Vor dem Ende … – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lichen) [1 ed.] 9783737015417, 9783847115410


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Vor dem Ende … – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lichen) [1 ed.]
 9783737015417, 9783847115410

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Poetik, Exegese und Narrative

Studien zur jüdischen Literatur und Kunst

Poetics, Exegesis and Narrative Studies in Jewish Literature and Art

Band 18 / Volume 18

Herausgegeben von / edited by Gerhard Langer, Carol Bakhos, Klaus Davidowicz, Constanza Cordoni

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed. / The volumes of this series are peer-reviewed.

Christoph Augustynowicz / Christof Paulus (Hg.)

Vor dem Ende … – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lichen)

Mit 8 Abbildungen

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Historischen Seminars der LMU München, des Dekanats der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und des Rektorats der Universität Wien. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Luca Signorelli: Ausschnitt aus dem Fresko »La predicazione dell’Anticristo« (1502/03) in der Kapelle San Brizio im Dom von Orvieto. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5200 ISBN 978-3-7370-1541-7

Inhalt

Christoph Augustynowicz / Christof Paulus »Vor dem Ende …« – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lichen). Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Anne Louise Nielsen Das Motiv des Antichrist im filmischen Werk von Lars von Trier . . . . .

23

Gerhard Langer Der »Messias der arischen Lüge«. Der »Antichrist« in Soma Morgensterns »Blutsäule« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Christoph Augustynowicz … sont si malpropres, que leur mine fait horreur a ceux, qui les regardent. Diskursive Spuren des Antichristlichen in der Wahrnehmung von Juden in Reiseberichten über Polen-Litauen im 17. Jahrhundert . . . . . . . . .

61

Claudia Märtl Der Antichrist im Kirchenstaat. Luca Signorellis Fresken im Dom zu Orvieto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Daniel Luger Der Teufel als Bittsteller – Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im spätmittelalterlichen Suppliken- und Gerichtswesen im Spiegel des »Processus Luciferi contra Jesum Christum« . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Christof Paulus Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea und der Antichrist. Deutsche Berichte, der spätmittelalterliche Antichrist-Bildertext und die dissimulatio des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

6

Inhalt

Ingrid Würth Weltenrichter Konrad Schmid und der Papst als Antichrist. Endzeitvorstellungen der thüringischen Geißler im 14. und 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Meta Niederkorn-Bruck Visionen und Dämonen. Die Angst vor den Einflüsterungen des Teufels im spätmittelalterlichen monastischen Reformdiskurs . . . . . . . . . . . 145 Simon Degenhart Satellites Antichristi? Vergleichende Studien zum abendländischen Mongolenbild im 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Isabel Grimm-Stadelmann Zoe. Purpurgeborene Prinzessin, Kaiserin und Alchemistin mit antichristlichen Zügen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Christoph Augustynowicz / Christof Paulus

»Vor dem Ende …« – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lichen). Eine Einleitung

Während der Gräuel des Ukraine-Kriegs hörte man sie wieder lautstark: die »unheilige Rhetorik«, Bilder des Weltendes heraufbeschwörend. Von Seiten der ukrainisch-orthodoxen Kirche wurde der russische Präsident Putin als »Antichrist der Gegenwart« bezeichnet. In einem Interview gegenüber der »Welt« vom 13. März 2022 erklärte etwa Erzbischof Evstratiy, das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche in den an der Grenze zu Belarus liegenden Städten Tschernihw und Nischyn, für ihn sei der russische Präsident ein Antichrist, zwar nicht der Antichrist der Bibel, sondern ein Antichrist im Sinn eines vollkommen gottlosen Menschen. Auf die Nachfrage des BBC-Reporters Harry Farley erklärte der Sprecher der ukrainischen orthodoxen Kirche in ähnlicher Weise: Putin sei deshalb der Antichrist, weil er gänzlich gegen die Bibel und Gottes Gebote handle – ein Vorwurf der selbstverständlich auch zum Ziel hatte, den russischen Präsidenten in seinem christokratischen Selbstverständnis zu treffen. Jeff Kinley, Autor des 2020 erschienen »Interview with the Antichrist. His Time has come«, war für manche amerikanische Medien 2022 wieder ein sehr gefragter Gesprächspartner. Doch auch die seriöse »Washington Post« titelte am 10. März 2022: »Russia’s war on Ukraine has some Christians wondering: Is this the end of the world?« Die Gegenseite bediente sich ebenfalls des apokalyptischen VerbalRepertoires, nicht erst seit Beginn des Ukraine-Kriegs. Auf dem russischen Internetportal Katehon – eine »anti-antichristlich« benannte (2 Thess 2,6 und 7) Plattform von Oligarchen, Monarchisten und radikalen Vertretern der russischorthodoxen Kirche – wurde die historische Chance beschworen, zum großen Schlag gegen den Antichrist des Westens, vor allem gegen Amerika, auszuholen1. Die auf ukrainische Kirchen fallenden russischen Bomben stellte Metropolit Mitrofan von Murmansk im März 2022 in den Zusammenhang eines heiligen Kriegs gegen den Antichrist, wie die norwegisch-russische Exilzeitschrift »Barents Observer« am 25. März berichtete. 1 Vgl. den Beitrag/Kommentar (»Putin verstehen«) von Volker Weiß im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 9. April 2022.

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Christoph Augustynowicz / Christof Paulus

Diese apokalyptische Anthologie aus einer ungeheuerlichen Gegenwart soll zum Leitthema unseres Bands überleiten – der Analyse scheinbar zeitloser, bei genauerer Betrachtung jedoch sehr zeitbedingter Endzeitdiskurse. Durch das diskursive Wirken des Antichrist(lichen) wird Gegenwart automatisch und inhärent zur Endzeit. Vor rund einem halben Jahrtausend hatten bereits Martin Luther und andere Reformatoren das Papsttum oder zumindest dessen exponierte Vertreter als Antichrist identifiziert und sich dabei des Verbreitungsmediums des noch relativ jungen Buchdrucks bedient, nicht ohne vice versa selbst vom Heiligen Stuhl entsprechend klassifiziert worden zu sein2. Auch heute – Jahrhunderte nach der radikalen Antithetik der konfessionellen Jahrzehnte – scheinen die Figur des Antichrist und die Beschäftigung mit ihm ganz generell »mit dem eigenen, existentiellen Erlebnishorizont verbunden zu sein. Wird dieser als gefährlich empfunden – in welcher Weise auch immer, als Katastrophe oder Bedrohung – wird der Antichrist zum Erklärungsmodell.«3 Der Antichrist ist Feindbild-Folie in Situationen empfundener Bedrohung. Ihre metonymische Dichtheit, die geradezu zur Biographie4 einladende Aktualität bezieht sie aus ihrer engen Verbindung zum Motiv des Weltuntergangs und der Verdammnis sowie zu den damit zusammenhängenden »geschichtstheologischen Grundlagen westlich-abendländischer Kultur«5. Ereigniskonjunkturell besonders stark zentriert wurde ein entsprechender Diskurs etwa auf die Ereignisse des 11. September 2001; der Antichrist wurde und wird in diesem Zusammenhang (wieder) als Vorbote des Weltuntergangs und der häufig zitierten Apokalypse aufgefasst, seine Fratze von manchen sogar in den Rauchwolken des Worldtrade-Centers entdeckt/erkannt. Gleichzeitig ist der Antichrist damit aber in die Argumentation für die Verzögerung des Weltunterganges eingebettet, wurde er doch lange als Weg und Mittel zur Parusie, zur unmittelbaren Wirkmächtigkeit Gottes, gesehen. Derartige Interpretationen gab es bereits in der frühen christlichen Literatur, etwa bei Tertullian im 2./3., dann besonders pointiert und einflussreich bei Augustinus im 4./5. Jahrhundert6. Im 7. Jahrhundert wurde die Figur des Antichrist im byzantinischen Reich unter den Vorzeichen der Bedrängung durch die arabische Expansion zum Inbegriff des Schreckensherrschers vor dem alles entscheidenden Endkampf zwischen Gut und Böse. Ihren Höhepunkt erfuhr ihre 2 Vgl. Rublack, Reformation, deren These von der antichristlichen »Überzauberung« der Welt in Folge des Protestantismus allerdings nicht unwidersprochen blieb. – Zur breiteren Kontextualisierung vgl. nun Oelke, Papst; Buck, Monster; Hille, Antichrist. 3 Hillerbrand, Antichrist, 49. Vgl. in Auswahl etwa auch das unvollständige »Lesebuch« von Wieser u. a., Apokalyptik; ferner statt vieler die Sammelbände: Aertsen/Pickavé, Ende; Moser/ Zwahlen, Endzeiten; Bjork, Catastrophes; Ehrich/Worm, Geschichte; McAllister, Companion; Weitbrecht/Bihrer/Felber, Zeit. 4 Vgl. Almond, Antichrist. 5 Fried, Dies irae, 10. 6 Als weiteres Beispiel vgl. Mathieu, Kaiser.

Einleitung

9

narrative Ausgestaltung im 10. Jahrhundert durch den späteren Abt von Montieren-Der, Adso7; die Jahrtausendwende wurde in ganz Europa zum Kulminationspunkt antichristlich-endzeitlicher Erwartungshaltungen8. Weitere Konjunkturen sollten in kurzer Schlagzahl, doch unterschiedlicher Frequenz und Amplitude folgen9. Die gleichsam übergeschlechtliche(n)10 Antichrist-Figur(en) war(en) weithin bekannt und eingesetzt. Sie eröffnen somit den Blick auf interkulturelle Bezüge zwischen Ländern, Ethnien und Religionen. Vielversprechende Forschungsansätze betten die Figur synthetisch und interkulturell noch weiter ein und spannen den Bogen von jüdischen Endzeiterwartungen an der Wende vom 3. zum 2. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart11. Gesucht und gefunden wurde der Antichrist somit seit der christianisierten Spätantike in den machtpolitischen Konfigurationen des jeweiligen Kontextes und den entsprechenden Exponenten: Justinian war einer. Friedrich II. von Hohenstaufen der berühmteste. Oder auch – bei Weiterwirken joachimitischer geschichtstheologischer Gedanken – Bonifaz VIII.12, ferner der walachische Woiwode Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea13 und viele weitere Protagonisten in besonders spannungsvollen Zeiten. Antichristen – nun bewusst im Plural und somit auf dem Weg zur Beliebigkeit oder zumindest zur kulturwissenschaftlich so fruchtbaren und aufschlussreichen, noch näher auszuführenden Übercodierung – bevölkern das literarische und historische Mittelalter. Der Antichrist kämpfte im geistlichen Spiel des Hochmittelalters14 und stand im 15. Jahrhundert auf der Bühne des städtischen Fastnachtspiels, wo er mutatis mutandis bis ins 19. Jahrhundert verharren sollte15. Hatte John Wyclif im späten 14. Jahrhundert den Antichrist als Anlassgeber und Veranschaulicher für die Notwendigkeit einer Kirchenreform gesehen16, so wurde die Figur im frühen 16. Jahrhundert nicht länger einer individuellen, sondern neuerdings einer institutionellen/institutionalisierten Person/Persönlichkeit zugeschrieben17. Rasch wurden die Gestalt und das Wirken des Antichrist zu unverzichtbaren Bedingungen für ein erwartetes Friedensjahrtausend, das wiederum grundlegend für die großen gesellschaftlichen Utopien der (frühen) 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Leppin, Antichrist; Ivanov, Text. Statt vieler Fried, Endzeiterwartung; ders., 999 Jahre; Möhring, Renovatio imperii. Hier nur zum 12. Jahrhundert: Potestà, Tempo; Stürner, Friedrich II. Gow, (En)gendering Evil. Hierzu McGinn, Antichrist. Hierzu nun Ficzel, Papst, 186–365. Annas, Vlad III. T ¸epes¸. Etwa Bevington, Play. Hierzu in knapper Auswahl Fried, Dies irae, 111–114; vgl. dazu auch Ridder/Barton, Antichrist-Figur; Higgs Strickland, Epiphany; Hintz/Pincikowski, End-Times. 16 Fried, Dies irae, 116; ferner Schäufele, Antichrist. 17 Brandes/Schmieder, Einleitung, XV.

10

Christoph Augustynowicz / Christof Paulus

Neuzeit (Thomas Morus, Tommaso Campanella, Francis Bacon) wurde. Die gesamte Neuzeit hindurch wurde der Antichrist nicht nur mit einer Reihe von Herrscherpersönlichkeiten gleichgesetzt, sondern auch als Figur der Krise in Erinnerung behalten. Die rezente Forschung steckte dabei die historischen Kontextfelder Napoleon und Erster Weltkrieg als Arbeitsgebiete ab18 – beide waren ausdrücklich auch mit Heilshoffnungen und Erlösungserwartungen konnotiert. Gerade die Wende vom langen 19. zum 20. Jahrhundert und insbesondere die Ereignisse rund um die Russischen Revolutionen von 1917 sorgten für eine umfassende Renaissance des Antichrist in Gestalt der befürchteten weltumspannenden Gefahr des Bolschewismus. Im russischen Geistesleben war er bereits während des 19. Jahrhunderts zur Verkörperung der Überfremdung des Landes durch den Westen stilisiert worden. Hin zur Zwischenkriegszeit wurde die Figur darüber hinaus wieder forciert antisemitisch aufgeladen19 und damit eine bis heute relevante Wirkmächtigkeit evoziert: (Post)moderne Antichrist-Narrative etwa in der randständigen Populärkultur, beispielsweise im Black Metal, sind nicht selten rechtsradikal konnotiert. Diese Assoziation wird im vorliegenden Band zum Anlass genommen, auch nach jüdischen bzw. mit jüdischen Wahrnehmungen konnotierten Endzeiterwartungen zu fragen. Jedenfalls funktioniert die Denkfigur des Antichrist somit auch abseits ereignisgeschichtlicher Konjunkturen zur Diffamierung von Gegnern oder allgemein zur Instrumentalisierung eines diffusen Schreckenshorizonts, womit auf eine diskursive Vertrautheit der Figur und ihre Abrufbarkeit auch in ruhigeren Zeiten geschlossen werden kann – anderenfalls würde sie nicht funktionieren20. Die Erwartung der Apokalypse und ihrer Vorboten – allen voran des Antichrist – sowie die Angst vor dem ewigen Verderben wurde zu einem fixen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses des christlich-lateinischen Abendlandes21 – zeitliche Gegenwart wurde in der Wahrnehmung zusehends zur (inflationären) Endzeit. Dennoch sind es, wie gesagt, vor allem Brüche auf der Ereignisebene, also Katastrophen, die apokalyptisch konnotiert und daher mit der Denkfigur des Antichrist assoziiert sind – und das auch über den Faktor Mensch hinaus. Abrufbar sind in diesem Sinn vor allem Naturkatastrophen, aber auch soziale Spannungen, psychische Deformationen und ihre Eruptionen in Gestalt von Seuchen, Erdbeben, Kriegen und Verwüstungen, Hunger und Teuerungen, allgemeiner Seelenkälte. Zudem dient der Antichrist als ökologische Chiffre – 1973, wohl nicht zufällig im Jahr der großen Ölkrise, veröffentlichte der Methodisten18 19 20 21

Ebd. VIII. Fried, Dies irae, 205f. Brandes/Schmieder, Einleitung, VIII. Fried, Dies irae, 82.

11

Einleitung

Prediger Arthur E. Bloomfield ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel »How to Recognize the Antichrist«22. Auch dem Medium Film ist die Beschäftigung mit dem Untergang und dessen Verortung in der unmittelbaren Zukunft geradezu inhärent; aus der Unzahl der filmischen Apokalypse-Narrative sei Lars von Triers »Melancholia« (2011) wegen seiner Kompromisslosigkeit hinsichtlich fehlender Heilserwartungen oder Nachher-Hoffnungen hervorgehoben. Die Idee des Weltunterganges unterlag auch hier einer steten und nachhaltigen Säkularisierung; das »Neue Jerusalem geriet zum Menschenwerk«23, seine Dispositive – allen voran Kometen und Erdbeben – behielten ihren Schrecken aber letztlich bis heute, bis in die Zeit des gegenwärtigen Ukraine-Kriegs – und somit auch die Figur des Antichrist. *** Wie aus diesem gefächerten, hier lediglich skizzierten Längsschnitt deutlich wurde, sind die Figur des Antichrist und die Motive des Antichristlichen zuallererst Elemente einer gleichermaßen fruchtbaren wie »heillosen« Übercodierung. Eine methodisch innovative Möglichkeit, mit diesem Umstand umzugehen, besteht in der Fokussierung einer kulturgeschichtlichen Perspektive, also auf konzeptualisierende/operationalisierende anstelle rein instrumentalisierender Diskurse, die mit der Figur des Antichrist verbunden werden: Er kann in diesem Sinn nicht nur für zerstörende, sondern im Gegenteil auch für kulturschaffende bzw. vor allem kulturell konstituierende Kräfte in Anspruch genommen werden, indem Horizonte aufgezeigt werden, welche nur funktionieren, wenn ihnen – zumindest implizit – Auswege beigegeben sind. Schließlich war und ist auch ein Scheitern zu deuten und konnte bzw. kann geistesgeschichtliche Impulse freisetzen.24 Die mit dem Antichrist verbundenen Schrecken, aber auch Hoffnungen führen zu Frage nach seiner langfristigen Wirkmächtigkeit, nach deren longue durée: Gibt es auch unter den Vorzeichen der Wendung hin zum IndividualEschatologischen einen unveränderlichen Bedeutungskern für die Figur des Antichrist oder Elemente in der Vorstellung, an denen nicht gerührt werden durfte oder konnte?25 Vorweggenommen werden kann, dass in allen hier publizierten Beiträgen deutlich wird, wie sehr der Antichrist in Anschluss an Johannes Frieds Postulat als Figur des Wandels von Ausschlussmechanismen gesehen werden; das wiederum macht den Wandel von Exklusionskriterien von rein religiöser hin zu 22 23 24 25

Ebd. 237f. Ebd. 137. Vgl. etwa Flaig, Politik. Brandes/Schmieder, Einleitung, XVIf.

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Christoph Augustynowicz / Christof Paulus

gemischt religiös-sprachlich-kultureller Ethnizität deutlich, wie sie dann für die Neuzeit charakteristisch ist. Wenn der im 12. Jahrhundert einflussreiche Abt von Cluny, Petrus Venerabilis, Mohammed zum Antichrist erklärte, ist auch er ein Beweis für die langfristige Wirkmächtigkeit der Figur, denn gerade »derartige Feindseligkeit wirkte bis weit in die Neuzeit hinein und bestimmte die Vorstellungen des Volkes«26. Differenzierungen hinsichtlich der Definition des Antichrist und seiner Diskurse zwischen den drei monotheistischen Religionen, aber darüber hinaus auch zwischen lateinischem, griechischem und slawischem Christentum sowie binnen-islamischen (Schiiten-Sunniten) und binnen-jüdischen (Aschkenas-Sephard) Differenzierungen setzen somit genau in dieser Epoche an. Langfristige jüdisch-christliche Innen- wie Außenwahrnehmungsmuster und ihre Bezüge zur Figur des Antichrist erwiesen sich daher als wesentlicher Impuls für den vorliegenden Band. Wie gezeigt löste sich die Gestalt des Antichrist mit der Neuzeit in seiner Bedeutung mehr und mehr vom Bild der Apokalypse27. Eine mögliche Frage hinsichtlich seiner Konjunkturen könnte lauten: Wofür steht er dann? Wie/ woran ist er für diejenigen, die ihn konzeptualisieren und operationalisieren, überhaupt noch erkennbar? Sowohl die innere Labilität eines überdifferenzierten Systems als auch seine Anfälligkeit gegenüber Einflüssen von außen sind nämlich auch mit der Figur des Antichrist signifikant angesprochen. Als Mythos ist er stets aufrufbar als »kultureller Habitus zumal der westlichen und seit kurzem auch der muslimischen Welt«28. Die Geschichte seiner Entmythologisierung, seiner Rationalisierung beginnt bereits im Mittelalter – der Antichrist ist somit nicht zuletzt ein Beleg dafür, dass Rationalisierung und Säkularisierung nicht unumkehrbar sind, eine Warnung vor einer allzu verführerischen Teleologie des Rationalen, vor der Ambivalenz der Aufklärung – dafür, dass Fortschritt und Rationalisierung nicht linear sind, sondern Konjunkturen unterliegen. Vor diesem Hintergrund kann es sich als sinnvoll erweisen, den Antichrist in seiner Wirkmächtigkeit zeitlich zu invertieren – und genau dieser Ansatz wird in diesem Sammelband verfolgt. Deshalb ist die vorliegende Aufsatzsammlung, die in adaptierter Form auf eine an der Universität Wien im Oktober 2020 virtuell abgehaltene Konferenz mit dem Titel »»Vor dem Ende …« – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lichen)« zurückgeht29, chronologisch regressiv aufgebaut und angeordnet. Der entstandene Band argumentiert im Krebsgang 26 27 28 29

Fried, Dies irae, 81. Vgl. Fried, Aufstieg. Fried, Dies irae, 240. Vgl. dazu den Konferenzbericht von Barbara Schratzenstaller, URL: https://www.hsozkult.de /conferencereport/id/tagungsberichte-8829?title=vor-dem-ende-sichtungen-zu-einer-kultur geschichte-des-antichrist-lich-en&recno=2&q=schratzenstaller&sort=newestPublished&f q=&total=2 [eingesehen am 13. 04. 2022].

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Einleitung

von der säkular(isiert)en Moderne ausgehend hin zur ersten nachchristlichen, hinsichtlich apokalyptischer Erwartungshaltungen so stark aufgeladenen Jahrtausendwende. Da eine erschöpfende Ausarbeitung des Phänomens nicht erreicht werden kann, hat es sich der Tagungsband zum Ziel gesetzt, in unterschiedlichen, auf den ersten Blick auch nicht immer sofort als einschlägig anzusehenden und deshalb »quergelesenen« Quellen und durch die Zeiten hindurch auf antichristliche Spurensuche zu gehen. Damit sollen die Perspektiv(höh)en, von denen aus auf die kontextualisierten Antichrist-Phänomene geschaut wird, variiert werden. Dieser eher »impressionistische«, kulturgeschichtliche Zugang wird kontrastiert durch eine fokussierte Betrachtung des Spätmittelalters, dem fünf der nun im Folgenden kurz anzuzeigenden insgesamt neun Beiträge gelten. *** Den vielfach gebrochenen und sich ständig wandelnden Antichrist-Attribuierung in Lars von Triers gleichnamigem Skandalfilm von 2009 spürt Anne Louise Nielsen im Eröffnungsbeitrag nach. Hierbei wird Søren Kierkegaards Angstanalyse (»Begrebet Angest«, 1844) als Schlüssel zur einzelnen Szeneninterpretation wie zur Filmdeutung im Allgemein angewandt und ein sich im Lauf des Films steigernder Dreischritt: Angst vor der Schuld – Angst vor dem Bösen – Angst vor dem Guten als sinntragend profiliert. In virtuoser Kon- und Dekonstruktion v. a. biblischer und mythologischer Motive, in wandelnder Aufladung der Leitmotive und im Genre-Verweben vermeintlich hoher und niedriger Formensprache verschiebt Trier Grenzen von Frei- und Unfreiheit, von Innen und Außen, von individueller und globaler Apokalypse und stellt dadurch jahrtausendealte Wertekategorien in Frage. In Anlehnung an Nietzsche wird dem Antichristlichen eine schöpferische Kraft zugewiesen. Gerhard Langer widmet sich den Erzählmotiven des Messianischen und Antichristlichen in Soma Morgensterns Roman »Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth«, der sich intensiv mit jüdischer Tradition, Chassidismus und Mystik sowie der Begegnung mit dem Christentum befasst. In dem ab 1948 verfassten Roman versucht Morgenstern, die Verbrechen des Nationalsozialismus anhand einer Erzählung um ein ukrainisches Dorf aufzuarbeiten; nach der Befreiung durch die Rote Armee tagt hier ein Gericht über Deutsche, die ein Massaker an den jüdischen Bewohnern verübt hatten. Der Roman spielt intensiv auf jüdische Traditionen an, insbesondere auf die Semantik der apokalyptischen Literatur, sowie auf formale Gliederungsmale der jüdischen Heiligen Schriften. Das Motiv des Antichrist wird dabei gegen die Nationalsozialisten gewendet; deren vor allem an Kindern verübte Gräueltaten werden als Anfang der messianischen Erlösung interpretiert, die ihrerseits letztlich nach Israel führt.

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Christoph Augustynowicz / Christof Paulus

Der Wahrnehmung von Juden als antichristlich in Reiseberichten über PolenLitauen aus dem 17. Jahrhundert widmet sich der Beitrag von Christoph Augustynowicz. Die typologischen Vorstellungen westlicher Reisender prägten die Perzeption der im Gebiet Polen-Litauens lebenden Juden und wirkten durch die Verbreitung von Reiseberichten im Westen weiter. Zwei Merkmale in der Darstellungspraxis weisen auf »antichristliche« Typologisierungen hin: zum einen die Arbeit mit physiognomischen Merkmalen – vor allem in den Beschreibungen Jean Le Laboureurs – und zum anderen ein impliziter Bezug zwischen apokalyptischem und antijüdischem Denken. Konkreter hinsichtlich der Figur des Antichrist und seines Milieus fallen die Vorstellungen von Unreinheit ins Auge, so im Bericht des biographisch nicht genauer zu fassenden Payen von 1668. Die Reisenden lassen sich an einer chronologischen Nahtstelle, nämlich als Nachzügler mittelalterlicher Vorstellungen und als Vorläufer aufgeklärter Ressentiments unter lebhafter Bezugnahme auf apokalyptische Narrative verorten. Ein Augenmerk der in diesem Band versammelten Untersuchungen liegt auf bildanalytischen Herangehensweisen, wie sie in der Geschichtswissenschaft schon seit längerer Zeit an Boden gewinnen30. Prinzipiell fand der Antichrist in den spätmittelalterlichen Bildwelten großes Interesse – in durchaus kreativ »weiterspinnenden« Illustrationen zum letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes. Beispielhaft sei hier lediglich auf das Antichristfenster in der Marienkirche von Frankfurt an der Oder verwiesen. Rechnung getragen wird dieser antichristlichen Bildmächtigkeit im vorliegenden Band vor allem durch Claudia Märtl in ihrer exemplarisch-vertiefenden Sichtung und Neukontextualisierung eines für die Bedeutungseinschleifung der Figur Antichrist zentralen Bildbestandes. Die Fresken, die Luca Signorelli in den Jahren 1502/03 im Dom von Orvieto schuf, gelten als kunsthistorisches Unikum: Zum einen bieten sie eine in der Monumentalmalerei singuläre Kombination von Taten des Antichrist, Zeichen vor dem Weltende und Jüngstem Gericht, zum anderen arbeiten sie mit Bildformeln, die – eher ungewöhnlich für die italienische Hochrenaissance – auf nordalpine Vorbilder zurückgreifen. Es fällt vor allem auf, dass Spuren des untersuchten Bildprogramms – nicht zuletzt die Darstellung des Antichrist als orator – in die Bibliothek des humanistischen Kardinals Francesco Todeschini Piccolomini führen, für den Verbindungen zum Heiligen Römischen Reich charakteristisch waren; insgesamt kann der Transfer nordalpiner Bildmotive plausibel gemacht werden. Signorellis grundlegende Darstellung des Antichrist wurde im Sinne der in ihr fassbaren konzeptionellen Verdichtung von gewährleistet Übercodierbarem und fruchtbar Missverständlichem auch als Titelbild des vorliegenden Bandes gewählt.

30 Vgl. dazu grundlegend Bachmann-Medick, Cultural Turns, 329–380.

Einleitung

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Daniel Luger trägt dem antichristlichen Quellenpluralismus zwischen mündlicher, schriftlicher und auch bildlicher Medialität sowie dem gelehrt-literarischen Spiel mit endzeitlichen Topoi Rechnung. Spannend ist hier die gedrehte Perspektive, zentriert der untersuchte Text – der »Processus Luciferi contra Jesum Christum« des Jakob von Theramo – doch das Lamento Satans gegen seinen Sturz durch Jesus: Zentral ist dabei die volksgläubige Vorstellung, Jesus sei nach seiner Kreuzigung in die Hölle abgestiegen, um die Verdammten seit Adam zu befreien – dagegen, so der Text, habe Belial vor dem Gericht Gottes Klage auf Herausgabe erhoben. Eschatologie wird hier also verrechtlicht, der Teufel wird zum Bittsteller/Kläger zwischen altgermanischer, mündlicher und römischer, schriftlicher Gerichtspraxis, die didaktisch vermittelt werden soll. Der Text liegt auch in drei deutschen Übersetzungen des 15. und 16. Jahrhunderts vor und wurde bis ins 18. Jahrhundert oft reproduziert. Auch in diesem Beitrag wird mit der Interpretation von Bildmaterial gearbeitet. Das Vordringen der Osmanen nach Europa aus dem Südosten an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit wurde ebenfalls im Sinne antichristlicher Wirkmächtigkeit gelesen – daher wird auf die entsprechende Stilisierung des belletristisch so wirkmächtigen Wojewoden der Walachei Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea eingegangen. Die sogenannten Deutschen Berichte über Vlad, zunächst überliefert in acht Handschriften und seit 1488 in rascher Folge im Druck verbreitet, stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit von Christof Paulus. Er zeigt, wie sehr der antichristliche Gehalt der propagandistischen Prosaschrift, deren Urfassung mit hoher Wahrscheinlichkeit am Hof des Ungarnkönigs Matthias Corvinus entstanden ist, auf Wort- und Bildebene deutlich wird. Als signifikant wird das antichristliche Generalmotiv der dissimulatio herausgearbeitet, die oftmals im Katalog der Grausamkeiten Vlads aufscheint und mit einer auch andernorts nachzuweisenden Tendenz zur kumulierenden Exaltation der Gewalttaten korrespondiert. Darüber hinaus fällt auf, dass die Motive der Deutschen Berichte über ihre Rezeptionsgeschichte hin zur Stilisierung eines per se vermeintlich barbarischen, wilden Ostens gelesen werden können. Ingrid Würth befasst sich mit Endzeitvorstellungen thüringischer Geißler im 14. und 15. Jahrhundert, die Kirche und Klerus mit dem apokalyptischen Tier aus dem Abgrund, ihren eignen Gründer Konrad Schmid hingegen als christusgleichen Richter im Jüngsten Gericht identifizierten. Quelle dafür sind die »Sangerhäuser Articuli«, in denen die Glaubenssätze der Geißler durch ein Inquisitionsgericht zusammengefasst wurden. Nicht eindeutig zu klären ist, ob dieses eschatologische Konstrukt authentisches Zeugnis der geißlerischen Vorstellungen war oder ob es ihnen erst im Kontext des Inquisitionsverfahrens und seiner Intentionen hin zu einer Verurteilung zugeschrieben wurde. Jedenfalls kann ein Kontakt Schmids mit apokalyptischen Schriften vor- und frühhussitischer Kreise in Prag in Betracht gezogen werden. Für den Zusammenhalt der Geißler hatten

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Christoph Augustynowicz / Christof Paulus

Selbststilisierung als auserwähltes Volk und Abgrenzung vom antichristlich wahrgenommenen Rom die Funktion, die Dringlichkeit der Treue zum Geißlerglauben angesichts des nahen Weltendes zu betonen. Das dualistische Spannungsfeld im monastischen Kosmos – zwischen den Täuschungsverführungen der Teufelsklauen und den schützenden Händen der Heiligen – während des spätmittelalterlichen Zeitalters der »Gotteseskalation« (Hans Blumenberg) rückt Meta Niederkorn-Bruck in den Fokus ihrer geistesgeschichtlichen Überlegungen. Sie wertet dabei vornehmlich Bestände aus dem Umfeld der sogenannten Melker Reform aus: Das spätmittelalterliche Kloster ist demnach im Idealfall ein antichristlicher Utopos, doch eben nur in der Konstruktion eines Orts, der bereits die Ewigkeit spiegelt; realiter ist das monastische Leben ständigen Bedrohungen ausgesetzt: Antichrist im Mönchshabit31. Die Autorin profiliert die Visionsdiskurse, die sich nach zeitgenössischem Verständnis in nahezu unkontrollierbaren Situationen zutrugen – bei den guten tritt Gott vor das Auge des betrachtenden, bei den falschen Visionen täuschen Dämonen die Menschen – und diskutiert die vielschichtigen Konnotationen des curiositas-Begriffs. Ein Exkurs gilt dem Tritonus, bringt also eine diabolische Klanggeschichte in den Forschungsdiskurs ein. Simon Degenhart wirft einen vergleichenden Blick auf die europäische Deutung der Mongolen im 13. Jahrhundert. Anhand verschiedener Quellentexte der Jahre 1237 bis 1247 zeigt er auf, dass in Europa unterschiedliche Deutungsmuster für die 1241 in Europa eingefallenen Mongolen nebeneinander existierten, die sich im Laufe des 13. Jahrhunderts kaum veränderten. Zwei divergente Deutungsweisen prägten wesentlich das Bild der Mongolen: Einerseits wurden sie als Vorboten des Jüngsten Tages oder als Heerscharen des Antichrist gedeutet; in ihrer Ankunft schienen sich tradierte Endzeitprophetien zu erfüllen. Andererseits entstanden zeitgleich detaillierte Beschreibungen des fremden Reitervolks, die zu ersten empirischen Erklärungsversuchen ihrer Motivationen führten. Durch vergleichende Betrachtungen der Berichterstattung, die zwischen Eschatologisierung der Gegenwart und Entzauberung der Mongolen oszilliert, lassen sich die individuellen Assoziationen und Erkenntnishorizonte der Autoren profilieren. Die in den Beiträgen dieses Bandes stets mitgedachte Entkoppelung von Antichrist und Apokalypse führt schließlich zurück zur chronologischen Dimension. Über eine gründliche Diskussion der auf die Jahrtausendwende zurückgehenden Narrative analysiert Isabel Grimm-Stadelmann die Darstellung der byzantinischen Kaiserin Zoe in der »Chronographia« des Geschichtsschreibers Michael Psellos. Dieser bietet eine ausführliche Schilderung von Zoes Persönlichkeit und Verhaltensweisen, wobei er ihr die zentralen Charaktereigen31 Formulierung entlehnt von Kürbis, Antichrist.

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Einleitung

schaften Extravaganz und Verschwendungssucht, Hybris und Skrupellosigkeit zuschreibt. Ihre Handlungen sind gekennzeichnet von Willkür und Maßlosigkeit, gepaart mit übersteigerter Frömmigkeit; eine Neigung zu alchemistischen Experimenten wird vom Chronisten als ihrer gesellschaftlichen Stellung unangemessen bewertet. Neben einer auf antike Erzähltraditionen zurückgreifenden Interpretation – Tyrannentopik und Cäsarenwahnsinn – lässt sich das Bild, das Psellos von der Kaiserin zeichnete, somit auch als männlich codierte weibliche Antichrist-Figur deuten. *** Es bleibt die Frage, was vor dem Hintergrund des skizzierten Forschungsstandes und der mit diesem Band vorgelegten Beiträge an kulturwissenschaftlichen Desideraten zur Be- und Ausleuchtung der Denkfigur Antichrist bleibt. Auffallend ist, dass bis herauf in die rezente Forschung eine Auseinandersetzung damit im aufgeklärten 18. Jahrhundert weitgehend fehlt oder jedenfalls ein Schattendasein führt. Einzelne Beiträge dieses Bandes gehen entsprechenden Spuren nach. Gedanken hat man sich freilich auch bereits davor gemacht: Bernard McGinn sieht den Antichrist im 18. und 19. Jahrhundert als »in den Ruhestand geschickt«32, jedenfalls aber als Glaubensmodell aus dem Zentrum in die Peripherie verbannt. In der jüngsten und jüngeren Forschung akzentuiert Johannes Fried darüber hinaus die Bedeutung der Aufklärung und vor allem von Heinrich von Kleists Novelle »Erdbeben in Chili« (1807) als signifikant für Bestrebungen, auch im Protestantismus das Motiv des Weltunterganges zu überwinden – vor allem hier habe man den Gedanken des Jüngsten Gerichtes in der Bekehrung des Judentums einerseits und der Schwächung des Papsttums andererseits gesehen33. Das 20. Jahrhundert bedeutete jedenfalls ein Wiederaufleben des Motivs34; auch dem wird ja im vorliegenden Band entsprochen. Abschließend sei daran erinnert, dass religionssoziologisch von einer »Wiederkehr der Götter« in unseren Zeiten gesprochen wurde35. In der jüngsten Forschung haben folgerichtig die Themen »Heilige« und »Heiligkeit« in ihren vielschichtigen Ausprägungsformen auf den (Herrschafts-)Alltag ausgesprochen Konjunktur36. Und auch der eingangs getätigte Rekurs auf die tagesaktuelle Rückkehr unheiligen Sprechens mag vordergründig diese These bestätigen, wenngleich zu fragen bleibt, ob zumeist nicht eine inhaltliche Entkoppelung vorliegt. Jedenfalls bleibt der Heilig(en)-Diskurs blass und unvollständig, würde 32 33 34 35 36

McGinn, Lebensalter, 24. Fried, Dies irae, 139–145. Hillerbrand, Antichrist, 44–47. Graf, Wiederkehr. Zuletzt etwa Hüchtker/Jobst, Heilig; Luchterhandt/Röckelein, Palatium Sacrum.

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man nicht auch auf das unheilige und damit kontrastierend-profilierende Gegenteil schauen. Die Figur des Antichrist ist damit auch die Echokammer der Heiligkeit, aus der kollektive wie individuelle Ableitungen und Legitimationen auch für gewalttätiges Handeln gezogen werden37. In diesem Sinne verbindet der vorliegende Band schließlich exemplarische Tiefenschürfungen und transkulturelle Perspektiven miteinander und setzt damit im Weiteren Impulse für ein weiterführend forschungstaugliches methodisches Instrumentarium. Ganz unheilig oder doch zumindest ganz profan ist an dieser Stelle schließlich die Finanzierung des vorliegenden Bandes zu thematisieren. Unser diesbezüglicher Dank geht an das Rektorat und die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien sowie an das Historicum der Ludwig-MaximiliansUniversität in München. Für die Vermittlung der Publikationsreihe gebührt der Dank Gerhard Langer/Wien. Barbara Schratzenstaller/München sei für die Verfassung des auf HSozKult veröffentlichten Konferenzberichtes gedankt, der auch für die Abfassung dieser Einleitung pointiert hilfreich war. Wien und München, September 2022

Literatur Jan A. Aertsen/Martin Pickavé (Hg.), Ende und Vollendung: Eschatologische Perspektiven im Mittelalter. Mit einem Beitrag zur Geschichte des Thomas-Instituts der Universität zu Köln anläßlich des 50. Jahrestages der Institutsgründung (Miscellanea Mediaevalia 29) Berlin 2002. Philip C. Almond, The Antichrist. A New Biography, Cambridge 2020. Gabriele Annas, Vlad III. T ¸epes¸ im Spiegel humanistischer Geschichtsschreibung. Antonio Bonfini, Filippo Buonaccorsi, Jan Długosz, in: Thomas M. Bohn/Rayk Eynax/Stefan Rohdewald (Hg.), Vlad der Pfähler – Dracula. Tyrann oder Volkstribun, Wiesbaden 2017, S. 71–97. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (rowohlts enzyklopädie) Reinbek bei Hamburg 42010. David M. Bevington, The Tegernsee Play of Antichrist, in: Deirdre Carter/Elina Gertsman/ Karylin Griffith (Hg.), Tributes Richard K. Emmerson. Crossing Medieval Disciplines, London 2021, S. 195–209. Robert E. Bjork (Hg.), Catastrophes and the Apocalyptic in the Middle Ages and the Renaissance (Arizona Studies in the Middle Ages and the Renaissance 43) Turnhout 2019. Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder, Einleitung, in: dies. (Hg.), Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern, Berlin 2010, S. VII–XVII.

37 Vgl. Fejto˝, Gott.

Einleitung

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Einleitung

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Veronika Wieser u. a. (Hg.), Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit (Kulturgeschichte der Apokalypse 1) Berlin 2013.

Anne Louise Nielsen

Das Motiv des Antichrist im filmischen Werk von Lars von Trier

Der dänische Regisseur Lars von Trier ist durch apokalyptische Filmtitel wie »Epidemic« (1987), »Dancer in the Dark« (2000), »D-day« (2000, TV-Fiktion) und »Antichrist« (2009) zum internationalen Bannerträger für den Nordischen NoirFilm und die europäische Avantgarde geworden. Seine Filme stellen oftmals ein mythologisches Universum vor; sie sind phantastisch, apokalyptisch und von den Themen Untergang, Bosheit und Masochismus geprägt. Dieser Aufsatz untersucht das Antichristliche vor allem in Triers Film »Antichrist« von 2009. Wie die vielfältigen Erscheinungsformen des Antichristlichen bezeugen, findet die Figur des Antichrist nicht nur für destruktive, sondern auch für kulturell konstituierende Kräfte Verwendung. Es gilt deshalb zu fragen, wie das Motiv des Antichrist in aktuellen kulturellen Werken rezipiert wird und welchen Beitrag genau das Filmmedium dazu erbringt, oder zugespitzt: Was leisten die Filme über das Böse im 21. Jahrhundert? Im Licht des Krisenpotentials der Neuzeit durch das kapitalistische System von Finanzen und Technologie und seines Einflusses auf Gesellschaft und Natur haben Triers apokalyptische Filme sich als prophetisch erwiesen. Die Kritiker streiten sich aber heftig: Ist es wahre Kunst oder sind die Filme Produkte reiner Provokation und vielleicht sogar eines »kranken« Gehirns? Auf jeden Fall treffen seine Filme mit visueller Pracht auf die apokalyptischen Ur-Bilder, die in unserer Kultur sind. Unter Bezug auf Nietzsche und Kierkegaard wendet dieser Beitrag deshalb einen theologisch-psychologischen Begriffsapparat von Angst, Schuld, Sünde und Moralvorstellungen an, um Triers Film zu entschlüsseln. Im Folgenden wird in drei Schritten vorgegangen. Erstens ist Triers Filmuniversum kurz vorzustellen sowie Nietzsches Verwendung vom Motiv des Antichrist zu skizzieren. Zweitens wird – anhand der Angstanalyse Søren Kierkegaards – ein close-reading von Triers »Antichrist« mit dem Fokus auf dem Motiv des Antichrist ausgeführt. Drittens sind einige Schlussgedanken zu formulieren.

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1.

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Triers filmisches Universum

Die Diskussionen auf dem Filmfestival in Cannes um die Filme »Antichrist« (2009), »Melancholia« (2011), »Nymphomaniac« (2013/14) und »The House That Jack Built« (2018) profilierten Triers Virtuosität als extreme Filmkunst, die er ursprünglich in der Mitte der 90er-Jahren mit dem Manifest »Dogma 95« entwickelte. Darin wandte er sich besonders gegen die Filmindustrie von Hollywood und plädierte für einen neuen performativen und demokratischen Raum für Filmproduktionen.1 Lars von Trier wurde 1956 in Kopenhagen geboren, als Sohn des Bürochefs Ulf Trier, über den er am Sterbebett seiner Mutter, Inger Høst, erfuhr, dass dieser nicht sein biologischer Vater sei. Somit verlor von Trier auf einen Schlag seine Mutter wie seinen »Vater« – und mit ihm seine jüdischen Wurzeln und seine Identität – sein biologischer Vater, Fritz Hartmann, Sohn einer dänischen Komponistenfamilie, wollte den neuen Sohn nicht anerkennen. Die eigene Biographie beeinflusst Triers Filmproduktion; öffentlich spricht er oft über Ängste, Depressionen und Neurosen.2 Als kunstbegabter Zehnjähriger fing Trier an, Kurzfilme zu produzieren und debütierte zwölfjährig 1969 als Hauptdarsteller in der Jugendserie »Secret Summer«.3 Sein »Adelstitel« (von) stammt aus der Zeit auf der Kopenhagener Filmschule 1979 bis 1983, wo ein Lehrer Trier eine aristokratische Filmanschauung zuschrieb. Trier ließ sich von Regisseuren wie Carl Th. Dreyer, Ingmar Bergman, Andrei Tarkovsky, Stanley Kubrick und David Lynch inspirieren, bezieht sich in seinen Filmen aber auch häufig auf die Neue Deutsche Filmkunst und den Expressionismus, auf Schriften von Marx, Kafka und Nietzsche sowie Wagners Opern und das gleichsam anti-wagnerianische Bertolt Brecht-Theater.4 Seit seinem Abschlusswerk an der Filmschule kultivierte Trier einen Zugang, der mit Medien hypnotisch experimentiert, etwa in der »Europa-Trilogie« (1984– 1991), die auf einem post-apokalyptischen Kontinent angesiedelt ist und Triers internationalen Durchbruch markierte (bzw. »The Element of Crime« von 1984). Triers Passion für amerikanische und deutsche Mythologie, welche die dänische Kultur mit einer geographisch-politisch-emotionalen Diversität bereichert, zeigt sich hier bereits deutlich. Obwohl im Norden gedreht, ist nun »Antichrist« betont amerikanisch, mit internationalen Starschauspielern in verschiedenen englischen Dialekten eingesprochen. Trier verbindet hohe Genres wie das tiefenpsychologische Drama als auch niedrige wie Horror/Science Fiction bis hin zur Pornographie und Propaganda. Ferner werden in seinen Filmen besondere 1 2 3 4

Badley, Lars von Trier, 2. Ebd. 146. Stevenson, Lars von Trier, 11. Badley, Lars von Trier, 3.

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haptische real-time-Effekte erzeugt.5 In diesem Geist haben Trier und sein Produzent Peter Aalbæk Jensen mit der 1992 gegründeten Produktionsgesellschaft »Zentropa« ein europäisches, globales und einzigartiges Filmunternehmen auf die Beine gestellt. Wird nun ein Film Triers mit der Goldenen Palme prämiert oder eher zensiert (oder beides) – diese Frage stellte sich bei allen seinen letzten Großwerken. Im August 2022 wurde bei Trier Parkinson diagnostiziert; in den letzten Jahren hatte er sich aus der Öffentlichkeit bereits etwas zurückgezogen. Im Dokumentarfilm »The Missing Films« (2020) reflektieren seine Freunde Thomas Gislason und Jacob Thuesen über die Frage, ob Trier weitere Filme produzieren will. Gleichzeitig zeigt die Dokumentation, dass Triers Filmkunst ohne sein Zusammenspiel mit den Medien undenkbar wäre, weil er über digitale Plattformen einen internationalen Hype um seine Persönlichkeit und seine Filme fortlaufend und meisterlich zu inszenieren versteht.

Das Motiv des Antichrist Durch eine ästhetisch-kulturelle Untersuchung der visuellen Narrative Triers wird nun dem Motiv des Antichrist in seinem Reframing gefolgt. Das Reframing verweist auf das visuelle Medium als auch auf die Weise, mit der Individuen und Institutionen (fälschlicherweise) zum Antichrist gestempelt werden. Damit fragen wir auch, wie das Motiv des Antichrist durch heutige Narrative von Privilegien und Mängeln hervorgerufen wird, wie es in den (skandinavischen) Gesellschaften reflektiert wird und wie es dazu beiträgt, eine affektive Gesellschaft zu bilden. Ein Ausdruck für die grundsätzliche Schwierigkeit und Ambivalenz des Motivs liegt in der Unterscheidung einer konstruktiv-aktiven und einer lähmend-passiven Seite. Dies zeigt sich bereits in der Titelsequenz von Triers »Antichrist«, wo der Buchstabe /t/ im Wort Christ in einer Mischung aus Kreuzzeichen und dem Zeichen für das Feminine gestaltet wird. Trier schreibt sich damit in Feminismus-Debatten ein und spielt in seinen Filmen mit gängigen Vorstellungen von Kernfamilien, Sexualität, Glück und Arbeitsleben.6 Mehrmals wurde er der Misogynie angeklagt. Vorwürfe hat er ironisch und mit Lust zur Provokation partiell bestätigt. Die Buchstaben-Zeichen-Kombination ist eine

5 Stavning Thomsen, Lars von Trier’s Renewal, 39–44, 75–77; Badley, Lars von Trier, 7. Stavning Thomsen (44) notiert: »The modern forms of catastrophe created by humans, such as climatic conditions and global economic crises, whose political effects are again intensified by the global real-time media, are today reflected artistically to a large extent.« 6 Vgl. auch Dennys, Familienromanze, 170f.

