen die Instrumentalisierung
II. Amlebensein
III. Sich notwendig werden
IV. Das Selbst – ein Kleinod
V. L’art pour l’art
VI. Lebensvertrauen
VII. Die andere Selbstlosigkeit
VIII. Die freie Künstlerschaft
IX. Die andere Endlichkeit
5. Zukunft des Humanum
I. Zukunft?
II. »Schule des Lebens«
III. Künstliche Intelligenz contra menschlicher Mensch – ein Satyrspiel
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Mein Zeitgeist: Philosophieren vor dem Ende des Lebens
 9783495997376, 9783495997369

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Rainer Marten

Mein Zeitgeist Philosophieren vor dem Ende des Lebens

2. Auflage

https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Rainer Marten

Mein Zeitgeist Philosophieren vor dem Ende des Lebens

2., durchgesehene Auflage

https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Onlineversion Nomos eLibrary

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99736-9 (Print) ISBN 978-3-495-99737-6 (ePDF)

2., durchgesehene Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Der mächtigste Geist der Zeit . . . . . . . .

11

I.

Der Teufel braucht den Menschen . . . . .

13

II.

Faust ist Schuld, nicht der Teufel . . . . . .

15

III.

Die Unbedenklichen setzen sich durch . . .

18

IV.

Verführer und Verführte kooperieren . . .

22

V.

Der mächtigste Geist der Zeit ist nicht allmächtig . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

VI.

Das neue Glück . . . . . . . . . . . . . . . .

30

VII. Leben als Quantität . . . . . . . . . . . . .

36

Die Zeit ist aus den Fugen . . . . . . . . . . .

41

I.

Heilsgeschichtliche Verklärung des aus den Fugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

II.

Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

III.

Die Überheblichkeit geistig-geistlicher Menschheitsretter . . . . . . . . . . . . . .

54

IV.

Technomessianismus . . . . . . . . . . . .

59

V.

Das hat die Evolution angerichtet

66

. . . . .

5 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Inhaltsverzeichnis

3.

Die künftige Welt . . . . . . . . . . . . . . . .

71

I.

76

Die Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . I.1

II.

III.

4.

Nachdenken, ja – aber wie und über was? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

I.2

Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

I.3

Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . .

79

I.4

Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

I.5

Adorno

. . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Die Mystiker . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

II.1 Zhuang Zi . . . . . . . . . . . . . . . .

85

II.2 Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Die Gläubigen . . . . . . . . . . . . . . . .

92

III.1 Das Wunder der Religion

. . . . . . .

92

III.2 Religion versus Religion . . . . . . . .

96

III.3 Die Last mit der Religion . . . . . . . .

101

Das Leben als Kunstwerk . . . . . . . . . . . 107 I.

Gegen die Instrumentalisierung . . . . . .

109

II.

Amlebensein . . . . . . . . . . . . . . . . .

114

III.

Sich notwendig werden . . . . . . . . . . .

118

IV.

Das Selbst – ein Kleinod . . . . . . . . . . .

122

V.

L’art pour l’art . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

VI.

Lebensvertrauen . . . . . . . . . . . . . . .

128

6 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Inhaltsverzeichnis

5.

VII. Die andere Selbstlosigkeit . . . . . . . . . .

136

VIII. Die freie Künstlerschaft . . . . . . . . . . .

141

IX.

145

Die andere Endlichkeit . . . . . . . . . . . .

Zukunft des Humanum . . . . . . . . . . . . 149 I.

Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

II.

»Schule des Lebens« . . . . . . . . . . . . .

153

III.

Künstliche Intelligenz contra menschlicher Mensch – ein Satyrspiel . . . . . . . . . . .

158

7 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Vorwort Auf einem Nachmittagsspaziergang ließ sich Martin Heidegger von meinen Plänen für eine Doktorarbeit bei dem mir von ihm verordneten Lehrer Eugen Fink berichten. Als wir uns verabschiedeten, sah er mich an und sagte »Jetzt kommt es nur noch auf die Darstellung an«. Dieses »nur« hat mich mein Leben lang verfolgt. Jetzt steht es wieder vor mir. Die Gedanken sind reif; aber wie die rechte Ordnung in sie bringen, wie die nötige Überzeugungskraft, ja wie überhaupt anfangen? Mein Zeitgeist – dann sollte ich wohl mit mir anfangen? Doch nein, gerade dann mit uns. Wir haben ihn gemeinsam geschaffen. Helga Marten, meine Frau, malt seit ihrer Kindheit. Ich wußte mit sechzehn, daß ich Philosophie studieren werde. Das kam so. Ich hatte einen Einberufungsbefehl zum 12. April 1945 zur Kriegsmarine nach Stralsund erhalten. Gerade fünfzehn gewor- den, kam ich für ein Jahr zur Flak nach München, anschließend zum Reichsarbeitsdienst. Jetzt sollte ich wie in letzter Minute von Starnberg durch den eng gewordenen Korri­ dor zwischen den Fronten den Weg an die Ostsee finden. Mein Vater, ein überzeugter Nationalsozialist, der später einsah, dem Falschen gefolgt zu sein, brachte mich in Starnberg an den Zug. Niemand zeigte mir einen Ausweg. So fuhr ich am 9. April los und kam tatsächlich zur Zeit an. Nach gut zwei Wochen militä­ rischer Grundausbildung und Ausladen von Schwerverletzten der Kurlandfront, wurden wir Seekadetten in Viehwaggons ver­ laden. Ein weiser Admiral hatte uns nicht, wie erwartet, in das umkämpfte Berlin geschickt, sondern uns zu unserer Rettung auf den Weg nach Dänemark gebracht. Beim Grenzübertritt nach Dänemark hörten wir einen betrunkenen dänischen Eisenbahn­ arbeiter rufen »Hitler kaput«. Es wurde still. Einige weinten. Mir aber wurde unmittelbar klar »Jetzt muß nachgedacht werden. Ich werde Philosophie studieren«. Daran habe ich unbeirrt festge­ 9 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Vorwort

halten. Meine Frau war sich nach einem Jahr Universitätsstu­ dium als Zwanzigjährige sicher, daß ihre Sache die Malerei, nicht die Wissenschaft ist. Begegnet sind wir einander vor einer Jugendherberge im Schwarzwald, unweit von Heideggers »Hütte«, sie neunzehn, ich zweiundzwanzig Jahre alt. Ein junger Dozent hielt dort ein Wochenendseminar – Thema: »Die ewige Wiederkehr des Gleichen« von Friedrich Nietzsche. Wir heira­ teten zwei Jahre später noch als Studenten. Jetzt sind wir alt geworden. Der junge Dozent ist vor langer Zeit in hohem Alter gestorben. Unsere drei Kinder haben die Mitte des Lebens über­ schritten. Das späte Leben verlangt ungewohnt stark nach seiner Verantwortung. Die Malerin ist dabei, Gesichter toter jüdischer Dichter neu zu sehen und neu zu sehen zu geben. Heute war es wieder Joseph Roth. Und der Philosoph? Ja, der sitzt vor dem neuen Nur, und das vielleicht nicht zum letzten Mal.

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1. Der mächtigste Geist der Zeit

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I. Der Teufel braucht den Menschen Je mächtiger ein Geist ist, umso weniger schert er sich darum, auf wessen Kosten er seine Macht bewahrt und ausbaut. Was gilt ihm schon die Schönheit des Landes, wenn er es für seine Zwecke braucht, was der Frieden im Lande, wenn er seinen Vorhaben im Wege steht? »Vor Augen ist mein Reich unendlich« – das ist Faust unmöglich genug. Auch »(i)m Rücken« kann er nichts dulden, das nicht ihm gehört. Das ist schon unheimlich: Damit es auf Erden und unter Menschen teuflisch zugeht, braucht der Teufel den Menschen, nicht aber ebenso der Mensch den Teufel. Wie der Apostel Paulus das Verhältnis von Gott und Mensch erzählt, braucht der Gott den Menschen, um sich als Gott erwei­ sen zu können. Von sich aus hätte der Mensch den Gott nicht gebraucht. Gott braucht von ihm erklärte Sünder, um seine Großtat ausführen zu können: das Opfer des eigenen Sohnes aus Barmherzigkeit mit den erlösungsbedürftigen Menschen. Faust, der exemplarische menschliche Geist, richtet in diesem Augen­ blick sein Begehren nicht auf Einsicht und Wissen, auch nicht auf ein erotisches Abenteuer, sondern auf handfesten Besitz. Der Teufel hat ihn. Weil ihm nach hinten die Unendlichkeit des Besitzes fehlt, kann er für sich nur feststellen: »Mein Hochbesitz er ist nicht rein«. Ist einem Mächtigen und Reichen im 1. Buch der Könige im Alten Testament der Weinberg eines anderen ein Dorn im Auge und einen Mord wert, ihn in Besitz zu bekommen, dann ist es Faust in der Rundumsicht seiner Besitzgier wert, die ganze Philemon-und-Baucis-Romantik zum Teufel zu jagen und »spitzen Flammen« zu überlassen, »Purpurrot im Glühn«. Faust ist, von höherer Macht dazu gebraucht und gebracht, dem Fort­ schritt verfallen: Land und Meer zu versöhnen, die ganze Welt neu zu gestalten. Ja, er ist dazu gebraucht und gebracht, Macht zu haben: »Man hat Gewalt, so hat man recht«. Fortschrittliche Modernität hat ihren Preis. Hat jemand hehre Pläne, dann blüht 13 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Der Teufel braucht den Menschen

das Billigend-in-Kauf-Nehmen. Sobald es gelingt, das eigene Machtstreben ideologisch zu verbrämen, werden Zerstörung und Vernichtung, die es mit sich bringt, zu läßlichem Beiwerk, Kollateralschaden genannt. Was für ein Realismus der Poesie: Die Mächtigen und Übermächtigen brauchen allem zuvor das Gebrauchtsein, um ihre Macht ausüben zu können. Mephisto braucht das Gebrauchtsein durch Faust, wie sollte er ihn sonst »sacht« auf seine Straße führen, »von seinem Urquell ab«? Als ich mir einmal das Evangelium der Alten Kirche, das Matthäusevangelium vor­ nahm, um es in einem Zug zu lesen, war ich danach wie benom­ men von dem unausgesetzten Versuch der Hauptperson dieser Dichtung, als Messias geglaubt und das heißt als Geglaubter gebraucht zu werden: geglaubt als der Sohn Gottes, geglaubt als Erlöser von den lebenserstickenden Sünden. Doch anders als der mit dem »Herrn« im Bunde stehende Mephisto Goethes, anders auch als der mit Jahwe im Bunde stehende Satan des Buches Hiob war hier kein Verführer und Versucher am Werk, allerdings auch kein Bittender und Einladender, sondern ein Drohender: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich«, wer nicht mit mir im Himmel wohnen will, wird Qualen der Hölle erleiden. Nein, das paßt nicht in den Kontext, den mächtigsten Geist unserer Zeit einzu­ führen. Der zieht Verführung der Bedrohung bei weitem vor. Der hat aber auch kein Himmelreich zu bieten, sondern muß die durch ihn in Gang gehaltene und beschleunigte Beschädigung der Lebenswelt als verheißungsvollen Fortschritt verkaufen. Doch die Lektion ist jetzt gelernt: »Der hat angefangen«, wie es auf dem Schulhof heißt, zielt auf den Verführer. Der Teufel hat angefangen. Er braucht den Menschen, nicht umgekehrt.

14 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Faust ist Schuld, nicht der Teufel Silicon Valley braucht uns. Aber brauchen wir es? Ja, ganz offensichtlich brauchen wir es. Die Prozentzahlen dieser und jener Nutzung überschlagen sich. Es verwundert fast schon, daß sie unter hundert Prozent bleibt. Sind wir dann, Goethes Faust gleich, Verführte? Die besonnene Antwort kann nur Ja lauten. Gutmütig geschätzt, ist mehr als die Hälfte der Nutzung der digitalen Medien in einem eindeutigen Sinne unnötig. Apple, Google, Facebook haben angefangen, nicht wir. Wir hatten keine Ahnung davon, so etwas zu brauchen, ja brauchen zu können. Nun aber brauchen wir diese drei und ihr weiteres Umfeld. Ihre Nutzung hat uns im Lebens- und Weltverhalten verändert. Verändert, wie wir sind, können wir von der Nutzung nicht mehr lassen, auch wenn sie uns selbst bisweilen zuviel wird. Der technologische Fortschritt, wie ihn die Großen im Silicon Valley planen, bringen und verkaufen, nimmt derzeit die Geister der Welt gefangen – zumeist im Für, nur selten im Wider. Die Gewöhnung an das eigene Verführtsein setzt sich klar gegen das Wissen um es durch, ja gegen alles Aufkeimen von Widerwillen gegen die Nutzung und Wissen um die Gefahren, die von den Netzwerken ausgehen – bis hin zur Gefährdung der Demokratie. So sind es auch mehr die Verführten, die den mächtigsten Geist dieser Zeit in Szene setzen, als dieser selbst. Die Firmenzentrale von Apple im kalifornischen Cupertino, ein durchsichtiger Glas­ palast größer als das Pentagon, steht vor der Fertigstellung. Aber was ist das schon gegen den Anblick der Städte mit den gesenkten Köpfen auf den Straßen und Bänken, mit den Müttern und Vätern, die nicht mit den Kleinen, die sie im Karren schieben, kommunizieren, sondern mit anderen Verführten, die am Ende nichts anderes zu sagen haben als »Alles klar«. Gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts ist es keine Prophezeiung mehr, sondern Gewißheit-, dass die zur 15 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Faust ist Schuld, nicht der Teufel

Herrschaft gekommene Digital-Kultur zu einer Revolution der menschlichen Nähe führt: Aus Unmittelbarkeit wird Vermitt­ lung. Was ist schon mein Blick in ein Gesicht und auf eine Stadtlandschaft gegen den meines Handys, der dem Augenblick Dauer und Wiederholbarkeit verleiht? Bereits in diesem kaum noch auffallenden Wandel des Verhaltens sehe ich Vorboten von Ungeheuerlichem: Die Nähe wird künstlich hergestellt. Die Apparate suggerieren Intimität. Wir beide verfügen nicht über Rundfunk und Fernsehen, haben keinen Computer im Zimmer und kein Handy in der Tasche. Wir wüßten wirklich nicht, wie diese Dinge uns nützlich sein könnten, mehr noch, wie sie uns nicht schaden sollten mit ihrem Angebot an Unnötigem und Anreiz zur Zeitvergeudung. Wir teilen nicht nur nicht den Geist dieser Zeit, sondern sind auch nicht jeder Form der Gewalt ausgesetzt, mit der er in den Alltag eingreift. Lese ich von heroischen Selbstversuchen, einmal eine oder gar zwei Wochen auf Smartphone zu verzichten, so ist das nicht mit Rau­ cherentzugsexzessen zu vergleichen. Raucher wollen ja wirklich das Teufelszeugs loswerden, wenn sie sich am Nichtrauchen versuchen, Smartphonenutzer dagegen wissen, daß sie das Zeug für immer brauchen werden. Da ist das Aussetzen der Nutzung auf Zeit mit der Gewißheit verbunden, gegebenenfalls auch von der Vorfreude durchstimmt, es wieder zu nutzen. Wie auch die führenden Konzerne des technologischen Fortschritts heute heißen und was auch ihre gegenwärtig am meisten abgesetzten Produkte sind – eines ist gewiß: Der Fortschritt geht weiter, nimmt weiterhin Fahrt auf, ist für Überraschungen gut und wird immer gekonnter damit reüssieren, uns so zu brauchen, daß wir ihn brauchen, ob wir es merken oder nicht, ob es gut für uns ist oder nicht. Gebe ich dem Zeitgeist, mit dem ich mich auseinandersetze, den Namen Silicon Valley, dann ist das richtig zu verstehen: Der Geist ist nicht der dieses Tals. Global geworden, wie er ist, ist er der Geist der Nutzer der Produkte geworden, die in jenem Tal ihren Ursprung haben. Geht es um die Frage, wer schuld am mächtigsten Geist der Zeit ist und 16 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Faust ist Schuld, nicht der Teufel

an den Wirkungen, die von ihm ausgehen, dann gilt nicht das Verursacherprinzip. Das Verursachte ist Schuld: die Nutzer sind es, die Verführten. Faust ist Schuld, nicht der Teufel.

17 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Unbedenklichen setzen sich durch Kein Mensch weiß, was morgen geschieht. Was ich zum Fortgang des technologischen Fortschritts sage, ist eine begründete Fort­ schreibung des Heute, aber nichts Unumstößliches. Dennoch sind Fragen nach der Zukunft des Menschen nicht nur erlaubt, sondern geboten, auch Versuche, auf diese Fragen zu antworten. Werden dadurch auch nicht Wahrheiten offenbart, so werden doch menschliche Einstellungen offenkundig, die nichts anderes spiegeln können als ein Pro und Contra zum herrschenden Zeitgeist. Seit die Globalisierung nicht mehr zur Disposition steht, sondern Tatsache ist, geht es weitsichtigen Geistern um nie weniger als das Ganze der Zeit, die dem Menschen gegeben ist, auf dem Planeten Erde sein Wesen zu treiben. Die Einen sehen ihn am Abgrund, ja eben am Ende, die Anderen erst am Beginn einer glänzenden Zukunft. Ein gefeierter Drehbuch­ autor aus Nebraska mit vier Oskars gibt dem Menschen noch zweihundert bis höchstens achthundert Jahre auf der Erde. Er folgt Wissenschaftlern, die gerade einen Punkt ohne Wiederkehr überschritten sehen: der Klimawechsel sei nicht mehr zu stop­ pen, die Menschheit nicht mehr zu retten. Als einem Meister der Satire ist ihm jeder Alarmismus fremd. Als Künstler sieht er sich der Wahrheit verpflichtet: Er gibt den Hofnarren, der die wahren Wahrheiten sagen darf. Dazu hat er sich etwas Unmögliches aus­ gedacht, den Planeten samt Menschen doch noch zu retten: Das »Downsizing«. Alles Menschliche wird kleiner; die Erde behält die Größe. Dann ist plötzlich für Alle und Alles wieder Platz. Mit dem Unmöglichen auf Mögliches zeigen – das ist nach meinem Geschmack. Mit diesem Künstler verstehe ich mich. Sein und mein Zeitgeist haben nicht wenig gemein, spricht er sich ja ebenso besonnen wie kunstreich gegen den mächtigsten Geist der Zeit aus. Den freilich kümmert das nicht, dafür ist er viel zu »self- conceited«. Der Gründer der Internet-Universität 18 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Unbedenklichen setzen sich durch

Udacity, ein deutschstämmiger Internetunternehmer im Silicon Valley, den die Zeitschrift »Foreign Policy« auf Platz vier der hundert einflußreichsten Denker (!) der Welt setzte, sieht den Menschen am Beginn eines immer angenehmeren, ungefährde­ teren und längeren Lebens. Toiletten mit fließendem Wasser, Strom aus der Steckdose und Telefon in der Hosentasche hätten wir schon und wir alle profitierten davon. Das erinnert mich an jenen G.I. aus Texas im Nachkriegsbayern, der die Überlegenheit der amerikanischen Zivilisation mit einem »We have plenty stuff of iceboxes« belegte. Der Gewährsmann der Internetkultur ist desselben Geistes, wenn er den Blick auf unsere ungleich angenehmere Zukunft richtet: »(I)m Silicon Valley denken wir jedoch oft, daß bislang eigentlich nur ein Prozent der interessan­ ten Erfindungen getätigt ist, aber neunundneunzig Prozent der interessanten Erfindungen noch fehlen«. Der mächtigste Geist der Zeit besticht durch seine Unbedenklichkeit und Voreinge­ nommenheit. Hatten zu keiner Zeit am American Way of Life auch nur annähernd die Hälfte der Amerikaner teil, so nimmt dieser Denker unbekümmert das Wort »alle« in den Mund, um sich daraufhin mit allgemein menschlichem Konsens das durch die Verwendung überflüssiger technologischer Neuerungen für angenehmer erachtete Leben (der Rezepte ausgebende, in den Kühlschrank integrierte Fernseher in der »zum smarten Infor­ mationszentrum der Familie« gewordene Küche) für alle als das bessere vorzustellen. Technologischer Fortschritt muß sich nicht rechtfertigen. Er weiß, daß er für sich spricht: für die technische Zukunft des Men­ schen als die, die am meisten Macht und Reichtum verspricht – für die, die ihn betreiben. Wer sich um den Klimawandel Sorgen macht, ja sich kundig macht, was durch ihn eigentlich in absehbaren Zeiten geschieht, muß den Mächtigen der Zeit altmodisch und fehlorientiert erscheinen. Das Entscheidende ist ja, daß dieser Fortschritt, der das, was Menschen brauchen, mehrheitlich in seine Gewalt gebracht hat, die Zukunft des Menschen besetzt hält. Der Physiker Stephen Hawking (1942– 19 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Unbedenklichen setzen sich durch

2013), der jetzt neben Newton und Darwin begraben liegt, gab dem fragilen Planeten Erde kaum mehr als tausend Jahre. Dann werde es sowieso nötig, ins Weltall umzuziehen. Er war es auch, der als erste Jahrhundertdevise die Verlängerung des menschli­ chen Lebens ausgab, als zweite die menschliche Fortpflanzung ohne Intimität. Diese Verklärung der Technik als einer von den Menschen gebrauchten ließ ihn auch an die Möglichkeit denken, daß bereits in einhundert Jahren der Computer klüger als der Mensch ist: »Das wird das größte Ereignis in der Geschichte der Menschheit werden – und möglicherweise auch das letzte«. Das ist schon nah an der Einsicht, daß im als Selbstzweck betriebenen technologischen Fortschritt wieder die Inversion des Brauchens statthat: Nicht der Mensch braucht die Technik; sie braucht ihn. Nicht die Technik ist an der Zerstörung der Wohnstätte Erde Schuld, sondern der Mensch. Im Zeitalter des Anthropozän, das um 1950 mit einer neuen Phase der Industrialisierung beginnt, und ein Jahrzehnt nach den Bush-Kriegen, das durch exponentielle Zunahme des Gebrauchs elektronischer Medien geprägt ist, zeigt der Mensch einmal mehr seine Wagnisnatur: Die Unbedenklichen setzen sich durch, Unbedenkliche, die nicht einmal davor zurückschrecken, sich selbst zu belügen, um ihre Bedenken loszuwerden. Sie verstehen sich so in Szene zu setzen, daß alles Aufbegehren gegen sie nurmehr danach aussieht, als sollte der Mensch seine besten Fähigkeiten ungenutzt lassen und von den bereits erfolgreich in Angriff genommenen Verbesserungen des Lebens wieder Abstand zu nehmen. Fließend Wasser im Haus und nicht am Brunnen vor dem Tore, das Licht anzuknipsen, nicht anzuzün­ den, die gewünschte Zimmer- und Kühlschranktemperatur ein­ zustellen, nicht die Treppen hochzugehen, sondern den Aufzug zu benutzen – zählt man dies und noch viel mehr auf, dann möchte man resümieren: Das muß doch nicht, ja das kann doch nicht alles gewesen sein. Höre ich Menschen am Ende des Lebens sagen »Das kann doch nicht alles gewesen sein«, als wäre das ein Argument für himmlische Zukunft, so höre ich die großen 20 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Unbedenklichen setzen sich durch

Verführer dieser Zeit Gleiches sagen, dies aber als Argument für einen Himmel auf Erden. Ja, so halten es Verführer und Ver­ führte: Iacta alea est, es gibt keinen Halt, schon gar kein Zurück. Dieser Fortschritt treibt sich selbst. Sein innerster Impuls ist, immer weiter, immer schneller fortzuschreiten, mit aller Macht und eben ohne Bedenken. Fortschritt ist im wahrsten Sinne des Wortes rücksichtslos. In Industrie und Markt, Wissenschaft und Technik herrscht Konkurrenz. Die ist für die sich miteinander Messenden und aufeinander Stoßenden nicht friedfertig. Der Ausdruck »feindliche Übernahme« für die Praxis von Firmen, sich andere Firmen gegen deren Willen einzuverleiben, trifft das, was geschieht: Feinde sind es, die in diesem Kräftemes­ sen aufeinandertreffen, gewillt, den Anderen, der die eigenen Vorhaben stört, zu vernichten. Für Joseph Schumpeter (1883– 1950) gehört zum Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung die »kreative Zerstörung«. Für Adam Smith (1723–1790) ist es Pflicht des Staates, dort für seine Bürger einzukaufen, wo es am billigsten ist. Das eine führt zu systemischer Arbeitslosigkeit, das andere zu Kinder- und Sklavenarbeit. Doch die Verführung ist gelungen: Die Verführten machen global von ihren Angebo­ ten Gebrauch, obwohl es weit eher die Verführer sind, die die Verführten brauchen.

21 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Verführer und Verführte kooperieren Von gelegentlichen Reibereien abgesehen, herrscht zwischen Verführern und Verführten bestes Einvernehmen. Jedes neue Produkt, das mehr kann, deutlich oder auch nur ein bißchen mehr, wird vom Markt dankbar aufgenommen, nicht selten den Händlern aus den Händen gerissen. Was für eine Entlastung für den Kochenden doch der 1000-Euro-Kochtopf bedeutet, der für die Kinder, denen man ein gesundes Leben wünscht, ganz von selbst das Gemüse nach jüngsten Erkenntnissen am gesündesten kocht. Fortschritt gibt es nur, wenn man ihn wagt und das heißt aufs Spiel setzt. Das trifft die das Spiel Betreibenden und die Mitspieler gleichermaßen. Ihr Wagnis ist bewußt bedenkenlos, bewußt auch ohne Rücksichtnahme auf das, was dadurch zu Schaden kommt und zerstört wird. Alles, was das Leben und die Handlungsabläufe bequemer, schneller, weitreichender und erlebnisreicher macht, hat sich auch schon legitimiert, von Nut­ zen, ja nötig zu sein. Die Rechnung geht auf: Innovation um der Innovation willen, Konsum um des Konsums willen. Diesen Pursuit of Happiness haben wir nie mitgespielt. Ich würde mich schämen, wenn dieser Aufruf zur Diktatur der Vitaleren und der Degeneration menschlichen Gelingens in unserer Verfassung stünde. Mir bleibt unverständlich, wie leicht sich weltweit die neoliberale Gesinnung durchsetzen konnte, daß Schwachsein ein Makel ist. Wie es ein Recht auf Demenz gibt, auf Demenz als Lebensform, so auch ein Recht, zu den Schwächeren zu gehö­ ren. Wie Margaret Thatcher ihre vitale Mitgift zum Standard gesellschaftlicher Existenzberechtigung machte, war typisch für das »›Recht‹ des Stärkeren«, dieses unheilvolle Credo der Neo­ liberalen. Kein Gott sagt mir, daß ich nett zu den Schwächeren sein soll, auch kein Gefühl des Mitleids und keine regula aurea, die auf dem do ut des beruht. In lebensteiligen Verhältnissen, wie sie Gemeinschaften und Gesellschaften nicht nur möglich 22 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Verführer und Verführte kooperieren

und nötig machen, sondern auch reichlich realisieren, erfolgt die Anerkennung der unterschiedlichen Mitgift und des unter­ schiedlichen Status spontan: Es gibt Starke und Schwache, Arme und Reiche, Gesunde und Kranke, Alte und Junge, Fröhliche und Traurige. Wem dagegen allein am gelingenden Miteinander von Stewardess und Fluggast, Anrainern von Gated Communities, Verführern und Verführten Anteil nimmt, taugt zwar zur Zierde des mächtigsten Geistes der Zeit, nicht jedoch als Beispiel für menschliches Gelingen. Wer den neoliberalen Geist auf der Seite der Betreiber oder der Nutzer des technologischen Fortschritts teilt, vergeht sich am Selbst. Selbsthaftigkeit entwickelt sich im Umgang der Selbste miteinander. Sie ist als Ergebnis einer gelungenen Individuation und Sozialisation Grund der Befähi­ gung, miteinander und füreinander zu leben. Geteilte Freiheit ist von der selbstisch genutzten als Frei­ heit verschieden. Die »Interessen«, von denen die Liberalen sprechen, meinen den eigenen Vorteil, das, was heute selfness und wellness als Wohl- und Selbstgefühl des Einzelnen sind. Mag in ihrem Erfolg auch das Glück eines Clans eingeschlossen sein, so kann es sich doch nur auf Kosten Anderer einstellen. Selbstisches Handeln schließt stets die Verweigerung eines Mitund Füreinander ein, nimmt die Schädigung Anderer billigend in Kauf: Was für eine frivole Unterstellung, daß diejenigen, die das »Glück« des Selbstischen nicht teilen, bloß neidisch auf ihn seien. Milton Friedmann, der Cheftheoretiker des Neoliberalis­ mus, ist es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelun­ gen, die Wirtschaftspolitik zu einer seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr dagewesenen Rücksichtslosigkeit anzuspornen: Gewinnmaximierung ist alles, dadurch erzeugte systemische Arbeitslosigkeit bedeutungslos. Der Stärke seiner ökonomischen Vernunft gewiß, gibt er den im Wettlauf um den größtmöglichen Wohlstand befindlichen Marktkräften, mit deutlichem Seitenblick auf die dabei Abgehängten, durch einen Buchtitel zu verstehen, wie die Dinge nun einmal laufen: There’s no such thing as a free lunch (1975) (dt. »Es gibt nichts umsonst«). 23 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Verführer und Verführte kooperieren

Caritative Freiküchen (»Tafeln«) sagen ihm nichts, kommunale und staatliche würde er bekämpfen. Doch menschliches Leben beginnt mit freier Mahlzeit. Das Bild der stillenden Mutter veranschaulicht fürsorgende Liebe als Sichverschenken – ohne Entlohnung. In der erotischen Liebe zeigt sich noch klarer das Einander des Sichverschenkens. Nicht das Do ut des, das seine eigene Berechtigung hat, regiert die Intimität des Einan­ derbrauchens, sondern die selbsthafte Zuwendung des Einen zum Anderen. Für den Neoliberalen kann es nichts gratis, das heißt zum Dank geben, weil Schenken und Verschenken nicht in sein Weltbild passen, schenkt er doch auch sich selbst nichts, wenn es gilt, Andere zu übervorteilen. Das ist beileibe keine Überzeichnung des mächtigsten Geis­ tes der Zeit, da Cleverness in der Übervorteilung Anderer und in der Steuerumgehung für ihn zu den Kardinaltugenden zählt. Lebenserfahrung und philosophische Arbeit führen mich dazu, dem, der unbeirrt seinen Vorteil wahrnimmt, das Recht abzusprechen, das zu tun. Das Recht, auf dem ich dieses Urteil gründe, ist ein ungeschriebenes grundständiges. Es ist das Recht, das jedes geschriebene und in Gesetze gefaßte Recht als seinen Grund braucht, um gerechtes Recht zu sein. Jedes erlassene Gesetz steht ab dem Moment seines Inkrafttretens bereits wieder zur Disposition, weil es immer wieder neu auf das ungeschriebene Gesetz abzustimmen (zu »justieren«) ist. Urbild des gerechten Rechts sind die ausgeglichenen Waagschalen. Der in der selbstisch geführten Konkurrenz Erfolgreiche wähnt alles Recht auf seiner Seite. Er kommt gar nicht auf die Idee, den in seiner Sicht zu Recht Erfolglosen Unrecht antun zu können. Genau darum nehme ich mir als Philosoph und lebensteilig Lebender, der den allgegenwärtigen und geradezu allmächtigen Geist der Zeit nicht teilt, das Recht, ihn auf seinen Rechtsbruch hinzuweisen. Dieser geschieht ja nicht nebenbei. Er ist in seiner Lebens- und Denkungsart verfestigt, menschliches Miteinander methodisch aus der Balance zu bringen. Für den selbstisch 24 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Verführer und Verführte kooperieren

Erfolgreichen ist die ihm Vorteil gewährende Ungleichheit der Menschen der Garant seines Glücks. Schön wäre es, wir könnten uns dabei beruhigen, daß das Regiment der Vitaleren ein historischer Irrweg sei. Doch schon früh zeigen uns Kenner der Materie wie Herodot und Platon, Polybios (um 200 bis um 120 v. Chr.) und Cicero, daß der Umschlag (Peripetie) der Verfassungen vom Guten zum Schlechten zu erfolgen pflegt: Aristokratie schlägt in Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) bzw. Timokratie (Herrschaft des am meisten Geehrten, weil am meisten Besitzenden), Demokratie in Ochlokratie (Herrschaft der Menge) oder Tyrannei um. Platon sieht die Demokratie durch das erreichte Unmaß der Freiheit gefährdet. Es ist, als hätte er die Deregulierung von allem und jedem im Blick gehabt, er, der ausdrücklich das »Recht des Stärkeren« als das große Unrecht darstellt. Die Freiheit, die sich der neoliberale Geist mit Rückendeckung der Politik nimmt, ist die selbstische, in der sich die Bedenken- und Rück­ sichtslosigkeit der Produktions- und Marktmächte voll ausleben kann. Es gibt kein Beispiel einer geschichtlichen Entwicklung, daß die Überreichen (Aristoteles: die allzu Wohlhabenden) und Übermächtigen ein Einsehen gehabt hätten, es könne mit ihnen nicht so weitergehen. So ist auch keine geschichtliche Entwicklung absehbar, die es den Vitaleren unmöglich machte, rücksichtslos Andere zu übervorteilen. Die selbstische Nutzung der größeren Lebenskraft ist eine geschichtliche Konstante, die jedem moralischen Anspruch, auch jeder erdachten Dialektik widersteht. Der mit dem Ziel größtmöglicher Bereicherung und größtmöglicher gesellschaftlicher Einflußnahme betriebene technologische Fortschritt bringt zwar fortlaufend sich im Wie und Wozu überbietendes Neues auf den Markt, in seinem Wagnischarakter aber spiegelt sich älteste menschliche Art: die gemeinschafts- und gesellschaftsrelevante Ungleichheit der Lebenskräfte. Die Einen sind stärker, geschickter, robuster und skrupelloser als die Anderen. Kommt diese Ungleichheit ohne rechtliche Einschränkungen und Zielvorgaben voll zum Zuge, 25 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Verführer und Verführte kooperieren

dann setzt sich der Mensch im Ausreizen seiner äußersten Möglichkeiten des Erkennens, Machens und Verführens selbst aufs Spiel. Den Mächtigen im Silicon Valley ist es gelungen, global die Mehrheit glauben zu machen, daß sie aufs Ganze gesehen Wohltäter der Menschheit sind. Die Milliarden, die sie demonstrativ für humane Zwecke ausgeben, sind weniger als sie trickreich an Steuern und durch ungerechte Entlohnungen sparen. Neben ihrer Art, Geld anzuhäufen und Macht über Menschen zu gewinnen, ist vor allem ihre Geschicklichkeit zu bestaunen, sich als Wohltäter angenommen zu wissen. Weil mit den Verführten die Mehrheit auf ihrer Seite ist, läßt sich auch unmöglich daran denken, sie durch Gewalt zu beseitigen. Man mag Attac als einen höchst ehrenvollen Versuch einschätzen, die Dinge von Grund auf zu ändern, doch er beruht auf einem Mißverständnis des Menschen. Der Mensch will verführt sein, er will das Gefühl haben, zunehmend angenehmer zu leben, und dies mit Aussicht auf ein längeres Leben. Er will diese unmittelbare Erreichbarkeit der Anderen nach seinem Belieben. Mag er auch gelegentlich mit ihm Probleme haben: Der Inter­ netbürger fühlt, ja weiß sich im Internet geborgen. Daß allein schon der irrwitzige Energieverbrauch des Internets zum Ruin des ökologischen Systems führen muß, nimmt er in Kauf. Die Stärkeren, die das grundständige Unrecht nutzen, das sich aus der Ungleichheit ergibt, haben zwei Komplizen: die durch sie Verführten und die Politik. Dadurch wird die Erhaltung ihrer Macht zum Selbstläufer. Die Verführten lassen sich die Gewohn­ heit gewordene Nutzung nicht verdrießen: die Politik bleibt bei der Förderung des technologischen Fortschritts um jeden Preis, um konkurrenzfähig zu sein, und dies bei Demokratien allein schon mit Blick auf Wiederwahl.