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Anspielung auf Dreyers »Day of Wrath« (1943) und Tarkovskys »The Sacrifice« (1986), insbesondere aber auf Nietzsches Kampfschrift »Antichrist« (1888).7 Bei Nietzsche wird das Motiv des Antichrist, traditionell als satanischer Stellvertreter für Christus verstanden, positiv umgewertet, weil mit ihm nicht die frohe christliche Botschaft, sondern eine entstellte geschichtliche Entwicklung des Christentums, vor allem die Abwertung und Vermoralisierung der Sexualität, kritisiert werden soll,8 die damit als der eigentliche Antichrist auftritt. Nietzsche leitet als »Anti-Antichrist« den geschichtlichen Endkampf zugunsten einer Religion im Zeichen von Dionysos ein. In diesem Sinn kommt »anti« die Bedeutung »gegen« das Christentum aber auch eine »positive« Positionierung für den kirchlichen Antipoden Jesu zu.9 Nietzsches säkularisierte und negative Eschatologie ist damit als eine präsentische Eschatologie im verborgenen Evangelium Jesu und als religiöse Zeichenrede eines Anti-Realisten zu verstehen.10 Es wird die Antichrist-Figur positiv umgewertet und mit Dionysos identifiziert – als Gott für Wein und Theater, sowie Chaos-Gegenseite Apollos, des Gottes für Form, oft mit dem Femininen verbunden.11 In Triers »Antichrist« mischen sich nun jüdische, christliche, orientalische und populär-kulturelle Elemente. Mit Kierkegaard als Leseschlüssel können wir das Motiv des Antichrist als dämonische Angstform im Individuum identifizieren.12

2.

Analyse von Triers »Antichrist« (2009)

Bei den Hauptpersonen im »Antichrist« handelt sich um ein Ehepaar, deren Namen nie bekannt wird und die beim Verlust ihres kleinen Sohnes mehrere dramatische Veränderungen in ihrer Beziehung durchleben. Die Frau (Charlotte Gainsbourgh) leidet unter starken Panikattacken, ihr Mann (William Dafoe), der Therapeut ist, nimmt sich vor, die Ursache ihrer Angst zu erkunden. Nach der Beerdigung fährt das Paar zu ihrer kleinen Hütte im Wald, (ganz symbolisch) Eden genannt. Die Frau fürchtet sich in der Umgebung des Gartens Eden am meisten und der Therapeut muss sie damit konfrontieren. Was sich zunächst als Weg zur Heilung anbahnt, endet mit dem Tod der Frau durch Erwürgen durch ihren eigentlichen Therapeuten und Ehemann. Danach verbrennt er sie und

7 8 9 10 11 12

Stavning Thomsen, Lars von Trier’s Renewal, 236. Busche, Antichrist, 240–242. Ebd. 237. Ebd. 247. Stavning Thomsen, Lars von Trier’s Renewal, 242. Siehe auch Grøn, Horizont, 162, der Nietzsche als Religionskritiker und die philosophischen Grundfragen über Subjektivität verbindet.

Das Motiv des Antichrist im filmischen Werk von Lars von Trier

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macht sie zur Hexe – ganz in Beziehung zu den vormodernen Hexenverbrennungen, worüber die Frau eine Abhandlung verfasst hatte, bevor ihr Sohn starb.

Reframing des Bösen Der Film ist ein Prachtwerk in Visualisierung und Ton. Trier wendet ein hybrides Genre zwischen Film und Literatur an, indem er den Film wie ein Buch mit einem Prolog, Kapiteln um Trauer, Schmerz und Verzweiflung und einem Epilog strukturiert. Pro- und Epilog sind schwarz-weiß und in slow-motion gedreht, die Musik dazu ist das Klagelied »Laschia ch’io pianga« (lass mich weinen) aus Händels Oper »Rinaldo« von 1711. Die andere »Töne« des Films, abgesehen von den Dialogen, bestehen ausschließlich aus natürlich erzeugten Klängen wie zischenden Blättern, knackenden Baumstämmen, Herzschlag und gequälten Schreien. Die Natur spielt somit eine grundsätzliche Rolle, denn Bäume, Büsche, Gras, Tiere und Geschlechtsorgane haben durchgehend eine eigene Macht. Mit dieser Stilisierung reiht sich Trier in aktuelle Debatten über das Anthropozän und »Dunkle Ökologie« ein. In mindestens zwei Filmsequenzen bezieht er sogar die Zuschauenden als Zeugen der Ungeheuerlichkeiten ein, wenn diese direkt in die Kamera schauen, was zu einem haptischen real-time-Effekt beiträgt (Minutenzahl: 00:53:23, 00:58:20) – ein Beispiel für Triers filmtechnische Avantgarde. Drei Tiere tauchen immer wieder auf, eine Hirschkuh, die ein ungeborenes/ totgeborenes Junges trägt, ein Fuchs, der seine eigenen Eingeweide frisst und Chaos proklamiert, und eine Krähe, die nicht sterben kann; zusammen bilden sie die »drei Bettler« – eine unheilige animalische Dreifaltigkeit – und nehmen merkwürdigen Einfluss auf die Handlung.13 Sie repräsentieren Trauer, Schmerz und Verzweiflung, deren Kraft auf das Ehepaar zunimmt (bis hin zu einer hobbeanischen Kriegsszene14), analog zur kultischen Dionysos-Feier mit ihren drei rituellen Phasen: Ekstase, Manie und Friede/Freude (Katharsis) (weiterhin werden die Mänaden, die Helferinnen des Kultes, mit Schmerz, Gefühlen und Ekstase verbunden).15 13 »Die drei Bettler« sind Trier zufolge Tiere, die er auf schamanischen Reisen in seinen Therapiestunden kennengelernt hat: vgl. sein Gespräch mit Murray Smith auf der kommentierenden Tonspur der DVD. 14 Mit dem lateinischen Ausdruck bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle) beschreibt der englische Philosoph, Thomas Hobbes in seinem Werk De Cive (1642) den von ihm vermuteten Naturzustand der Menschheit. 15 Stavning Thomsen, Lars von Trier’s Renewal, 242; 243: »It is the cyclical time that Apollinian reason and later the desire of Christianity, the Renaissance, the Enlightenment and indeed also Marxism dominated and replaced with a coherent and linear time that can be controlled. The eternal recurrence of the same implies a Dionysian affirmation of life where, as in the cyclical ecstasy, there also occurs a reappraisal of all values. The event is always one and the

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Auch der Film »Antichrist« bietet eine Art Katharsis an, nämlich die lineare »Erlösung« des Mannes, der nach der Tötung seiner Frau nochmals die Natur als gut und kontrollierbar erlebt, was dadurch visualisiert wird, dass er friedlich Beeren von einem Busch isst; alles übertrieben idyllisch in Schwarz-Weiß und auf hypnotisierende Weise gedreht. Aber vor dem Hintergrund der zyklischen Ekstase, in der alle Werte umgedeutet worden sind, erscheint die lineare Erlösung des Mannes nicht nur befreiend, sondern auch ironisch oder unwahr. In dieser Weise löst Trier die traditionellen kulturellen Dichotomien von Mann/Frau, Verdammnis/Erlösung, zyklisch/linear etc. auf.

Die Angstanalyse Søren Kierkegaards Der dänische Philosoph, Søren Kierkegaard, und besonders sein Werk »Der Begriff Angst« von 1844, unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis (der wachsame Kopenhagener) geschrieben, bietet eine philosophische Exegese des Sündenfallberichts von Gen 316 an. Angst bedeutet bei Haufniensis eine Möglichkeit zur Freiheit und begleitet den Sündenfall, der als grundsätzliche Konstituierung des Selbstbewusstseins (als Geist) und der menschlichen Freiheit gilt.17 Dies hängt mit der kierkegaardischen Anthropologie zusammen, nach der der Mensch als eine noch abstrakte Synthese zwischen Seele und Körper verstanden wird, die sich als Geist konkretisieren muss. Das Sündenbewusstsein wird als ausgeweitetes oder gebrochenes Selbstbewusstsein gedeutet und dieses gebrochene Selbstbewusstsein wird ambivalent erlebt. Während Angst ein psychologischer Begriff ist, laut Haufniensis präziser »eine befangene Freiheit« (nicht frei, aber auch nicht notwendig), ist der Sündenfall ein qualitativer Sprung, der nicht erklärt werden kann und auch nicht notwendig in der Welt ist. Eine Person findet somit »die Schuld« ambivalent außerhalb ihrer selbst, aber sie soll im Glauben persönlich angeeignet werden. Haufniensis formuliert es so: »In dem Augenblick, da der Geist sich selbst setzt, setzt er die Synthesis, um aber die Synthese zu setzen, muss er sie zuerst unterscheidend durchdringen, und das Äußerste am Sinnlichen ist eben das Ge-

same, a confirmation of life. Nature is thus not merely cosmos but is just as much chaos and randomness.« 16 Im Gegensatz zu Triers freier und experimentierender Kunst ist Kierkegaard (wissenschaftlich) an den Perspektiven der unterschiedlichen Wissenschaften – Psychologie, Ethik und Theologie – gebunden, wodurch er das Phänomen Angst zu analysieren versucht. 17 Dalferth, Leidenschaften, 198: »Unsere Freiheit zeigt sich in der Fähigkeit, etwas anzufangen, das vorher nicht oder nicht so war. Andererseits aber erfahren wir uns als solche, die sich nicht selbst angefangen haben und anfangen können.«

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schlechtliche.«18 Wenn also Adam und Eva vor dem Fall in einem Unschuldszustand von Ruhe und Frieden waren, wird ihre Synthese im Sexuellen in einen Widerspruch gesetzt und damit zu einer »Aufgabe«, die jeder Mensch als »seine Geschichte« vollziehen sollte. Interessanterweise wird Angst als eine weibliche Ohnmacht dargestellt, das heißt, die Frau hat mehr Angst als der Mann, aber nicht, weil sie physisch schwächer ist, sondern weil sie sinnlicher ist.19 Es ist eben Eva, die Adam verführt und nicht umgekehrt. Wenn Schuld nicht im Glauben angeeignet wird, kommt es logischerweise zur Unfreiheit. Haufniensis entfaltet unterschiedliche entstellende Angstformen, welche die Konstituierung mit massiven Folgen potentiell begleiten können: von der (griechischen) Angst um das eigene Schicksal (wie in den Tragödien), über die ( jüdische) Angst vor der Schuld bis zur (christlichen) Angst vor dem Bösen oder vor dem Guten.20 Wir werden uns in den folgenden drei Filmsequenzen auf Angst vor der Schuld, Angst vor dem Bösen und Angst vor dem Guten, gleichsam in Steigerungsform, konzentrieren.21 Für Haufniensis wäre der Glaube der eigentliche Ort, wo die Angst endlich ausgestanden ist – oder besser gesagt, wo die Angst positiv nur als eine den Menschen ausmachende Freiheitsmöglichkeit geblieben ist.22

Erste Filmsequenz: Angst vor der Schuld – Sündenfall (Minutenzahl: 00:03:12) Im Prolog sehen wir die Eltern beim Liebesakt. Ihr Kind steigt aus seinem Bett, verzaubert vom fallenden Schnee vor dem Fenster. Die drei Tiere stehen wie Talismane auf dem Tisch.23 Im Sprung oder Fall aus dem Fenster wirbelt das Kind wie eine Schneeflocke. Der lustvolle Liebesakt der Eltern (beide haben sie die Augen geschlossen) wird somit mit dem (Sünden-)Fall ihres Kindes verbunden. Im Licht von Kierkegaards Angstanalyse gesehen, hat das Paar »sich selbst« bzw. ihr Kind in ihrem privaten Freiheitsmoment verloren. Die Freiheit ruft unverzüglich ein Gefühl von Schuld hervor, weil die Freiheit eben Angst hat, sich selbst zu verlieren. Der Film spielt auch weiterhin mit Konnotationen von (psycholo18 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 47. 19 Ebd. 66. 20 Kierkegaard folgt hier deutlich einer ideengeschichtlichen Linie Hegels; vgl. z. B. dessen »Vorlesungen über der Religion II«. 21 Während der Filmaufnahme von »Antichrist« hat Trier zur Theologischen Fakultät/Kopenhagen Kontakt aufgenommen und um eine Konsultation bezüglich Kierkegaards Werken gebeten. Diese Information kann nicht belegt werden, da sie der Autorin persönlich vermittelt worden ist, zeigt aber, dass es zumindest sinnvoll ist, Trier und Kierkegaard zusammen zu betrachten. 22 Ebd. 161. 23 Stavning Thomsen, Lars von Trier’s Renewal, 250.

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gischen) Urszenen und Mythen der westlichen Kultur, z. B. Freuds Gedanken über Kastration beim unheimlichen Blick des Kinds beim Liebesakt seiner Eltern, griechische Tragödien (»Ödipus«, »Medea«) und nicht zuletzt das Paar allein mit den Tieren im Garten Eden, deutlich eine Anspielung auf den biblischen Sündenfallmythos, von dem auch Haufniensis seinen Ausgang nimmt. Das Paar, besonders die Frau, bekommt im Verlauf des Filmes immer mehr Angst – als einen Ausdruck für eine wachsend, projizierte Schuld ihrer Freiheitsverfasstheit. Die Natur spiegelt diese Schuld wider und führt überall »den Fall« vor; so fallen Bäume oder die Eicheln nachts besonders geräuschvoll auf Edens Dach. »Das sind nur die blöden Eicheln«, sagt die Frau, aber gleichzeitig hört sie ein Jammern von allem, »was sterben wird«. Der Mann nimmt als Gegenpol zu seiner angstvollen Frau die Rolle des Wissenschaftlers/Logikers/(kognitiven) Therapeuten ein und lässt die Schuldfrage »in der Ferne«. Die (wissenschaftliche) Freiheit produziert unmittelbar ihre eigene Schuld, denn ein Therapeut darf, Freud zufolge, nicht seine eigenen Familienmitglieder behandeln. Aber Freud ist unaktuell geworden, bestätigt die Frau ihrem Mann, was einen ironisch-tragischen Nachklang erzeugt. Hier ist erwähnenswert, dass der »Antichrist« Triers eigene Erlebnisse mit kognitiver Aussetzungstherapie, die die Psychoanalyse für abgestorben erklärt, sarkastisch spiegelt.24 In einer Filmsequenz befiehlt der Mann/Therapeut seiner Frau, die Angst vor dem großen »Freiheitsraum« der Natur hat, mit »dem Grünen« (Gras) zu verschmelzen, damit sie ihre Angst vor der (normalerweise harmlosen) Natur loswerden und wieder »normal« leben kann. Visuell ähnelt sie im Gras einer leidenden Christus-Figur, aber im Gegensatz zu Christus, der die Schuld trägt, soll ihre mögliche Schuld durch die Therapie getilgt werden. Jedoch erfolglos, ihre Angst steigert sich.

Zweite Filmsequenz: Angst vor dem Bösen – gibt es einen Antichrist unter uns? (Minutenzahl: 01:02:05) Nach geduldigen therapeutischen Übungen entdeckt der Mann auf dem Dachboden in der unfertigen Dissertation seiner Frau, dass die Handschrift sich auf den letzten Seiten aufgelöst hat. Aus seinem apollinisch-rationalen Blickwinkel wird er zum ersten Mal unsicher. Der Dialog, der sich als therapeutisches Rollenspiel gestaltet, in dem der Mann die Rolle der Natur als unmittelbares Objekt für die Angst der Frau durchspielt, lautet:

24 Badley, Lars von Trier, 144.

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I’m Nature. All the things that you call nature. Okay, Mr. Nature. What do you want? To hurt you as much as I can. How? How do you think? By frightening me? By killing you. Nature can’t harm me. You’re just all the greenery outside. No, I’m more than that. I don’t understand. I’m outside, but I’m also … within! I’m nature of all human beings. Oh, that kind of nature. The kind of nature that causes people to do evil things against women? That’s is exactly who I am. That kind of nature interested me a lot when I was up here. That kind of nature was the subject of my thesis. But you shouldn’t underestimate Eden. What did Eden do? I discovered something else in my material that I expected. If human nature is evil, then that goes for as well for the nature of … Of the women? Female nature? The nature of all the sisters. Women do not control their own bodies. Nature does. I have it in writing in my books. The literature that you used in your research was about evil things committed against women. But you read it as proof of the evil of women? You were supposed to be critical of those texts, that was your thesis. Instead you’re embracing it. Do you know what you are saying? Forget it. I do not know why I said it. (DVD, Kapitel 8)

Hier wird deutlich, dass die Angst vor der Natur (außen) auch eine Angst vor der eigenen Natur (innen) ist. Die wissenschaftliche Untersuchung des Genozides, von der Frau verfasst, kehrt sich plötzlich zu einer Bestätigung der Natur und des Körpers der (bösen) Frauen um. Mehrere Beispiele bestätigen diese Vermutung für den Mann. So stellt sich im Obduktionsbericht heraus, dass die Frau die Schuhe ihres kleinen Sohnes absichtlich getauscht hatte mit der Folge, dass seine Füße sich verformt haben. Außerdem wird ein Flashback zum Prolog und dem Liebesakt der Eltern gezeigt, doch nun hat die Mutter plötzlich die Augen offen. Sie sieht das Kind, fühlt sich aber nicht verpflichtet, den Liebesakt zu unterbrechen. Eine Mutter, die ihr eigenes Kind vernachlässigt, ist grausam böse oder erschreckend rational, wie wir aus der Tragödie der Medea oder auch der LilithFigur25 wissen. Jedenfalls ist sie durch und durch schuldig. Die Frau wird als ein 25 Lilith ist eine umstrittene mythologische Figur, die in mittelalterlichen jüdischen Legendenliteratur als Adams erste Frau gesehen wird. Im babylonischen Raum tritt Lilith als enttäuschte Frau auf, die Familien zerstört. Von ihr heißt es u. a., dass sie keine Befriedigung

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Art Antichrist identifiziert, für die die Natur »Satans Kirche« ist. Mit Nietzsche gesprochen entzieht sich aber die Lebendigkeit der weiblichen Natur und der Wille zur Macht dem Schuldgefühl. Die Frau ist in diesem Sinne als Antichrist positiv bewertet, wie auch das Zeichen des Weiblichen in der Titelsequenz andeutet. Man könnte hier weiterhin den Begriff »unendliche(r) Begierde« oder »Begehrens« (Slavoj Zˇizˇek26) mit der Frau verbinden. Sie wird in unmittelbarer Verlängerung der (unkontrollierbaren) Natur gesehen. Tatsächlich ist die weibliche Natur so unkontrollierbar, dass sie sich aller Meinungen oder kulturellen Symbolik entzieht.27 Mit Kierkegaard als Leseschlüssel muss das Motiv des Antichrist noch tiefer in der Angst und Sünde des Individuums verankert werden. Die Angst vor der Schuld ist jetzt zur Angst vor dem Bösen gesteigert. Die Schuld ist hier gesetzt (nicht nur projiziert wie in der Angst vor der Schuld), wenn die Angst vor der Wirklichkeit der Sünde/dem konstituierten Selbstverhältnis sich nicht zurechtfindet und sich deshalb zur Reue potenziert. Unglücklicherweise kann die Reue die Sünde nicht aufheben, sondern nur trauernd reflektieren. Die Reue wird, laut Kierkegaard, »wahnsinnig«: Sie fängt an, die Konsequenz der Sünde als Strafe oder Verdammnis zu verstehen. Dies fällt in Triers Film nicht zuletzt mit einem sich steigernden sexuellen (Sado-)Masochismus zusammen. Haufniensis schreibt: »Die Folge der Sünde schreitet voran, sie schleift das Individuum mit sich gleich einem Weibe, das ein Büttel an den Haaren hinter sich her schleift, während sie in Verzweiflung schreit.«28 Die Reue kann aber mit Redegewandtheit entwaffnen; gerade vor dem Weltuntergang erwacht die Frau eines Morgens und sagt ihrem Mann, dass sie wieder gesund sei. In Wirklichkeit hat sie mehr Angst als zuvor. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der die drei Totemtiere, Hirsch, Fuchs, Krähe, als eine Art Vision erlebt, entcodiert sie, durch ihr Studium von Hexenritualen vorgebildet, die »drei Bettler« und weiß, dass Strafe oder Verdammnis folgen, wenn sie zu dritt auftreten – jemand muss sterben! Ihre Angst ist also noch größer geworden. Ihr Mann übernimmt die Rolle als tötende Natur oder Satan im Rollenspiel sehr überzeugend. Er wird, wenn er rücksichtslos auf die Logik und Rationalität besteht, als »unreflektiert Böses« dargestellt. Er versucht, das unendliche Bebei Männern fand und dass ihre Lust nie befriedigt wurde; sie ist eine durchaus sexuell aufgeladene Figur. Andere Traditionen schreiben ihr das Stehlen und Töten von Kindern, die Verführung und das Wesen eines Nachtdämon zu; vgl. Langer, Dämonen, 53f. 26 Das ist ein Hauptgedanke in Slavoj Zˇizˇeks frühen und späteren Schriften, etwa »SurplusEnjoyment« von 2022. 27 Elbeshlawy, Woman, 147, verbindet die Frau und Gott im »radikalen Anderen«: »To put this in Lacanian language, God, like female jouissance, is ›radically Other‹ and cannot be talked about except in terms of complete mystery.« 28 Kierkegaard, Begriff Angst, 119.

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gehren der Frau zu kontrollieren, was nicht kontrolliert werden kann. Als die Frau das Ehebett in der Nacht verlässt, um an einem großen Baum zu masturbieren (möglicherweise als Teil eines dionysischen Kultes), kommt ihr Mann und offenbart sich als der Teufel an einem orgiastischen Hexensabbat, als plötzlich mehrere Frauenhände zwischen den Wurzeln des Baumes erscheinen.29 Am nächsten Tag will der Mann die Frau (ironisch) belehren, dass Gutes und Böses nichts mit Therapie zu tun haben. Nochmals versinkt er tiefer in die Konsequenz der Sünde und verstärkt das Motiv des Antichrist in sich selbst. In der nächsten Filmsequenz sieht man den Mann in den Nebel gehen, traditionelles Medium des Teufels30, kurz bevor er entschlüsselt, dass die Natur nicht das Hauptobjekt der Angst seiner Frau ist, sondern er selbst (als der Teufel), aber gleichzeitig sagt er laut, sie selbst sei es.31 Gesetzte Schuld und wahnsinnige Reue verstärken somit das antagonistische Verhältnis zwischen dem Paar, die Angst nimmt nochmals zu.

Dritte Filmsequenz: Angst vor dem Guten – Der Weltuntergang spielt sich ab (Minutenzahl: 01:12:16) Das letzte Kapitel des Films, »Die Verzweiflung«, ist mit gewaltig-blutigen Ritualen in einer »ewigen Wiederkunft« verbunden. Nachdem der Fuchs, Repräsentant des Schmerzes, der traditionell vor der Apokalypse warnt, das Chaos proklamiert hat, steigern sich auch die übrige Apokalypse-Motive. Ein sprechender Fuchs wäre normalerweise ein komisches Element. Aber hier – nach einem langen visuellen Aufbau der Umgebung um Eden, mit immer mehr »gesättigten« Naturbildern und unwahrscheinlichen Handlungen von Tieren und Bäumen – ist es offensichtlich geworden, dass Chaos herrscht. Mit anderen Worten: Die Natur ist böse. Mit Kierkegaard gesprochen, ist die menschliche Schuld zugunsten des Absurden ausgesetzt, weil die Schuld sich so abgründig gezeigt hat und die Freiheit entsprechend völlig verloren oder als Unfreiheit gesetzt ist. Die Angst vor dem Bösen hat abermals eine Steigerung durchlaufen, jetzt zur Angst vor dem Guten/Dämonischen. In dieser Form hat die Person nicht mehr Angst vor Strafe oder Verdammnis, sondern umgekehrt vor jedem guten Wort, das zur Freiheit verhelfen könnte, weil das Dämonische nach letztlicher individueller Unfreiheit strebt. Haufniensis betont das Dämonische als über29 Stavning Thomsen, Lars von Trier’s Renewal, 246. 30 Ebd. 247f. 31 Stavning Thomsen zufolge weist dies auf den »Malleus Maleficarum« (Hexenhammer) hin, nach welchem die Objekte des Begehrens oder der Angst nicht von der begehrenden oder ängstlichen Person gentrennt werden können, wenn eine Frau die Helferin des Teufels wird, und wo der Teufel die inneren Gedanken kennt (ebd. 245–249).

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gangslos: »Der Schauder, der einen packt, wenn man sieht, wie Mephistopheles zum Fenster hereinspringt und in der Stellung des Sprunges verharrend dasteht! Dieser Satz im Sprunge, der an des Raubvogels Stoß, des Raubtiers Sprung gemahnt, der zwiefach entsetzt, weil er im Allgemeinen aus einer vollkommen ruhigen Stellung hervorbricht, ist von unendlicher Wirkung.«32 Mit anderen Worten hat diese Form von Angst eine große ästhetische Kraft, wie auch in Triers »Antichrist«. Weiterhin nehmen biblische Narrative visuell massiv zu. Nachdem die Frau nicht nur wie Adam und Eva das Geschlechtsorgan mit Feigenblättern schamvoll versteckt, sondern deutlich radikaler es (und ihr unendliches Begehren) loszuwerden versucht, in verzweifeltem Bemühen, über den Zyklus der Natur hinauszugelangen33, oder mit Kierkegaard gesprochen, um ihre Schuld und Sünde endlich loszuwerden, sammelt sich die unheilige Dreifaltigkeit der »drei Bettler« um sie. Kurz zuvor hat sie ihren Mann »gekreuzigt« und ihm als einem leidenden Christus einen Schleifstein durchs linke Bein gebohrt. Der Mann versteckt sich danach in einer Höhle, vor der symbolisch ein Stein herunterfällt, aber es hilft alles nichts. Die Krähe, Repräsentant der Verzweiflung, verrät ihn. Die Frau versucht nochmals, jetzt mit einer Schere »den Teufel aus ihm zu treiben«. Jetzt, da die »drei Bettler« gekommen sind, muss ja jemand sterben. Kurz vor seinem vermeintlichen Ende besiegt der Mann die plötzlich guten/ versöhnenden Blicke der Frau mit einem dämonischen Blick. Wie der Antichrist in der biblischen Apokalypse mit Christus-Zügen ausgestattet ist, schlägt der Mann (der leidende Christ) damit in einen Antichrist/Satan um und bestätigt auf tragikomische Weise die Realität des Bösen, spätestens als er seine Frau verbrennt. Danach humpelt er, ein Satan auf Krücken, davon; eine Szene, die in slow-motion gedreht ist und in der wie beim vorigen orgastischen Hexensabbat mehrere totgeprügelte Körper um ihn herum liegen, um seine Schuld zu zeigen. Das traditionell jüdisch apokalyptische Motiv einer davidisch-messianischen Rettergestalt als Vermittler zwischen irdischem und himmlischem Gericht erscheint im Epilog. Der Mann steigt einen hohen Berg hinauf: »Jerusalem als die Hoffnung«. Die Natur ist wieder normal und die »drei Bettler« stehen wie im Prolog wieder als Talismane da. Von oberhalb und unterhalb des Bergs erscheinen langsam hunderte von Frauen, die gleichgültig an ihm vorbeiwandern. Ist es das kollektive schlechte Gewissen über all die Schwestern, die in der Geschichte grausam ermordet wurden und die klassisch eine ästhetische Transformation erlebten? Oder ist es umgekehrt, dass der Mann zwar eine Manifestation der Frauen getötet hat, aber ihre unkontrollierbare und symbolische Natur kann er niemals töten? 32 Kierkegaard, Begriff Angst, 136. 33 Denny, Romance, 174f.

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3.

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Fazit und Schlussgedanken

Triers Reframing der Apokalypse als ein Horror-Psychodrama bedient sich visuell einer haptischen real-time Bildtechnik, der Inszenierung von slow-motion, natürlichen Geräuschen und vielfältigen Konnotationen von klassischen Narrativen und Mythen. Kierkegaards Angstkategorien können Schneisen durch Triers gewaltiges Symbolwerk schlagen und helfen, das Motiv des Antichrist nicht nur gemäß Nietzsche als Dionysos-Figur, sondern auch als Angstform in einem Individuum zu identifizieren. Kierkegaard deutet die Angst als Ausdruck für die im Sündenfall gesetzte Schuld, die im Glauben angeeignet werden soll. Präziser ist der Sündenfall bzw. das Sündenbewusstsein also als ein gebrochenes Selbstbewusstsein und eine existentielle Freiheit zu verstehen. Diese grundsätzliche Konstituierung kann aber – mit tödlichen Konsequenzen – umgedreht werden. Von der projizierten Schuld über die gesetzte Schuld und wahnsinnige Reue, um die Konsequenz der Sünde durch Rache/Strafsüchtigkeit und (Sado-)Masochismus zu bewältigen, bis zur dämonenhaften Angst vor dem Guten – dies sind (verzerrte) Konsequenzen des Sündenfalles in Triers »Antichrist«, wie hier anhand dreier Filmsequenzen gezeigt worden ist. Frau und Mann werden nicht wie in Gen 3 nach ihrem Sündenfall aus dem Garten Eden vertrieben, um ihre eigene Geschichte und Familie zu gründen, sondern umgekehrt wird ihre Beziehung (und die ihrer Familie) sprunghaft beendet und sie gehen in den Garten hinein, um einander zu töten. Die psychologische Benennung der drei Totemtiere als Trauer, Schmerz Verzweiflung ist Ausdruck für die zunehmende Angst des Ehepaars seit dem Verlust ihres Sohns während ihres Liebesaktes. Im Licht von Kierkegaards Angstanalyse, die jedem Individuum eine potenzielle, entstellende Angst zuschreibt, lässt Trier es offen, wer der Antichrist ist. Die all-begehrende und immer ängstlicher Frau scheint es zunächst zu sein als Mutter, die ihr Kind vernachlässigt – eines der größten moralischen Verbrechen in unsere Gesellschaft. Die Frau identifiziert sich schlussendlich komplett mit ihrem Forschungsgegenstand, den Hexen. Der Mann andererseits wehrt die grundlegende Schuld und Sünde zugunsten eines therapeutischen Weltbildes misstrauisch ab und bricht kulturelle Lebensregeln, um mit rationalen Methoden die Angst seiner Frau auszutreiben. »Das Gesetz« unter Menschen bricht zusammen zugunsten der Macht der Natur, der wir in unseren westlichen Kulturen normalerweise keine eigene Rolle zuschreiben. Sowohl die Frau als auch der Mann, Hexe oder Satan, haben schlussendlich die Freiheit völlig verloren und es kommt zum apokalyptisch-messianischen Szenario mit dem Sieg des Messias und die Sammlung der Exilierten auf dem Berg, aber nur auf eine höchst ironische Weise.

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Was leistet nun Triers Film über das Böse im 21. Jahrhundert? Er erneuert das Motiv des Antichrist, fragmentiert es aber auch. Wie eine Karikatur auf Nietzsche kombiniert Trier das Motiv mit (eigenen) psychischen Krankheiten und Neurosen und verbindet es mit aktuellen (Krisen)Debatten zu Klima, dem Anthropozän, Feminismus etc. Auf diese Weise hinterfragt Trier Selbsterlösungsversuche und therapeutische Diskurse, die unsicher geworden sind. Im Licht der aktuellen Klimadebatte etwa führt sein Film dazu, sich Gedanken über den Begriff der Natur zu machen, die wir (noch) vorzugsweise in einen Aufklärungsdiskurs (die Natur ist nicht »böse«) einpassen wollen, der darin aber auch problematische Grenzen gesetzt sind. Mit Elementen griechischer Tragödien, mit jüdischen, christlichen, orientalischen und populär-philosophischen Motiven versucht Trier klassische Werte und Dichotomien wie Mann/Frau, Kultur/Natur, Heilung/Krankheit, Kernfamilie/Individuum und Christ/Antichrist kritisch im Zusammenhang gängiger Schuld- und Moralvorstellungen umzustellen und sie damit zu hinterfragen sowie der Figur des Antichrist auf diese Weise kulturell konstituierende Kräfte zuzuschreiben. Mit Ironie und Provokation, in einem doppelten Reframing des Antichrist-Motivs – dem noch kulturell konstituierende Kräfte zugeschrieben werden können –, mit einer neuen extremen Filmkunst als auch mit Kritik daran, dass Individuen und Institutionen durch Privilegien oder Mängel zum Antichrist gestempelt werden, will Trier somit eine affektive Gesellschaft ausbilden.

Quellen und Literatur Antichrist (DVD), Zentropa Entertainment 2009. Linda Badley, Lars von Trier (Contemporary Film Directors) Urbana/Chicago/Springfield 2010. Hubertus Busche, Wer ist der »Antichrist«? Die Kirche, Jesus und Nietzsche in der Dialektik ihrer Anti-Stellung, in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hg), Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern, Berlin 2010, S. 235–253. Ingolf U. Dalferth, Selbstlose Leidenschaften. Christlicher Glaube und menschliche Passionen, Tübingen 2013. David Denny, A Postmodern Family Romance. Antichrist, in: ders./Rex Butler (Hg.), Lars von Trier’s Women, New York/London 2017, S. 159–179. Ahmed Elbeshlawy, Woman in Lars von Trier’s Cinema 1996–2014, Berlin (Cham) 2016. Arne Grøn, Im Horizont des Unendlichen. Religionskritik nach Nietzsche, in: Ingolf U. Dalferth/Hans-Peter Grosshans (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006, S. 145–162.

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 17: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 612) Frankfurt am Main 1969. Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. XI/12: Der Begriff Angst. Vorworte, übersetzt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln 1965. Gerhard Langer, Dämonen in talmudischer und persischer Tradition, in: Chilufim. Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte 25 (2018) S. 39–68. Bodil-Marie Stavning Thomsen, Antichrist – Chaos Reigns. The Event of Violence and the Haptic Image in Lars von Trier’s Film, in: Journal of Aesthetics and Culture 1 (2009) S. 1–10. Bodil-Marie Stavning Thomsen, Lars von Trier’s Renewal of Film 1984–2014, Aarhus 2018. Jack Stevenson, Lars von Trier (World Directors) London 2002.

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Der »Messias der arischen Lüge«. Der »Antichrist« in Soma Morgensterns »Blutsäule«

»Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth« gehört zweifellos zu den komplexesten Werken von Soma Morgenstern und zu den faszinierendsten literarischen Aufarbeitungen der Schaoh überhaupt. Es entstand Ende der 1940erund Anfang der 1950er-Jahre in den USA. Morgenstern selbst bezeichnete es als ein »Totenbuch«1, Teile davon wurden in ein konservatives amerikanisches Gebetbuch eingewoben. Ruth Oelze nannte es im Anschluss an Abraham Jehoschua Heschel einen »Midrasch, ein in Inhalt und Erzählstruktur zutiefst in der jüdischen Kultur verwurzeltes religiöses Bekenntnis«2. Oelzes wichtige Analyse des Werkes auf der Basis der jüdischen Schoah-Literatur sei hier vorausgesetzt und kann – obwohl es reizvoll wäre – nicht kommentiert werden. Vielmehr versuche ich, das Werk unter dem Aspekt der jüdischen Endzeiterwartung und -hoffnung zu lesen und dabei die jüdische Variante des »Antichrist(en)« in den Mittelpunkt zu stellen. Diese besondere Leseweise schließt andere nicht aus, im Gegenteil, versucht sie lediglich zu ergänzen.

1.

Der »Antichrist« – Antimessias als Motiv in der rabbinischen Literatur

Diesbezüglich war das 7. nachchristliche Jahrhundert besonders bedeutsam.3 Die jüdische Tradition war nach schweren Enttäuschungen und der Niederschlagung der großen Aufstände im 1. und 2. Jahrhundert zusehends von der apokalyptischen Naherwartung abgerückt. Die Rabbinen waren auch in Bezug auf die Messiaserwartung überaus pragmatisch und hielten sich mit Berechnungen seiner Ankunft auffällig zurück. Erst im Zuge der Eroberung byzantinischen 1 Vgl. Horch, Totenbuch. 2 Oelze, Funkensuche, 1. 3 Hier ist z. B. auf den Artikel von Lutz Greisiger, Armilos, zu verweisen. Informativ zum Umfeld auch Sivertsev, Judaism.

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Territoriums durch die Perser ab 603 erwachten die Hoffnungen auf erstaunlich explosive Weise. Persische Heere eroberten Ägypten, Teile Kleinasiens und Syrien und standen 626 vor Konstantinopel. Im Jahr 614 war Jerusalem in persische Hände gefallen und kurz darauf mit aktiver jüdischer Beteiligung die christliche Bevölkerung drangsaliert und zum Teil getötet worden. In dieser Zeit entwickelte sich eine jüdische Selbstverwaltung und mit ihr auch die Hoffnung auf Wiedererrichtung des Tempels, ein Motiv, das in den klassischen Antichristdarstellungen immer wieder eine Rolle spielt.4 Die Euphorie hielt nicht lange an. Zuerst entzogen die Perser den Juden die Herrschaft über Jerusalem wieder, danach eroberte Kaiser Herakleios (610–641) in einer Phase der politischen Instabilität in Persien 628 die verlorenen Gebiete für Byzanz zurück. Die jüdische Bevölkerung, die sich nicht rasch genug in Sicherheit bringen konnte, wurde massakriert. Im Jahr 630 kam auch die von den Persern entwendete Kreuzesreliquie wieder an seinen angestammten Platz in der Grabeskirche. Lange dauerte auch diese Herrschaft nicht. Im Jahr 636 wurde sie durch den Siegeszug der muslimischen Truppen beendet. Von nun an herrschten für sehr lange Zeit Muslime in Jerusalem. Es ist erstaunlich, dass nach einigen Quellen5 Juden offensichtlich nicht nur Mohammed als Propheten anerkannten, sondern auch dem Kalifen Umar bei der Neueinrichtung des Tempels zu helfen bereit waren. War somit der Kalif eine Art Messias, der die Hoffnungen der Juden erfüllen sollte? Historisch ging es anders aus. Spätestens mit dem Bau des Felsendoms 692 wurde das ehemalige Tempelareal muslimisch vereinnahmt. In dieser gewaltigen Umbruchszeit entstanden einige wichtige apokalyptische jüdische Schriften. Die bedeutendste war der Sefer Serubbabel.6 In ihm tritt ein römischer Herrscher namens Armilos (wohl von Romulus abgeleitet) auf, der das Volk (der Juden) zu vernichten trachtet. Hier der Text in Zeitraffer zusammengefasst: In einer Vision erfährt Serubbabel7 vom höchsten Engel (Michael/Metatron) eine längere Geschichte über die bevorstehenden endzeitlichen Ereignisse. Darin ist von einem Messias aus dem Haus Josef namens Nechemja ben Chuschiel die Rede, der den Opfergottesdienst in Jerusalem neu einrichtet.

4 5 6 7

Vgl. etwa Adso, Libellus. Vgl. dazu Greisiger, 19f. Vgl. dazu ausführlich Himmelfarb, Messiahs. Der David-Nachkomme Serubbabel wird in der Bibel als Statthalter der persischen Provinz Jehud um 520 angeführt und verantwortlich für den Jerusalemer Tempelbau erklärt (so in den Büchern Esra und Nehemia sowie bei Haggai und Sacharja, wo er mit dem Priester Jeschua messianisch aufgeladen wird).

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Wichtig ist eine starke Frau namens Hefziba8. Sie stellt sich mutig den Feinden entgegen. Hefziba vermag zwar mächtige Könige zu besiegen und eine Zeit lang das Judentum in Jerusalem zu schützen, aber es ersteht ein weiterer Bösewicht, nämlich Armilos. Er ist die Frucht des Satans und einer Jungfrau, die auch in steinerner Form verehrt wird. Er schwingt sich zum Herrscher über die Welt auf. Armilos tötet den Messias aus dem Haus Josef, doch schon bald danach greift der von Hefziba geborene davidische Messias namens Menachem ben Ammiel ins Geschehen ein. Er wird zuerst nicht anerkannt, da er ärmlich gekleidet ist und zieht sich daraufhin »passend« um, hüllt sich in ein Kleid aus Rache und einen Mantel aus Zorn. Er tötet den im Übrigen überaus hässlichen Armilus mit seinem Atem. Er erweckt gemeinsam mit Elija den Messias aus Josef wieder zum Leben. Die Toten stehen auf und die Exilierten kehren nach Jerusalem zurück. Von einem erschlagenen Messias aus dem Hause Josef ist im Übrigen in der rabbinischen Tradition mehrfach die Rede, u. a. in Sukka 52a im babylonischen Talmud. »Auf welche Art sich der Messias ben Josef aus der kurzen talmudischen Notiz entwickelt, demonstriert exemplarisch Chai Gaon. Chai Gaon lebte von 939 bis 1038 in Babylonien und war dort Oberhaupt der hohen rabbinischen Schule von Pumbedita. Aus der bloßen Erwähnung des erschlagenen Messias ben Josef von Sukka 52a inszeniert der Gaon in seiner Responsenliteratur ein eigentliches apokalyptisches Drama: Von Galiläa zieht der Messias ben Josef nach Jerusalem, wo eine gewaltige Schlacht tobt. Der Anführer der feindlichen Aggressoren, Armilus, erschlägt den Messias ben Josef, worauf dessen Leiche 40 Tage unbeerdigt in den Gassen Jerusalems liegt. Dann kommt der triumphierende Messias aus dem Hause Davids, belebt den getöteten Messias zu neuem Leben und leitet damit die Auferstehung der Toten ein. Ganz Israel versammelt sich darauf in Jerusalem und tritt Gog und Magog zum Endkampf entgegen. Ohne auf all die brutalen Details einzugehen, verifiziert sich doch auch hier die These, dass der leidende Messias das Symptom einer messianischen Katastrophentheorie darstellt.«9 Das hier beschriebene Drama ist die konsequente Fortführung der im 7. Jahrhundert aufflammenden apokalyptischen Messiaserwartung, die sich mit einem Antimessias Armilos/Herakleios aus Byzanz verbindet. Betrachten wir 8 Hefziba war auch der Name der Frau des Königs Hiskija (2 Kön 21,1). Er ist eine Figur, die etwa in Talmud Sanhedrin 94a mit dem Messias in Verbindung gebracht wird. Bedeutsam ist die Erzählung in jBerakhot 2,4,12–14, wonach ein Jude auf den König Messias aufmerksam gemacht wird, der Menachem ben Hiskija heißt. Der Jude verkauft schließlich Windeln in der Stadt Betlehem und hört, dass die Mutter des Menachem keine kaufen will, weil sie ihren Sohn zukünftig für die Zerstörung des Tempels für verantwortlich hält. Als er nach einiger Zeit zurück in die Stadt kommt, sagt sie, dass Winde das Kind weggetragen hätten. Vgl. zu diesem Text auch Schäfer, Messiasbaby. 9 Oberhänsli-Widmer, Der leidende Messias, 139.

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zusammenfassend noch einmal die wichtigsten Stichworte, ehe wir das Augenmerk auf Soma Morgensterns Verarbeitung des Themas richten. Es treten auf bzw. sind wichtig: – ein himmlischer Bote, der die Zukunft erläutert, – ein Bösewicht, der das Judentum vernichten will, – dessen Mutter, deren Herkunft schlecht beleumdet ist, – der Satan als Verführer, – der Tempel als Mitte des geistigen jüdischen Lebens, verbunden mit dem Messias, – ein leidender Messias, – die Mutter des davidischen Messias und – die davidisch messianische Rettergestalt am Ende der Geschichte. Die Themen werden auch von Soma Morgenstern in der »Blutsäule« aufgegriffen und auf seine ihm eigene Art verarbeitet; dazu nun im zweiten Teil.

2.

Die »Blutsäule« und der Antimessias

In der »Blutsäule« geht es an der Oberfläche um den Mord an den Juden einer kleinen Stadt am Fluss Sereth, um die Befreiung durch die eintreffende Rote Armee und das daraufhin folgende Gericht an den Schuldigen. In seiner Tiefe ist es eine symbolhaft intensiv aufgeladene Erzählung apokalyptisch-messianischer Ereignisse, an deren Ende der Ausblick auf das neue Jerusalem steht. Im Folgenden werden einige wichtige Aspekte notgedrungen ausgeblendet, damit eine Konzentration auf das apokalyptisch Messianische – und Antimessianische – erfolgen kann.

Die erste Warnung Auf Seite 60 und 61 begegnet ein prophetischer Warner, der »Fremde«, der gutes weißes Schabbatbrot an die Hunde verfüttert. Als ihn endlich der für die Handlung wichtige Toraschreiber Zacharia dabei bemerkt und zur Rede stellt, erklärt der Fremde seine Zeichenhandlung als Hinweis auf die bevorstehenden Zeiten des Mordes: »Über Jahr und Tag werden bis an die Zähne bewaffnete Mordbrenner eindringen in dieses Land. Sie werden euer Brot vor die Hunde werfen, und das Leben eines Juden wird ihnen wohlfeiler sein als das Leben eines Hundes. Wie mich gesehen, habe ich dich gewarnt. Nun geh’ ich weiter, von Stadt zu Stadt, von Markplatz zu Marktplatz, und wer mich sehen wird

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und fragen, der soll gewarnt werden wie du, Zacharia Hakohen. Geh deines Weges und frage nicht mehr.«10

Hier werden mehrere Motive im Zusammenhang mit dem biblischen Propheten Elija aufgenommen. Er war es, der in 1 Kön 17 eine wundersame Brotvermehrung zustande bringt, den Sohn einer Witwe zum Leben erweckt, von der Königinmutter Isebel verfolgt wird, die selbst schließlich von Hunden in Stücke gerissen wird (2 Kön 9).

Vater und Mutter der Messiasse Der Toraschreiber trägt den Namen eines biblischen Propheten – Zacharia(s)/ Sacharja aus dem 6. Jahrhundert v. a. Z. Er ist für seine Visionen bekannt, seine Beschreibung der Endzeit und auch für seinen messianische Weissagung. Zwei vom Engel verheißene Personen erhalten bei ihm messianische Ehren, Serubbabel und der Hohepriester Jeschua (Sach 4; 6). Morgenstern greift also deutlich auf eine biblische Tradition zurück, in deren Mitte die messianische Erneuerung steht, aber auch Endgericht und der Tag des Herrn eine wichtige Rolle spielen. Der Toraschreiber Zacharia geht in Morgensterns »Blutsäule« nach der Begegnung mit dem Fremden nach Hause zu seiner Frau namens Sheva, die bewusst in Anlehnung an die biblische Sara als kinderlos geschildert wird. Ihr werden gerade von einer (himmlischen) Stimme Zwillingssöhne verheißen. Auch dies kann einerseits als Hinweis auf die beiden Messiasse bei Sacharja gedeutet werden. Stärker noch, wie der Verlauf der Erzählung zeigen wird, wird man es als Bezug auf den leidenden/sterbenden sowie auf den davidischen Messias interpretieren dürfen. Beide werden als »Trost deines Volkes«11 bezeichnet.