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V. Der mächtigste Geist der Zeit ist nicht allmächtig Das Unrecht des »Rechts« des Stärkeren beherrscht die Szene. Das ist in der Geschichte des Menschen immer wieder so gewe­ sen. Damit ist es aber auch immer wieder darauf angekommen, die Herrschaft der Stärkeren zu delegitimieren und ihnen einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie sich entlarvt sehen. Meine Spezialität in praktischer Philosophie ist, nicht zu wissen, wie es mit dem Menschen anders, und das meint besser werden soll. Die positive Seite dieser Spezialität ist: Ich sehe auf menschliches Gelingen, das durch kein grundständiges Unrecht verhindert und zunichtegemacht wird. In ihm zeigt sich das grundständige Recht des Lebens: das Leben in der Balance des Miteinander und Füreinander. Doch der herrschende Zeitgeist ist nicht von ungefähr unüberbietbar in seiner Macht. Dem grundständigen Recht auf freies, nicht zu entlohnendes einander Brauchen kor­ respondiert von Anfang an das grundständige Unrecht, daß Stär­ kere Schwächere für sich mißbrauchen. Doch der geschichtliche Mensch hat Glück. Die Stärkeren, die das in ihrer Stärke liegende Potential des Unrechts ausschöpfen, sind zu keiner Zeit die einzi­ gen Starken und Stärkeren gewesen. So vergeht sich zwar gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts der sich sein ungerechtes Recht nehmende und es verstärkt durchsetzende technologische Fortschritt an den Rechten des Schwächeren. Doch an seiner außer Kontrolle geratenen Beschleunigung kön­ nen nicht nur nicht alle teilhaben, sondern wollen auch nicht alle teilhaben. Seine Betreiber und die ihn selbstisch Nutznießenden können und wollen sich einfach nicht vorstellen, daß ihre Begeis­ terung für das, was sie ausrichten und anrichten, nicht allgemein geteilt wird. Der Erfolg der Komplizenschaft, der in der Steige­ rung der Macht einerseits und in der Steigerung der Abhängig­ keit andererseits seinen Ausdruck findet, dient beiden Seiten 27 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

V. Der mächtigste Geist der Zeit ist nicht allmächtig

zur Rechtfertigung. Das Stichwort »autonome Waffen« genügt, um dieser Rechtfertigung den Schein zu nehmen, eine solche zu sein. Im Lichte des grundständigen Rechts auf gelingendes Mitund Füreinander ist bereits die Produktion autonomer Waffen eine strafwürdige Verantwortungslosigkeit. Die Wertfreiheit, die Wissenschaft und Technik für ihre Ergebnisse reklamieren und mit der es generell der technologische Fortschritt hält, ist eine Lüge. Die Rede, es komme ja allein auf den Gebrauch an, den man von den durch sie bereitgestellten »Gütern« macht, ist bewußte Selbstdemoralisierung. Nachdem ein »In die Ecke Besen, bist’s gewesen« nicht mehr möglich ist, sind Versuche, die durch Digitalisierung erweckte Schau-, Hör-, Spiel-, Daten- und Kommunikationssucht einzu­ dämmen, nicht mehr als eine hilflose Bearbeitung von Sympto­ men. Der herrschende Zeitgeist will nichts davon wissen, daß wir immer schon das zur Verfügung haben, was wir brauchen, damit das Humanum gelingt. Er will ja der Welt weismachen, daß seine den Markt überschwemmenden Produkte und Angebote nötig sind für ein menschengerechteres Leben. Die Zukunft, auf die er einzuschwören sucht, kann für ihn nur die eigene sein. Der philosophische Hinweis, daß der geschichtliche Mensch immer schon vollends Mensch ist, zeigt in eine Zukunft, die kein Heilsbringertum braucht, ja sich mit keinem verträgt. Es ist dieser mächtige Zeitgeist, der sich auf den alten Straßen von Religion und Metaphysik fortbewegt, der die Geschichte, die er selbst schreibt, als den Weg aus dem Dunkel ins Licht, aus dem Unheil ins Heil, aus dem Nichts ins Sein deutet, dies freilich mit dem bedeutsamen Unterschied, daß er nicht im Geistigen und Geistlichen verfährt, überhaupt nicht im künstlerischen, sondern handgreiflich wird: Er legt Hand an, an das lebensteilige Leben. Nicht Tisch und Bett sind das Erste, was geteilt wird, nicht Sorge und Verantwortung, Lebensteilung hat jetzt bevorzugt via Internet statt. Hier kann jeder aus seiner Vereinzelung alles, was er will, in die digitale Öffentlichkeit einbringen und sei es noch so verantwortungslos und verlogen. Den Betreibern des 28 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

V. Der mächtigste Geist der Zeit ist nicht allmächtig

Fortschritts ist das, solange niemand einschreitet, gleichgültig, was sich in den sozialen Medien abspielt. Hauptsache, es spielt sich viel und immer mehr in ihnen ab. Was sie als »angenehm« für das Leben verkaufen, ist nicht das Süße, das die Griechen mit diesem Wort ansprachen, ist nicht die natürliche Süße des Am-Leben-Seins, sondern seine perfekte Technisierung. Der intelligente Roboter wird als bester Freund in Aussicht gestellt, der Quantencomputer als Retter aus »aller Not«.

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VI. Das neue Glück Der herrschende Geist der Zeit ist berechnend, nicht belebend. Das sehen die in seinem Bann Stehenden und ihm seine Macht Verleihenden anders, da sie ihn als belebend wahrnehmen. Län­ ger leben, gesünder leben, kommunikativer leben, amüsanter leben, angenehmer leben – sie erfahren sich als Teilhaber der Einlösung dieser Versprechen. Ja, die Phantasie dieses Geistes ist unerschöpflich, Unnötiges zu ersinnen und herzustellen, das sich als Nötiges verkaufen läßt. Silicon Valley, wie es sich heute als der global führende technologische Pioniergeist inszeniert, ist einer der raren Fälle, in denen die Wirklichkeit die Phantasie übertrifft. In Tausendundeine Nacht tritt ein leibhaftiger Prinz auf, der schöner ist als jeder erträumte und erdichtete – das ist glaubhafte Poesie. Die hellsichtigsten Phantasien von einer künftigen Welt, in der die Menschen zu einer manipulierbaren Masse geworden sind, wie wir sie aus Mir, Brave New World und 1984 kennen, wirken jedoch fad gegenüber dem, was heute durch Silicon Valley blanke Wirklichkeit ist. Jeder Einzelne weltweit, der sich durch die Mächtigen des Tals brauchen läßt, ist ein in seinem Verhalten Durchschauter und Gewußter, ja eben Berechneter. Vom Langzeitgefangenen in Einzelhaft weiß man, das Schlimmste für ihn ist, jegliche Intimität verloren zu haben. Die Verwaltung weiß alles über ihn und er wird ständig beobach­ tet. Der Neoliberalismus ist praktisch an den Punkt gelangt, die Freiheit des Einzelnen, die seit je der Kern seiner Propaganda ist, dem Einzelnen zu nehmen. Wer über das Verhalten eines Einzelnen Bescheid weiß, hat nichts Oberflächliches in der Hand, das die Tiefen unberührt ließe. Als ein ständig aktualisiertes und aktiviertes Wissen macht es den Einzelnen zum Gefangenen des von ihm zu erwartenden Verhaltens. Der Übergang vom Wissen um den Einzelnen zur Mani­ pulation des Einzelnen ist fließend. Die Komplizen des Internets 30 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Das neue Glück

wollen und können nichts davon wissen, was für ein Schatz das Nichtwissen des Menschen und das Dunkel in ihm ist. Wie wun­ derbar ist es, bei Beginn einer Beziehung nach und nach Einblicke in ein anderes Leben zu bekommen. Das Wunder setzt sich darin fort, daß das Nichtwissen um den Anderen und um sich selbst unerschöpflich ist. In jeder Begegnung von Menschen, ob sie sich kennen oder nicht, trifft Dunkel auf Dunkel, überraschen der Eine und Andere einander und auch sich selbst, werden sie schöpferisch, gebrauchen die Freiheit. Wer tut, was er will, und er will es, weil es nach eigener Einschätzung in seinem eigensten Interesse liegt, übt sich in der alten Freiheit der Liberalen, die sich dem Glück verpflichtet weiß: dem Erfolg, dem Gewinn. Er ahnt nichts davon, daß Freiheit als Lebensform in der Spontaneität gründet, und zwar in der sich im Einander begegnenden und aufeinander abstimmenden Spontaneität. Eine Führungskraft von Google, die sich als über sich selbst aufgeklärter Internetbür­ ger gibt und im Augenblick der Maxime folgt, auf dem Wege zu einer »besseren Welt« die Menschen glücklich zu machen, berichtet von seiner Erfahrung, daß die Erfüllungen des ange­ strebten Glücks, wie es für ihn das Luxusleben versprach, nicht glücklich machen, selbst wenn man das Leben erfüllende Dinge wie »eine tolle Comedy-Show, eine Party oder Sex obendrauf packt«. Wenn das die angezielte Glückskultur der Agenten des herrschenden Zeitgeistes während ihres immer Reicher- und Mächtigerwerdens ist, nimmt es nicht Wunder, daß sie, falls sie das erlangte »Glück« unglücklich macht, sich nach innen wenden, um in sich selbst Ruhe, das heißt Glück zu finden. Das neue Glück ist für mich der gleiche Albtraum: Der Solipsist ist unterwegs, der Egomane, der armselige Vereinzelte mit seiner unheilbaren Leere. Die Freiheit des Liberalen ist in ihrer über­ wältigenden Zuwendung zur Welt wie in ihrer Entkrampfung suchenden Abwendung von der Welt die gleiche Unfreiheit. Der »freie« Liberale und eben Neoliberale ist eingesperrt in sich selbst: in sein selbstisches Wollen und Empfinden. 31 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Das neue Glück

Der mächtigste Geist der Zeit muß, um Geist zu sein, nicht wirklich geistig sein, aber er kann es. Der Geist zur Zeit der US-Präsidentschaft Eisenhowers war der des »militä­ risch-industriellen Komplexes«. Es war der geistlose Geist, da Industrie noch einmal stark die Wirtschaft prägte, die Zeit, in der Waffenvernichtung durch Kriege sich als maßgeblicher Wirtschaftsfaktor erwies. Vor wenigen Tagen gerade ist General Electric, für lange das wertvollste Unternehmen der Welt, aus dem Dow-Jones-Index ausgeschieden. Seit drei Jahrzehnten nun nimmt der heute mächtigste Geist der Zeit immer mehr Fahrt auf: der Geist der Finanzmärkte. Er hat seine eigene Geistlosigkeit, aber auch seinen geistigen Witz. Finanzmärkte produzieren, aber es ist nichts Wirkliches wie ein Panzer und ein Kampfflugzeug, sondern es sind Schulden, Versprechen auf Zeit, Derivate. Riskant bis zum Selbstzerstörerischen waren Finanzmärkte schon immer. Im 6. Jahrhundert v. Chr. kommt aus dem Osten die Silberwährung nach Griechenland. Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. sagt Pindar »Geld, nur Geld ist der Mann«. Hochverzinsliche Seedarlehen kommen auf, hochriskant, weil das beliehene Schiff bekanntlich untergehen kann. Seit den Gewinnexplosionen im Silicon Valley hat das Interesse an Geld und Kapital global neue Höhepunkte erreicht. Computer und Smartphones sind zwar handfeste Dinge, aber nicht sie sind das eigentlich Wertvolle, sondern ihr Gebrauch, der ihre Benut­ zer zu Gebrauchten, Durchleuchteten, Manipulierten und eben Verführten macht. Diese hochtechnisierten Dinge, für Schritte zur Künstlichen Intelligenz genommen, geben dem mächtigsten Geist der Zeit ein neues Gesicht. Es bleibt nicht beim banalen und geistlosen Materialismus des digitalen Kapitalismus, son­ dern zu ihm gesellt sich ein geistiger, in diesem Falle nicht auch geistlicher digitaler Buddhismus. Die maßgeblichen Leute im Silicon Valley haben es nicht dabei belassen, Ratgeber zur Entstressung zu lesen und Kinder vor der Nutzung ihrer Pro­ dukte zu behüten. Der erwähnte Glücksbringer von Google, ein Ägypter namens Mo Gawdat, hat »Solve for Happy« (2017) 32 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Das neue Glück

geschrieben (dt. »Die Formel für Glück. Und wie Sie diese nutzen«, 2018). Bereits auf den ersten Seiten wird klar, daß niemand das Glück, das hier überbracht wird, suchen muß. Es ist da: Es ist der »Grundzustand« – die Abwesenheit von Unglück. Modell für dieses Glück stehen Computer und Smartphone: Wie sie vom Hersteller kommen, eingestellt für den Gebrauch, aber noch nicht gebraucht, noch nicht aktiviert, sondern im Ruhezustand, also im »Grundzustand«, sind sie Urbilder des Glücks. Zusammen mit den beiden Appellativen »Ruhe« und »Frieden« verstehe ich das als Aufforderung, diese Geräte ja nie zu aktivieren. Es ist nicht von ungefähr, daß der technologische Fortschritt heute einen Punkt erreicht hat, an dem er, unfreiwillig oder freiwillig, vor sich selbst warnt. Da er nicht allein, wie von allen erwartet, auf erfolgreiche Krebstherapien zugeht, sondern auf menschliche Selbstdestruktion, konnte schöpferischer Intel­ ligenz nicht verborgen bleiben. Die Eliten im Silicon Valley schi­ cken ihre Kinder gerne auf Waldorfschulen, ja gründen im Jahre 2013 ein »Center for Humane Technology«, weil man erkannt hat, daß die »sozialen« Medien im größten Ausmaß Sozialität zerstören. Der alttestamentarische Gott bereute einmal, den Menschen geschaffen zu haben, stand aber bald wieder in fes­ tem Bunde mit ihm, weil er wußte, daß er das Gebrauchtsein vom Menschen brauchte. Auch die Reue, wie sie die Betreiber des technologischen Fortschritts überkommt, und die sie ihre Innovationen verwünschen läßt, ist nicht von Dauer, »Selling and shopping must go on«. Wie aber Aristoteles früh erkannt hat, daß im Geldwachstum von Natur ein zerstörerisches Zuviel liegt, so haben die griechischen Weisen generell jedes Zuviel sei­ ner Zerstörungskraft wegen angeklagt. »Nichts zu sehr« (medèn ágan) lautet ihr dringender Rat. Montaigne (1533–1592) ist in seinen Essais so weit gegangen, selbst gegen ein Übermaß von Tugend und Gerechtigkeit, Glauben und Philosophie zu argumentieren. Das Unnötige ist nicht von ungefähr das Unnö­ tige. Es inflationär auf dem Markt anzubieten, ist von sich aus 33 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Das neue Glück

gefährlich. Der berühmte Satz des Philosophen Occam (um 1300–1349) Entia non sunt multiplicande praeter necessitatem, »Wirkliches ist nicht ohne Notwendigkeit zu vervielfältigen«, trifft hier ins Schwarze. Menschen sind vielfach schöpferisch: Das Rad und der Flaschenzug, die Flöte und die Trommel, die wissenschaftliche Theorie und die ideale geometrische Form, die Melodie und das Bild, das Alphabet und die Zahl, die Nymphe und der Engel, der Gedanke Gottes und der Gedanke der Substanz. Der schöpferische Mensch ruht nicht im DAO; er ist der wache und tätige, der an das Äußerste seiner Möglichkeiten gehende Mensch, der in seinen führenden Gestalten die Tendenz zeigt, das Menschenmögliche am liebsten zu überschreiten. Doch ein­ mal fügt menschliche Schöpferkraft neue Arten von Wirklichem dem gegenwärtig bestehenden Arsenal menschengefertigter Gebrauchsdinge hinzu, ein andermal wird die Wirklichkeit unse­ res Realitätssinnes durch die Schöpferkraft überschritten. Der Techniker baut die Brücke über den Fluß, der Künstler erdichtet die Nymphe am Quell; der Techniker integriert den Fernseher in den Kühlschrank, der Künstler gibt ein menschliches Gesicht neu zu sehen, wie es für keinen Menschen in Wirklichkeit zu sehen war. Das ist die hier zu treffende Unterscheidung von Technik und Kunst: Dem Künstler ist es freigestellt, sich am Äußersten des Menschenmöglichen zu versuchen, dem Techniker nicht. Dem Künstler ist es vorbehalten, Unmögliches möglich zu machen. Dem Techniker ist es unmöglich, mit dem von ihm Verfertigten auch nur in die Nähe des Unmöglichen zu kommen. Nymphen gibt es an keinem Quell der Welt, kann es an keinem geben. Genau das hat der Künstler möglich gemacht. Und er kann, ja er soll dabei bis zum Äußersten gehen, zum Äußersten seiner sinnlich-geistigen und eben künstlerischen Kräfte. Die Entfremdung gegenüber der Realität des Realitätssinns und die Sensibilisierung für eine poetisierte Welt kann gar nicht groß genug sein. Das hat den Anthropologen Arnold Gehlen (1904– 1976) auf die falsche Spur geführt, in der Kunst die Möglichkeit 34 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Das neue Glück

des Menschen zu sehen, seinen Energieüberschuß loszuwerden. Was für ein Verkennen der Notwendigkeit, die Lebenswirklich­ keit künstlerisch zu überhöhen! Doch das ist, wo der mächtigste Geist der Zeit herrscht, nicht mehr vermittelbar. Im Zeitalter des Internet haben Entertainment und Spaß die Poesie abgelöst. Der Glücksbringer von Google hat nichts gegen Kunst. Er weiß nichts von ihr. Das Leben gleicht einem Computerspiel. Konkurriert man am Computer, wer am kühnsten die größten Gefahren sucht, die meisten Tötungen durchführt und am schnellsten dort ist, wo das Spiel zu einem anderen Level durchdringt, dann hat man gelebt! Das Leben als Spiel und als Spaß, als ein Spaß dieser Art – das zeigt klar, mit welcher Zukunftserwartung sich der herrschende Zeitgeist verbindet: Nichtstun, Ruhe und Frieden haben, sich vom Streß erholen, und: Streß haben im virtuellen Töten, leben, um nur zu spielen, um nichts als Spaß zu haben.

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VII. Leben als Quantität Im Internetzeitalter hat der Mensch, geht es nach den Visionen seiner mächtigen Macher, so oder so Glück: Läßt er Computer und Smartphone im Grundzustand, hat er Glück, weil buddhis­ tisches Nichtstun herrscht, Ruhe und Frieden des Einzelnen in seiner puren Selbstbezogenheit. Bringt er Computer und Smartphone auf Hochtouren, hat er wiederum Glück: Er hat Spaß. Wird das Internet der Visionäre recht verstanden und genutzt, ist dem Glück gar nicht zu entkommen. So kann es für den Internetbürger kein Problem mit dem Glück geben. Die zentrale Lebensfrage im Silicon Valley lautet denn auch »Wie lange leben wir?«. Das fragt, wie lange das zweifache Glück andauert. Das Leben bedarf so keiner weiteren Auslegung, keiner weiteren Sinngebung, ja keiner weiteren Ergründung. Wer es versteht, die Mehrheit der Menschen global nach dem süchtig zu machen, was er selber auf den Markt bringt, braucht keine weiteren Einsichten in das Leben als die in die Mittel, mit denen es sich verlängern läßt. Je länger ein Leben währt, desto neuartiger wird es: neuartig in seinen Annehmlichkeiten und medialen Möglichkeiten, neuartig in seinen Zerstreuungen und Suchtgefahren. Wie selbstverständlich gehen die den Zeitgeist Beherrschenden davon aus, daß Lebenswidrigkeiten wie Armut, Krankheit, schwere Arbeit nicht sein müssen. Momentan gilt als Leitbild fortschrittlicher Lebenserleichterung das fahrerlose Auto, als Erfüllung fortschrittlichen Lebens für Jugendliche das neueste süchtig, weil ungeheuren Spaß machende Compu­ terspiel (»Fortnite«). Die alte amerikanische Einstellung, daß Optimismus Pflicht ist (»think positive«), gilt im Internetzeital­ ter global. Ja, wie lange leben wir? Nachdem sich die Lebenslänge seit der Zeit des »Sturm und Drang« verdoppelt hat, halten die Propagandisten und Profiteure der Wohlstandsverfeinerung es 36 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VII. Leben als Quantität

für eine »faire« Frage, ob sie sich nicht noch einmal verdoppeln läßt. Ein Leben, das einhundertfünfzig bis zweihundert Jahre alte Greisinnen und Greise fahrerlos durch die Welt kurven ließe, und Jugendliche ab zwölf weit mehr an Computer und Smartphone fesselte als auf Ballspielplätze triebe, wäre dann ein erfüllteres Leben, als es bis gestern möglich war. Was aber wird aus aller Zufriedenheit im Leben und Spaß am Leben, wenn es bei aller Verlängerung doch ein endliches bleibt? In der Tat, der Tod macht die Sinngebung des Lebens durch quantitative Ausweitung der Lebenszeit zum Dauerproblem. Zu seinem Verhältnis zum Tod befragt, antwortet der Gründer von Paypal, einer der Fürsten im Silicon Valley: Meiner Ansicht nach kann man sich zum Tod auf dreierlei Weise ver­ halten: Man kann ihn akzeptieren, leugnen oder bekämpfen. Meiner Ansicht nach besteht die Gesellschaft vor allem aus Leuten, die ihn leugnen oder hinnehmen. Ich bekämpfe ihn lieber.

Hier verwechselt der Makrobiotiker etwas Grundlegendes: Krankheiten, die zum Tode führen, lassen sich bekämpfen, nicht aber der Tod. Er gehört zum Leben, was selbst der Glücksbringer von Google so sieht. Leben gibt es nur um den Preis des Todes. Das ist auch ein biologisches Wissen. Der Tod ist im Verein mit Leben und Liebe die Mutter aller Kultur. Gilgamesch, der um alles in der Welt nicht sterben wollte, weil er an seinem Freund Enkidu die Häßlichkeit des Todes gesehen hatte – Wür­ mer kriechen aus der Nase – erhält von einer Schlange ein Mittel zur Erhaltung ewiger Jugend. Kein Wunder, daß es ihm durch Ungeschick abhanden kommt. Selbst Poesie ist äußerst zurückhaltend mit menschlicher Todlosigkeit. Ein so widersin­ niges Wort wie »den Tod bekämpfen« entlarvt die Lebenslüge der darauf zielenden Betreiber des technologischen Fortschritts. Gelingt es der siebzehnjährigen Neuseeländerin Laura Deining den »Longevity Fund« zu gründen, um Start-ups finanzieren zu können, die das »Jahrtausende alte Vorurteil« beseitigen sollen, Altern sei unausweichlich, ja die womöglich dem Tod ein Ende bereiten, dann wirft der Erfolg der jetzt Dreiundzwanzigjährigen 37 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VII. Leben als Quantität

beim Fundraising ein übles Licht auf den Zeitgeist, der sie trägt. Ein todloses Leben wäre der Tod des Lebens. Vor gut dreißig Jahren habe ich, durch Medizinstudentin­ nen, die in der Anatomie mit dem Tod nicht zurecht kamen, zum Nachdenken über den Tod animiert, in einem Buch über den menschlichen Tod ihn als den »anderen Anderen« gedeutet, als unseren Intimus, der uns näher ist als wir uns selbst. Sehe ich nun Langlebigkeitspropagandisten gegen das Rätsel, die Kostbarkeit und das Geschenk des Lebens anrennen, um es zu entleeren und von seiner Länge abhängig zu machen, dann steht die große Lebenslüge des mächtigsten Geistes der Zeit vor mir: man solle so viel wie möglich konsumieren, nur das Leben selbst nicht, weil man das ja auf ewig zum Konsumieren brauche. Der Tod gehört zum Leben, der eigene Tod und der eigene Tod der Anderen. In jeder lebensteiligen Begegnung erfahren wir Andere als die, die uns Halt geben, aber auch Einhalt gebieten. Mit dem aufeinander Abstimmen der Freiheiten, die in jeder Begeg­ nung statt hat, spielt auch von jeder Seite her die Intimität des anderen Anderen hinein. In jeder Begegnung von Lebenden ist eingeborener Tod einander gegenwärtig. Es gehört unausgesetzt zu uns, endliche Wesen zu sein. In jeder Begegnung ist für einen selbst und füreinander der nächste Intimus dabei, der zeitlebens Halt gewährt und schließlich Einhalt gebietet. Handelt es sich nicht um den Tod, der durch das Leben beendende Ereignisse von außen, zu denen auch Krankheitsverläufe zählen, eintritt, nicht um den Tod zur Unzeit, sondern um den Tod im Alter, der in alten Kirchenbüchern zu dem Eintrag »Nachlassen der Natur« führte, dann ist Tod nicht die Vernichtung, sondern die Vollendung des Lebens. Im Jahre 2015 veröffentlicht Anne Dorn ihr Verhältnis zum Tod in einem Gedicht, dessen Gedanke dem meinen nahekommt:

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VII. Leben als Quantität

Mein unabweisbarer Bräutigam. Sein Werben begann am Tag meiner Geburt, Wie ihn beschreiben? Wie buchstabieren? Sich ein Bild von ihm machen? Er ist der Fremde, den ich nicht kenne, Er spricht eine andere Sprache, ich die meine. Ich teile mein Lager mit ihm, er teilt es mit mir. Er lockt mein Leben ans Licht, damit sein Schatten leuchtet. Ich bin, weil er ist. In Treue sind wir ein Paar. Die Linearisierung und Nivellierung der Lebenszeit bedingt eine Entwertung des Lebens und des Todes. Dem mächtigsten Geist der Zeit, wie er sich im Silicon Valley konkretisiert, ist das Recht abzusprechen, sich als der für jeden notwendigste Güterprodu­ zent und Glückslieferant von Heute und Morgen zu inszenieren. Zwei Drittel der Smartphonenutzer schauen Pornos. Viele sind durch die ungehinderte Zugänglichkeit pornosüchtig geworden. Der aus Gründen der Gewinnmaximierung auf Abhängigkeit zielende technologische Fortschritt hat den Menschen für sich instrumentalisiert. Er war und ist so erfolgreich, daß die Leere des Lebens bereits die herrschende Realität ist. Dieser Geist ist derzeit und wohl auf lange hin eine der großen Bedrohungen des Menschen durch den Menschen. Er ist so gefährlich, weil er friedlich, nicht kriegerisch, lustvoll, nicht schmerzhaft daher­ kommt.

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2. Die Zeit ist aus den Fugen

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I. Heilsgeschichtliche Verklärung des aus den Fugen Die Zeit ist aus den Fugen – das ist ihre Natur, Menschenzeit ist Geschichtszeit. Da ist keine Rhythmik von Tag und Nacht und neuem Tag, von Leben und Tod und neuem Leben. Die Zeit, die der Mensch im Gang der Zeiten miteinander austrägt und gestaltet, ist voller Brüche und Verwerfungen. Sie kennt Stillstand und Fortriß, Aufbau und Zerstörung. In der Welt des Menschen geht es nie nur redlich (honest) zu. Shakespeares Hamlet macht exemplarisch die Erfahrung, daß alles aus den Fugen ist: der Staat, die Welt, die Zeit: Die Zeit ist aus den Fugen (out of joint): O verfluchte Bosheit, Daß jemals ich geboren war, sie ins Lot zu bringen!

Mit seiner blutschänderischen Mutter und seinem mörderischen Onkel als vereintem dänischen Herrscherpaar ist es kein Wun­ der, daß Hamlet »unseren Staat« für aus den Fugen und aus der Fassung geraten erklärt und an der Welt, seinem Königreich, keinen Geschmack mehr findet. Das ist nicht neu in dieser Welt. Die Geschichte des seßhaft gewordenen Menschen beginnt nach mythischer Erzählung, die uns erhellend zeigt, wie es um den Menschen steht, mit einem Brudermord. Mitte des 5. Jahrhun­ derts v. Chr. stellt der Staatsdenker Platon fest, daß alle derzeiti­ gen Staaten, ohne Ausnahme, übel (kakôs) regiert werden. Mitte des 20. Jahrhunderts stellt der Seinsdenker Martin Heidegger fest: »Die ›Welt‹ ist aus den Fugen; es ist keine Welt mehr, wahrer gesagt: es war noch nie Welt«. Das ist schon imperial gedacht und gesagt: Wenn ich als der Philosoph, der ich bin, sehe, daß bis dato nichts meinem Denkanspruch an eine Welt genügt, die ihren Namen verdient (er nennt sie die »weltende Welt«), dann genügt nicht mehr das »aus den Fugen«, das »nicht« und »Nichts« muß her. Er gibt Details an: »Der Gott ist fort; die Dinge 43 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Heilsgeschichtliche Verklärung des aus den Fugen

sind vernutzt; das Wissen zerfallen; das Handeln erblindet«. Von der Zeit denkt dieser wirkungsmächtige Philosoph nicht anders als von der Welt: noch kein Mensch habe zeitlebens in einer anderen Zeit gelebt als in der »uneigentlichen«, die er auch die »vulgäre« nennt. Damit ist die Zeit gemeint, die die Kirchenglocken ansagen, die Zeit der Dates, der Stunden des Tages, der Tage der Woche, der Jahre des Lebens. Es ist immer wieder unheimlich, wie ein Philosoph es versteht, unversehens die Bühne zu wechseln. Das ist nicht mehr konkrete Zeitanalyse und Zeitkritik, ist nicht mehr Hamlet, der sich be- stürzt zeigt durch Dinge, die Menschen zu seiner Zeit in seinem Dänemark angerichtet haben. Heidegger erdenkt das grundsätzlich Nichtige der belebten Menschenwelt und gelebten Menschenzeit. In seinem Denken ist er ganz woanders: beim Meisterwerk seiner Denkkunst, beim »Sein selbst«, an dem gemessen alles menschliche Leben nur »seinsvergessen« und »seinsverlassen« sein kann. Als Einziger hat er eine geschick­ hafte Seinsgeschichte erdacht. Sie ist die des abendländischen Menschen von ausgewählten frühen griechischen Denkern und Dichtern bis zu ausgewählten deutschen Denkern und Dichtern des 19. und 20. Jahrhunderts. Letztere beschränken sich im wesentlichen auf den von ihm gedeuteten Hölderlin und auf ihn selbst. Mensch ist eigentlich allein der der Seinsgeschichte und des Seinsgeschicks. Von 1919 bis zu seinem Tode hielt er unbeirrt daran fest. Jede konkurrierende Position hat er heftig kritisiert, ja verächtlich ge- macht. Früh legt er sich mit Oswald Spengler (1880–1936) an, der mit seinem gelehrten und viel­ gelesenen Der Untergang des Abendlandes (2 Bde. 1918–1922) etwas besetzen zu können meint, was einzig seine Sache ist. Das Abendland als Hochkultur, in seinem »Altern« vergleichbar mit anderen Hochkulturen – das kann für den Seinsdenker unmöglich der Fall sein. Er selbst hielt sein Denken, das er dem Sein selbst übereignet wußte, für ein Seinsereignis mit einer vom Seinsgeschick gewährten Zukunft, die eine Zukunft des Abendlandes unbedingt einschloß. Wie es der Adoptivsohn 44 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Heilsgeschichtliche Verklärung des aus den Fugen

im Interview mit einer rechtsgerichteten Zeitschrift unnachahm­ lich sagt: »Ja, die Bewahrung des Abendlandes war ihm sehr wichtig«. Seinem nächsten Konkurrenten im Nachdenken über Existenz, Karl Jaspers (1883–1969), bei dem er öfter Hausgast war, erging es nicht anders. In Notizen, die erst lange nach Jaspers’ Tod in den Schwarzen Heften ans Licht kamen, kritisiert der Seinsdenker auf höchst abschätzige Weise dessen berühmte Studie »Die geistige Situation der Zeit« von 1931. Jaspers setzt auf den Menschen, der lebt, nicht auf rein geistige Existenz in mystischer Ekstase, auf den Einzelnen im Verein mit Anderen, nicht auf den radikal Vereinzelten, was jede Vereinbarkeit mit Heideggers Denken ausschließt. Für Nicolai Hartmann (1882–1950), der mit einer onto­ logischen Schichtentheorie ab 1931 in Berlin reüssierte, hatte er mir gegenüber allein das Wort »Schichtkäse« übrig. Doch er steht mit seinem Urteil des »aus den Fugen«, was die Perspektive anbelangt, aus der es gefällt wird, nicht allein. Auch andere Geister urteilen von jenseits der Lebenswelt und der gelebten Zeit. Vergleichbar mit seinem Erdenken einer ganz anderen Welt und eines ganz anderen Menschen in einer ganz anderen Zeit ist religiöses Erdichten einer neuen Welt und eines neuen Menschen. Stellt Heidegger in seiner Frühjahrsvorlesung 1919 mit seinem Eigenentwurf die ganze europäische Philosophie seit den Griechen auf den Kopf, dann ist es der Theologe Karl Barth (1886–1968), der bereits 1919 mit seinem Römerbrief eine Weltdeutung vorgibt, die an Radikalität der von Heidegger nicht nachsteht; »Das Wesen aller Dinge in dieser Welt […] ist das ›Meon‹, das Nicht-Seiende, das Nichts«. So nämlich stünde es gegenwärtig mit unserem Weltaufenthalt: »Indes […] stürmt und wütet, weint und blutet um uns her eine Welt von Sünde und Leid. Und wir stehen mitten in ihr, haben mitzutragen an ihrer Last, erfahren am eigenen Leib ihr Unrecht und ihre Not«. Diesen Einbruch in seine eigenste Domäne konnte Heidegger nicht zulassen. Anfang der 30er Jahre notiert er dazu in den Schwarzen Heften: »Die Belanglosigkeit und der Schwindel der 45 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Heilsgeschichtliche Verklärung des aus den Fugen

sogenannten ›dialektischen Theologie‹ verdient nicht, beachtet zu werden. Das ist protestantischer Jesuitismus übelster Obser­ vanz«. Fügende Fuge ist einzig das mystisch-ekstatische Sein. Der christliche Gott fügt nichts: Er ist Seiendes, nicht Sein.