Die beiden Söhne als Messiasse und der »Anfang der Erlösung« Die beiden Söhne erhalten die Namen Nehemia und Jochanaan. Nehemia bedeutet »Gott tröstet«, Jochanan »Gott ist barmherzig«. Nehemia erinnert natürlich an die biblische Gestalt gleichen Namens, die nach der Rückkehr der Exilierten aus Babylonien in Jerusalem für Ordnung sorgt, sich um den Tempel und die innere Struktur der Gemeinde kümmert. Im Sefer Serubbabel war Nechemja ben Chuschiel der leidende Messias, der für einige Zeit den Tempelgottesdienst in Jerusalem eingerichtet hatte, später aber ermordet wurde. Ihm

10 Blutsäule 61. 11 Ebd. 62.

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steht dort Menachem als davidischer Messias gegenüber.12 Bei Morgenstern hat Nehemia eher die letztere Rolle, während Jochanaan sterben wird. Schon in jungen Jahren erweisen sich die beiden Knaben als fromm, lerneifrig und klug. Allerdings wären sie einmal in heißen Sommer beinahe im Fluss ertrunken, just einen Tag vor dem 9. Av, an dem Juden der Zerstörung des Tempels durch die Römer gedenken. Dies ist ein fataler Hinweis auf das, was kommen wird. Aber sie schaffen es zum Glück, aus dem Strudel zu entkommen und werden vom Wasserträger gerettet. Dieser Wasserträger namens Senderl, der sich später als christlicher Zöllner Hawryluk ausgibt und dadurch überleben kann, wird schließlich auch Teil des himmlischen Gerichtes sein. Als Kinder streiten die beiden. Der eine, Nehemia, meint, dass er, wäre er der Weltenschöpfer, sich nur Israel offenbaren würde, der andere, Jochanaan, hingegen würde sich allen Menschen zeigen. Und kurz darauf reden sie: »Wenn der Erlöser kommt, wird das auserwählte Volk in das Heilige Land zurückkehren. Und dort wird die Erlösung beginnen.« »ATCHALTA D’GE’ULA«, sagte der eine von ihnen. Der andere erwiderte: »Wenn der Erlöser kommt, wird die ganze Welt ein heiliges Land werden. Wer soll die Völker der Welt die Tora lehren, wenn nicht das auserwählte Volk?«13

Damit gibt Morgenstern die zentralen Stichworte vor, die er später aufgreifen wird, um die Erlösung nach der Schoah zu beschreiben. Die Kinder erweisen sich hier als prophetische Figuren, die bereits die großen Zusammenhänge verstehen. Mit atchalta de-ge’ulah verweisen sie auf das Aramäische »Anfang der Erlösung«, das im babylonischen Talmud im Abschnitt Megilla 17b begegnet. Dort geht es um das Purimfest und die bei diesem Anlass gelesene Ester-Rolle, die Megilla. Purim spielt bei Morgenstern eine große Rolle, auch in der »Blutsäule«, worauf noch zurückzukommen ist. Im Laufe der Diskussion im babylonischen Talmud wird über das Schma’ Israel und das Achtzehn-Bittengebet diskutiert, die zentralen Gebete des jüdischen Gottesdienstes. In Bezug auf das Achtzehn-Bittengebet diskutiert man über die Abfolge der Bitten. Die siebente Bitte lautet: »Sieh unsere Not und führe unseren Streit und erlöse uns bald um Deines Namens willen, denn du bist ein machtvoller Erlöser. Gelobt seist du, HERR, der Israel erlöst.« An dieser Stelle heißt es dann im Talmud: Und welchen Grund sahen sie, Erlösung an der siebten Stelle zu nennen? Rava sagte: Weil sie in Zukunft an einem Sabbatjahr erlöst werden, daher setzten sie es als siebtes

12 Menachem kommt aus der selben Wurzel wie Nechemja, bedeutet also »Tröster«. 13 Blutsäule 70.

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fest. An einem Sabbatjahr?14 Hat nicht ein Meister gesagt: An einem sechsten Jahr Stimmen [der Befreiung] – an einem Sabbatjahr Kriege, beim Ausgang des Sabbatjahres kommt der Sohn Davids? [Die Antwort lautet:] Ein Krieg ist auch der Anfang der Erlösung.

Der Krieg bezeichnet nichts weniger als die so genannten messianischen Wehen (hebr. chewlej ha-maschiach), die der Ankunft des Messias vorausgehen. Sie sind die Vorboten des Messias. In diesem Sinne nimmt Morgenstern das Zitat auf und lässt es viel später den messianischen Sohn Nehemia wiederholen und vom Erzählenden Richter, der gewissermaßen das himmlische Edikt gegen die Nazis ausstellt, erklären: Das Wort Anfang ging dem Wort Erlösung voran. Das heißt: Unser Leiden waren die Leiden, die nach der Weissagung der Erlösung vorausgehen sollten. […] Wie wir den Anfang der Erlösung zu erwirken hatten, so werden wir die Vollendung erwirken: des zum Zeichen wird Messias erscheinen. Erwirken aber heißt Erleiden. Und es gibt keine Vertretung im Erleiden, wie es keine Vertretung gibt in Reue und Buße.15

Doch greife ich damit schon auf das Ende des Buches voraus. Vorerst befinden sich die Knaben noch vor der großen Katastrophe. Sie lernen zwei Zwillingsmädchen kennen, mit denen sie sich gleich gut verstehen und die die bezeichnenden Namen Ester und Rahel tragen. Rahel ist – wie auch ihr biblisches Pendant – die jüngere. Ester und Rahel symbolisieren, auch das ist nicht schwer zu erraten, zwei Aspekte. Ester ist die Retterin aus dem gleichnamigen biblischen Buch, das am Purimfest gelesen wird. Rahel ist die Mutter eines Teils der zwölf Söhne Jakobs und sie »weint um ihre Kinder« (Jer 31,15), verweist also auch auf die Katastrophe der Zerstörung.

Der Wanderer Während die vier Kinder unbeschwert spielerisch ihre Verlobung inszenieren, mischt sich ein unbekannter Wanderer ein, der vor Pessach gern in die Stadt kam, und verbindet Jochanaan mit Rahel in dem improvisierten Traubaldachin. Der Fremde »trägt einen Schafpelz, wie ihn die Bauern tragen, und er gürtet den Pelz mit einem groben Strick wie ein Holzhacker. Wo kommt er her? Vielleicht ist er ein verborgener Zaddik, vielleicht einer von den Sechsunddreißig?«16

14 Vielleicht ist es auch mehr als zufällig, dass das Jahr 5705 nach jüdischer Zählung, also 1944/ 45, ein Sabbatjahr war, als der Krieg zu Ende ging und die Befreiung durch die Rote Armee einsetzte. 15 Blutsäule 147. 16 Ebd. 81.

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Der Hinweis auf die 36 Gerechten, die in jeder Generation erscheinen sollen, geht auf einen Ausspruch im babylonischen Talmud Sanhedrin 97b zurück: »Abaje sagte: Die Welt muss aus nicht weniger als 36 Gerechten in jeder Generation bestehen, die das Antlitz der Schechina erhalten, denn es heißt: Glücklich sind jene, die (auf ihn =) l-o/w warten (Jes 30,18) – der numerische Wert von l-w ist 36.«17 Diese so genannten Lamedwowniks, die 36, sollen in jeder Generation dafür sorgen, dass die Welt nicht untergeht. Für Morgenstern waren sie ein wichtiger Bestandteil seiner vom Chassidismus geprägten Vorstellung und sie treten daher des Öfteren auf. Doch trägt der Unbekannte auch Züge des biblischen Elija, dem als Vorboten des Messias eine zentrale Rolle in der jüdischen Tradition zukommt und nicht zufällig deshalb an Pessach erscheint, an dem man für ihn auch einen Becher mit Wein bereitstellt.

Der Kugelrunde Kaum zu Hause nach dem Verlobungsspiel, taucht in dieser kalten Nacht ein weiterer Fremder auf, ein Mann, rund wie ein Fass, und dessen Pelz mit einem Strick zusammengehalten wird. Der »Kugelrunde« tanzte vor dem Fenster. Er tritt just in der Mitte der Nacht (hebr. chatzot) auf, als die Chassidim aufstehen, um die Verbannung der Schechina, also der göttlichen Gegenwart, zu beklagen und zu beten. Dieser Brauch geht auf die Kabbalisten von Safed zurück und nennt sich bis heute auch »Tiqqun Chatzot«. »Tiqqun« ist der übliche Begriff für die Verbesserung oder Reparierung der Welt. Dazu dienen unter anderem, wie in diesem Fall, Gebete.

Ein zweiter Warner vor der Apokalypse Neben dem ersten Warner tritt etwas später eine weitere Figur auf, ein älterer Mann, der Gedalje ben Izchak heißt. Er war einst ausgezogen in den Westen, um dort die Luft der durch die Aufklärung vermittelten Befreiung zu schnuppern, kam jedoch zurück, um vor der Gefahr aus dem Westen zu warnen. »Macht euch auf! Lauft davon und rettet euch! Sagt der Engel nicht zu Esra: Die Überlebenden sind bei weitem begnadeter als die Gestorbenen?« […] »Es kommen die Furcht17 Jeder Buchstabe im hebräischen Alphabet hat auch einen Zahlenwert, also Aleph 1, Bet 2 etc. Lamed hat den Zahlenwert 30, Waw 6. l-w liest man als lo, was »auf ihn« bedeutet. Hier wird jedoch die Methode der Gematria zur Auslegung herangezogen und das Wort vom Zahlenwert her aufgelöst.

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baren Tage«, sprach der alte Mann weiter. »Es kommen entsetzliche Tage, sage ich dir, Zacharia. Von Bäumen wird Blut träufeln! Steine werden schreien! Der Tyrann der Endzeit ist da, der deutsche Messias der arischen Lüge! Du, Zacharia, wohl dir, du hast den Glauben und die Zuversicht. Aber die Geschichte lehrt uns, daß Gott dem Bösen noch nie in den Weg getreten ist.«18

Hier ist alles gesagt. Der Antimessias ist benannt, die Apokalypse angekündigt, aber auch Gottes fehlendes Eingreifen nüchtern verkündet. So kurz und prägnant dieser Abschnitt ist, so wichtig ist er für die Erzählung. Erstaunlich ist auch die Antwort des Toraschreibers, die sich ausschließlich auf den letzten Teil bezieht. »Das ist nicht unsere Geschichte, die das lehrt, Gedalje19 ben Izchak. Geh du deiner Wege. Sollten sie dich zur Sicherheit führen und zur Rettung, um so besser für dich. Meine Wege sind sie nicht.«20 Damit wird die Diskrepanz zwischen der »aufklärerischen« Anklage an Gott und dem Versuch, der Apokalypse durch Flucht zu entkommen, und dem religiösen Annehmen der Apokalypse als Teil des messianischen Dramas vor Augen geführt. Morgenstern, der seine Mutter, eine Schwester und seinen Bruder in der Schoah verloren hat, wagt sich damit weit vor. Er selbst war mit Umwegen nach Frankreich und dann in die USA emigriert. Auch in ihm steckt also ein wenig von Gedalje. Gedalje hatte in der Manier der assimilierten Juden seinen Namen zu Georg Brandt verändert und war in den Westen gegangen, hatte aber seinen Glauben nicht abgelegt. In Ansätzen schwingt in der Figur des Gedalje etwas von dem Josef aus der Trilogie »Funken im Abgrund« mit, der im Westen sein Glück sucht und sich vom traditionellen Glauben abzuwenden scheint, der aber im Laufe der Romane immer mehr rehabilitiert wird.

Der Antimessias Im siebzehnten Kapitel wird in einem Dreiergespräch zwischen Goebbels (»Klumpfuß«), dem Reichsmarschall Göring (»Fettwanst«) und Hitler (»Schreihals«) die Vernichtung der Juden beschlossen. Zentral ist dieser Absatz auf Seite 114: »Gewiß«, sagte der Fettwanst, »du bist der größere Nachfolger unseres großen Lehrers. Aber es gibt in Europa allein neun Millionen Juden. Willst du neun Millionen umbrin-

18 Blutsäule 89. 19 Der biblische Gedalja (2 Kön 25) war ein judäischer Verwalter des von den Neubabyloniern eroberten Juda ab 587 und akzeptierte somit die Besatzung. Er wurde von einem Davididen ermordet. 20 Blutsäule 89.

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gen?«– »Warum nicht?« sagte der Schreihals. »Unter neun Millionen Juden gibt es (die Juden sind ein fruchtbares Volk) mindestens zwei Millionen Kinder«, sagte der Fettwanst. »Willst du zwei Millionen Kinder umbringen?« »Judenkinder? Warum nicht? In erster Reihe die Kinder.« Der Schreihals erhob sich und fiel in einen Redekrampf. »Justament die Kinder. Dadurch schneiden wir ihnen die Zukunft ab. Eine Gegenwart haben die Juden ohnehin nicht mehr. Justament die Kinder! Es wird endlich ein Ende nehmen mit den Heines, den Mendelssohns, mit den Mahlers, den Joachims, mit den Ehrlichs und den Schönbergs, mit den Bergsons, mit den Einsteins!«

Schließlich beschließt das Triumvirat auf Vorschlag des Klumpfußes, die besondere Demütigung einzuführen, die Judenkörper in Seife zu verwandeln. In dem Gespräch versucht Göring noch, Hitler davon abzubringen, weil er darauf verweist, dass ja möglicherweise auch der wiederkommende Messias – selbst auch nach christlicher Überzeugung – aus dem Judentum stammen würde. »Willst du es auf dich nehmen, von dem Blut des Erlösers Seife zu machen? Wir dachten, du würdest in der Weltgeschichte in einer Reihe stehen mit Alexander dem Großen, mit Napoleon Bonaparte. Ziehst du es nun vor, neben Pharao und Herodes zu stehen?«21

Die Antwort Hitlers ist bezeichnend. Sie stellt dabei klar, dass mit dem Judentum auch das Christentum ausgerottet werden soll, das aus dem Judentum erwachsen ist: »Die Weltgeschichte stellt keine Fragen. Sollte sie aber einmal die Frage stellen, was mir lieber wäre: die Welt zu erobern oder die Figur des jüdischen Welterlösers in Seife zu verwandeln, so halte ich die Antwort bereit. Nach mir gibt es keinen Burim und kein Weihnachten, kein Pessachfest und keinen Karfreitag!«22

Als der »Klumpfuß« abgeht, unterhalten sich am Ende des Kapitels der »Schreihals« und der »Fettwanst« miteinander. »Jeder Klumpfuß ist mit dem Teufel verbunden«, sagte der Reichsmarschall. »Man muss sich vor ihm in acht nehmen.« – »Freilich«, sagte der Schreihals, »er wäre imstande, auch aus dir Seife zu machen.« »Ich sehe es meinen Freunden in ihren Augen an, wenn es Zeit ist, sie erschießen zu lassen«, sagte der Fettwanst. »Das hast du von mir gelernt«, sagte der Schreihals. Und beide lachten, und sie zeigten einander ihre Zähne, die an Grabschaufeln erinnerten.23

Morgenstern schildert also den Antimessias eigentlich als ein Triumvirat. Es ist eine unheilige Dreifaltigkeit, die hier vor Augen geführt wird. Man kann trefflich darüber spekulieren, ob er damit bewusst auf die Trinität im christlichen Kontext anspielen und sie konterkarieren wollte.

21 Blutsäule 119. 22 Ebd. 23 Ebd. 119f.

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In jedem Fall beabsichtigt der Antimessias, nicht nur das physische Leben der Juden auszutilgen, sondern sie auch jeglicher Würde zu berauben, ihr Andenken aus der Welt zu löschen. Dass dabei – wohl ganz bewusst falsch geschrieben – Burim/Purim besonders genannt wird, hat mit der Symbolik des Festes zu tun. Es zeigt bis heute, dass Juden nicht unterzukriegen sind, dass sie auch trotz der ärgsten Bedrohung überleben können. Der Refrain des 1943 von Lejb Rosenthal im Wilnaer Ghetto geschriebenen Liedes »Mir leben eybik, mir zenen do« bringt dies wohl am besten zum Ausdruck. Purim war immer ein Fest der Freude, des Triumphes über den übermächtigen Feind. Im frechen Purimspiel, das die Herrschenden genauso persifliert wie die eigenen »Autoritäten«, Gemeindeoberen etc. oder einfach in der ausgelassenen Stimmung des Festtages wird Humor zum Ventil auch in schweren Zeiten, eine Möglichkeit, dem Leiden ein Schnippchen zu schlagen.

Die feindlichen Truppen Das Unheil nimmt tatsächlich seinen Lauf. In der »Blutsäule« werden die jüdischen Feste zu Markern der Ereignisse. War es gerade noch (vor) Pessach gewesen, als die Kinder (spielerisch) unter den Traubaldachin getreten waren, so erreichen sie zum Großen Versöhnungstag (Jom Kippur) das Alter der Bar Mitzwa. An diesem höchsten Festtag der Juden kommen die SS-Truppen ins Dorf und beobachten sogar, auf der Treppe der Synagoge stehend, den Gottesdienst, klatschen nach dem Kol Nidre und gehen danach wieder. Nachdem der Jom Kippur sich dem Ende zuneigt, dringen die SS-Schergen aber in das Gotteshaus ein und richten ein Blutbad an. »Als hätten die ersten Schüsse sie in der Luft erschossen, fielen unsere Gebete tot zu Boden«.24 Als erstes Opfer stirbt der alte Rabbiner. Unzählige weitere folgen ihm. Darunter auch Rahel, aufgespießt auf einem Bajonett eines SS-Mannes. Jochanaan schreit daraufhin den Mörder an und droht ihm an, durch einen Blitz verbrannt zu werden. Darauf will der den Knaben mit dem Gewehrkolben erschlagen. Jetzt geschah es. Jemand, man sah nicht und man weiß bis auf den heutigen Tag nicht wer, spie dem Mordknecht in einem großen Bogen mit meisterlicher Zielsicherheit genau zwischen die Augen. Das hochgeschwungene Gewehr entfiel seinen Fäusten, und mit dem Schrei »Mein Gesicht verbrennt!« schlug auch der Mordknecht zu Boden. Drei SS-Männer eilten herbei und versuchten, ihn hochzubringen. Als sie aber sein bis an die Knochen verkohltes Gesicht erblickten, erschraken sie, und sie ließen ihn liegen.25 24 Ebd. 100. 25 Ebd. 106.

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Jochanaan wird schließlich von einem anderen SS-Mann erschlagen und fällt neben Rahel. Er repräsentiert damit den leidenden und sterbenden Messias inmitten einer Welt des Grauens, aber auch des Wunders. Die Juden gehen nicht wie Schafe zur Schlachtbank, sondern wehren sich, auch wenn die Gegenwehr, zumindest vorerst, den Tod nicht aufhalten kann. Gegen Ende des Kapitels aber ertönt eine Stimme aus einem Winkel des Betraums und sagt »hörbar auf hebräisch: ›Verlöscht die Lichter!‹«26

Michoel/Mechzio Es ist Mechzio, der dies spricht. Mechzio ist eine vertraute Gestalt. Er tritt in der Trilogie »Funken im Abgrund« als wehrhafter Mann auf, als einer der 36 Gerechten. In seinem Namen klingt der Erzengel Michael an, der als Verteidiger Israels, in der Tradition als der Israel zugehörige Völkerengel gilt. Mechzio ist in gewisser Weise ein Außenseiter, ist mit einem unansehnlichen Hautleiden versehen.27 Dies könnte durchaus als ein Zeichen der Erwählung interpretiert werden, ein bewusster Ausdruck des Andersseins, das dem Juden auf den Leib geschrieben ist,28 und paart sich mit seinem Mut, seiner Stärke, der Einsicht in die richtigen Entscheidungen, der Frömmigkeit und Tiefe des Glaubens. Mechzio stellt in den »Funken im Abgrund« Verbindungen zu Elija und zum Messias her. An einer bemerkenswerten Stelle heißt es dort: Die Strypa war der Jordan, Bethlehem lag wo hinter Nabojki. Der Weg, den Moses das Volk von Mizrajim nach dem Lande Kanaan führte, zweigte von dem Scheideweg bei Janowka ab. Das Schilfmeer, in dem der böse Pharao mit Mann und Maus versunken und ertrunken war, war es nicht wie der Große Teich? Und wenn der Messias kommen wird, wird der Prophet Elia, der Künder der Erlösung, aus dem Wald von Dobropolje herauskommen, als ein armer Jude verkleidet, mit einem Finkl auf dem Rücken, einen Hirtenstab in der Hand, langsam schreitend auf dem Pfade an dem Waldbrunnen vorbei. In den anderen Dörfern werden sie glauben, es wäre ein ganz gewöhnlicher armer Jude, aber hier wird Mechzio den Propheten Elia am Waldbrunnen erwarten. Denn Mechzio war einer von den sechsunddreißig Gerechten. Und so wird die Erlösung eigentlich in Dobropolje beginnen […]29

26 Ebd. 107. 27 Vgl. Idyll im Exil 168f. 28 Der Ausdruck parach für »Grindiger«, mit dem Mechzio bezeichnet wird, erinnert an die so genannte »Judenkrätze«. Sie wurde öfter als »jüdische Krankheit« bezeichnet. Die Krätze, sie geht auf einen tierischen Erreger zurück, ist natürlich keine jüdische Krankheit, sondern auch bei Nichtjuden verbreitet. Allerdings war sie zweifellos unter armen Juden häufig. Vgl. dazu den Beitrag zur Krätze in Jütte, Leib, 287–291. 29 Idyll im Exil 268f.

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In der »Blutsäule« ist der fromme Büßer Mechzio der Wehrhafte, der den Scheinwerfer ausschießt und 72 Juden die Flucht über einen unterirdischen Gang ermöglicht. Er befiehlt zudem, die SS-Männer zu entwaffnen, was jedoch nicht geschieht. Teilweise werden sie getötet, die Überlebenden aber schießen daraufhin wild um sich und bringen damit viele Juden um. Nehemia und Ester können entkommen. Die meisten Geretteten flüchten in die Wälder und schließen sich den Partisanen an. Überlebt hat auch eine Torarolle, die von Mechzio in Sicherheit gebracht wurde.

Der Messias als Gekreuzigter und als Wachsfigur Besonders einprägsam ist Morgensterns erzählerische Verbindung zwischen dem Motiv des Gekreuzigten und dem Element der »Verarbeitung« jüdischer Gebeine zu Fett bzw. zu Figurenseife. Dieses schreckliche Bild30 tritt mehrfach an prominenter Stelle auf und bestimmt auch das Gespräch zwischen Hitler, Goebbels und Göring. Die Umwandlung der Juden in Seife wird als eine »keimfreie« Form dargestellt, sich der Juden zu entledigen.31 Der Führer selbst lässt eine Kiste mit Figurenseife an die SS No. 27 als Weihnachtspräsent schicken. Mit der Kiste sind schließlich verschiedene Wunder verbunden, auf die ich hier nicht eingehe. Auf jeden Fall stellt sich heraus, dass in der Kiste eine lebensgroße Knabenfigur enthalten ist, die Jochanaan gleicht. Und es wird gleichzeitig ein Bezug zur Tora hergestellt. Als die Rote Armee den Ort eingenommen hat und die letzten SS-Schergen gefangen sind, wird die Kiste in der Synagoge geöffnet. Der Wasserträger, so heißt es, hob die Figur »mit behutsamen und zärtlichen Händen, wie ein Frommer die Tora aus dem Schreine hebt«.32 Die Kiste enthält also einerseits die messianische »Figur«, andererseits symbolisiert sie den Aaron ha-Qodesch, den Toraschrein, der als Aufbewahrungsort der Tora von religiöser Bedeutung ist. Assoziationen mit der Bundeslade im Tempel sind dabei nicht zufällig. Wichtig ist auch die folgende Stelle, die davon berichtet, dass die Nazis in der Synagoge, die sie in Besitz nahmen, nicht nur ein Bordell einrichteten, sondern auch Bilder hinterließen:

30 Zum Thema Seife aus Judenfett vgl. u. a. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama /ns-opfer-leichen-zu-seife-verarbeitet/759966.html oder https://marcuse.faculty.history.ucs b.edu/dachau/legends/NeanderSoapOral049.htm oder https://forum.balsi.de/index.php?top ic=4037.0 [bd. eingesehen am 07. 08. 2021]. 31 Blutsäule 118. 32 Ebd. 127.

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Inmitten der Nordwand, wo oben der Betraum der Frauen war, hatte jene ruchlose aber kundige Hand zwei Bilder aufgemalt: Das eine, große, darstellend die Gestalt des Gekreuzigten als polnischen Kaftanjuden, mit Schläfenlocken, die samtene Sabbatmütze mit den dreizehn Marderschwänzchen auf dem Haupt voll Blut und Wunden, die Figur in Kreide von roter Farbe, mit einem roten Sowjetstern als Herz. Zur linken Seite des Gekreuzigten, das kleinere, alfresco, stellte einen Judenjungen von etwa dreizehn Jahren dar, auch dieser kindlich dürftige Leib im Kaftan, mit gleichfalls gedrehten, überlangen Schläfenlocken, die samtene Sabbatmütze mit den dreizehn Marderschwänzchen tief und schief überm kindlichen Gesicht. Auch die jüngere Gestalt in der Positur der Kreuzigung, doch nicht an ein Kreuz genagelt, sondern deutlich an der Stirne, an den Händen wie an den gefalteten Füßen mit Kugeln an die Wand geschossen. Diese Figur in blauer Kreide, mit einem roten Sowjetstern als Herz. Die zwei Bildnisse der zwei Gekreuzigten waren rundherum umkränzt mit Gruppenbildern, darstellend Frauen und Männer in zuchtlosem Reigentanz […]. Über dem farbenbunten Gemälde stand in schwarzer Schrift in gotischen Zeichen zu lesen: Die Bluthochzeit am Sereth. Unten, in abwechselnd roten und schwarzen Zeichen, stand der Name des Künstlers sowie die Nummer der Schutzstaffel, der er also mit Herz und Hand diente.33

Etwas später wird gesagt, dass hier christlicher und jüdischer Messias nebeneinander verhöhnt würden. Der jüdische Messias erhält dabei die Gestalt eines Kindes im Alter seiner Bar Mitzwa. Er ist das Ebenbild Jochanaans. Die Figur in der Kiste und die Figur auf dem Bild werden klar identifiziert: »Von dem kränklichen Gelb des Wachses erschien die Figur als eine plastische Wiederholung der kleineren Gestalt des Gekreuzigten«.34 Beide Male handelt es sich um eine figürliche Darstellung des Messias, und zwar eindeutig des leidenden Messias. Morgenstern knüpft dabei klar und unmissverständlich an die Tradition an, die im 7. Jahrhundert n.a.Z. innerhalb des Judentums sehr deutliche Lebenszeichen gibt. Dabei stellt nicht nur der Sefer Serubbabel eine wichtige Quelle dar, sondern auch der Midrasch Pesiqta Rabbati 34–37, in dem vom Leiden, Sterben und der Erhöhung eines Messias im Rahmen der Umwälzungen im 7. Jahrhundert die Rede ist. Hier nur ein kleiner Ausschnitt: Es sagte R. Isaak: Das Jahr, in dem sich der Messiaskönig offenbaren wird, werden alle Könige der Weltvölker einander bekämpfen. Der König Persiens kämpft gegen den König Arabiens. Und der König Arabiens geht nach Edom, um von ihnen Rat einzuholen. Und der König Persiens kehrt zurück und zerstört die ganze Welt. Und alle Völker der Welt werden erschüttert und entsetzt sein und auf ihre Gesichter fallen; und Wehen werden sie erfassen wie die Wehen einer Gebärenden. Auch Israel wird erschüttert und entsetzt sein und sich fragen: Wohin sollen wir gehen? Wohin sollen wir kommen? Und er wird ihnen sagen: Meine Kinder, fürchtet euch nicht! Alles, was ich getan habe, habe ich nur um euretwillen getan. Warum fürchtet ihr euch? Fürchtet euch

33 Ebd. 25f. 34 Ebd. 126.

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nicht! Gekommen ist die Zeit eurer Erlösung. Doch nicht wie die erste Erlösung wird die letzte Erlösung sein.35

Bei Morgenstern wird die alte Tradition in die Zeit der Schoah versetzt. Mechzio und die beiden Knaben Jochanaan und Nehemia spielen dabei gemeinsam die messianische Rolle, die in Pesiqta Rabbati dem einzelnen leidenden Messias zukommt.

Der Satan und das Gericht Im Rahmen der apokalyptischen Visionen kommt der Satan ins Spiel. Dies tut er auch bei Soma Morgenstern. Hier erscheint er in der »Blutsäule« als Verteidiger in dem Prozess gegen die Mörder. Das Gericht ist dabei sowohl eine irdische Abrechnung mit den Nazi-Schergen als auch ein himmlisches Gericht über die Welt. Dabei tritt wieder der »Kugelrunde« auf, der einmal schon vor dem Fenster im Schnee tanzend erschienen war. Er entpuppt sich als Sendbote des Satans. Er nennt Hitler einen »dunklen Hund« und stellt sich ganz auf die Seite der Opfer: »Seitdem der dunkle Hund, den die Deutschen zu ihrem Messias gewählt haben, so rührig wurde, sind wir alle so fett geworden, dass wir uns kaum noch rühren können«, sagt er, weil die »Sünden der Menschen […] den Satan fett« machen. »Und was die Deutschen teuflisch nennen, nennt der Teufel deutsch«.36 Und weiter heißt es: Einerseits ist er der kleine arme Teufel, der Bauernschreck, der Weiberschreck, der Kinderschreck, der Seelenfänger, der Rattenfänger, der Fürzefänger. Andererseits ist er der große Herr: ein souveräner, finsterer Fürst der Hölle, der Nebenbuhler und Gegenspieler ihres »Lieben Herrgottes« im Himmel. Diesem Bericht dürfte es aber bekannt sein, daß mein Meister einstens sechs Paar Flügel hatte und den Titel führte: Malach schel harachamim, Engel der Barmherzigkeit! Wie, wenn es meinem Meister beifiele, seinen unveräußerlichen Anspruch auf diesen schönen Namen höheren Gerichtsortes heute zu erheben? Dieses Gericht kennt den Unterschied zwischen Verstoßensein und Verworfensein. Löscht die Frage, die fehl am Ort ist, aus dem Buch dieses Gerichtes aus! Löscht die schwarzen Kerzen aus! Satans Abscheu vor den Kinderschlächtern, Satans Mitleid mit euren Kindern ist nicht mißzudeuten. Vor dieser Figur steht Satan, wie wir alle hier, in Tränen.37

Angesichts der Schoah kann es somit auch für den Teufel keine Funktion mehr des Widersachers geben. Er ist mit dem Volk solidarisch. Er wird zum barmherzigen Engel, als der er einst konzipiert war. 35 Text nach Stemberger, Midrasch, 172. 36 Blutsäule 131. 37 Ebd. 132f.

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Das Erkenntnis des Gerichts Nachdem die Richter ihre Jom Kippur-Gewänder angelegt hatten, urteilten sie gegen die Beschuldigten: Das Gericht hat bereits auf Schuld und Strafe einstimmig erkannt. Das Erkenntnis ist ein Erkenntnis der Barmherzigkeit, der Barmherzigkeit mit den Opfern. Das Erkenntnis lautet. Schuldig. Dreimal schuldig, schuldig und verworfen. Du, Jüngling Nehemia ben Zacharia, bist würdig empfunden worden, den Richterspruch auszusprechen.38

Nehemia war es auch gewesen, der die Anklage formuliert hatte. Ihr führt Krieg gegen die Kinder Israels, gegen die Lehre Israels, gegen den Hüter Israels? Der Schöpfer der Welt, Seine Lehre und Sein Volk sind Eins. Gegen diese unsere Dreieinigkeit wird niemand siegen! Ihr Menschenjäger, jetzt seid ihr die Gejagten. Die Mächte, die euch nun schlagen und jagen, wie immer sie sich nennen, sie sind ein ausgestreckter Arm. Sein Arm, der Arm seines Zorn.39

Der dreifachen Verbindung zwischen Gott, Israel und seiner Lehre entspricht die dreifache Strafe. Die Nazis vernichteten nämlich nicht nur Gottes Volk, sie traten auch seine Tora mit Füßen, und, auch das wird mehr als deutlich im Roman ausgesprochen, sie bekämpften Gott selbst.

Nehemia vor dem Gericht Nehemia übernimmt im Laufe des Werks mehr und mehr die Rolle des Vertreters Israels vor Gott. Zentral ist seine Ansprache vor dem Gericht. Hierzu ein längeres Zitat: Und Nehemia hob die Figur vom Richtertisch, wie man die Tora erhebt nach der Lesung, und er wandte sich nun mit seinem Gesicht sowie dem Gesicht seines Bruders Jochanaan zu dem Boten, und er sprach. »Im Namen meines Bruders Jochanaan, erschlagen zur Lästerung des Namens, im Namen aller Kinder Israels, die erschlagen wurden zur Lästerung und Schändung des Namens, im Namen der eineinhalb Millionen Namen, die in den Tod gefallen sind zur Heiligung des Einen Namens, sage ich: Schöpfer aller Welten, das Maß des Leidens für Deinen Namen ist voll und übervoll geworden. Seit zweitausend Jahren vergießen sie in diesem Weltteil unser Blut. Und die Erde dieses Weltteils, anders als die Erde der reinen Urzeit, sie öffnet nicht ihren Mund, um zum Himmel zu schreien, wenn Blut sie besudelt, nein, die Erde dieses Weltteils, sie öffnet die blutrünstigen Lefzen, um das Blut zu saufen, das sie überfließt. Nun ist es schlimmer geworden, als es für das Ende der Zeiten je vorausgesagt worden war. […] In den tausend Nächten der finsteren Jahre in den unterirdischen Höhlen hörten wir 38 Ebd. 137. 39 Ebd.

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das Weinen und wir sagten: Das Maß unseres Leidens in der Verbannung ist voll und übervoll geworden. Wir wollen das Ende der Verbannung erbeten und erflehen. Und wenn wir das Ende nicht erbeten und erflehen können, werden wir es ertrotzen. Wir werden aus dieser Verbannung ausbrechen. […] Dreimal am Tage stellen wir uns zu den Gebeten, das Gesicht gegen Osten, die Augen ausschauend nach Jerusalem. Dreimal am Tage sagen wir: Wegen unserer Sünden sind wir vertrieben worden aus unserem Lande, entfernt von unserer Erde. Aber sind unsere Sünden nicht entsühnt? […] Nicht vertrieben ist Israel aus dem Lande, sondern ausgesandt in die Verbannung, ausgesandt, um das Wort der Schrift, das Licht der Lehre hinauszutragen und zu verbreiten unter die Völker der Erde. […] Die verlorenen Funken der Schöpfung einzusammeln, deren sich die Dämonen der unreinen Abgründe bemächtigt haben, das ist die Sendung Israels in der Verbannung. Das Licht der Lehre im Herzen, gegürtet mit Geboten, begabt mit gläubigen Augen zogen sie aus, unsere Kinder, die Funkensucher. Und sie steigen hinab zu den Abgründen, wo die Dämonen wohnen, um die verlorenen Funken der Schöpfung einzusammeln. Nun haben die Dämonen unseren Kindern die gläubigen Augen ausgerissen, und ihr Herz ist ein Stück geschändet Blut. Mit zweimal eineinhalb Millionen ausgerissenen Kinderaugen sieht auch dir, Bote, diese Wahrheit ins Gesicht, Und die Augen fragen: Sind die verlorenen Funken geborgen? Ist das Werk vollbracht? Ist die Sendung zu Ende? Also fragend hatte Nehemia die Figur hoch in die klare Sicht gegen den Boten gehoben, und nun schwieg er still in Erwartung der Antwort des Boten. […] Sonst geh’ ich hin und setze die Figur dir vor die Füße ab und sage: Das ist unser letztes Blut, das ist unser letztes Gebet, das ist unser letztes Wort, das ist unser letztes Aufgebot. Mehr haben wir nicht.«40

Die Antwort, die Nehemia schließlich bekommt, ist nichts anderes als die Zusicherung, dass tatsächlich die Erlösung kommt: »Und der Bote erhob seine Stimme so hoch, daß sie anzuhören war als ein klingendes Licht, und er setzte die Worte in den nunmehr rein mitklingenden Atemraum der Alten Schul, die zwei Worte: ›ATCHALTA D’GE’ULA!‹«41 Die Stichworte »Lästerung des Namens« (hebr. Chillul ha-Schem) und »Heiligung des Namens« (hebr. Qiddusch ha-Schem) sprechen zentrale Vorstellungen der klassischen rabbinischen Tradition an, genauso fließt die überlieferte Gebetstradition ein. Das Bekenntnis der eigenen Schuld in Bezug auf die Katastrophe der Tempelzerstörung und anderer Ereignisse der Geschichte gehört zum wichtigen Traditionsbestand. Dieser ist freilich aufgebrochen worden durch die Schoah und hat zu alternativen Erklärungen geführt, die zumeist nach Morgensterns »Blutsäule« entstanden sind und mit Namen wie Emil Fackenheim, Eliezer Berkovits, Hans Jonas, Ignaz Maybaum oder Richard L. Rubenstein verbunden sind. Morgenstern knüpft an die Mystik Isaak Lurias, des großen Safeder Kabbalisten an. Dessen Konzept der beim Schöpfungsvorgang zerstörten Gefäße, die 40 Ebd. 141–144. 41 Ebd. 145.

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das göttliche Licht fangen hätten sollen, ist überaus einflussreich in chassidischen Kreisen geworden. Vor allem die Vorstellung des »Tiqqun«, der »Reparatur« dieses Vorgangs durch das Einsammeln der göttlichen Funken, hat auch über die mystisch-chassidische Welt hinaus große Verbreitung erlangt. Durch den Tiqqun wird nicht nur die Welt geheilt, sondern auch Gott selbst wieder vollkommen. Das Exil hat ein Ende. Morgenstern verwebt nun die Lehre von der Einsammlung der Funken, dem Tiqqun, mit der Aufgabe Israels, Gottes Tora in der Welt zu verbreiten. Vor allem die Kinder, jene unschuldigen Bürgen der Tora42, sollten die Aufgabe des Tiqqun übernehmen. Nach lurianischer Lehre war mit dem Bruch der Gefäße auch das Böse in die Welt gekommen. Es war in gewisser Weise ein Nebenprodukt der Schöpfung, die Schlacke an den Gefäßen. Nun sind zweifellos die irdischen Dämonen das unheimlichste und schrecklichste Ergebnis dieses »Unfalls«, dieses schiefgelaufenen Vorgangs der Schöpfung. In der »Blutsäule« wird der entsetzliche Tod der jüdischen Kinder als erfüllter Tiqqun angesehen. Ihr Leiden und ihr Tod haben die Funken gehoben. Nehemias Rolle im gesamten Geschehen ist dabei nun nicht die eines streitbaren kämpferischen Messias, der einen militärischen Erfolg erzielt, vielmehr wirkt hier die messianische Gestalt als Vermittler zwischen den »Funkensuchern«, die keine Stimme mehr haben, weil sie tot sind, und dem himmlischen Gericht, also letztlich Gott selbst. Es ist nicht einfach eine klagende Stimme, sondern eine entschlossene, trotzige Stimme, die einfordert, was zusteht, nämlich nichts weniger als die Erlösung.

Jerusalem »Der Anfang der Erlösung« war mit dem unsäglichen Leiden der Juden verbunden. Schließlich führt der Weg von der Diaspora weg ins Land. Dabei spielt Nehemia wieder eine vermittelnde Rolle. Zwar baut er Jerusalem nicht wieder auf, wie es sich für einen Messias der »alten Schule« gehört hätte, aber zumindest wirbt er für die Alija: »Wir wollen hier nicht bleiben«, antwortete … Nehemia, »nach fünf Jahren in den Gräbern sind wir heute morgen zum ersten Mal wieder im Licht des Tages durch die Stadt gegangen. Die Stadt ist ein zerbrochener Scherben. Aber der Marktplatz hat ein neues Pflaster. Sie haben mit den Grabsteinen von unserem Friedhof den Marktplatz schön ausgepflastert. Sie haben nicht einmal acht darauf gehabt, die Grabsteine mit den Namen unserer Toten mit den Buchstaben nach unten zu legen. Wir wollen hier nicht bleiben. Wir werden die gerettete Tora und die Figur vom Richtertisch nehmen und so lange wandern, bis wir das Heilige Land, das Land Israels, unser Land, erreichen. Kommenden Jahres in Jerusalem!« 42 Zu den Kindern als Bürgen der Tora vgl. Langer, Kinder.

Der »Messias der arischen Lüge«

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»Jerusalem, dein Jerusalem, ist ein zerbrochener Scherben seit zweitausend Jahren«, sprach der Kommissar. »Euer Land, das Land Israels, heilig oder nicht heilig, ist ein kleines Ländchen für achtzehn Millionen. Die Zeiten, da es in den Sandwüsten Manna regnete und gebratene Wachteln, sind, scheint es uns, vorbei.« »Unser Jerusalem war nie Stein«, sprach der Erzählende Richter. »Unser Jerusalem war Licht, unser Herzlicht, und das Herzlicht der Menschen wird es bleiben. Unser Land ist nicht groß, das ist wahr. Aber ein Drittel unseres Volkes ist in die Bluternte dieses Weltteils gefallen. Wir, die trauernden Hinterbliebenen dieses Weltteils, wollen hier nicht bleiben. Das Buch dieses Weltteils ist geschlossen. Das Nachwort mag eure Sache sein, unsere nicht.«43

Jerusalem als Hoffnung des Judentums soll auch Licht für die Völker bleiben. Dies ist ganz biblisch. Und vielleicht ist es Zufall, vielleicht jedoch auch programmatisch, dass Morgenstern gerade bei einem Israelbesuch die Struktur der »Blutsäule« quasi visionär erschien. Am Ende des Buches beten Soldaten der Roten Armee, als Teil des Minjan, mit den geretteten Juden. Es ist das Kaddisch, das sie alle beten, als Dankgebet, als Totengebet. Die letzten Worte des Buches sind: Es ist aber eine Melodie schier so wissend wie der Geist, schier so ausdrücklich wie die Sprache, und sie sagt mehr denn sie singt: Ich weiß, wie schwer, wie gefährlich, wie erbärmlich das ist, ein Mensch zu sein. Ich weiß, wie schön, wie groß, wie herrlich das ist, ein Mensch zu sein. Darum sage ich, wenn ihrer zehn beisammen sind, »Ja« zu der Größe des Schöpfer, »Ja« zu der Heiligkeit des Schöpfers, »Ja« zu der Ewigkeit des Schöpfer. – Dreimal am Tag sag’ ich dreimal »Ja« zu der Größe, der Heiligkeit, der Ewigkeit des Schöpfers, der Schöpfung und der Geschöpfe: JISGADAL W’JISKADASCH SCH’MEJ RABBA.44

3.

Fazit und ein letzter Gedanke

Soma Morgensterns »Blutsäule« kann mit gutem Grund als eine moderne jüdische Apokalypse geschildert werden. Der Antimessias – Hitler bzw. das unheilige Triumvirat aus Hitler, Goebbels und Göring – schafft es (beinahe), durch die Auslöschung von zweieinhalb Millionen Kindern das Judentum physisch zu vernichten, aber der letzte Triumph bleibt für die Schlächter aus. Im Kampf stirbt einer der beiden Knaben, vergleichbar dem Messias aus Josef. Sein Bruder hingegen erreicht bei Gott selbst die Zusage der Rettung, die nun anbricht. Die Leiden waren die Wehen des Messias. Die Kinder hatten die verlorenen Funken gesammelt, und sie haben damit die Welt und Gott zu »reparieren« geholfen. Hitler ist aber auch zweifelsfrei der Antichrist im wörtlichen Sinn. Denn sein Vernichtungswille richtet sich gegen den jüdischen Messias wie gegen den 43 Blutsäule 154. 44 Ebd. 162f.

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Gerhard Langer

christlichen. Der an die Wand gemalte Christus ist schließlich nur ein Bild des jüdischen Messias, der sich auch in der Kiste aus »Figurenseife« findet. Dies hat nun gar nichts mit der Kirche oder den Kirchen zu tun. Vor allem die römischkatholische Kirche kommt bei Morgenstern gar nicht gut weg.45 Erst Johannes XXIII. wird von ihm positiv rezipiert. Und vielleicht ist ein kleiner Teil von diesem Johannes auch in dem Jochanaan der »Blutsäule« verborgen.46 Hitler kann keinen Sieg davontragen. Er vermag damit sein Ziel, Purim auszurotten, nicht zu verwirklichen. In der »Blutsäule« überlebt auch Ester. Damit wird ein Hinweis geliefert, dass das Böse nicht triumphiert. Die biblische Ester hatte das jüdische Volk vor einem Genozid bewahrt. Der Genozid im 20. Jahrhundert konnte nicht verhindert werden, aber die Ausrottung des Judentums gelang nicht, genau so wenig wie die Errichtung eines (dauerhaften) Reichs des Antimessias. Zum apokalyptisch-messianischen Szenario gehört nicht nur der Sieg des Messias, sondern auch die Sammlung der Exilierten in Jerusalem. Auch sie klingt in der Blutsäule an. Die Auferstehung der Toten und das Reich des Friedens jedoch fehlen. Dafür ist die letzte »Wundererzählung« im Roman noch einmal von Bedeutung. Denn im letzten Kapitel wird ein Überlebender mit dem sprechenden Namen Awrejml, also Abraham, aus einer geheimen Mauernische, seinem Versteck hinter dem aufgemalten Bild des Messias, gerettet. Ein Kommissar der Roten Armee hatte die Tür getroffen, als er »mit treffender Zielsicherheit der Figur des Gekreuzigten mitten ins Herz, in den roten Stern«47 schoss. Nachdem er sein Schicksal als Flüchtender vor den Grauen der Lager erzählt hat, verstirbt dieser Abraham an Erschöpfung. Trotz der mehrfach in eine hoffnungsvolle Zukunft und der Erlösung ausgerichteten Abschlussteile des Buches gibt es also kein Happy End. Die verheerende Bilanz der Schoah ist nun einmal nicht zu leugnen, Abraham, der Stammvater Israels, erleidet einen verzweifelten Tod. Die Mutter der beiden Söhne bricht in Weinen aus. Die Bilder an der Wand verschwinden auf wundersame Weise. Der General der Roten Armee und zwei Soldaten nehmen am Minjan teil und man beten gemeinsam Kaddisch. Es ist also ein vorsichtiger und sehr behutsamer Zugang zum Thema Erlösung, der hier vor Augen geführt wird. Er bietet Raum für eine Zukunft im jüdischen Staat, und er zeigt auf jeden Fall den Weiterbestand des Judentums an, eines Judentums, das nicht aufgehört hat zu glauben und zu beten.

45 Vgl. hier auch sein letztes Buch »Der Tod ist ein Flop«. 46 Vgl. dazu auch Marquardt, Bedeutung. 47 Blutsäule 158.

Der »Messias der arischen Lüge«

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Primärwerke Adso von Montier-en-Der, Der Libellus de ortu et tempore Antichristi (»Büchlein von Ursprung und Zeit des Antichrist«), englisch: Bernard McGinn (Übers.), Apocalyptic Spirituality. Treatises and Letters of Lactantius, Adso of Montier-en-Der, Joachim of Fiore, the Franciscan Spirituals, Savonarola, New York/Ramsey/Toronto 1979, S. 89–96. Soma Morgenstern, Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth, Lüneburg 1997. Soma Morgenstern, Funken im Abgrund, Tl. 1: Der Sohn des verlorenen Sohnes; Tl. 2: Idyll im Exil; Tl. 3: Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes, Lüneburg 1999. Soma Morgenstern, Der Tod ist ein Flop, Lüneburg 1999.

Sekundärliteratur Dorothee Gelhard, Transformation des Chassidismus in Soma Morgensterns »Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth«. Klage als Sprachgrenze, in: Kerstin Schoor/ Borys Bigun/Ievgeniia Voloshchuk (Hg.), Blondzhende Stern. Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der Ukraine als Grenzgänger zwischen den Kulturen in Ost und West, Göttingen 2020, S. 191–206. Lutz Greisiger, Die Geburt des Armilos und die Geburt des »Sohnes des Verderbens«. Zeugnisse jüdisch-christlicher Auseinandersetzung um die Identifikation des Antichristen im 7. Jahrhundert, in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hg.), Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern, Berlin 2010, S. 15–37. Martha Himmelfarb, Jewish Messiahs in a Christian Empire: A History of the Book of Zerubbabel, Cambridge/London 2017. Hans Otto Horch, Totenbuch, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur 6 (2015) S. 141–146. Robert Jütte, Leib und Leben im Judentum, Berlin 2016. Gerhard Langer, »Die Kinder als Bürgen der Tora«. Psalm 8,3, ein rabbinisches Motiv und Soma Morgensterns Übersetzung, in: Marianne Grohmann/Ursula Ragacs (Hg.), Religion übersetzen. Übersetzung und Textrezeption als Transformationsphänomene von Religion (Religion and Transformation in Contemporary European Society 2) Wien 2012, S. 93–108. Franka Marquardt, Zur Bedeutung der Hebräischen und christlichen Bibel in Soma Morgensterns »Blutsäule«, in: Modern Austrian Literature 39 (2006) S. 41–61. Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Der leidende Messias in der jüdischen Literatur, in: Judaica 54 (1998) S. 132–143. Ruth Oelze, Funkensuche. Soma Morgensterns Midrasch »Die Blutsäule« und der jüdischtheologische Diskurs über die Shoah (Conditia Judaica 61) Tübingen 2006. Peter Schäfer, Warum verschwand das Messiasbaby? Die Geburt des Christentums aus dem Geist des Judentums, in: ders., Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums (Jenaer Vorlesungen zu Judentum, Antike und Christentum 6) Tübingen 2010, S. 1–31. Alexei M. Sivertsev, Judaism and Imperial Ideology in Late Antiquity, Cambridge 2011.

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Gerhard Langer

Günter Stemberger, Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel. Einführung – Texte – Erläuterungen, München 1989.

Christoph Augustynowicz

… sont si malpropres, que leur mine fait horreur a ceux, qui les regardent. Diskursive Spuren des Antichristlichen in der Wahrnehmung von Juden in Reiseberichten über Polen-Litauen im 17. Jahrhundert

Die in diesem Beitrag1 angebotene Suche nach Spuren von Antichristlichem stützt sich in methodischer Hinsicht auf die Annahme, Teufelsglaube zum einen und Rassismus zum anderen, als Teil dessen der Rasseantisemitismus hier angenommen wird2, seien historisch stark aufeinander bezogen, arbeiten und funktionieren doch beide dualistisch nach einem metaphorischen Hell-DunkelSchema3. Hinsichtlich historischer Prozesshaftigkeiten ist darüber hinaus signifikant, dass mit dem Teufelsglauben eine essentiale Festhaltung physiologischer Merkmale lange vor dem 19. Jahrhundert betrieben wurde. Eine weitere hier vorgenommener Grundannahme besteht darin, dass apokalyptisches und antijüdisches Denken in ihrer Wirkung aus dem Mittelalter auf die Neuzeit nicht voneinander getrennt betrachtet werden können, sondern einander in allen einschlägigen Lebensbereichen und Textgattungen bedingen4. Eine wesentliche hier aufgegriffene These besteht schließlich in der Annahme, dass der AntichristGedanke um 1600 säkularisiert wurde; damit mag zusammenhängen, dass in den hier untersuchten Texten keine ausdrücklich antichristlichen Referenzen formuliert werden. Wie, so die zentrale hier gestellte Frage, reagierten Reisende auf tatsächlich vorhandene jüdische Bevölkerung, gewissermaßen im Transit von Erwartung zu Erfahrung? Daher ist dieser Beitrag thematisch-chronologisch verflochten in folgende Abschnitte gegliedert. 1) Reiseberichte und Landesbeschreibungen über Polen-Litauen: Gattung, Kontext und Methode; 2) Der Antichrist als antisemitische Chiffre; 3) Antichristliches in der Wahrnehmung des polnisch-litauischen Judentums: Eine Spurensuche.

1 Teile des hier untersuchten Materials wurden bereits verwendet in Augustynowicz, Darstellung, 323f. 2 Beller, Antisemitismus, 88–94. 3 Wippermann, Rassenwahn, 10f., 141–143. 4 Gow, Red Jews, 3.

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Christoph Augustynowicz

1.

Reiseberichte und Landesbeschreibungen über Polen-Litauen: Gattung, Kontext und Methode

In der frühneuzeitlichen Publizistik und Reiseliteratur wurde Polen-Litauen häufig und gerne aus auswärtiger Perspektive beschrieben, die entsprechenden Texte sind der Forschung gut bekannt und zugänglich5. Als Spezifika des hier näher untersuchten 17. Jahrhunderts sind dabei die vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte anhaltende konfessionelle Toleranz/Indifferenz im Land vor dem Hintergrund einer auf der gesamteuropäischen Ebene fortschreitenden Konfessionalisierung zu nennen, die in ausländischen Berichten durchwegs als auffallend hervorgehoben werden. Xenophobe Elemente in der Verfasstheit hinsichtlich Beschränkung der politischen Partizipationsrechte von Personen ohne Indigenat (Grundbesitz, Adelszugehörigkeit) nahmen seit dem Beginn des Jahrhunderts langsam zu6. Signifikant ist für die in diesem Beitrag vorgenommene chronologische Rahmung eine Zäsur um die Mitte des Jahrhunderts, die durch eine schwere demographische und kulturelle Krise charakterisiert ist. Sie bestand zum einen in umfassenden Konflikten mit fast allen Nachbarn Polen-Litauens, also mit Schweden, dem Moskauer Staat und dem Osmanischen Reich. Zum anderen bedeuteten die pogromartigen antijüdischen Ausschreitungen während der Kosakenaufstände unter Bohdan Chmel’nyc’kyj ab 1648, die über Generationen gewachsene soziale Spannungen freisetzten, eine verheerende Zäsur für die jüdischen Gemeinden in Polen-Litauen7. Vor dem Hintergrund des medialen Echos derart gewaltiger politischer und gesellschaftlicher Unruhen hatte das auswärtige Interesse an den Verhältnissen Polen-Litauens und insbesondere seines Südostens noch zugenommen, denn hinsichtlich der Wahrnehmung der Ukraine im übrigen Europa bedeuteten die Ereignisse in der Mitte des 17. Jahrhunderts geradezu einen sprunghaften Anstieg8. Im Wesentlichen verarbeiteten die Reisenden in ihren Aufzeichnungen zwei Arten von Informationen: Zum einen die damals verfügbare und gängige, im Zuge ihrer Reisevorbereitungen rezipierte Literatur und zum anderen – und durch erstere freilich vor- und mitgeformt – persönliche Eindrücke9, denen hier besondere Aufmerksamkeit zukommen wird. Sie waren nämlich in den Reiseberichten ebenso Gegenstand umfassender und vor allem farbiger Erzählkultur 5 Für den vorliegenden Beitrag wurden folgende Quelleneditionen berücksichtigt: Gintel, Cudzoziemcy; Szarota, Gelehrte Welt. Beide Werke bieten umfangreiche Informationen zu den Biographien der Autoren an. 6 Chynczewska-Hennel, Rzeczpospolita, 13f. 7 Markiewicz, Historia, 502–541. 8 Kappeler, Vom Land, 71–110. 9 Chynczewska-Hennel, Rzeczpospolita, 19.

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wie die historischen Ereignisse und die politische und gesellschaftliche Ordnung des Landes. Das System der Wahlmonarchie und die spezifische Zusammensetzung der Gesellschaft – in erster Linie des Adels – wurden vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufmerksam geschildert, analysiert und verfolgt; dabei stieß auch – wenngleich zumeist ganz knapp – die jüdische Bevölkerung auf das Interesse der Beobachtenden und ihrer Leser*innen. Illustrierenden Charakter hatten da Episodisch-Sensationelles wie etwa Schilderungen der Synagoge von Zˇovkva bei Lemberg als eine der schönsten des gesamten Landes oder jüdischer Hochzeiten10. Alle einschlägigen Autoren stellten dabei Spezifika am polnisch-litauischen Judentum fest, die mit ihrer eigenen Herkunft oder Funktion korrespondierten: Den Reisenden aus England und Frankreich11, wo es im 17. Jahrhundert kaum Juden, sehr wohl aber antijüdische Ressentiments gab12, fiel vor allem die hohe Anzahl an Juden auf, was wohl auch einem Topos der Zeit und der Textgattung entsprach13. Die deutschen Historiker Andreas Cellarius, Martin Zeiller und Christoph Hartknoch thematisierten deren privilegierte Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft, der italienische Offizier und Historiker Maiolino Bisaccioni war vor allem von ihrer aktiven Rolle im Heer beeindruckt14, also ihrem Recht, Waffen zu tragen, welches Juden im gesamteuropäischen Vergleich vor allem in Polen-Litauen nutzten15; darüber hinaus waren militärische Aktivitäten bei der jüdischen Bevölkerung im frühneuzeitlichen Europa ja »selten«16. Vorweggenommen sei an dieser Stelle, dass die legendären apokalyptischen sogenannten Roten Juden, auf die noch ausführlich eingegangen wird, als kriegsführend und somit militärisch aktiv imaginiert wurden, was eine mögliche Projektionsfläche für die Realitäten Polen-Litauens im 17. Jahrhundert aufspannte. Ganz generell wurden Mitglieder der jüdischen Bevölkerung durch ihre christliche Umgebung seit dem Mittelalter nicht als Individuen wahrgenommen, sondern als Typen; Relevanz für das dabei ausgeprägte Image hatte dabei weniger Faktizität als vielmehr narrative Eigendynamik17. Alle hier in Frage kommenden Autoren waren wohl bereits vor ihren Reisen nach Polen bzw. der Erweckung ihrer entsprechenden Interessen mit Bildern von Jüd*innen konfrontiert gewesen – unabhängig davon, ob in ihrem gewohnten Kontext welche existierten oder nicht. Förderlich für den Eindruck einer im gesamteuropäischen Vergleich 10 11 12 13 14 15 16 17

Ebd. 113, 157. Le Laboureur, Relation, 119; Memoires 205. Vgl. dazu Poliakov, Geschichte, 76–99. Schreiner, Bild, 628f. Bisaccioni, Historia, 571. Penslar, Jews, 22–34; vgl. dazu auch Markiewicz, Historia, 454, 497, 501, 506, 518, 662. Penslar, Jews, 26f., Übersetzung Christoph Augustynowicz. Trachtenberg, Devil, 13f.

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hohen Anzahl und Dichte an jüdischer Bevölkerung waren aber nicht nur die zweifelsohne signifikanten demographischen Gegebenheiten18, sondern auch die gatekeeper-Funktionen, die Juden in ihrer Funktion als Wirte und Betreiber von Unterkünften für Reisende innehatten (wenngleich letztere meines Wissens erst für das 18. Jahrhundert explizit dokumentiert sind)19. Einen besonders deutlichen Schritt in der Analyse und Adaption antijüdischer Befindlichkeiten bezüglich der Verhältnisse in Polen-Litauen macht der Archidiakon Paul von Aleppo, der das Land in den 1650er-Jahren bereiste: Die Polen hätten die Ukraine den Juden und übrigens auch den Armeniern ausgesetzt und somit die Kosaken, sowie auch deren Frauen und Töchter zu Gefangenen/Geiseln der Juden gemacht20. Paul nimmt hier auf das sogenannte Arrendar-System Bezug, also die Möglichkeit der Juden vor allem im Osten Polen-Litauens, adelige Rechte wie die Nutzung von Immobilien, den Einzug von Abgaben oder vor allem die Wahrnehmung von Monopolrechten (Alkoholausschank, Mühlen) zu pachten. Diese Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Profilierung der jüdischen Bevölkerung waren im europäischen Vergleich ausnehmend gut21, trugen aber auch zu enormen sozialen Spannungen bei, die sich in den Kosakenaufständen entluden. In weiterer Folge soll hier untersucht und aufgezeigt werden, inwieweit Autoren ihre Erfahrungen und Beobachtungen, die sie in Polen-Litauen machten, in stereotype Vorstellungen über Jüd*innen, die sie in ihre Beschäftigung mit dem Land mitgebracht hatten, einordneten und anhand der Denkfigur des Antichrist deuteten. Davor wird aber aufzuzeigen sein, in welchem Ausmaß diese Denkfigur nicht nur ein elementarer Bestandteil der christlichen Deutungswelt, sondern auch a priori antijüdisch konnotiert war.

2.

Der Antichrist als antisemitische Chiffre

Die Vorstellung von Juden als »Widersacher(n) Jesu und des Christentums par excellence«22 stellte diese in unmittelbare Nähe zu den theologisch-eschatologisch unterstellten Mächten des Bösen, fußte aber auch auf der Vorstellung, sie seien das Volk des Alten Bundes, denen der Erlöser geschickt worden sei. In keiner imaginativen Figur des christlichen Glaubens wird diese Ambivalenz so unmittelbar deutlich wie in der vor allem im Mittelalter narrativ ausgeprägten Figur des Antichrist. Sein unterstelltes Naheverhältnis zu den Juden prägte die

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Vgl. dazu Heyde, Juden, 741–749. Vgl. dazu Wolff, Inventing Eastern Europe, 29. Chynczewska-Hennel, Rzeczpospolita, 165. Heyde, Juden, 766–768. Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder, 178.

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Vorstellungen hin zur Frühen Neuzeit nachhaltig und wirkte bis in gegenwärtige Verschwörungsvorstellungen nach. Im späten 10. Jahrhundert hatte sich in der Kompilation des Abts von Montier-en-Der, Adso, vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen, unmittelbaren Erwartung der Apokalypse die Vorstellung des Antichrist in folgenden narrativen Konstanten manifestiert: Er geht auf den jüdischen Stamm Dan zurück, an seiner womöglich inzestuösen Zeugung ist der Teufel als Inkubus beteiligt. Er wird in Babylon geboren und von einem Milieu falscher Propheten geprägt, erscheint nach Resignation des letzten Frankenkönigs, lässt sich beschneiden und verfolgt die Christen, er lässt den Tempel in Jerusalem neu erbauen und macht ihn zum Zentrum seiner Weltherrschaft. Die Juden erkennen in ihm den Messias, aber auch die übrige Menschheit ist ihm fast zur Gänze ergeben und durch ein Merkmal auf der Stirne gekennzeichnet; die Mittel seiner Herrschaft sind Schrecken, Bestechung und Wundertätigkeit. Die Propheten Henoch und Elias warnen dreieinhalb Jahre vor seinem Herrschaftsantritt in Predigten vor ihm, wobei sie die Juden bekehren. Der Antichrist tötet beide Propheten und wird seinerseits nach dreieinhalb Jahren Herrschaft durch Jesus oder den Erzengel Michael besiegt und auf dem Ölberg getötet23. Anhand dieser narrativen Konstanten, die das Bild des Antichrist seit dem späten 10. Jahrhundert etwa hinsichtlich Herkunft, Wirkungsorten und Anhang charakterisieren, wird deutlich, wie sehr die Bedrohung der Christenheit durch den Antichrist mit deren Bedrohung durch das Judentum gleichgesetzt ist; in Buchillustrationen und Theaterstücken vor allem des Spätmittelalters wird dieser Umstand zunehmend drastisch abgebildet und gesellschaftskritisch eingebettet. An die Vorstellung des unmittelbar bevorstehenden Endes der Welt wurde das Bedürfnis geknüpft, über Herkunft, Leben und Taten des Antichrist möglichst detailliert informiert zu sein. Dieser wurde so zur breit, ja nahezu beliebig codierbaren Folie für den jeweiligen realpolitischen Antagonisten, blieb aber doch stets auffällig eng an das Judentum gebunden24; vor allem die unmittelbare Entourage des Antichrist und seine leiblichen Eltern sind in den Bildwelten oft stark jüdisch konnotiert25. Ganz im Sinne des Mythos-Begriffs nach Hans Blumenberg erweist sich die Figur des Antichrist somit als stets neu abrufbar, als hart im Kern und anpassungsfähig in der Schale; sie konstituiert »Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit«26.

23 24 25 26

Vgl. dazu Rohrbacher/Schmidt Judenbilder, 180; Fried, Dies irae, 79f. Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder, 192. Trachtenberg, Devil, 35f. Blumenberg, Arbeit, 40.

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Darüber hinaus und weiterreichend führt das narrative Material rund um den Antichrist und seine antijüdische Konnotation zurück zu den antiken Legenden 1) der monströsen, unreinen Nationen, die Alexander der Große zum Schutz der Zivilisation in einem Gebirge festgesetzt habe, 2) der biblischen Zerstörer Gog und Magog und 3) der zehn verlorenen jüdischen Stämme, die im Osten vermutet wurden. Diese drei Erzählstränge wurden für die römische Kirchentradition prägend und anleitend hin zu einer Vorstellung von den »jüdischen Zerstörern der Christenheit«27. Hinsichtlich des antichristlichen Wirkungsgebietes in einem engeren räumlichen Sinn traten sie in der deutschsprachigen Legende als sogenannte Rote Juden an die Wirkungsoberfläche und wurden vor allem im 15. Jahrhundert mit dem Antichrist und den apokalyptischen Völkern in Zusammenhang gebracht28. Bereits der Einfall der Mongolen in Europa im 13. Jahrhundert29 war auf diese und andere abgedrängte jüdische Stämme zurückgeführt worden; nun, in der Zeit der Osmanischen Expansion, wurde ihr Einfluss ausdrücklich auf beiden Seiten vermutet, also sowohl als Verbündete der Osmanen als auch als mögliche Verbündete gegen sie30 – die Ambivalenz wurde zur Trope der Unzuverlässigkeit31. Seit dem 15. Jahrhundert hatte sich in der christlichen Vorstellung das Bild der Juden von denjenigen, die um ihre Messias-Erwartung betrogen worden waren, gewandelt hin zur Vorstellung von Betrügern: »Der jüdische Messianismus wurde in der christlichen Wahrnehmung zur letzten Täuschung der Christen und zum Topos jüdischen Betrugs schlechthin.«32 Gerade messianische Erwartungen von jüdischer Seite boten somit eine Folie für einen aktiven Glauben an den Antichrist – das jüdische (Weiter-)Warten auf den Messias wurde gewissermaßen mit der christlichen Erwartung des Antichrist zusammengeführt33. Konjunktur hatten derartige Vorstellungswelten vor allem nach Vertreibung der als gefangen selbstimaginierten spanischen Juden durch die Reconquista im späten 15. Jahrhundert. In der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden die Roten Juden in einem Pamphlet als Bedränger selbst der Osmanen charakterisiert; einen Hintergrund bildeten dabei wohl derartige messianische Erwartungen seitens jüdischer Gesellschaften. Die Roten Juden waren somit im 16. Jahrhundert von apokalyptischen Zerstörern zu politisch-pragmatischen Akteuren transformiert worden, fungierten gleichzeitig aber auch unmissverständlich als Begleiter des

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Gow, Red Jews, 3, Übersetzung Christoph Augustynowicz. Gow, Red Jews, 181. Vgl. dazu den Beitrag von Simon Degenhart in diesem Band. Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder, 188–190. Wippermann, Rassenwahn, 66. Voß, Propter seditionis, 203. Trachtenberg, Devil, 32.

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Antichrist weiter34. Messianische Erwartungen seitens des Judentums sollten dann im Zusammenhang mit dem erwähnten Chmel’nyc’kyj-Aufstand erheblichen Rückhalt erfahren. In ihrem Zusammenhang stehen vor allem die Aktivitäten des Kabbalisten Sabbathai Zwi, der nun »in messianischer Rolle hervortrat und eine religiöse Massenbewegung auslöste«35 – dass die hier untersuchten Reisenden mit der Materie gut genug vertraut waren, um von diesen Diskussionen Kenntnis zu haben, ist allerdings bis auf weiteres nicht zu unterstellen und wohl auch eher unwahrscheinlich. Doch zurück zum christlicherseits unterstellten Naheverhältnis der Juden zum Antichrist. Die hin zum hier untersuchten Zeitraum aktuellsten Meldungen, die Roten Juden würden sich in Erwartung der Befreiung Palästinas zum Angriff auf die Osmanische Macht sammeln, gehen auf das Jahr 1596 zurück und stehen somit vor dem Hintergrund des sogenannten langen Türkenkrieges. 1599 wurde gar mit der Kolportage der Geburt des Antichrist in Babylon ein bereits von Adso geprägter Topos aufgenommen und in den Zusammenhang von Reformation und Osmanischer Expansion gestellt; ein Jahr später wurde in der Umgebung von Paris erzählt, seine Mutter sei eine Jüdin gewesen36. Im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts sind früheste Texte nachweisbar, die das Narrativ der Roten Juden klar in den Bereich des Volksglaubens verweisen – die Motive der zehn verlorenen jüdischen Stämme und von Gog und Magog überdauerten die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert allerdings37. Wo sich – unter anderem – ihre Spuren in der Wissensgeschichte finden, soll in weiterer Folge gezeigt werden.

3.

Antichristliches in der Wahrnehmung des polnisch-litauischen Judentums: Eine Spurensuche

Die beiden Texte, die sich im hier untersuchten Zusammenhang als besonders fruchtbar erweisen, stammen – es mag ein Zufall sein oder nicht – aus französischen Federn. Hatte Polen-Litauen in den französischen Salons des 17. Jahrhunderts ein eher negatives Image, so waren es französische Autoren, die dieses im Rahmen dichter diplomatischer Beziehungen differenzieren oder zumindest relativieren konnten. Relevant ist hier zum einen mit Jean Le Laboureur, Sieur de Bleranval, ein der einschlägigen Forschung schon länger relativ bekannter und

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Gow, Red Jews, 5, 159–162, 166f.; vgl. dazu auch Voß, Propter seditionis, 199f. Fried, Dies irae, 54; vgl. dazu auch Scholem, Jüdische Mystik, 316–324. Trachtenberg, Devil, 40f. Gow, Red Jews, 173–175.

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Christoph Augustynowicz

gut belegbarer Autor38 und zum anderen mit Payen ein vor allem biographisch weitestgehend im Dunkeln verharrender Autor39. Le Laboureur ist als Historiker, Genealoge und Heraldiker bekannt und profiliert, der 1646 Marie Louise von Gonzaga, die Braut König Władysławs IV., nach Polen begleitete und die Heiratszeremonien ausführlich beschrieb; von Ausnahmen abgesehen gilt seine Landesbeschreibung als den Pol*innen und auch dem polnisch-litauischen Gemeinwesen freundlich gesinnt40. Payen hingegen war um 1660 in Polen als Offizier aktiv und verfasste in dieser Funktion einen Text, der ausdrücklich auf den Prozess des weiträumigen Reisens durch England, Flandern, Brabant, Holland, Dänemark, Schweden, das Reich, Polen und Italien fokussiert und ein breites aspektuelles Interesse für Sitten, Politik, Geld, Religionen, Regierungsformen, Verfassheiten und allgemeinen Interessen bekundet und bedient. Perspektivisch kann die Darstellung als Abenteuer-Erzählung beschrieben werden, was den Text in literarischer Hinsicht womöglich spannender als LeLabourer macht; Payen Stil wurde treffend als »mit einer guten Portion Humor und einer leichten Feder«41 charakterisiert. Hinsichtlich des an die antichristliche Diskussion heranzuführenden Materials bei Le Laboureur und Payen ist noch einmal daran zu erinnern, dass der Antichrist bereits im Mittelalter aus der strikt endzeitlichen Erwartungshaltung herausgenommen und in einen pragmatischeren Kontext gestellt worden war42. Dem entspricht auch eine innereuropäische Konkretisierung seines angenommenen Wirkungsbereiches: Im 14. Jahrhundert war der Aktionsraum des Antichrist durch den in Südfrankreich wirkenden Franziskaner Alchemisten Johannes de Rupescissa im »Vade mecum in tribulatione« konkret und zeitnah in Polen oder Ungarn vermutet worden43. Das 17. Jahrhundert und vor allem die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs mögen in vielerlei Hinsicht das Ende einer nicht nur fürchtenden, sondern auch hoffenden apokalyptischen Futurologie bedeutet haben44, Bedrohungen wurden aber weiterhin gesehen und eschatologisch fortgedeutet. Die Figur des Antichrist wurde nun forciert zum Mittel der Diskreditierung, blieb jedoch als solcher freilich schwer zu unterscheiden von tatsächlicher Endzeiterwartung45. Apokalyptische Annahmen waren nun vor allem mit einem signifikanten Anstieg an Wissen konnotiert und hatten daher auch wissenschaftlichen Über38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. dazu Kot, Rzeczpospolita, 98–100. Gintel, Cudzoziemcy, 274; Chynczewska-Hennel, Rzeczpospolita, 239. Chynczewska-Hennel, Rzeczpospolita, 92, 125, 171, 179–181, 235. Ebd. 204, Übersetzung Christoph Augustynowicz. Heimann, Antichristvorstellungen, 105. Almond, Antichrist, 185f. Barnes, Prophecy, 265. Pohlig, Konfessionskulturelle Deutungsmuster, 285.

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prüfungen zu bestehen. Aktiv an entsprechenden Diskussionen beteiligt war etwa Sir Isaac Newton, der das Verständnis der apokalyptischen Texte gleichermaßen als moralische wie als religiöse Verpflichtung sah46. Die wissenschaftlichen Neuerungen wirkten aber vor allem auf die Zeitwahrnehmung ganz wesentlich, da vor deren Hintergrund die hergebrachte Idee, die Welt würde nicht länger als 6000 Jahr existieren, keinen Bestand mehr haben konnte. Vor allem die langfristig, ja auf die Ewigkeit ausgelegte Gregorianische Kalenderreform des Jahres 1582 hatte für rege, konfessionell konnotierte Diskussionen um die präzise Datierung des stets ausbleibenden Weltunterganges gesorgt; im 17. Jahrhundert sollten geologisch-erdwissenschaftliche Forschungen und insbesondere Entdeckungen von Fossilien ein Übriges dazu tun, die Idee eines vorgegebenen und zu erwartenden (End-)Zeitraumes weiter zu demontieren.47 Die Konfessionalisierung hatte schon seit dem 16. Jahrhundert einen medialen Schub an biblischapokalyptischen Deutungsmustern gebracht, da der jeweilige Gegner nun mit bislang ungekannter Härte und vor allem Dichte als der Antichrist charakterisiert wurde, etwa auch in der internationalen Politik.48 Nun verbreitete sich das Bedeutungsfeld Antichrist dahin, dass nahezu alle Ungläubigen und Tyrannen entsprechend markiert werden konnten49, womit der Antichrist gewissermaßen seine Singularität verlor. In England gipfelte diese Anschauung in der radikalreformatorischen Überzeugung, Antichrist wohne jedem Individuum inne, er sei gewissermaßen der innere Feind. In der breiteren einschlägigen Diskussion setzten sich präteristische Interpretationen des Antichrist-Motivs durch, also die Annahme, die Apokalypse – und mit ihr das Wirken des Antichrist – habe bereits begonnen50. Zusehends an Wirkungsmächtigkeit gewannen in diesem Zusammenhang auf der gesamteuropäischen Szene (proto-)nationale Stereotypen51. Dazu nur ein Beispiel: Der schottische Reformator John Knox hatte in der Mitte des 16. Jahrhunderts die bereits im 15. Jahrhundert artikulierte Meinung kolportiert, Spanien sei durch die Vermischung mit jüdischem Blut nicht mehr zur wahren Bekehrung zum Christentum geeignet. Dieses Feindbild blieb angesichts der Annäherung James’ I. an Spanien im 17. Jahrhundert virulent und brisant52. Es ist nicht zu vergessen, dass ein erheblicher Teil der Verfasser frühneuzeitlicher Reiseberichte diplomatiepolitische Agenden verfolgte und daher von entsprechenden Diskursen geprägt war: Bei Le Laboureur ist dieser Umstand über seine 46 47 48 49 50 51 52

Almond, Antichrist, 237–241. Fried, Dies irae, 179–195. Pohlig, Konfessionskulturelle Deutungsmuster, 278. Armogathe, Antichrist, 328. Almond, Antichrist, 223–226, 233f. Pohlig, Konfessionskulturelle Deutungsmuster, 287. Lau, England, 346f.

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Mission ganz unmissverständlich, aber auch Payen widmet seine Landesbeschreibungen unter anderem ausdrücklich der jeweiligen Verfasstheit, Politik und Staatsform. Wichtig für den Kontext sind darüber hinaus die unmittelbaren zeitgenössischen Erwartungshaltungen in Frankreich, aus denen die Berichterstatter kamen und von denen sie geprägt worden waren. Wenngleich hier nicht unmittelbar relevant, sei doch darauf verwiesen, dass zum einen der zeitnahe englische Bürgerkrieg hier eine wesentliche Rolle spielte – Oliver Cromwell wurde gelegentlich als der Antichrist stilisiert – und zum anderen Ludwig XIV. umfassend in die Diskussion einbezogen wurde, sei es als Antichrist durch die hugenottische Publizistik, sei es als der sogenannte letzte vorapokalyptische Kaiser durch die gallikanische Presse. Kontextuell unmittelbarer relevant ist die rhetorische Annäherung des Islam und insbesondere Mohammeds an die Figur des Antichrist – an entsprechenden Texten mangelte es nicht, viele davon waren auch dem zeitgenössischen Frankreich53 und Polen-Litauen54 gut bekannt, die im Diskurs unterstellte Nähe von Juden und Osmanen zueinander wurde ja bereits gezeigt. Die Verständlichkeit der Denkfigur eines ethnisch (kon)notierenden und ausschließenden Antichrist wurde dabei auch gängig und allgemein verständlich hin zu antijüdischen Bildern assoziierbar gemacht: Sei es in Illustrationen früher Bibel-Drucke, in denen der Vater des Antichrist mit dem sogenannten Judenfleck auf dem Gewand abgebildet wird55, sei es im Theater, in dem die Gesellschaft des Antichrist seit dem Spätmittelalter bis hinein in die Epoche der Gegenreformation als jüdisch identifiziert wird56, sei es in den Predigten der Gegenreformation, in denen die Zuschreibung des Antichrist als Jude spätestens im 18. Jahrhundert auch in Polen-Litauen gängig und verständlich war57. Obwohl ausdrückliche Zuweisungen derart vorgefundener Bilder zu antichristlichen Deutungsmustern in den hier untersuchten Beispielen nicht stattfinden, sind doch Stereotypisierungen und deren Einschreibungen in endzeitliche Deutungsmuster feststellbar. So wurden etwa zunächst äußere Erscheinung und Kleidungsgewohnheiten der hiesigen Juden genüsslich markiert. Jean Le Laboureur hatte im Zuge seines Aufenthaltes offensichtlich engen Kontakt mit Juden. Er kam zum Schluss, sie seien mit ihren kurzen, schwarzen Roben »derart missgestaltet, dass ihre Miene einem jeden Angst mache, der sie betrachtet«58. Bereits in diesem Zusammenhang fällt auf, dass sie meistens als schmutzig, als 53 54 55 56 57 58

Armogathe, Antichrist, 323–328, 332–339. Schreiner, Polnische antiislamische Polemik 522–526. Schüßler, Studien, 374. Aichele, Antichristdrama, 141. Teter, Jews, 206 Anm. 91. […] sont si malpropres, que leur mine fait horreur a ceux, qui les regardent, Le Laboureur, Relation, 119, Übersetzung Christoph Augustynowicz.

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unrein geschildert wurden. Payen schildert die Erscheinung der polnischen Juden ausführlicher, aber nicht freundlicher: Ihre Stirn ist in Falten geworfen und ihre Augen sind eingefallen, ihre Nase […] erfreut sich eines Geruchssinns, der subtiler als der spanische ist und stets auf der Suche nach Aussichten auf Profit und Wucher; ihre Wangen bergen eine magere Fülligkeit [maigre embonpoint], ihre Zähne sind wie verfaulte Knochen und ihr spitzes Kinn ist bedeckt mit einem Wadenhaar, welches dieses schöne Gesicht abschließt und ein Werk vollendet, das die Kunst und die Natur nicht nachahmen könnten.59

Die Markierung geht hier noch weiter als bei Le Laboureur: Physiognomische Details, sowie Zuschreibungen ethnischer Stereotypen wie Profitgier und Geilheit erscheinen hier sehr pointiert. Über die persönliche Erscheinung hinaus wurden jedoch auch die Lebensund Wohnverhältnisse der Juden mit hygienischen Missständen in Zusammenhang gebracht, womit hier das Motiv der Unreinheit in den Mittelpunkt gerückt sei. Herausgegriffen sei Payens Beschreibung des jüdischen Viertels Kazimierz bei Krakau: Die jüdische Stadt […] könnte mit Ehren auch die erste Straße der Hölle genannt werden; sie ist dreckig, stinkend und so infiziert, dass sie imstande ist, […] die Pest zu nähren und den Raum mehr als ein Jahrhundert hindurch verseucht zu halten. […] Die Kinder spielen und schlafen hier, sie essen mit den Schweinen und der Haushaltsvorsteher hat für seinen Tisch und sein Bett keinen anderen Ort als den Trog und das Gestell seiner Kühe: Es ist ein Vergnügen, so eine Hausgemeinschaft zu sehen; die Arche Noahs hatte niemals so viele Möbel und Utensilien wie sie das letzte Haus eines dieser Familienväter beinhaltet […].60

Signifikant ist hier weniger die Beschreibung mangelnder Hygiene, die man in zeitgenössischen Reiseberichten auch in der Schilderung und Einschätzung christlicher Quartiere in ganz Europa antrifft, Polen-Litauen war da wohl keine Ausnahme61. Signifikant sind hier vielmehr die biblisch-apokalyptischen Anwandlungen/Anrufungen von Hölle und Pest durch den Autor, die den Antichrist wieder spur- und spürbar machen. In einem breiteren Sinn endzeitlich ist in diesem Zusammenhang die Aufrufung der Arche Noah, wobei freilich keine Rede von antichristlicher Verführung durch Verschwendung oder Schönheit, sehr wohl aber von endzeitlicher confusio hergebrachter gesellschaftlicher SittenVorstellungen ist. Signifikant im Sinne weiterer und weiterführender rhetorischer Diffamierungstechniken ist darüber hinaus und an das Bild der Arche Noah anschließend eine Gleichstellung oder zumindest Annäherung von Tier und Mensch aneinander. 59 Les Voyages 179, Übersetzung Christoph Augustynowicz. 60 Les Voyages 177f., Übersetzung Christoph Augustynowicz. 61 Chynczewska-Hennel, Rzeczpospolita, 58–62.

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Abgesehen von der stets so verstörenden Aufrufung des im Mittelalter geprägten Bildes der Judensau sind vor allem olfaktorische Merkmale prägnant, die hier angesprochen und – noch prägnanter – in biblische, jedenfalls religiöse Assoziationen gestellt werden. Payen greift motivisch weit zurück, denn auf lange Sicht ist ein derartiges Image konnotierbar mit den unreinen Völkern Gog und Magog, die zu diesem Zeitpunkt seit allermindestens einem halben Jahrtausend standardisierter, kanonisierter Teil der christlichen, antijüdisch aufgeladenen Apokalyptik waren62. Die Idee eines spezifischen, negativen Geruchs zur Markierung und Ausgrenzung von Juden und als Ausdruck der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit ist freilich auch darüber hinaus bereits in der Antike fassbar. Spezifisch mittelalterlich ist dann die Zusammenführung von Gestank und Unglauben hin zur Vorstellung eines teuflischen Attributes; nur mit der Taufe, so die Überzeugung im Volksglauben, würde sich der Gestank in Duft verwandeln. Spätestens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, etwa beim ersten Geschichtsschreiber des Judentums in England, De Blossiers Tovey, wurde die Idee des ungläubigen Gestanks in dessen Werk »Anglia Judaica« 1738 hin zu einem Bild von Nachlässigkeit und Armut rationalisiert63; diesbezüglich ist Payen gewissermaßen ein motivischer Vorläufer. *** Die Vorstellungen der aus dem Westen kommenden Reisenden über die Juden in Polen-Litauen waren von Stereotypen geprägt, ja dominiert: Einerseits wandten die Autoren nolens volens typologische Vorstellungen, mit denen sie aufgewachsen waren, in ihrer Perzeption an. Andererseits prägten sie mit ihren viel gelesenen Werken deren Image. Die hier aufgezeigte Inflation des Antichristlichen in der Neuzeit bedeutete dabei nicht nur eine theologische Entleerung, sondern auch eine verstärkte Ubiquität des Apokalyptischen. Deutlich gemacht wurde in diesem Beitrag die Säkularisierung des Antichrist-Gedankens und der Endzeit-Erwartung in den Jahrzehnten um 1600 unter den Vorzeichen der Konfessionalisierung, die nun verstärkt zur Diffamierung von Ungläubigen und Tyrannen dienten; beide Rollen wurden den jüdischen Gemeinden mittels diskreditierender Rhetorik im breiteren Diskurs unterstellt. Signifikant im hier untersuchten narrativen Material aus den Federn der französischen Reisenden Le Laboureur und Payen ist die Arbeit mit physiognomischen Merkmalen, die als Ausweis des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Habitus markiert und hin zur Dämonisierung stilisiert werden (Profitgier, Geilheit). Darüber hinaus wird der implizite Bezug zwischen apokalyptischem und antijüdischem Denken vor allem 62 Voß, Propter seditionis, 198. 63 Trachtenberg, Devil, 47–49.

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im Zusammenhang mit jüdischem Leben und Wohnen hergestellt. Konkreter bezüglich der Figur des Antichrist und seines Milieus fallen die Vorstellungen von Unreinheit ins Auge, die in einen biblischen Kontext gestellt werden, dafür konnte hier vor allem Payen herangezogen werden. Die Reisenden – am eindrücklichsten wiederum Payen – stehen hier gewissermaßen an der Nahtstelle als Nachzügler mittelalterlicher Vorstellungen zum einen und Vorläufer aufgeklärter Ressentiments zum anderen. Zum einen wurden mit dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts tatsächliche Endzeit-Erwartungen endgültig zum Objekt des Spotts und der Satire – englische Salons mögen hier als paradigmatisch gelten64. Zum anderen waren sie hingegen als literarische Motive (im hier untersuchten Material besonders signifikant im Bild der Sintflut) persistent und medial zunehmend präsent: Immerhin nahm die naturwissenschaftliche Adaptierung der mittelalterlichen Apokalypse-Vorstellungen im 18. Jahrhundert einen breiten diskursiven Raum ein: Sei es hin zur hier gezeigten Thematisierung von Hygiene, sei es weiterläufiger hin zu Kometen und Erdbeben bis hin zur Französischen Revolution und zur Figur Napoleons65, um auf den französischen Bezugsrahmen konzentriert zu bleiben. Beide Narrative, sowohl die mittelalterlichen Vorstellungen als auch die Vorläufer aufgeklärter Ressentiments, nahmen dabei lebhaft Bezug auf apokalyptische Narrative, deren weitläufige Spuren in der Neuzeit weiter zu suchen hiermit ausdrücklich angeregt sei.

Quellen Maiolino Bisaccioni, Historia delle Guerre Civili degli ultimi Tempi. Descritta dal Conte Maiolino Bisaccioni Gentil’huomo Ordinario della Camera del Rè Christianissimo, et suo Cavalliere. All’Altezza Serenissima di Parma, Venezia 1652. Jan Gintel (Bearb.), Cudzoziemcy o Polsce. Relacje i opinje. Tom pierwszy, wiek X–XVII, Kraków 1971. Jean Le Laboureur, Relation du Voyage de la Royne de Pologne, et du Retour de Madame la Marschalle de Guebriant, Ambassadrice Extraordinaire, et Sur-Intendante de sa conduitte. Par la Hongrie, L’Autriche, Styrie, Carinthie, le Frioul et l’Italie. Avec un discours historique de toutes les Villes et Estats, par où elle a passée. Et un traitte particulier du Royaume de Pologne, de son Gouvernement Ancien et Moderne, de ses Provinces et des ses Princes, avec plusieurs tables Genealogiques de Souverains. Dedie a son Altesse, Madame la Princesse Dociairière de Conde. Par Iean Le Laboureur, S. de Bleranval, l’un des Gentils-hommes Servans du Roy, Paris 1647.

64 Almond, Antichrist, 245. 65 Ebd. 256–264.

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Les Voyages de Monsieur Payen, Lieutenant General de Meaux. Ou sont contenues les Descriptions d’Angleterre, de Flandre, de Brabant, d’Hollande, de Dennemare, de Suede, d’Allemagne, de Pologne et d’Italie: où l’on voit les mœurs des Nations, leurs Maximes et leur Politique, la Monnaye, la Religion, le Gouvernement et les Interests de chaque Pays. Derniere Edition. Augmentée de quelques Avantures arivées à l’Autheur, ave une Table necessaire pour la commodité des Voyageurs, Amsterdam 1668. Memoires du Chevalier de Beaujeu, Contentant ses divers voyages, tant en Pologne, en Allemagne, qu’en Hongrie, avec des Relations particulières des Guerres et des Affaires des ces Pais-là, depuis l’année 1679, Paris 1697. Elida Maria Szarota (Bearb.), Die gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen. Zeitgenössische Texte. Historische Einführung, Einleitungen und Anmerkungen von Adam Kersten, Wien/München/Zürich 1972.

Literatur Klaus Aichele, Das Antichristdrama des Mittelalters der Reformation und Gegenreformation, Den Haag 1974. Philip C. Almond, The Antichrist. A New Biography, Cambridge 2020. Jean-Robert Armogathe, Der Antichrist in Frankreich, in: Mariano Delgado/Volker Leppin (Hg.), Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 14) Fribourg/Stuttgart 2011, S. 317–340. Christoph Augustynowicz, Die Darstellung des polnisch-litauischen Judentums in westlichen Reiseberichten und Landesbeschreibungen des 17. Jahrhunderts, in: Werner Matt/ Birgit Brida/Wolfgang Ortner (Hg.), Das Montagsforum. Versuche, die Welt zu verstehen. Festschrift anlässlich des 75. Geburtstages von Dkfm. Dr. Heinz Bertolini, Dornbirn 2010, S. 318–327. Robin Bruce Barnes, Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford 1988. Steven Beller, Antisemitismus (Reclams Universalbibliothek 18643) Stuttgart 2009. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1805) Frankfurt am Main 62019. Teresa Chynczewska-Hennel, Rzeczpospolita XVII wieku w oczach cudzoziemców, Wrocław/ Warszawa/Kraków 1993. Johannes Fried, Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs, München 2016. Andrew C. Gow, The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyptic Age 1200–1600 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 55) Leiden 1995. Heinz-Dieter Heimann, Antichristvorstellungen im Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft. Zum Umgang mit einer Angst- und Hoffnungssignatur zwischen theologischer Formalisierung und beginnender politischer Propaganda, in: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 47 (1995) S. 99–113. Jürgen Heyde, Die Juden im frühneuzeitlichen Polen-Litauen, in: Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Polen in der europäischen Geschichte, Bd. 2: Frühe Neuzeit. 16. bis 18. Jahrhundert Stuttgart 2017, S. 741–790.

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Claudia Märtl

Der Antichrist im Kirchenstaat. Luca Signorellis Fresken im Dom zu Orvieto

Von 1499 bis 1504 gestaltete Luca Signorelli in der Cappella Nova des Doms zu Orvieto einen Freskenzyklus, der als Sonderfall der europäischen Kunstgeschichte gilt, da er das beliebte Thema des Jüngsten Gerichts in einer originellen Lösung mit den Taten des Antichrist und den 15 Zeichen vor dem Weltende vereint. Der heute Cappella di San Brizio genannte Raum war in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts im rechten Querschiff geschaffen worden und sollte ursprünglich von Fra Angelico ausgemalt werden, der im Sommer 1447 jedoch nur zwei Deckenfelder fertigstellte. Der größte Teil der etwa 800 m² umfassenden Wand- und Deckenfläche blieb Signorelli und seiner Werkstatt überlassen, in deren Arbeit Antichrist und 15 Zeichen den Abschluss bildeten. Sie werden heute nahezu einhellig auf 1502 bis 1503 datiert.1 Als mögliche Inspiration für die in der italienischen Bildtradition seltene Darstellung des Antichrist wird hier – nach einer Erläuterung von Freskenprogramm und Entstehungskontext – das Epos »Crisias« des Hilarion von Verona vorgeschlagen.

1.

Die Fresken: Konzeption und Inhalt

Die obere Hälfte der Cappella di San Brizio erinnert an eine Loggia, da die Bildfelder in Lünetten gesetzt sind, deren architektonische Rahmungen den Durchblick freigeben. Die untere Hälfte wird von einer komplexen Sockelzone eingenommen, in der auf gemalten Wandpanelen Porträts von überwiegend antiken Autoren erscheinen, die von Szenen aus ihren Werken umgeben sind. An der Decke, die von zwei Jochen mit Kreuzrippengewölbe gebildet wird, ist ein Allerheiligenhimmel zu sehen, der über dem Altar von Fra Angelico mit Christus 1 Roettgen, Wandmalerei, 384–421; Guidi di Bagno, Cappella; De Chirico, Luca Signorelli; Henry, Life, 171–209; zu den Fresken im Kontext apokalyptischen Denkens in Italien um 1500: Riess, Renaissance Antichrist; Dormeier, Apokalyptische Vorstellungen; Reinhardt, Antichrist; Potestà, Eschatologie.

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als Weltenrichter begonnen und von Signorelli mit Aposteln, Märtyrern, Kirchenvätern und anderen Heiligen gefüllt wurde. Grundlegend für das Gesamtkonzept ist Augustinus mit seinem Werk über den Gottesstaat. Die Ausmalung konfrontiert die civitas terrena mit dem Jenseits, wobei dieses bipolare Schema nicht nur in den Lünetten, sondern auch in der Sockelzone durchgeführt wird. Der Betrachter soll erkennen, dass er das Ende der diesseitigen Welt, in der das Böse unvermeidlich ist, nicht fürchten muss, da der Eintritt in die Seligkeit durch das Erlösungswerk Christi vorbereitet ist. Zudem liegt dem Programm ein dezidiert humanistisches Konzept zugrunde, das die christliche Theologie mit heidnischer Literatur und Philosophie verbindet. Die Werke der Dichter und Philosophen in der Sockelzone bilden die Basis für die Kenntnis und Deutung der novissima in den Lünetten, die von oben durch christliche Autoritäten überwölbt werden. Zwar haben auch heidnische Autoren über die Unterwelt berichtet, doch zeigen die in den Panelen dargestellten Szenen ihrer Texte vor allem, dass sich aus dem Studium der Antike moralische Lehren und Handlungsanleitungen für das Diesseits gewinnen lassen. Als einziger mittelalterlicher, den antiken Literaten gleichgestellter Autor erscheint Dante mit Szenen aus dem »Purgatorium«, die bereits in der Sockelzone über das irdische Leben hinaus auf die christliche Perspektive des Jenseits verweisen.2 Signorellis Ausmalung zeichnet sich durch ihre überlegte Raumkonzeption aus. Weltgerichtsdarstellungen wurden an vielen Fassaden und Innenwänden mittelalterlicher Kirchen angebracht, wo sie sich dem Blick meist frontal darbieten. Nur selten wurde eine räumliche Verteilung versucht, so im 14. Jahrhundert in der Cappella Strozzi in Santa Maria Novella in Florenz und der Kollegiatkirche in San Gimignano und im 15. Jahrhundert in der Cappella Paradisi im umbrischen Terni. In ihnen wurde die Darstellung auf drei Wände verteilt und die Scheidung der Seligen und Verdammten zur Rechten und Linken Christi im Raum nachgebildet. Allein die Cappella Paradisi bezieht auch die Eingangswand ein, an der Propheten und Zeichen des Weltendes dargestellt sind. Der eintretende Betrachter hat somit das Weltende hinter sich und sieht sich in das Geschehen des Jüngsten Gerichts gestellt.3 Signorelli zwingt die Besucher im ersten Joch der Cappella Nova dazu, sich um ihre Achse zu drehen, um den chronologischen Ablauf zu erfassen. Diese Aktivierung hängt unmittelbar mit der Einbindung der Antichrist-Geschichte zusammen. Dass das Studium der Fresken vorne links beginnen soll, wird nahegelegt durch die zwei dort positionierten Herren, die sich durch ihre Kleidung als 2 Paoli, Programma; Testa/Davanzo, Vicende, hier 42–63; Nair James, Signorelli; zu Dante: Potestà, Eschatologie, 36f. 3 Zu italienischen Darstellungen des Jüngsten Gerichts im Quattrocento vgl. Testa/Davanzo, Vicende, 37; zu Signorelli und der Cappella Paradisi vgl. Riess, Renaissance Antichrist, 47f.