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II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart Heideggers wegen als Student von der Münchner an die Freiburger Universität gewechselt und von ihm als Lehrer begeistert, ist sein Zeitgeist doch nie der meine gewesen. Eine geistige Existenz anzustreben, von der aus gesehen das gelebte Leben, dieses einzige und früh seiner Endlichkeit gewisse, sich als uneigentlich und nichtig zeigt, ist mir nie in den Sinn gekommen. Für Mysterien gibt es ja Initiationsriten. Doch um vom Leben ins Existieren zu wechseln, was verlangt hätte, ein eigenes nacktes Daß ohne jedes eigene Was zu sein, habe ich nie Anstalten getroffen. Davor hatte mich allein schon die anfängliche Rätsel­ haftigkeit des mit »Dasein« Gemeinten bewahrt. Als ich dann die Radikalität erkannte, die das Seinswesen Dasein vom Lebewesen Mensch unterscheidet, war mir klar, daß Heideggers Entwurf eine unmögliche Option ist. Auch ihn selbst habe ich bei keinem Spaziergang, an keinem Tisch dabei erlebt, sich als Seinswesen zu gerieren oder das auch nur zu versuchen. Das konnte auch gar nicht sein, weil Eigentlichkeit nicht anders als Daß-Sein ohne Was-Sein, wie sie erdacht sind, reine Gedankendinge sind, nichts aber, das einer »sein« kann. Anstatt dergleichen aber auf Dauer als Werke der Denkkunst zu bestaunen, habe ich, durch Platon und Aristoteles belehrt, das Staunen für den Anfang der Philosophie und das heißt der Aufklärung des Bestaunten genommen: Ratione irritata, incipit philosophia. Mit der Reli­ gion erging und ergeht es mir nicht anders. Durch Nähe zu gläubigen Menschen und zu Gast in Pfarrhäusern habe ich gelebte Religion schätzen gelernt und mitgelebt, nie jedoch ihren Zeitgeist geteilt: ihre Diskriminierung des endlichen Lebens und Vertröstung auf ein »eigentliches Leben« ganz anderswo. Sehe ich mich mit der Tatsache konfrontiert, daß die Zeit und die Welt aus den Fugen sind, es immer waren und immer 47 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart

sein werden, dann halte ich mich an jenen Brudermord und jenes schändlich-mörderische Herrscherpaar. Das sind mythisch erzählte und dramatisch gestaltete extreme Herausforderungen, die ihre Bedeutung für den bekommen, der Zeitzeuge von ver­ gleichbarem Geschehen wird. Ein Anstoß, deswegen aus dem eigenen Leben und der eigenen Zeit in etwas ganz Anderes zu wechseln, ist es freilich nicht. Von jener frühen Spontaneinsicht »Jetzt muß nachgedacht werden« zur Philosophie geführt, ist heute als erfahrener Philo­ soph mein Zeitgeist mit dem alles beherrschenden Geist der Zeit konfrontiert: mit dem des neoliberal vorangetriebenen, des technologischen Fortschritts in seiner Rücksichtslosigkeit, von dem sich das Gros meiner Zeitgenossen willig in Gebrauch neh­ men läßt. Ich bin nicht gegen den Fortschritt, wohl aber gegen seinen Geist und das heißt gegen seine Ideologie. Sie ist die des Neoliberalismus, die des geistlosen und kunstlosen Glücks der Gewinnmaximierung, die dann auch für als das Unnötige, Verführerische und Abhängigmachende verantwortlich ist. Jede Kritik an der Nutzung der Güter aus dem Silicon Valley, die keine Kritik am Geist, der in diesem Tal herrscht, enthält, ist nicht die meine. Sehen unter anderem Eltern, Erzieher, Ärzte und Psychologen als Wahrzeichen eines gegenwärtigen Ausden-Fugen das Unmaß der Nutzung digitaler Errungenschaften durch Jugendliche und Erwachsene, ohne dessen ideologischen Grund wahrzunehmen, dann sind ihre Mäßigungsversuche bloße Augenwischerei. Sie sehen nicht, was los ist. Natürlich ist es im Prinzip zu viel verlangt, daß Eltern einen systemkritischen Blick haben müssen. Wenn sie sich untereinander austauschen, wie sie Zeit, die ihre Kinder mit Computerspielen und in sozialen Medien verbringen, verkürzen können, dann wollen sie unmit­ telbar drohende Gefahr abwenden. Indem sie aber im Prinzip die Nutzung teilen und den Geist der Zeit bejahen, gehören sie ungewollt zum Umkreis all derer, die die Gefahren des digitalen Zeitalters heraufbeschwören. 48 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart

Mit der fortwährenden Steigerung der Nutzung von Unnö­ tigem, die zur Lebensgewohnheit geworden ist, gehören sie zum festen Stamm der Bejaher und Förderer des Neoliberalis­ mus in seiner angelsächsischen Form. Sind sie blind gegenüber dem, was mit dem technologischen Fortschritt und der ihn tragenden Wirtschaftspolitik los ist, dann sind das aber auch der auf Seinsvergessenheit bedachte Philosoph und der auf Erlösungsbedürftigkeit bedachte Theologe. Für den Seinsdenker ist der Seinsblitz, der sich bei frühen griechischen Denkern ereignet haben soll, sogleich erloschen, so daß die Geschichte der Seinsvergessenheit von den frühen Griechen bis heute währt. Für den Christusgläubigen beginnt das Aus-den-Fugen mit der »unmöglichen« Tat Adams, das als die Geschichte menschlicher Unerlöstheit bis zur Wiederkehr Christi und seiner Erlösertat währt. Sehen wir nicht darauf, wie es Philosoph und Theologe mit ihren menschlichen Bedürfnissen gehalten haben, sondern folgen wir allein ihren Selbstberufungen zum mystischen DaßSeins-Denker und zum dialektischen Theologen, dann sehen wir beide aus einer maßlosen Distanz zum Menschen, wie er leibt und lebt, urteilen. Es sind Urteile aus anderen Welten, die nicht dem geschichtlichen Menschen gelten, sondern einer erdachten Seinsgeschichte und einer erdichteten Heilsgeschichte zugehören. In diesen Geschichten wird alles, was der Mensch dem Menschen antut und durch ihn erleidet, zur Bagatelle. Beide erweisen sich so als Meister der Verklärung. Heidegger sieht zwar früh ein »Wüten« der Technik. Dahin­ ter stecken aber für ihn nicht Menschen mit eigenen Interessen, sondern ein Seinsgeschick. Technik ist für ihn auch gar nicht Technik, sondern stets das Wesen (verbal zu hören) der Technik. So denkt und sagt er doch auch tatsächlich, daß die durch Atom­ bombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki verbrannten Men­ schen »bloß umgekommen« seien, sein erdachtes Sein selbst dadurch keinen Schaden erlitten hätte. Das aber sei durch die Journaille der Fall, was sie gegenüber dem bloßen Umkommen von Menschen zu etwas unvergleichlich Schlimmeren macht. 49 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart

Das Ergehen bloßer Menschen, die Lebewesen, aber keine Seins­ wesen sind, kann er nicht anders als bagatellisieren. Was ist schon der Holocaust, so führt er konsequent aus, gegen den Entzug meiner Lehrerlaubnis? In den KZs der Nationalsozialis­ ten sind bloß Menschen umgekommen, während das KZ, das die Besatzungsmächte in Deutschland errichtet haben, mich am öffentlichen Einsatz für die geistige deutsche Existenz hindert. Der Übergang von Verklärung zur Verblendung erweist sich als fließend. Der Theologe will und kann da unmöglich mithalten, weil es für ihn auch menschliche »Größe« diesseits der Glaubenswelt gibt. Indem er aber »Respekt« bezeugt, wenn ein Mensch sich für einen anderen opfert, warnt er zugleich vor »Sentimentalität«. Was immer in der »jetzigen Welt« an menschlicher Größe geschehe, erinnere im besten Fall an die verlorene, bringe sie aber nicht zurück. »Der Tod einer Mutter an der Geburt eines Kindes« zum Beispiel habe »an sich nichts Erlösendes und Hoffnungsvolles«. »Zureichender Grund wirkli­ cher Hoffnung« ist einzig und allein die »Erlösung« von der Tat Adams. Bei diesem Ausdruck religiösen Glaubens im 20. Jahr­ hundert stellt sich die Frage, ob hier nicht auch der Übergang von Verklärung zur Verblendung fließend ist. Gegenüber dieser Art von philosophischem und theologischem Zeitgeist habe ich eine Brandmauer hochgezogen. In beiden Formen der Verklärung sehe ich kein Potential, dem mächtigsten Geist der Zeit Paroli zu bieten. Ja, es fragt sich, ob es nicht Zeit ist, sich gegen die eine und andere Art dieser esoterischen Formen von Zeitgeist zu wenden, sofern sie das, was mit uns und durch uns im Hier und Jetzt geschieht, bagatellisieren. Wie beide dazu einladen an ihrer verklärenden Sicht teilzuhaben, ist ohne jeden Zweifel nicht ungefährlich. Nun haben sich Kirchen und kirchliche Per­ sönlichkeiten nicht nur caritativ um den Menschen, der wir sind, verdient gemacht, sondern in kritischen Zeiten auch politisch Stellung bezogen. Nein, ich wechsle jetzt nicht zu Martin Luther King (1929–1968), sondern bleibe bei Karl Barth. In seiner Streitschrift Theologische Existenz heute!, die 1933 in mehreren 50 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart

Auflagen bei Christian Kaiser in München erscheint, wendet er sich gegen die dem Nationalsozialismus erlegenen Deutschen Christen und damit gegen Adolf Hitler (es passiert ihm nichts, 1935 wechselt er von der Bonner an die Basler Universität): Die Kirche hat überhaupt nicht den Menschen und also auch nicht dem deutschen Volk zu dienen. Die deutsche evangelische Kirche ist die Kirche für das deutsche evangelische Volk. Sie dient allein dem Wort Gottes.

Ja, das Glaubensvolk, das ein Gottesvolk ist, hat weder Fleisch noch Blut, sondern ist geistlich: Es besteht durch Glauben und als Glaube. Was es glaubt, ist allein durch Glauben zu verifizieren. Daß es erstlich auf Gott und nicht auf den Glauben ankommt, ist ein theologisch begründetes Mißverständnis des Glaubens. Wäre die Theologie und mit ihr der Glaube erhellend über sich selbst aufgeklärt, könnte diese geistig-geistliche Deutung des Aus-den-Fugen unserer Zeit und Welt als eine sehr spezi­ elle Form von Poesie verstanden werden. Sind Menschen auf bewegende Weise von dem angerührt, was da als verpflichtende Alternative zum Leben in unserer Welt vorgeführt wird, dann müßten sie sich redlicherweise als poetisch Mitschaffende erfah­ ren und sich als Erdichter verantworten. Doch dieser religiöse Realismus, der sich aus nur einem einzigen Grund nicht recht­ fertigen muß, weil er sich nicht rechtfertigen kann, aus dem Ungreifbaren kann man Ja alles greifen, läßt mich nicht nur auf Distanz zu diesem menschlichen Verhalten gehen. Weil es sich nicht selbst versteht, bleibt es mit seinem fundamentalistischen Absolutheitsanspruch gefährlich. Wie ich das Leben lebe und deute, das eigene und mit Anderen gelebte, kann ich diese Usurpation des einzig wahren Aus-den-Fugen unmöglich teilen. Ich weiß, daß ich nicht sündig bin, daß heißt, daß ich mich nicht an Gott vergangen habe und deswegen auch keiner Erlösung durch Gott bedürfen kann. Ich habe mir das auch nicht, mitschaf­ fend, als Poesie angeeignet. Ich weiß, daß ich kein Teil einer Heilsgeschichte bin, die sich von Adams Untat bis zu Christi Gnadentat spannt – ich bin nicht Teil dieser Poesie. Wer aber 51 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart

in dieser Poesie lebt, was ich vielfach erlebt und dabei als eine große, ganz außerordentliche Möglichkeit nicht auszuschöpfen­ der poetischer Kräfte des Menschen erfahren habe, tut gut daran, das in eigener Verantwortung zu tun. Ich habe das Belebende der Poesie religiösen Glaubens so stark erfahren, daß ich mir im Leben unter Christen und mit Christen gar nicht vorstellen kann, wie man ohne Entrückungen in die Welt der Glaubenstatsachen leben soll, angefangen mit der Erschaffung Adams und der Bildung Evas im Alten Testament und des weiteren mit den Jüngern, die zu Emmaus den Abend mit dem Herrn teilen im Neuen Testament. Die Zeit, in der wir leben, ist nicht nur nicht durch mensch­ liche Sünde entstellt, sondern auch nicht durch menschliche Seinsvergessenheit. Wer im Schatten des Biergartens Bier zu sich nimmt, ohne daran zu denken, daß Bier gebraut ist, ja, daß überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nicht ist, der soll es sich getrost schmecken lassen, ohne sich als einer der Allzuvielen gebrandmarkt zu fühlen, die in ihrem vulgären alltäglichen Leben die geistige Existenz versäumen, die im eksta­ tischen Daß des Seins ihre Performance hat. In Staunen darüber zu geraten, daß die eigentliche, der meßbaren Zeit enthobene Gegenwart sich einzig einem Sein »selbst«, also einem Daß ohne Was verdankt, hieße ja, sich durch eine Fata Morgana beirren zu lassen, durch ein Gedankending, das untauglich ist, zu irgendeiner Erfahrung und Einsicht zu führen. Während des Vietnamkrieges wurde mit unseren Kindern am Mittagstisch viel über diesen Krieg gesprochen. Die Moral einer militärischen und moralischen Weltmacht war aus den Fugen geraten. Jetzt jährt sich zum 50. Mal das My-Lai-Massaker. Das waren die Amerikaner, die uns von der Herrschaft des Nationalsozialismus befreit und nach unserem Angriffskrieg mit dem Marshallplan gerettet hatten. Auch deswegen ging uns das Kriegsgeschehen nahe, ging es uns etwas an. Da war keine Sünde, kein Seinsver­ gessen am Werk, sondern da ging etwas zwischen Menschen 52 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Philosoph und Theologe versäumen die Gegenwart

vor sich, was in realer Gegenwart uns Zeit und Welt als aus den Fugen geraten vorführt.

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III. Die Überheblichkeit geistiggeistlicher Menschheitsretter Die der Verifikation enthobenen Wahrheiten des Philosophen und des Theologen befriedigen in beider Meinungen Wirklich­ keitsbedürfnisse von höchster Notwendigkeit, wenn ich dagegen mit erhellender Aufklärung dazwischentrete, poetische Bedürf­ nisse: das Bedürfnis des Seinsdenkers und des Christusgläubi­ gen nach poetisch-überhöhter Wirklichkeit. Die Vielzahl wacher und aufgeschlossener Menschen, die sie in ihrem Denken und Glauben auf eine ganz andere Wirklichkeit auszurichten ver­ mochten als die, in der sie leben, läßt es geraten erscheinen, diesem ungewöhnlichen Phänomen, wie es sich dem erhellend Aufklärenden darstellt, noch weiter nachzugehen. Wie kann es sein, daß sehr spezielle poetische Zugriffe auf Zeit und Welt den Realitätssinn derart vieler Menschen übermäßig strapazieren, ja selbst von dort ins Abseits drängen, wo er hingehört? Was gibt geistigem und geistlichem Zeitgeist die Kraft, den Blick über die Realitäten und ihre Zeitlichkeit hinweg ins Eschatologische zu lenken: in ein letztes Heil? Der unvergleichbare Holocaust, das My-Lai-Massaker, das von Medienkonzernen gern in Kauf genommene Porno­ süchtigmachen, die von europäischen Pharmakonzernen nach Asien verlagerte ebenso billige wie giftige ungefilterte Abwas­ serentsorgung bei der Herstellung von Antibiotika – das alles geschieht, wie es Karl Barth 1919 meint und sagt, in der »soge­ nannten Geschichte«, das heißt in der Geschichte, die nicht die eigentliche, nicht die Heilsgeschichte ist, und damit in der »nicht-wirklichen Wirklichkeit«. Welt- und Menschheitsret­ ter haben ein Faible für auftrumpfende Sprache, wie um sich selbst Mut zu machen bei ihren verwegenen Voraussichten und Prophezeiungen. Karl Marx spricht von der »vernünftigen Ver­ nunft«, Heidegger vom »wesentlichen Wesen«, Barth eben von 54 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Überheblichkeit geistig-geistlicher Menschheitsretter

der »wirklichen Wirklichkeit«, und. alle geben vor, im Dienste der wahren Wahrheit zu stehen. Arme Realität!, möchte man sagen. Doch das wäre falsch. Wer die Realität des Realitätssinnes nicht verbindlich nimmt für das, was er denkt, glaubt, sagt und tut, hält sich notwendig an eine wirklichere, wenn nicht die einzige Wirklichkeit. Die Welt, in der wir leben, und die Geschichte des lebendigen, des geschichtlichen Menschen – für Heidegger ist es die Welt der vor dem Eigentlichen fliehenden Alltäglichkeit, für Barth die des sündigen Fleisches – wird, wie sie mit unterschiedlichem Verständnis und doch in gleicher Absicht wiederholen, zum »Nichts«. Nachdem Marx in der Deutschen Ideologie (1845/46) von den »wirklichen Vorausset­ zungen«, der »wirklichen Wissenschaft«, der »wirklichen Theo­ rie«, dem »wirklichen Fortschritt«, dem »wirklichen Wissen«, der »wirklichen Geschichte« und dem »wirklichen Lebenspro­ zeß« gesprochen hat, kommt er endlich auf das entscheidende »Wirkliche«: auf den Kommunismus. Der sei »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«. Das hat er nicht getan. Der gemeinte Zustand besteht fort. Ist die Sprache bei der wirklichen Wirklichkeit angekommen und mit ihr beim Erdachten, Erdichteten und Prophezeiten, dann hat Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist, nichts mehr zu sagen. Sie ist banal, banal wie Atombombenabwürfe und Landschaftsvergiftung. Bleiben die Entwerfer religiöser, seinsphilosophischer und politökono­ mischer Heilsgeschichten sich sprachlich treu, dann muß es für sie heißen: Das Nicht-Wirkliche, das Nichts nennt das, was aus den Fugen ist, und dies nicht, weil es schändlich und mörderisch in ihm zuginge, sondern weil es gerade auch in seiner Beruhigtheit und Ausbalanciertheit uneigentlich und unwahr ist. Shakespeares Hamlet dagegen spricht von Zeit und Welt, die nicht bloß im Geiste, und dort auch noch umstrittenerweise existieren, sondern die die seiner Lebenszeit sind. Der Mensch ist und bleibt das wunderbarste und das schrecklichste, in jedem Falle das faszinierendste Wesen. Das ist die Einsicht, die mich leitet, mein philosophisches Interesse 55 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Überheblichkeit geistig-geistlicher Menschheitsretter

ganz dem Menschen zuzuwenden: dem Menschen, der wir sind, dem geschichtlichen Menschen, dem Menschen, der mein Zeit­ genosse ist. Das trennt mich von der großen europäischen philo­ sophischen Tradition, die in ihrem Wesens- und Einheitsdenken, das zumeist unter »Metaphysik« und »Ontologie« firmiert, sich auf die geistigen Kräfte des Menschen konzentriert, auf, wie es oft heißt, das Göttliche in ihm, um so mit ihrem durchgängigen Monotheismus das Wesen des Menschen monoanthropisch zu deuten: der eine Mensch, das eine Selbst, die eine Vernunft, die eine (entindividuierte) Existenz. Diese theologische Philosophie hat sich bewußt nicht um den Menschen gekümmert, der wir sind, sondern gegen ihn gedacht, ja ihn als Menschen verneint, wenn doch der Mensch, der seinen Namen verdient, für diese Tradition ein unerreichbares Soll und damit etwas Vertagtes ist, zumeist eschatologisch vertagt, sei es bis zu einem nie kommenden Tag »hier«, sei es bis zu einem nie kommenden Tag »dort«. Provokativ formuliert: Mich stört an der transzendenten Humanität die in ihr lauernde Inhumanität. Zum ersten Mal ist mir das ungut aufgefallen, als Heidegger nach dem Krieg verächtlich von der herrschenden Wohnungsnot sprach. Was soll schon diese Not gegenüber der, daß der Mensch noch immer nicht das ihm eigentlich zugedachte Wohnen erlernt hat: das wesensgerechte Wohnen im Sein selbst. Das war schon buddhis­ tische Lehre: Es geht nicht um den Menschen, sondern um den wahren Menschen; der ruht im DAO, im »Palast des Nichts« (Zhuang Zi, »Nichts« als Inbegriff des nicht zeitlich Seienden) alias »Haus des Seins«. Heidegger und Barth sagen wörtlich und mit Nachdruck, daß ihr philosophisches und theologisches Wir­ ken nicht dem Menschen dient. Bloß keine »Vermenschlichung« und »Vermenschung«, bloß keine humanistische Sentimentali­ tät: der Mensch ist des Seins, des Gottes. Es geht um das Sein, um Gott, nicht um den Menschen. Nur so waren Eliten geistig und ganze Populationen geistlich zu begeistern und zu führen. Alles im Leben nach Belieben Realisierbare wird mit der Zeit gewöhnlich, langweilig und banal. Da ist schon das Unmögliche 56 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Überheblichkeit geistig-geistlicher Menschheitsretter

und das Ungreifbare die sicherste Garantie, um geistig-geistlich in Hochstimmung zu bleiben. Kläre ich erhellend darüber auf, daß der Gedanke mensch­ licher Eigentlichkeit, der auf eine mystisch-ekstatische Geist­ existenz und auf eine Gotteskind- und Gottessohnschaft zielt, eine Höchstleistung der poetischen Kraft des Menschen ist, dann schwächt das notwendig die Hingabe- und Opferbereit­ schaft der Begeisterten, aber auch ihre – fundamentalistische – Kampfbereitschaft. Sie kämen zum Menschen zurück, der für das, was er tut und läßt, selbst verantwortlich ist. Nun schreiten Philosophen gegenüber Andersdenkenden nicht ohne weiteres zum Autodafé. Aber immerhin: Der philosophische Aufklärer Protagoras (um 480–410 v. Chr.), der anders als Platon nicht Gott zum Maß aller Dinge erklärt, sondern den Menschen, wurde als Gottloser (atheos) aus der Stadt vertrieben, seine Schriften verbrannt. Gewöhnlich aber beschränkt sich die Gegnerschaft in der Philosophie zu Andersdenkenden auf Verachtung. Gibt es zur mystischen Ekstase noch einen mensch­ lichen Weg: den Schamanismus, so ist christlicher Glaube, der vom Menschen die völlige Übereignung an eine ungreifbare höchste Macht unter Androhung peinlichster Sanktionen for­ dert, zu weitaus mehr bereit als Verachtung, bereit und genötigt, um seine Gegnerschaft zu Andersgläubigen, die in den über sich selbst nicht aufgeklärten Religionen Ungläubige heißen, zum Austrag zu bringen. In einer der lichtesten Kathedralen der Christenheit, in der von Vézelay, spornte Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) in großer Predigt die anwesende Ritterschaft dazu an, in einem zweiten Kreuzzug das in Palästina von den Ungläubigen zurückzuerobern, was in einem ersten Kreuzzug in einem wahren Blutrausch ihnen entrissen worden und jüngst wieder an sie verloren gegangen war. Doch diesmal hatte ihr Gott sie verlassen. Ihr Heer wurde von den Ungläu­ bigen vernichtet. Thomas von Aquin (um 1225–1274), noch heute der »Doctor angelicus« der katholischen Kirche, dachte neu über den Teufel nach, nachdem dieser für den christlichen 57 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Die Überheblichkeit geistig-geistlicher Menschheitsretter

Glauben begann zur Disposition zu stehen. Sein Schriftwerk über die Möglichkeit des Teufels diente später zur Rechtferti­ gung der »hochnotpeinlichen« Erzeugung von Hexen und ihrer anschließenden Verbrennung. Autodafés von Abweichlern wie die von Savonarola (1452–1498) wurden als Volksfeste gefeiert – Autodafé als Glaubensritual. Religiöse Orthodoxie, vermengt mit Gottesinbrunst, und eklatante Inhumanität werden Eins.

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IV. Technomessianismus Der außerordentliche Gewinn für Selbstsein und Miteinander­ sein durch religiösen Glauben, der nicht über sich selbst aufge­ klärt ist, hat seinen Preis. Die Welt, in der der Gläubige lebt, liegt, wie es ihm die Psalmen, die Evangelien, die Paulus- und Johannesbriefe vorsagen, im Argen; sie ist schlimm, ja böse. Adam hat die Welt aus den Fugen gebracht. Die Welt, in der Christen leben und ihre Feste feiern, ist für sie, sofern sie es mit der Orthodoxie halten, die gottlos böse Welt der Sünde. Der Weltmensch ist der Böse, der Sünder. So sehr auch Christus bereits »jetzt« als Erlöser beim Gläubigen ist, so steht, ich folge weiter der Orthodoxie, das alles entscheidende »letzte Gericht« am »letzten Tag« noch aus. Man fragt mich, wie religiöser Glaube noch möglich sein soll, wenn meine Deutung zutrifft, daß er doppelte Poesie ist: sich auf poetische Weise als Poesie bedeckt haltende Poesie. Da frage ich nur zurück: Wie sollte er das nicht können? Der religiöse Wunderglaube ist doch selbst das größte Wunder. Wer im mysterium fidei zuhause ist, wird auch zu dem Glaubenswunder fähig sein, in seinem Glauben an der Erschaffung des Zuglaubenden beteiligt zu sein. Voraussetzung freilich ist, ein falsches Verständnis von Poesie, falls gegeben, zu revidieren: Gelungene Poesie ist nicht bloß, sondern stets sogar Poesie. Das eschatologische Zeitproblem der Christen ist der Über­ gang von der Naherwartung des Retters, wie sie bei dem Apostel Paulus gegenwärtig war, bis zum Irgendwann-Einst. Nachdem selbst das Jahr 1000 n. Chr. nicht die erwartete Wiederkehr brachte (»daß ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag«), ist »jetzt« Enttäuschungsre­ sistenz gefragt. Der Theologe Wolfhart Pannenberg, für das evangelische Pendant zum katholischen Theologen Karl Rahner angesehen, schreibt in Metaphysik und Gottesgedanke (1988): 59 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Technomessianismus

kommt er nicht wieder, dann war es mit unserem Glauben nichts – ein geradezu groteskes Selbstmißverständnis religiösen Glaubens. Daß sein eschatologisches Seinsdenken zuschanden werden könnte, ist Heidegger nicht in den Sinn gekommen. Er tut sich da auch leichter mit der Zeit, weil er kraft prophetischer Einsicht die Endlichkeit der Seinsgeschichte und ihres Geschicks selber zu bestimmen weiß: Wiederholt nennt er dreihundert Jahre ab Mitte des 20. Jahrhunderts, einmal auch vierhundert Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit: 2327. Dann ist die seinsgeschichtliche Kraft der Technik mit ihrem Hineinwüten in die Welt und Zerstören der Erde stark genug geworden: Der Untergang ist vollendet, das Menschenwesen ein Nichts. Jäh und ereignishaft ist der neue (der »andere«) Anfang da: die »unver­ sehrte Erde«, das »unversehrte Sein«, die »weltende Welt«. Der theologische Philosoph wußte: Das geht nicht ohne Gott: »Nur noch ein Gott kann uns retten« sagte er zehn Jahre vor seinem Tod. Das darf und kann dann aber kein Gott wie Christus und Jahwe sein. Die sind Seiendes, sind seiende und nicht wesende Götter. Hat er schon en passant die Göttin des Parmenides, die dem von Sonnenmädchen Geführten die Wahrheit verkündet, und die Göttin des Heraklit, in deren Heiligtum dieser seine Schriften verwahrt (sie kam aus dem Osten und hatte hundert Brüste), für wesende Gottheiten erklärt, so kann nun auch der rettende Gott, der an der »Letze« und am »anderen Anfang« mitwirkt, dieser, wie er ihn nennt, »letzte Gott«, nur ein SeinsGott sein, ein wesender, und, nach den griechischen, auch nur ein deutscher. Aber die eine Bedingung dazu muß eben erfüllt sein: die Vollendung der Zerstörung durch das geschickhafte Wirken der Technik. Er wußte noch nichts von Silicon Valley, aber ein waches Auge hatte er doch für das, was der Mensch sich technisch selbst antut. So ist er sich sicher, daß die Vollendung der technischen Zerstörung des Menschenwesens »erst dann in ihr Zentrum gelangt, wenn sie unbedingte Psychotechnik geworden ist und so die seelischen Zustände und Umstände, d. h. der psychisch vorgestellte Mensch, in das Herstellbare unterge­ 60 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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bracht sind«. Dafür wird Silicon Valley, das konnte Heidegger nicht ahnen, keine dreihundert Jahre mehr brauchen. Christen nutzen ihren himmlischen Glauben für das Leben auf der Erde. Sie folgen nicht Paulus, daß das Leben eines echten Christen in der Nachfolge Christi ein bedrücktes sein muß. Herrscht nicht gerade Christenverfolgung, Dreißigjähri­ ger Krieg und Hungersnot, dann können sie fröhlich leben. Keine bierbrauenden und biertrinkenden Mönche stehen im Blick, schon gar keine Reichen, die sich als von Gott Auserwählte wissen, sondern die, die vertrauender und getrösteter leben, zuversichtlicher und den Menschen zugewandter, wenn es doch ihr Leitspruch aus dem Alten und Neuen Testament ist, den Nächsten als sich selbst zu lieben. Die Überhöhung der Wirk­ lichkeit durch den Glauben ist es, die sie fröhlich macht. Ihnen vorzuhalten, daß sie abhängig von einer religiösen Orthodoxie sind, die Gefahr läuft, mit ihrer Rede von der Nichtigkeit des Lebens in einer nichtigen Welt dem »unwerten Leben« der Nationalsozialisten nahezukommen, wäre abwegig. Ist die Welt einmal wirklich aus den Fugen, nimmt im Leben das Unglück überhand, dann gibt es in der Tiefe des Glaubens die Frohe Bot­ schaft des einstigen Ganz-Anderen zu hören, das Versprechen eines himmlischen Lebens. Die Poesie des Glaubens in ihrer höchsten Version beginnt in ihnen zu sprechen, ob sie es wissen und wissen wollen oder nicht. Religionen sind geistig-geistlichpoetische »Diesseits«-Strategien, dazu ausersehen, mit dem Immer-aus-den-Fugen-Sein von Zeit und Welt menschenwür­ dig zurechtzukommen. Mag man von einem Christen sagen, daß er seinen Glauben lebt, dann hat Heidegger jedenfalls sein Denken nicht gelebt. Schreibt er auch noch so viel über die Einsamkeit des Denkens, so hat er doch keinen Moment seines Lebens mystisch-ekstatisch existiert und im DAO gewohnt. Zum Nachdenken bezog er keine Denkerklause. Vor seinen Arbeitstischen in Freiburg, Meßkirch und im Schwarzwald blickte er auf bewegte Formen der Natur. Ein steter Wechsel von Arbeitsernst und Lebensfreude bestimm­ 61 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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ten Tag und Jahr. Er brauchte Geselligkeit, Austausch, Amouren, war gerne im Paddelboot auf Flüssen (das gebe einen ganz eigenen Ausblick auf Landschaft), auf Skiern im Schnee. Keiner meiner akademischen Lehrer war zugänglicher im Arbeitszim­ mer (ab 17 Uhr!), öfter bereit zu einem Spaziergang als er. Hatte er einen in Meßkirch an den Zug oder in Todtnauberg vor die Tür der Hütte gebracht, war er ein Meister im langen Nachwinken. Er lebte in der »heilen« Welt, der von Meßkirch bis ins Badische erweiterten Heimat, nicht weniger in der »heilen« Welt seiner Vorlesungen und Seminare. Doch mehr noch als gegenwärtiger Stand von Wissenschaft und Technik, als herrschender Universi­ täts- und Kulturbetrieb hatte ihm seine Lesart des europäischen Seinsdenkens die Augen geöffnet, daß geistig alles aus dem Licht ins Dunkel fällt, daß, hellsichtig genug gesehen, die Weltnacht herrscht. Die Selbstberufung zum einzigen Seher der lichtenden Wahrheit des ereignishaften Seins selbst hat ihn zum Denker des nichtigen Nichts werden lassen, das er uns allen in der Alltäglichkeit und der Welt im Gang der Dinge zudenkt. Er hat gar nicht gemerkt, daß er sich beim klar vollzogenen Abschied vom christlichen Welt- und Menschenbild erst so recht mit dem fatalen Irrtum dieser Religion verbunden hat: mit dem Realismus der eschatologischen Erwartung. Alles eschatologische Denken, Glauben, Hoffen, Erwarten, Prophezeien ist Poesie, zumeist Poesie in Hochform. Aber es gibt in Wirklichkeit für den Menschen unmöglich ein Letztes, das nicht schlicht sein Ende wäre. Solange geht es mit Sicherheit mit ihm weiter, und dies eben ohne Einbruch eines absoluten Heils, auch ohne Einbruch eines absoluten Unheils. Aus dem Logos der Eschatologie spricht allein dann die Wahrheit, wenn es die des Erdenkens und Erdichtens ist, ein Ausblick in die höhere Wirklichkeit der Kunst und damit ein Ausblick in real Unmögliches. Das gilt auch für den Mystiker Walter Benjamin (1892–1940), der, die Poesie verkennend, meint: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen …«. Jeder Messianismus, der etwas taugt, ist Poesie: über sich selbst als 62 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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Poesie aufgeklärte Poesie. Den dialektischen Theologen Barth und den Seinsdenker Heidegger eint die Aussicht ins Eschatolo­ gische und die damit verbundene Frömmigkeit. Der Theologe hört und gehorcht Gottes Stimme, predigt das Wort Gottes. Der Philosoph hört auf die Stimme des Seins (»Hören ist die Frömmigkeit des Denkens«), sagt das Wort des Seins. Entweder wissen sie es nicht, oder sie halten sich bewußt bedeckt, daß sie das als Poeten tun. Jeder Gedanke an eine letzte messianische Erlösung und Rettung der Welt und des Menschen ist vom Menschen selbst zu verantworten. Es sind die Träume, die er selbst schafft und über sich hinauswirft. Der mächtigste Geist der Zeit läßt diese Träume alt aus­ sehen. Er selbst hat einen neuen, andersartigen Traum: die künstliche Intelligenz. Mit ihm haben wir den dritten Messia­ nismus vor uns: den Technomessianismus. Durch ihn werden Glaubenskünstler und Denkkünstler zu evolutionären Auslauf­ produkten. In der neuen Welt des so mächtigen Zeitgeistes können zwar in den Grenzen persönlichen Erlebens Kunstereig­ nisse wahre Triumphe feiern, aber aus der großen Sicht auf Welt und Mensch ist jede poetische Überhöhung der Wirklichkeit verschwunden. Jetzt haben die Protagonisten und Protektoren des technologischen Fortschritts das Wort, die ein technologisch zu bewerkstelligendes Letztes (eschaton) im Sinn haben, kein geistig-geistliches. Ihr Traum hat nichts von einer über sich selbst nicht aufgeklärten Poesie, sondern ist blanker Realismus. Es sei noch nicht so weit, sagen sie, vermutlich noch lange nicht, aber die durch den Menschen geleitete Evolution des Menschen habe die Spur aufgenommen, auf der es dazu kommen wird, daß vom Menschen Hergestelltes den Menschen überholt. Nicht der Klimawandel sei das Interessante, durch den er, soweit durch ihn bedingt, den Planeten Erde als seine Lebensgrundlage abschaffe, sondern die Überwindung seiner selbst durch die technologische Entwicklung. Das künstlich Geschaffene, das ihm bislang als Werkzeug und Hilfsmittel diente, verfüge dann über ihn. 63 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Technomessianismus

Der Technomessianismus ist keine Poesie, er ist ein Ablenkungsmanöver. Die »Realitäten«, die er in den Blick faßt, bis hin zum »Letzten«, zum »Ende« des Menschen, lenken von der Tatsache ab, daß er ohne jede Poesie ist, daß er überhaupt nicht mit dem Menschen als Künstler rechnet, mit menschlichen Bedürfnissen, die kein technologischer Fortschritt jemals zu befriedigen vermag. Der Form nach ist dieser dritte Messianis­ mus, der aus der Vermutung besteht, daß künstliche Intelligenz den Menschen überholt und damit beendigt, klassische Meta­ physik, klassische Theologie. Der Mensch wird seinem Wesen nach als Intelligenz verstanden, um dann danach Ausschau zu halten, wer und was Intelligenz ist, die über den Menschen hinausgeht. Es ist die traditionelle und seit alters irreführende vertikale Anthropologie, die sich am Einzelmenschen orientiert, ihn in Oben und Unten teilt, um sich allein an das Oben, an die geistigen Kräfte zu halten und durch einen philosophischen oder theologischen Gott zu überhöhen, der reiner Geist (nous, pneuma) ist. Wie alle drei Messianismen derselben vertikalen Anthropologie huldigen, geht es bei keinem um das Leben und die Kunst, es mit Anderen zu teilen. Eine merkwürdige Konkurrenz herrscht unter den Dreien. Alle zielen über den Menschen, der wir sind und als der wir uns aufführen, hinaus. Der Theologe ist im Letzten auf das Einswerden des menschli­ chen mit dem göttlichen Geist ausgerichtet, der Seinsdenker auf die Übereignung des Denkenden an das zu denkende Sein selbst, der Technologe auf die Überhöhung der menschlichen durch die künstliche Intelligenz. Der selbstisch-solipsistische Geist des Utilitarismus und des Pursuit of Happiness wird vergleichbar mit Geistern, die die menschliche Wirklichkeit ins Unmögliche überhöhen, ohne dabei über sich selbst aufgeklärt zu sein, daß sie das einzig als Künstler vermögen: als Glaubensund Denkkünstler. Für den Theologen und Philosophen ist die Welt, in der wir leben, aus den Fugen, weil sie nicht die Geistlichkeit und Geistigkeit ausstrahlt, die sie erdichten und erdenken. Auch für den digitalen Kapitalisten und Technokraten 64 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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könnte die Metapher des Aus-den-Fugen zupaß kommen, wenn sie ihm doch nicht hinreichend vernetzt, nicht hinreichend von ihm beherrscht und ausgenutzt ist. Alle drei verstellen den Blick darauf, daß es zu unserer Welt, zur Welt des lebendigen Zueinander und Auseinander, Miteinander und Gegeneinander wie von Natur gehört, an allen Orten und zu allen Zeiten immer wieder neu aus den Fugen, wenn das heißt, aus der Balance zu geraten.