Der Antichrist im Kirchenstaat. Luca Signorellis Fresken im Dom zu Orvieto

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Zeitgenossen um 1500 präsentieren. Ob es sich, wie häufig angenommen, um Luca Signorelli und Fra Angelico handelt, sei dahingestellt.4 Jedenfalls schaut der vordere Mann auffordernd ins Publikum, während der dahinterstehende den Blick des Zuschauers durch den Zeigegestus seiner Hand nach rechts lenkt. Dort spielen sich die Taten des Antichrist in einer kreisförmigen Anordnung ab, die links oben mit dem Sturz des Protagonisten endet. Nun muss sich der Betrachter nach links wenden, um an der Eingangswand die 15 Zeichen des Weltendes zu sehen, die rechts im Vordergrund prophezeit werden und links in die Vernichtung der Menschheit im Feuersturm münden. Nach einer erneuten Drehung nach links steht der Betrachter der Auferstehung gegenüber und kann sich danach frontal dem Altar und dem Jüngsten Gericht zuwenden, das im äußeren Joch der Kapelle stattfindet. Die Verteilung der Szenen an den Wänden ist auf Christus als Weltenrichter an der Decke bezogen: zu seiner Linken die Verdammten, zur Rechten die Seligen, an der Außenwand hinter dem Altar dementsprechend der Übergang in die Unterwelt und der Eintritt in die Seligkeit. Das Fresko der Taten des Antichrist ist als einzige Lünette nicht von einem gemalten architektonischen Bogen umgeben.5 Dieser Bogen schafft bei allen anderen Lünetten eine Distanz und signalisiert, dass die Geschehnisse dahinter in einem anderen Raum und in einer anderen Zeit stattfinden. Bei den Taten des Antichrist fehlt die Distanz oder sie ist zumindest verringert, und das wird noch unterstrichen durch die beiden zeitgenössisch gekleideten Gestalten am vorderen Rand der Balustrade, die als Mittler zwischen dem Betrachter und dem Geschehen fungieren. Signorelli erweitert damit die eschatologische Aussage des ganzen Programms um eine diesseitige Dimension, wie auch an der lebhaften Farbigkeit und dem Ausblick in die Landschaft abzulesen ist. Die Kleidung der im Fresko agierenden Personen lässt jedoch die Zeitstellung verschwimmen: Teils tragen sie extrem modische und aufwändige Kleidung der Zeit um 1500, teils sind sie in die zeitlosen Gewänder gehüllt, die für die Darstellung biblischer Figuren üblich waren. Für die Komposition gibt es im Werk Signorellis einen wenig beachteten Präzedenzfall, nämlich das Fresko »Vermächtnis und Tod des Moses« (replicatio legis scriptae a Moise), das er 1481/82 in der Sixtinischen Kapelle geschaffen hatte.6 Auch auf diesem Bild sind im Vordergrund zwei Szenen zu sehen, mit dem Protagonisten in einer erhöhten Position inmitten einer Menge rechts, und im Hintergrund drei Szenen, mit dem Tod des Protagonisten links oben. Und auch 4 Zur Diskussion um diese Figuren vgl. Gilbert, How, 135f.; Henry, Life, 208f.; zum Raumkonzept der Ausmalung: Potestà, Eschatologie, 34f. 5 Gegen Meinungen, die in dem Fehlen der Rahmung einen »Kunstfehler« des Malers sahen, wenden sich Cieri Via, Signa, 182, und Delogu, L’anima, 91. 6 Vgl. Riess, Renaissance Antichrist, 61f. Zu Signorelli in der Sixtinischen Kapelle vgl. Henry, Life, 40–43.

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auf diesem Bild stehen unter der Menge zwei extrem modisch und aufwändig gekleidete junge Männer, von denen der eine als Rückenfigur ungefähr die Bildmitte besetzt. Signorelli hat also für den Antichrist einen eigenen, etwa zwanzig Jahre alten Entwurf angepasst. Das lag umso näher, als in der Sixtinischen Kapelle Episoden aus dem Leben von Moses und Christus parallel gesetzt werden und es in Orvieto darum ging, die Taten eines christusgleich auftretenden falschen Propheten und Anführers zu schildern. Der Bildinhalt des Antichrist-Freskos beruht auf dem Mythos, wie er sich seit Adso von Montier-en-Der entwickelt hatte. Während Jesus in Mt 24,4–5 nur davor warnt, dass vor seiner zweiten Wiederkehr »falsche Christusse und falsche Propheten« erscheinen würden, entwarf Adso im 10. Jahrhundert in »De ortu et tempore antichristi« eine ganze Biographie des Antichrist. So wurde dieser zu einer zwar vom Teufel gezeugten und von Dämonen geleiteten, aber doch menschlichen Figur und bekam einen festen Platz in der Ereignisgeschichte der Endzeit. Adsos Erzählung ebnete den Weg für die zahllosen Versuche, die in den kommenden Jahrhunderten unternommen wurden, um religiöse und politische Gegner als Helfer und Vorläufer des Antichrist oder gar den Antichrist selbst zu entlarven. Laut Adso wird der Antichrist in Babylonien geboren, tritt wie Christus auf, gewinnt seine Anhänger durch materielle Wohltaten und trügerische Wunder, lässt Widersacher erbarmungslos hinrichten. Enoch und Elias kehren aus dem Jenseits zurück und predigen gegen ihn, unterliegen jedoch und werden von ihm getötet. Seine ersten und wichtigsten Unterstützer sind die Juden, er baut den Tempel Salomos wieder auf und markiert seine Anhänger durch ein Zeichen auf der Stirn oder in der rechten Hand. Er wird dreieinhalb Jahre lang sein Unwesen treiben und am Ende durch den Erzengel Michael am Ölberg vor einer großen Menschenmenge getötet werden. Danach wird das Weltende einsetzen. Traktate, Bibelkommentare, Predigten und dramatische Bearbeitungen machten diesen Stoff im Hoch- und Spätmittelalter zum Allgemeingut religiösen Wissens.7 Die Geschichte des Antichrist ließ sich gut mit anderen eschatologischen Themen verbinden, wie den 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht, einem Text, der erstmals um 800 auftaucht.8 Eine Kombination von Antichrist-Handlung und 15 Zeichen findet sich etwa in der »Legenda Aurea« des Jacobus de Voragine.9

7 Aus der reichen Literatur seien hier nur Hughes, Formation, und Delgado/Leppin, Antichrist, genannt. Einen Überblick zu den Quellen ermöglicht die dreibändige Anthologie: Potestà/ Rizzi, L’Anticristo. 8 Vgl. Wagner, Fünfzehn Zeichen, zu Signorelli, 124–128. 9 Die Literatur ist uneins, ob Signorelli die »Legenda Aurea« als Vorlage diente; zu Übereinstimmungen und Unterschieden vgl. Gilbert, How, 129–132; gegen die »Legenda« als Vorlage: Riess, Renaissance Antichrist, 83, und Paoli, Programma, der einen direkten Bezug auf Adso

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Überdies waren Antichrist-Viten und kurzgefasste Antichrist-Traktate im Spätmittelalter weitverbreitet, wie das »Compendium de vita Antichristi«, das zwischen 1473 und 1500 im deutschen Reich und in Frankreich 18 Mal aufgelegt wurde.10 Signorellis Behandlung des Themas ist zwar in der künstlerischen Form exzeptionell, greift aber in inhaltlicher Hinsicht allgemein geläufige Aspekte auf, sodass er derart simpler Vorlagen vielleicht gar nicht bedurfte.

2.

Einzelne Bildmotive

Die italienische Bildtradition eschatologischer Stoffe war für die Aufgabe in Orvieto nur begrenzt nutzbar. In Italien ist ein einziger Fall überliefert, bei dem Taten des Antichrist und Jüngstes Gericht gemeinsam erschienen: Im ausgehenden 14. Jahrhunderts waren diese Motive in Ravenna auf den Triumphbogen am Hauptaltar der Kirche Santa Maria in Porto Fuori gemalt worden, die 1944 zerstört wurde.11 Auf alten Fotos sieht man links die Hinrichtung von Enoch und Elias vor dem thronenden Antichrist und rechts die Tötung des in derselben Haltung sitzenden Antichrist durch den Erzengel Michael. Die in Ravenna gewählte Ikonographie des Antichrist als gekrönten Königs verweist auf Gestaltungen der Geschichte in Miniaturen und Holzschnitten, die nördlich der Alpen verbreitet waren; ebenso kam dort die Darstellung als christus-ähnliche Figur vor, für die sich Signorelli entschied.12 In der Gegenüberstellung mit den Miniaturenzyklen wird deutlich, dass Signorelli unter den Motiven, die von den Antichrist-Texten angeboten wurden, eine Auswahl getroffen hat. Sein Bild wird beherrscht von der Szene im rechten Vordergrund, in der sich der Antichrist anschickt, zu der Menge zu sprechen.13 Der wirre Bart und die an den Schläfen andeutungsweise zu Hörnern gedrehten Locken verraten, dass mit diesem »Christus« etwas nicht stimmt. Er verwächst mit dem Dämon, der ihm ins Ohr flüstert und seinen Arm führt. Das erwähnte Antichrist-Compendium schildert das Verhältnis zu den »bösen Geistern« übrigens so, dass diese ihm als concomites indivisi, unzertrennliche Begleiter, stets

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von Montier-en-Der annimmt; Potestà, Eschatologie, 32, spricht sich dagegen aus, die Verwertung der Tradition durch Signorelli auf einen bestimmten Text einzuengen. Zu illustrierten Antichrist-Drucken vgl. Riess, Renaissance Antichrist, 109–114. Die Erstauflage des Compendium (Köln 1473): Incunabula Short Title Catalogue, Nr. id00147000, https://data.cerl.org/istc/id00147000 [eingesehen am 06. 08. 2021], mit Link zu einem Digitalisat. Cieri Via, Signa, 179; Gilbert, How, 129; Teza, Intorno, 100; Potestà, Eschatologie, 29. Riess, Renaissance Antichrist, 105–109; Cieri Via, Signa, 173. Zur Ikonographie des Antichrist vgl. Schüßler, Studien; Emmerson, Beyond; Higgs Strickland, Antichrist; Palmer, Coming. Zur Bildtradition des predigenden Antichrist vgl. Rusconi, L’ultimo sermone.

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zur Seite stünden.14 Für die Unzertrennlichkeit hat Signorelli eine überzeugende neue Bildformel gefunden. Ein zweiter Schwerpunkt des Freskos liegt in dem spektakulären Untergang des Antichrist, der links oben aus der Luft in die Tiefe stürzt. Es wird angenommen, dass Signorelli für die Kombination von Predigt und Sturz des Antichrist auf einem einzigen Bild eine Vorlage hatte, nämlich den Holzschnitt Michael Wolgemuts in der 1493 gedruckten Schedelschen Weltchronik.15 Bei Wolgemut predigt der wie ein Universitätsgelehrter gekleidete Antichrist unter Einflüsterung des Teufels und wird darüber bei seinem Flugversuch von drei Teufeln in die Tiefe gerissen. Signorelli hat den Sturz dramatischer gestaltet, indem er den Antichrist rücklings kopfüber fallen lässt. In den Antichrist-Illustrationen kam Ähnliches schon vor, etwa in der um 1420 in Mittel- oder Norddeutschland entstandenen Wellcome-Apokalypse, deren Antichrist wie eine Puppe den Berg hinunterpurzelt.16 Für den Sturz aus der Luft gab es in der christlichen Bildtradition ein anderes bekanntes Vorbild, den Erzhäretiker Simon Magus.17 Die von Signorelli im Kreis angeordneten Szenen sind zum Teil einfache Umsetzungen von Aspekten des Mythos, so das Massaker links im Vordergrund, die Hinrichtung von Enoch und Elias rechts hinten und das falsche Wunder einer Erweckung von den Toten in der Mitte hinten. Jedoch geben einige Bildmotive ihre exakte Beziehung zur Geschichte des Antichrist erst bei näherer Überlegung preis. Bisweilen wurde bemängelt, dass die Antichrist-Figur in der Hinrichtungsszene viel kleiner sei als die umstehenden Gestalten. Tatsächlich liegt hier aber kein Fehler der Perspektive vor, sondern Signorelli hat den Versuch unternommen, ein in den Miniaturenzyklen ausführlicher dargestelltes Thema zu integrieren: Die Errichtung eines Götzenbildes seiner selbst durch den Antichrist. Dieser präsidiert also nicht persönlich der Hinrichtung, sondern die Enthauptung wird vor seinem Standbild vollzogen. Nicht ganz eindeutig sind die zu Füßen des Antichrist versammelten Wertgegenstände – Gefäße, Münzen und Metallbarren. Sie werden häufig als Abgaben an den Antichrist gedeutet, doch handelt es sich eher um Spenden, mit denen er seine Anhänger gewinnt. Die antikisierende Darstellung der Objekte wurde mit Abbildungen von Triumphzügen verglichen, bei denen Kriegsbeute mitgeführt und zur Schau gestellt 14 Compendium, fol. 14v (Incunabula Short Title Catalogue, Nr. id00147000, https://data.cerl.o rg/istc/id00147000 [eingesehen am 06. 08. 2021]). 15 [Schedel], Liber cronice, fol. 262v; ein Exemplar aus Schedels Besitz (München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 287): https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00034024?page =598 [eingesehen am 06. 08. 2021]. Vgl. Cieri Via, Signa, 173; Riess, Renaissance Antichrist, 107f., sieht wichtige Übereinstimmungen, aber keine direkte Abhängigkeit. 16 London, Wellcome Library, Ms. 49, fol. 13r; https://wellcomecollection.org/works/du9ua6nd /items [eingesehen am 06. 08. 2021]. 17 Vgl. Ferreiro, Simon Magus.

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wurde.18 Nach der Texttradition werden dem Antichrist durch Dämonen alle verborgenen Schätze enthüllt, die in der Antike in Gräbern versteckt wurden;19 diese Interpretation nahm ein 1508 in Orvieto aufgeführtes, von den Fresken angeregtes Antichrist-Spiel auf, in dem Teufel Schätze herbeibrachten.20 Einen deutlichen Bezug zur Antike hat das auffällige Gebäude rechts oben, in dessen Umgebung sich Bewaffnete herumtreiben und Gewalttaten verüben. Anscheinend handelt es sich um den Tempel Salomos, der durch den Antichrist wieder aufgebaut wird. Die klassischen Architekturformen verweisen jedoch ebenso wie der kreuzförmige Grundriss auf Rom und die Kirche.21 Einen näheren Blick verdient die um den Antichrist versammelte Menge, die keineswegs nur aus seinen Anhängern besteht, sondern sich überwiegend unentschieden oder beobachtend verhält. Die Umstehenden sind bunt gemischt, stammen aus unterschiedlichen Regionen und sogar aus unterschiedlichen Zeiten. Bei den dichtgedrängten Profilen sind ältere Vorlagen verwendet worden. Die in großer Fülle vorgeschlagenen Identifikationen mit historischen Personen des 15. Jahrhunderts sind allesamt wenig überzeugend.22 Dass Signorelli keine Porträts, sondern Typen darstellen wollte, zeigt ein Vergleich mit seinem MosesFresko in der Sixtinischen Kapelle, auf dem sich reale Personen in ihrer Individualität sofort erkennen lassen. In Orvieto setzte er hingegen auf Vereinfachung und/oder Überzeichnung in Gesichtszügen und Körperhaltung. Besondere Aufmerksamkeit haben die Personen links außen in der Gruppe gefunden.23 In dem nach vorne tretenden, mit dem Gesicht ins Profil gedrehten Mann sind die jüdischen Anhänger des Antichrist stellvertretend dargestellt. Durch seine Kleidung ist er als Zeitgenosse um 1500 charakterisiert. Er gibt einer jungen, zeitlos gewandeten Frau anscheinend Geld, das sie mit der rechten Hand annimmt. Es liegt nahe, diese Szene auf Prostitution, Simonie und Korruption in der Kirche zu beziehen. Hinter dem mutmaßlichen Juden stehen zwei weitere Frauen, von denen eine ihre rechte Hand betrachtet. Signorelli könnte damit auf das Zeichen angespielt haben, das die Anhänger des Antichrist auf der Stirn oder in der rechten Hand tragen. Inmitten der Ereignisse steht eine Gruppe von Ordensleuten und Philosophen oder Theologen, die Schriften konsultieren und diskutieren.24 Sie gehören auf 18 Riess, Renaissance Antichrist, 133f. 19 Compendium, fol 15v (Incunabula Short Title Catalogue, Nr. id00147000, https://data.cerl.org /istc/id00147000 [eingesehen am 06. 08. 2021]). 20 Zu dem Spiel vgl. Riess, Renaissance Antichrist, 75–81; Teza, Intorno, 100; Henry, Life, 373 Anm. 17; Nerbano, Et questa, bes. 107. 21 Henry, Life, 181f. und 373 Anm. 22; Potestà, Eschatologie, 34; Cieri Via, Signa, 178, hält eine Referenz auf die Engelsburg für möglich; Potestà, Eschatologie, 34. 22 Vgl. etwa Riess, Renaissance Antichrist, 66–74; Cieri Via, Signa, 178; kritisch Henry, Life, 181. 23 Riess, Renaissance Antichrist, 118–121. 24 Zu ihnen vgl. bes. Riess, Renaissance Antichrist, 56 und Potestà, Eschatologie, 29–32.

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keinen Fall zu den Anhängern des Antichrist, sondern sind Vertreter der westund ostkirchlichen Theologie, die sich mit eschatologischen Themen befasst haben. In der Gruppe ragt ein Dominikaner hervor, der meist als Thomas von Aquin identifiziert, bisweilen auch mit Vinzenz Ferrer gleichgesetzt wurde, vielleicht aber nur allgemein auf die führende Rolle dominikanischer Theologen bei der Interpretation des Antichrist-Stoffs verweisen soll. Links deutet eine Rückenfigur – möglicherweise ein Zisterzienser – mit einer auffälligen Geste nach oben. Vielleicht weist er über das Bildfeld hinaus auf die Kirchenväter und Ordenstheologen, die an der Decke gerade über dem Antichrist-Fresko ihren Sitz haben. Die Haltung des Mönchs erinnert wiederum an den Holzschnitt Wolgemuts in der Schedelschen Weltchronik, wo eine ähnliche Figur auftaucht. Sie wird in der kunsthistorischen Forschung meist mit einer Darstellung in der Sockelzone unter den 15 Zeichen des Weltendes in Beziehung gesetzt. Dort beugt sich ein junger Mann – vielleicht Empedokles – weit zurück, um die Vorkommnisse zu betrachten, und spiegelt damit die Haltung, die Signorelli von den Besuchern erwartet.25

3.

Florenz und Rom? – Ältere Deutungen des Entstehungskontexts

Die Verantwortung für Unterhalt und Ausstattung des Doms von Orvieto trug die Opera, ein Gremium aus Bürgern und Kanonikern, das selbständig agierte, während der Bischof wenig zu sagen hatte. In den Protokollen ihrer Sitzungen lässt sich die Geschichte der Ausmalung in groben Zügen verfolgen.26 Als Fra Angelico beauftragt werden sollte, hatte man in der Domopera noch keine Idee zur Thematik der Malereien, sondern beschloss, eine Unterredung mit dem Künstler abzuwarten. Wahrscheinlich wurde das Jüngste Gericht von Fra Angelico vorgeschlagen, zumal er schon drei Tafelbilder zum selben Sujet angefertigt hatte; es ist aber unklar, ob er bereits die Absicht hatte, den Antichrist einzubeziehen. Nach seinem Abgang blieb die Ausmalung mehr als 30 Jahre liegen. Einige Anläufe ab 1482 gingen ins Leere, und erst 1499 bekam die Opera den entscheidenden Hinweis, Luca Signorelli anzusprechen, der zu dieser Zeit gerade auf sienesischem Territorium, im Kloster Monteoliveto bei Buonconvento, arbeitete. Nachdem Signorelli in Orvieto die Decke ausgemalt hatte, entschloss sich die Opera, ihm einen Vertrag für die Wände zu geben. Dafür wurden 25 Cieri Via, Signa, 173; Guidi di Bagno, Cappella, 461; skeptisch zur Identifikation als Empedokles: Henry, Life, 194. 26 Zum Folgenden vgl. Paoli, Programma, 65; Testa/Davanzo, Vicende, 35–41; Guidi di Bagno, Cappella, 446 und 454f.; Henry, Life, 171–173 und 197f.

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zuerst einige Theologen konsultiert, die mündlich Auskunft erteilten, und es wurde dem Künstler eingeschärft, dass sich die Malereien innerhalb der materia iudicii bewegen sollten. Mehr erfährt man nicht über das geplante Programm. Die italienische Kunstgeschichte attestiert Luca Signorelli eine besondere Affinität zur Kultur der area germanica, da die Bildtradition des AntichristStoffs nahezu ausschließlich nördlich der Alpen beheimatet war.27 Der Maler stammte aus dem toskanischen Cortona, hatte bei Piero della Francesca gelernt, mit Perugino zusammengearbeitet und war seit seinen ersten selbständigen Arbeiten um 1480 vor allem in Mittelitalien beschäftigt gewesen. Woher kannte er also ältere Bearbeitungen der Antichrist-Motive aus dem Norden? Die Forschung ist hier auf eine Indiziensuche in Archivalien und erzählenden Quellen sowie prosopographische Recherchen angewiesen. Im 20. Jahrhundert herrschte dabei die Tendenz vor, die Fresken aus der politischen Großwetterlage zu erklären und den Blick auf Florenz und Rom als unbestritten erstrangige Zentren der Hochrenaissance zu richten. Orvieto, Sitz eines päpstlichen Gouverneurs, erholte sich um 1500 von einem durch Missernten, Pest und Bürgerkrieg verursachten Niedergang während der zweiten Jahrhunderthälfte. Der skandalumwitterte Pontifikat Alexanders VI. scheint dort wenig Probleme verursacht zu haben; es gibt jedenfalls keine Anzeichen für irgendwelche Spannungen. Dies veranlasste den bekannten französischen Kunsthistoriker André Chastel, im Jahr 1952 eine Interpretation vorzuschlagen, die das Antichrist-Fresko mit dem dominikanischen Bußprediger Girolamo Savonarola in Verbindung setzt, der in Florenz mit scharfen Predigten gegen Alexander VI. und eschatologischen Prophezeiungen auftrat. Nachdem er jedoch mit einer Probe seiner übernatürlichen Fähigkeiten gescheitert war, wurde er 1498 auf der Piazza della Signoria hingerichtet, worauf ihn Marsilio Ficino in einem an das Kardinalskolleg gerichteten Traktat als falschen Propheten und Antichrist bezeichnete. Auf dieser Basis deutete Chastel den Antichrist in Orvieto als Anspielung auf Savonarola und das Fresko als Stellungnahme zugunsten Alexanders VI.28 Eine solche Sichtweise, so wurde eingewendet, unterschätzt die Bedeutung des Antichrist-Stoffs, indem sie ihn auf ein punktuelles historisches Ereignis herunterbricht. Savonarola war für den BorgiaPapst, der gelassen reagierte, wohl keineswegs so wichtig, wie das im neuzeitlichen Rückblick erschien, und zur Zeit der Entstehung des Bildes war sein Auftreten schon mindestens vier Jahre passé. Überdies ist die zügellose Herrschaft

27 Cieri Via, Signa, 181; Guidi di Bagno, Cappella, 458; Delogu, L’anima, 91 Anm. 29; Teza, Intorno, 105. 28 Chastel, L’Apocalypse. Zur Kritik an Chastel vgl. Riess, Renaissance Antichrist, 136f.; Dormeier, Apokalyptische Vorstellungen, 43–45; Henry, Life, 198 und 375 Anm. 82; Potestà, Eschatologie, 29f.

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des Antichrist gar nicht mit der lust- und kunstfeindlichen Theokratie in Einklang zu bringen, die Savonarola in Florenz errichten wollte. Eine gute Generation nach Chastel wählte der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan B. Riess eine andere Fokussierung, indem er das Antichrist-Bild aus einem in Italien, speziell an der Kurie vorhandenen Interesse dominikanischer Autoren an eschatologischen Themen erklärte. Außer auf Vinzenz Ferrer verwies er auf Annius von Viterbo, der 1480 einen Traktat im Druck publizierte, in dem er den osmanischen Sultan als den Antichrist und dessen Untertanen als seine Helfer schilderte, und 1498 zum päpstlichen Hoftheologen (magister sacri palatii) ernannt wurde. Als historischen Hintergrund der Fresken resümierte Riess »das Jubeljahr von 1500, verschiedene spanische Prophezeiungen und eine Handvoll aktueller, in der theologischen, humanistischen und eschatologischen Welt Roms wurzelnder Themen«.29 Doch abgesehen von der Tatsache, dass die bei Riess angeführten Texte die anhaltende und sich stets erneuernde Vitalität des Antichrist-Mythos belegen, konnte auch seine Zuordnung von Text und Bild nicht völlig überzeugen. Das Fresko stimmt mit den Texten in den altbekannten Aspekten der Antichrist-Geschichte überein, wozu die Hervorhebung der Juden gehört; für die darüber hinausgehenden Perspektiven lässt sich jedoch kein Anhaltspunkt erkennen, vor allem nicht für den Sultan als Antichrist.

4.

Orvieto und Siena? – Aktuelle Deutungen des Entstehungskontexts

Nach der Restaurierung der Cappella Nova in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts wuchs das Misstrauen gegen Auslegungen, die sich auf den größeren Rahmen der Zeitgeschichte um 1500 beziehen, und die Forschung konzentrierte sich in der Folgezeit vornehmlich auf den Entstehungskontext in Orvieto selbst.30 Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wem intellektuell der Entwurf des Programms und zugleich die Vermittlung nördlicher Bildvorlagen für die Cappella Nova zuzutrauen wäre, rückten die päpstlichen Legaten31 und das Dom-

29 Riess, Renaissance Antichrist, 135 (»the Jubilee of 1500, various Spanish prophecies, and a grouping of attendant issues relating to the theological, humanist, and eschatological world of Rome«). 30 Cieri Via, Signa, 178; Kanter, Da pagarsi, 128 Anm. 37; Paoli, Programma, besonders 66; Henry, Life, 178; Potestà, Eschatologie, 30. 31 Guidi di Bagno, Cappella, 448–451 und 457–460, erwägt Einflüsse durch Nikolaus von Kues († 1464), der unter Pius II. als Reformkommissar in Orvieto weilte; vgl. dazu auch Meuthen, Lebensjahre, 110–125.

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kapitel in den Blick, zuvorderst Antonio Albèri († 1506), der bemerkenswerte Aktivitäten zur Pflege von Kunst und Bildung entwickelte.32 Albèri, Doktor beider Rechte, gehörte zum engsten Umfeld Francesco Todeschini Piccolominis, der 1460 zum Erzbischof von Siena und Kardinal erhoben wurde. Als Papst Pius III. machte er 1503 seinen langjährigen Vertrauten sogleich zum Bischof von Nepi und Sutri. Albèris Kollege im Domkapitel von Orvieto, Tommaso di Silvestro, verrät in seinem »Diario«, dass der neue Bischof mehr als 40 Jahre im Dienst Todeschini Piccolominis gestanden hatte, zuerst als dessen Mentor an der Universität Perugia und später als Sekretär.33 Albèri hielt sich meist mit seinem Herrn in Rom oder Siena auf; von 1496 bis 1500 war er Generalvikar in Siena, von 1497 bis 1503 Archidiakon in Orvieto. Ab 1498 ließ Albèri in Orvieto zwischen der Apsis des Doms und dem Bischofs- bzw. Papstpalast ein Gebäude errichten, das in seinem oberen Stockwerk eine von ihm gestiftete Bibliothek beherbergen sollte, für deren Ausmalung er auf die Werkstatt Signorellis zurückgriff.34 Der Raum zeigt über einer schwarz-weißen Wandgestaltung in Grisaille Vertreter der artes und der Wissenschaften in einer individuellen Auswahl, die Grammatik, Rhetorik, Dichtung, Geschichte, Kosmographie, Astrologie, Rechtswissenschaften und Theologie umfasst. Von den 300 Büchern, die Albèri hier unterbringen wollte, lassen sich heute leider nur mehr etwa 20 Bände auffinden.35 Die Bibliothek am Dom in Orvieto ist inspiriert von der Libreria Piccolomini, die Kardinal Francesco Todeschini Piccolomini in denselben Jahren am Dom in Siena zu Ehren seines Onkels Enea Silvio plante. Dass zwischen der Bibliothek Albèris und der Cappella Nova Korrespondenzen bestehen, insbesondere in beiden derselbe humanistische Geist herrscht, ist unbestreitbar. Womöglich enthält die Cappella Nova sogar eine versteckte Hommage an Todeschini Piccolomini, und zwar in einer Dreier-Gruppe auf dem Fresko der Auferstehung. Sie könnte auf die Drei Grazien anspielen, ein unter den Zeitgenossen berühmtes antikes Kunstwerk, das Todeschini aus dem Nachlass des Kardinals Prospero 32 Testa/Davanzo, Vicende, 40; Teza, Intorno, 97f.; Guidi di Bagno, Capella, 453; zusammenfassend zur Diskussion um den Entwurf des Programms: Henry, Life, 197f. 33 Tommaso di Silvestro, Diario, 231. Zur Charakteristik dieses Werks, das eine Sensibilität für Krisenphänomene und apokalyptisches Denken verrät, die der Autor mit Albèri teilte, vgl. Dormeier, Apokalyptische Vorstellungen, 45–50; Henry, The Life, 178. – Albèri verfasste an der Universität Perugia eine »Oratio de laude scientiarum« (Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Ms. lat. qu. 499, fol. 237–241); vgl. Klein-Ilbeck/Ott, Handschriften, 186. 34 Guidi di Bagno, Pittura, 413f.; Andreani/Cannistrà, Libreria Albèri; zur Ausmalung: Gilbert, Libreria. 35 Fagliari Zeni Buccicchio, Costruzione (mit einer Signaturenliste von 17 Bänden aus dem Besitz Albèris in der Biblioteca Comunale in Orvieto); De Chirico, Luca Signorelli, 285–287. Ebenfalls aus dem Besitz Albèris stammen Jena, Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. G.B.f.20, und Neapel, Biblioteca Nazionale, ms. IV.B.17; vgl. Klein-Ilbeck/Ott, Handschriften 186.

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Colonna übernommen hatte und zuerst in seinem Palast in Rom, dann in der Libreria Piccolomini in Siena aufstellen ließ.36 Francesco Todeschini Piccolomini folgte Enea Silvio, bei dem er in seiner Jugend einige Jahre in Österreich verbracht hatte, als Deutschland-Experte der Kurie nach.37 Als Kardinal wurde er nicht nur für deutsche, sondern auch für englische Petenten zur zentralen Kontaktperson am Papsthof und pflegte einen ausgedehnten Briefwechsel mit Korrespondenzpartnern nördlich der Alpen. 1471 reiste er zum Großen Christentag in Regensburg, begleitet unter anderem von dem Bischof und humanistischen Literaten Giovanni Antonio Campano († 1477), den Albèri in seiner Bibliothek darstellen ließ, wobei derselbe Mann auch unter den Patriarchen an der Decke der Cappella Nova auftaucht.38 Nicht zuletzt setzte sich Todeschini Piccolomini auch für eine Kurienreform ein, was zu der latenten Romkritik passt, die sich in Signorellis Antichrist-Fresko an der Figur der jungen Frau im Vordergrund und den Bewaffneten um das antikisierende Gebäude im Hintergrund festmachen lässt.39 Die Vermutung liegt nahe, dass die angenommene Vermittlung nordalpiner Bildtraditionen des Antichrist-Stoffs über das Milieu des Kardinals Todeschini Piccolomini lief und diese durch Antonio Albèri nach Orvieto gelangten. Da die Anbahnung des Vertrags zwischen der Domopera von Orvieto und Luca Signorelli 1499 von dessen Arbeiten im Hinterland Sienas angeregt wurde, ist auch die Hypothese nicht abwegig, dass Albèri die Beschäftigung des Künstlers vorschlug.

5.

Der Antichrist als Redner bei Hilarion von Verona

In den Büchersammlungen der beiden Piccolomini und einiger Mitglieder ihrer Klientel lassen sich zwar die Autoren der Sockelzone in der Cappella Nova und etliche Exemplare von Augustinus’ »De civitate Dei« nachweisen, aber es fehlt gerade ein Antichrist-Text im engeren Sinn.40 Das 1506 gedruckte Gedicht »Iudicium Dei« des Giovanni Sulpizio (Verulanus) wurde als eine Art Kommentar zu den Fresken gedeutet, in dem sich die Reformhoffnungen des Kreises um Todeschini Piccolomini († 1503) ausgedrückt hätten.41 Bei Verulanus spielt 36 Vgl. Sensi, Memoria, 235. 37 Zur Biographie vgl. Strnad, Francesco Todeschini Piccolomini; jüngste Zusammenfassung: Sanfilippo, Pio III. 38 Andreani/Cannistrà, Libreria, 160. 39 Dieser Aspekt wird betont von Teza, Intorno, 103–105. 40 Jedenfalls tritt in der bibliotheksgeschichtlichen Untersuchung von Strnad, Studia kein solcher Text zutage. 41 Teza, Intorno; zum Autor vgl. Braun, Pedisequa, 146–149.

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der Antichrist allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Doch kann für die spezifische Art und Weise, wie der Antichrist in der Cappella Nova dargestellt ist, ebenfalls ein Bezug zu einem anderen literarischen Werk hergestellt werden, das in Todeschini Piccolominis Umgebung greifbar war. Der Antichrist tritt bei Signorelli – anders als etwa bei Wolgemut – nicht auf einer Kanzel auf, sondern er steht auf einem Marmorpodest, wie es zum Beispiel auf antiken Münzen für die adlocutio römischer Imperatoren verwendet wird. Er wird also als Redner aufgefasst, und der Verweis auf die antike Rhetorik wird in der Sockelzone unterstrichen, da dort unter dem Antichrist-Fresko eine Person auf einem Marmorblock inmitten einer Menschengruppe abgebildet ist, in einer Szene, die einem antiken Autor entstammt, dessen Identifizierung umstritten ist.42 Die Verwandlung des Antichrist vom Prediger zum Redner ist der zeitgemäßen Wertschätzung der Oratorik als einer humanistischen Leitdisziplin geschuldet. Als Orator zeigt sich der Antichrist in dem lateinischen Versepos, das der Benediktinermönch Hilarion von Verona wohl 1471/72 in über 900 Hexametern unter dem Titel »Crisias« abfasste. Hilarion zählte zur Klientel Todeschini Piccolominis, dem er eine Vita Karls des Großen dedizierte und in dessen Palast er bei seinen Romaufenthalten übernachtete.43 Obwohl sich aus dem Besitz Todeschini Piccolominis kein Exemplar der »Crisias« erhalten hat, darf man doch annehmen, das der Benediktiner das Opus auch seinem Gönner überreicht hat. Trotz offensichtlicher Berührungspunkte ist die »Crisias« im Zusammenhang mit Signorellis Fresken noch nie erwähnt worden. Auf der Basis von Adsos Antichrist-Traktat schildert Hilarion in klassischer Sprache und unter starker Anlehnung an Vergil in drei Büchern das Weltende, wobei das zweite Buch den Antichrist und das dritte Buch die 15 Zeichen und das Jüngste Gericht behandelt. 30 Verse des zweiten Buchs geben eine Ansprache des antitheos genannten Antichrist wieder, der sich zuvor einen prächtigen Marmorpalast erbaut hat. Er verkündet der Menge, der Erlöser zu sein, dessen Wiederkehr Propheten und Sybillen vorhergesagt hätten, fordert sie auf, sich von den christlichen Lehren abzuwenden und stattdessen dem Wohlleben zu frönen, und verspricht großzügige Spenden, die er nach dem Ende seiner Rede verteilt. Diese durch und durch humanistisch inspirierte Redesituation atmet denselben Geist wie Signorellis Antichrist-Darstellung. Vor allem scheint der prächtig gekleidete junge Mann rechts neben dem Antichrist mit in die Hüften gestemmten 42 Ein Bezug auf Cicero und die Philippischen Reden wird angenommen von Riess, Renaissance Antichrist, 31 und 121–127; Guidi di Bagno, Cappella, 452. Loscalzo, Fondamenta, 192f., spricht sich für Sallust und die »Verschwörung Catilinas« aus. Zur Diskussion: Gilbert, How, 147–150; Henry, Life, 194. 43 Vgl. die Erläuterungen des Herausgebers, Wolfgang Strobl, in: Hilarion von Verona, Crisias, 129–177; zu den Beziehungen des Autors zur Klientel der Piccolomini vgl. ebd. 205–207; ein Vergleich mit dem »Iudicium Dei« des Giovanni Sulpizio bei Braun, Pedisequa, 41f.

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Armen wie ein Model die von diesem propagierten Kleidungsvorschriften zu präsentieren: die Zuhörer sollten »goldene und bunte Mäntel«, »purpurgefärbte Togen« sowie »golddurchwirkte, mit Edelsteinen gezierte Mäntel« tragen. Die gelockten Haare des Jünglings werden vor der Ansprache des Antichrist von Hilarion als Kennzeichen seiner jungen, gutaussehenden Diener erwähnt.44 Es versteht sich von selbst, dass hier, wie so oft, Zeitkritik im Gewand einer Endzeitprognose geübt wird. Hilarions Epos, das einen prominenten Teil der in Orvieto bearbeiteten Bildmotive behandelt, sollte jedenfalls bei der Suche nach Textquellen zu Signorellis Fresken nicht übersehen werden: Sein klassisches Latein sprechender Antichrist bietet die perfekte Vorlage für Signorellis diabolischen Redner.

Quellen Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Ms. lat. qu. 499, fol. 237–241 (Antonio Albèri, Oratio de laude scientiarum). Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Inc II 858 (Compendium de vita Antichristi, Köln 1493). München, Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. 287 ([Hartmann Schedel], Liber cronice cum figuris et imaginibus, Nürnberg 1493). Luigi Fumi (Bearb.), Il diario di ser Tommaso di Silvestro (Rerum italicarum scriptores² 15/ 5/2) Bologna 1922–1929. Gian Luca Potestà/Marco Rizzi (Hg.), L’Anticristo, Bd. 1: Il nemico dei tempi finali; Bd. 2: Il figlio della perdizione; Bd. 3: La scienza della fine; Milano 2005, 2012, 2019. Wolfgang Strobl (Bearb./Übers.), Das Epos »Crisias« des Hilarion von Verona (Nicolò Fontanelli). Kritische Ausgabe und Übersetzung. Studien zum Antichristmythos in Spätantike, Mittelalter und Renaissance (Europäische Hochschulschriften XV/85) Frankfurt am Main 2002.

Literatur Laura Andreani/Alessandra Cannistrà, La Libreria Albèri nel duomo di Orvieto, in: Fabio De Chirico u. a. (Hg.), Luca Signorelli. »de ingegno et spirto pelegrino«. Perugia, Galleria Nazionale dell’Umbria, Orvieto, Museo dell’Opera del Duomo, Città di Castello, Pinacoteca Comunale, 21 aprile–26 agosto 2012, Milano 2012, S. 153–164.

44 Hilarion, Crisias 58 Vers 325–328: Auratasque trabes variate coloribus omnes, / purpureas gestate togas et murice tinctas! / Auratae placeant chlamydes gemmisque decorae; zu den Dienern ebd. 57 Vers 287–289: hic teneras prima indutus lanugine malas / crispatusque comas flavas et clarus in auro / crinibus hic Libicis maior totusque decorus.

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Daniel Luger

Der Teufel als Bittsteller – Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im spätmittelalterlichen Suppliken- und Gerichtswesen im Spiegel des »Processus Luciferi contra Jesum Christum«

Ir hellischen Geister, liebe Brüder, ihr wisset, daß sich Jesus von Nazareth, so sich nennt den wahren Messiam, ein Sohn Gottes, […] wider alle Recht und Billichkeit unterstanden, mir und der gantzen Hellischen Gemein zu ewigem Schaden und Nachtheil unsern Pallast, Festung und Burgk […] de facto zerbrochen, erstiegen und zerstört und uns also an dem unserigen unverantworlicher weiß turbirt. Und wiewol er uns darauß nicht allerdings vertrieben unnd der Posseß wircklich entsetzt, so hat er mich doch darinnen schwerlich gefangen, angelegt und aller deren Personen, so von newlich ermelter zeit deß ersten Menschen Adams auff die Welt geborn, und deren ich ein gewaltiger Fürst und Herr bißher gewest, beraubt. […] Und ist seydhero niemand mehr herein kommen.1

Mit diesem eindringlichen Lamento beklagt der Höllenfürst Satan vor der versammelten, zur Beratung herbeigerufenen Teufelsschar die Erlösungstat Jesu Christi, der nach christlicher Überlieferung in der Nacht seiner Kreuzigung in die Hölle herabgestiegen sei und dort die Seelen der Altväter, d. h. der Gerechten des Alten Bundes seit Adam und Eva, aus dem Limbus Patrum befreit habe, weshalb dieser nun gänzlich verlassen sei.2 Diese im Spätmittelalter weit verbreitete, zuweilen auch in volkstümlichen Passionsspielen aufgeführte Überlieferung diente dem italienischen Kanonisten und (Erz-)Bischof von Monopoli, Taranto, Florenz und Spoleto, Jakob von Theramo (1349–1417)3, als Ausgangspunkt seines Werks »Processus Luciferi contra Jesum Christum« oder »Buch Belial«.4

1 Jakob von Theramo, Processus; hier zitiert nach der überarbeiteten Druckfassung von Ayrer, Processus, 2. 2 Zu dieser offenkundig dem apokryphen Nikodemus-Evangelium folgenden, allerdings auch auf Eph 4,9 und 1 Petr 3,19 beruhenden Tradition siehe allgemein Masser/Siller, Evangelium Nicodemi. 3 Zu seiner Person siehe Ott, Jacobus de Theramo (mit weiterführenden Literaturangaben). 4 Zu diesem zuweilen auch unter Titeln wie »Lis Christi et Belial coram judice Salomone«, »Litigatio Christi cum Belial sive Consolatio peccatorum« oder »Consolatio peccatorum nuncupatum, et apud nonnullos Belial vocitatum« überlieferten Werk siehe insbesondere die grundlegende Studie von Ott, Rechtspraxis; überdies Mastroberti, Il Liber Belial; Kapeller, Vom Belial bis zum Jüngsten Gericht; Rosenfeld, Belial; Weinmayer, Studien zur Gebrauchs-

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In diesem vielschichtigen und bei Zeitgenossen höchst populären, von der modernen Forschung jedoch zu wenig beachteten Text beschließt die versammelte Teufelsgemeinde auf Vorschlag des listenreichen Dämons Astaroth5, als Reaktion auf die Höllenfahrt Christi das Gericht Gottes um Unterstützung gegen diesen vermeintlich unrechtmäßigen Raub von Seelen anzurufen und Jesus Christus auf Restitution zu verklagen. In dem sich daraus entspinnenden, teilweise höchst skurrile Züge tragenden Gerichtsprozess bot der theologisch wie juristisch gebildete Autor eine zwar verrechtlichte, aber doch in erster Linie heilgeschichtliche Abhandlung unter Bezugnahme auf die zeitgenössische Versöhnungs- und Erlösungslehre. Das um 1382 in lateinischer Sprache verfasste Werk wurde in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in verschiedene Vernakularsprachen übersetzt und erhielt im Zuge dessen bisweilen neue Ausrichtungen. Dies gilt insbesondere für die deutschsprachigen Bearbeiter des 15. und 16. Jahrhunderts, denen dieser Stoff die Möglichkeit bot, ganz im Sinne deiner didaktisch-rechtspraktischen Lehrschrift alle Eventualitäten eines römisch-kanonischen Gerichtsverfahrens darzulegen sowie prozessrechtliche Verhaltensregeln zu vermitteln und dem Leser auf diesem Weg eine »heilsbesetzte Rechtshilfe für die Laien« anzubieten.6 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird nun dem inhaltlichen und konzeptionellen Wandel dieses Textes am Beispiel eines bislang kaum beachteten Aspekts nachgegangen, nämlich der in Wort und Bild dargestellten Rolle des Teufels als Bittsteller und Kläger. Die Klage galt im Mittelalter als Anrufen richterlicher Hilfe gegen erlittenes Unrecht und wird demgemäß noch in den Quellen des 15. Jahrhunderts keineswegs als ein dem Kläger zustehendes Rechtsmittel, sondern als demütige Bitte um ein Gerichtsverfahren (Klagsbitte/-begehren bzw. petitio) beschrieben.7 Dieser Grundsatz wird auch im »Belial« befolgt, wobei insbesondere die Einleitung des Gerichtsverfahrens in den Darstellungen der jüngeren deutschsprachigen Bearbeitungen einigen Veränderungen unterzogen wurde. Das diesem Text zugrundeliegende römisch-kanonische Prozessrecht sah ausdrücklich das Einreichen eines schriftlichen Klaglibells (libelli oblatio) als »tragendes Element eines förmlichen Verfahrens« vor.8 Allerdings traf der »Belial« im deutschsprachigen Raum auf eine Gerichtslandschaft, die in ihrem prozessualen Verfahren weiterhin vom germanischen Zivilprozess geprägt war,

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situation, bes. 52–61; Munsterberg, Satan’s Law-Suit; Salmon, Jacobus de Theramo and Belial; Schumann, Seltzsame Gerichtshändel. Wyatt, Astarte. So Weinmayer, Studien zur Gebrauchssituation, 59. Weitzel, Klage. Zu Supplikationen im mittelalterlichen Gerichtswesen siehe allgemein Hülle, Supplikenwesen in Rechtssachen. Siehe dazu Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, 86f.; Litweski, Mündliche Klage und Klageschrift.

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der im Wesentlichen auf einer Folge von Rechtshandlungen beruhte und im Gegensatz zum römisch-kanonischen Verfahren weitgehend ohne schriftliche Legitimation und Dokumentation auskam.9 So gingen noch im Jahr 1495 die Verfasser der Reichskammergerichtsordnung davon aus, dass selbst vor dem obersten Gericht des Heiligen Römischen Reichs üblicherweise in mündlicher Form Klage erhoben werde.10 Am Beispiel dreier deutschsprachiger Bearbeitungen des »Belial« soll im Folgenden diesem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nachgegangen werden und damit ein exemplarischer Beitrag zur Frage nach der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts im römisch-deutschen Reich geleistet werden. Die erste Übersetzung des »Belial« ins Deutsche entstand um 1421 durch einen unbekannten Autor. Sie folgt der lateinischen Vorlage beinahe wörtlich bis hin zur Nachahmung grammatischer Formen. Sie ist jedoch lediglich in drei Handschriften überliefert und scheint demgemäß keine weite Verbreitung gefunden zu haben.11 Der ordnungsgemäßen Einleitung des Gerichtsverfahrens geht in dieser Bearbeitung die schriftliche Bevollmächtigung des rechtskundigen Teufels Belial, der auch in 2 Kor 6,15 als Gegenspieler Christi agiert12, zum Prokurator der Höllengemeinde voraus. In dieser Weise legitimiert habe sich Belial zu Gott begeben, der im Kreis der 24 Ältesten und Patriarchen13 samt mehreren 100.000 »Beiwohnern« zu Gericht saß. Vor dieser Gerichtsversammlung habe Belial Gott mit lauter, schrecklich stimm und süßlich angesprochen: Du höchster herr aller herren, ein kunig, dem nichts verborgen ist, des willen niemant mag widerstreben, gerecht in allen wegen und in allen werken du heilig pist. Ich pit, euch gevall, zcu mir nidrysten und schaffer aller hell ewer gütig oren zcu neigen und hören, was ich ewer wirdik(ei)t cleglich sagen well.14 In weiterer Folge habe Belial mündlich seine Anschuldigungen gegenüber Christus vorgebracht und um die Einleitung eines Prozesses ersucht, damit jedoch die Bitte verbunden, nicht Gott-Vater selbst möge diesen Prozess leiten, da dieser in Bezug auf seinen eigenen Sohn als befangen gelten müsse: darumb pit ich ower heiligkeit, das ir das recht zcu ver9 Siehe dazu allgemein Weitzel, Gerichtsverfahren. 10 Vgl. Magin, Schriftlichkeit und Aktenverwaltung, 372. 11 In Ermangelung einer modernen Edition im Folgenden zitiert nach der aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts stammenden Handschrift Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 277, fol. 2r–84r. Siehe auch Ott, Rechtspraxis, 337–339. 12 Sperling, Belial. 13 Die 24 Ältesten bilden gemäß der Offenbarung des Johannes den Rahmen für das von Christus geleitete Jüngste Gericht Sie werden entweder mit den zwölf Patriarchen des Alten Testaments und zwölf Aposteln des Neuen Testaments gleichgesetzt oder auf kosmologische Hintergründe – die 24 Stunden des Tages – zurückgeführt; siehe Michl, Die vierundzwanzig Ältesten. 14 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 277, fol. 4r+v.

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furen enphellen einem gleichen mann, der das recht kann, keinem teyl pas geneigt sei, die sach zcu verhören an geverd. Gott habe schließlich eingewilligt und den weithin als gerecht geltenden König Salomon durch ein im Text inseriertes Delegationsschreiben zum kommissarischen Richter ernennen lassen. Dieses Mandat habe Belial entgegengenommen und zcu rechter zceit mit offen schreibern und zcugen […] mit gebeugten knien und demütiglich Salomon vorgelegt, der den brieff, die bull, die schrift, die snur überprüfte, darin kein valscheit vandt und daher durch dessen hoffs offen schreiber in das rechtbuch eintragen ließ. Als nächster Verfahrensschritt folgt die demütige Bitte Belials um Ausstellung eines richterlichen Zitationsschreibens, der Folge geleistet wurde. Nach ausführlicher Schilderung der schriftlichen Ladung Christi kommt es schließlich zur förmlichen Einleitung des Prozesses zwischen der höllischen Gemeinde und Jesus Christus, vertreten durch ihre beiden Prokuratoren Belial und Moses.15 In der ältesten deutschen Bearbeitung des »Belial« kommt es nun zur ersten schriftlichen Eingabe des Klägers in Form einer auf Kosten des Petenten in dreifacher Form ausgefertigten Klagsbitte, des sogenannten Klagslibells: Er [Belial] west, das er unter seiner zcerung solt geantwurten ein libell zcu hant, geantwurt er ir drew […], das ein hielt er, das ander der richter hielt geschriben in seinem rechtbuch, das dritt gab er Moysen in seine hant, und also sol es sein. Als juristischer Mustertext wird diese eingereichte Klagsschrift daraufhin samt Hinweis auf die entsprechenden formalen Vorgaben in den Dekretalen im vollen Wortlaut inseriert.16 Die anschließende Übergabe und Verlesung dieser Schrift wird mit knappen Worten, ohne nähere Angaben zu den Einzelheiten dieses Aktes, vermerkt: do das libell gegeben ward und auch überlesen […].17 Die wohl um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstandene und somit einige Jahrzehnte jüngere zweite deutschsprachige Bearbeitung des »Belial« hat eine deutlich größere Verbreitung gefunden. Sie geht mit der Urfassung wesentlich 15 Ebd. fol 4v–7v. 16 Ebd. fol. 8r: Vor ewer eim [!] erleuchtigen herren Salomon hern kunig zcu Jerusalem etc., es legt für Belial, ein schaffer der hellischen gemein wider Ihesum und alle, die in verantworten wollen, und spricht, das die hellisch sammung gehabt und besessen hab die menschen und ir sel auf ertrich recht als in der hell mit gantzen gewalt und vollen rechten, das sie untz zcu in gehabt haben. Einer aber, ist geheisen Ihesus, Josephen und Marien sun, desselb hat frevelich und türstiglich die vorgenant hellisch gemein mit gewalt entsetzt von ir gewer und auch berawbt, und behabt den raup auch widers recht und willen der gerechtigkeit. Und auch Sathanam, iren fürsten, hat er schemlich gefangen in der tief der gruben und helt in noch gefangen zcu merung unsers leidens. Darumb der vorgenant schaffer in irem namen als vorgeschriben ist, bitt, das ir selbs und ewer hoff den vorgenanten Ihesum urteilich verdampt und das im wider geben werd die gewer und die besitzung der menschen und ir seln, die in genomen sind und genomen mugen werden mit widerkerung der müe und zerung nach der vernunfft und nach dem rechten. 17 Ebd. fol. 8r.

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freier um, kürzt und erweitert den Text Jakobs von Theramo an verschiedenen Stellen, ganz im Sinne der bereits oben skizzierten Neuausrichtung des Werks als didaktisch-rechtspraktische Lehrschrift.18 Diese Version des »Belial« enthält hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Bereich der formalen Einleitung des Gerichtsverfahrens einige bemerkenswerte Variationen.19 So wird in dieser Fassung zunächst der Schilderung und Beschreibung formalisierter Rechtshandlung deutlich mehr Raum gegeben. Im Gegensatz zur älteren Bearbeitung findet das Gericht Gottes nun ausdrücklich in einem Innenraum, nämlich dem himmlischen rathus statt, in welchem Satans Prokurator früschmüteclich und mit luterer stimme und mit gar süßen worten seine Anklage vorbrachte. Die darauffolgende, im Volltext wiedergegebene mündliche Klagsbitte enthält wesentlich detailreichere Ausführungen zu Christi Erlösungstat als Klaggrund der teuflischen Gemeinschaft.20 Dies gilt ebenfalls für die kommissarische Übertragung des Richteramtes an König Salomon. Denn auf die demütige Präsentation des göttlichen Delegationsschreibens durch Belial habe Salomon durch Abnehmen seiner richterlichen Kopfbedeckung, Neigen seines Hauptes und die würdevolle Entgegennahme dieser Urkunde reagiert. Nach der Schilderung der Echtheitsprüfung folgt eine weitere Variation des nächsten Verfahrensschritts. Die ältere deutsche Übersetzung sah in weiterer Folge die Eintragung dieses Mandats durch einen Notar in ein Gerichtsbuch vor, was sicherlich den als Vorbild für die Erstversion des »Belial« dienenden Usancen der italienischen Verfahrenspraxis, keineswegs aber dem gängigen Gerichtsbetrieb nördlich der Alpen um die Mitte des 15. Jahrhunderts entsprach.21 Den Gebräuchen im deutschsprachigen Raum angepasst, gibt gemäß dieser jüngeren Version des Textes König Salomon nun seinem Schreiber den Befehl, dieses Mandat in seine Gerichtsakten zu übertragen: das er zu andern handeln, die mit den rehten vor ime gehandelt wurdent, die sache ouch inschriben sölte22. Offenkundig konnte zum Zeitpunkt dieser textlichen Bearbeitung nördlich der Alpen jedoch das durchgängige Führen weder eines Gerichtsbuches noch ungebundener Gerichtsakten23 vorausgesetzt werden, weshalb der anonyme Über18 Zu dieser Fassung des »Belial« siehe allgemein Ott, Jacobus de Theramo, 443. 19 Im Folgenden zitiert nach der Überlieferung Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Peter pap. 36. 20 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Peter pap. 36, fol. 8r–9r. 21 Zur Schriftlichkeit in mittelalterlichen Gerichtsprozessen siehe Lepsius/Wetzstein, Als die Welt in die Akten kam. 22 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Peter pap. 36, fol. 10r. 23 Für das 15. Jahrhundert vgl. etwa die in mehreren Serien überlieferten, ungebundenen Prozessakten des Bestandes »Reichsarchiv–Judicialia« im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv.

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arbeiter an dieser Stelle ergänzte, als Alternative zu dieser schriftlichen Dokumentation könnten auch zwei Zeugen zum Beleg dieses Rechtsaktes hinzugezogen werden: wann ein jeglicher rihter sol haben einen offnen schriber oder an desselben schribers statt zwen erber glubhaftig manne, die do merkent, was sich mit dem rehten vor ime vergot und wie sich ein sache verlouffe oder wie si verlossen werde, uff das, ob man es fürbas wolte anders machen.24 Wohl als weitere Anpassung an die reduzierte Schriftlichkeit im Gerichtsbetrieb des deutschsprachigen Raums wird in dieser Version das Einreichen der schriftlichen Klagsbitte in dreifacher Form durch die Übergabe einer einzigen Bittschrift an den Richter ersetzt: Belial bedoht sich, wie vil er darus machte, so keme es doch daran, das er uff sin zerunge dem rihter geschriben antwurten soltent sin clage und zuspruche, das man in latine heisset ein libell. Und reht als ein fursihtiger, der sich vor hin bestellet hett, zoch er die geschrifte harfur und gab die fur gerihte. […] Do die clag wart vor rehte gelesen […].25 Rubra in mehreren Überlieferungen dieser »Belial«-Überarbeitung weisen jedoch darauf hin, dass es sich beim schriftlichen Einreichen einer Klagsbitte selbst in einfacher Form nicht um das übliche Gerichtsprozedere handelte, weshalb der Leser durch einen gesonderten Vermerk auf die geforderte Schriftlichkeit dieses Verfahrensschrittes hingewiesen werden sollte.26 Der römisch-kanonische Gerichtsprozess und seine exemplarische Schilderung im deutschen »Belial« verlangten selbstverständlich über die Einleitung des Prozessbeginnes hinaus die schriftliche Fixierung weiterer prozessrelevanter Schritte, wie etwa Belials Gesuchs um ein verändertes Klagebegehren (das er im die gnad tett und ließ in daz recht anderst anfahen)27, die Ausstellung von Zitations- und Urteilsbriefen oder die Protokollierung von Beiurteilen, Einreden und Zeugenaussagen. Auf weitere diesbezügliche Diskrepanzen in den beiden ältesten deutschsprachigen Versionen des »Belial« soll an dieser Stelle jedoch nicht eingegangen werden. Hinsichtlich der hier untersuchten Frage nach dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bietet jedoch eine ikonographische Analyse der bildlichen Darstellungen im »Belial« einige bemerkenswerte Ergänzungen. Von etwa 90 bekannten Belial-Handschriften weisen etwa 20 Illuminierungen auf, hinzu kommen noch etwa zwei Dutzend Ausgaben als illustrierte Inkunabel, von denen jedoch die meisten unter Benutzung gleicher oder ähnlicher Holz-

24 Ebd. 25 Ebd. fol. 16r–17r. 26 Ott, Rechtspraxis, I.8 Nr. 6: Merck die clag sol man den richter geschriben antwurtenn; so etwa auch ebd. I.9 Nr. 5. 27 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Peter pap. 36, fol. 32r+v.

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Abb. 1: München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 345, fol. 8v.

schnitte hergestellt wurden.28 In diesem Zusammenhang können allerdings ausschließlich die Bilderzyklen der jüngeren, freieren Bearbeitung des Textes untersucht werden, da die einzige zumindest teilweise illuminierte Handschrift der älteren Übersetzung lediglich vier halbspaltige Illustrationen enthält, die zudem keinen Bezug zu den hier behandelten Themen aufweisen.29 Die Mehrzahl der bebilderten Handschriften der jüngeren »Belial«-Übersetzung bietet jedoch durchgängige Illuminationen des dargestellten Gerichtsverfahrens und damit auch der oben analysierten Prozesseröffnung. So zeigen die meisten Abbildun28 Zur kunsthistorisch-ikonographischen Analyse des »Belial« siehe grundlegend Ott, Rechtspraxis, 191–276 und 344–498. 29 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 277. Die enthaltenen Abbildungen stellen folgende Szenen dar: Christus befreit die Voreltern aus der Hölle, Die erste Rede des Jeremias im Schiedsverfahren, Das Leben und der Tod vor Gottes Richterstuhl und Die Teufel beraten über die Konsequenzen des Urteils. Sieben Bildräume blieben frei, die vermutlich unter anderem Belials Bitte um einen Prozess vor dem Gericht Gottes oder das Einreichen des schriftlichen Klagslibells zum Inhalt haben sollten; siehe Ott, Rechtspraxis, 345–348.

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gen von Belials Auftritt vor Gott als oberstem Richter und der damit verbundenen Klagsbitte den Petenten in Demutshaltung, mit gebeugten Knien und zur Bitte gefalteten bzw. zur Klage erhobenen Händen.30 Diese tradierten Rechtsgebärden werden in einigen Handschriften durch das demütige Einreichen eines im Text des »Belial« selbst nicht erwähnten Schriftstücks ersetzt, wobei es sich dabei um eine Supplikation Belials oder um dessen schriftliche Vollmacht als Prokurator handeln könnte (Abb. 1).

Abb. 2: Boston, Public Library, Ms. f. Med. 122, fol. 6r.

In einer Handschrift wird die Klagsbitte Belials sowohl in mündlicher wie schriftlicher Form vorgebracht. So wird Belial zunächst im Einklang mit dem 30 Vgl. dazu den ikonographischen Katalog in: Ott, Rechtspraxis, 344–498, bes. Nr. I.4 Nr. 4; I.3 Nr. 2; I.5 Nr. 2; I.7 Nr. 3 u. a.; zum Bittgestus bzw. der genuflexio-Ikonographie siehe allgemein Garnier, Die Kultur der Bitte; Schmitt, Les suppliques dans les images, 77–87.

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Abb. 3: Boston, Public Library, Ms. f. Med. 122, fol. 6v.

Text der Handschrift im Bittgestus beim mündlichen Vortrag seiner Klage dargestellt, während in der unmittelbar darauffolgenden Illumination Gott mit einem Schriftstück in der Hand dargestellt wird, welches ihm offenkundig zuvor von dem in der Bildmitte in Demutshaltung dargestellten Belial überreicht wurde. Die Schriftlichkeit dieser Szene wird zudem durch Belials Entourage – zwei Notare mit Schreibgeräten in Händen – betont (Abb. 2 und 3). Die Übergabe der schriftlichen Klagsbitte Belials in einfacher Form in die Hand des kommissarischen Richters Salomon wird hingegen in beinahe allen überlieferten Handschriften strikt dem Text der jüngeren deutschen Übersetzung folgend dargestellt (Abb. 4). Auch wenn – wie oben ausgeführt – entsprechende Vermerke die Form der schriftlichen Klagseinreichung jedenfalls für die Mitte des 15. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum nicht als durchwegs gängige Praxis im Gerichtswesen erscheinen lassen, unterbleibt in den illumi-

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nierten Handschriften des »Belial« die Darstellung einer Klagsschrift nur in wenigen Fällen.31

Abb. 4: München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 48, fol. 21r.

Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt Codex germ. fol. 657 der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin dar, der höchst detailfreudige, unschematische und gelegentlich auch vom Text des »Belial« abweichende Bildkompositionen samt den dazugehörigen zeitgenössischen Maleranweisungen bietet. In dieser Handschrift wird das Einreichen der Klagsbitte Belials als lebendige, figurenreiche Szene dargestellt.32 In der Bildmitte sitzt Salomon auf einem erhöhten Richterstuhl mit Szepter und Reichsapfel in den Händen und von sieben

31 Ott, Rechtspraxis, I.10 Nr. 2, I.14 Nr. 5, I.18. Nr. 11. 32 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Cod. germ. fol. 657, fol. 9r; vgl. Ott, Rechtspraxis, Abb. 8.

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Beisitzern umgeben. Schrägrechts im Vordergrund befindet sich ein Tisch mit Schreibutensilien, hinter dem zwei Notare stehen. Im Gegensatz zur Beschreibung im »Belial« übergibt der Teufel seine (mit zwei anhangenden Siegeln versehene) Klagsbitte nicht dem Richter selbst, sondern den beiden Gerichtsschreibern. Dass Belial bei der Überreichung des Schreibens kniend dargestellt wird, findet ebenfalls keine Entsprechung im Text der Handschrift, geht allerdings direkt auf eine entsprechende Maleranweisung im Codex selbst zurück.33 Angesicht der weiten Verbreitung der jüngeren »Belial«-Bearbeitung im deutschsprachigen Raum ab der Mitte des 15. Jahrhunderts ist es wenig überraschend, dass dieser Text sehr bald auch die Aufmerksamkeit der frühen Buchdrucker erhielt. Von etwa 1461 bis 1500 erschien der »Belial« in zumindest 43 Ausgaben34, wobei die dabei verwendeten Illustrationen auf einige frühe Bilderzyklen zurückgehen.35 Hinsichtlich der hier behandelten Frage unterschieden sich einige dieser bebilderten Frühdrucke von den älteren illustrierten Handschriften durch eine größere Betonung der Schriftlichkeit des römisch-kanonischen Prozesses, etwa durch die Darstellung übergroßer Lad- oder Klagsbriefe mit zweifacher Besiegelung oder überlanger (auch unbeschriebener) Schriftbänder, die von im Druck wesentlich häufiger bildlich dargestellten Notaren oder anderen am Prozess beteiligten Personen in Händen gehalten werden.36 Als eines der meistübersetzten und meistgedruckten Bücher des 16. Jahrhunderts landete der »Belial« dennoch unter Papst Paul IV. im Jahr 1559 auf dem »Index Librorum Prohibitorum«.37 Von dem Nürnberger Rechtsgelehrten und Prokurator vor dem örtlichen Stadtgericht Jakob Ayrer wurde dieses Werk allerdings noch im Jahr 1597 neu bearbeitet und an die nunmehr auch im deutschsprachigen Raum gänzlich verschriftlichte Rechtspraxis angepasst.38 Diese späte Überarbeitung enthält eine detailgenaue Beschreibung des römisch-kanonischen Gerichtsprozesses samt der in diesem Zusammenhang produzierten Schriftstücke. An dieser Stelle sei beispielsweise auf enthaltene Mustertexte mehrerer Supplikationen, unter anderem einer Bittschrift zur förmlichen Einleitung eines Gerichtsverfahrens (Forma petitionis pro processu et

33 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Cod. germ. fol. 657, fol. 9v: Die sibend figur: wie Beleal dem richter kung kung [!] Salomon uf sein knyen eyn schrift buit. 34 Siehe Lemma Litigatio Christi cum Belial sive Consolatio peccatorum, in: Gesamtkatalog der Wiegendrucke Online (https://gesamtkatalogderwiegendrucke.de). 35 Zu den Illustrationen in deutschen Frühdrucken siehe Ott, Rechtspraxis, 210–224; zu niederländischen »Belial«-Inkunabeln vgl. Becker-Moelands, Sonderentroest. 36 Rosenfeld, Belial; Ott, Rechtspraxis, 220. 37 Mastroberti, Liber Belial, 2. 38 Ayrer, Processus Iuris. Zur Person des Bearbeiters siehe Flemming, Ayrer, 472f., sowie Stintzing, Geschichte der populären Literatur, 278.

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citationis) hingewiesen39, welche laut Ayrer noch vor dem ebenfalls im Volltext abgedruckten Klagslibell40 an den delegierten Richter Salomon einzureichen war. Auch wenn Ayrer den nun professionalisierten römisch-kanonischen Rechtsprozess des 16. Jahrhunderts als weitgehend verschriftlicht beschreibt, bleibt die Darstellung der bereits im spätmittelalterlichen »Belial« enthaltenen formalisierten Akte und Rechtsgebärden ein zentraler Teil dieser Neubearbeitung und erfährt an mehreren Stellen sogar eine eingehendere Beschreibung, die der Bearbeiter auch zur Dramatisierung des Stoffs nutzte. Dies gilt insbesondere für die Einleitung des Gerichtsprozesses, im Zuge dessen Belial in Begleitung eines Notars sowie zweier Zeugen, im fall er dern bedörfft, sie haben zu gebrauchen, vor dem Gericht Gottes erschienen sei, sich vor dessen Thron gantz freffentlichen und gantz demütiglichen zu der Erden geneigt, mit lauter Stimme und süßen Worten seine Beschwerde gegen Jesus Christus vorgebracht und zunächst um Audientz unnd Gehör ersucht habe. Nach dem Ende seines wortreichen und im Volltext abgedruckten Vortrags schwieg Belial ein wenig still, stellet sich demütig, seufftzet, schlug die Händt zusammen und stellet sich gar kläglich und erwartet gleichsam mit grossem Verlangen, was doch der Allmächtig ihme vor ein Bescheidt geben würde. Der angesprochene oberste Richter habe dem Petenten mit unaußsprechlicher hoher Maiestätischer Ehr auff seinem Göttlichen Thron sein Gehör geschenkt und die Anhörung von Belials Klage gewährt. Über die sanftmütige Antwort Gottes überrascht, habe sich Belial zunächst mit demütigen Gebärden verneigt und Dank bezeugt, um anschließend seine schriftliche Prokuratoren-Vollmacht vorzuzeigen und um öffentliche Verlesung dieser gewalt zu ersuchen. Nach verlesung desselben stellet sich Belial abermal gar kläglich, krauwet sich am Kopff, fieng an zu zittern unnd verstummet, fiel auff die Knie nieder, und als im gewincket ward auffzustehen, sprach er. […] Belial stund auff, fasset ein Hertz und sprach: […] »Also habe ich meine Ursachen der Recusation halben hiebey schrifftlich, und bitt dieselbe zu verlesen und wie darinnen gebetten, deiner Göttlichenn Gerechtigkeit nach allergnädigist zu erkennen«. Unnd damit kredentzte er die Schrifft, neiget sich und gab dieselbe dem Allmächtigen Herrn Richter aller Herrschafften mit gebürender Reverentz. So nam sie auch Gott mit grosser Sanfftmühtigkeit von ihme an, ließ die verlesen und sagt: […].41 39 Ayrer, Processus Iuris, 49f.: […] unnd ist derohalben an Ew. Kön. May. nomine, quo supra, Syndici allerdemüttigist bitten, ihme Proceß unnd Ladung an den beklagten Iesum allergnädigst zu decernirn unnd mitzutheilen. Hierüber unnd was sich sonsten dißfals halben zu bitten unnd begehren eygnet, wil Anwaldt das hoch adelich milt Richterlich Ampt hiemit inn gleichem angeruffen und ihme seine Klag in termino articulatim einzubringen protestando vorbehalten haben. Salvo etc. Belial, ein Hellischer Geist, Syndicus. 40 Ebd. 68–70. 41 Ebd. 23–25.

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Um Salomon das göttliche Kommissionsmandat zu überreichen, sei Belial zu einem späteren Zeitpunkt wiederum in Begleitung eines Notars und zweier Zeugen vor den König getreten. In dessen Jerusalemer Residenz habe der Teufel schließlich den Reichtum Salomons erkannt. Als Reaktion darauf demütiget sich derohalben Belial abermals gar hefftig, neiget sich fast biß zur Erden und ersuchte um Verlesung des göttlichen Kommissionsmandates. Und nach solchem kredentzte Belial den Commission-Brieff und reichet denselben dem König. Salomon besah den Brieff und Insiegel, ließ es auch seinen Notarium den Danielem sehen und recognoscirn, ob der Brieff noch allenthalben gantz gerecht, unversehrt were. Und da der König sahe, daß der Gottes Insiegel hatte, neiget er sich gegen demselben mit grosser Reverentz, zog seine Königliche Kron von seinem Haupt, stund auff von seinem Thron und laß den Brieff stehend. Darnach gab er denselben newlich gedachtem Danieli, hieß den in deß Gerichts-Prothocoll registrirn und den Tag der Praesentation aussen darauff schreiben. Nach der förmlichen Annahme dieser Kommission durch König Salomon erleget Belial anfangs seinen Gewalt, bat denselben ad acta zu registirn und auffzuheben. Dann ferrners so übergab er geschriebene petitionem pro Citatione et processu, die verlass der König und erkennet ihme hierauff Process und Citation an Iesum von Nazareth.42 Den darauffolgenden Gerichtsprozess schildert Ayrer ausführlich auf beinahe 700 Druckseiten samt Anhängen, die vom Haupttext getrennte, eingehende juristische Überlegungen zu den Verfahrensschritten (observationes) sowie Mustertexte der im Text genannten Schriftstücke, wie etwa einer supplicatio pro inhibitione et citatione ad videndum prosequi appellationem43, bieten. Auch in der umfassenden Neubearbeitung Ayrers blieb der deutschsprachige »Belial« populär und erlebte bis 1737 etwa 30 Ausgaben. Erst im Zuge der Aufklärung kam dieser eigenwillige Text mit seiner Mischung aus theologischen und juristischen Deutungsangeboten, der wie kaum ein anderes Werk den Wandel der Gerichtspraxis unter Einfluss des gelehrten Rechts vom auf frühmittelalterliche Traditionen zurückgehenden mündlichen Verfahren hin zu einer professionalisierten, standardisierten und schriftlich ablaufenden Verhandlung widerspiegelt, offenkundig aus der Mode und wurde durch nüchterne Prozesslehrbücher ersetzt.44

42 Ebd. 48f. 43 Ebd. 387. 44 Rosenfeld, Belial.

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Quellen Jakob Ayrer, Historischer Processus Iuris, in welchem sich Lucifer uber Jesu, darumb daß er ihme die Hellen zerstört, eingenomen, die Gefangene darauß erlößt und hingegen ihnen Lucifern gefangen und gebunden habe, auff das aller hefftigest beklaget. Darinnen ein gantzer Ordentlicher Proceß von anfang der Citation biß auff das Endturtheil inclusive […], Frankfurt am Main 1597. Achim Masser/Max Siller (Bearb.), Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa. Texte, hg. von (Germanische Bibliothek, Reihe 4: Texte und Kommentar) Heidelberg 1987.

Literatur Margaret Becker-Moelands, Der Sonderentroest. Die Holzschnitte der einzigen illustrierten Ausgabe des Belial, die in den nördlichen Niederlanden erschienen ist, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 14 (1992) S. 105–125. Willi Flemming, Art. Ayrer, Jakob, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953) S. 472f. Claudia Garnier, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne) Darmstadt 2008. Gesamtkatalog der Wiegendrucke Online (https://gesamtkatalogderwiegendrucke.de). Werner Hülle, Das Supplikenwesen in Rechtssachen. Anlageplan für eine Dissertation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90 (1973) S. 194–212. Edith Elfriede Kapeller, Vom »Belial« bis zum Jüngsten Gericht. Eine spätmittelalterliche Sammelhandschrift und ihr Kontext (Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, CC1 1253), in: Susanne Ehrich/Andrea Worm (Hg.), Geschichte vom Ende her denken. Endzeitentwürfe und ihre Historisierung im Mittelalter (Forum Mittelalter – Studien 15) Regensburg 2019, S. 345–360. Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein (Hg.), Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter (Rechtsprechung. Materialien und Studien 27) Frankfurt am Main 2008. Wieslaw Litewski, Mündliche Klage und Klageschrift in den ältesten ordines iudiciarii, in: Gerhard Köbler/Hermann Nehlsen (Hg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 667–686. Christine Magin, Schriftlichkeit und Aktenverwaltung am Kammergericht Kaiser Friedrichs III., in: Lepsius/Wetzstein, Als die Welt in die Akten kam, S. 349–387. Francesco Mastroberti, Il »Liber Belial«. Un’opera europea tra diritto e teologia. Prime note su una ricerca in corso, in: Annali della Facoltà di Giurisprudenza di Taranto 4 (2011) S. 323–329. Johann Michl, Die vierundzwanzig Ältesten in der Apokalypse des heiligen Johannes, München 1938. Margaret Munsterberg, Satan’s Law-Suit Against Christ, in: The Boston Public Library Quarterly 6 (1954) S. 150–159.

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Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea und der Antichrist. Deutsche Berichte, der spätmittelalterliche Antichrist-Bildertext und die dissimulatio des Bösen

Bram Stoker und die dissimulatio Draculas Als Bram Stoker in den 1890er-Jahren an seinem Dracula schrieb, konzipierte er seinen Roman nicht nur nach strukturellen Gegensätzen wie Eros/Thanatos, Stadt/Land, Tod/Leben, Barbar/Aristokrat, Ost/West, sondern er unterlegte ihm – unschwer herauszuhören – einen christlichen Cantus firmus1: Christus ist Fürst des Lichts, Dracula Fürst der Dunkelheit; dieser wird mit dem Wolf, jener mit dem Lamm assoziiert; der eine Sohn Gottes, der andere Sohn des Teufels; dieser der Erlöser – auferstanden für immer, jener der Erlöscher – der seine Todesschübe aussetzt, um Tod zu bringen; der eine gab sein Blut für die anderen, das Blut der anderen fließt für den einen usw. Dracula ist für Stoker eine Gegenfigur zu Christus, ein Anti-Christus, nicht zwangsläufig der Antichrist im biblischen Sinn, wie ihn explizit nur die biblischen Johannesbriefe nennen. Doch hat er mit diesem so einiges gemein. So charakterisiert ihn sein gleichsam alttestamentarischer Gegenspieler Abraham van Helsing mit den Worten: »He is brute, and more than brute, he is devil in callous, and the heart of him is not, he can, within his range, direct the elements, the storm, the fog, the thunder, he can command all the meaner things, the rat, and the owl, and the bat, the moth, and the fox, and the wolf.«2 Und weiter: »He can grow and become small; and he can at times vanish and come unknown.« Dracula ist demnach ein Meister der dissimulatio – wie sein biblisches Vorbild, der Antichrist, Prototyp des Täuschers und Verführers, der laut Markus-, Lukas- und Matthäusevangelium sich als Christus verstellt und das Ende der Welt

1 Hierzu in Auswahl: Böhm, Heim-Suchungen; Haumann, Dracula, 87–115; Weiher, Wo ist mein Gott (v. a. zur filmischen Umsetzung); Erickson, Heresy, 27f.; Ferguson, Dracula; in historischer Einbettung vgl. Bohn, Vampir, 200–271. 2 Kapitel 18.

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prophezeit3. »Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, sodass sie, wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten verführten«, heißt es wortgleich im Markus- (13,22) wie Matthäusevangelium (24,24) über die ψευδόχριστοι bzw. ψευδόπροφῆται am Ende der Tage der Welt. Es mögen letztlich nur lose Verbindungen von Stokers Vampirgraf – einer literarischen Konfiguration der Machtverhältnisse um 1900 – im dunkel assoziierten Osten Europas zum historischen Woiwoden der Walachei, Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea4, im 15. Jahrhundert reichen5, doch sei im Folgenden aufgezeigt, wie bereits im Spätmittelalter das Motiv der dissimulatio in der historisch-literarischen Auseinandersetzung um »Dracula« eine bisher in der Forschung kaum thematisierte Rolle spielte. Ohnedies scheint die Vorstellung der dissimulatio eines der leitenden Antichristbilder im Lauf des gesamten Mittelalters zu sein. Falschheit, Verstellung und Ketzertum gehen – vor dem großen Resonanzraum eschatologischer Geisteswelten – Hand in Hand6. An den sogenannten Deutschen Berichte über Vlad III. T ¸epes¸ Dra˘culea, einer Quelle des ausgehenden 15. Jahrhunderts, seien diese Überlegungen exemplifiziert.

Die Deutschen Berichte – eine literaturhistorische Skizze Um 1464 wurde Bischof Nikola von Modrusˇ am Ungarnhof – vielleicht in Buda, vielleicht in Visegrád – der gefangene Woiwode Vlad III. vorgeführt. Modrussa erzählt davon gleich zu Beginn seiner im Autograph erhaltenen »Bella Gothorum«, in denen der Geistliche auch von seinen südosteuropäischen Missionsreisen berichtet7. Die Walachen werden dort als treuloses Verbrechervolk zwischen den Großmächten Ungarn und Osmanisches Reich charakterisiert, bevor Vlad als tyrannus – Draculus – demon vorgestellt wird, eine seit alters propagandistisch eingesetzte antichristlich-apokalyptische Begriffstrias8. Gemäß der Offenbarung des Johannes (12,3–18; 16,13) ist der Drache Gegenspieler Gottes. 3 Hierzu in Auswahl vgl. Jenks, Origins and Early Development; Litaert Peerbolte, Antecedents of Antichrist; Pratscher, Antichrist; Kowalski, Antichrist; Fried, Dies irae, 63–85; Hughes, Formation of Antichrist. 4 Biographischer Überblick zu Vlad nach Revision der Quellen durch Weber, Diplomatia Draculiana, 136–157; ders., Vlad der Pfähler, 206–308; in breiterer Einordnung vgl. Ursprung, Walachei. Materialreich bleibt Cazacu, Dracula, 54–198. 5 Cazacu, Dracula, 251–262. 6 Bailey, Superstition and Dissimulation. 7 Zum Werk nun Sˇpoljaric´, Nicholas of Modrusˇ. 8 Modrussa, De bellis Gothorum, fol. 2r: Siquidem inter Hunnorum Turcorumque regna constituti, modo istorum, modo illorum studia sequuntur homines infidi, latrociniis rapinisque dediti, intestinis laborantes seditionibus et mutua inter se cede ferocissime sevientes. Horum tyrannum Draculum nomine, quo ipsi demonem appellant, dum Pii secundi pontificis maximi apud Hunorum regem legati essemus, captivum vidimus […].

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Mit dem Antichristlichen verbunden ist das Dämonisch-Dämonologische in biblischem Rekurs und wurde etwa von Prokop breit in seinen »Anekdota« auf Kaiser Justinian angewandt. Zuletzt die christliche Parusieerwartung, die sich traditionell mit dem antichristlichen Tyrannenkaisern, so dem Römer Nero, verband9. Kurzum, auf engstem Raum evoziert Modrussa ein endzeitliches »Grundrauschen«, ohne das Wort »Antichrist« zu gebrauchen bzw. verwenden zu müssen. Im Weiteren beschreibt der Geistliche das Äußere des gefangenen Woiwoden und verbindet dabei gemäß der pseudoaristotelischen »Physiognomonica« äußeres und inneres Wesen, um hierauf zu schildern, wie der Ungarnkönig Matthias Corvinus – wobei ihm die anwesenden Sekretäre beipflichteten – von den grausamen Taten »Draculas« erzählt10. Der gefesselte Antichrist demnach als spätmittelalterliche Sehenswürdigkeit am Ungarnhof. Die grausamen Taten, die Modrussa aus dem Mund des Corvinen erfährt, decken sich inhaltlich mit einem Textcorpus, das jüngst erschlossen wurde und im Folgenden unter der Sammelbezeichnung Deutsche Berichte geführt wird11. Die Deutschen Berichte entstanden mit gewisser Wahrscheinlichkeit am Hof des ungarischen Königs nach der Gefangennahme Vlads und wurden von einem Autorenkollektiv mit dem Ziel verfasst, den durchaus erfolgreichen, aber in seiner Unerbittlichkeit für Ungarn gefährlichen Osmanenkämpfer zu diffamieren12. Corvinus, der herrscherliche Legitimationsdefizite, die nicht zuletzt aus seiner Herkunft rührten, auch über die Vorstellung eines antemurale der Christenheit kompensierte13, instrumentalisierte zwar den Topos des Türkenkämpfers stets für sich, mied aber während seiner langen Regierungszeit die breite Auseinandersetzung mit den Osmanen. Durch die Gefangennahme Vlads war der Ungarnkönig zweifellos in Erklärungsnöte geraten. Vlads zweite Woiwodschaft von 1456 bis 1462 hatte zunächst eine Annäherung an das Osmanische Reich mit sich gebracht, war allerdings in eine Art Guerillakrieg gegen die Osmanen gemündet. Das von Vlad nicht erfundene, aber wohl in völlig neuen Dimensionen eingesetzte Pfählen, die ausgesprochene Brutalität seines Vorge9 Neuerdings Malik, Nero-Antichrist, 16–126. 10 Modrussa, De bellis Gothorum, fol. 2rv: Narrabat rex, fidem notariis facientibus, qui descriptioni intenderant, quadraginta hominum milia promiscui sexus atque aetatis, qui contrarie factionis essent, iussu ipsius per exquisita supplicia paulo ante necata. Hos carrorum confractos rotis, illos detracta pelle viscera nudatos, alios verubus impositos subiectisque assatos prunis, alios trans caput, trans pectus alios, nonnullos per umbilicum, aliquos ab imo sedis, quod dictu quoque faedum est, per media viscera ad summum os stipitibus transfixos, et, ne ullum deesset feritatis argumentum, matribus utroque in ubere infixos palos atque in illis natos impositos, aliosque aliis dirissimis enectos exemplis per varia prius tormenta excruciatos, quecumque immanissimi tyranni seva crudelitas potuit excogitare. 11 Hierzu mit Einbeziehung der älteren Forschung vgl. Deutsche Berichte. 12 Deutsche Berichte 86–102. 13 Vgl. Srodecki, Porta della Christianita, bes. 22–25, 32–34.

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hens – als psychologische Kriegsführung wie als Strategie der Angst zu bezeichnen14 – führte letztlich zu einer Strafexpedition Sultan Mehmeds II. und zur Flucht Vlads. Sein osmanenfreundlicher Bruder Radu der Schöne wurde nun eingesetzt, und der miles Christianus Vlad wurde für über ein Jahrzehnt »Staatsgefangener« des Ungarnkönigs. Der Corvine und sein Hof verständigten einige Machtspieler wie Venedig oder den Papsthof um Pius II. direkt über die Maßnahme, setzten aber zugleich eine Propagandakampagne in Gang, mithilfe derer der Corvine seine Monopolstellung im antemurale-Diskurs zu wahren suchte15. Ihr Prosatext, wahrscheinlich ursprünglich lateinisch, wurde über den Transmissionsriemen der Universität Wien, ferner humanistische Kreise und die Klöster des Melker Reformkreises nach Westen bis in den Bodenseeraum vermittelt und erfuhr im Sinn der elastischen Textualität des Mittelalters einige Veränderungen, wodurch dem Corvinenhof die Propagandakontrolle weitgehend entglitt16. Das Vlad-Bild verselbständigte sich gewissermaßen. Die Deutschen Berichte liegen uns in bisher acht handschriftlichen Zeugnissen vor, ehe sie in rascher Folge ab 1488 im Druck hohe Verbreitung fanden17. Ihre gut 35 additiv gereihten Greueltaten des Woiwoden folgen typischer Tyrannentopik, beginnend mit der Ermordung des Vaters Vlad II. 1447 und endend mit der Inhaftierung Vlads III. 1462. Die Grausamkeit trifft alle, Kinder wie Erwachsene, Arme wie Reiche, Einheimische wie Fremde, Christen wie Nichtchristen. Vlad ist zunächst gleichsam heillos gottlos. In der »Türkenabwehr« werden ihm wirtschaftliche und menschenschänderische, keine religiösen Motive in klassischer antemurale-Topik zugeschrieben. Gleichsam ein Sadismus avant la lettre. Die Glaubwürdigkeit wird durch Zahlen-, Orts-, Personenangaben, Torturdetails sowie mehrfache Bezugnahmen auf mündliche Überlieferung gestützt. Der Text bringt hauptsächlich eine quantifizierende Buchhaltung des Bösen. Für gewisse Auflockerung im narrativen Fluss der Krudelitätskette sorgen Vergleiche, direkte wie indirekte Reden. Formelhafte Wendungen wie als das krautt – jung vnd alt – frawn vnd man – hat er si lassen spissen verweisen auf den repetitiven Charakter der Grausamkeiten. Hierfür ein besonders krudes Beispiel – der Krebsfang mit den abgeschlagenen Köpfen der Bojaren: Item er hatt siner e lantherren ettlich laßen kopffen und hatt die houbt genommen und damit lassen e krussen vahen. Darnach hatt er der selben frúnd zu huß geladen und hatt in die e ej selben krussen zu essen geben. Und sprach zu in: »Ir essent jetzunt uwer frúnd höpter.« Darnach hat er sy laßen spissen18. 14 Zur Einordnung vgl. Mauntel, Suche nach Motiven. 15 Zum propagandistischen Kapital des Antichristlichen im Spätmittelalter vgl. Heimann, Antichristvorstellungen im Wandel, 108–113; Schmieder, Apokalyptik und Politik. 16 Deutsche Berichte 102–139. 17 Zu den Handschriften vgl. Deutsche Berichte 145–182. 18 Deutsche Berichte 212.

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Insgesamt lassen sich mehrere Textschichten unterscheiden, aber auch ein relativ hohes Maß an literarisch geronnener Historizität und Ortskenntnis der anonymen Autoren, was für den Sitz im Leben des Anekdotencorpus spricht19. So ungeschlacht die Deutschen Berichte auf den ersten Blick daherkommen, so sind sie keineswegs kunstlos. Ihre kunstvolle Kunstlosigkeit ist vielmehr Mittel einer Authentizitätsstrategie, mit der der Corvinenhof unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen suchte. Hinter den kruden Geschichten sind biblische Anspielungen herauszuhören, die Echokammern der Legenda Aurea, Suetons oder der Historia Augusta werden deutlich, was allem Anschein nach bewusst eingesetzt wurde und die Verbreitung der Deutschen Berichte auch in humanistischen Kreisen beförderte20.

Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea und der Antichrist – Überlegungen zu einem geistesgeschichtlichen Problemfeld Nach dieser Skizze zum Textverständnis sollen die antichristlichen Referenzen der Deutschen Berichte aufgezeigt werden – gleichsam von der Begrifflichkeit zur Bildhaftigkeit. Hierzu einige Aspekte: Das Patronymikon Dra˘culea weist Vlad als Sohn Vlads II. Dracul, des Trägers des zur exklusiven Königsbindung und mit dem Kreuzzugsgelübde verbundenen sigmundianischen Drachenordens (Societas Draconis), aus21. Vlad wird in den Berichten meist Dracol genannt, andernorts heißt er Trekle, Trekole, Dragule, Dracuglia, Dracul usw. – die sprachliche Nähe mit dem lateinischen draco, dem griechischen δρακών, dem italienischen drago oder dem mittelhochdeutschen trache war für Zeitgenossen wohl unüberhörbar. Nun ist die Drachenassoziation, mit der auch Modrussa, wie eingangs erwähnt, spielte, für biblisch geschulte Ohren eine eschatologische Teufelsassoziation gemäß der Offenbarung (12,9): »Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt.« Zudem vergleichen die Berichte Vlad mit antiken Tyrannen: Herodes, Diokletian und Nero, wenn sie am Ende einer Episode resümieren: Sollich groß e pin und schmertzen aller wúterich und durchachter der cristen nie erdacht haben e als von Herodes, Nero und Dyocletion und aller anderer heiden, die dann sollichs 22 nie erdacht haben als der wúterich . In alter Tradition wurden diese Herrscher in einer antichristlichen Ahnengalerie verortet23. Nach den Berichten setzt nun Vlad 19 20 21 22 23

Vgl. zum Problemfeld Deutsche Berichte 121f., 219–254 (historischer Kommentar). Deutsche Berichte 70–86. Zum Drachenorden etwa Popovic´, Drachenorden. Deutsche Berichte 202. Konrad, Kaiser Nero, 2–12; Möhring, Weltkaiser, 221, 229.

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diese Traditionsreihe mit einer neuen Stufe der Gewalttätigkeit fort. Folgerichtet belegt ihn die St. Gallen-Konstanzer Fassung der Berichte mit dem Epitheton des túffels sun, der durch ingiessung des túffels die geschilderten brutalen Grausamkeiten ersonnen und begangen habe24. Durch Assoziation der topischen machinatio diaboli – einem häufigen Element in bildlichen Antichrist-Darstellungen der Zeit – wird die historische Gestalt Vlads III. mit neutestamentlichen und patristischen Teufels-Motiven verknüpft und der Pfählerfürst wird als Präfiguration des Antichrist konzeptualisiert – zwischen Offensichtlichkeit und Verstellung, zwischen Klarheit und dissimulatio, wie im Folgenden noch näher auszuführen ist.

Abb. 1: München, Universitätsbibliothek, Cim. 46 (2o Xylogr. 3), Bl. 19.

Item erschrockenliche, vorchtsamme und unussprechenliche pin hat er erdacht, das er hat lassen spissen múter und kinder, sugende und inerthalb enis jars oder e zweyer oder mer hat er lassen spissen. Es haben ouch die kindlin iren mutern an 24 Deutsche Berichte 202.

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Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea und der Antichrist e

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die brust griffen, ouch die mutern den kindlin etc. Er hat ouch den mutern die e prúst voneinander geschnitten und die kinder mit den houbtern dadurch gezogen und darnach gespisset und vil ander großer pin25. Vlads schrankenlosen Gewaltexzesse richten sich auch gegen Kinder, woraus unschwer eine Anspielung auf den betlehemitischen Kindermord herauszuhören ist. Wie Herodes das Erscheinen des Herrn zu verhindern suchte, verhindert nun der walachische Woiwode eine christliche Herrschaft auf Erden. Er reißt den Müttern die neugeborenen Kinder von der Brust, schlitzt die Frauen auf, steckt ihnen ihre Säuglinge kopfüber in den Leib. Die Gottlosigkeit zeigt sich nicht zuletzt in Gewaltmaßnahmen gegen Vertreter des christlichen Stands. So lässt Vlad einen Pfaffen, der in die Gemeinschaftssuppe gegriffen hat, kurzerhand spießen26. Mit einem Franziskaner verfährt er ebenso27. Es liegt demnach eine gegenchristliche Modellierung vor, die besonders deutlich bei Passagen wird, die Vlad als Kirchenschänder, möglicherweise als Verhöhner der Transsubstantiationslehre zeigen; vielleicht spielen in diesem Problemfeld die kannibalistisch-anthropophagen Passagen der Berichte auf ein vulgarisiertes Abendmahlverständnis an28. Möglicherweise wird hier auf klassische antijüdische Topoi zurückgegriffen. Zugleich wird durch die Krudelitätskette möglicherweise auch die antike literarische Technik der imago/imagines caedis aufgegriffen29, was eine Lektüre der Deutschen Berichte wiederum für humanistisch gebildete Kreise interessant machte. Die additive, historisch-enthistorisierende, wertpervertierende Reihung der kruden Episoden als Katalog der Grausamkeiten kann als kumulatives Antichrist-Register gelesen werden, analog zu zeitgenössischen Antichrist-Bilddarstellungen, die ebenfalls Bildserien bieten30. Der sogenannte Antichrist-Bildertext – eine deutsche Prosa-Vita des Antichrist (»Von dem Endchrist«) mit einer anschließenden Zusammenstellung der 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht – erwähnt ebenfalls Grausamkeiten als »vierte Weise« des Antichrist, diejenigen zu überzeugen, die nicht an ihn glauben. In der frühen Überlieferung aus Pfäfers, o o heute St. Gallen, aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts heißt es: Nu tut der endcriste mengerlei marter den luten, die nit an in glouben wellent, und daz ist die vierd wis, damit er die welt an sich zuhet31. Jener Text ist handschriftlich im 15. Jahrhundert relativ breit überliefert und wurde ab etwa 1450 in vornehmlich 25 26 27 28 29 30

Deutsche Berichte 202. Deutsche Berichte 205. Deutsche Berichte 213. Deutsche Berichte 204, 214f. Vgl. v. a. zu den Schriften »De ira« und »De bello civili« Backhaus, Mord(s)bilder. Hierzu in Auswahl: Emmerson, Beyond the Apocalypse; Habel, Prototyp und Variation; Fitz, Antichrist und Heilsgeschichte; Weber, Antichristfester; Kaup, Antichristfenster; Burger, Antichrist; Ehrich, Der Antichrist als Inbegriff; Palmer, Coming of the Antichrist. 31 Antichrist-Bildertext, fol. 114v.

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süddeutschen Frühdrucken verbreitet, darunter auch durch die Straßburger Offizin von Matthias Hupfuff, die ebenfalls eine Ausgabe der Deutschen Berichte in Umlauf brachte32. Bemerkenswerterweise finden sich nun in einigen Handschriften des Antichrist-Bildertextes Illustrationen zu der zitierten Passage, die Nähen zu Episoden in den Deutschen Berichten aufweisen: Das Sieden der Opfer (in einem Kessel)33, das Zwicken und Schinden der Körper34, das Aufsägen eines Leibs, beginnend zwischen den Beinen35. Häufig findet sich die Darstellung eines nackten Mannes, der von zwei Schergen mittels eines Zuges auf ein Nagelbett mit unzähligen Spießen hinabgelassen wird36. Mag sein, dass mancher beim Hören der Schleifstein-Episode aus den Deutschen Berichten ein vergleichbares Bild vor Augen kam37. In manchen (chiro-)xylographischen Blockbüchern des AntichristBildertextes wird die Nagelfolter thematisiert38. Zudem ist die episodenhaftanekdotische Ausgestaltung der beiden Texte vergleichbar. Eine Teufelsfigur, die dem Antichrist souffliert, ist dessen ständiger Begleiter. Dies soll nicht heißen, die Deutschen Berichte hätten den Antichrist-Bildertext gleichsam vor dem historischen Hintergrund der Walachei im ausgehenden 15. Jahrhundert ausgeschrieben, doch ist ein gemeinsamer Anspielungshorizont schwerlich von der Hand zu weisen. Die Gewaltsteigerung in quantitativer wie qualitativer Hinsicht folgt einer durchaus zeittypischen Tendenz zur Exaltation gerade in religiöser Hinsicht hin zu gleichsam entgrenzten, da über sämtliche Grenzen getriebenen »Schreckensbildern«39. Das Böse wird über ein Stakkato scheinbar beliebig fortzuschreibender Gräueltaten modelliert, die doppelt unfassbar sind: unfassbar in ihrer Brutalität, unfassbar in der stets mitschwingenden Vorstellung, dass da immer noch mehr sein könnte. Grausamkeiten auf die Spitze getrieben. Zuletzt 32 Zur Überlieferung zentral Bodemann, Art. Jüngstes Gericht, bes. 63.3, ferner Steer, Antichrist; Burger, Endzeiterwartung; Schmitt, Bild-Text; Wagner, Fünfzehn Zeichen. 33 Im Folgenden jeweils nur einige Beispiele aus den erhaltenen Handschriften. Eine Bildsynopse findet sich bei Bodemann, Art. Jüngstes Gericht, bes. 63.3. Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 733, fol. 7r; Ms. germ. fol. 1714, fol. 45r; Klosterneuburg, cod. 1253, fol. 155v; München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 426, fol. 70v; vgl. Deutsche Berichte 200, 204, 211. 34 Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 733, fol. 6v; Ms. germ. fol. 1714, fol. 45r; Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, cod. 1253, fol. 155r; München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 426, fol. 70r; vgl. Deutsche Berichte 202, 215. 35 Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 733, fol. 6v; Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, cod. 1253, fol. 155r; München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 426, fol. 69v; vgl. Deutsche Berichte 207. 36 Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 733, fol. 7r; Ms. germ. fol. 1714, fol. 45v; Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, cod. 1253, fol. 155v; München, Staatsbibliothek, cgm 426, fol. 71r. 37 Deutsche Berichte 207. 38 Vgl. Deutsche Berichte 210, 215f. Etwa München, Universitätsbibliothek, Cim. 46, 19; München, Bayerische Staatsbibliothek, Xylographica 2, o. p. 39 Slenczka, Schrecken, 97–99.