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V. Das hat die Evolution angerichtet Ein Aus-den-Fugen, das das Humanum in Frage stellt, gibt es auch ohne menschliche Zutat. Dafür sorgt bereits die Evolution. Obwohl sie nach dem ungeschriebenen Gesetz vor sich geht, dem Charles Darwin (1809–1882) die Form »Survival of the Fittest« gegeben hat, sind nicht alle der gleichen Art, die mit­ einander zu tun bekommen, gleicherweise »fit«. Immer gibt es die stärkere und schwächere Körper-, Willens- und Geisteskraft unter denen, die sich miteinander messen. Das läßt Menschen sich auf signifikante Weise als ungleich erfahren: Die Einen sind lebenspraktisch im Vorteil, die Anderen im Nachteil. Gat­ tungsgeschichte, Kulturgeschichte, Gesellschaftsgeschichte und Lebensgeschichte tragen das Ihre dazu bei, daß ein humanes Auskommen untereinander zu jeder Zeit und an jedem Ort neu gefährdet ist. In keiner Gemeinschaft und Gesellschaft von Menschen sind die Kräfte und damit Chancen der Einzelnen in Balance. Durch phylogenetisches Erbe, historische und onto­ genetische Entwicklung sind die Lebensperspektiven von rele­ vanter Unausgewogenheit. Bauern mit fruchtbaren Böden sind im Vorteil gegenüber Bauern mit mageren Böden. Studenten aus deutschen Universitäten, die 1968 an der Aktion »Student aufs Land« teilnahmen, um den Anteil der Bauernkinder unter den Studierenden zu erhöhen, machten die Erfahrung, daß der elaborierte Code der Sprache in bildungsbürgerlichen Familien ein kaum wettzumachender Karrierevorteil gegenüber den Stu­ dierenden vom Lande ist. Die Chancen, am menschenmöglichen Gelingen teilzuhaben, sind ungleich verteilt. Das Bild der Balance ist gewählt, weil bei Ungleichheiten, die zu Vor- und Nachteil führen, nicht die Ungleichheit das Problem ist, sondern die durch sie entstehende Ungerechtigkeit. Es ist nicht möglich, alle Bauern auf gleich fruchtbaren Böden anzusiedeln und alle Studierenden gleicherweise eloquent zu 66 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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machen. Der Einwand, hier könnten einst Implantate Abhilfe schaffen, übersieht, daß die Idee der Gehirnmanipulation gerade davon ausgeht, dem Einen vor dem Anderen noch mehr Vorteil zu verschaffen. Läßt sich allen Menschen unmöglich die gleiche Willensstärke antrainieren, dann ist die Idee, einen Willensver­ stärker zu bauen, vorab die Idee einer unabsehbaren Folge von Innovationen, die der unabsehbaren Verbesserung eines solchen Verstärkers dienen. Der technologische Fortschritt ist von sei­ ner Motivation her kein Teil der Gestaltung des Humanum, sondern der der selbstischen Vorteilnahme. Die Ungleichheit fordert nicht dazu auf, einen humanen Umgang der Menschen miteinander dadurch zu sichern, daß versucht wird, sie in all ihren Spielarten einzuebnen. Allein dem aus ihnen entstehenden Unrecht ist entgegenzuwirken. Das ist in entwickelten Gesell­ schaften Aufgabe der politischen Kultur. Ihre Gesetzgebung ist dazu da, dem grundständigen Unrecht, das durch Ungleichheit ermöglicht wird, ein Recht entgegenzusetzen, das die selbstische Wildheit und Rücksichtslosigkeit bei der Vorteilnahme verhin­ dert, zumindest einschränkt. Das zielt, um es zu wiederholen, auf das Unrecht, nicht auf die Ungleichheit, und ist gleichermaßen gegen den staatlichen Kommunismus wie gegen den privaten Kommunitarismus gerichtet. Der Stärkere bleibt der Stärkere, aber der Staat hat die Verpflichtung, das »Recht«, das sich der Stärkere in seiner selfishness nimmt, für Unrecht zu erklären und dem Schwächeren das Recht zu sichern, mit dem Stärkeren in einem Rechtsverhältnis zu stehen. Schon früh hat sich der Staat in der Pflicht gesehen, Gesittung und Humankultur zu bewahren und zu fördern. Lebenspraktisch bewährte Sitten wer­ den durch ihn zur Rechtsform. Wie das Gilgameschepos erzählt, kannte die Stadt Uruk im 3. Jahrtausend v. Chr. die Institution der Hure. Eine Hure ist damit beauftragt, Enkidu, den Wilden, durch Liebesgunst und Spracherwerb zu zähmen und zu einem veritablen Menschen zu machen. Rechtsformen der Liebe wie der Status des Freiers, die Verlobung, die Hochzeit, die Ehe 67 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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dienen keiner lebensfeindlichen Reglementierung des Lebens, sondern der Humanisierung der Lebensverhältnisse. Doch zurück zu den Mächtigen des herrschenden Zeitgeis­ tes und ihrer Indienstnahme des Staates. Immer wieder bringen sie das Wunder zuwege, sich das grundständige Unrecht, das sie sich zunutze machen, demokratisch als ihr Recht bestätigen zu lassen. Doch keine Demokratie gleicht der anderen. In Deutsch­ land zum Beispiel ist das Hartz-IV-Gesetz (Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld), wie es Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 auf den Weg gebracht hat, ein Mittelding zwischen Wirtschaftsförderung im neoliberalen Umfeld und einem ersten Schritt des Staates, vor Verelendung zu schützen. Grundständige Benachteiligung ist die den geschichtlichen Menschen begleitende Herausforderung, gemeinschaftlich und gesellschaftlich jeden Tag neu das Nötige zu unternehmen, das dem Bevorzugten auf dem Rechtswege die Möglichkeit nimmt, im rücksichtslosen Ausspielen seines Stärkerseins sein selbstisch angemaßtes Recht wahrzunehmen. Soziale Gesetzgebung gehört zu den Grundlagen der Kultur. Wie sie im Einzelnen ausfällt, entscheidet über die Humankultur. Sind schon Verletzlichkeit des Menschen und Endlichkeit seines Lebens Garanten dafür, daß nichts im Leben auf Dauer fest gefügt ist, so schafft das Aus-der-Balance der grundständigen Rechtsverhältnisse ein Übriges, um im Humanum die Heraus­ forderung zu einer lotta continua zu sehen. Wie für den wachen Geist die Frage nach dem Woher und Wohin, Warum und Wozu des Menschen nicht zur Ruhe kommt, so findet auch die Humanisierung der Lebensverhältnisse zu keiner endgültigen Lösung. Ein Urgroßvater von mir hat da etwas mehr gewagt. Er wollte »diese grelle Tatsache« nicht länger hinnehmen, daß ein Fabrikant in der Regel für den Fall seines Todes den Familienan­ gehörigen etwas hinterläßt, was sie vor Entbehrungen schützt, der Arbeiter dagegen nicht im Stande ist, für die »auch ihm am Herzen liegenden! – Angehörigen irgendetwas zu hinterlassen«. Die von ihm verfaßten zwölf Seiten »Ein Baustein zur Lösung 68 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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der socialen Frage« liegen im Dezember 1871 gedruckt vor. Er hat sie als Fabrikant in Buchholz/Sachsen verfaßt, er, der 1848 bei den Aufständischen in Dresden und danach für eine Weile im Gefängnis war. Er sah die Möglichkeit einer Lösung, die ich in ihrer Zielsetzung nur bejahen kann: Der Fabrikant muß für das Wohl seiner Arbeiter den Staat einbinden, ihm das Geld in Ver­ wahrung und Verwaltung geben, weil die eigene Vermögenslage stets eine unsichere ist. Welchen Erfolg humane Gesinnungen auch immer haben mögen: Es bleibt bei der Unruhe des Fragens und Rechtens. Damit bleibt aber nicht mehr und nicht weniger als die Herausforderung, die Unbeantwortbarkeit der Frage des Menschen zu gestalten und zur Grundlegung menschlicher Kultur zu nutzen.

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3. Die künftige Welt

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Die Menschenwelt ist aus den Fugen, bleibt aus den Fugen. Der Stärkere wird nie damit aufhören, sich sein Recht zu nehmen, das in Wahrheit ein Unrecht ist. Heute sind es, global führend, die Mächtigen im Silicon Valley, die dieses Unrecht für sich zu nutzen verstehen. Lokal sind es Zerstrittene, die bis zur Grausamkeit bereit sind, ihr vermeintes größeres Recht durch­ zusetzen. Unsere Geschichte ließe sich auch schreiben als die des Aufstands gegen die Weltverstörer und Weltzerstörer im Gro­ ßen und Kleinen. Mir hat der Antiheld gefallen, den Archilochos (um 700–645 v. Chr.) dichtet. Der fand das Sichabmetzeln in der Schlacht nicht gut und warf seinen Schild weg, um schneller vom Feind wegrennen zu können: »Was liegt mir an diesem Schild? Fahre hin! Demnächst kauf ich den gleichen mir nach«. Auch was Aristophanes (um 445–385 v. Chr.) in »Lysistrate« dramatisch als Komödie aufführt, fand ich eine gute Idee: Die Frauen verweigern sich den Männern, die am Krieg schuld sind, um sie zum Friedenmachen zu zwingen. Das war Verwei­ gerung, gerichtet gegen den herrschenden Zeitgeist. Nicht so feinsinnig und auch nicht notwendig effizienter sind Revolution und Tyrannenmord. Doch eine Geschichte des erfolgreichen und erfolglosen Widerstands gegen die Betreiber des Aus-den-Fugen und ihren Zeitgeist zeichnete nicht das wahre Bild vom sich nach Eintracht und Frieden sehnenden Menschen. Sie unterschlüge, daß er sich weit mehr den geistigen und geistlichen Kräften, ja Mächten anvertraut hat, das Unrecht, das er in seiner Welt sieht und das ihm in ihr geschieht, zu überwinden. Er hat dann gegen das Unrecht nicht dessen Waffen genutzt, sondern die der Kunst, die Kunst des Denkens und die Kunst des religiösen Glaubens. Diese Künste, die man nicht als Künste versteht und ohne erhellende Aufklärung auch nicht als solche verstehen kann, werden für die eigentlichen Wegweiser zu einer heilen Welt genommen. Sie sind zu durchleuchten, um erklären zu können, was Menschen sicher macht, die erhoffte Gerechtigkeit in einer ganz anderen künftigen Welt zu finden, nicht aber in der Welt, in der sie leben. Mögen sie nämlich auch politische und moralische 73 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

Zielsetzungen in lebendiger Gegenwart verfolgen, so ist daran dann doch nur ihre zweite Natur beteiligt. Die erste, für einzig authentisch gehaltene, ist eine unvergleichliche. Sie verwendet sich ganz für eine wahre Welt, die nach der gegenwärtigen falschen kommen soll. Sie ist durch und durch schöpferisch, dabei aber gefährlich. Was sie schafft, ist durchgängig irreal, wenn das heißt, daß ihre Werke nichts mit der Realität unse­ rer Lebenswelt gemein haben. Als die über sich selbst nicht aufgeklärten Poesien, die sie sind, wirken sie verführerisch. Sie täuschen nicht allein den Sinn für Realität, sondern auch den Sinn für Poesie. Die ganz andere künftige Welt ist von ihrer geistig-geistlichen Geburtsstunde an eine über sich selbst nicht aufgeklärte Verklärung. Geht es um gelebte und zu lebende Wirklichkeit, dann kann von der als einzig wahr erdachten und erdichteten künftigen Welt nur gesagt werden, daß es sie niemals geben wird. Wie der Gegenentwurf zur Welt des geschichtlichen Menschen praktiziert wird, ist er nicht mehr und nicht weniger als eine verführerische Skizze. Er gewinnt nicht dadurch Wahr­ heit, daß er große Kulturen ritualisierten Lebens hervorgebracht hat, Kulturen, die die Lebenswelt geprägt haben. Mir genügt da das Rösle, die jüngste der drei Töchter meiner Freiburger Wirtin, die nach dem Tod ihres Pauli (er war mein Arbeitskame­ rad im Freiburger Stadtwald) zu mir sagte: »Ich werde ihn ja wiedersehen. So jedenfalls hat es uns die Kirche versprochen«. Die Blüten, die Paulus »auf Hoffnung hin« treibt, sind schön, ja, aber auch toll. Sie lenken davon ab, daß es einzig im endlichen Leben um »Alles oder Nichts« geht. Auch davon lenken sie ab, daß das Aus-den-Fugen der Gegenwart, nach nichts »Letztem« verlangt, nach keiner wahren »letzten« Gerechtigkeit, sondern nach gegenwärtigem Handeln. Vor allem aber lenkt es davon ab, daß menschliches Gelingen den geschichtlichen Menschen von Anfang an bis heute begleitet und auch weiterhin begleiten wird. Unsere Lebenswelt ist nie nur aus den Fugen, nie nur als eine durch grundständige Ungerechtigkeit Lebensteilung verhindernde und Leben zerstörende. Da ich mich philosophisch 74 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

immer gefragt habe, wie es im Ganzen und im Detail um die Entwürfe einer letzten gerechten Welt steht, möchte ich den Leser über wichtige Positionen der großen Tradition aufklären, die seit mehr als zweitausend Jahren das Humanum nicht im Verhältnis der Menschen untereinander sucht und findet, son­ dern im geistigen Seinsbezug und geistlichen Gottesbezug.

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I. Die Philosophen I.1 Nachdenken, ja – aber wie und über was? Als ich mich im Alter von sechzehn entschloß, Nachdenken zu meinem Beruf zu machen, dachte noch niemand an Maschinen, die dazu präpariert sind, es besser zu tun als der Mensch. Macht Nachdenken über den nächsten Zug am Schachbrett eigentlich noch Spaß, wenn der Computer neben dem Brett bereits über das bestmögliche Ergebnis meines Nachdenkens Bescheid weiß? Dasselbe wird sich der Arzt fragen müssen, der über eine Dia­ gnose nachdenkt. Nun ist zu vermuten, daß bei manchem Nach­ denken ein Ingenium im Spiel ist, etwas dem Nachdenkenden Eingeborenes, das ihn schöpferisch werden läßt. Als der Astro­ physiker Hawking krankheitsbedingt nicht mehr zum schnellen Skizzieren in der Lage war, hat er mehr Zeit auf das Nachdenken verwandt. Das führte ihn zu seiner wichtigsten Entdeckung, zu einem Stück Theorie, das wegweisend für die weitere Forschung war. Sein Nachdenken über »Gott und die Welt« führte ihn zu der Erkenntnis, daß es für die Weltentstehung keines Gottes bedurfte. Worüber aber denken Philosophen nach? Mit Schriften »Über die Natur« beginnt die griechische Philosophie. Früh wird auch über den Menschen nachgedacht: was er tun, was er lassen soll. Zu führenden Themen in der klassischen Zeit der griechischen Philosophie werden Wirklichkeit und Wahrheit, Ethik und Politik, seelische Denkkraft (Vernunft) und Gott. Bereits im Nachdenken von Gedanken der philosophischen Tradition während des Studiums führten erste eigene Versuche dazu, in der Philosophie den Großversuch einer gedanklichen Verständigung des Menschen über sich selbst als Mensch zu sehen. Menschliches Leben wurde mein Thema: Leben, das gelingt, weil es gelingend geteilt wird; endliches Leben, das seine Endlichkeit bejaht und um seine Kostbarkeit weiß; Leben, dessen 76 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Die Philosophen

Sinn ein Rätsel bleibt. Ja, das war es: das Denken ganz an das Rätsel des Lebens zu verschwenden. Das hat mich von früh an nicht wenigen Positionen der großen Tradition entfremdet. Ich war erstaunt, da immer wieder mit Menschenbildern konfrontiert zu werden, die nichts von dem Menschen spiegelten, dem ich wohlgesonnen war. Sie zeigten einen Menschen, der, weil es ihn nicht gab, vertagt, ja aus der Welt genommen war. Das Staunen über diesen mir selbst auf den zweiten Blick nicht wünschenswert erscheinenden Menschen verband sich mit dem Staunen darüber, wie sehr die Philosophie, die an ihm arbeitete, dadurch bestimmt war, eine theologische zu sein, und dies bis heute. Erst spät sah ich ein, daß da das Nachdenken in eine sehr freizügige Denk­ kunst umgeschlagen war, Philosophie, in ihrer Theoriebildung ein Nachbar der Wissenschaft, war zum Nachbarn der Poesie geworden. Diese Einsicht rechnete ich mir als Ehrenrettung der Metaphysik zu: Sie hatte sich nicht länger vor der Wissenschaft zu rechtfertigen. Doch das hat nicht gefruchtet. Anstatt sich als Kunst zu verantworten, bleibt theologische Philosophie bei dem Anspruch, sich nicht der Wahrheit der Kunst zu bedienen, um die Wirklichkeit des Realitätssinnes belebend zu überhöhen, sondern der einzig wahren Wahrheit zu dienen. So muß ich weiterhin staunen, wie sehr es ein Bedürfnis der der Philoso­ phie Zugewandten bleibt, sich durch Menschenbilder begeistern und verführen zu lassen, die nichts zeigen, was die Chance hat, lebendig zu werden. Philosophie lebt von der Verklärung dieser Chancenlosigkeit. Läßt Platon zu Beginn des Spätdialogs Timaios seinen Sokrates nachdrücklich den Wunsch äußern, den in geformten Gedanken ruhenden besten Staat nun auch einmal in Bewegung zu sehen, dann kündigt sich ein Wunder an: die Chance des Unmöglichen. Philosophen wie Platon und Aristoteles, Kant und Adorno setzen auf Vernunft. Sie halten sich an das ihren eigenen Beruf prägende Vermögen, die Denkkraft, und erdenken ein geistiges Selbstsein, das rein geistig zu sein und zu verfahren vermag, 77 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Die Philosophen

ohne Anteil von Nichtgeistigem, ja ohne daß Triebhaftes ihm in die Quere kommen und Emotionales es beeinflussen könnte. Alle Vier haben etwas im Sinn, das der Idee einer reinen Ver­ nunft gleichkommt. Dieses Gedankending (noumenon) ist von absonderlicher Art. Es macht die, die es in eine rein geistige Welt versetzt, einander absolut gleich. An erster Stelle des Erdenkens einer reinen Vernunft steht nicht die ihr zugedachte, durch nichts behelligte Denkkraft, sondern die ihr zugedachte Einigung und das heißt Nivellierungskraft. In dieser von keinem lebendigen Menschen bewohnten Welt kann keiner etwas gegen den anderen haben. Entindividuiert, wie jeder ist, herrscht unter­ einander die reine Eintracht ein und derselben Vernunft. Alle Menschen haben eine Nase, aber das macht sie nicht gleich. Nicht erst seit Platons Sokrates wissen wir, daß selbst noch Krummnasigkeit individuell ausfällt. Nasen individuieren. Es gibt keine »reine« Nase. Vernunft dagegen, wird sie fälschlich als rein erdacht, entindividuiert. Unter den rein Vernünftigen kann keiner auf seine Weise vernünftig sein, auch nicht vernünftiger als ein anderer. In dieser Geisterwelt gibt es keine Stärkeren und Schwächeren. Die gewollte Entindividuierung wird teuer bezahlt. In Konsequenz hätte niemand mehr sein eigenes, im Umgang mit anderen Selbsten entwickeltes Selbst. Aus der einen reinen Vernunft folgt das eine, rein vernünftige Selbstsein. Die Philosophen haben die letzte Konsequenz nicht gescheut. Der rein Vernünftige ist nicht eigentlich Mensch; er ist Vernunft.

I.2 Platon Platon läßt im Frühdialog Phaidon den zum Tode verurteilten Sokrates den Gedanken entwickeln, daß mit dem Tod sich die Seele vom Leibe trennt. Befreit zu sich selbst, heißt für diese Denkseele: Sie denkt nurmehr. Platon spricht sich wiederholt gegen den Schlaf aus, weil der Schlafende allenfalls träumt, kei­ nesfalls aber denkt. Da ist es nur konsequent, wenn er mit dem 78 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Die Philosophen

Menschen nach seinem Tod besser zurechtkommt als während seines Lebens. Die Seele für sich, ohne den Leib – das wäre der Idealzustand. Doch da fährt ihm athenische Religionsdisziplin dazwischen: Er muß den Tod Sache des Gottes sein lassen. Der Freitod ist, hört er auf Gott, dem Menschen nicht erlaubt. Der späte Platon plädiert sogar dafür, den, der sich auf Dauer nicht von der Existenz Gottes überzeugt zeigt, mit dem Tod zu bestrafen.

I.3 Aristoteles Wie Aristoteles am Ende der Nikomachischen Ethik seine philosophische Sicht des Menschen vorstellt, ist er der ein­ zig zum Denken, nicht aber zum Lieben und Sichfortzeugen Bestimmte. All sein Bemühen habe der Unsterblichkeit zu gel­ ten. Das führt bei ihm dazu, als das eigentlich Menschliche am Menschen ausgerechnet das Göttliche zu bestimmen: die Denkkraft. Kein Wunder, daß die Philosophie selbst für ihn etwas Göttliches ist. Den göttlichen Teil als seinen besten für den ganzen Menschen zu nehmen, ist jedoch zum Glück nicht alles, was Aristoteles philosophisch zur Selbstauslegung des Menschen beizutragen hat. Was er vom Zusammenleben in Gemeinschaft und Gesellschaft zu sagen wußte, zeugt von sel­ tener Einsichtigkeit. Denkt er jedoch den Menschen in der für die Philosophie typischen vertikalen Anthropologie von unten nach oben, von der unten gelegenen Begehrlichkeit, die nicht der Vernunft folgt und deshalb nicht »schön« ist, hinauf zur reinen Geistigkeit, dann läßt ihn das ins Übersinnliche geraten. So wird der Philosoph notwendig Theologe, ein den Gott Denkender und systemisch von ihm Gebrauch Machender. Diese Überhö­ hung des Einzelnen über sein ganzheitliches Menschsein hinaus macht philosophischen Theismus notwendig zum Monotheis­ mus. Das Selbst des Menschen, der kein Mensch mehr ist, ist 79 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Die Philosophen

solipsistisch und als solches autistisch. In der Welt des göttlichen Geistes ist der einzelne Geist ganz auf sich selbst bezogen.

I.4 Kant Nach gut zweitausend Jahren sehen philosophische Entwürfe der für uns Menschen eigentlich bestimmten Welt nicht viel anders aus. Der Aufklärer Immanuel Kant erdenkt einen guten Willen, der zwar kein heiliger, kein göttlicher, aber doch immerhin ein absolut guter ist. Mit ihm ist der absolut gute Mensch geboren, dies freilich mit der Einschränkung, daß sich sein Gutsein einzig auf seinen Willen und die mit ihm gesetzte Maxime des Han­ delns bezieht. Wie die Handlungen dann ausfallen und lebens­ praktisch wirksam werden, interessiert den Fiktionisten nicht, und dies mit gutem Recht. Ihm bedeutet das rein voluntative Gutsein alles. Das tatsächlich gelebte Leben ist bedeutungslos, ja wertlos geworden. In der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) getraut er sich doch wirklich für den fiktiven Inhaber des absolut guten Willens festzuhalten: »Er lebt nur noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet«. Da schäme ich mich für die Philosophie, wenn so etwas in ihr aus reiner Lust am Systemischen gedacht wird und auch noch breiten Anklang findet. Gerne zu leben für unsittlich zu erklären – das entspricht dem Theologen, der dem eine »Gemeinheit der Gesinnung« bescheinigt, der einen frohen Tag auf der Erde verbracht hat. Aber nicht nur die Gesinnung dieser Philosophie widersteht mir. Auch ihr Gebäude ist nicht gut gebaut. Der Mensch, der da nur noch »aus Pflicht« leben soll, soll eben noch leben, Leib und Sinne haben, also im Leben zuhause sein. Doch sein eigentliches Selbstsein ist ja in die Vernunft übergangen, ist reine Vernunft geworden. Wie aber soll das geistige Selbst ganz in der Geisterwelt zuhause, und dann doch noch irgendwie mit Sinnlichkeit und Lebendigkeit verbunden sein? Das zu zeigen ist Kant nie gelungen. Der lebensfremde Ansatz läßt sich nicht, 80 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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wie gerne versucht wird, dadurch retten, daß man aus ihm doch wenigstens eine »regulative Idee« gewinnt. Nein, gerade das ist unmöglich. Eine Moralphilosophie, für die jede Form von emotionaler Zuwendung des Menschen zum Menschen moralisches Handeln unmöglich macht, muß sich sagen lassen, daß ihre genialisch entworfene konfliktfreie Welt niemandem von uns ein mögliches Zuhause ist. Wer den unmöglichen reinen Geist für einen Augenblick als möglich erdenkt, muß ihn jenseits aller Regungen des Lebendigen ansie­ deln. Der Himmel ist es, in dem, wie christliche Theologen leichthin sagen, die »pneumatische Existenz« beginnt. Da ist Platon doch überzeugender als Kant, wenn er die wirkliche Loslösung des Geistigen vom Sinnlichen erst im Tod vollzogen sieht, nicht aber im Menschen, der sich rein vernünftiges Han­ delnwollen zur Maxime macht. In Kants Geisterwelt lieben und hassen sich die Geister nicht, aber sie achten einander. Achtung ist für ihn ein Gefühl, jedoch ein moralisches und das heißt ein vernünftiges, ohne jedes Sentiment. Die Achtung ist eine »unmittelbare«. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn doch dem rein Vernünftigen nur »Andere« begegnen können, die ohne jede Andersheit sind. Die entindividuierte Begegnung reiner Geister ist notwendig eine unmittelbare. Das Gefühl, das in der Achtung füreinander herrscht, ist mit dem Gefühlten unmittel­ bar Eins. Der moralischen »Liebe« ergeht es in dieser Philoso­ phie nicht anders. Auch sie ist mit dem Geliebten unmittelbar Eins. Es ist die Liebe des rein vernünftigen Willens, der um des moralischen Gesetzes willen handelt, nicht um des Menschen willen. Ein Handeln, das rein im Geistigen stattfindet, könnte das auch gar nicht. Aus dem Liebesgebot des Alten und Neuen Testaments »Liebe deinen Nächsten als dich selbst« ist das Achtungsgebot »Achte das reine praktische Vernunftgebot als die ›objektive Nötigung‹ deines eigentlichen Selbst« geworden. Aus ihm spricht die Tautologie: »Es ist vernünftig, vernünftig zu sein«. 81 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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I.5 Adorno Um Theodor W. Adorno, einen der wortgewaltigen Philosophen im Nachkriegsdeutschland, ist es stiller geworden. Am ehesten ist es noch die Musikwissenschaft, die mit ihrem Pro und Contra etwas von ihm hören läßt. Ich beschäftige mich hier mit ihm, weil er in meiner Studienzeit die ideologische Alternative zu Heidegger war. In unserem kleinen Kreis gab es einen sich besonders radikal Gebärdenden, der typisch für die damalige Philosophieszene Freiburgs war: Meister Eckhart, Zenbuddhis­ mus. Marx, Heidegger, Adorno – das wollte er verbinden. Der erste Teil der Dissertation sollte bei Heidegger, der zweite bei Adorno geschrieben werden Er hat sie nie geschrieben. Vielleicht hat ihn das davon verschont, an allzuviel Ideologie und Tiefsinn zu ersticken. Adorno setzt auf einen emphatischen Möglichkeitsbegriff. Er hält sich nicht an die Einsicht »Möglich ist, was wirklich ist«, sondern erdenkt sich die zwingende Konsequenz: »Wirk­ lich wird, was noch nicht wirklich ist, ich aber als vernünftig erkenne«. Das noch nicht wirklich gewordene Vernünftige ist das emphatisch Mögliche. Der Gehalt des ihn leitenden Mög­ lichkeitsgedankens ist die Freiheit. Die in seinen Augen aus den Fugen geratene, unvernünftig-unmögliche Lebenswelt nennt er »das Falsche«. In unserer Lebenswelt mit dem ihr eigenen Zeitgeist sei das Falsche die Wirklichkeit. Aber da existiert für ihn eben doch die Möglichkeit der ganz anderen Wirklichkeit: die der befreiten und erlösten Gesellschaft. Keiner beherrsche dann mehr den Anderen. Er bringt das Denkkunststück fertig, aus dem Begriff der Herrschaft heraus, die Realität der Freiheit zu erden­ ken.1 Mit seinem Ansatz beim emphatischen Möglichkeitsbe­ griff erinnert Adornos Denken an die sophisch-theologischen 1 Rainer Marten, »Die Möglichkeit des philosophischer Vernunft Unmöglichen: Adorno«, in: ders., Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion, 3. Aufl., Freiburg / München 2015.

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Bemühungen um einen »ontologischen« Gottesbeweis: Vom Begriff wird auf die Realität geschlossen. Ganz bewußt hat es der »kritische Theoretiker« hingenommen, daß die Geschichte menschlicher Gesellschaften seinen Vernunftbegriff nicht kennt. Das hat ihn in seiner Gewißheit noch eher bestärkt, mit seiner genial konstruierten »negativen Dialektik« nichts als Recht zu behalten. Mit Erfolg hat er ihr Verführerisches erprobt. Gibt es für die Wirksamkeit eines weltschöpfenden und barmherzigen Gottes als einzige Methode der Verifikation, daran zu glauben, daß es sich so verhält, so hat Adorno für die emphatische Möglichkeit und damit werdende Wirklichkeit seiner befreiten Gesellschaft auch nur eine: das denkkünstlerische Erdenken. Die Generationen von Studenten, die ihn hörten und von seinem Gedankenwerk begeistert waren, konnten den Sachverhalt sei­ ner Ausführungen auch allein dadurch überprüfen, daß sie der von ihm verkündeten Dialektik im mitdenkenden Nachvollzug vertrauten, ja an sie glaubten. Für mich war das ein inakzeptables Unterfangen, junge Menschen, die ins Leben aufbrechen, ins gemeinschaftlichgesellschaftliche und ins eigene, mit Erfolg davon zu überzeugen, daß es unter den herrschenden Bedingungen der Aufbruch ins »Falsche« sei. Dieser Anstoß zu einer sich rein im Kopf abspielenden Revolution, die das Ziel hat, eine Entfremdung gegenüber Lebenswelt und Lebenszeit herbeizuführen, ist bei aller Durchdachtheit doch nicht mehr als vereinnahmende Rhe­ torik. Dieser Denkkünstler glaubte, das »Falsche« im Heute zu kennen. Als Adorno in den 60er Jahren in der Baden-Badener Kunsthalle die Eröffnungsrede zur Ausstellung »Junge Künstler sehen die Stadt« hielt, kritisierte er die Maler, die es wagten, die Stadt anders zu sehen als er. Meine Frau hatte ein lichtes Bild, ich erinnere leuchtende Zebrastreifen und eine hellgelbe Stuttgarter Straßenbahn, auf dieser Ausstellung gezeigt, das später in Hué verschollen ist. Sein Besitzer, ein Freiburger Arzt, half dort, eine medizinische Fakultät aufzubauen. Er war zusammen mit seiner Frau vom Vietkong erschossen worden. Der Autor der 83 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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Ästhetischen Theorie konnte und wollte nicht wahrhaben, daß Maler die Welt des bildhaft zu Gestaltenden je aus ihrer Sicht und Bildkraft neu zu sehen geben. Ob sie eine Weit zeigen, die einlädt, in ihr zu leben, in diesem Falle sind es Städte, oder ob sie Straßenzüge mit Kriegsinvaliden bestücken, die damals noch häufig in der Öffentlichkeit zu sehen waren, um künstlerisch an die Schrecken des Krieges zu erinnern und den ausbleibenden »Dank des Vaterlandes« zu monieren, ist ihre Sache. Wie sie den Geist der Zeit repräsentieren, sehen sie sich nicht gehalten, in jeder Brücke, die Autos und Fußgänger ein Gewässer überqueren läßt, einen bürgerlichen Fetisch zu sehen und als einen solchen »kritisch« zu sehen zu geben. Wie wäre erst einem Matisse und einem Picasso ein kritischer Theoretiker vorgekommen, der sie belehren möchte, obwohl er nichts davon weiß, daß es für ihr malerisches Ingenium Besseres zu tun gibt, als gegen die verbrecherische Besetzungsmacht anzumalen.

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II. Die Mystiker Mystiker sehen sich dazu berufen, mit starken, sehr hoch und sehr tief getönten Worten den einzigen Weg aus der Unwahrheit unserer Lebenswelt und Lebenszeit zu weisen. Sie wollen nichts davon wissen, was Menschen gegenwärtig auch an Wunderba­ rem gelingt. Sie gehen ungleich weiter als Philosophen, die selbst als Theologen doch eher bei Vernunft bleiben, als sich gänzlich in die Tiefen des Unmöglichen vorzuwagen. Zeigt sich zwar auch bei philosophischen Vernunftoptionisten Lebensfeindlichkeit, zumindest Unverständnis gegenüber Ansprüchen des Lebens, dann stellen Mystiker das Leben samt der Lebenswelt selbst in Frage. Nicht jeder Mystiker verläßt im Geiste die Welt, um ganz woanders seine Wohnstätte zu finden. Dann aber verwandelt er im Geiste die Welt so, daß sie für uns nicht mehr als die unsere wiederzuerkennen ist.

II.1 Zhuang Zi Philosophische Mystik im alten China, die Lao Zi (Lao-Tse) initiiert (6. oder 4.-2. Jh. v. Chr.), und der Zhuang Zi (um 369– 386 v. Chr.) ihre vollendete Gestalt gibt (Das wahre Buch vom südlichen Blütenland), denkt nicht an das Wiedereinrichten von aus den Fugen Geratenem. Der Mensch, den sie denkt, ja eben erdenkt, ist der ganz andere, der ganz anders erkennt und lebt. Sie spricht von ihm als dem wahren und höchsten. Er wohnt in einem »Palast des Nichts«, zu dem Menschen an keinem Ort ihrer Lebenswelt und zu keiner Zeit ihrer Lebenszeit Zutritt gewährt ist. Wer dort wohnt und im DAO ruht, hat die Welt und das Leben überwunden. Er ist, ohne noch ein Einzelner zu sein, Eins mit Allem. Der wahre Mensch lebt in der All-Einheit. Das Unterwegs des Menschen, der wir sind, zum wahren Menschen, 85 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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verlangt die absolute Sichselbstzugewandtheit des Selbst. Jede Art von Zuwendung zu Anderen, zumal die freundschaftliche, ist Gift für ihn. Ihm muß ja die Entindividuierung gelingen. Es ist schon erstaunlich, wie klar hier die Annahme der Herausfor­ derungen des zu lebenden Lebens verneint wird. Erstaunlicher noch ist, wie viele dem Aufruf, ins Nichts der All-Einheit aufzu­ brechen, gleich einem Glücksversprechen Folge leisten. Lese ich, daß die Welt und die Zeit unseres Lebens schlichtweg nichts und nichtig sind, dann ist das für mich die ungehörigste Antwort auf die Herausforderungen, mit denen wir in unserem endlichen und einzigen Leben konfrontiert sind. Das ist keine Überzeugung, sondern klarste Einsicht: Der Mensch ist für den Menschen da. Damit steht auch schon fest, daß dem lebensteiligen Menschen die Verantwortung für das Humanum übertragen ist, nicht aber dem Einzelgänger, der im All-Einen untergeht. Aus dem Auf­ bruch ins Nichts spricht die Zurückweisung jeder menschlichen Verantwortung. Er ist Ausdruck der vollkommenen geistigen selfishness. Die Abwendung des Menschen vom Menschen, dieser systemische Solipsismus in der absoluten Zuwendung des Selbst zu sich selbst, ist zutiefst verstörend.

II.2 Heidegger Der philosophische Mystiker Martin Heidegger unterscheidet die Welt, in der wir leibhaft leben, von der Welt, in der wir geistig existieren. Die Lebenswelt ist für ihn zunächst die Welt der Alltäglichkeit, in der der wesenlose Mensch sich umtriebig mit Seinesgleichen um das gemeinsam gelebte Leben kümmert. Des weiteren ist die Lebenswelt für ihn die berechenbare, durch Wissenschaft zu erforschende Welt der Gegenstände, über die wahre (»richtige«!) Aussagen gemacht werden. Es ist die Welt, auf der die »Machenschaften« des Menschen und das »Wüten« der Technik beruhen. So oder so – diese Lebenswelt ist für den Mystiker keine Welt. Wirklich Welt wird überhaupt erst die 86 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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»künftige« sein, die er erdenkt: »Wenn Welt einst weitet, jäh vermutlich …« – Welt als mystisches Ereignis ist eschatologisch gedacht. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg, in die Nichtöffent­ lichkeit versetzt, deutet er seine neue Unscheinbarkeit und Stille als die Stelle, die seinem Seinsdenken erst seine volle Möglichkeit erschließt. Hatte er um 1930 im Sinn, Stifter einer neuen Volksreligion zu werden, so wird er jetzt, 1946, zum Propheten einer neuen Weltschöpfung. Notizen aus dieser Zeit, die mit dem Erscheinen von Band 97 der Gesamtausgabe 2015 der Öffentlichkeit zugänglich werden, fordern vom Leser, sein Mitdenken auf »die Geschichte des erst kommenden Abendlan­ des« zu richten. Zentral dafür ist der von dem einsamen Mystiker an einem unscheinbaren Ort mit reichlich denkakrobatischem Vor und Zurück vorbereitete Tagtraum von der »Bewegung des ›Hebels‹, der die bisherige Welt und Weltgeschichte aus den Angeln hebt und in den Fug verfügt«. Heidegger träumt von einer letzten und endgültigen »Verfügung«. Nichts aus den Fugen Geratenes wird repariert. Mit einem Schlag, mit dem »Stoß« des alles erschütternden Seinsereignisses, wird die Welt eine gänzlich neue sein: die »weltende Welt«. Mit dieser infini­ tivischen Erläuterung des Substantivs will Heidegger, wie auch in den Wendungen »dingendes Ding«, »gründender Grund«, »wesendes Sein«, »sprechende Sprache«, auf das »Wesen« ver­ weisen, was bei ihm nicht wie in der Philosophie sonst die Essenz meint, sondern das Daß des Seins. Die weltende Welt ist das ereignishafte Daß von Welt: jetzt west sie. In dieser Welt gibt es keine Wissenschaft und keine Technik mehr, keine, so müssen wir heute ergänzen, demokratisch gewählten, dem Neoliberalis­ mus dienlichen Regierungen, die den Techonologiekonzernen freie Bahn geben. Netzwerkausrüster wie Cisco haben sich bis dahin allerdings noch einiges vorgenommen: die Ubiquität der Mobilität und Kommunikation. Heideggers mystisches, nicht rechnendes Denken ist ein sehr speziell eschatologisches. Das Seinsereignis der weltenden Welt, obgleich ein jäher Stoß des Daß und kein Etwas, das 87 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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passiert, hat in der Zeit statt, ja der Prophet gibt Daten an, die schon genannten drei- oder vierhundert Jahre, in denen, was für ihn Metaphysik heißt und was für ihn Technik ist, weiterhin für die »Verdüsterung der Welt« sorgen und das »Licht des Seyns« von ihr abhalten. Erst dann bricht für ihn die Zeit an, in der seine Schriften verstanden werden können, angefangen mit Sein und Zeit. Jede seiner Schriften gilt ihm als »Stoß des Seins«, der Seinsgeschichte schreibt. Die künftige Welt mit ihrer unversehrten Erde trägt Züge der alten. Die Bilder der Heimat bleiben: Boden und Bodenstän­ digkeit, Saat und Brache, das Blut der Mutter und das deutsche Volk, ja der einzigartige Seinsauftrag des Deutschen. Jetzt erst ist (west) für ihn Abendland. Das ist nicht Sache des Westens, schon gar nicht des Ostens. Deswegen führt es von dem ab, was hier gedacht wird, wenn man ihn insbesondere aufgrund der weltweit gern gelesenen Schrift Gelassenheit zum Vordenker eines Neobuddhismus macht. Ohne Zweifel ist in seinem Werk, vor allem im späten, buddhistische Philosophie mal verdeckt, mal offen gegenwärtig. Gedanken des Mystikers Zhuang Zi sind für ihn schon früh wegweisend geworden, spätestens 1921, wenn nicht bereits 1910 durch Martin Bubers Übersetzung der Reden und Gleichnisse. Doch die Seinsgeschichte und ihr Geschickhaf­ tes sind ganz seine Erfindung, die er mit dem Menschheitsauf­ trag des Deutschen verbindet, von dem bereits der Deutsche Idealismus stimuliert ist und den die Träumer vom »Geheimen Deutschland« für Heidegger aktualisieren. Aber all dies Alte, das Heidegger in die künftige Welt einbringt, ist so neu gedacht, daß es eigentlich gar nichts Altes ist. Das Volk, das vorgesehen ist, die »Weltbildung« vorzube­ reiten, ist ohne biologische Masse. Es ist eine rein geistige Größe, repräsentiert durch die Geisteskraft deutscher Denker und Dichter. Das Vergeistigen ist ein eminent künstlerischer Vorgang. Der Künstler in Marcel Prousts Recherche sieht seinen Auftrag im Vergeistigen. Das schafft, ohne die Lebenswelt zu verlassen, in ihr eine gesteigerte Wirklichkeit, die das Gewohnte 88 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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und zur Langweile Verführende übersteigt, das Belanglose und Ungefähre vergessen läßt, das Banale und Frivole vertreibt. Auch Heidegger geht davon aus, daß Vergeistigen Sache der Kunst ist. In Notizen von 1931 bis 1938, die 2014 zugänglich werden (Gesamtausgabe Bd. 94), verdeutlicht er seine eigene Sicht: »Welt« ist nicht erstlich vom Wissen und Handeln her zu begreifen. »Weltveranlassung« ist Sache der Kunst, die in ihrem Wesen Dichtung ist. Anders als bei Proust, der beim Menschen bleibt, der wir sind, um im Vergeistigen von Empfindungen sein künstlerisches Potential vorzuführen, wechselt Heidegger zu einem ganz anderen Menschen, der nicht unter Zeitgenossen lebt, sondern in radikaler Vereinzelung augenblicklich-ekstatisch existiert. Dieser Mensch ist kein Lebewesen mehr, sondern ein geistiges Seinswesen. Vergleichbar dem wahren Menschen von Zhuang Zi ist es ein »Sein« ohne Jedes Was- und Etwas-Sein. Mit dieser erdachten Existenz, einem reinen Gedankending ohne mögliche existenzielle Realisierung, bedient Heidegger mystische und metaphysische Bedürfnisse. Nicht mehr und nicht weniger hat er zum Auftrag der Kunst zu sagen, ließe sich abschließend feststellen, bliebe da nicht ein höchst problemati­ sches Mehr: der Denk- und Seinsauftrag des Deutschen. Nationalistisches Denken und ein darauf beruhender Natio­ nalstolz war für uns allein schon durch das anfängliche Wis­ sen um das, was unter der Herrschaft des Nationalsozialismus geschehen war, undenkbar. Waren wir durch den Aufbruch ins Leben nach dem zerstörerischen Krieg auch weit mehr mit dem beschäftigt, was kommt, als mit dem, was gewesen ist, so wußten wir uns doch befreit und praktizierten sehr bewußt das Geschenk der Demokratie. Sehe ich heute (2018) auf das, was Heidegger nach dem Krieg alles über den deutschen Auftrag gesagt hat, ihn aus dem Innersten seines Denkens begründend, kann ich darüber nicht mehr staunen, so verblendet ist es. Seine immer wiederkehrenden Haßtiraden auf den Kosmopo­ liten Goethe und Liebeserklärungen an den vaterländischen Hölderlin, dessen Dichten und »herakliteisches Denken« ihm zu 89 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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einzigartigen, heimlich-nachbarlichen Garanten des griechischdeutschen Seinsgeschicks werden, wirken auf mich nur noch grotesk. Als Zwanzigjähriger Heideggers Einladung zu den »Bremer Vorträgen« im Herbst 1949 folgend, war in den Vor­ trägen, Diskussionen und bei Tisch nichts von einem Auftrag des Deutschen zu hören, schon gar nichts vom Zeitgeist des »Dritten Reichs« zu spüren. Es ging um den »Einblick« in den aktuellen Stand des Seinsgeschicks: in das Wüten der Technik und ihre entseelende Kraft. Worte, die durch ihre Hochschätzung des »Seins« das Menschsein erniedrigten, habe ich in meinem gebannten Zuhören zu nie Gehörtem überhört. Einer der Vorträge, den ich spät im Hotelzimmer nach dem Gedächtnis aufschrieb, wurde in meinem letzten Münchner Semester Text eines Philosophieseminars. Aber auch in Frei­ burg, in den Seminaren, die Heidegger in seinem Haus und in den Wohnungen des jüdischen Philosophen Gilbert Kahn, erst in der Karl-, dann in der Okenstraße abhielt, tönte nichts nach Blut und Boden. Philosophische Texte wurden auf sehr eindringliche Weise durchgearbeitet. Es herrschte, wie ich ja auch selbst im Aufbruch war, Aufbruchstimmung. Den wenigen Indizien, daß er national gesonnen war, haben wir kein besonderes Gewicht beigemessen. Über die Einheit von Heideggers Denken und die Ungebrochenheit seiner nationalistischen Ideologie bin ich mir erst spät klargeworden. Das liegt auch daran, daß er wie kein anderer ein verrätselnder, beredtverschwiegener Philosoph war. Nein, Heideggers Heilsentwurf, der im Ereignis der künftigen Welt als die »Fuge des Seyns« kulminiert, ist für mich, um es zurückhaltend zu sagen, absurd. Das bringt mich auch gegen alle die auf, die sich weiterhin diesem geistigen Verführer anver­ trauen. Der grandiose Denkkünstler, der sich, wie er schreibt, der »Gnade« des Seins sicher ist, notiert nach dem Krieg, wie jetzt in den Schwarzen Heften zu lesen ist: »In der Freye der Fuge ist die Letze ereignet«. Wer ahnt schon, was für ein ebenso erschre­

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ckender wie abwegiger Tagtraum hinter diesem Rätselwort wie hinter allen anderen so reichlich von ihm verfaßten lauert?

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III. Die Gläubigen III.1 Das Wunder der Religion Gelebte Religion ist etwas zutiefst Erstaunliches: Gläubig zu sein, gottesfürchtig, fromm, sich an eine ungreifbare und unsichtbare höhere, ja höchste Macht zu wenden, Umgang mit ihr zu pflegen, ihr einen Willen zu geben und sich ihm zu unterwerfen. Das ist überhaupt nicht gleich der Entführung in eine Märchen- und Sagenwelt. Nichts mutet als Spiel an, nichts als vorrübergehende Entrückung in eine die Träume überbie­ tende Wunderwelt. Alles ist ernst, ist unbedingt und von einer Überrealität, die keine Tiefe des Gefühls und keine Weite der Lebenszuversicht sich selbst überläßt. Im Sommer 1945 kehre ich nach zwei Jahren Kindersoldat bei Flak und Kriegsmarine nach Starnberg heim. Noch zwei Jahre bis zum Abitur, falls ich es trotz fehlender Schulzeiten schaffe. Dann Philosophiestudium. Zunächst aber beginnt das neue Leben handfest als städtischer Waldarbeiter (Schule gab es erst ab Februar 1946 wieder). In dieser Zeit nehme ich erstmals die Bibel zur Hand. Ich lese im Alten Testament. Für mich, der ich keine religiöse Erziehung erhalten habe, ist es faszinierend von einem Gott zu lesen, der die Welt und den Menschen schafft, der ein Volk führt, der dem Einzelnen, der ihn braucht, einmal nah, ein andermal fern ist. Hatte ich Jahre davor viel von Göttern und Helden gelesen, dann war das jetzt etwas ganz Anderes. Aber was war es? Das habe ich mich erst viel später gefragt, und dann auch eine Antwort gefunden. Das war, als ich an dem Buch Lebenskunst arbeitete, das 1993 erschien, an der Kunst der Lebensteilung. Der Gott des religiösen Glaubens, die Gotteswerke, die Glaubenstatsachen sind, der Gläubige in seinen Ritualen und in seinem Gespräch mit Gott – das alles ist, so lautete meine Antwort, doppelte 92 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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Poesie, das meint sich auf poetische Weise als Poesie bedeckt haltende Poesie. Ich habe viel Zustimmung zu dieser Einsicht in Religion erfahren – von Gläubigen, von Theologen und Predigern. Doch es hätte ihrer nicht bedurft, um sicher zu sein, daß ich dieses Geschenk, das der Mensch auf geheimste Weise in freier Selbst­ auslegung sich selbst macht, recht verstehe. Es gibt gar keine andere Möglichkeit, als daß jede Religion, jede absolute Über­ höhung der menschlichen Lebenswirklichkeit Poesie ist. Es gibt entsprechend auch keinen Grund, daß Religion etwas anderes sein sollte als Poesie. Als Lebewesen bleibt dem Menschen unmöglich anderes als dem Maikäfer (ich schreibe das im Mai): Ist er tot, dann ist er tot. Das Wunder des Menschen (!) kommt so erst ins rechte Lichte. Religion in ihrer Wörtlichkeit und Schriftlichkeit, Geistigkeit und Geistlichkeit, im Reichtum ihres Affekts, Ritus und schöpferischen Ausdrucks bis hin zu den Tempeln, Kathedralen, Pagoden und Moscheen. Das so zu sehen und zu verstehen, setzt freilich den künstlerischen Menschen voraus, der weiß und es lebenspraktisch vorführt, daß Poesie nicht bloß, sondern sogar Poesie ist. Was sollte Religion Besseres sein als Poesie? Sie ist in ihrer sehr besonderen Art, Poesie zu sein, eine Höchstleistung menschlicher Schöpferkraft, zugleich eine Höchstleistung der Selbstoffenbarung menschlicher Not. Die Not, Zuflucht zu finden, »Schild und Schirm«, die Sehn­ sucht nach absoluter Treue und Verläßlichkeit, das Verlangen nach einer Dankbarkeit und nach einem Gehorsam, das keinem Verhältnis unter Menschen entspringt, geschweige denn durch ein solches gestillt wird – all das und noch viel mehr gebiert das Wunder der Religion, das Eins ist mit dem Geheimnis des Glaubens (mysterium fidei). In der höchsten Form seines Verlangens braucht der Mensch nicht nur Tanz und Gesang, um seinem Leben über den Alltag, der gewährleistet, über den Tag zu kommen, Größe und Gewicht, Erfüllung und Zauber zu verleihen, nicht nur sprachliches und bildnerisches Gestalten, das jenseits der alltäglichen Bedürfnisse den Menschen zu dem 93 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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führt, worin er sich in seiner höheren Notwendigkeit wiederfin­ det, nein, in der höchsten Form seines Verlangens nimmt es der Künstlermensch mit dem Unendlichen auf: Er macht das Unmögliche möglich, und setzt ein Absolutes, das nicht zu setzen ist, weil es nichts Voraussetzbares, nichts Hypothetisches ist. Das ist bei Platon geistige Poesie, die verdeckt, daß das Unvoraussetzbare, das Gute selbst, wie er im 6. Buch der Politeia den Anfang von allem nennt, Poesie (Denkkunst) ist. In der Reli­ gion ist die poetische Weise ihre Poesie bedeckt zu halten, vor allem das Ritual, nicht zuletzt das des absoluten Gehorsams, wie es Abraham bezeugt, der auf eine Order Gottes, der ihn prüfen will, mit der Bereitschaft antwortet, seinen Sohn Isaak zu opfern, und der absoluten Unterwerfung, wie sie in den muslimischen »Niederwerfungsstätten« fünf Mal täglich statthat. Das Wunder des Glaubens ist der einzig mögliche Weg zum Absoluten, zur echten Transzendenz. Es ist ein Wunder der Poesie, von der der Mensch noch längst nicht erschöpfend weiß, was ihm da überlassen und in seine Verantwortung überstellt ist. Der absolute Halt im Leben, das, was die Möglichkeiten menschlicher Innigkeit, Demut und Ehrfurcht auslotet, ja der Vertrauensseligkeit, der praktischen Gewißheit von Erbarmung und Vergebung – das alles ist das Werk schöpferischen religiösen Glaubens, der dabei sein Geheimnis ausspielt und bewahrt. Wer im Umkreis christlicher Sozialisation sagt, er sei Agnostiker, wenn nicht gleich Atheist, mißversteht religiösen Glauben. Was einen geglaubten Gott angeht, ist sowieso jeder ein Agnostiker, ob er an ihn glaubt oder nicht. Das Unerkennbare, das unter zeitlichen Bedingungen notwendig unerkennbar ist, ist und bleibt das Unerkennbare. Als mich nach meinem Vortrag auf der Tagung der Evangelischen Theologischen Fakultät der Universi­ tät Zürich zum Thema »Unmöglichkeiten« ein älterer Bürger ansprach, er hätte eine Gotteserfahrung gehabt, da konnte ich ihm nur sagen, daß das ja wunderbar sei. Er hat mir freilich nicht erzählt, daß er, vergleichbar mit der Emmausgeschichte, mit dem »Herrn« an ein und demselben Tisch gesessen habe. Hier 94 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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kommt schon eher die Seele in Frage, wie sie Mystiker in ihrer Gottesbereitschaft ausloten. Selbst Heraklit läßt sich zitieren, der von der Seele sagt, daß sie einen »tiefen Logos« habe. Nun, Saulus hat ein Blendlicht gesehen, das ihn für drei Tage blind machte, eine Warum-Frage gehört und einen Befehl erhalten. Er blieb Agnostiker: Erkannt hat er ja genau nichts. Aber es ist eine glaubhafte Geschichte, wenn das heißt: eine Glauben generierende Stimme hören – das ist nicht von ungefähr die Verfahrensweise der Berufung (vocatio). Ich habe dem Züricher Bürger geglaubt und eben zu seinem tiefen Glaubensakt gratu­ liert. Die Riten evangelischen Glaubens habe ich mit meiner Frau oftmals geteilt. Auf Einladung des Studentenpfarrers habe ich einmal über Prediger III gepredigt: »Alles hat seine Zeit (chronos), jegliches Tun und Lassen seine Gunst der Stunde (kai­ ros)«. Den Orgelbauverein der Freiburger Christuskirche habe ich, mit Auszeichnung durch das Land Baden-Württemberg, zum Erfolg geführt. Für den ökumenischen Festgottesdienst anläßlich der Einweihung konnte ich den nachmaligen Kardinal Karl Lehmann gewinnen. Seitdem ich um religiösen Glauben als doppelte Poesie weiß, ist er nicht mehr allein etwas, mit dem ich lebendigen Umgang habe, das ich erforsche und worüber ich nachdenke, ja staune und rätsle. Er ist mir auch das geworden, was man eine Herzensan­ gelegenheit nennt. Mich bewegt, wie sehr und wie fruchtbar ihn Menschen brauchen. Meister Eckhart beschwört das Wunder, daß in der Seele, ist sie freigemacht von Menschlichem, Platz geschaffen ist für Gott. Der Apostel Paulus verspricht, »auf Hoffnung hin«, das »von Angesicht zu Angesicht« mit Gott. Das Matthäusevangelium verkündet dem Gläubigen das Wohnen bei Gott im Himmel. Die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren hat Volksfrömmigkeit gut erfaßt, wenn sie schreibt: »Wie schön muß erst der Himmel sein, wenn er von außen schon so schön aussieht«. Wenn ich zu all dem sage, daß das größte Wunder am christlichen Wunderglauben der Glaube selbst ist, dann hat das jetzt einen neuen Klang. Der Mensch gerät in das 95 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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Zentrum des Wunders, der Mensch als künstlerisch Schaffender. Der poetische Theozentrismus (nicht der Mensch schafft Gott, sondern Gott den Menschen) als höchster und wunderbarster Anthropozentrismus. Ja, es geht um den Menschen, wenn es um Religion geht, und es geht erst recht um den Menschen, wenn es dem Gläubigen erstlich um Gott und nicht um den Menschen geht. Der Mensch braucht die Transzendenz, die echte und absolute, die nicht bloß, sondern sogar erdichtet ist.

III.2 Religion versus Religion Die Erkenntnis, daß Metaphysik ein Werk der Denkkunst, Religion ein Werk der Glaubenskunst ist, hat zur Folge, daß sie als Werke der Kunst zu verantworten sind. Ein evangeli­ scher Theologe, der meinem Gedanken der »doppelten Poesie« zustimmt, schreibt am Ende seiner Rezension, daß Glaube als Poesie für den Gläubigen »schwer« sei. Ja, es ist schwer, aber nicht unmöglich. Es kann in der Sache nicht unmöglich sein, weil es sich so verhält. Es kann für den Gläubigen nicht unmöglich sein, weil seine Religion mit einem absoluten Anspruch auftritt, den er übernimmt. Es ist der Anspruch auf absolute Wahrheit. Metaphysik braucht das Absolute, Religion braucht es. Das Absolute ist der Eckpfeiler der poetischen Erschaffung von Über­ natürlichem. Das Absolute ist das Unmögliche schlechthin – dazu, daß es existiert, bedarf es des Künstlers, des Poeten. Wer fähig ist, an ein ewiges Leben zu glauben, über das am letzten Tag (en tê eschatê hêmera), am Tag des Gerichts (en hêmerāi kriseôs) der wiedergekehrte Sohn Gottes den Richterspruch für die Lebenden und die Toten fällt, der muß auch in der Lage sein, seinen Glauben als Poesie zu verantworten, als eine Poesie, die durch die Lebendigkeit und lebenspraktische Wirksamkeit auf poetische Weise glauben macht, keine Poesie zu sein. Um es zu wiederholen: Jeder Versuch eines Gottesbeweises ist ein Selbstmißverständnis des Glaubens, weil der Gläubige 96 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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den zu glaubenden Gott und keinen bewiesenen braucht. In einem der frühen Münchner Semester besuchte ich das Seminar eines katholischen Privatdozenten und CSU-Landtagsabgeord­ neten über die mögliche »Erweisbarkeit« der Existenz Gottes. Das war damals Mode, den problematischen Anspruch ein wenig herunterzuschrauben. Doch zu der Zeit war ich noch weit ent­ fernt davon, die Dinge zu durchschauen, sonst hätte ich vermut­ lich das Schicksal der beiden Mathematikstudenten geteilt, die ihn durch »dumme« Fragen irritierten und deshalb das Seminar verlassen mußten. Ebenso ist jeder Versuch einer Theodizee ein Selbstmißverständnis des Glaubens, weil die Poesie des Gottesglaubens keinen Gerichtshof brauchen kann, vor den er den geglaubten Gott zitiert. Wer den Glauben des Apostels Paulus teilt, daß Gott die Liebe und die Gerechtigkeit selbst ist, dann aber das Erdbeben von Lissabon im 18. Jahrhundert, das zwei Drittel der Stadt zerstört, und das Erdbeben von Haiti im 21. Jahrhundert, das mehr als dreihundertfünfzigtausend Tote fordert, anders als Paulus nicht als Gottes Gerechtigkeit glauben kann, der muß im Glauben schöpferisch werden. Ein Bischof in Mittelitalien, der das schwere Amt hatte, nach einem Erdbeben mit mehreren Tausend Toten die Traueransprache zu halten, hat einen Weg gezeigt, wie das zu bewerkstelligen ist. Er stellte die Frage »Und wo war Gott?«, und fand die Antwort: »Er war nicht da«. Damit bleibt die absolute Gerechtigkeit Gottes gewahrt, aber er ist in seiner Allmacht nicht mehr für jedes Naturereignis zuständig. Ich habe sogar einmal einen evangelischen Pfarrer und Bonhoeffer-Experten zum Thema »Der ohnmächtige Gott« predigen gehört. Das ist eine Neudichtung, die erheblich weiter geht als die vom abwesenden Gott. Die gröbsten Selbstmißverständnisse des Glaubens sind aber nicht Gottesbeweis- und Theodizeeversuche, sondern Feindschaften zwischen Religionen. Das ist das wahre Unglück der Religion, daß sie zu allen Zeiten und an allen Orten dazu bereit war, ihre Friedfertigkeit in Kriegsfertigkeit zu pervertie­ ren. Gläubige, die sich wechselseitig als Ungläubige diffamieren, 97 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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machen sich, wie die Geschichte zeigt, durchgängig zu Todfein­ den. Das ist schon kaum mehr ein Selbstmißverständnis als vielmehr ein Selbstmißbrauch. »Ungläubige« wurden mir erst­ mals in Kindheitslektüren von Karl May und von Heldensagen vorgeführt. Mit dem Herzen bei den Christen, bekam ich richtig Angst, als Ungläubiger entdeckt zu werden. Mähte Dietrich von Bern, gleich wie ein Schnitter die Halme, mit seinem Eckesachs die »Heiden« nieder, dann fand ich das staunenswert, zugleich aber angstbefreiend und gut. Bei Roland war ich ebenso auf seiner Seite, als er, in Roncevalles von einer Unmenge von Nicht­ christen Heide genannt, bedrängt wurde. Bei aller Parteinahme war damit doch etwas Grundsätzliches in mir wachgerufen, daß nämlich mit Religionen etwas nicht stimmt. Später lernte ich Genaueres: Ein Volksgott wie Jahwe erlaubt seinem Volk keinen Dienst an einem anderen Gott. Wer vom Glauben an ihn abfällt, wird gesteinigt. Ja, das ist Disziplin. Religion läßt sich gut zur Disziplinierung nutzen, die sich nicht zuletzt bei Feldzügen gegen Andersgläubige bewährt. Vertreibung aus dem eigenen Land und Genozid waren das damals Übliche und sind das nach Möglichkeit auch noch heute. Man lese nur einmal im Buch Josua nach, wie es den andersgläubigen und andersstämmigen Amonitern erging, die das von Gott verheißene Land bewohnten. Die Abscheulichkei­ ten sind dort in befremdlicher Poesie als Gotteswerk erzählt. An Menschenwerk blieb bei der Vernichtung und Vertreibung der Erstbewohner wenig übrig, aber zumindest das wird dann auch historische, nicht Glaubenstatsache sein. Geht es auch in Glau­ benskriegen nicht selten um Macht und Übermächtigung, so ist es für die Krieger doch der absolute Wahrheitsanspruch ihres Glaubens, der sie diszipliniert und motiviert. Gleichmacherei wäre der falsche Weg, den Religionen in ihrer Kriegsfertigkeit untereinander zu begegnen. Von Weltethos und Egalisierung der Religionen auf niederem Niveau ist nichts zu halten, weil solche Vorhaben nur wieder von einem Selbstmißverständnis der Religion zeugen, und mögen sie auch von kompetenten 98 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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Theologen vorangetrieben werden. So etwas nimmt ihr die eigene Poesie und den eigenen Wahrheitsanspruch. Nein, die Gläubigen aller monotheistischen Religionen haben um der von ihnen beanspruchten Wahrheit willen zu dem Einsehen zu kommen, daß es mehr als nur eine absolute Wahrheit gibt. Die Jahwegläubigen, die Chritusgläubigen und die Allahgläubigen tun gut daran, ihre Differenzen zu wahren und auf der Wahrheit ihres Glaubens als einer absoluten zu bestehen. Sie brauchen geistig wie lebenspraktisch die Identifikation mit ihrer Religion. Das verlangt von jeder ein klares Profil. Ein Plural absoluter Wahrheiten wird Gläubige freilich nur dann nicht in Glaubens­ bedrängnis bringen, wenn sie erhellend über sie selbst aufgeklärt sind und ihren Glauben als doppelte Poesie verantworten. Als ich vom afghanischen Übersetzer und seinem deutschen Doktorvater, der als Herausgeber fungierte, den Koran geschenkt bekam, habe ich ihn sogleich im Ganzen gelesen, manches mehr­ mals. Als ich den Übersetzer, der heute als Islamwissenschaftler an einer Universität lehrt, um ein Gespräch bat und ihn fragte, warum denn auf nahezu jeder Seite drohend die Alternative von »Glauben oder Leugnen« vorgestellt werde, wenn ich doch die Religion des Islam weder glaube noch leugne, da wußte er keine Antwort – wie sollte er auch? Er verwies nur auf eine Sure, ich weiß nicht mehr welche, die besagt, daß Christen nichts anzutun sei, all die Suren beiseite schiebend, die anderes besagen. Nein, so geht es nicht. Der Wahn jeder monotheistischen Religion, jeweils als einzige im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, muß als der Wahn erkannt werden, der er ist. Die »Antworten«, die diese Religionen auf die Frage geben, die der Mensch sich selbst ist, sind unmöglich Antworten darauf, sehr wohl aber poetische Ausgestaltungen der prinzipiellen Unbeantwortbarkeit dieser Frage. Sie haben damit Hochkulturen geschaffen und durch Ausbildung von Ritualen Menschenleben geordnet, gestärkt und erfüllt. Aber die Globalisierung, die größte Fernen auf der Erde in die Nähe rückt, läßt keine der Religionen mehr isoliert für sich sein. Aneinandergeraten waren sie bekanntlich 99 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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schon viele Male zuvor. Unweigerlich ist die Stunde der nötigen Selbstaufklärung gekommen, der grundlegenden Erneuerung des Bewußtseins von Religiosität. Der Wettstreit unter Religio­ nen muß sich als ein poetischer wissen und darf sich nicht länger zu einem mörderischen gestalten. Wir brauchen nicht noch mehr theologische Fakultäten, um der Vielfalt der Religionen gerecht zu werden, sondern wir brauchen die erhellende, nicht entzau­ bernde Aufklärung der Religionen über sich selbst. Keinem Religionspopulismus ist zuzustimmen, keinen Kampfpredigern und Psychodompteuren das Feld zu überlassen. Hohe Poesie, die Gott zu den Menschen sprechen und Heilige Schriften entstehen ließ, hat in Vielfalt agiert und zu mehr als einer Religion geführt, die den einzig wahren Gott anbetet. Der Vielfalt des Absoluten entspricht die Vielfalt der Orthodoxien, von denen jede für sich im Recht ist. Ein Theologe wie Blaise Pascal (1623–1662) weiß noch mit absoluter Sicherheit, daß die christliche Religion die einzig wahre ist Die Juden haben Jesus als den Christus verkannt; der Islam hat keine Prophetie gehabt. Das genügt die­ sem scharfsinnigen Kopf an Argumentation. Der unaufgeklärten Orthodoxie bleibt auch gar nichts anderes übrig, als das zu Beweisende zur Grundlage seiner Beweisführung zu machen: Der Christusgläubige glaubt an Jesus als den Christus (Messias), der von Jesaja geweissagt wurde. Schon Luther macht in sei­ ner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen Gebrauch von der Petitio principii (begging the question) als der einzig möglichen Argumentationsform der unaufgeklärten religiösen Orthodoxie: Der Christusgläubige ist der geistlich und innerlich neue Mensch, nicht mehr der fleischlich und äußerlich alte. Also ist ihm die christliche Freiheit gegeben: die »rechte, geistliche«. Das müßte für orthodoxe Theologen eine gute Anregung sein, mit der Selbstaufklärung zu beginnen.

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III.3 Die Last mit der Religion Sind Religionen wirklich nötig? Hat es sich bewährt und ist es weiterhin wünschenswert, das uralte, dem Leben wie ein­ geborene Verlangen nach Transzendenz, nach einem Über-dasLeben-hinaus, unter Anleitung von Religion zu stillen? Nein, ich habe nicht vor, Religion in Frage zu stellen. Mich interes­ siert anderes: (1) Welches Menschenverständnis hat Religion, das Menschen nach Religion verlangen läßt, um nicht nur mit ihrem Leben zurechtzukommen, sondern um ihm so etwas wie einen Sinn, wie eine belebende Ausrichtung zu geben? (2) Welches Heil hat Religion eigentlich im Sinn, um den Menschen mit sich und seiner Welt auszusöhnen? Der erste Blick der Religion auf menschliches Leben fällt überra­ schenderweise nicht auf seine Haltlosigkeit und Sinnlosigkeit, auch nicht auf seine Mühseligkeit und Armseligkeit, sondern auf seine Endlichkeit und Kürze. Vita brevis – es ist, als sei »kurzes Leben« beim Menschen nur die genauere Bezeichnung von »Leben«, so sehr hat sich bei all denen, die im Letzten über das Leben hinauswollen, die Vorstellung eingebürgert, daß menschliches Leben kurz, ja zu kurz ist. Pascal verwendet »kurz« als absolutes Prädikat. Er sieht unser Leben für so kurz an, daß es der zu lebenden Zeit nach eigentlich nichts ist. Es überhaupt zu leben, lohne sich schon seiner Kürze wegen nicht. Doch selbst Metaphern für die Nichtigkeit des Lebens wie Wind, Hauch, Schatten, und für die Nichtigkeit des Menschen wie Eintagsfliegen, schaffen nicht das lange Leben aus der Welt, das Menschen einander wünschen. Bereits das Alte Testament ist voll von diesen Wünschen. Mit meiner Frau alt geworden, kann für mich die Vorstellung von der absoluten Kürze des Lebens nur Ideologie sein. Es ist die Vorstellung, daß unser Leben eigentlich nicht kurz, ja überhaupt nicht zeitlich, sondern ewig ist. »Kurz« als absolutes Prädikat dient Pascal zur Anklage 101 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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gegen den Menschen, der sich selbst um sein eigentliches Leben gebracht hat: durch Gottesfrevel, das heißt durch Sünde. Obwohl das Leben eines jeden Theologen ein gegebenenfalls langes, in jedem Falle endliches ist, sagen sie gerne zu etwas »Leben«, das signifikant mit dem unseren nichts gemein hat: »das Leben finden«, »zum Leben eingehen«, »Licht des Lebens«. Wer alt werden darf, lebt kein kurzes, sondern ein langes Leben. Die Vorstellung von der absoluten Kürze, die nicht zwischen kurzem und langem Leben unterscheidet, ist nur ein Vorwand, um das gelebte Leben insgesamt zu diskreditieren: als sündig. Für Karl Barth, Pascal an Paulusgefolgschaft nicht nachstehend, ist jeder Mensch von der »Todeskrankheit« befallen, weil er an der »unmöglichen« Tat Adams teilhat. Was für eine wunderliche Verkennung der Poetizität des Schöpfungsmythos. Diese freie und erhellende Selbstauslegung zeigt den Menschen, wie er den inneren Widerstand überwindet, seine Geschlechtlichkeit zu entdecken. Das ist die menschheitliche Stunde der Pubertät. Was für eine Poesie: Gott will den Menschen vor der Erkenntnis bewahren, Mann und Frau zu sein! Daraus hat Augustinus, der hermeneutischen Gewalttätigkeit von Paulus folgend, die von der Sünde zu erlösende Christenheit gemacht. Nun scheint es gerade die härteste christliche Orthodoxie zu sein, die christliche Theologen dazu anstößt, am Glauben, den sie pastoral predigen, zu dichten. Die christliche Glaubens­ geschichte, fest eingespannt zwischen den ersten, den sündigen Adam, und dem zweiten, den erlösenden Adam, wie Paulus Christus nennt, beim Gros der Christusgläubigen keine Chance mehr Gehör zu finden. Wer heute zu ersten Schritten in den christlichen Glauben hinein ermuntert werden soll, will in der Regel nichts von Sünde wissen. Schon gegen Ende des 20. Jahr­ hunderts hatte in München ein vom Kaiserstuhl stammender katholischer Theologe großen Erfolg, nicht zuletzt bei Senioren und Seniorinnen, der nurmehr den guten Gott predigte. Ja, das will man hören, das will man glauben. Das muß von keinem Konzil abgesegnet sein, obwohl sich das in der Geschichte 102 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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der katholischen Kirche als eine Institution bewährt hat, die Neudichtungen des zu Glaubenden befördert. Es ist dann wie von selbst, daß Religion sich auf ihre poetische Natur besinnt. Der Glaube wird aufs neue schöpferisch, dichtet zu Glaubendes um und dichtet es neu. Das hat schon früh eingesetzt. Stärkstes Zeugnis dafür ist die Marienverehrung, die von der Ostkirche zur Westkirche kam und ihren erhabenen Ausdruck in den Kathedralen und Domen fand: Notre Dame, Unsere liebe Frau. Wird von Huris geglaubt, daß sie nach jedem himmlischen Beischlaf aufs neue Jungfrau sind, so ist die Jungfräulichkeit der Mutter Gottes noch einmal etwas Besonderes, gerade auch an poetischer Verwegenheit, da ja nur Joseph vermittelt haben kann, daß Jesus aus dem Stamme Davids ist. Die Krönung der Marienpoesie ist natürlich Mariae Himmelfahrt: ihre im 20. Jahrhundert verkündete leibhafte Aufnahme in den Himmel. Wirkt im übrigen bei Konzilsentscheidungen über zu Glauben­ des der Heilige Geist mit, dann ist das ein herausragendes Beispiel für doppelte Poesie: Auf höchst poetische Weise hält sich Poesie als Poesie bedeckt. Trotz Gegenbewegungen, die von alten und jungen Ultraorthodoxen angeführt werden, geht das Dichten am christlichen Glauben weiter. Das Fegefeuer, durch dessen den Menschen bedrohende Kraft der Petersdom erbaut werden konnte, ist vom Vatikan selbst entsorgt worden. So war der Platz frei für einen schöpferischen Wechsel im Glauben. Statt von der Erbsünde, nach Pascal das größte Wunder des christlichen Wunderglaubens, ist jetzt, als werde Vergebung nicht länger gesucht, sondern sei schon ganz da, von Erbgnade die Rede. Gott ist die Liebe, die barmherzige, die fürsorgende – das ist derzeit bei Christusgläubigen von größter Aktualität. Als ich im Herbst 2016 eingeladen war, eine Theologentagung zum Thema »Deus est Caritas« philosophisch zu eröffnen, hatte ich dennoch keine Schwierigkeit, mit dem Gedanken zu überzeugen, daß zu dem, was Liebe ist, auch die geschlechtliche gehört. Erst Agape und Eros sind das Ganze. 103 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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Nein, eine Religion dichtet sich nicht von sich selbst weg. Sie braucht Identität, braucht ein fest formuliertes Bekenntnis. Geht sie mit dem Zeitgeist, so gibt sie sich doch nicht selbst auf. Sie will und muß neben anderen Religionen bestehen, auch wenn der Zuspruch zu ihr abnimmt und sie in ihrer Existenz gefährdet ist. Solange sie besteht, gehört zu ihr Unverzichtbares. Benedikt XVI. meinte, daß die leibhaftige Auferstehung unabdingbar für seinen Glauben sei. Das wird nicht jedes Katholiken Sache sein. Ich habe noch das Wort eines gewandten Predigers und unverdrossenen Barthianers im Ohr: »Diese unerlöste Welt«. Das Leben ist kurz, die Welt ist sündig – der Kerngehalt der »Frohen Botschaft« wird wohl die Erlösung bleiben: die Erlösung von der Sünde, vom Erbtod, vom Menschsein, das heißt vom Leben. Christus habe den Tod getötet. Wer glaubt, die verhei­ ßene Erlösung zu brauchen, lebt mit einem Makel, den nur Gott entfernen kann. Wer der Theologie folgt, will vom Tod nichts anderes wissen, als daß er das Tor zum makellosen Leben ist. Der Tod sei gar kein Tod. In Todesanzeigen spiegelt sich diese Theologie. Gelebt wird der Glaube freilich in Ritualen, kaum theologisch. Die Bedrückung (thlipsis), für Paulus die erste Tugend für einen zur Nachfolge Christi bereiten Christusgläu­ bigen, beflügelt heute wohl kaum noch einen Gläubigen. Das Kirchenjahr ist ein Jahr der Feste. Der Christ lebt im freudigen Vorgriff auf sein Erlöstsein. Der Muslim bedarf keiner Erlösung. Er lebt als Gläubiger einen erfüllten Tag: mit Gehoram vor Gott, Gutestun für Andere, in Vorfreude auf lustvolles Leben im Jenseits, das er auf Erden zu zügeln hat. Mein philosophisches Problem mit der Religion ist nicht der Kult. Die drei im Blick stehenden monotheistischen Religionen kennen ja keinen Tötungskult. Damit wieder Wind in die Segel der Schiffe kommt, die liebste Tochter, Iphigenie, zu opfern – nein, dieses realistische Selbstmißverständnis von Religion ist der absolute Schrecken. Zum Glück haben Religionen mit der Zeit von selbst eine Humanisierung des Opfers durchgeführt: vom eigenen Kind über gefangene Seeräuber, Tiere, Wein, bis zu 104 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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Wasser. Nein, das Problem ist nicht der Kult, sondern der unein­ sichtig praktizierte absolute Wahrheitsanspruch. Der von Pla­ tons Sokrates im Spätdialog Sophistes ironisch Gigantenkampf benannte unermeßliche und ewige Streit um das wahre Sein, hatte mich früh philosophisch aufgeklärt. Sokrates, der nicht wußte, daß die von ihm als ewiges, einzigartig reines und wahres Sein erdachten Ideen Werke der Denkkunst, also Geschöpfe philosophischer Poesie sind, wußte damit auch nicht, daß er sie gar nicht anders als absolut setzen konnte. Die Methode, sie zu verifizieren, kann allein die Denkkunst sein. Alles Erkennen, Sehen, Berühren ist reinste Metaphorik. Wer sich als Idealist gegen die Materialisten »von oben herab aus dem Unsichtbaren« verteidigt, hätte allein dann die Möglichkeit, etwas Überzeugen­ des vorzubringen, wenn er sich auf die gelungene Künstlichkeit seiner Werke beriefe. Der Gigantenkampf zwischen Idealisten und Materialisten war kein mörderischer und ist keiner. Anders verhält es sich bei der Uneinigkeit von Religionen. Bei ihnen geschehen Angriff und Verteidigung auf beiden Seiten aus dem für Augen Unsichtbaren, ja aus dem Unerkennbaren. Absolute Wahrheit steht gegen absolute Wahrheit. Der Muslim weiß sich absolut im Recht mit der geglaubten Einheit und Einsheit Gottes, der Christ mit der geglaubten Trinität. Es wäre ein unmögliches Unterfangen, wenn einer den anderen überzeugen wollte. Das Geglaubte ist absolut geglaubt. Jedes different aber als unverzichtbar Geglaubte stärkt die Kriegsfertigkeit. Dabei sind sie ja beide im Recht und könnten sich freudig zurufen »Let’s agree to differ«. Verstünden sie diesen Zuruf richtig, dann wüßten sie um ihren Konsens, nicht Dissens: Jeder von ihnen dichtet mit an einer alten Dichtung. Doch was geschieht in Wirklichkeit bis heute immer wieder? Heraklit, ein unauf­ geklärter Denkkünstler, der wußte was er wollte, möchte den erklärten Dichter Homer »mit Ruten gestrichen« sehen, weil der menschenähnliche Götter erdichtet, während er den einen erdenkt, der den Mann überragt wie der Mann das Kind, ja, ist 105 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

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das Fragment verläßlich, erscheint der weiseste Mensch gegen Gott gehalten, »wie ein Affe«. Die Nichtlösung der Palästinenserfrage und die Bushkriege haben im Nahen und Mittleren Osten die Feind- und Kriegsfer­ tigkeit über sich selbst nicht aufgeklärter Religionen neu unter Beweis gestellt. Die Aktualität des Unwortes »Ungläubige« ist unerträglich geworden. Meine Frau und ich haben an dem, was wir kommen sahen und was gekommen ist, massiv gelitten. Weiteres kommt schon und ist im Kommen. Wir sind weniger wütend und traurig als vielmehr fassungslos, daß der Mensch Potentiale, eigentlich zur Steigerung und Erhöhung der Lebens­ wirklichkeit bestimmt, einsetzt, um die Erde zum realen Vorfeld der Hölle zu machen, das ungleich schlimmer als jede erdichtete Hölle, weil unmittelbar erfahrbar und erleidbar ist. Was für ein Irrsal der Poesie!