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Abb. 2: Schweinfurt, Bibliothek Otto Schäfer, OS 372, fol. 10v.

zeigt sich der literarische Vlad als Personifikation der eingangs genannten dissimulatio – aufs engste mit den Ketzerdiskursen verbunden: Set est hereticorum proprium, ut in sua falsa doctrina aliquid veritatis inmisceant, ut audita a simplicibus aliqua veritate cetera falsa eciam vera credant40. Auch Vlad verführt, spielt und ändert seine Gesichter, unberechenbar41, doch mit stets grausamem Ende. So lässt Vlad im Burzenland einen Friedenstag ausloben und spießt darauf die Bewohner42. Als ein ehrwürdiger Mann durch einen Wald von Gepfählten geht, fragt ihn der Woiwode, ob er den Leichengestank ertrage43. Als dieser verneint, lässt ihn Vlad auf einem besonders hohen Pfahl stecken, damit dieser 40 41 42 43

Finke/Hollnsteiner, Gesta concilii Constantiensis, 61. Zum erweiterten Problemfeld vgl. Vavra, Böser Geist. Deutsche Berichte 195. Deutsche Berichte 204.

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dem Gestank entrückt ist. Vlad lädt die pauperes der Walachei zu einem Essen ein44. Als sie sich niedergelassen haben, brennt er den Stadel nieder usw. Kurzum, es ist die Teufelsspur der grausamen, mit allen Sinnen erfassbaren Zeichen in ihren überbordenden Negativnarrativen. Das Schwelgen in Grausamkeiten gibt dem Bösen ein »Gesicht«45. Auch Nikola von Modrusˇ war es wichtig, sich den gefangenen Vlad genau anzusehen: »Er war nicht sehr groß, aber untersetzt und muskulös. Sein Auftreten wirkte kalt und hatte etwas Erschreckendes an sich. Er hatte eine Adlernase, geblähte Nasenflügel, ein rötlich-mageres Gesicht, in dem die sehr langen Wimpern große, weit offene, graue Augen umschatteten; schwarze, buschige Brauen gaben ihnen einen drohenden Ausdruck. Er trug einen Schnurrbart. Breit ausladende Schläfen ließen seinen Kopf noch wuchtiger erscheinen. Ein Stiernacken verband seinen Kopf, von dem schwarze, gekräuselte Locken hingen, mit einem breitschultrigen Körper.«46

Vlad III. T¸epes¸ Dra˘culea und die »Geburt« des wilden Ostens Vlad ist in den Berichten nicht der Antichrist, aber er gehört – innerhalb gewisser eschatologischer Aggregationszustände – zu den Antichristen: »Kinder, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind nun schon viele Antichristen gekommen; daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist« (1 Joh 2,18). Er agiert vor einem apokalyptischen Grundrauschen, beruhend nicht zuletzt auf einer bellizistisch-exzessiven Gewaltpermanenz, vor dem die Vlad-Figur der Berichte ihre Profilierung erfährt und ihre Wirksamkeit entfalten kann. Man darf annehmen, dass die anonymen Autoren am Ungarnhof bewusst die Gegenwart des Endes mit ihrem Text verwoben – ob sie dies in instrumentalisierender Absicht machten oder nicht, ist eine andere Frage, die hier unbeantwortet bleiben muss. Kategorisiert man den handschriftlichen Überlieferungskontext der Berichte, so lässt sich unschwer eine durch die Türkenangst nach dem Fall Konstantino-

44 Deutsche Berichte 213. 45 McGinn, Portraying. 46 Modrussa, De bellis Gothorum, fol. 2r: […] captivum vidimus non quidem procero admodum corpore sed membroso sane ac valido, truci vultu atque horrendo, pregrandi et adunco naso, inflatis naribus, tenui et modice rubenti facie, in qua glaucos patentesque oculos extantia opido cillia vallabant et nigrantia multo vil(l)o supercilia minaces ostentabant; abrasis preterea genis mentoque omni, superiorum labrorum parte dumtaxat excepta. Tumentia tempora testae molem augebant. Taurinum collum erectam cervicem latis connectebat humeris, ad quos subnigri crispantes capilli pertinebant.

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pels 1453 angeheizte Endzeitstimmung belegen47, die auf eine wachsende »apokalyptischen Krisensemantik« des 14. Jahrhunderts folgte48. Die Anekdoten um den wilden Pfählerfürsten, der weder Freund noch Werte kennt, fielen auf fruchtbaren Boden. Nicht Gewalt an sich war für die Zeitgenossen ungewöhnlich, sondern ihre Quantität und die unberechenbare Beliebigkeit49. Und hier ziehen die Deutschen Berichte mehrere Register, schwingen sich zuweilen auf den Tonfall der beliebten Schwankromane ein, verlassen aber in den Vlad-Episoden nicht die Grenzen des Denkbaren. In ihrer eschatologischen Aufladung indes gehen sie über »allgemein verbreitete Wüterichsgeschichten« hinaus50. Trotzdem scheint es ein gewisses Leiden am unaufgelöst Ungeheuerlichen gegeben zu haben. Entsprechend wurde die Reihe draculanischer Brutalitäten später durch Bemerkungen über den späteren christlichen Lebenswandel des Pfählerfürsten zu einem versöhnlichen Abschluss gebracht: Nach seiner Gefangennahme habe sich der walachische Woiwode in Buda taufen lassen und große pueß getan. Happy End in der Walachei. Im Augsburger Frühdruck von 1494 wird diese christliche Interpretation durch ein nachgeschobenes Amen gesteigert. In ihren Drucken erreichten die Berichte weitere und neue Leserschichten, deren Interesse auch am Schauderhaften hing und für die Steigerungen im Narrativ des Bösen vergnüglich waren. Bei manchen Druckern lässt sich eine solche Einbettung in ein entsprechendes »Verlegerportfolio« leicht nachweisen51. Vieles von dem, was die Deutschen Berichte enthalten, die am Beginn der Legendarisierung, damit an der Wiege Draculas stehen, taucht in veränderter Form und 400 Jahre später bei Bram Stoker wieder auf. In einen weiteren geistesgeschichtlichen Kontext eingefügt, sind die Berichte und ihre hohen Verbreitungszahlen ein frühes Rädchen im breiten, jahrhundertgestreckten Prozessgetriebe, das dann vor allem in der Frühen Neuzeit, besonders im 17., 18. und 19. Jahrhundert, den vermeintlich wilden Osten zu einem Ort der Brutalität und Barbarei formte, dem man so ziemlich alles zutraute. Dass es in dieser gottlosen Gegend auch zu antichristlichen Präfigurationen kommen könne, grub sich tief ein ins kollektive Gedächtnis. Und ein dunkler Osten schob sich als Riegel zwischen die »westliche« Welt und die heiligen Stätten im Heiligen Land52.

47 Hierzu in Auswahl: Struve, Endzeiterwartung; Höfert, Den Feind beschreiben, insbes. 51–87; Döring, Türkenkrieg und Medienwandel; Paulus, Dracula im Kloster, 121, 125f. 48 Ficzel, Papst als Antichrist, bes. 378–387; ferner Schnapp, Prophéties de fin du monde, 165– 224; vgl. aber auch Eberhard, Apokalyptische Ängste. 49 Vgl. Mauntel, Maß der Gewalt. 50 Harmening, Drakula, Sp. 221. 51 Den Drucken und ihrer Verbreitung wird demnächst eine eigene Studie gewidmet; hier sei vorerst auf die Literatursichtung bei Deutsche Berichte, 125–130, verwiesen. 52 Ursprung, Gewalt.

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Christof Paulus

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Ingrid Würth

Weltenrichter Konrad Schmid und der Papst als Antichrist. Endzeitvorstellungen der thüringischen Geißler im 14. und 15. Jahrhundert

Als Anfang Juli 1414 in Sangerhausen in der Landgrafschaft Thüringen 83 Anhängern der Geißlersekte der Prozess gemacht wurde,1 bekannten sich diese unter anderem zu folgendem Glaubenssatz: »Der Antichrist hat schon lange geherrscht, und er herrscht immer noch. Jeden Tag kann der Tag des Gerichts anbrechen, denn Elias und Henoch sind schon auf Erden erschienen und bereits vor langer Zeit gestorben. Der Antichrist, der schon lange geherrscht hat, sind die Prälaten und Priester […]«.2 Etwa 100 Jahre später, in den Auseinandersetzungen der Reformatoren mit der römischen Kirche, sollte diese Behauptung fast ubiquitär werden.3 Doch auch Anfang des 15. Jahrhunderts ist es keineswegs neu, den Papst oder die Kirchenobrigkeit insgesamt als Antichrist zu betrachten. Schon um 1367 zog John Wycliffe in seiner Streitschrift »De Christo et adversario suo Antichristo« diese Parallele. Anhand von zwölf Beispielen belegt er, dass der Papst in allem das Gegenteil von Christus und somit der Antichrist sei.4 Wiederum 50 Jahre früher, zu Beginn des 14. Jahrhunderts, wurde Papst Johannes XXII. im Streit um die Armut Christi von den Franziskanerspiritualen mehr oder weniger offen als Antichrist bezeichnet, weil er behauptet hatte, Christus und die Jünger hätten über Besitz verfügt.5 Und bereits Mitte des 13. Jahrhunderts beschuldigten sich Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. gegenseitig, der 1 Würth, Geißler, 326. 2 34. Antichristus iam diu regnauit et regnat, et cottidie imminet dies iudicii, quia Helias et Enoch iam in mundo apparuerunt, et diu sunt mortui. / 35. Antichristus, qui iam diu regnauit, sunt prelati et presbiteri, qui omnes Antichristi sunt et dicuntur, quia sectam flagellatorum infestant sive persecuntur, vgl. Erhard/Stumpf, Historia flagellantium, 30 (Übersetzungen I. W.). 3 Dazu aktuell Oelke, Papst als Antichrist, 107–130 (mit Nachweis der älteren Literatur). 4 Nam iuxta interpretacionem nominis antichristi ille qui est Christo contrarius in vita et doctrina est ut sic antichristus; quod si pape magis hoc conveniat, tune indubie est precipuus antichristus, vgl. Buddensieg/Wycliffe, De Christo, 50. 5 Burr, Spiritual Franciscans, 227, 231f., 249f., über dementsprechende Aussagen in Inquisitionsprozessen gegen Spiritualen in Südfrankreich. Auch Angelo Clareno, nach dem Tod des Petrus Johannis Olivi der führende Kopf der Spiritualen, äußert sich entsprechend in einem seiner Briefe (Epistolae 218); vgl. Burr, Spiritual Fransicans, 289, und ders., John XXII, 281– 283.

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apokalyptische Widersacher der Christenheit zu sein: »Er selbst ist der große Drache, der die ganze Welt verführt hat, der Antichrist«6 erwiderte Friedrich dem Papst auf dessen Brief, der mit den Worten »Es steigt aus dem Abgrund ein Ungeheuer empor« begonnen hatte.7 Die Geißler standen also zu Beginn des 15. Jahrhundert bereits in einer jahrhundertelangen Tradition, wenn sie dem Papst und der Kirche jede Autorität absprachen mit der Begründung, diese stellten die »falsche«, die antichristliche Seite dar.8 Jenseits aller theologischen und politischen Argumentation aber banden sie diesen Topos in eine größere Erzählung vom Jüngsten Gericht ein, in der sie selbst als die wahren Gläubigen und ihr Oberhaupt Konrad Schmid als alter Christus herausgehobene Rollen spielten. Wie bei den meisten mittelalterlichen religiös devianten Gruppen ist man bei der Auseinandersetzung mit den Geißlern mit der quellenkritischen Problematik konfrontiert, dass die Informationen über diese Häresie, über die beteiligten Personen und vor allem über die Glaubensinhalte fast ausschließlich aus der Perspektive der römischen Kirche überliefert sind. Aufstellungen von Glaubenssätzen, die bei einer Ketzerinquisition verwendet wurden, interrogatoria bzw. articuli, oder Typologisierungen aus der Feder von Inquisitoren stellen keine zuverlässige Quelle über die Ansichten der Verfolgten dar, sondern bieten vielmehr die Möglichkeit, die Vorstellungen und Ängste der Verfolger nachzuvollziehen.9 Im Zentrum dieser Ausführungen soll also die Frage stehen, in welchem Maße die in den Geißler-Quellen erhaltenen Endzeitvorstellungen einen grundlegenden Bestandteil der geißlerischen Glaubenslehren bildeten. Hatte sich in den wenigen Jahrzehnten des Bestehens der Glaubensgemeinschaft eine kohärente häretische Eschatologie entwickeln können, vielleicht maßgeblich geprägt von den Ideen des geistlichen Anführers Konrad Schmid? Oder spiegeln sich auch an dieser Stelle eher die Ideen eines Inquisitors wider, der den von ihm angeklagten Personen möglichst schwerwiegende Irrtümer zur Last legen wollte? Und schließlich: Welche Funktion konnten die vorgenommenen Rollenzuschreibungen als Christus im Weltgericht oder als Antichrist für den jeweiligen vermuteten Sprecher erfüllen? Ausgangspunkt für die spätere Geißlersekte in Thüringen waren die Geißlerzüge, die von September 1348 bis zum Ende des Jahres 1349 auf dem Gebiet des nordalpinen Reiches stattfanden. Als Reaktion auf die erste Welle des Schwarzen 6 […] ipse draco magnus, qui seduxit universum orbem, Antichristus est, vgl. Huillard-Bréholles, Historia diplomatica V/1, 349. 7 Ascendit de mari bestia, vgl. MGH Epp. saec. XIII, 1, 750; vgl. Ottmann, Geschichte, 189; Ficzel, Papst als Antichrist, 137–158. 8 Vgl. zur Tradition der Zuschreibung Ficzel, Papst als Antichrist, 7–13, zum Zusammenhang Antichrist-Apokalyptik-Kirchenkritik v. a. mit Bezug auf Joachim von Fiore vgl. ebd. 29–40. 9 Dazu nach wie vor grundlegend Grundmann, Ketzerverhöre, 364–416, hier 364–368; vgl. UtzTremp, Häresie, 28–34; Goetz, Wahrnehmung, 573–584.

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Todes, die eben zu diesem Zeitpunkt in Mitteleuropa grassierte, fanden sich größere Gruppen von Männern zusammen, zogen 33½ Tage über Land und geißelten sich selbst vor Zuschauern in Dörfern und Städten, als Buße und zur Abwendung der Pest.10 Mit dem Nachlassen der Krankheit verschwanden auch die Geißler, und zudem erließ Papst Clemens’ VI. am 30. Oktober 1349 mit dem Schreiben »Inter sollicitudines« ein Verbot der Geißlerzüge.11 Die Gruppen wurden als unrechtmäßige Zusammenschlüsse von Laien ohne kirchliche Autorität verurteilt. Der Papst erachtete ihre Rituale und Regeln als irrig und unvernünftig und sah insgesamt eine Bedrohung für die gesamte Kirche von ihnen ausgehen. Die Ausübung der Selbstgeißelung wurde jedoch nicht grundlegend in Frage gestellt.12 Der thüringische Raum kann nicht als eine Kernregion der Geißlerzüge von 1348/49 ausgemacht werden und die dortigen Protagonisten vertraten auch nicht unbedingt radikalere Ansichten als ihre Brüder in anderen Regionen Deutschlands. Der Bericht in der Erfurter Peterschronik spricht zwar von einer unüberschaubaren Menge von Geißlern, die vor Erfurt aufgetaucht und vom Magistrat der Stadt nicht eingelassen worden seien. Sie hätten dem Klerus durch ihre Predigten und ihren Ungehorsam viel Schaden zugefügt und wenn nicht die göttliche Gnade die Priester beschützt hätte, dann wären diese sicher von den Geißlern gesteinigt worden.13 Die Chronik lässt die Befürchtungen des Schreibers auf dem Petersberg erkennen, gibt jedoch nur wenig verlässliche Informationen über Abläufe und Vorkommnisse im Zusammenhang mit den Geißlerzügen. Die Entstehung einer häretischen Gruppierung, die sich selbst als Nachfolger der Geißler von 1348/49 betrachtete,14 kann also nicht mit der besonderen Ausprägung der Geißlerzüge in Thüringen begründet werden. Es dürfte vielmehr 10 Sowohl die Zahl der Mitglieder in den einzelnen Gruppen, das Aussehen der Büßenden, die Dauer der Geißelfahrt und das Ritual der Selbstgeißelung werden in den Quellen unterschiedlich beschrieben, vgl. die Zusammenstellung bei Würth, Geißler, 41–50, 60–66. 11 Schmidt, Päbstliche Urkunden Nr. 172, 390–392. Eine moderne kritische Edition der Urkunde liegt nicht vor. 12 Würth, Geißler, 128–130. Zur Geißelbuße insgesamt als kirchlich anerkanntes, wenn auch nicht unumstrittenes Ritual vgl. Largier, Lob der Peitsche, 70–82; Angenendt, Sühne durch Blut, 217–224. 13 Holder-Egger, Cronicae S. Petri cont. 2, 395 Z. 13–24. 14 So in den articuli, die zusammen mit der »Prophecia« Konrad Schmids überliefert sind, vgl. Würth, Geißler, 456: Dominus […] noster ihesus christus primo bonum vinum posuit / Modo autem id est presenti tempore quod incepit Anno incarnacionis eiusdem 1349 optimum vinum propinauit. In der »Prophecia« wird verwiesen auf die brüdere, dy da vorginghen, also vermutlich auf die Geißlerbrüder von 1349, vgl. ebd. 445. Deutlicher ist die Traditionsbildung in den ersten Artikeln der Sangerhäuser Geißler erkennbar: 12. Post transitum crucifratrum nemo potuit saluari, et verus christianus existere, nisi in proprio sanguine cum flagello de corpore suo excusso baptizetur, et flagellatorum esset consectaneus, vgl. Erhard/Stumpf, Historia flagellantium, 29.

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das Auftreten des charismatischen Propheten Konrad Schmid in den 1360er- und 70er-Jahren gewesen sein, das zu einer Verstetigung der Geißlerbewegung und zur Etablierung geißlerischer Gemeinden in städtischen Zentren wie Erfurt, Sangerhausen, Nordhausen, Mühlhausen oder Sondershausen, aber auch in ländlichen Gegenden führte. Das Ritual der Selbstgeißelung blieb als das primär hervorstechende Merkmal dieser Gemeinschaft erhalten. Zusätzlich scheint sich ein stark eschatologischer Geißler-Glaube herausgeformt zu haben, der sich in den verschiedenen Quellen des 14. und 15. Jahrhunderts manifestiert. All diese Dokumente stammen aus dem Verfolgungskontext.15 Nach dem chronikalischen Bericht zu den Geißlerzügen 1349 in Erfurt erfahren wir in zwei Texten aus den 1360er- oder 70er-Jahren wieder über Geißler in Thüringen. In diesen tritt uns auch Konrad Schmid zum ersten Mal entgegen. Es handelt sich um die sogenannte Prophecia Konrad Schmids und um articuli, also eine Aufstellung der Glaubenssätze der Geißler.16 Während die articuli keinen Zweifel daran lassen, dass sie für einen Prozess gegen die Geißler verwendet oder zumindest in dessen Zusammenhang aufgezeichnet worden sind, ist die quellenkritische Einordnung der »Prophecia« deutlich schwerer. Sie besteht aus deutschen Textteilen, die als Originalaussagen Konrad Schmids präsentiert werden, über dessen Person kaum etwas mit Sicherheit gesagt werden kann. Über die begründete Annahme hinaus, dass Schmid um 1370 herum vor einem Ketzerrichter gestanden haben muss, lassen sich weder der Ort seiner Herkunft noch seines Wirkens eindeutig bestimmen – spätere Quellen legen einen Zusammenhang mit der Stadt Sangerhausen nahe, der in der zeitgenössischen Überlieferung jedoch nicht bestätigt wird.17 Betrachtet man allerdings die »Prophecia« als das Werk Schmids, so muss man ihm einen hohen Bildungsstand, zumindest einschlägige Kenntnisse der Heiligen Schrift und bestimmter theologischer und prophetischer Schriften zugestehen.18 Zwar weist vieles in der »Prophecia« darauf hin, dass zumindest ihre deutschen Passagen ursprünglich Aussagen Konrad Schmids waren. Doch diese werden als Bruchstücke in lateinische Kommentare eingebettet, die einerseits 15 Zu den Verfolgungen des 15. Jahrhunderts (Sangerhausen und weitere Orte in Nordthüringen 1414, Mühlhausen 1420, Nordhausen 1446, Sondershausen, Stolberg und weiterer Orte 1454, Hoym 1481, Stolberg 1493) und den erhaltenen Quellen ausführlich Würth, Geißler, 315–412. 16 Im Folgenden unter den Bezeichnungen »Prophecia« bzw. »Articuli 1369« zitiert nach der Transkription bei Würth, Geißler, 439–455 bzw. 456–458. 17 Ein Vers des 16. Jahrhunderts bezeichnet Schmid als den Verführer der Bewohner von Sangerhausen, Leipzig, Universitätsbibliothek Ms 767, fol. 2v; Cyriacus Spangenberg, ein Chronist des 16. Jh., behauptet, Schmid sei 1414 in Sangerhausen hingerichtet worden, vgl. Buder/ Spangenberg, Chronick, 335. Die ältere Forschung hielt ihn für ein Opfer der Inquisition Walter Kerlingers in Nordhausen 1369: Haupt, Schmid, 683; Riemeck, Spätmittelalterliche Flagellanten, 42; Cohn, Tausendjähriges Reich, 131. 18 Zu dieser Problematik vgl. Würth, Geißler, 303–307.

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den deutschen Text auslegen, andererseits aber auch neue Informationen über Schmid, seine Anhänger und deren Glauben bereitstellen. Der Kompilator und Verfasser der Kommentare schöpfte sein Wissen ganz offensichtlich aus einem Inquisitionsprozess, er wählte die Aussagen Schmids aus, um diesen als Häretiker zu entlarven, wie er zu Beginn der »Prophecia« ankündigt: »Dies sind die Prophezeiungen, die Konrad Schmid gesprochen und durch die er die Welt betrogen hat.«19 Diese quellenkritische Problematik ist bestimmend für den Umgang mit diesem Text. Sowohl aus der »Prophecia« als auch den dazugehörigen articuli geht hervor, dass die Geißler an ein baldiges Weltende glaubten. Schmid soll sogar mehrmals Termine für das Jüngste Gericht vorhergesagt haben, jeweils am Fest des hl. Matthias (24. Februar), des hl. Vitus (15. Juni), des hl. Bartholomäus (24. August) oder der hl. Lucia (13. Dezember) im Jahr 1369.20 Als einziges gültiges Heilsmittel betrachteten seine Anhänger die Selbstgeißelung, während die von der Kirche gespendeten Sakramente wie Taufe, Beichte, Eucharistie und Letzte Ölung sowie ein kirchliches Begräbnis oder Ablässe durch die Bosheit des Klerus wirkungslos geworden seien.21 »Denn es ist dieser neue Glaube [der Geißler-Glaube, Anm. d. Verf.], der alle, die zu erretten sind, errettet, und der alte, also der evangelische Glaube, der alle verdammt.«22 Aus verschiedenen Äußerungen lässt sich erschließen, dass die Geißler seit Längerem Verfolgungen ausgesetzt waren. Konrad Schmid ermunterte seine Gläubigen mit verschiedenen Bildern und Figuren zur Treue gegenüber der Gemeinschaft. Viele seiner Motive verweisen auf einen apokalyptischen Hintergrund, etwa die klugen Jungfrauen, die auf dem Weg ins Himmelreich voranschreiten. Der Prophet gibt auch bestimmte Zeichen an, die vor dem Weltende geschehen würden: Eine Verdunklung der Sonne und, sehr allgemein, vil wundirliche czeychen, die von der Sibylle vorhergesagt worden seien.23 Von großer Bedeutung ist der Gedanke der Auserwähltheit der Geißler, die als einzige vor dem nahenden Gericht Christi bestehen könnten. Sie sind laut der »Prophecia« die »Fürstenkinder«, für die ein bestimmter Engel Fürsprache bei Christus halten würde.24 Welche Aufgabe Konrad Schmid sich selbst in seinem Weltuntergangs-Szenario zuschreibt, ist nur schwer zu ermitteln. Er sah sich vermutlich als Prophet und Anführer der Gemeinschaft. In der lateinischen 19 Dyt ist […] dy prophecie dy Cunrad Smed gesprochen had da mete her dy werlt betrogin hat, vgl. »Prophecia«/Würth, Geißler, 439. 20 Ebd. 451. 21 »Articuli 1369«/Würth, Geißler, 456. 22 Est igitur fides noua scilicet ista que omnes saluandos saluat et antiqua scilicet ewangelica que omnes dampnat, vgl. ebd. 457. 23 »Prophecia«/Würth, Geißler, 450f. 24 Ebd. 441f.

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Glosse zur »Prophecia« findet sich der Hinweis, Schmid habe sich selbst als König von Thüringen bezeichnet und als »Kaiser Friedrich« ansprechen lassen.25 Damit wird ein Bezug zur Kaisersage hergestellt, also zur Vorstellung eines mythischen Kaisers der Endzeit, die im Spätmittelalter oft an Kaiser Friedrich II. geknüpft ist.26 Ob diese Identifikation jedoch auf Konrad Schmid selbst zurückgeht oder eine Interpretation des Glossators ist, kann nicht mit Gewissheit gesagt werden. Die »Prophecia« oder vielmehr ihr Sprecher entzieht sich offenbar bewusst dem direkten Verständnis, vielleicht, um etwaigen Verfolgern so wenig Handhabe wie möglich zu geben. Ein offener Angriff auf den Papst oder gar dessen Bezeichnung als Antichrist findet sich hier nicht, aber die Ablehnung von Kirche und Klerus wird deutlich erkennbar. In den deutschsprachigen Passagen wird dieses Verhältnis verschlüsselt umschrieben. Schmid verweist etwa auf die Franzosen oder Italiener, die nicht von Belang seien, während der christliche Glaube nur von einem Menschen und dessen Anhängern hochgehalten werde.27 Vielleicht will er so die Parteiungen an der Kurie in Avignon diskreditieren und sich selbst als den eigentlichen Anführer der Christenheit stilisieren. Für den Verfasser des lateinischen Kommentars besteht daran kein Zweifel: »Sie behaupten, dass der christliche Glauben allein auf Konrad Schmid und seinen Jüngern beruht und dass dieser das Haupt der Christenheit sei.«28 Die Abgrenzung der Geißler gegen die sogenannte alte Kirche ist gerade im Blick auf das nahende Weltende notwendig, hat also auch eine apokalyptische Dimension. Konrad Schmid bedient sich zu deren Verdeutlichung der Offenbarung des Johannes, allerdings mit einigen Ungenauigkeiten. Johannes habe ein Tier aus dem Meeresgrund aufsteigen sehen, und seitdem seien 1362 oder 1363 Jahre vergangen. Das Tier habe sieben Häupter mit sieben Hörnern und sieben Leuchtern und Lichtern auf den Hörnern. Damit leuchte das Tier aller Welt, herrsche über sie und verschlinge sie.29 Im lateinischen Text wird diese Aussage so interpretiert, dass der Klerus durch die sieben Sakramente die Welt täusche und in Ausübung der sieben Todsünden ein schlechtes Vorbild für die Menschen gebe.30 Es scheint, als stehe das Tier mit den sieben Häuptern in Schmids Darstellung für die Kirche, deren Entstehungszeitpunkt er mit der Geburt Christi gleichsetzte.31 25 26 27 28

Ebd. 448. Möhring, Weltkaiser, 217–268. »Prophecia«/Würth, Geißler, 449f. […] dicunt quod fides christiana tantummodo sted [sic] in ipso scilicet Conrado Fabro et suis imitatoribus et quod ipse sit caput christianitatis, vgl. ebd. 450; ferner ebd. 212–217. 29 Ebd. 442. 30 Ebd. 443. 31 Zu den Anklängen der »Prophecia« an die Offenbarung des Johannes insgesamt vgl. Würth, Geißler, 219–228.

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Wie die aufgeführten Beispiele gezeigt haben, bleibt die Papst- und Kirchenkritik in den deutschen Passagen der »Prophecia« eher unkonkret. Schärfere Angriffe werden in den lateinischen Kommentaren formuliert, die jedoch eindeutig aus der Feder eines Verfolgers stammen. Über ein Inquisitionsverfahren gegen die Geißler Anfang der 1370er-Jahre in Thüringen können nur Vermutungen angestellt werden, die Quellen schweigen dazu. Das Schicksal der Gruppe um Konrad Schmid bleibt ebenso im Ungewissen wie das des Anführers selbst. Erst zum Jahr 1414 setzt mit den articuli aus Sangerhausen die Überlieferung zu den Geißlern wieder ein. Die ordentlich aufgelisteten Glaubensartikel der dortigen Angeklagten scheinen einen umfassenden und klaren Eindruck von den Lehrmeinungen der Gemeinschaft, von deren Endzeitvorstellungen und von der Stellung Konrad Schmids im Kosmos der Geißler zu vermitteln: Diese gingen davon aus, dass mit den Geißlerzügen der Papst und die Priester ihre Bindegewalt verloren hätten.32 Sie verachteten alle Sakramente und Sakramentalien der Kirche, nur durch die Selbstgeißelung könne man ihrer Meinung nach noch in den Himmel kommen. »Das Hochzeitsgewand für das Gastmahl des Himmelskönigs ist die Haut mit den frischen Wunden der Geißelung.«33 Auch die geißlerische Eschatologie wird ausführlich in mehreren Sätzen behandelt. Für die Geißler seien die Kleriker Antichristen – Antichristi sunt et dicuntur –,34 weil sie die Geißler verfolgten. Elias und Henoch, die Zeugen wider den Antichrist, seien bereits aufgetreten.35 Diese beiden Gestalten des Alten Testaments mussten nicht den Tod erleiden, sondern wurden lebendig in den Himmel aufgenommen.36 Sie wurden im Mittelalter traditionell mit den Zeugen der Apokalypse identifiziert, die in der Offenbarung des Johannes ohne Namen erwähnt werden.37 Insofern stellt ihre Verwendung in den articuli keine Besonderheit dar. Allerdings hätten die Geißler zwei ihnen bekannte Personen als diese Zeugen verehrt: Elias sei vor 48 Jahren in Erfurt verbrannt worden und Henoch sei Konrad Schmid gewesen.38 Diese Verkörperungen seien dadurch möglich 32 2. Eodem tempore [zur Zeit der Geißlerzüge, Anm. d. Verf.] deus Romanum pontificem, ceterosque prelatos et sacerdotes, ne deinceps christiano populo preessent in spiritualibus, licentiauit, et omni auctoritate ligandi et soluendi aut quascunque res consecrandi eosdem similiter priuauit, vgl. Erhard/Stumpf, Historia flagellantium, 28. 33 27. Vestis nupcialis in superni Regis conuiuio est cutis recenter vulnerata cum flagello, vgl. ebd. 30. 34 Ebd. 30 (Artikel 35). 35 Ebd. 30 (Artikel 34). 36 Gen 5,14 bzw. 2. Kön 2,11. 37 Offb 11 3–12; ausdrücklich benannt als Henoch und Elias werden sie in der apokryphen Petrusapokalypse, vgl. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen 2, 567. 38 Stumpf, Historia flagellantium, 31 (Artikel 36f.); zur Person des in Erfurt verbrannten Elias existieren mehrere Vermutungen. Er könnte entweder ein Begarde namens Johannes Hartmann († 1367) oder Konstantin († 1350) gewesen sein, vgl. Riemeck, Spätmittelalterliche Flagellanten, 38–40; Kieckhefer, Radical Tendencies, 173; Würth, Geißler, 337f. Anm. 141.

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geworden, dass Gott am Anbeginn der Welt alle menschlichen Seelen auf einmal erschaffen habe und sie zusammen mit Adam und Eva im Paradies aufbewahre. Bei der Zeugung eines Kindes müsse ein Engel aus dem Paradies die Seele herbeibringen und diese dem Kind im Mutterleib einhauchen. Im Falle der beiden Geißler-Zeugen habe der Engel eben die Seelen des Elias und des Henoch vergeben. »So war der eine in Wahrheit Elias und der andere wirklich Henoch.«39 Auch über den Ablauf des Jüngsten Gerichts sollen die Geißler in Sangerhausen spezielle Ansichten geäußert haben. Es solle nicht eine einzige Gerichtssitzung am Weltende abgehalten werden. Stattdessen fänden sieben oder acht Sitzungen statt und den Vorsitz der letzten habe Konrad Schmid inne.40 In diesem Glaubenssatz wird Konrad Schmid also eine christusgleiche Stellung zugewiesen. Er tritt nicht nur als der Fürsprecher seiner Anhänger auf, sondern wird an Stelle des wiedergekehrten Messias als Weltenrichter tätig. Im Gegensatz zu den rätselhaften Anspielungen der »Prophecia« liefern die articuli von 1414 ein kohärentes Bild vom Weltuntergang, wie ihn sich die Geißler vorgestellt haben mögen. Der Ursprung der einzelnen Elemente lässt sich zum Teil aus der christlichen Tradition herleiten. Für das Auftreten der Zeugen und deren Benennung als Elias und Henoch standen die Offenbarung des Johannes und die Petrusapokalypse Pate. Die Idee von der »Seelenwanderung« des Henochs und des Elias bezieht sich auf die Präexistenzlehre, die unter anderem von Origenes vertreten und auf einer Synode in Konstantinopel 543 als häretisch verurteilt wurde.41 Auch die Seelenlehre der Katharer weist ähnliche Komponenten auf.42 Die Gleichsetzung Konrad Schmids mit Christus im Jüngsten Gericht stellt jedoch eine Überspitzung dar, die ohne Vorbild ist. Dieser Satz bestätigt jedenfalls den Eindruck der enormen Bedeutung Schmids für seine Anhänger, der sich bereits in der »Prophecia« und in anderen Artikeln der Sangerhäuser Geißler andeutet. Er ist nicht nur ein Religionsgründer, sondern eine transzendente Gestalt, ein mythischer Henoch, Zeuge wider den Antichrist und sogar alter Christus im Weltgericht.43 Betrachtet man die »Prophecia« und die »Sangerhäuser Articuli« in Kombination, so lässt sich eine »Geißler-Religion« mit starken antiklerikalen und eschatologischen Akzenten rekonstruieren, in der verschiedene Bestandteile der christlichen Lehre auf häretische Weise miteinander verknüpft waren – Grund genug, jegliche Verfolgung von kirchlicher Seite zu rechtfertigen. Allerdings stellt sich gerade angesichts einer so stringent durchkonstruierten Glaubenslehre die 39 […] et sic Helias unus veraciter extitit, et Enoch realiter alius fuit, vgl. Stumpf, Historia flagellantium, 31. 40 Ebd. 31 (Artikel 41f.). 41 Denzinger/Schönmetzer, Enchiridion symbolorum, 403–411; vgl. Lies, Origenes, 140–144. 42 Borst, Katharer, 110–115. 43 Würth, Geißler, 336–340.

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Frage, wer als deren Erfinder namhaft gemacht werden kann. Sind diese Glaubenssätze genuin geißlerisch, wurden sie so von Konrad Schmid in seinen Predigten verbreitet? Oder sind sie ganz oder teilweise der Vorstellungswelt der zuständigen Inquisitoren entsprungen?44 Die Untersuchung dieser Zusammenhänge ist mit großen Schwierigkeiten verbunden und kann sich letztlich nur auf Mutmaßungen stützen. Einige Anhaltspunkte kann eine Betrachtung des geistigen Hintergrundes der Inquisitoren auf der einen und Konrad Schmids auf der anderen Seite liefern. Die Geißlerverfolgungen in Sangerhausen und an anderen Orten in Thüringen im Jahr 1414 wurde durch den Erfurter Dominikaner Heinrich Schoenvelt initiiert und durchgeführt. Aus Erfurt vertrieben,45 hatte Schoenvelt im Winter 1413/14 Thüringen durchstreift und dabei festgestellt, dass die Häresie in diesem Land schlimme Blüten trieb. Im Frühjahr 1414 berichtete er dem in Weimar residierenden Landgrafen Friedrich dem Friedfertigen davon und erhielt die Vollmacht, gegen die Ketzer vorzugehen.46 Über Schoenvelt selbst wissen wir, dass er 1399 an der Universität Erfurt studierte und 1400 zum Doktor der Theologie promoviert wurde.47 Er verfügt also über die entsprechenden Kenntnisse des Evangeliums, der Kirchenväter und älterer devianter religiöser Anschauungen, um ein stimmiges häretisches Glaubenskonstrukt zu entwerfen. Sein Auftreten als Initiator der Verfolgungen lässt darauf schließen, dass er auch über den nötigen ideologischen Eifer verfügte, um seine Aufgabe möglichst erfolgreich abzuschließen. Als Ketzerrichter war er weitestgehend Herr des Verfahrens; wie die angeklagten Geißler auf seine Fragen reagierten und ob sie seine Vorgaben widerspruchslos bestätigten, ist nicht überliefert. Es ist also sehr wohl denkbar, dass der uns in den »Sangerhäuser Articuli« überlieferte Geißler-Glaube zum größten Teil oder vielleicht sogar vollständig auf Heinrich Schoenvelt zurückgeht. Weiteren Aufschluss über dessen Engagement könnte eine Handschrift der »Sangerhäuser Articuli« geben, die mit einiger Wahrscheinlichkeit von der Hand des Dominikaners stammt. Es könnte sich um Schoenvelts persönliches Exemplar handeln, anhand dessen die Geißler 1414 befragt wurden.48 Der gesamte Codex enthält nützliche Texte für die Ketzerverfolgung. Auf einer leeren Rückseite wurden 16 articuli der »neuerdings in Thüringen verbreiteten Häretiker« 44 Grundmann, Ketzerverhöre, 400–403. 45 Die Hintergründe der Vertreibung der Dominikaner aus Erfurt sind nicht bekannt, den Umstand erwähnt nur eine Handschrift der »Sangerhäuser Articuli«, vgl. Erhard/Stumpf, Historia flagellantium, 26; möglicherweise spielte das Zerwürfnis des Mainzer Klerus mit dem Erzbischof im Zusammenhang des Abendländischen Schismas eine Rolle, vgl. Jürgensmeier, Bistum Mainz, 149f. 46 Erhard/Stumpf, Historia flagellantium, 26. 47 Patschovsky, Hinrich Schoenvelt, 255; Kleineidam, Universitas, 283, 389. 48 Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 315 Helmst.; zur Diskussion der Verfasserfrage vgl. Würth, Geißler, 322–325.

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eingetragen.49 Die Sammlung umfasst allerdings keineswegs alle Glaubenssätze der Geißler, und ausgerechnet die ausgefeilten Überlegungen über die Präexistenz der Seelen und die Behauptung über den Vorsitz Schmids beim Jüngsten Gericht fehlen. Stattdessen konzentriert sich der Schreiber auf die handfesteren Beweise für die Devianz der Angeklagten, ihre Verachtung des Klerus und der Sakramente sowie ihr Verhältnis zu den Geißlerzügen von 1349.50 Falls Schoenvelt kreativen Anteil an der theologischen Ausgestaltung der Geißler-Häresie hatte, warum sollte er in seine eigenen Aufzeichnungen nur eine verkürzte Liste der Irrtümer aufnehmen? Und weshalb würde sich der Inquisitor überhaupt einer solchen Mühe unterziehen? Für eine Verurteilung der Delinquenten wäre nach Ad abolendam die einfache Feststellung ausreichend gewesen, dass diese die Sakramente missachteten.51 Der Ursprung der Geißler-Lehre muss vielleicht doch an einer anderen Stelle, bei einer anderen Person gesucht werden. Die meisten Mitglieder der Glaubensgemeinschaft lassen sich nicht einmal namentlich fassen, über ihren geistigen oder sozialen Hintergrund sind kaum Aussagen möglich.52 Es kann also nur der Anführer, der Prophet, der Religionsgründer Konrad Schmid als etwaiger Urheber näher betrachtet werden. Zunächst ist noch einmal die Frage nach Schmids Wirkungsort zu stellen. Die einzige Handschrift der »Prophecia« stammt aus der Erfurter Kartause53 und bei einem Gelehrten aus dem Erfurter Peterskloster wurde in den 1370er-Jahren um ein Rechtsgutachten über die Geißler angesucht.54 Es liegt also nahe, Schmids Auftreten in Erfurt zu verorten, das ihm als eine der größten Städte des Reiches auch eine geeignete Bühne geboten hätte.55 Allerdings verweisen andere Faktoren, etwa die Verbreitung der Bewegung im 15. Jahrhundert, eher auf ein Wirken im nordthüringischen Raum. Der Chronist Cyriakus Spangenberg behauptet im 16. Jahrhundert sogar, dass Schmid zu den im Jahr 1414 in Sangerhausen verurteilten Geißlern gehört haben soll.56 Der Nachname, latinisiert zu faber, könnte auf seine Herkunft aus dem Handwerkerstand deuten.57

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Heretici modernis temporibus per Thuringiam dispersi, vgl. ebd. fol. 26v. Vgl. Patschovsky, Hinrich Schoenvelt, 264f. Liber Extra 5,7,9; vgl. Trusen, Anfänge, 57–60. Nur vereinzelt lassen sich bestimmte Personen und Familien identifizieren, sofern Verhörprotokolle und nicht nur articuli erhalten sind, etwa in Nordhausen 1446, vgl. Würth, Geißler, 366–376. Zur Handschrift, heute Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Fol 20, vgl. Pensel, Deutsche Handschriften [nicht paginiert]; Bushey, Lateinische Handschriften, 86–92. Utrum flagellatores, überliefert in einer Handschrift in Breslau, Universitätsbibliothek, I Q 72 m; dazu ausführlich Würth, Geißler, 280–291. Zum geistigen Leben in Erfurt im Spätmittelalter vgl. Weiß, Bürger, v. a. 9–111. Buder/Spangenberg, Chronick, 335. »Prophecia«/Würth, Geißler, 448; Korner, Chronica novella, 391 Nr. 1234.

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Einen weiteren Anhaltspunkt liefern die articuli aus der Feder Heinrich Schoenvelts. Als letzten Satz vermerkt dieser: »Der Heresiarch Konrad Schmid hat alles, was oben genannt worden ist, in Walkenried gelernt, aus alten Büchern der Mönche, wie er versichert.«58 Daraus ergeben sich mehr Fragen als Antworten: War Schmid Schüler der Klosterschule in Walkenried? Gehörte er vielleicht sogar dem Konvent an? Welche Bücher befanden sich in der Walkenrieder Bibliothek? Auch wenn die Bibliothek des Klosters am südlichen Harzrand bis auf wenige Bände im Bauernkrieg zerstört wurde,59 kann man wohl davon ausgehen, dass sie alle nötige Literatur für die theoretische Fundierung der Geißler-Lehre enthalten haben dürfte. Das Zisterzienserkloster förderte ab der Mitte des 15. Jahrhunderts intensiv die universitäre Ausbildung von Ordensangehörigen, unterhielt ein Studienhaus in Erfurt und unterstützte das Kolleg des Ordens in Leipzig.60 Konrad Schmids Werdegang muss freilich früher stattgefunden haben, um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Es gibt keinen weiteren Hinweis darauf, dass er ein Klosterschüler oder gar Konventsmitglied gewesen sein könnte. Die Verbindung zu Walkenried bleibt also unsicher.61 Die Einleitung der »Prophecia« bemerkt, Schmid habe »wie ein Magister«62 gesprochen. Eine Handschrift der »Sangerhäuser Articuli« verleiht ihm in der Tat den Magistertitel63 und der Geschichtsschreiber Johannes Lindner macht ihn zu Beginn des 16. Jahrhunderts sogar zum Doktor.64 Die deutschen Passagen der »Prophecia«, die durchaus als authentische Produkte Konrad Schmids gelten können, verweisen auf weitreichende Kenntnisse des Verfassers in verschiedenen Bereichen der christlichen Tradition.65 An manchen Stellen scheinen ältere prophetische Texte, etwa die Sibylle oder Hildegard von Bingen,66 zum Teil auch Bruchstücke der jüdischen Mystik verarbeitet zu sein.67 Auch Wissen über bogomilisches und waldensisches Gedankengut ist anzunehmen.68 Hatte Konrad Schmid vielleicht ein Studium absolviert? Am naheliegendsten wäre es, Schmid als Schüler des Generalstudiums in Erfurt in den 1350er- und 60er-Jahren anzunehmen. Durch die Schulordnung 58 16.: Quod Conradus Smyt heresiarcha istorum didicit predicta omnia in Walkenrede, ut asseruit, de antiquis libris monachorum, vgl. Patschovsky, Hinrich Schoenvelt, 265. 59 Heutger, Walkenried, 97f. 60 Dolle, Walkenried, 1474. 61 Vgl. auch Würth, Geißler, 339f. 62 […] her sprach alse dy mestere, vgl. »Prophecia«/Würth, Geißler, 439. 63 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Cod. theol. qu. 180, fol. 87v. 64 Mencke, Excerpta Saxonica, Sp. 1459. 65 Etwa in den Schriften Bernhards von Clairvaux, vgl. Würth, Geißler, 240f. 66 »Prophecia«/Würth, Geißler, 448 (Hildegard), 450 (Sibylle). 67 Im Engel Trona, vgl. »Prophecia«/Würth, Geißler, 441f.; vgl. dazu ebd. 178–188. 68 Ebenfalls in der Idee eines Engels als Fürsprecher: Papasov, Bogomilen, 73, 77f.; vgl. Würth, Geißler, 187.