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4. Das Leben als Kunstwerk

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I. Gegen die Instrumentalisierung Das Leben will keine Instrumentalisierung seiner selbst, braucht keine, aber der herrschende Geist der Zeit drängt es dazu. Braucht der Mensch seine Kräfte, zumal seine besten, zur Verlän­ gerung und zur Erhaltung des Lebens, dann instrumentalisiert er es. Wer wieder das Leben, von Ideologen verführt, als Zeit der Betrübnis und der Uneigentlichkeit versteht, um es als Abstoß zum eigentlichen Leben zu nutzen, instrumentalisiert es ebenfalls. Die neuen Verführer versprechen die Optimie­ rung der Lebensverlängerung, die Erleichterung der Lebenser­ haltung auf dem Wege der Inflationierung echter und vermeinter Annehmlichkeiten. Sprechen Todesanzeigen von einem »erfüll­ ten Leben«, dann wird dem Verstorbenen ein reiches Leben nachgesagt, reich an bejahtem lebendigem Miteinander, reich an bejahter beruflicher Tätigkeit. Bei dem, was der Digital-Kapi­ talismus zum Leben beizusteuern hat, denke ich eher an Ver­ stopfung. Das mit Konsumdingen vollgestopfte Leben gewinnt durch die Nutzung keine Erfüllung. Kann es an Zuwendung des Menschen und Zuneigung untereinander nicht genug geben, so droht mit der Nutzung der neuen Annehmlichkeiten von Anfang an das quantitative und qualitative Unmaß. Entscheidender aber noch ist, daß die der Erleichterung der Lebenserhaltung zugedachten Gebrauchsdinge signifikant ohne Poesie sind, das heißt ohne die Kraft, die Lebenswelt so zu verändern, daß sie auf eine verrätselnde Weise verfremdet wird. Die Luxurierungsindustrie bringt mit ihrer Innovationsma­ nie nur Neues hervor, das sogleich zur Gewohnheit und damit bereits wieder zu etwas Altem wird. Sie glänzt ausschließlich mit dem technologischen Fortschritt. Sie ist unfähig, der Poesie gleich, keine Fortschritte zu machen. Günther Anders meint in seinem sensationellen Buch zur »zweiten industriellen Revolu­ tion« von 1956, daß der Mensch neben den hoch entwickelten 109 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Gegen die Instrumentalisierung

technischen Apparaten »alt« aussehe (»Die Antiquitiertheit des Menschen« ist sein Titel). Doch es ist umgekehrt! Die tech­ nischen Apparate sehen nach dem Augenblick der Neuheit sogleich alt aus, ja, sie sehen nicht nur so aus, sie sind es, sie sind – im Prinzip – veraltet. Mit dem Erscheinen der Neuheit auf dem Markt, ergeht auch schon der Ruf nach Innovation. Anders sieht gegenüber der Vollkommenheit und Überlegenheit von ihm hergestellter (»gemachter«) Maschinen den Menschen sich schämen. Das sollte er besser lassen. Da hätten eher die Techniker guten Grund, sich zu schämen, wenn sie doch allein Dinge hervorbringen, die, wie der Kapitalismus es will, sogleich alt sind und veraltet, während der Künstler Werke hervorbringt, die über Generationen hinweg die Kraft der Stimulierung und Sensibilisierung bewahren, ja der Begeisterung und seelischen Erschütterung. Anders als Heraklits Sonne (und auch unsere), die jeden Morgen neu ist, zeigt sich das instrumentalisierte Leben jeden Morgen als alt. Die Frau hat vergessen, sich den neuesten Zerstäuber für ihr Parfüm, der Mann den neuesten Apparat für seine Rasur zu besorgen, ganz zu schweigen von dem veralteten Smartphone und dem veralteten Fernseher. Ist die Digitalisierung bei der Fernseherproduktion so erfolgreich, daß die Steigerung der Bildauflösung (Pixelzahl) schon lange für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar ist, dann ist das für den Fortschrittsbewußten noch lange kein Grund, sich nicht bei erster Gelegenheit den neuesten Fernseher zu beschaffen. Ein echter Fan des technologischen Fortschritts ist verliebt in seine Instrumentalisierung. Mißt der Mensch sich mit der Maschine, um die Vollkom­ menheit und Unvollkommenheit seiner Kräfte ihr gegenüber festzustellen, dann ist das von gleicher Geistesart, wenn er sich entsprechend am Tier (J. G. Herder (1744–1803)) und an Gott mißt. Jedesmal vergißt er in diesem Sichmessen seine humanen Kräfte ins Spiel zu bringen, das sind seine künstleri­ schen. Das hat Tradition in der Verständigung des Menschen über sich selbst. Soll Platons Sokrates bestimmen, was das 110 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Gegen die Instrumentalisierung

Notwendige für das menschliche Leben ist, dann nennt er als Erstes Nahrung und Kleidung, Notwendiges für die Erhaltung des Lebens, nicht aber das erste Notwendige für seine Mensch­ lichkeit: die Zuwendung des Menschen zum Menschen. Der Mensch ist von der ersten Stunde seines Lebens an mehr als ein funktionierender Organismus im Austausch mit Luft, Licht und Wärme. Er ist in Interaktion, verhält sich affektiv. Früh ist für Selbstwerdung und Selbstfindung das Nachahmen von Bedeutung, die Spiegelung des eigenen Gesichts und Körpers, und dies vor allem für die eigene Körperbeherrschung. Jede Interaktion hat poetische Züge. Das beginnt schon beim Stillen des Säuglings durch die gegenseitige Gewährung der Mimik, beginnt im Kinderbettchen im Gespräch mit einem fiktiven Anderen. Es ist, als ziele die kapitalistische Güterproduktion des zumeist Überflüssigen darauf ab, den Menschen um seine künstlerische Natur zu bringen. Er soll funktionieren für das Leben, soll alles für die Lebensverlängerung und gesteigerte Güte der Lebenserhaltung tun. Aber genau so funktioniert es nicht. Der Mensch ist seiner ersten Natur nach ein Künstler, dessen erste Bühne das Miteinander ist: die Aufführung vor sich selbst und voreinander. Das Leben als Kunstwerk ist keine läßliche Sache. Das Humanum verlangt Poesie. Das Leben zu verlängern und zu erleichtern, das Leben zu vertagen und einem ganz anderen Menschen, als wir es sind, zu überantworten, der dann ein eigentliches Leben lebt – nein, unser zu lebendes Leben so zu leben, daß der Mensch für den Menschen und dadurch auch für sich selbst da ist – das ist die Kunst. Ein langes Leben ist leicht erzählt: Geborenwerden, Aufwachsen, Leben Weitergeben, Altern, Sterben. Wie ich mir diesen Lebensgang als Halbbogen veranschauliche, liegt seine Kulmination im Leben Weitergeben. Sicher, nicht jeder hat Kinder: Nicht jeder will, nicht jeder kann Kinder haben. Denken wir jedoch über Leben nach, es versteht sich: über menschliches, dann können wir über den Einzelnen, der sein eigenes und einziges Leben lebt, nicht die Anderen vergessen, mit denen er 111 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Gegen die Instrumentalisierung

wie notwendig oder eher zufällig Momente und Zeiten seines Lebens teilt, mehr noch, wir können das Menschengeschlecht nicht außer Betracht lassen, wie es uns seit den frühen Hoch­ kulturen Wissen um den geschichtlichen Menschen zuspielt. Wir, die jetzt Lebenden, sind Repräsentanten der heutigen Gestalt des geschichtlichen Menschen und Exempel weitergege­ benen Lebens. Die Kurzform des Lebenshalbkreises heißt Geburt – Liebe – Tod –, der in Wirklichkeit ein ganzer Kreis ist, weil Leben weitergeht. Im Kreisen des Lebens zeigt sich keine Natur, die den Einzelnen und den Menschen im Ganzen übermächtigte. Von Anbeginn greift der Mensch in den Rhythmus des sich wiederholenden Lebens ein. Wie ein Einzelner wacht und schläft und wieder wacht, wie in Ethnien gelebt, gestorben und neu gelebt wird, ist reich gestaltet und die Natur überformend. Von Beginn der Staatsgründungen und Gesetzgebungen, der Totenkulte und Gottesverehrungen an zeigt sich der geschicht­ liche Mensch in der Gestaltung des Lebens als Künstler. Doch der Verweis auf manifeste Formen menschlichen Künstlertums könnte falsch verstanden werden, entdeckt er doch nicht, worin seine initiale Herausforderung besteht. Für mich als Philosophen ist der Mensch nicht schon Künstler, weil er im Zusammenle­ ben zu ganz eigenen Formen findet, weil er Musikinstrumente gebraucht und religiöse Rituale vollzieht. Nein, es ist ungleich Bedeutsameres im Spiel, was im Nachdenken über menschliches Leben notwendig zum Gedanken der Kunst führt. Dazu ist es nötig, auf das unser Menschsein aufs höchste bewegende Nichtwissen zurückzukommen. Der Mensch, seit er sich seiner selbst als Mensch bewußt ist, sieht sich mit einer Frage konfrontiert, die dadurch ihr besonderes Gewicht hat, daß sie sich ganz von selbst stellt, und für jeden, der sich ihr stellt, sich als unbeantwortbar erweist: Woher und Wohin, Warum und Wozu? Heute meinen nicht wenige um den Menschen Bemühte, darunter auch eine gute Anzahl von Philosophen, es komme zugunsten gelingenden Lebens an erster Stelle auf Lebensbe­ 112 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Gegen die Instrumentalisierung

ratung an, darauf, wie man sein eigenes und einziges Leben am besten bewältigt, ja am meisten von ihm hat. Doch diese Ratgeber unterschätzen die Dringlichkeit und Unnachgiebigkeit der Frage, die der Mensch sich selbst ist. Natürlich muß der Durst gestillt, der Leib geschützt, das Düstere aufgehellt, der Friede im Kleinen und Großen gesichert werden. Dennoch ist die Priorität, die das Leben von selbst setzt, eine andere. Das aber ist die Forderung des Lebens nach Poesie. Kunst ist kein Beiwerk, keine unnötige wenn auch erfreuliche Zugabe, sondern eine Notwendigkeit für menschliches Gelingen. Das ist nicht gegen die Wissenschaft gesagt, deutet aber auf ihre Grenzen. Ob Grundlagenforschung oder angewandte For­ schung – Wissenschaft zielt auf das Selberkönnen, das heißt auf das Selbermachenkönnen. Das erklärt auch ihre unverbrüchliche Verbindung mit Technik und Ökonomie. Letzte Fragen sind für die Wissenschaft nicht Fragen nach letzten Einsichten, sondern Fragen nach letzten Machbarkeiten. Eine Frage, zu der es gehört, Frage zu bleiben, ist nicht die ihre. Der Digital-Kapitalismus, wie er derzeit vom Silicon Valley aus gesteuert wird, lebt und wächst durch immer neues Machbares, wozu er Wissenschaft und Technik in den Dienst nimmt. Diskutieren die Agenten des technologischen Fortschritts Menschheitsfragen, dann sind das allein ihre. Sie haben stets zuerst sich selbst im Sinn. Ihre Absicht ist grundsätzlich nicht, dem Menschen zu dienen, sondern ihn für sich zu instrumentalisieren. Was sich bereits heute an Möglichkeiten abzeichnet, menschliches Verhalten zu manipulieren, nimmt Züge einer vergewaltigenden Gewalt an. Nun ist der mächtigste Geist der Zeit kein tumber Goliath, dem ein nachdenklicher David beikommen könnte. Dennoch sehe ich für mich die klare Chance, gelebtes und zu lebendes Leben zu zeigen, das keine der zeitgenössischen Mächte der Verführung davon abbringen kann, ein Werk der Kunst zu sein.

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II. Amlebensein Am Leben zu sein ist für den Menschen ein großes Geschenk, aber nicht das der Möglichkeit nach größte. Dafür hat der Lebende im Leben selber Sorge zu tragen. Leben, im Großen gesehen, ist ein Geschenk der Evolution. Der Biologe und Gene­ tiker kann uns näher darüber aufklären, daß es damit unter anderem ein Geschenk der Photosynthese und der Zelle mit echtem Kern (eukaryotische Zelle) ist. Nächstliegend gesehen verdanken wir unser Leben der Paarung eines männlichen und eines weiblichen Wesens, nicht aber einer Klonung. Der Schrei nach der Geburt kündet die Lebendgeburt an. Der neue Mensch ist am Leben. Doch schon von der ersten Stunde des neuen Lebens an, sorgt das lebensteilige Verhältnis von Mutter und Säugling mit seinen Lebenskräften nicht allein dafür, daß das Amlebensein sich als ein Amlebenbleiben erweist. Menschliches Leben ist, von extremen Ausnahmezuständen wie Gefoltertwer­ den abgesehen, nie ein nacktes Daß, sondern immer auch schon ein Wie. Von der ersten Stunde an ist das Verhältnis von Mutter und Kind auch vom Säugling her affektiv besetzt. Damit beginnt das Empfinden, das den Empfindungen Ausdruck Verleihen und der Austausch von Empfindungen. Dieses Wie ist Keimzelle gesteigerter Lebenswirklichkeit. Damit das Amlebensein sich als Amlebenbleiben erweist, braucht der Mensch nicht nur Lebens­ mittel, sondern auch schon Lebenserfüllung. Diese aber besteht in ihrer belebendsten Form in der Zuwendung des Menschen zum Menschen, die von Zuneigung getragen ist. Am liebsten möchte ich dem Säugling unterstellen, daß er, ohne vom Tod zu wissen, bereits ein Gespür bekommt für die Kostbarkeit der Zeit, nämlich für die der Anwesenheit der Mutter. Die Abwesenheit der Mutter weiß er sehr wohl zu bemerken. Durch sie und ihr erneutes Anwesendsein beginnt er ja Erinnerungsspuren bei sich im Großhirn auszubilden. Die Rhythmisierung der Zeit 114 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Amlebensein

durch das Verhalten der Mutter ist für das Neugeborene von erstrangiger Bedeutung, nicht die Umdrehung der Erde. Ist für Heidegger das Seinswesen Mensch in das Sein »geworfen«, am eigentlichsten in das »Sein zum Tode«, dann ist der gezeugte, empfangene, ausgetragene und geborene neue Mensch ganz ersichtlich nicht geworfen und sich selbst in seinem nackten Daß überantwortet, sondern als Lebender in den Kreis von Lebenden aufgenommen. Seine Belehnung mit Selbstsein durch die ihn Umsorgenden schließt bereits die Bejahung von Leben ein. Ohne entwickeltes Selbstverhältnis ist er Ergebnis und Teil menschlicher Lebensbejahung. Anstatt es dem Men­ schen als Manko anzurechnen, als fatale Einschränkung seiner Freiheit, wie es unter anderem Heidegger tut, daß nicht er selbst für sein Amlebensein verantwortlich ist, sondern maßgeblich dafür der Keimentschluß seiner Eltern in Betracht kommt, ist es für ein Geschenk anzusehen, daß im Neugeborenen das Rätsel des Lebens weitergegeben ist, das Nichtwissen des Menschen um sich selbst. Wählt ein Mensch gegebenenfalls das Leben, dann steht ihm nicht das Amlebensein frei, sondern das zu führende und zu verantwortende Leben, mehr noch: das zu stei­ gernde. Brechen Geister unterschiedlicher Provenienz in ihr Eigenes auf, wie es von Gilgamesch und Christus erzählt wird und von Heidegger feststeht, dann ist das kein Aufbruch ins Leben, sondern in die eigene Bestimmung und Berufung (auch Selbst­ berufung). Ins Leben aufbrechen – in den großen Erziehungsro­ manen herrscht das Bild vor, daß einer sein Elternhaus verläßt und in die Welt geht. Man sagt dann von ihm: Er will sein Glück suchen, oder auch: Er will sich ein Schicksal machen. In jedem Fall entschließt er sich zum Leben: zum eigenen in einer noch nicht bekannten Lebenswelt unter und mit unbekannten Anderen. Gerade dann, wenn seine Maxime die Glückssuche ist, entscheidet er sich mit seinem Aufbruch nicht etwa für das Glück und gegen das Unglück. Er läßt es vielmehr darauf ankommen. Einmal am Leben, wagt er das Leben, setzt er das Leben, indem 115 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Amlebensein

er es lebt, aufs Spiel. So hat sein Entschluß zum Leben nichts mit dem zu tun, was der jüdische Volksgott im letzten Buch der Tora zur Wahl stellt: Leben und Glück oder Tod und Unglück. Wer ins Leben aufbricht, hat nicht vor, sich auf den Weg des ewig Amlebenbleibens zu begeben. Wen beim Aufbruch ins Leben das Amlebensein als das Nächste, Eigenste und Innigste unmerklich trägt, dem ist auch sein Tod ein Intimus, der unabdingbar zu dem Leben gehört, in das er aufbricht und der im vorhinein die Zeit des eigens gelebten Lebens kostbar macht. Wer ins Leben aufbricht, ist unversehens im Leben, ja mitten im Leben. Am Leben, im Leben – das im Leben zu sein schließt das am Leben zu sein ein, bleibt aber nicht bei den Kräften, die im Spiel sind, um am Leben zu bleiben. Das ist noch kein Gelingen. Erst im Leben, in seiner Verantwortung und Nichtverantwortung, in dem, was einer daraus macht und was er nicht daraus macht, ja was mit ihm, in ihm gemacht wird, entdeckt sich der Schatz des Lebens, der im Am-Leben-sein steckt. Geht einer zur Unmittelbarkeit seines Am-Leben-seins auf Distanz, um aus seiner Betrachtung keine andere Einsicht zu gewinnen als die, daß er am Leben bleiben will, dem wird der Schatz, der in seiner Lebendigkeit liegt, verborgen bleiben. Er wird zum Handwerker, der an seinem Am-Leben-bleiben labo­ riert. Ruft er andere Handwerker zur Hilfe, die nichts anderes als Handwerker sein sollen, um für sein überhaupt und sein immer besser Am-Leben-bleiben zu sorgen, vom Fahrlehrer und Polizisten über den Banker und Smartphonehersteller bis zum Psychiater und Chirurgen, dann instrumentalisiert er sein Leben für das Leben und läßt es entsprechend instrumentalisieren. Er versieht sich grundlegend daran, daß Leben in seiner bewahrten Faktizität unmöglich sich selbst genügen kann. Wer den Sinn des Lebens im Immerweiter sieht, gleichgültig ob als armselig oder in sich steigernder Luxurierung bewahrtes, überhört die Frage, die der Mensch sich selbst ist. Er festigt die grundständige Zufäl­ ligkeit und Sinnlosigkeit des Lebens, sein Sich-nicht-genügen, seinen Aufstand gegen sich selbst. Es bedarf grundsätzlich mehr 116 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. Amlebensein

als der Lebenstechniker, die den Lebenden für einen lebendigen Apparat nehmen, der am Funktionieren zu halten ist. Es bedarf des Lebenskünstlers, der sein Leben in Gemeinschaft mit Ande­ ren zu einem Werk der Kunst macht. Künstlerin ist bereits die Mutter, die in der Symbiose mit dem Kleinkind das Leben zu etwas macht, das in seinem künstlerischen Gesteigertsein jeden Moment sich selbst genügt. Künstler ist der Arzt, der im Verhält­ nis zum Patienten seine berufliche und menschlicher Erfüllung findet, indem er die Erfahrung einer belebenden Wechselseitig­ keit macht! Der Patient braucht den Arzt, der Arzt den Patienten. In dieser gelingenden Lebensteilung genügt Leben sich selbst. Das Humanum steht allein dem Künstler offen. Er ist gebraucht, damit im gemeinsamen Gelingen das Rätsel des Menschen seinen Ausdruck findet. Fruchtbare Wechselseitigkeit ist durch doppelte Intimität geprägt: durch die der Herzlichkeit und die der Endlichkeit, durch das innerste Ja und das innerste Nein zum Leben. Macht ein Mitglied des Deutschen Ethikrats im Juni 2018 seinen uns allen empfohlenen Wunsch publik, nämlich den nach der »Konstruktion hilfreicher, kommunika­ tionsfähiger und […] wie freundliche Lebewesen agierender Pflegeroboter«, dann verweist er nur unfreiwillig auf die grund­ sätzliche Unfähigkeit des technologischen Fortschritts, etwas zu schaffen, das uns ein Partner sein könnte. Ohne Todesverhältnis, ohne sich ein Rätsel zu sein, kann nichts und niemand einem Menschen wie ein Mensch begegnen.

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III. Sich notwendig werden Nichts kam, wie es kommen mußte. Der Mensch, der Auto fährt, den Psychiater aufsucht, sich über Facebook austauscht, ja der, der Liebesbriefe schreibt, aus Gottesglauben und Sadismus »Hexen« verbrennt, sich auf der Bühne selbst verspottet – nichts davon mußte so kommen. Es gibt ja nicht einmal gute Gründe anzuführen, daß der Mensch notwendig gewesen wäre. Das gilt auch für Paul und Paula. Daß gerade diese beiden zur Welt kamen, um dann eine wechselvolle Beziehung miteinander einzugehen, ist ohne Notwendigkeit so gekommen, von der Teilhabe an einem ins Detail gehenden Weltplan nicht zu reden. Das ist keine gute Ausgangslage für die, die der Frage des Men­ schen und ihrer Unbeantwortbarkeit gerecht werden wollen. Was aber macht der fragende und nachdenkliche Mensch, wenn ihm sein klarer Blick auf die Welt und auf sich selbst genau jenen festen Halt verwehrt, den ihm die eigene Notwendigkeit gäbe? Für Unmögliches war unter Menschen immer ein einziges Vermögen zuständig, das sich manifest nur bei wenigen findet. Es sind die, die mit ihrer Wachheit, Phantasie und Sehnsucht, ob sie es wissen oder nicht, einen eigenen Weg zur Verantwortung des Menschseins suchen. Denkkunst und Dichtkunst vermögen das, die große europäische Tradition, die mit den Philosophen und Dichtern im alten Griechenland beginnt. Ich bringe einen gewagten Vergleich: Um sich eine anschauliche Vorstellung von dem Unmöglichen zu bilden, die im Erdenken und Erdichten »möglich« wird, sind Frauenbildnisse von Picasso besonders geeignet. In nicht wenigen Darstellungen fraulicher Leiblichkeit ist die systemische Stellung des Ganzen von unübertrefflicher Unmöglichkeit. Keine jugendliche rumänische Kunstturnerin könnte auch nur annähernd etwas von den Verrenkungen, das heißt Zuordnungen zuwegebringen wie es dem Künstler gelingt und eben durch ihn möglich wird. Wie Identität kennt 118 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Sich notwendig werden

Unmöglichkeit keine Steigerung. Wird Unmögliches erdacht und erdichtet, dann ist das nicht weniger und nicht mehr unmög­ lich als die Frauengestalt Picassos in der Lebenswirklichkeit. Die »Möglichkeit« des Unmöglichen ist stets die einer anderen, einer höheren Wirklichkeit. Picasso ist es zuzutrauen, daß er das Unmögliche nicht nur auf der Leinwand als möglich zeigt, sondern auch als notwendig versteht, zum Beispiel wie diese Schenkelgerade zu jener Brustrundung in Beziehung steht. Das ist das Fazit des gewagten Beispiels: Das Kunstwerk entdeckt Unmögliches wie es möglich und notwendig ist. Frühgriechisches Denken hat Unmögliches als möglich erdacht und dazu noch mit dem Siegel der Notwendigkeit verse­ hen. So erdenkt Parmenides (um 500 v. Chr.) das unentstandene und unvergängliche Sein als etwas durch die mächtige Notwen­ digkeit aufs festeste in seinen Grenzen Gehaltenes. Nein, ich stifte hier niemanden zum philosophischen Phantasieren an. Die Notwendigkeit, die unser Leben hält, ist lebenspraktisch unmittelbar: Sie ist rein für uns selbst und stammt gänzlich aus uns selbst. Der erste Anstoß, im Leben für das Leben poetisch zu werden, ist der zur Poesie der Notwendigkeit. Mit ihr beginnt das Leben als Kunstwerk. Der Mensch, der mit sich als Mensch etwas vorhat, legt sich zuallererst als notwendig aus. Wem es gelingt, bewußt oder unbewußt, der innersten Forderung nach Formung der Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage nachzu­ kommen, entwickelt auch schon in sich die Überzeugung von der Notwendigkeit seines Lebens – notwendig für Andere und für sich selbst. In einer der frühen Selbstauslegungen und eben Selbstpoe­ tisierungen des Menschen teilt der Schöpfergott dem Menschen seinen Part im Schöpfungsganzen zu: Er hat den Auftrag und mit ihm die Notwendigkeit, Herr der Erde und all dessen zu sein, was auf ihr ist. Der Mensch ist gebraucht als Herr. Wie sollte er die Notwendigkeit seiner Existenz kräftiger und souveräner zum Ausdruck bringen? Physiologisch hat der Mensch Essen und Trinken nötig, Ruhe und Bewegung. Geht es nach den 119 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Sich notwendig werden

Macht- und Gewinnmaximierungen im Silicon Valley, dann hat er Unnötiges nötig, ja solches, wodurch er sich selbst gefährdet. Wie unvergleichbar damit ist seine Not, sich selbst notwendig zu sein! Der Zeit nach nehmen die Notwendigkeiten den ersten Rang ein, die den Organismus erhalten und stärken, der Sache nach aber die Notwendigkeit, die der Mensch im Leben für sich selbst erschafft. Das Geistig-Poetische ist die erste Sorge des geschichtlichen Menschen. Er ist in Frage gestellt, weil er sich selbst in Frage stellt. Das fordert in ihm den Künstler heraus. Wer seinem Leben kraft inwendiger Poesie Notwendigkeit verleiht, ergänzt die Erzählung des Lebens, die sich an das Bild eines Halbkreises hält. Die Kulmination hat jetzt zwei Namen: zum »Lebenweitergeben« gesellt sich das »Ein-Kunst­ werk-Schaffen«. Der Poet der Notwendigkeit bejaht das Leben, was für ihn heißt, es künstlerisch fruchtbar zu machen. Darum gilt es sich zu hüten vor all denen, die das Leben zu kurz erzählen. Sie sprechen vom Entstehen und dann sogleich vom Vergehen, vom Geborenwerden und auch schon Sterben. Anaximander (619–546 v. Chr.) ist berühmt für seinen Spruch, der von etwas handelt, das nicht anders geschehen kann und darf: Und aus welchem das Werden ist des Wirklichen, zu diesem wird auch das Vergehen …

jetzt folgt griechisch kata to chreôn – die Einen übersetzen »nach der Notwendigkeit«, die Anderen »nach der Schuldigkeit«. Beides ist richtig. Der notwendige Gang der Zeit wird hier als Rechtsvorgang verstanden: Was es wagt, aus dem Nichtsein ins Sein zu treten, macht sich straffällig. Die Strafe, die sogleich erfolgt: Er muß wieder ins Nichtsein übergehen. Eine starke Logik: Wer aus dem Mutterleib hervorkommt, bezahlt seine Schuld jetzt dazusein damit, daß er einst wieder weg ist. Nur so walte die Zeit, die alles gerecht macht. Der Apostel Paulus steht dem nicht nach, wenn er die Erbsünde erdichtet und jedes Neugeborene für mitschuldig an Adams Sündentat erklärt, wofür es mit dem Tode bestraft wird. 120 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Sich notwendig werden

Ob Anaximander oder Paulus, Karl Barth oder Martin Hei­ degger – jeder, der den lebendigen Menschen für ursprünglich schuldig erklärt, hat sich von der Poesie der Notwendigkeit ausgeschlossen, die den Grund für das Leben als Kunstwerk legt. Für Menschen, die ihr Leben als Schuld verstehen und sich der Notwendigkeit unterwerfen, diese Schuld abzutragen, ist Leben nicht das Geschenk, das es für den, der es als Werk der Kunst erschafft, ist. Aus dem Zufall ist Notwendigkeit geworden, eine Aufgabe, die der Künstler einzig sich selber schuldig ist. Dem Leben, das Einer mit Anderen und mit sich selbst lebt, Notwendigkeit zu verleihen, geschieht unscheinbar. Beginnt einer, ob er es merkt oder nicht, sein Leben ernst zu nehmen, so hat er damit die Spur der Poesie der Notwendigkeit aufge­ nommen. Das ist nicht der Ernst des Lebens, auf den Erzieher vorbereiten möchten. Es ist ein Ernst, in dem sich Einer lebens­ praktisch unmittelbar und in voller Offenheit als er selbst gefor­ dert sieht. In den Minuten, Stunden und Tagen dieses Ernstes ist für alles Tun und Lassen die reine Selbstverantwortung, für alles Erkennen und Empfinden die Wahrhaftigkeit gefragt. Das setzt ungeahnte Kräfte frei, die ich die schöpferischen, die künstlerischen nenne. Eine ganz neue Freiheit tut sich auf: die Freiheit zu sich selbst, zu der allein der Mensch fähig ist, der sich in seinem Leben mit Anderen und mit sich selbst als notwendig erfährt. Was für einen Impuls gibt das der eigenen Lebensbefähigung, nicht allein zu erfahren, daß Andere einen brauchen, sondern meiner selbst gewiß zu sein, mich selbst zu brauchen. Genau diese Gewißheit bringt den Einzelnen nicht auf den Weg solipsistischer Vereinzelung, sondern auf den des mit Anderen geteilten Lebens. Im Ernst der Selbsthaftigkeit verdampft alles Selbstische. Jedes selbsthafte Engagement lebt von der Alterität in ihrer doppelten Gestalt: Der Andere ist ein Anderer und ist anders. Nur eine Forderung ist vorweg an den tauglichen Anderen gestellt: Er hat sich selbst notwendig zu sein, gerade auch er. 121 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Das Selbst – ein Kleinod Das Kostbarste, was ein Mensch zu eigen hat, ist das eigene Selbst. Damit es das eigene ist, braucht es das eigene Selbst signifikant Anderer. Im anderen Selbst, das dem Anderen eigen ist, wird ihm allererst die eigene Eigenheit zuteil. Nur so ist das eigene Selbst das Vermögen, anderem Selbst auf selbsthafte Weise zu begegnen. Dieses lebenspraktische Kleinod verdankt sich dem Fruchtbarsten, was es für die Gewinnung und Bewäh­ rung von Lebensbefähigung gibt: dem Gelingen des Miteinander und Füreinander. Das Selbst ist nichts Substantielles; kein Ding, aber auch kein Phantom. Es ist eine praktische Größe und damit etwas, das im menschlichen Miteinander und ebenso im Verhältnis des Einen zu sich selbst Position bezieht. Es nennt sich »Ich«, genauso wie das Selbst des Anderen. Das Ich ist demnach ebensowenig Dingartiges, das Einer an sich oder in sich lokalisieren könnte. Es ist ein Kraftzentrum, das seine Ressour­ cen im gelingenden Miteinander hat. Willens und fähig zu sein, sich selbsthaft einzubringen, selbsthaft gegenüber Anderen und sich selbst, ist ein Geschenk des lebensbefähigenden Umgangs mit anderen Selbsten. Ja, der Mensch ist für den Menschen da, für den Anderen und für sich selbst. Das ist immer wieder zu erinnern angesichts des allesvereinnahmenden Zeitgeistes die­ ses dissoziierenden digitalen Zeitalters. Der verbindende Plural von menschlichen Individuen, der im »wir« spricht, nennt in der Regel ein begrenztes Ensemble von Selbsten in begrenzter Zeit, nicht aber die vielfältig desintegrierte Zeitgenossenschaft der Erdbevölkerung, die allenfalls ein Riesenunglück, ob natur- oder menschengemacht, zusammenbringen könnte. Jedes menschli­ che Selbst ist ein interaktiv mit anderen Selbsten entwickeltes, dessen Entwicklung zeitlebens nicht zum Stillstand kommt. Ist es nichts Substanzielles, dann aber auch nichts bloß GeistigSelbstreflexives. Ist es das Selbst des Selbstbewußtseins und der 122 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Das Selbst – ein Kleinod

Selbstverantwortung, gerade dann erweist es sich als praktische Größe und damit als positional. Kants »eigentliches Selbst« als eine rein geistige Größe bringt es im »Praktischen« nicht weiter als bis zur Gesinnung, also, lebenspraktisch geurteilt, zu nichts. Nun gibt es Handlungsmöglichkeiten, durch die ein Mensch sich selbst auf sich selbst bezieht. Das ist nicht der rein geistig gemeinte Vorgang bei Kant, in dem die reine Vernunft dadurch handelt, daß sie den Willen bestimmt. Es geht dann vielmehr um Handlungen, die ursprünglich der Intersubjektivität zugehören, aber auch in der Subjektivität des Einzelnen ihre Chance haben: das Reden, die geschlechtliche Befriedigung, das Töten. Sprach­ fähigkeit, Geschlechtsfähigkeit und Kampffähigkeit entwickeln sich im Mit- bzw. Gegeneinander und kommen dort ursprüng­ lich zum Austrag. Das Selbst kann aber auch bei sich selbst sein, um selbsthaft zu handeln – als Selbst des Selbstgesprächs, der Selbstbefriedigung, der Selbsttötung. In jedem selbsthaften Einsatz wagt es sich selbst, setzt es sich selbst aufs Spiel. Ich halte diesen philosophischen Exkurs für nötig, um klar zu verstehen geben zu können, welches der Zeitgeist ist, mit dem ich mich solidarisiere und den ich zu inspirieren suche: es ist der des Selbst der Selbsthaftigkeit. Damit wird die Frage, wes Geistes Kind einer ist, zu der des Gewissens. Wird der Gedanke des Gewissens von den falschen Idealen des vernunftallgemeinen und existenziell-vereinzelten Gewissens befreit, dann zeigt er seine wahre Natur in der Mitmenschlichkeit. Das praktisch brauchbare und verbindliche Gewissen entspringt selbsthaften Begegnungen, die als Mit- und Füreinander gelingen oder miß­ lingen. Wo anders sollte die Mitwisserschaft davon, was für das Einander ersprießlich oder unersprießlich, ja schädlich ist, ihren Ursprung haben? Mitwisserschaftlich erzeugtes Gewissen, dieses Sediment selbsthafter Begegnungen, ist einzigartig das, was selbstverantwortliches Handeln möglich macht. Wer darauf aus ist, einen Menschen für sich zu gewinnen, um ihn zu eigen zu haben, zielt auf sein Selbst. Das gilt für den Liebenden und den Verführenden freilich nicht gleichermaßen. 123 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IV. Das Selbst – ein Kleinod

Der Liebende wird sich selbsthaft einbringen und im Gewinn des anderen Selbst sich diesem selbst übereignen. Der Verführende dagegen bringt sich selbstisch ein: Er gibt sich nicht selbst, um das andere Selbst für sich zu gewinnen. Auf versierte Weise läßt er seiner selfishness freien Lauf. Die Großkonzerne im Silicon Valley liefern dafür drastische Beispiele. Ihre gekonnte Art, Andere durchschaubar und auf diesem Wege abhängig von sich zu machen, wird heute durch keine andere Verführungsmacht überboten, selbst durch Drogenkartelle nicht. Facebook allein hat zur Zeit zwei Milliarden Abhängige, die wohl nicht zum geringsten Teil selbstverstört wähnen, frei über den Gebrauch dieses Mediums zu verfügen. Der extremste Fall des selbstischen Zugriffs auf ein anderes Selbst ist die Folter: In der härtesten Art seiner selfishness hat der Folterer das Ziel, das Selbst des Anderen zu sprengen, um absolute Willfährigkeit zu erzielen.

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V. L’art pour l’art Asymmetrische Abhängigkeit und Gefügigkeit, die gewollt ist und methodisch erreicht wird, ist ein Verrat am Humanum. Das macht ein freies Ensemble von Selbsten unmöglich. Das Zusam­ menleben in seiner fruchtbaren Spontaneität wird zerstört. Aris­ toteles, der in seinen politischen Schriften die Bedeutung des Mittelstandes (hoi mesoi, die Mittleren) für den Zusammenhalt des Staates herausstellt, gibt uns in seinen ethischen Schriften Materialien an die Hand, menschliches Leben so zu sehen, daß es des Künstlers bedarf, damit es gelingen kann. Anstatt auf einem längeren und luxuriöseren Leben des Einzelnen liegt sein besonderes Augenmerk darauf, die Herausforderung des Lebens im Zusammenleben (syzên) zu sehen. Das ist nicht der geringste Grund dafür, daß Aristoteles der wichtigste Philosoph für mein eigenes Nachdenken geworden ist. Für Indizien menschlichen Am-Leben-seins hält er sich nicht an Atem und Pulsschlag. Für ihn muß dazu das eigene Selbst im Spiel sein. Dies aber äußert sich in selbsthaften Tätigkeiten, wir können auch sagen Wirksamkeiten (energeiai). Was hat er dabei im Sinn? Haben wir an etwas wie Jagd und Handwerk zu denken? Nein, seine durchgängigen Beispiele sind Wahrnehmen und Erkennen, und das hat seinen Grund. Auch paßt es gut zu dem Versuch, im lebendigen Menschen nicht den mehr oder weniger gut funktio­ nierenden psychosomatischen Apparat (Organismus) zu sehen, sondern den Künstler, dem seine Kunst zur Notwendigkeit geworden ist. Wird gefragt, wodurch und worin sich eines Menschen Identität und Alterität eigentlich gründet, vollzieht und bewährt, dann antwortet Aristoteles: allem zuvor im Wahrnehmen und Erkennen. Sofern der Mensch zusammenlebt, ist sein Wahrneh­ men und Erkennen auch ein Zusammenwahrnehmen (synaist­ hanesthai) und Zusammenerkennen (synggnôrizein). In dieser 125 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

V. L’art pour l’art

Gemeinsamkeit kommt für Aristoteles zum Ausdruck, was jedem von uns als Lebensverlangen und Lebenswille eingeboren ist: der Wille, wahrzunehmen und zu erkennen. Er spricht in die­ sem Zusammenhang davon, daß Leben »eine Art von Erkennt­ nis« ist. Der Wille, am Leben zu sein, ist der Wille, gemeinsam wahrzunehmen und zu erkennen, nicht zuletzt aber sich selbst. Damit kommt Lust (hêdonê) ins Spiel. Lebenswille ist eins mit Lebenslust; der Wille, wahrzunehmen und zu erkennen, ist eins mit der Lust am Wahrnehmen und Erkennen. Das auf künstleri­ sche Weise ernste Leben geht mit dem lustbetonten Leben ein Bündnis ein. Soweit Lebenswille in den Formen des Willens, wahrzunehmen und zu erkennen, Kunstwille ist, wird er nicht instrumentalisiert für biologische Selbsterhaltung. Stattdessen gelingt die philosophische Demonstration, daß Lebenswille, der sich als Lust entdeckt, sein Genügen in sich selbst hat. Leben um zu leben, und zu nichts sonst; wahrnehmen und erkennen um wahrzunehmen und zu erkennen, und zu nichts sonst. Ist das Kunst? Ja, das ist Kunst, wenn doch Leben wie Wahrnehmen und Erkennen Tätigkeiten und Wirksamkeiten sind, die das, was zu leben, das heißt wahrzunehmen und zu erkennen ist, mithervorbringen. Das Selbstgenügen, dieses l’art pour l’art, das Aristoteles uns vorführt, ist kein Ruhen im DAO, wie es der Daoismus als Vollendung des Wegs in den absoluten Solipsismus und die absolute All-Einheit rühmt, sondern ist im Gegenteil ein Bild lustvollen Zusammen-am-Leben-seins mit klarer Ausprägung von Identität und Alterität: Die Selbste leben und handeln in ihrer diversen Individualität, nicht aber als entindividualisiertes all-eines Selbst oder entindividualisierte all-eine Vernunft. Das gründe ich auf Aristoteles: Wahrnehmen und Erkennen sind als Weisen des Lebens Möglichkeiten des gesteigerten Lebens, des Lebens nämlich, das es versteht, das Am-Leben-sein schöpferisch zu feiern – ein leuchtendes Gegen­ stück zum weltabgewandten Ruhen in sich selbst, nicht weniger zum selbstisch der Welt zugewandten Pursuit of Happiness, dieser zerstörerischen Maxime des Handelns, die den Menschen 126 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

V. L’art pour l’art

präferiert und präpariert, der nicht für den Menschen da ist, sondern für sich selbst.

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VI. Lebensvertrauen Fragt der Mensch, warum er lebt, dann sagt ihm Meister Eckhart (um 1260–1327), er lebe sein Leben ohne Warum: »in dem, daz es sich selber lebet«. Der Mystiker beantwortet damit nicht unsere Frage nach dem Warum, sondern gibt ihrer Unbeantwort­ barkeit eine Gestalt. Indem er das Leben für eine Art Selbstläufer erklärt, nimmt er ihm den möglichen Fatalismus. Der Mensch, der nach dem Warum fragt, merkt, daß es darauf keine Ant­ wort gibt, und sagt sich: dann mache ich es ohne Warum. Mit dieser Gestaltung der Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage mag leben, wer will. Nun ist aber vom begründenden Grund der gründende Grund zu unterscheiden. Kann ich auch ohne geistige Begründung mein Leben unbeeinträchtigt leben, dann doch nicht ohne einen Grund, der mich in dem von mir zu führenden Leben trägt. Leben, das auf künstlerische Weise sich selbst notwendig geworden ist, weiß sich gegründet. Diesen Grund unerschütterlich zu nennen, wäre zu gewagt, weil das einer absoluten Garantie der Bewahrung des eigenen Selbst für die Zeit des Lebens gleichkäme. Dafür ist menschliches Leben zu fragil und allzu leicht dem ausgesetzt, was es – poetisch – Schicksalsschläge nennt. Dieser eine gründende Grund, den das Leben hat und braucht, ist das Vertrauen. In jedem Moment bewußten Lebens wird Leben gewagt, aufs Spiel gesetzt – genau das ist praktiziertes Lebensvertrauen. Dabei ist das Leben dem Lebenden kein Gegenüber, dem er vertraute. Nein, das Leben selbst ist praktiziertes Lebensvertrauen. Nichts Fremdes lauert da irgendwo, um es mißbrauchen und erschüttern zu können. Lebensvertrauen ist keine Lebensversicherung und will auch keine sein. Es bewahrt nicht vor Unglück, das das Leben in Frage stellt. Was wird aus diesem Vertrauen, wenn es einmal so richtig hart kommt und ein Unglück urplötzlich über ein junges Glück hereinbricht, ein Unglück, das fast das Leben 128 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Lebensvertrauen

kostet und langfristige Folgen haben wird? Ich war, obwohl ein Samstag, von Freiburg nach Karlsruhe gerufen worden, um als Assistent am Philosophischen Lehrstuhl dem Chef behilflich zu sein. Mit dem Beleg, im Speisewagen auf der Rückfahrt ein Glas Tee getrunken zu haben, machte ich mich bei früh einfal­ lender Dunkelheit (es war Fasnacht) zu Fuß auf den Weg vom Bahnhof zu unserer Wohnung. Beim Überqueren der Straße davor erfaßte mich laut Polizeibericht ein Motorroller. Ich flog vierzehn Meter durch die Luft, schlug mit dem Kopf auf und wurde anschließend von den linken Rädern eines Personenwa­ gens überfahren. Meine Gedächtnislücke beginnt zweihundert Meter vor dem Unfallort. Als meine Frau, am gedeckten Tisch mich erwartend, die Rettungswagen hörte, las sie gerade in den Wahlverwandtschaften den Tod Ottiliens. Da wußte sie noch nicht, daß die Sirenen mir galten. Erst die Nachbarsfrau, die ein Telefon hatte, brachte die Nachricht, daß sie sofort in die Univer­ sitätschirurgie kommen sollte. Als ich sie dort neben meinem Bett erkannte, sagte ich: »Wie konnte ich Dir das antun?«. Später sagte Heidegger, der einzige meiner Lehrer, der mich besuchte: »Jetzt muß Philosophie praktisch werden«. Zu der Körpertemperatur, die bei all den Brüchen, Quet­ schungen, Rissen, Prellungen, Abflüssen auf Dauer hoch war, meinte er: »Fieber ist nicht schlimm«. Das war knapp zwei Jahre vor meiner Habilitation im Fach Philosophie. Gut fünfundzwan­ zig Jahre später nutzten wir den Feiertag 17. Juni, den ältesten Sohn mit Frau und kleinem Kind, selten genug, in Hamburg zu besuchen. Wir übernachteten zusammen in Lauenburg an der Elbe. Anderntags wollte ich uns mit einem Taxi nach Lüneburg bringen lassen. Nach zwei Kilometer Fahrt am hellen Vormittag auf der großen Salzstraße wechselte ein entgegenkommendes Auto plötzlich auf unsere Seite. Beim Frontalzusammenstoß mit über 80 km/h gab es einen nie erlebten Ruck. Rauch und Hitze drangen vom Motor her ins Wageninnere. Ich glaubte nicht, daß die Tür des Mercedes neben dem Fahrer sich noch öffnen ließ. Aber sie tat es. Das Taxi fing zu brennen an. Alle kamen heraus. 129 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Lebensvertrauen

Erst zuletzt merkte ich, daß ich noch meine Frau, die angegurtet hinter mir gesessen hatte, herausholen mußte, so sehr stand ich unter Schock. »Das ist jetzt so«, wiederholte ich vor mich hin, als sei das Jähe bereits Zustand. Die Fahrerin im anderen Wagen war sofort tot. Unser liebenswürdiger Taxifahrer starb nach drei Tagen. Wir hatten zwei Schwerverletzte: das Enkelkind und meine Frau. Für mich, neben dem Fahrer, war wohl der dicke Lodenumhang der Lebensretter, den ich mir unter den Gurt auf die Brust geschnallt hatte. Als der Enkel mit seinen Eltern im Hubschrauber zur Kinderchirurgie in Flamburg-Eppendorf abgeflogen und meine Frau in der Lüneburger Klinik auf die Intensivstation gekommen war, suchte ich mir benommen ein Hotel. Am andern Morgen stand schon früh ein Bruder von mir am Hotelbett, aus dem ich kaum herauskam. Von einer Schwes­ ter war Unterstützungsgeld bei der Rezeption angekommen. Als sich nach einer Woche der Zustand meiner Frau etwas stabilisiert hatte, fuhr ich nach Freiburg, um mit Hilfe eines Klinikarztes den Rotkreuztransport zu organisieren. Abends hielt ich den ange­ kündigten Vortrag im STUDIUM GENERALE: »Martin Heidegger: Das Gewissen – 1927/1933«. Mit Blaulicht zurück in Freiburg, war die leidenschaftliche tätige Anteilnahme an unserem Unglück überwältigend. Während ich das aufschreibe, sind es keine zwei Wochen mehr hin, daß unser Enkel heiratet. Meine Frau ist gerade ins Atelier aufgebrochen, das ein paar hundert Meter von unserer Wohnung entfernt liegt. Aber wie steht es mit dem Lebensvertrauen? In Lüneburg benutzte ich noch am Tag des Unfalls wieder ein Taxi. Dem Arzt, der meine Brust untersuchte, noch ehe sie grün und blau wurde, erzählte ich, daß gerade ein Buch von mir über den menschlichen Tod erscheine. Ob ich es jetzt anderes schreiben würde, fragte er. Nein, keinen Satz anders, sagte ich ihm. Frage ich mich heute zu dem frühen Unfall in der Assistentenzeit und zu dem späten sieben Jahre vor der Entpflichtung, dann stoße ich in beiden Fällen auf nichts, was mein Lebensvertrauen in Frage gestellt, ja erschüttert hätte. 130 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Lebensvertrauen

Ich war überzeugt, daß meine Frau überlebt und auch unser Enkel. Nur bei dem Taxifahrer, den ich auf der Intensivstation besuchte, merkte ich, daß es nicht gut stand. Das Lenkrad hatte im Bauch gewütet. Warum ist es bei mir zu keiner Rebellion gegen das Geschehen gekommen? Weil es dazu gar nicht kom­ men konnte! Das Leben, das allein schon aufgrund seiner Ein­ zigkeit als Geschenk und Chance erfahren wird, liegt in seinem Selbstverständnis diesseits der Alternative von Fatalismus und Rebellion. Das hängt eng mit dem eigenen Verhältnis zum Tod zusammen, der kein Feind ist, und dies selbst dann nicht, wenn der Zufall ein Unglücksfall und der Tod ein Tod zur Unzeit ist. Wer ein lebensbedrohendes Unglück überleben darf, hat oftmals das Glück, besondere Erfahrung von Menschlichkeit zu machen. Bei meinem ersten Unfall waren die Eltern meiner Frau aus Köln bereits am folgenden Tag da und brachten auch gleich eine Hilfe für unsere beiden noch kleinen Kinder mit. Hatte uns schon keine böse Macht heimgesucht, war uns nichts Entwürdigendes widerfahren, so gab es jetzt Gutes zu erleben. Das war der Einklang, der Wohlklang: Wir sorgten füreinander und sorgten uns umeinander, über das Heute hinweg legte das Morgen an Gewicht zu. Ich sollte den Kopf im Bett überhaupt nicht heben. Allein in den ersten Wochen bestünde für die Gehirnschäden Chance einer Regenerierung. Also hob ich den Kopf nicht. Aber er fing wieder zu arbeiten an. Ich konnte mich auf einen zu schreibenden Aufsatz konzentrieren, der vor der Habilitation als Veröffentlichung vorliegen mußte. Daß meiner Frau das Malen und mir das Nachdenken blieb, war natürlich im Überleben das wunderbarste Surplus. Eine Vorstellung davon, was ohne dies Surplus gewesen wäre, haben wir beide nie entwickelt. Lebensvertrauen gibt es nicht dosiert als etwas mehr und etwas weniger Lebensvertrauen, Lebensvertrauen ist in sich ein Ganzes. Indem ich das festhalte, wird mir noch klarer, daß dieses Vertrauen nicht eigentlich dem Andauern des Lebens gilt, sondern seinem Gewicht, seiner Erfüllung. Das Lebensvertrauen besetzt die ganze Spanne menschlicher Lebendigkeit zwischen 131 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Lebensvertrauen

Ausgelassenheit und Feierlichkeit. Kein Zufall hat die Macht, es zu enttäuschen. Damit bin ich wieder ganz bei den eigenen Gedanken: Wer dem Leben vertraut, der setzt es aufs Spiel. Wer im Vertrauen lebt, kennt keinen Sinn des Lebens, braucht keinen. Er läßt sich ganz von selbst (sua sponte) und das heißt aus freien Stücken auf das zu lebende Leben ein. Neugier mag im Spiel sein, ein Sehnen und Begehren (das »kai pothêô kai maomai« der jungen Frauen in Sapphos Dichtung), ein Erwarten und Hoffen – doch all das sind allein mehr oder weniger klare Zeichen des zum Wagnis des Lebens befreienden Vertrauens. Das gibt Gelegenheit, ohne Ideologie von Emanzi­ pation zu sprechen: von der Freigabe aus dem umfangenden Behütet- und Geborgensein der frühen Selbstwerdung. Es ist ein Akt, der sich dem gelingenden Wechselspiel von Freiheiten verdankt. Diese Emanzipation erfordert die Selbstbefreiung des daraufhin Emanzipierten, dies aber nicht ohne Freigabe durch die, aus deren Obhut er sich befreit, um das Wagnis des Lebens selbsthaft einzugehen. Ist Einem das Leben notwendig gewor­ den, braucht er Andere wie auch sich selbst, dann zeigt sich Emanzipation als gelungen. Die eigene Freiheit kommt jetzt im Wechselspiel all der freigegebenen Freiheiten zur Wirkung, die im Miteinanderleben Partner auf Zeit sind. Damit ist individua­ listische Freiheit, wie sie Ideologen des Liberalismus fordern, ausgeschlossen. »Eigene« Freiheit gibt es allein im Zusammen­ treffen und Zusammenwirken mit Freiheiten Anderer. Anstatt im Anderen noch länger eine Einschränkung der eigenen Freiheit zu sehen, wird er als konstitutiv für sie erfahren. Wozu ist aber eigentlich der Emanzipierte im Spiel der Freiheiten frei? Was will er? Spezielle Freiheiten wie freie Arzt­ wahl und freie Berufswahl können nicht gemeint sein. Wozu braucht sich der Mensch, der sich braucht? Wohin treibt den sich notwendig Gewordenen seine Notwendigkeit? Sich frei auf das Leben einzulassen, um es zu leben, was die Bereitschaft einschließt, seine Herausforderungen anzunehmen – schön und gut. Aber ist das alles? Nein, für den, der sich braucht und sich 132 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Lebensvertrauen

selbst notwendig geworden ist, ist das nicht alles. Vielmehr vollzieht sich die Emanzipation mit einer Berufung (vocatio), die Selbstbefreiung mit einer Selbstberufung. Zu was aber sieht er sich berufen, zu was beruft er sich? Mit dem Sichbrauchen und Sichnotwendigsein ist die Berufung bereits erfolgt. Es ist die Berufung zum Künstler, der das zu lebende Leben selbst als das Werk ansieht, das er zu erschaffen hat. Er instrumentalisiert sein Leben nicht für einen Zweck gleich dem Individualisten, der dadurch reich und glücklich werden will, nicht gleich dem Revolutionär, der die gemeinsamen Lebensverhältnisse umsto­ ßen und neue schaffen will. Wer sich dazu beruft, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, ist von einer schöpferischen Ungenügsamkeit und Unzufriedenheit erfüllt. Anstatt sich nach einem ganz anderen Leben im Himmel zu sehnen, nach einem ungeahnt luxuriösen oder nach dem in einer – utopischen – befreiten Gesellschaft, traut er dem Selbst selbst zu, sich selbst genügen zu können, wenn er es nur mit der Ungenügsamkeit des Künstlers zum Äußersten treibt. Sollen wir uns auf bacchantischen Taumel einlassen, auf Orgien und Exzesse? Die Bacchen des Euripides stellen das überzeugend in Frage. Doch darauf liegt hier nicht mein Augen­ merk. Das Leben als Kunstwerk lebt von einer durchgängigen Intensivierung des Lebens. Das beginnt mit dem wachen Blick auf den Anderen und in die Welt, mit dem Hören von Vogelge­ zwitscher und dem Schmecken des Brotes. Ich schrecke nicht vor dem oft bemühten Hören der Stille zurück, der Wahrneh­ mung, wenn Flut, als stünde die Welt einen Augenblick still, in Ebbe umschlägt. Zuvor aber denke ich noch an das Warum der Kinder, und nicht zuletzt an Liebe und Tod auf der Bühne. Der ganze Reigen von Sensibilisierung und Intelligibilisierung gehört dazu, dem Leben einen Treibstachel zu geben, der es an seine Grenzen, ja am liebsten über diese hinausführt. Wer sich dazu beruft, sein Selbst voll zu wagen, und dies ganz besonders im Zusammenspiel mit dem eigenen Selbst Anderer, lebt sein Lebensvertrauen nicht im Fortspinnen der Alltäglichkeit und 133 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Lebensvertrauen

Allnächtlichkeit aus. Das Alltägliche zum Fest machen, die all­ täglichen Wiederholungen zum festlichen Ritual – das ist Kunst! Leben, das sich in seinem Vertrauen wagt, entwickelt in sich einen Impetus, der es zum Äußersten anstachelt. Ein Äußerstes sind aber nicht nur Ekstasen, sondern auch Besinnlichkeit und Nachdenklichkeit. Mystiker in Ost und West jedoch, die seit alters Ruhe (Nichtstun) und Gelassenheit predigen, heute tun es sich als Therapeuten der Gegenwart Versuchende, zielen am Leben, das ein Werk der Kunst schafft und ist, vorbei. Das ist schon darum unausweichlich, weil sie alle der Solipsismus eint, die Ausrichtung auf das eine, ganz mit selbst beschäftigte Selbst, ob es nun die Ruhe im All-Einen sucht und findet oder im meditativ gewonnenen Frieden mit sich selbst. Wer dagegen sich selbst und sein Leben braucht, braucht das Leben mit Anderen. Bis ans Äußerste zu gehen und Grenzgänger zu werden, ist das Gegenteil von Auskosten des Lebens. Wer das Leben künstlerisch aufs Spiel setzt, jagt nicht von Event zu Event, äußert keine Lebensgier. Das Sichübersättigen und Zerstreuen mag zwar manchen als der einzig begehbare Weg erscheinen, der Tristesse zu entgehen – eine künstlerische Formung der Unbeantwortbarkeit der Lebensfrage geschieht dadurch nicht. Zählt für den Schaffenden jede Stunde, so weiß der von der Langeweile des Lebens Heimgesuchte in der Tat mit seiner Lebenszeit nichts Besseres anzufangen, als sie totzuschlagen. Mögen auch der Mann und die Frau »von Welt« ihre Nerven überreizen, um, wie sie meinen, etwas vom Leben zu haben, so gelingt ihnen bei all ihren Unternehmungen kein einzig wahrer Augenblick, der der eines gesteigerten Lebens wäre, das über sich hinauswill. Dichter wie Marcel Proust und Peter Handke nehmen zum Prüfstein der authentischen Momente des Lebens die Wahrheit des Empfindens, die mit der Herausforderung verbunden ist, als Künstler den wahren Ausdruck für das Emp­ fundene zu finden. Gerade die authentische Empfindung führt zu keinem Selbstgenuß, sondern sucht die authentische Mitteilung. Das trifft genau die Sache. Übersteigt jedes Kunstwerk die vorge­ 134 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VI. Lebensvertrauen

gebene Wirklichkeit, dann zeigt sich im wahren Empfinden der Königsweg, das künstlerische Vermögen in sich zu nutzen und zu steigern. Das steigert zugleich das Eigene im Ensemble der für ihr Leben frei Verantwortlichen. Haben mystische und mystisch inspirierte Tugenden das erklärte Ziel, im Zuge meditativer Individuation alle Individualität zum Verlöschen zu bringen, dann sorgt der Impetus, der den zum Sicheinlassen auf das Leben Befreiten durchherrscht, im Gegenteil für eine Steigerung und Stärkung eigener Unverwechselbarkeit.

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VII. Die andere Selbstlosigkeit Kunstwerke brauchen Öffentlichkeit. Schon in ihrem Entstehen sind sie in Zwiesprache mit ihr. Spricht man heute mit Recht von Kunstbetrachtern und Musikhörern als Mitschaffenden, so ist die Öffentlichkeit im Falle des Lebenskunstwerks, das nicht in jeder Öffentlichkeit gedeiht, notwendig von besonderer Art: Sie ist ein Ensemble von Gleichen, wenn das heißt von Künstlern und Grenzgängern, die ihr Werk nie anders als miteinander schaffen. Die Intensivierung authentischen Lebens geschieht durch die Kunst: durch die Gemeinsamkeit der Künstler, denen ihr Leben und das heißt ihr Schaffen am Kunstwerk des Lebens notwendig geworden ist. Keiner ist mehr leichthin frei, sich seiner Kunst, seinem Ernst und seiner Notwendigkeit zu verwei­ gern, aber jeder ist frei im Sinne der Freiheit der Kunst – frei zum Gestalten, frei, weil für nichts instrumentalisiert. Die Öffentlich­ keit des Lebens als Kunstwerk ist die der Mitwisserschaft, weil Mittätigkeit. Das bis an die Grenzen des Möglichen gesteigerte Leben ist nicht das kultivierte und verfeinerte. Nein, keine Klassengesellschaft tut sich auf: hier Künstler, dort Banausen. Formal zu unterscheiden sind für mich allein Menschen, die sich selbst notwendig geworden sind, und die, die es nicht sind. Diese formale Unterscheidung ist ihrem Gehalt nach die von Menschen, die sich in ihren Beziehungen zu Anderen selbsthaft einbringen und damit, und sei es nur für einen Moment, zu gemeinsam Schaffenden werden, und Menschen, die selbstisch handeln und Andere, die sie nötig haben, instrumentalisieren. Die Einen arbeiten an der Gestaltung der Unbeantwortbarkeit der Lebensfrage, und dies nie anders als mit vollem Einsatz, die Anderen arbeiten nicht daran. Ihnen fehlt der Impetus, das einzige Leben als einzigartige Chance wahrzumehmen, schöpfe­ risch und damit als Mensch für den Menschen dazusein. 136 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VII. Die andere Selbstlosigkeit

Das spontanere und offenere Leben, das wachere und sen­ siblere, das wahre und unverwechselbare, ja eben das gesteigerte Leben verändert das Verhältnis zu den Anderen, die an dem eigenen Leben mitwirken: Sie rücken näher und ferner. Das ist kein Paradox. Die Stärke des anderen Selbst wird spürbarer, seine Eigenmächtigkeit, was einerseits die Nähe, andererseits die Unnahbarkeit spürbar macht. So ist mit der Steigerung des Lebens die miteinhergehende Steigerung der Gemeinsamkeit nicht schon alles. Auch die Mitwisserschaft weitet sich aus, das gemeinsame Wissen um Gelingen und Mißlingen, um das, was einander guttut und was nicht. Ohne diese Mitwisserschaft bildete sich kein Gewissen, denn welche andere Quelle sollte es haben als die Zeiten gemeinsam gelebten Lebens mit ihren Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen, Gewinnen und Ver­ lusten. Die Bildung des Gewissens und die Ausbildung der Fähig­ keit, durch Abstimmung der Freiheiten gewissenhaft zu handeln, ist nicht schon ein Letztes. Alle Grenzgänger streben nach einem Überschreiten der Grenze, auch wenn das unmöglich ist. Ja, das ist wirklich erregend: Das Unmögliche ist notwendig mit im Spiel, wenn Leben als Kunstwerk gelingen soll. Das praktisch Unmögliche aber ist, über sich selbst hinauszugehen. Jeder Selbstüberstieg, jede Selbsttranszendenz bleibt ein Traum, bleibt, wie ich es lieber sage, Poesie. Genau dies Unmögliche muß gewagt werden, wenn sich Leben in höchstmöglicher Steigerung aufs Spiel setzt. Will ich den Leser nicht in gläu­ bige Höhen und mystische Tiefen entführen, dann kann sich das nötige Wagnis an nichts Besserem bewähren als an der Unnahbarkeit auch des nächsten Anderen. Er wird jetzt als die unüberschreitbare Grenze erfahren, als das, was zwar dem eigenen Leben als einem eigenen Halt gibt, zugleich aber eben auch dem Lebensausgriff ins Grenzenlose Einhalt gebietet. Wer über sich selbst hinauswill, muß über den Anderen hinaus. Da aber wendet sich auch schon Unmöglichkeit in Möglichkeit: Ich übertreibe die Nähe und verlege mein Selbst in den Anderen. 137 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VII. Die andere Selbstlosigkeit

Damit ist seine Unnahbarkeit überspielt. Schon wenn ich ihn mit seinem Selbst belehne, wie es in der lebensteiligen Pflege von vollends Hilflosen der Fall ist, trete ich für ihn selbsthaft ein. Um wieviel stärker noch geschieht das, wenn ich mich ihm selbst übereigne. Es geht dann im Eigenbereich des Anderen wirklich um das eigene Selbst. Ist das denn aber möglich? Kann ich für mich selbstlos werden? Ja, das ist möglich, was für das Verstehen freilich erfordert, Kunst und Wissenschaft nicht durcheinander­ zubringen. Selbstverständlich hat der Selbstüberstieg, mit dem sich das Selbst im Anderen gleichsam einnistet, nicht zur Folge, daß der Sichübereignende nun das Subjekt der Empfindungen des Anderen wäre. Es geht um keine Mechanismen im Wechselspiel des Einander, nicht um Vergleichbares mit dem Reiz-ReaktionsMechanismus, wie ihn der Behaviorismus untersucht, der sich als eine empirische Psychologie versteht. Meine Überlegungen richten sich nicht gegen den Behaviorismus, sondern tangieren ihn nicht. Wie Kunst, anders als Wissenschaft, das Unmögliche vermag, zeitigt sie keine physiologisch überprüfbaren Resultate. Vermutlich ist es nicht zuviel gesagt, daß das malende Selbst sich während des Malens dem gemaltwerdenden Bild übereig­ net, dem im Entstehen befindlichen neu zu sehen Gegebenen. Im Wechselspiel von Blick und Anblick bleibt dann freilich eine unaufhebbare Asymmetrie, wie sie bei der wechselseitigen Selbstübereignung im Einander nicht gegeben ist. Die philo­ sophische Klärung des Miteinander des Selbstseins geschieht zwar nicht ohne wissenschaftliche Kenntnisse, zum Beispiel nicht ohne Kenntnisse der Entwicklungspsychologie, aber sie ist selbst nicht wissenschaftlich auf Faktensuche, sondern aus sich schöpferisch. Die lebenskünstlerische Selbstlosigkeit, die, wie ich sie deute, dem Anderen das eigene Selbst zu eigen macht, ist eine Steigerung des Miteinander. Wechselseitig im Anderen das eigene Selbst zu erfahren, ist ein Krönungsstück des Lebens als Kunstwerk, ist praktisch wirksame Poesie. Wer diesem neuartigen Gedanken folgt, wird sich mit einer noch 138 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VII. Die andere Selbstlosigkeit

überraschenderen poetischen Konsequenz konfrontiert sehen: In der vollendeten Selbstlosigkeit wird die höchste Form der Selbsthaftigkeit erkennbar. Belehnt freilich die Mutter ihr Neu­ geborenes mit Selbstsein, dann kann von ihm aus die Antwort keine symmetrische sein. Im belehnten Selbst ist es das Beleh­ nende, das die Antwort gibt: Die Mutter ist es, die für die Vertrauensseligkeit des Kindes einsteht, für Milch, Wärme und Präsenz. Ihr Belehnen ist das Agens, das das Empfinden des Säuglings zu dem ihren macht. Transzendenz ist in Philosophie und Religion gewöhnlich ein Traum, den ein Selbst rein für sich selbst zu seinen eigens­ ten Gunsten träumt. Jetzt aber zeigt sich ein Selbstüberstieg, den es nicht anders als wechselseitig gibt. Um es grob zu ver­ anschaulichen: Im Anderen hat das eigene Selbst nur Platz, wenn der Andere seinerseits mit einem Selbst aufgebrochen ist. Wird gefragt, woran denn erkennbar sei, daß eine künstle­ rische Selbstübereignung gelingt, dann ist nur auf das Faktum zu verweisen, daß in dem Wechselverhältnis des Einen und Anderen die Motivation herrschend geworden ist, das Wohler­ gehen des jeweils Anderen höher zu schätzen als das eigene. Die höhere Wirklichkeit, die die Lebenskunst schafft, ist die höhere Menschlichkeit. Alles selbstische Verhalten ist im Wech­ selspiel der Selbstlosen bzw. der alteritär Selbsthalten von selber ausgeschlossen, so daß Stärkung und Steigerung, die so das Leben erfährt, die des Lebensvertrauens und der Lebensbefähi­ gung sind. Selbstübereignung, wie sie dem Willen entspricht, im Leben das Äußerste für das Leben zu wagen, ist ein charismatischer Akt. Schon das schließt aus, im Gedanken des Lebens als Kunst­ werk den Ansatz zu einem Gesellschaftsmodell zu erkennen. Die Glieder eines Verfassungsstaates insgesamt als eine Ansamm­ lung von Freunden zu sehen, wäre nicht einmal schlechte Utopie, sondern schlicht Unsinn. Das Leben so anzunehmen und ernst zu nehmen, daß einem für das Werk des Lebens fortwährend das Wort aus dem Johannesevangelium gegenwärtig ist »Wir müssen 139 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VII. Die andere Selbstlosigkeit

wirken, solange es Tag ist«, taugt nicht zur allgemeinen Lebens­ devise. Nicht jeder hat offensichtlich den dazu erforderlichen künstlerischen Impetus, wie auch nicht jeder wach für den Kairos künstlerischer Selbstberufung und Selbsternötigung ist. Dem möchte ich entgegenhalten, daß Vitalität nicht das Kriterium sein kann, wer zum Lebenskünstler taugt und wer nicht. Im Prinzip ist jeder dazu fähig, das Leben als ein Werk der Kunst zu schaffen, der wahre Empfindungen hat und für sie einen treffenden Ausdruck sucht und findet.

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VIII. Die freie Künstlerschaft Sich selbst nötig zu werden, ist kein allgemeines Muß, keine »Pflicht gegen sich selbst«, wie es für Kant die Lauterkeit ist. Der Ernst des Lebens unterliegt keinem Imperativ der Vernunft, auch keinem Imperativ des Glücks, und sei es der wohlmeinende »Bereichert euch durch Arbeit und Sparsamkeit« von François Guizot (1787–1874). Kunst bleibt ein Wagnis, zu dem niemand aufzufordern oder auch nur einzuladen hat. Die Berufung zu ihr kann nur Selbstberufung sein. Jede Nötigung von außen wider­ spricht der der Kunst innewohnenden humanen Kompetenz. Lebenskunst ist ihrer Form nach die Teilung des Lebens, ihrem Gehalt nach die Steigerung des Lebens. Beides gehört zusammen. Das Eine ist nicht ohne das Andere zu haben. Dadurch ergibt sich auch die doppelte Freiheit, die diese Kunst prägt: die Freiheit, durch die diese Kunst Kunst ist: die wechsel­ seitige Selbstübereignung; und die Freiheit zu dieser Kunst: den Anderen und sich selbst in dem einzigen und endlichen Leben ernst zu nehmen, sich einander und sich selbst nötig zu werden. Allein so ist die Künstlerschaft des Lebens signifikant nichts, das Mittel für ein Anderes wäre. Das Werk der Lebenskunst in der Einheit von Form und Gehalt, von gelingendem Einander und überhöhter Wirklichkeit, ist das menschliche Nonplusultra, das vollendete Sichgenügen des Lebens. Ein Nonplusultra ist für die Mächtigen im Silicon Valley genau das, was sie nicht kennen und wollen. Für sie gilt die Devise der spanischen Armada, die Joseph Schumpeter zum Motto des von ihm gepriesenen kapitalistischen Unternehmers gemacht hat: plus ultra, was sich im Deutschen auch wiedergeben läßt durch »Nie genug!«. Wer in der banalen Wirklichkeit aufs Äußerste geht, also, was Macht und Geld anbelangt, auf »möglichst viel«, setzt sich notwendig selbst unter Zwang. Allein Kunst, die das banale Wirkliche überbietet, ist frei. 141 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VIII. Die freie Künstlerschaft

Kunst, die das Unmögliche wahrmacht, ist und bleibt ein Wagnis. Das ist keine façon de parler. Sie bringt sich als Kunst in Gefahr. Das plus réel der Kunst ist ein Mehr an Wirklichkeit, kein Mehr als Wirklichkeit. Das muß als Unterschied festgehalten werden: Was Kunst schafft, ist veränderte, auch neuartige, aber niemals ganz andere Wirklichkeit. Die Rede von der ganz ande­ ren Wirklichkeit ist eine poetische, keine wissenschaftliche. Die Wirklichkeit einer wirklichen Lüge, von der Platon spricht, also von einem wirklichen Nichtsein (»Die Lüge sagt Nichtwirkliches als ob es wirklich wäre«), wird von unserem Realitätssinn nicht weniger gut verstanden als die Wirklichkeit, die uns Chemiker als die von molekularen Verhältnissen darstellen. Durch die Kunst besteht nun die Gefahr, ihre Überhöhung des dem Reali­ tätssinn Zugänglichen als Übergang in eine ganz andere Wirk­ lichkeit bzw. in eine ganz andere Welt, wissentlich oder unwis­ sentlich, zu mißdeuten. Die Kunst, die Unmögliches schafft, verläßt nicht die Welt, in der wir leben; sie verändert sie. Das sollten sich auch Metaphysik und Religion gesagt sein lassen. Das realistische Mißverständnis des »Übernatürlichen« ist ein Verrat an den Künsten, die es hervorbringen. In keiner Art und Abart der Kunst, weder im Schamanismus noch Mystizismus, in keiner verzaubernden Selbstbesingung eines Philosophen und in keinem LSD-Rausch eines Künstlers, ebensowenig in einer religiösen Selbstversenkung oder ekstatischen Hingabe verläßt ein Mensch sich selbst und seine Welt. Niemals gerät er in ein reales Jenseits, und dies schon darum nicht, weil es keines gibt. Realität ist ein vom Menschen für den Menschen geprägter Begriff, den er voll zu verantworten hat und auch entsprechend verantworten kann. Wer, geistig bei Sinnen, auf die Realität des Metaphysischen setzt, denkt und spricht widersinnig von Kunst, macht einen irrigen Gebrauch von künstlerischer Freiheit. Kunst ist das Vermögen, am weitesten zu sich selbst auf Distanz zu gehen. Die Philosophie hat sich Schlachten über den Gedanken der Entfremdung geliefert, bevorzugt als ein Kampf zwischen Linken und Rechten, um darüber den Gedanken 142 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VIII. Die freie Künstlerschaft

der Verfremdung zu versäumen. Das Problem des Menschen ist sicher nicht, daß er gegenüber einem orthodox erdachten »Wesen« Minderungen zeigt, wenn nicht »Wesen«-losigkeit, sondern daß er seine künstlerische Freiheit nutzt, sein Ver­ fremdungspotential auszuloten. Geistige Eliten eines halben Jahrhunderts sind von der Entfremdungsgestalt des Menschen geblendet und fasziniert gewesen, die Heidegger ihnen zeigte, obgleich sie in ihr nichts anderes sehen konnten als sich selbst: den geselligen Menschen, der in Gemeinschaften und Gesell­ schaften sein zeitliches und endliches, geistiges und sinnliches, berufliches und geschlechtliches, politisches und kulturelles Leben lebt. Gebrandmarkt als nichtauthentisch, haben sie sich in das angedeutete authentische Leben, nein, gerade nicht Leben, sondern Existieren vernarrt, in ein ekstatisch-zeitloses, schlecht­ weg entindividuiertes »nacktes Daß«, das, um nur dies davon zu sagen, ein irreales Existenzkonzept ist. Sich an Irrealem zu berauschen – ja, wenn das offen Kunst ist, warum nicht? Sagt der in Bayern populäre Kabarettist Weißferdl (1883–1949) gegen Ende des Zweiten Weltkriegs »Wenn alle Stricke reißen, häng ich mich auf« und gleich nach seinem Ende »Jetzt sind die Andern die Andern«, dann war er mit seinem besonderen Sinn für Verfremdung dem menschlichen Menschen ungleich ferner, aber zugleich auch näher als Heidegger, der durch die Besatzungsmächte die Wesensentfremdung des Deutschen, und das meinte für ihn des Menschen, verabsolutiert sah. Kunst bewährt sich als die Freiheit, das Eigene zum Fremden und das Fremde zum Eigenen zu machen, das dem Eigenen Fernste als das überraschendste ihm Nächste zu gewinnen. Es gibt Menschen, die spielen sich selbst, ohne sie selbst zu sein. Ihnen fehlt die Möglichkeit, im Spiel ihrer selbst, sich selbsthaft einzubringen, Sie nehmen dann im Einander Positionen ein, die nicht die ihren sind, ohne sich aber dadurch sich selbst zu entfremden. Sie haben nichts Festes, um zu sich auf Distanz gehen zu können. So frei sie sich auch gebärden, indem sie einmal diese, einmal jene Position einnehmen, so 143 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

VIII. Die freie Künstlerschaft

unfrei sind sie. Das freie Spiel, das sie nach außen spielen, ist nicht das ihre. Es ist der reine Zwang, wie sie zu allem frei sind. Sie sind so das Gegenstück zu den Verfremdungsunfähigen und Humorlosen. Handelt es sich bei diesen um orthodoxe Vertreter geistiger und geistlicher Positionen, dann sind es Leute, die, mit den geschilderten Kranken vergleichbar, unter Zwang stehen. Die Einen wie die Anderen sind unfähig, sich selbsthaft einzu­ bringen. Bei den Orthodoxen ist es der Fundamentalismus, der es ihnen unmöglich macht, ihre Kunst überhaupt als Kunst zu vertreten. Sie sind ihrem »Selbst«-Verständnis nach gar keine Künstler. Bei denen, die zu schwach sind, eine eigene Position einzunehmen, ist Kunst unmöglich das, was sie ist. Anstatt sogar Kunst zu sein, ist sie bloß Kunst. Sie sind unfähig, mit ihrem Spiel ernst zu machen, was für Kunst unerläßlich ist.

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IX. Die andere Endlichkeit Wie es die doppelte Moral gibt, so offensichtlich auch zweiglei­ sige Menschlichkeit: als Großer der sozialen Medien die eigenen Kinder so weit es nur irgend geht vor ihnen zu schützen und zu bewahren, die Restjugend der Welt aber, so weit und so gewinnträchtig es nur geht, zu ihrer Nutzung zu verführen. Üble Bürger und gute Eltern – das geht zusammen. Zweigleisige Menschlichkeit gehört jedoch unmöglich zum Handwerk des Lebenskünstlers. Der Schutz der eigenen Kinder vor den Gefah­ ren der neuen sozialen Medien und die gleichzeitige Ausbeutung der Jugend durch sie liegt als Lebensmanagement auf gleichem Niveau. Weder durch den selbstisch erworbenen Reichtum noch durch die selbstisch erreichte Bewahrung von Eigenem ist eine höhere Wirklichkeit erreicht, ist ein Werk der Kunst geschaf­ fen. Alles ist instrumentalisiert, um vom Leben soviel wie nur möglich zu haben. Das eine wie das andere Verhalten springt einem als völlig banal in die Augen. Der Lebenskünstler wird Lebensteilung und Lebenssteigerung nie auseinanderdividieren. Selbstische Eltern, die eigene Kinder vor dem bewahren, mit dem sie andere heimsuchen, sind auch in Bezug auf die eigenen Kinder keine Lebenskünstler, sondern Lebenstechniker. Den Unterschied macht die Selbstübereignung des Lebenskünstlers, sein Dasein für den Anderen, sein freies Sichverschenken, um gerade darin er selbst zu sein. Geht Leben wechselseitig von einem mea res agitur zu einem tua res agitur über, dann ist es durch Kunst ein anderes geworden; es ist von gesteigerter Wirklichkeit. Schließt es jetzt Banalität und Frivolität aus, auch lähmende Langeweile und blasierte Gleichgültigkeit, dann führt es doch nicht zu Hochmut und Überheblichkeit. Lebenskunst diskriminiert nicht, treibt keinen Keil in die Gesellschaft. Führt in der Selbstlosigkeit grün­ dende Selbsthaftigkeit zu gesteigerter Lebenswirklichkeit, dann 145 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IX. Die andere Endlichkeit

ist mit dem Leben selbst etwas geschehen, das keine Profilierung gegenüber anders gelebtem Leben braucht. Es hat ein neues Verhältnis zu seiner Endlichkeit gewonnen. Muß im Wechsel­ spiel einander übereignender Selbste die Tödlichkeit des Lebens notwendig an Bedeutung gewinnen, dann geht es nicht um das pure Am-Leben-sein, sondern um in wechselseitiger Zuneigung gelebtes Leben, das einen nur schwer benennbaren Wert in sich selbst hat. Liegt die Krönung der neuen Wahrnehmung der End­ lichkeit des Lebens in der neuen Wahrnehmung der Kostbarkeit der Lebenszeit, dann ist im Leben selbst eine Verantwortlichkeit geweckt, die endlichen Möglichkeiten seines Gelingens gemein­ sam zu ergreifen. Ein neuer Ernst wird gegenseitig spürbar, kein lastender, sondern ein strahlender und beflügelnder. Ich bin versucht, mich des vorreligiösen Gebrauchs des Adjektivs heilig zu bedienen: Es ist ein heiliger Ernst, der den Wert, den das Leben in sich selbst gewonnen hat, am besten benennt. Wer, in seltenen Augenblicken, in jenem Ernst gemeinsam mit dem Tod lebt, lebt dann nicht profan, was wörtlich heißt: vor dem heiligen Ort, sondern in ihm. Der Tod ist wirklich der erstaunlichste Gesell des Lebens. Er ist es, der am sichersten die Unbeantwortbarkeit der Frage, die der Mensch sich selbst ist, garantiert. Damit ist er aber auch der erste Promotor aller Kunst, die sich dazu herausgefordert sieht, dieser Unbeantwort­ barkeit Gestalt zu verleihen. Der Tod als Partner des Lebens hat im Unterschied zu lebenden Partnern die Eigenart, nicht austauschbar, nicht verabschiedbar zu sein. Er ist auch intimer als alles, was Freundschaft und Liebe vermögen. Sein Status als unübertrefflicher Intimus sichert ihm aber auch eine Sonderrolle unter Freunden und Liebenden zu: Der Tod des Anderen, wie er als gewiß und jederzeit möglich gegenwärtig ist, wird wichtiger als der eigene, weil die Intimität der Lebenden die je eigene Intimität des Todes von ihrer Vereinzelung befreit. Gerade im Zusammenleben von einander Nächsten gewinnt die Tödlichkeit des Lebens die größte Stärke ihrer verbindenden Kraft. 146 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

IX. Die andere Endlichkeit

Ist der Tod der Schlüssel zur Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage, dann ist er es, der das Nichtwissen verwaltet, das das Leben trägt, ja nicht nur trägt, sondern steigert. Wird für gewöhnlich nach dem Sinn des Lebens gefragt, dann zielt das auf eine Antwort, die Höheres und Tieferes sagt, als sich methodisch aufspüren läßt. Gibt aber das französische sens d’une étoffe vor, was mit Sinn des Lebens angesprochen sein soll, »Sinn« wie der »Strich« des Lebens, dann gehört zum Sinn des Lebens nie das Leben allein, sondern auch der Tod. Das Leben ist als Leben nie nur zukunfts-, sondern stets auch todwärtsgerichtet. Wer als Künstler zu erwirken versteht, daß ihm sein Leben und mit ihm er sich selbst notwendig wird, der versteht sich auch darauf, daß ihm die Endlichkeit des Lebens ein Leben lang eine freie Notwendigkeit ist, nicht anders als der Eintritt des Todes selbst, wenn er – alters- oder krankheitsbedingt – an der Zeit ist. Vollzieht sich ein Tod als Abschied, dann ist er ein Abschied von Anderen, zumal Nächsten, nicht zuletzt aber ein Abschied von sich selbst. »Ich brauche mich nicht mehr« – nein, das weiß kein Toter zu sagen, da er, ohne Selbst, für sich unmöglich tot zu sein vermag. Daß einer tot ist, wissen nur Lebende. Was sie da aber wissen, ist immer neu das unser Leben tragende Nichtwissen, das uns die Möglichkeit eröffnet, das Leben als Künstler zu wagen.

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5. Zukunft des Humanum

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I. Zukunft? Geht es weiter? Kommt noch etwas? Hat der Mensch noch etwas vor, hat er noch eine Chance? Nein, das alles ist zu unge­ fähr gefragt, vor allem zu großspurig. Ich habe nicht vor, zum Ende Propheten einzuladen, geschweige denn mich selbst zu einem solchen zu berufen. Ich staune über die Zeitperspektiven der Astrophysiker und Genetiker. Ich staune – und versuche, etwas davon zu verstehen, ja ihre Faszination zu teilen. Doch das sind auf keinen Fall meine Perspektiven. Ich habe keine Millionen Jahre Zeit, um abzuwarten, daß unser Großhirn sich ändert und wir unsere Aggressivität abbauen. Den Sonnentod der Erde ziehe ich ins Kalkül ein, aber ich lasse es auf sich beruhen, ob es zumindest dann mit dem Menschen zu Ende ist, oder ob er, wie Ausnahmewissenschaftler vorschlagen, sich bis dahinauf einen haltbareren Planeten verzogen hat. Über Kurzzeitperspektiven wundere ich mich eher, als daß ich über sie staune. Sie betreffen nicht das Menschengeschlecht, sondern die menschliche Gesellschaft. Jetzt sind es gern Soziologen, die das Wort ergreifen. Sie versuchen uns darauf vorzubereiten, was demnächst sein wird. Kein Nach-uns ist gemeint, wie es für Menschen ab siebzig gälte. Sprach Heidegger einst davon, daß es jetzt auf die Dreißig- und Vierzigjährigen ankomme, die gelernt haben »wesentlich zu denken«, so sind es jetzt Dreißig- und Vierzigjährige, die im Jetzt, nämlich im jetzigen Entwicklungs­ stand der Künstlichen Intelligenz, erkennen, was demnächst die gesellschaftlichen Verhältnisse in revolutionärer Neugestaltung prägen wird. Da scheint mir dann doch der Sonnentod der Erde und die Entwicklung des menschlichen Großhirns noch beach­ tenswerter zu sein, als was in dem wissenschaftlichen Milieu der Demnächst-Prognostiker als Zukunft des Menschen zum Vor­ schein kommt. Fixiert auf sozialtechnologische Entwicklungen und die Zwangsläufigkeit ihrer sozialen Gestaltungskraft, was 151 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

I. Zukunft?

insbesondere im Politischen und Ökonomischen blinde Flecken hinterläßt, ist die Einseitigkeit ihrer Perspektive so gut wie perfekt. Sie ist unmöglich die meine. Im Selbstverständnis des mächtigsten Geistes der Zeit ist er es, der die Schlüssel zur Zukunft des Menschen in den Händen hält. An seiner zur Zeit im Silicon Valley konzentrierten Markt­ macht soll es liegen, was möglich ist und was wirklich wird. Daß der Mensch eine andere Zukunft haben könnte als die von ihm verwaltete und betriebene, ist für ihn unvorstellbar. Ohne mir Gedanken über ein wirksames Verneinungspotential zu machen oder gar an Strategien zu denken, die zu seiner Entmachtung, zumindest zu seiner Schwächung führen könnten, stelle ich nur fest, daß die Zukunft, die der mächtigste Geist derzeit uns verspricht, nicht die des Menschen ist, den ich in seinem lebendigen Gelingen vor mir sehe. Wie wäre es, wenn man nach der Zukunft dieses Geistes fragte: Wird er, wie anzunehmen, an Mächtigkeit noch zunehmen, dann aber vielleicht implodieren oder gar, weil seine führenden Agenten sich von ihm abwenden, selber abdanken und von selbst verschwinden? Ist andernfalls an seine Verjagung zu denken? Nein, ich gehe nicht auf die Straße. Das Zukunftsvertrauen, das zu meinem Lebensvertrauen gehört, schließt auch das Vertrauen in »den Menschen« ein. Für den Augenblick stehe ich zur Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: zur Unvereinbarkeit des Digital-Kapitalismus und des Lebens als eines Kunstwerks.

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II. »Schule des Lebens« Arbeitet der Mensch, um feiern zu können, oder feiert er, um arbeiten zu können? Aristoteles ist es, der das fragt, und seine klare Antwort lautet: Er arbeitet, um feiern zu können. Das Leben, das sich als sich selbst feiert, ist das Ziel, nicht das Leben, das sich instrumentalisiert, um zuerst schon einmal sich selbst zu erhalten. Beides ist nötig, das Arbeiten und das Feiern, letzteres aber ist in einem höheren Sinne nötig. Erst im Leben als Fest erfüllt sich das Humanum. Es ist eine Frühform menschlicher Kultur, daß der helle Tag der Arbeit und Selbsterhaltung gehört, der lichte erste Teil der Nacht aber der entspannten Geselligkeit. Geschichten werden erzählt, es wird gesungen, getanzt. Tags haben die Bauern und Handwerker ihre Zeit, mit Anbeginn der Nacht die Musen. Tags nutzten Arbeitende das Feuer für Wärme und Hitze, nachts die gesellig Feiernden für Licht. Prometheus hatte es, wie der Mythos erzählt, gegen den Willen des höchsten Gottes aus dem Himmel geholt. Wie Platon den Mythos im Dialog Protagoras aufgreift, genügten die Handwerkskünste nicht, den Menschen zu erhalten. Er konnte sich zwar jetzt feste Häuser und Städte bauen, um sich gegen Naturgewalten und wilde Tiere zu schützen, aber das war nicht Schutz genug. In den Städten wurde die Gefahr besonders groß: Der Mensch ging auf den Menschen los. Es fehlte die Kunst, sich im Miteinander zum wechselseitigen Füreinander zu verbinden. Dazu bedurfte es, folgen wir Platon, einer Kraft die von innen, und einer Kraft, die von außen wirkt: der Scham (aidôs) und des Rechts, das ein Gesetz garantiert (dikê). Das sind Vorbedingungen des Humanum. Für die Möglichkeit, daß es unter Bürgern lebensför­ derlich zugeht, bedarf es der staatlichen Rechtsherrschaft und der Sittlichkeit, die ein gesittetes Aufwachsen voraussetzt. Das griechische Wort für Scham ist verbunden mit den Bedeutungen Achtung, Ehrfurcht, Scheu. Das Feuer aus dem Himmel ist 153 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. »Schule des Lebens«

nicht alles (Lenin: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektri­ fizierung des ganzen Landes«), das Smartphone ist nicht alles. Nichts von diesen Mitteln, das Leben zu erhalten und angenehm zu machen, trägt von sich aus irgendetwas zum menschlichen Gelingen bei. Nun könnte man einwenden: Bei diesen Dingen käme es auf den Gebrauch an, den man von ihnen macht. Das ist der alte Freibrief für wissenschaftlich-technische Produkte: Über ihre Moral entscheidet einzig der Nutzer. Doch Silicon Valley läßt ja seine führenden Konzerne dadurch so ungeheuer wachsen, daß sie die Manipulierung der Nutzung übernommen haben. Die primäre Absicht bei der Instrumentalisierung des Nutzers für ein Leben, das sich auszahlt, ist seine Instrumenta­ lisierung für den eigenen Gewinn. Lebenserhaltungs- und Gestaltungsmittel vom Feuer bis zum Gesetz, vom Telefon bis zu Tischsitten haben bei aller Verschiedenheit einen gemeinsamen Nenner: Sie haben als die Mittel, die sie sind, aus sich selbst nichts, das für lebensteiliges Gelingen spricht. Im besten Falle dienen sie einem geregelten Miteinander. Der Mensch aber bedarf zu seiner Erfüllung als Mensch des das Leben steigernden Füreinanders. Soll nach Pla­ ton jedem einzelnen Bürger für seinen göttlichen Teil von einem höchsten Gott Scham und Recht zuteil werden, um das gegensei­ tige Sichbekriegen in ein miteinander Auskommen zu wenden, dann dient auch das einzig der Erhaltung des Lebens, nicht seiner Steigerung, die von eigener Notwendigkeit ist. Gesetzgebung, und zwar politische Gesetzgebung, ist eine der großen Errun­ genschaften der Menschheit, vorausgesetzt, es ist ein mit dik­ tatorischen Vollmachten ausgestatteter »Versöhner« wie Solen am Werk, der ohne jeden Eigennutz, wofür er verspottet wird, Gesetze und Verfassung zugunsten menschlicher Verträglichkeit ändert. Aber auch die gute Gesetzgebung und gute Verfassung, ja selbst die politische Kunst der guten Staatsführung vermögen nicht mehr, als Ordnung in den Umgang des Menschen mit dem Menschen zu bringen, die für das Miteinander zuträglich ist. Das alles ist Kunst, das Leben zu bewältigen, nicht aber es zu 154 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. »Schule des Lebens«

feiern und zu überhöhen. Projekte und Utopien wie die gerechte Gesellschaft, die klassenlose Gesellschaft, die herrschaftsfreie Gesellschaft haben überhaupt nicht die Vollendung menschli­ chen Gelingens im Sinn, sondern allein das Funktionieren des Miteinander unter gleichen Bedingungen für alle. Allein schon die Gleichmacherei hätte die Projektierer und Utopisten stutzig machen müssen, diese Einebnung der belebenden Ungleichheit und Andersartigkeit. Wie meine stärksten Bedenken gegen Para­ diespoesien, die von Freundschaft: zwischen Kuh und Bärin, friedlicher Nachbarschaft von Lamm und Wolf träumen, wie es der Prophet Jesaja verkündet, darin bestehen, daß sie statt Lebensphantasien allein Todesphantasien freien Lauf lassen, so sehe ich auch Sehnsuchtsentwürfe menschlichen Funktio­ nierens, wie sie philosophisches Erdenken zustande bringt, eher vom toten als vom lebenden Menschen inspiriert. Kants »eigentliches Selbst«, das nurmehr rein vernünftig will, aber nicht mehr in die Lebenswelt hineinwirkt, ist eine typische Totgeburt. Das alles läuft aber schon deswegen unbeabsichtigt in eine falsche Richtung, weil diese die realen Möglichkeiten überbietenden Projizierungen nicht zu einer Überhöhung der Lebenswirklichkeit und Steigerung der Lebendigkeit führen und führen wollen. Sie haben, provokant gedeutet, die absolute menschliche Hygienik im Sinn, die, wie René Spitz es in dem Begriff »Hospitalismus« zusammengefaßt hat, nicht nur irrepa­ rable psychosomatische Störungen nach sich zieht, sondern nicht selten einen letalen Ausgang findet. Wie Gesetzgebung, so ist auch Gesittung eine der gro­ ßen Errungenschaften der Menschheit. Sie aber scheint weiter zurückzureichen als Recht und Gesetz. Sind der Boyscout, der mindestens einmal am Tag etwas Gutes tut, und das Wort »Bitte!« am Frühstückstisch, um etwas gereicht zu bekommen, höhere Wirklichkeit, etwas, das das Gewohnte und Dumpfe des alltäglichen Miteinander überstrahlt, nicht zu reden vom spanischen Hofzeremoniell von einst? Nein, Gesittung gehört zur menschlichen Art der besseren Lebensbewältigung. Tafelt 155 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. »Schule des Lebens«

eine französische Großfamilie am Nebentisch, dann ist, wie wir erfahren haben, die »Wohlerzogenheit« der Kinder ein großes Plus, um selber gemeinsam angenehm zu speisen. Die Predigt des Sittlichen kann aber auch so erfolgen, daß sie nicht nur niemandem nützt, sondern unweigerlich schadet. Man denke nur an die Kadettenanstalten in wilhelminischer Zeit. Die kri­ tische Frage ist, ob Moral dem gelebten Leben entnommen oder dem zu lebenden Leben aufoktroyiert wird. Die in zwei Büchern der Tora aufgezeichneten Gebote für menschliches Verhalten im Nahbereich sind ganz dem gelingend gelebten Leben entnommen. Da wird ausschließlich das im familiären und nachbarlichen Bereich zu tun und zu lassen »geboten«, was in ihm, soll das Miteinander gelingen, seit eh und je getan und gelassen wird. Das »Gebot« des Alten und Neuen Testaments »Liebe deinen Nächsten als dich selbst« ist für ein fröhliches Temperament reinste Lebenswirklichkeit. Legt freilich der Evangelist Matthäus Christus in den Mund, der dabei ist, die »Zehn Gebote« auszulegen, daß der, der seinen Bruder einen Dummkopf schimpft, das Höllenfeuer verdient, dann ist das nun wirklich am menschlichen Leben vorbeigeredet. Moral, die nicht gelingendem Miteinander entstammt, ist eine Moral Von-oben, ob sie in heiligen Schriften formuliert, von Puritanern erdacht, von Theologen auf Ethikkommissionstagungen vertre­ ten oder von Philosophen aus reiner Vernunft extrahiert wird. Jede Von-oben-Moral aber ist ihrer Natur nach eine doppelte: Wer sie vertritt, will »Untere« domestizieren, disziplinieren, ja scheitern lassen, und zur Beichte und Reue zwingen, ohne sich selbst an sie gehalten zu sehen. Radikale Tierschützer, radikale Veganer, radikale Abtreibungs- und Selbsttötungsgegner – das zeigt, wie doppelte Moral zur herrschenden wird: zur Moral des herrschenden Zeitgeists. Eine sichtbare weibliche Brustwarze und das gesprochene Wort »nigger« sind im amerikanischen Fernsehen die Höchststufe des Tabuisierten, ohne doch damit etwas zugunsten der Frauen und der Afroamerikaner im Sinn zu haben. Im Land der political und der gender correctness ist die 156 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

II. »Schule des Lebens«

doppelte Moral auf dem Weg zur absoluten Herrschaft, gefestigt durch eine künstlich erzeugte Öffentlichkeit. Die nicht dem Leben entnommene und mit Gewalt welcher Art auch immer sich durchsetzende Von-oben-Moral ist lebens­ praktisch von größerem Übel als schlechte Politik. Politik ist eindeutig instrumentalisiert für Lebenserhaltung und Lebens­ erleichterung. Moral jedoch, die dem Leben entnommen ist, stellt kein Instrumentarium dar, das Leben zu disziplinieren, sondern ist die gelebte »Schule des Lebens«. Sie ist keine norma­ tive Moral. Die Schule des Lebens allein hat generative Kraft für Lebensregeln, die dem Leben gerecht werden. Im gelingen­ den Miteinander und Füreinander von selbst erzeugte Regeln bestimmen nicht von oben und außen, sie sind Sedimente des mitwisserschaftlich in gemeinsamem Gelingen und Mißlingen gebildeten Gewissens. Doppelzüngige Moral als instrumentali­ sierte Moral und Moral aus der Schule des Lebens als gelebtes Humanum ergänzen sich nicht, sondern stehen gegeneinander. Ideologien und Religionen, die ihre Vorstellungen vom mensch­ lichen Leben zu Normen gestalten, haben kein Recht, sich zu Erziehern des Menschen zu berufen. Der dem Menschen allein zuträgliche und förderliche Lebenserzieher ist die Schule des Lebens. Da hört die Instrumentalisierung der Moral auf. Das dem Leben entnommene »moralische« Leben ist kein gesetzge­ treues, pflichtgemäßes, sich höherem Willen unterwerfendes, sondern das von einem Ensemble von Selbsten gelebte, das sich auf die Mitwisserschaft seines Gelingens gründet. Die Zukunft des Humanum ist nicht dem technologischen Fortschritt überantwortet, auch keinen politisch-gesetzlichen und mora­ lisch-normativen Mitteln, diesen Fortschritt zu sichern, sondern dem Miteinander und Füreinander des geteilten Lebens. Sie ist der Lebenskunst überantwortet, die einzigartig das Leben steigert und die Lebenswirklichkeit überhöht, nicht aber der Technokratie, die ihre verführerischen Lebensmittel zum Zweck des Lebens macht. 157 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Künstliche Intelligenz contra menschlicher Mensch – ein Satyrspiel Maschinen, so die Überzeugung des mächtigsten Geistes der Welt und der durch ihn Verführten, erleichtern das Leben. Gelänge es dem Menschen, ganz Maschine zu werden, dann wäre er gänzlich erleichtert: Er wäre Maschine und nicht mehr Mensch, nicht mehr maschinenbedürftiger Mensch. Die Maschine hätte und brauchte den Menschen, nicht der Mensch die Maschine. Doch so ist es nicht, und so kommt es auch nicht. Es kommt noch schlimmer, falls es denn so kommt. Wenn eine Innovation des technologischen Fortschritts in höchster Blüte steht, dann, so wußte es Joseph Schumpeter, verwelkt sie auch schon, selbst wenn sie sich noch eine gute Weile verkaufen läßt. Die neuen sozialen Medien haben verführt und verführen noch weiter. Sie haben neben Schäden, darunter irreparablen, unermeßlichen Reichtum gebracht und tun das weiter. Doch jetzt ist künstliche Intelligenz im Kommen und ist auch schon da, die nicht beim Verführen bleibt. Mit ihr kommt die Gewalt. Sie soll den Gewalthabern zur absoluten Herrschaft über die an Künstlicher Intelligenz Unterlegenen dienen, zur Überwältigung von Menschen durch Menschen. Kommt es dazu, wird sich der Mensch dadurch, anders als Stephen Hawking mutmaßte, nicht abschaffen. Der »Beste« in Künstlicher Intelligenz würde der Mächtigste und der mit Erfolg Gewalttätigste sein. Aristoteles beginnt seine Metaphysik mit einem unüber­ bietbaren anthropologischen Allsatz: »Alle Menschen streben von Natur nach Erkennen und Wissen«. Vor dem Kollegienge­ bäude I der Freiburger Universität ist das dem Aristoteles, der links neben der Treppe zum Haupteingang sitzt, auf Griechisch mitgegeben: Pantes anthrôpoi tou eidenai orgegontai physei. Rechts gegenüber sitzt Homer. Bei dem ist zu lesen: Aien aristeuein kai hypeirochon emmenai allôn, »Immer edel zu sein 158 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Künstliche Intelligenz contra menschlicher Mensch – ein Satyrspiel

und den anderen überlegen«. Jeder Mensch will, ja soll wissen; Jeder Mensch will, ja soll anderen überlegen sein. Die Künstliche Intelligenz, so scheint es, wird beides in eins endgültig besorgen. Das Wissenwollen und das mit ihm aufs innigste verbundene Herrschenwollen kennen von sich aus keine Grenze. Alles, aber auch wirklich alles Wißbare wissen zu wollen – dahinter steckt die feste Absicht, alles, aber auch wirklich alles selber machen zu können – bis hin zum Leben und zur Ingangsetzung einer Kosmogonie. Eine Mäßigung des Wissenwollens und eine damit verbundene Einschränkung des technisch Machbaren sind Wissenschaft und Technik nie in den Sinn gekommen. Das plus ultra gilt ihnen als Auszeichnung, was sie auch so gut dazu fähig macht, mit dem plus ultra von Industrie und Markt zu kooperie­ ren. Auf einem Philosophiekongreß zum Thema »Wissenschaft« vor Jahrzehnten erhielt ich mit meinem Vortrag, der das unmä­ ßige Wissenwollen problematisierte, keine Chance. Es bleibt jedoch bedenkenswert, ob in dem so eingängigen Anfangssatz der aristotelischen Metaphysik nicht bereits ausgesprochen ist: »Der Mensch will das Rätsel, das er sich selbst ist, lösen und damit sich selbst zerstören«. Bei der Vielfalt gegenwärtiger Visionen, was Künstliche Intelligenz einst alles können und zeitigen wird, werden immer wieder einmal ihre »menschlichen« Züge herausgestellt. Dafür hält man sich gerne an »kreative« Möglichkeiten dieser Intelli­ genz. Der Mann bei Google, der sich zur Zeit um so etwas kümmert, Ross Goodwin, weiß dadurch den Menschen befreit. Er bleibt derjenige, der Künstliche-Intelligenz-Kunst macht. Die Maschinen seien »nur Erweiterungen unseres Selbst«, sie schafften nicht »aus sich selbst«. Kritisch gefragt, ob das denn wirklich Zeichen von Kreativität sei, weiß er entwaffnend zu antworten: »Wir Menschen sind doch auch nichts anderes als denkende Maschinen, die die Welt betrachten und Daten inter­ pretieren.« So zu lesen im Mai des Jahres 2018 in einer großen deutschen Tageszeitung. Doch die vereinte Unbedingtheit von Wissenwollen und Überlegenseinmüssen hat jüngst eine andere 159 https://doi.org/10.5771/9783495997376 .

III. Künstliche Intelligenz contra menschlicher Mensch – ein Satyrspiel

Fährte aufgenommen: den Kampf um die intelligenteste und damit mächtigste Maschine, was nur eine autonome Waffe sein kann, die allen anderen überlegen ist. Ziel ist die Suprematie, die zur Zeit die eines Staates wäre. In diesem Falle würde das atomare Patt nicht durch ein Patt autonomer Waffen ergänzt und überhöht, sondern die Differenz von Herrschenden und Beherrschten zur globalen Realität. In Anbetracht dieser Mög­ lichkeit wird es nötig, neu über Verführung nachzudenken. Die neuen Gewalthaber verführten durch ihre Gewalt niemanden. Sie wären, so mein Verdacht, selber die Verführten. Bei ihnen hilft freilich keine Poesie des Teufels mehr, um Menschliches, ja Allzumenschliches zu veranschaulichen. Nichts außerhalb von ihnen und über ihnen läßt sich erdenken und erdichten, das sie zu ihrem unseligen Tun verführte. Sie könnten es nur selbst sein – einem Unbedingten der menschlichen Natur freie Bahn verschaffend. Das wäre nun aber doch ein geradezu teuflisches Produkt des Nachdenkens, dem Menschen zu bescheinigen, daß in seiner Natur die Selbstverführung zur Selbstzerstörung liegt. Nein, darin erkenne ich keine Notwendigkeit. Sicher, ein Optimum und Maximum Künstlicher Intelligenz, wäre es machbar, ließe dem menschlichen Menschen keine Chance. Doch die Unbedingtheit des technologischen Fortschritts muß nicht sein, ist kein Programm eines Gottes oder Teufels, auch kein Programm einer evolutionären Natur. Die einzige Notwen­ digkeit, die ich für möglich und nötig halte, ist die durch die Selbstberufung zum Künstler gegebene: Der Mensch wird sich als Künstler nötig, und dies allem zuvor dazu, das gelebte Leben zu einem Werk der Kunst zu machen, der Kunst, es miteinander zu teilen.

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