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von 1282 hatte das studium generale Erfordensis einen quasi-universitären Status erlangt, zumindest was die artes betraf. Das Niveau war sehr hoch, die Magister in Erfurt hatten oft in Paris studiert und Kaiser Karl IV. warb dem Studium viele Lehrer für seine neu gegründeten Universität in Prag ab.69 Hier hätte Schmid sicherlich die nötigen Kenntnisse erwerben können, um sein Lehrgebäude für die Geißler zu errichten. Hinweise in den Quellen auf dessen Ausbildung in Erfurt fehlen jedoch. Ebenso wenig kann eine zweite Möglichkeit belegt werden, die aber als Gedankenexperiment zumindest angesprochen werden soll: ein Studium Konrad Schmids in Prag. Das geistige Milieu der böhmischen Metropole in den 1350erund 60er-Jahren scheint hervorragend geeignet, um die Entstehung der geißlerischen Theologie zu befördern. Es gibt etliche Parallelen zwischen geißlerischen und vor- und frühhussitischen Aussagen, vor allem im Bereich der Apokalyptik. Adalbert Bludonis, Professor an der Prager Universität, predigte 1355 das baldige Erscheinen des Antichrist und machte durch prophetische Visionen von sich reden. Der österreichische Augustinerchorherr Konrad Waldhauser, der auch in Erfurt auftrat und schließlich vom Kaiser nach Prag geholt wurde, prangerte die Verschwendungssucht und das unsittliche Verhalten der Geistlichen an und wurde als zweiter Prophet Elias bezeichnet. Der Bußprediger Jan Milicˇ übte heftige Kritik an Kirche und Papsttum und war der Ansicht, der Antichrist sei bereits 1346 in Gestalt Karls IV. in die Welt gekommen und das Weltende stehe 1367 bevor.70 Schmids enigmatische »Prophecia« und mit ihr die antiklerikalen und eschatologischen Lehren der Geißler könnten sehr wohl durch diese Persönlichkeiten und Meinungen beeinflusst worden sein. Diese Ähnlichkeit blieb auch den Zeitgenossen und den Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts nicht verborgen: Die »Prophecia« wird zusammen mit hussitischen Texten überliefert,71 das von einem Erfurter Juristen verfasste Gutachten über die Geißler zieht mehrfach den Vergleich mit den heretici in bohemia72 und in einem Spottvers des 16. Jahrhunderts wird Schmid mit John Wycliffe, Jan Hus und Georg von Podiebrad in einem Atemzug genannt.73 Noch in der Auseinandersetzung Martin Luthers mit dem Franziskaner Augustin von Alveldt werden das Auftreten Konrad Schmids und die Verfolgung der Sangerhäuser Geißler von beiden Seiten argumentativ aufgegriffen: Alveldt bezeichnete Luther als Anhänger Schmids, weil dieser aus Eisleben, der Nachbarstadt Sangerhausens 69 Gramsch, Erfurt, 25–35; Lorenz, Studium generale Erfordense, 51–54; ebd. 59–160 ausführlich über das Lehrprogramm in Erfurt, hauptsächlich im Bereich der artes liberales. 70 Sˇmahel, Hussitische Revolution, 726–752, über seine Antichrist-Thesen vgl. ebd. 740–743. 71 Etwa mit »Articuli Johannis Wyclif«, »Articuli Johannis Hus« und einem Brief von Hus an König Sigismund, vgl. Bushey, Lateinische Handschriften, 87–92; Würth, Geißler, 164. 72 Ebd. 287f. 73 Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms 767, fol. 2v.

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stammte. Luther konterte im Widmungsbrief der Kirchenpostille, dass es wohl noch unentschieden sei, wer als der schlimmere Ketzer gelten müsse, Schmid oder der »graue Sperling« – Luthers Spitzname für Alveldt.74 Konrad Schmid war bis ins 16. Jahrhundert hinein eine wohlbekannte Gestalt in Mitteldeutschland und wurde als ernstzunehmender Gegner für die Kirche betrachtet. Es ist durchaus denkbar, dass er für seine Anhänger verschiedene Traditionslinien zusammenführte und ein kohärentes Glaubensgebäude entwarf, um seinen Prophezeiungen von einem baldigen Weltende ein Fundament zu geben. Die Geißler waren für ihn die wahren Gläubigen und seine Gegner und Verfolger, die etablierte Kirche und der Papst, mussten folgerichtig als Antichrist erscheinen, selbst wenn der Begriff in der »Prophecia« nicht fällt, sondern erst in den articuli von 1414. Seine Überhöhung zum apokalyptischen Zeugen, vielleicht sogar zum Weltenrichter kann in diesem Kontext durchaus von ihm selbst gefördert worden sein, um der eschatologischen Dringlichkeit seiner Lehre Nachdruck zu verleihen. Für Konrad Schmid erfüllte das endzeitliche Szenario, das er heraufbeschwor, den Zweck, den Zusammenhalt seiner Anhängerschaft zu stärken. Wie die »Sangerhäuser Articuli« und das Fortbestehen der Geißlergemeinschaften über das ganze 15. Jahrhundert hinweg zeigen, hatte er damit Erfolg, auch über seinen mutmaßlichen Tod hinaus. Der Inquisitor Heinrich Schoenvelt hingegen scheint sich bei der Einschätzung der von ihm angeklagten Häretiker ohne große phantastische Umschweife auf die klar zu bestimmenden justiziablen Vergehen konzentriert zu haben. Dies legt zumindest die Handschrift der »Sangerhäuser Articuli« nahe, die als sein Autograph betrachtet werden kann. Das apokalyptische Image Konrad Schmids und die Verächtlichmachung des Papstes und der Kleriker als Antichristen ist also, mit aller Vorsicht, als genuiner Bestandteil der Geißlerlehre zu bezeichnen, ohne damit die von Grundmann zu Recht geäußerte Mahnung zur sorgfältigen Quellenkritik gegenüber Ketzerverhören grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.75 Im zeitgenössischen Spektrum religiöser Anschauungen stellte die Apokalyptik der Geißler keineswegs eine Besonderheit dar, wie der Vergleich mit der vorund frühhussitischen Bewegung bereits gezeigt hat.76 Das Alleinstellungsmerkmal der Gruppe blieb immer die Selbstgeißelung samt dem eigentümlichen Beharren darauf, dass nur diese eine Bußform als Sakrament zu betrachten sei und den einzigen Weg zum ewigen Leben darstellte. Vermutlich verhinderte das Festhalten an einem schmerzhaften blutigen Ritual, dass die Geißler zu einer 74 Laube/Weiß, Alveldt. Büchlein, 77; dies., Alveldt. Sermon, 88, 93, 104; Luther, Weihnachtspostille, 6f.; vgl. Riemeck, Spätmittelalterliche Flagellanten, 44f. 75 Grundmann, Ketzerverhöre, 400. 76 Vgl. auch Cermanová, Apokalyptic Background, 187–218.

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Massenbewegung wurden. Doch es ermöglichte als gemeinschaftsstiftendes Element das Überdauern der Glaubensgemeinschaft trotz Verfolgung bis zur Reformation – über alle nicht eingetretenen Weltuntergangstermine und vagen endzeitlichen Hoffnungen hinaus.77

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77 Zum Verhältnis Geißler und Reformation vgl. Clasen, Medieval Heresies, 408–411; Patschovsky, Chiliasmus, 483; Hoyer, Spätmittelalterliche Häresien, 57; Riemeck, Spätmittelalterliche Flagellanten, 61.

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Visionen und Dämonen. Die Angst vor den Einflüsterungen des Teufels im spätmittelalterlichen monastischen Reformdiskurs

Vorbemerkung Bereits im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts kommt es in der universitären Theologie in Paris um Pierre d’Ailly zu einem Aufbruch, den Jean Gerson, der Schüler Pierre d’Aillys, vollzieht. Dabei handelt es sich um eine Trennung zwischen logisch und rhetorisch argumentierenden Wissenschaften1. Spätestens um 1400 vollzieht sich eine Wendung zum Praktisch-Ethischen hin2, womit eine Abwendung vom Sentenzenkommentar, dafür aber eine Hinwendung zu »nichtoder gar antispekulativer Frömmigkeit«3 einhergeht. Die Frömmigkeitstheologie erhält eine bedeutende Rolle auch im Kontext universitärer Lehre; in der monastischen Rezeption nimmt Gerson im Umfeld der Universität Wien eine zentrale Rolle ein. Berndt Hamm konstatiert für das ausgehende 14. Jahrhundert eine Transformierung der »neuplatonisch geprägten Unio-Vorstellung«, wie sie Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse und Jan van Ruisbroek vertreten. Um 1400 bemüht sich nun Jean Gerson, die Vereinbarkeit von intelligentia und devotio in der Theologie und eine »Einheit von scholastischer und mystischer Theologie, von Gelehrsamkeit und Frömmigkeit«4 herzustellen. Bei diesem Versuch einer Harmonisierung hat er letztlich nur Belege zu den unterschiedlichen Positionen zusammenzutragen, selbst aber nie wirklich Position bezogen5. Dennoch, so Hamm, betont Jean Gerson die bleibende seinshafte Differenz zwischen Gott und Kreatur6. Credite evangelio et sufficit7, fordert Gerson. Das 1 Müller, Theologie, 177–179. 2 Hamm, Frömmigkeit, 101. Zur theologia practica, die höher bewertet wird als die theologia speculativa, vgl. auch Müller, Theologie. 3 Hamm, Frömmigkeit, 102. 4 Ebd. 99. 5 Treusch, Bernhard, 155f.; zum Problemfeld: Intellekt und Affekt bei der Kontemplation siehe auch: Müller, Theologie, 214–216. 6 Hamm, Gott berühren, 450.

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Werk von Nicolaus Cusanus steht zentral in dieser Diskussion zwischen Wahrheitswillen, Tradition und Herausforderung – im Hinblick auf die Bildung einerseits, andererseits auf die Gefahren, die in der darin verborgenen List des Teufels liegen können: Alia sunt occulta nobis, licet naturae secreta in quibus se diabolus inimiscet, ut Nicolaus Horem et Albertus, et alii, scilicet Rogerius Bacon, Johannes Batem in speculo divinorum et alii de fastis Alkindus de radiis stellicis, Ben Rabaas de phisicis ligaturis, Avicenna, Algazel et cetera tractant et ponunt et opera magica causas naturales habere etc. Talia licet causas habeant tamen non decet christiano uti, quia in aliis secretis diabolus sepe inimiscet ad decipiendum8.

Insgesamt wird in der Menge des Wissens die Gefahr der Verdrängung echter Frömmigkeit, schlimmer noch, gar der Verlust des Glaubens gesehen. So gewinnt die schriftliche Diskussion an Schärfe. Vor den Schlingen des Teufels wird gewarnt, die vor allem in der curiositas und daraus resultierender Wissensansammlung, die wiederum zur superbia führen kann, gesehen werden.

Ekstasis und Perfektion in Mystik-Unio-Visio-Suasio Diaboli »C’est curieux comme le point de vue diffère, suivant qu’on est le fruit du crime ou de la légitimité9.« Das Motto scheint nun nicht nur, aber besonders auf die Dämonen zu passen. Was die Hölle ist, was als des Teufels bewertet wird, entscheidet sich nach dem Standpunkt. Dämonen und der Teufel zielen darauf ab, zu täuschen. So groß die Furcht vor ihnen, so groß ist gleichzeitig ihre Faszination. Nicht nur die Bibel durchzieht die Ambiguität, auch hochmittelalterliches und vor allem spätmittelalterliches Reformschrifttum greift das Thema auf und auch die profane Literatur ist mannigfach davon durchdrungen10. Ebenso berichten, nicht überraschend, die Heiligenviten (Martin11, Anthonius12, Pachomius13) über

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Glorieux/Gerson 233. Haubst u. a., Nicolai de Cusa, Sermones, 37 (= Sermo Ibant magi). Gide, Faux-Monnayeurs, 74. Hierzu etwa Elm/Hartmann, Demons. Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 222, fol. 13r–20v (Sulpicius Severus, Vita Martini), hier 18v: Ubi diabolus […] regio habitu cellulam eius irrupit et clarum prespiterum temptare conatus est. 12 Im Magnum Legendarium Austriacum: Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 388 (1. Hälfte 13. Jahrhundert) – Vita Antonii: fol. 113r–130v (mit Annotationen, Lesespuren und Korrekturen, 15. Jahrhundert); hier etwa fol. 114v: contra diabolum. […] prima victoria; dimicaret. Siehe aber auch St. Pölten, Diözesanbibliothek, HS 27, 171v–207v (Vitae patrum, Athanasius, Vita Antonii). – Zur Handschrift vgl. Glaßner, Inventar, 180–182. 13 Vitae patrum, St. Pölten, Diözesanbibliothek, HS 27, fol. 225v–259v: Vita Pachomii (Dionysius Exiguus); hier fol. 230v. Teufel nimmt Gestalt einer schönen Frau an: diabolus […] transfi-

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die temptationes, astutias14 und darüber, dass daemenos vulnerant, decipiunt15, simulant16 und temptant; der Teufel mischt sich ins Leben ein, um zu täuschen und die Seelen zu gewinnen (inimiscet ad decipiendum). Vor allem bei Unerfahrenen, oft jungen oder gar sehr jungen Betenden hat der Teufel leichtes Spiel. Dämonen erscheinen in Gestalt von Frauen (in specie mulieri apparuit Machario), legen Hinterhalte (insidias tribulant); sie werden aber auch besiegt (daemon vincitur humilitate) und vertrieben (Daemon expellitur). Spezifisch wird in diesem Kontext die Situation der Frauen in den Kirchen17, spezifisch in Klöstern angesprochen: Sie sollen ihr Chorgebet secrete und sogar in alia ecclesia ableisten und dort auch ihre Sakramente empfangen18. Wie hoch man die von der Welt, spezifisch von Frauen ausgehende Gefahr einschätzt, belegen Anordnungen, Fenster zu vermauern, jedenfalls aber, wenn es nicht gleich geschehen kann, dass diese vergittert werden19. In seinem Kommentar zur Benediktsregel wählt Schlitpacher insbesondere aus der die Vita Anthonii, der sich geradezu mit dem Teufel herumschlägt (contra diabolum dimicaret), und aus der Vita Martini Beispiele für die Versuchungen des Teufels, wie unten noch ausgeführt werden kann20. Die Gefahr, die dem Eremiten durch die Versuchungen des Teufels drohen, sieht er vor allem auch im Kontext von Visionen. Der Visionär ist in seinen Visionen ebenso allein, wie der Eremit. Dieser Sorge um Gefahren, die durch Visionen entstehen, entspricht im 15. Jahrhundert durchaus auch das Interesse am Diskurs der im frühchristlichen Schrifttum erfolgten Rezeption des Corpus Hermeticum, wie Lesespuren des Nicolaus Cusanus in einer Asclepios-Überlieferung belegen21. Laktantius berichtet von Invocationen ›Gottes‹ durch Namen und magische Kulthandlungen22. Hermes Tristmegistos stellte zwischen Gott und den Menschen die Dämonen.

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guravit se in mulierem pulchram splendidis vestibus […] et cepit hostium cellule eius vehementer extundere. Vita Antonii, Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 388, fol. 117r. Schlitpacher, Regelkommentar: Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 338: diabolus decipit per pecuniam. Vita Antonii, Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 388, fol. 118v. Avisamenta Ettalensia; Autograph des Johannes Schlitpacher, 18. Juni 1442 ; Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1094, fol. 179r–189v, hier 186v: De navi ecclesie unde nobis persuasum videtur, quod succesive temporis per medium ecclesie magnus et altus cancellus ligneus ducatur, qui prohiberet mulieribus ingressum ad superiorem partem ecclesie. Martène, Commentarius, 370f. Avisamenta Ettalensia; Autograph des Johannes Schlitpacher, 18. Juni 1442; Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1094, fol. 179r–189v; hier vor allem 186r: clausura necessaria ambitus; fol. 186r: In primis, ne mulieribus pateat ingressus ad loca conventualia necesse est singulas fenestras ambitus per circuitum obstrui asseribus. Melk, Stiftsbibliothek Cod. 615. Arfé, Asclepius 146f. Van den Broek, Practices, 91f.

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Disziplinen des und gegen den Antichrist Matthäus von Krakau bezeichnet den unchristlich lebenden Klerus als Teufel23. In diversen Kommentaren zur Benediktsregel wird nicht nur die Schwachheit der Mönche und Novizen als perfektes Ziel für Versuchungen an-, sondern auch eine Warnung an Obere, in dem Fall Prediger, deutlich ausgesprochen. Ihre oratio sei nicht zu lang, da womöglich ermattete Mönche einschlafen könnten und genau dadurch wiederum dem Teufel eine Angriffsfläche geboten würde24. Auch warnt man allgemein wie insbesondere im monastischen Kontext davor, das Mittel der excommunicatio zu drastisch anzuwenden, denn jeder Christ, der exkommuniziert werde, werde dem Teufel überlassen25. In der monastischen Diskussion wird in diesem Kontext der temporäre Ausschluss von den Sakramenten behandelt. In jedem Fall kann und die discretio (Entscheidungsfähigkeit) des Abtes verhindern, dass durch zu harte Strafen Mönche dem Teufel ausgeliefert würden. Gottfried von Admont konstatiert eine Furcht vor intellektuellem Snobismus; Thomas von Aquin, der zweifellos ein besonderer Mystiker ist, thematisiert im »Compendium Theologiae« (I/80)26: De differentia intellectus et modo intelligendi und vor allem in De unitate intellectus possibilis (I/85): Neque igitur per hoc quod species phantasmatum quae sunt in nobis, sunt in intellectu possibili, sequitur quod nos simus intelligentes, sed magis quod nos simus intellecti, vel potius phantasmata quae sunt in nobis. In der »Ars moriendi« sind es Tafeln, die der Teufel hochhält, um den Sterbenden sein Sündenregister vorzuhalten und damit dessen Verzweiflung so zu schüren, dass er seine Seele aufgibt, die damit dem Teufel ausgeliefert ist. Die Seele des Sterbenden ist im Ausgang des Kampfes – zwischen den Attacken des Satans und dem Schutz der Heiligen – nicht völlig schutzlos ausgeliefert. Denn jetzt wird sichtbar, wie der Mensch sich angesichts des Jenseits in Endlichkeitsdemut geübt hat27. Das Bedürfnis, in der Meditation der Passion eine Gottesschau zu erlangen, führt zur Neugier, die sich, je weiter der Strebende, Studierende, Lesende in die Texte eindringt, auch der Kontrolle entzieht. So entsteht auch eine heftige Diskussion um die curiositas28. In diesem geistesgeschichtlichen Umfeld kommt es zu einer Steigerung der Kontrolle. Angesichts der Bedeutung, die in der Mystik dem Intellekt des Individuums29 23 Nuding, Matthäus, 72. 24 Zu Regula Benedicti cap. 20; Martène, Commentarius, 333, beruft sich auf Smaragdus von Saint-Mihiel und Hildegard von Bingen. 25 Ebd. 369 (zunächst mit Augustinus und mit Berufung auf Smaragdus und Hildegard). 26 Zitiert nach der online-Ressource des Corpus Thomisticum = https://www.corpusthomisti cum.org/ott101.html [eingesehen am 16. 06. 2021]. 27 Hamm, Nähe, 479–481. 28 Vgl. Blumenberg, Schwierigkeiten. 29 Ruello, Statut. Zur Person vgl. Höver, Hugo. – Zum Intellekt vgl. Enders, Wahrheit, 20, 52.

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zukommt, ist der Stellenwert der Diskussion um Gehorsam oboedientia, Unterricht (instructio) und der damit verknüpften discretio von Abt und Lehrer nicht überraschend. An dieser Stelle geht es um das gesamte Bedeutungsspektrum, das diesem Begriff eigen ist. Curiositas meint ja nicht nur die intellektuelle, sondern auch die emotionale Neugier: das Bedürfnis nach einer Gottesschau und letztlich nach unio mystica? Bei den »Ordnungshütern« – Bischöfen, Äbten, Prioren, Novizenmeistern – steht immer der Verdacht eines gleichzeitigen Mangels an Verständnis für das Mysterium im Raum. Von Amts wegen muss diesen aber auch allzu bewusst bleiben, dass vor allem der freie Wille Autosuggestionen begünstigt. Diese beruhen aber eben auf den Versuchungen des Teufels und nicht auf Gottes Willen, sich den Meditierenden zu zeigen, und werden somit zum Problem; so formuliert es auch Schlitpacher in seiner ersten Fassung eines Kommentars zur Benediktsregel30.

Oratio, meditatio, visio und die Angst vor den Einflüsterungen des Teufels Der Dominikaner und ab 1439 Kardinal, 1455 Kardinalbischof von Frascati, Johannes de Torquemada31, der als Kirchenpolitiker vor allem den Primat des Papstes gegen das Konzil vertritt32, hat 1455 die Abtei Subiaco übernommen. Neben zahlreichen maßgeblichen Schriften legt er auch einen umfassenden Kommentar zur Benediktsregel vor33. In diesem wird die mystische Theologie nicht thematisiert; die Versuchungen des Teufels werden aber dennoch in der Tradition des monastischen Schrifttums ausreichend behandelt. Wie muscae umschwirren die Versuchungen des Teufels die Novizen34 wie auch alle anderen Mönche – die noctuque35 – auf ihrem Weg des spirituellen Fortkommens36. Daher sind in diesem Kontext die Ausführungen zu den Strafen nicht nur die Strafe für den miser monachus, der vom Teufel überwunden wird, sondern auch im Hinblick auf Warnung an die noch nicht Verführten zu verstehen37. Daran an-

30 Schlitpacher, Kommentar, Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615 (1. Fassung, 1437. In dieser Fassung nur Prolog, cap. 1 und 2, sowie diverse Stichworte), S. 346: Igitur vigilemus non solum contra suasionem diaboli et membrorum suorum, sed etiam contra propriam voluntatem. 31 Izbicki, Juan de Torquemada. 32 Prügl, Modelle. 33 Druck: Torquemada, Regula; dazu Gremper, Kommentar. 34 Torquemada, Regula, 262. 35 Ebd. 177. 36 Ebd. 168–170: ad gradus humilitatis. 37 Zu Juan de Torquemadas Blick auf Hexen vgl. Izbicki, Defending.

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schließend werden die Facetten des Teufels innerhalb von Regelkommentaren auch unter dem Einfluss des Werkes von Jean Gerson und Nicolaus Cusanus bezüglich mystischer Theologie und Visionen behandelt. Nach Cusanus ist der »Mystiker in der Lage zwei kontradiktorische Gegensätze zugleich wahr sein zu lassen«38. Das ist – recht bedacht – kein skeptischsubversiver Aufruf zu Ignoranz, die Kräfte der ratio und des intellectus bis an die Grenze der kategorialen Zuständigkeit zu dehnen. Das Gegenbeispiel einer ungerechtfertigten, d. h. unbelehrten und unbelehrbaren Ignoranz bietet jener Kartäuser, der behauptet, der Mensch könne rein über die Kräfte des Gefühls und Affekts zu Gott gelangen39. In »De visione dei« (1453) wird die coincidentia oppositorum verdeutlicht; die Visio bringt den finis infinitus. Vinzenz von Aggsbach schreibt dagegen an40: habentur enim tales viri a pueritia disputationibus et studiis occupati, omnes cellas memorie et intellectus specierum argumentationum et racionaciorum […] quampropter in consurgendo ignote contigit eis quam ceteris hominibus difficultu. In Vinzenz’ Werk wird das krampfhafte Bemühen besonders deutlich, die allein auf Liebe beruhende cognitio (visio) zu begründen, gleichzeitig aber bei der Forderung, alles Wissen wegzulassen (dieses dennoch reich anwendend), seine unbelehrte ignorantia letztlich in ihren Grenzen zu beweisen41. In jedem Fall ist ein solches Dehnen von ratio und intellectus, wie es bei Cusanus gefordert ist, im Rahmen der Kommentare zur Benediktsregel von Johannes Schlitpacher und Johannes Keck festzustellen. Johannes Keck verfasst innerhalb des 48. Kapitels des Regelkommentars einen eigenständigen »Tractatus de mistica theologia«42. In diesem Klima des religiösen Ringens eskaliert der Wunsch nach der Gottesschau, nach der Vision; und da diese sich jeder Kontrolle entzieht, werden im normativen Schrifttum – gemeint sind hier Regelkommentare und damit im Zusammenhang stehende Traktate zu Spezialfragen – die Warnungen vor der Macht des Teufels ausgesprochen. Seine nahezu unbegrenzte Macht liegt darin, dass er sich jeder nur denkbaren Gestalt zu bedienen vermag, um den Visionär/ die Visionärin irrezuleiten. Denn das wahre Mysterium ist nur Wenigen schaubar, so werden die Theoretiker der Mystik nicht müde zu betonen43. In diesem Kontext wird diskutiert, ob der Wunsch, die Kommunion oftmals zu empfangen, dem Bedürfnis entspringt, damit die Empfänglichkeit für eine Vision zu steigern.

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Haas, Letzte, 33. Vgl. Haas, Mystik, 272. Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1605, fol. 107r–108r. Serina, Sermons, S. 78–122. Johannes Keck, Kommentar zur Regula Benedicti, München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18150, fol 147r–153r. 43 So meint dies Härdelin, Theologie, 410.

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Auctoritas, Vision und Teufelseinflüsterungen in der monastischen Theologie um Umkreis der Wiener Universität Bereits im Jahr 1437 wird der als Lehrer für die Mönche und Novizen ins Kloster berufene Magister Johannes Schlitpacher mit der Abfassung eines Kommentars zur Benediktsregel beauftragt44. Diese Arbeit am Text wird ihn beinahe 25 Jahre hindurch beschäftigen. Abgesehen von einer ersten Fassung, die Fragment bleibt, wird Schlitpacher schließlich drei vollständige Fassungen seines Regelkommentars vorlegen45. Für ihn steht außer Frage, dass Studium, Wissen, Frömmigkeitstheologie in Kombination mit der Rezeption der theologia mystica auch für das klösterliche Leben eine neue Sicht erfordern. Schlitpachers Auseinandersetzung mit der Regel wird die Themenfelder der intellectio Dei, oratio46, meditatio, visio und die dafür idealen und vorgeschriebenen »Zeiträume« im Tagesablauf 47 behandeln. Zentral ist für den Melker die oboedientia; diese resultiert aus der auctoritas, die ihrerseits in der discretio (der Entscheidungsfähigkeit des Abtes) begründet ist und daher eingefordert werden kann und muss. So beschreiben es zahlreiche Traktate, die sich im Rahmen des Kommentares zur Benediktsregel mit dem (Berufs- und Berufungs-)Profil eines Abtes beschäftigen: Ipse tamen abbas cum timore Dei scilicet filioli, ut dicit Cassiodorus, semper bene agitur si celestis metus humanis moribus opponatur48. Die Grundvoraussetzung monastischen Zusammenlebens sind die praecepta der Regel, die als eine magistra zu verstehen ist; die Autorität der doctores ist innerhalb dieser Rahmenbedingungen stets zu akzeptieren. Diese sind auch im Hinblick auf die Visionen und die Warnung vor den Gottesschauen, die eigentlich des Teufels sind, weil dieser die Gestalt Christi angenommen hat, uneingeschränkt gültig. Schlitpacher zeigt in seinem Kommentar zur Regel deutlich, dass er natürlich von mystischer Literatur nicht nur weiß, sondern auch durch sie beeinflusst ist, wenn

44 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 283–500. Ausführliche Analyse des Bestandes durch Glaßner, Inventar, 276–280; zur Einbettung der Handschrift in die Tradition vgl. auch Ellegast, Anfänge, 21f. – Offensichtlich hat Schlitpachers Studium und Lehrtätigkeit an der Universität Wien in der ersten Fassung deutliche Spuren hinterlassen, die ihre Prägnanz aber im der Niederschrift der zweiten Fassung des Kommentars zur Regel nahezu verlieren. Hier (Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1394) werden deutlich weniger auctoritates zitiert und auch direkte Textzitate sind seltener ausgeführt und belegt. Betrachtet man Schlitpachers weitere Biografie und schriftstellerische Tätigkeit, so wird deutlich, dass diese Abwendung vom Wissen eventuell der Regel und dem Gehorsam ihr gegenüber vorrangig geschuldet war – wohl auch dem Auftrag zur Kürze, denn in der Erstfassung gelangte Schlitpacher nur wenig über den Prolog hinaus, benötigte aber dennoch knapp 230 Seiten. 45 Ellegast, Anfänge, 28–91. 46 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 306f. (intellectio) und 307 (oratio). 47 Ebd. S. 313. 48 Vgl. Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1394, fol. 26v (Cassiodor, Variae, Lib. IX, 25, 12).

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er in der Folge das lumen gratie49 unter dem Vers: Currite50, id est de virtute in virtutem proficite et mandata Dei custodite iuxta illud mandatorum tuorum curreri51, dum lumen vite habetis scilicet Christum, qui est lux mundi et est via veritatis et vita et igitur quam diu ipsum habemus, rectam viam vite currimus. Dicitur Christus haberi a nobis per gratiam inhabitantem qui est vera vita spiritualis anime52 behandelt und mit der Warnung aus Benediktsregel schließt: Ne tenebre mortis vos comprehendant53. Die tenebrae mortis bedeuten, dem Daemon ohne Aussicht auf Erlösung ausgeliefert zu sein. Die Vita monastica – das opus manuum, das Gebet, die meditatio und contemplatio – ist gefährdet, wenn Mönche mit hervorragender akademischer Bildung sich hochmütig über das hinweg setzen, was die vita monastica erfordert. Dieser Gefahr, dem Streben nach Wissen und vor allem curiositas, allzu großem Wissensdrang und Studium zu erliegen und die dem habitus angemessene monastische Zurückhaltung dem Geltungsbedürfnis als Gelehrter zu gelten, zu opfern, sehen sich die beiden bedeutenden Kommentatoren aus der Melker Reform, Johannes Schlitpacher und Johannes Keck durchaus ausgesetzt. Dies erkennt man deutlich daran, wie ausführlich Schlitpacher die Frage diskutiert, wie viele Bücher ein Mönch in seiner Zelle gleichzeitig benützen, wieviel an theologischer Arbeit das opus manuum ersetzen darf. Otiositas inimica est animae (Regula Benedicti cap. 48); an des Messers Schneide befinden sich jene, deren Leadership im Konvent gefragt ist (Abt, Prior, Novizenmeister, Zellerar und Bibliothekar), die aber gleichzeitig dem Propositum als Vorbilder gerecht werden müssen. Einerseits gilt es also der teuflischen Versuchung, sich vorrangig dem Studium zu widmen, zu widerstehen; gleichzeitig aber müssen gerade die Entscheidungsträger entsprechend gebildet sein, um Verantwortung für den Orden, im Kloster und für den Einzelnen übernehmen zu können. Beim Jüngsten Gericht hat der Abt Rechenschaft abzulegen; auch darüber, wie jeder einzelne mit seinen Maßgaben zurechtkommen konnte Memor sit abbas, hic inculcat b. Benedictus abbati memoriam finalis iudicii54. Der Dämon lauert dort, wo die Zügel locker sind. Vor allem aber lauert er in Meditation und Mystik: Ein gerüttelt Maß an Gefährdung der Seele besteht aus der Sicht der Kommentatoren der Benedikts49 Schlitpacher, Kommentar, Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 316f. 50 Currite, dum lumen vite habetis (Regula Benedicti Prolog); Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 318; hier wie generell unterstreicht Schlitpacher Zitate aus der Regel; diese werden hier und in der Folge kursiv gesetzt. 51 Regula Benedicti Prolog; die Kommentare nehmen Bezug auf Ps 42,3 und Eph 5,8. 52 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 319: Dicitur bis anime am linken Rand ergänzt. 53 Regula Benedicti Prolog; Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 318. Oftmals Bezug darauf in der Diskussion über die Mystica theologia mit den Kartäuser Mystikern, dazu auch Märker, Prohemium, 230–235. 54 Schlitpacher, Kommentar zur Benediktsregel (2. Fassung, 1140), Melk Stiftsbibliothek cod. 1394, fol. 14v.

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Abb. 1: Psalterium – Melk, Benediktinerstift, Cod. 1903 (1858, 1833, -), fol. 11v. Verrat beim letzten Abendmahl.

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regel in einer übersteigerten und damit nicht kontrollierten Meditation bei solchen, die keine Erfahrung in der vita monastica besitzen. Grundsätzlich lässt die Regel und lassen auch die Kommentatoren derselben Schlitpacher und Keck keinen Zweifel daran, dass aus Müßiggang (otiositas) nur Schlechtes entstehen kann; mit Verweis auf die Postilla des Nikolaus de Lira wird Luc 12,35 (sint lumbi vestri precincti) kommentiert: Lumbi mentis sunt intellectus et vos ex quibus procedunt cogitationes male55. Die Gefahr liegt schließlich in der nicht vorhandenen Möglichkeit zur Kontrolle. Umso problematischer werden – wie man es auch dreht und wendet – die individuellen religiösen Erfahrungen, die über gemeinschaftliche Erfahrungen hinausgehen. Ein »religiöses Sprechen« (als oft nicht gesprochenes, sondern gedachtes Wort), das im Sinne der Passionsmystik auf ein Sehnen nach dem corpus Christi; Itinerarium mentis in deum (Bonaventura56), imitatio Christi (Thomas a Kempis57) und Devotio moderna (Gerd Groote58) und nach dem Verständnis der devotio moderna (Jan van Ruisbroek59) auch auf den Kelch gerichtet ist (Kelchmystik in der Theologia mystica des Kartäusers Nicolaus Kempf 60), schafft in der Imagination eine Herausforderung, der nur jemand, der als Seelsorger ausreichend Erfahrung und entsprechende discretio besitzt, adäquat begegnen kann. Denn jenseits von Textgrundlagen entziehen sich Meditation und Kontemplation einer Kontrolle. So meint es jedenfalls die Gruppe, die auf bildungsbasierter Mystik besteht. Und so stellt es sich auch im Regelkommentar Schlitpachers dar. Seine Versuchungen setzt der Teufel (suggestiones diaboli61) vor allem bei Meditation und Vision ein und sucht dabei natürlich vor allem jene aus, die in der vita monastica noch nicht ausreichend gefestigt sind. So ist bei Matthäus von Krakau62 zu lesen, dass die concupiscentia die Menschen zum Bösen verleitet, weil sie damit, wie durch den Hochmut (superbia), für die suggestiones diaboli besonders anfällig sind. Vor allem im Hochmut vermag der Teufel seine Instru-

55 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 324f. – Postilla, (Druck, Köln, Johann Koehlhoff d. Ä., 1478) 242v–243r. 56 Abschrift Schlitpachers in Melk, Stiftsbibliothek Cod. 1405, 86v–104r; ed.: S. Bonaventurae Opera omnia V. Quaracchi 1891, 295–313 (nicht völlig übereinstimmend!). 57 Abschrift Schlitpachers in Melk, Stiftsbibliothek Cod. 1405, 168v–170r. Schlitpacher schreibt den Text Gerson zu: fol. 168v, linker Rand, oben: ex libro Cancellarii (Parisiensis, Jean Gerson) de interna consolacione c. 59. 58 Milchner, Nachfolge, 344–349. 59 Tom Gaens, Ruusbroec. 60 Graz, Universitätsbibliothek, cod. 262, fol. 43r–128v. Vgl. fol. 54v–55v mit Jellouschek/Barbet/ Ruello, Nicolaus Kempf, 308, 373. – Keck, Tractatus de Mistica theologia, cap. 8, München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18150, fol. 149r. 61 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 330. 62 Matthäus von Krakau, De puritate conscientiae; siehe dazu auch Nuding, Matthäus.

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mente gut einzusetzen63. Daher ist eingehend zu prüfen, welcher Natur der in der Vision sich zeigende spiritus ist64. So schreibt Johannes Schlitpacher im Jahr 143765: Item si alicui talis visio appareat, hoc teneat, quod non adoret exemplo sancti Martini et aliorum, qui nunc voluerint eum aspicere, Christus dixerit, se velle videri non hic sed in alia vita; potest tamen alias adorare sub condicione dicendo »Si es Christus, te adoro, si non es Christus, non te adoro.« Nam aliquando veraciter Christus apparet, aliquando diabolus sub specie eius66.

Weiter schreibt Schlitpacher, sich auf Mt 4 berufend: Carissimi, nolite omni spiritui credere sed probate, spiritus, si ex Deo sint. Ex illis elicitur, quod quandocumque aliqua fidei gracia suggeriuntur quod talis spiritus non est ex Deo. […] Communiter inferatur, quod quandocumque alicui suggeritur et aliqua ardua et dissueta faciat vel nova et omnino dubia incipiat […] item, si nescius est in huiusmodi vel multum vexeritur anxieque agitur in mente, non taceat, non quiescat, sed patri spirituali suo scilicet prelato aut confessori docto et probato revelare non formidet aut alterius sapientis vel plurimum talium sanum consilium querat. Hoc enim modo diabolus faciliter debellabitur67.

Aus Sicht der Benediktsregel und ihrer Kommentatoren sowie auch der mit ihnen diskutierenden Magistri sind es die Entscheidungsträger (Abt, Prior, Novizenmeister), die Verantwortung sub specie eternitatis68 tragen. Das Kloster stellt im Anbetracht der vielfältigen Gefahren für die Seele einen idealen Ort gegen Verführungen dar: Si cupis esse, quid diceris, monachus solus, quid facis in urbibus, que unquam non sunt solorum habitacula sed multorum. Da laudem huius officine monasterialis ita b. Basilius insonat O cella spiritualis exercicii mirabilis officina in qua certe humana anima creatoris sui ymaginem in se restaurat69. Bei der Frage, ob Intellekt oder Affekt wichtiger und entscheidender ist, wenn es darum geht, dem Teufel nicht zu unterliegen, werden auch die Mystikerinnen thematisiert.

63 Bracha, Einfluß. 64 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 344: Carissimi, nolite omni spiritui credere sed probate, spiritus, si ex Deo sint. 65 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 368. 66 Ebd. S. 344. 67 Ebd. S. 344 (Hervorhebung wie auch im Folgenden M. N.). 68 Ebd. S. 399–402. 69 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1394, fol. 56r. In der ersten Niederschrift in sehr nah verwandter Form formuliert, dort allerdings auch noch Zitat aus dem Decretum Gratiani mit korrekter Angabe (16, q. 1a, c. placuit, 2): Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 615, S. 495. In der zweiten Niederschrift (ebd. Cod. 1394) findet sich dieses Zitat mit Beleg nicht mehr, wie auch zahlreiche andere Zitate, die einen direkten Bezug auf die Gesetzgebung des Basler Konzils herstellen (etwa ebd. Cod. 615, S. 293 rechter Rand), ausgelassen werden.

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Hat er mit den Frauen ein leichtes Spiel? Jean Gerson, dessen »Theologia mystica practica« (1408) in zahlreichen Leseund direkten Zitatspuren hinter dem »Tractatus theologie mistice« des Tegernseer Benediktiners Keck steht, schreibt dazu: Deinde compertum est multos habere devotionem, sed non secundum scientiam70, und hebt in diesem Kontext die Begarden und »Turelipini«71 als Beispiele für allzu leicht beeinflussbare Frauen hervor. Die oft strapazierte Gleichsetzung von wenig Ausgebildeten und Frauen wird aber, wie man sieht, nicht akzeptiert. Nach dem in der Wortwahl wohl markantesten Verfechter der affektgeleiteten Meditation und Kontemplation, Vinzenz von Aggsbach, ist die Frage in erster Linie auch ein Streit für die aus seiner Sicht ob ihrer tiefen Frömmigkeit, die sich in deren Visionen bestätigt, besonders zu verehrenden Frauen. Er hält Birgitta, Dorothea und Katharina für weitaus bedeutsamer, als viele der gelehrten Männer. Dies teilt er 1459 Johannes Schlitpacher unmissverständlich mit:72 Ad primam igitur questionem dico, quod Dorothea non est aduc canonizata; ad secundam questionem respondeo, quod duos libros de ipsa habemus, qui ambo sunt apud vos; primus est Septililium, secundus [liber] legenda ipsius que in duplo vel plusquam primus continet de scriptura; tertium »de festis« numquam vidi.

Die beiden haben sich offenbar im Vorfeld auch über das Vorhandensein der Handschriften ausgetauscht. Vinzenz schreibt: volo vestram caritatem scire, quod quantum perpendere potui Brigitte de Suecia, Katherina de Senis et dicta Dorothea simul eadem tempore in humanis fuerunt; licet una post aliam floruerit, que habuerunt confessores doctos viros, qui eorum actus et doctrinas in scriptis ad nostram noticiam transmiserunt. In quorum scriptis et precipue in prologis clare perpendi potest, si spiritus unamquamquam earum movens ex Deo fuerit an non.

Für den Kartäuser steht fest, dass eine Unterscheidung zwischen der von Gott gestatteten, daher echten, und der falschen Vision möglich ist. Katharina von Siena spricht ausdrücklich davon, dass Gott zu ihr gesprochen habe. Ratio autem quia Deus in sexu muliebri talia operatus sit nusquam exprimitiur, nisi in legenda Katherine de Senis, in qua refert confessori suo Dominum ei dixisse. Auf die von Schlitpacher geäußerten Zweifel hinsichtlich der Glaubhaftigkeit der Visionen 70 Combes/Gerson 20. 71 Werden im Zusammenhang mit Petrus Valdes (Lyon) als Gruppe der Armen Frauen bezeichnet; Combes/Gerson 20; Johannes Keck, Kommentar zur Regula Benedicti, München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18150, fol. 147v. 72 Kopiale Überlieferung des Schreibens aus der Hand Schlitpachers, in: Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1767, S. 357–366, hier 357f. Der Brief ist in der Hauptsache auf die Autorität der Konzile hin ausgerichtet, wie auch der Betreff, den Schlitpacher sozusagen als Kopfregest angibt: Epistula p. Vincentii de Axpach sive tractatus pro auctoritate conciliorum generalium (S. 357).

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bemerkt Vinzenz, dass man nicht, weil es auch falsche Propheten gäbe, die Worte aller Propheten anzweifeln dürfe. Liest man dies, so gewinnen Schlitpachers im Regelkommentar geäußerte Vorbehalte hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Visionen von Frauen73 an Gewicht, denn offenbar hatte er diese Zweifel im Briefwechsel mit Vinzenz von Aggsbach auch 1459 noch nicht völlig abgelegt. Die Beschäftigung mit den Visionen der Birgitta geschah aber nicht nur durch den zurückgezogen lebenden Kartäuser oder in Folge des Mystikerstreits, der ab 1450 einen seiner Höhepunkte in »De docta ignorantia« des Nicolaus Cusanus erreichte, sondern bereits um 1395 wurden Birgittas »Revelaciones« durch Matthäus von Krakau ins Lehrprogramm der Prager Universität integriert74. Johannes Keck bemerkt in seinem 1442 abgeschlossenen Regelkommentar und in seinem im Kontext des Kapitels 48 zu lesenden »Tractatus de theologia mistica«, dass Frauen weniger gebildet (verbildet) seien, auch affectuosiores als die Männer, und daher für Mystik empfänglicher: Item theologia mistica potest perfecte adquiri absque theologiis simbolica et propria. Ille autem sine ista nequaquam perfecte adquiruntur; patet hoc per beatum Bernhardum ad fratres Carthusienses […] de Monte Dei et est huius ratio; quia volens habere noticiam perfectam sacrarum literarum ut affectum scribentium inbibat necesse est, affectum inquam illum ex quo prolata sine scripta referuntur aut creduntur. Ex quo sequitur, quod homines quantumcumque75 ydiote possent habere perfectam misticam theologiam et illam perfecte adquirere. Ymo frequenter perfectius, per hos76 adquiritur et crebrius, quam per litteratos. Tum, quia propriis ingeniis et literature se non credunt per indiscretam fiduciam et audaciam unde magis dociles facta mistice theologie fiant disciple aptiores. Tum etiam quia proviores sunt ad affectum inhibitionem non impediente eos nimia racionatione. Ipse denique femineus sexus que moribus affectuosior est, abilior est ex hac parte ad misticam theologiam, quam sexus masculinus77.

Für die Nonnen ist es der confessor, dem die oberste Aufsicht über das Seelenheil zukommt. Aber auch die Äbtissin und die magistrae sind als expertae et probatae nicht ihrer Verantwortung enthoben.

73 Johannes Schlitpacher, Regelkommentar: Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1394 (Fassung 1442/43), fol. 16v: Beghardi et Begine; Diskussion, ob sie als religiosae zu bezeichnen seien. 74 Nuding, Matthäus, 83. 75 Unmittelbar im zeitlichen Gefüge der Niederschrift über der Zeile eingefügt. 76 Rechts neben Schriftblock; das ursprünglich in hiis gestrichen. 77 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18150, fol. 147v.

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Dämonen in Bildern Neben den Texten sind es auch Bilder und Töne, die Teuflisches in sich tragen können. Die Verknüpfung der imago Crucifixi im Register, das anlässlich der Drucklegung der »Statuta ordinis Carthusiensis«78 im Jahr 1510 angefertigt wurde, mit dem Begriff der curiositas (curiose picture de nostris ecclesiis et domibus eradiantur79) bestätigt den Vorbehalt gegenüber Bildern und Skulpturen. Gleichzeitig aber wird in diesen Statuten ausdrücklich von der imago des Crucifixus auf der pax, also von einer bildlichen Darstellung Christi am Kreuz auf dem Kußbild, gesprochen; diese soll drei Mal in einem Konvent vorhanden sein: zweimal für die Chormönche und einmal für die Laienbrüder80. In missis, que conventualiter celebrantur, cum dominicali Kyrie Eleison, pacem sumimus cum tabula, in qua depicta sit imago crucifixi. Deutlich geht hervor, dass auch im Kartäuserorden, der radikal jeden Schmuck ablehnt, das »Bild des Crucifixus« akzeptiert wird, weil es Gegenstand meditativer Betrachtung ist. Es sind also Bilder und Skulpturen, die ihrerseits Ausdruck der verdichteten Meditation der gloria passionis81 sind und für uns den Ausdruck dieser Religiosität sicht- und einsehbar werden lassen. Dies lesen wir auch bei Nicolaus Cusanus, der in der ihm eigenen Wortgewalt die Schönheit und den besonderen Eindruck, den Bilder, die er selbst in Nürnberg gesehen hat, und auch solche, die sich im Eingang der Katharinenkapelle in Brixen befinden, schildert; er schickt den Mönchen von Tegernsee ein Bild Christi, das er als »Eicon« Christi bezeichnet82. Si vos humaniter ad divina vehere contendo, similitudine quadam hoc fieri oportet. Sed inter humana opera non repperi imagine omnia videntis proposito nostro convenientiorem, ita quod facies subtili arte pictoria ita se habeat, quasi cuncta circumspiciat. Harum etsi multae reperiantur optime pictae uti illa sagittarii in foro Norimbergensi et Bruxellis Rogeri maximi pictoris in pretiosissima tabula, quae in praetorio habetur, et Confluentiae in capella mea eronicae et Brixinae in castro angeli arma ecclesiae tenentis, et multae aliae undique, ne tamen deficiatis in praxi, quae sensibilem talem exigit figuram, quam habere potui, caritati vestrae mitto tabellam figuram cuncta videntis tenentem, quam eiconam Dei appello.83 78 Statuta Guigonis, Statuta Antique, Statuta Nova und der Tertio compilatio (Amerbach, Basel 1510). 79 Mit Verweis auf cap. I sec. partis novorum statutorum. 80 Prima Pars Statutorum novorum, cap. 5, 14: Tabula in qua sit imago Crucifixi pacem sumimus cap. 5, prime partis nov. §. 1: vide pax, vide imagines, vide curiositas. 81 Largier, Gloria, 246f., beschreibt die Situation des heiligen Antonius; ein Beispiel das auch in den im Folgenden behandelten Quellen eine bedeutende Rolle als exemplum einnimmt. 82 Hier sei beispielhaft für diese zusammenlesende Methode auf folgende Publikationen hingewiesen: Bocken, Spiegel; Schneider, Theorien. Vor allem Elena Filippi beschäftigte sich in verschiedenen Beiträgen mit Cusanus und der Kunst, so zuletzt: Cusanus. 83 Riemann/Cusanus 93–219, hier 98–101, einsehbar in Original sowie in Übersetzung online unter: www.cusanus-portal.de [eingesehen am 19. 08. 2018]; vgl. ferner Serina, Sermons.

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In der Diktion des Cusanus ist das Bild Christi die imago Dei, die alle Mönche, je nachdem, von wo aus sie diese betrachten, gleichermaßen beeindruckt84. Wenn Gott sich in Visionen dem Menschen zeigt, so ist dies von der Entscheidung Gottes abhängig; die Willenskraft des Menschen kann Bilder Gottes hervorrufen, die aber ohne Gottes Zutat eben falsche Visionen sind: solche, in welchen die Daemonen die Gestalt Christi annehmen, um den Menschen ins Verderben zu führen. Christi corpus ist im Kontext der Passionsmystik Objekt der Anbetung, aus der heraus es zu Visionen kommen kann. Federzeichnungen des Gekreuzigten steigern ihre Intensität durch die rote Tinte für die Wunden und das aus ihnen fließende Blut – in der Dramatik schon berückend oder, anders gesagt, beeindruckend; verständlich, wenn Schlitpacher – der ja auch andere Darstellung (als Skulptur oder Bild) vor Augen hat, durchaus auch die Gefahr der irregeleiteten Vision sieht, weshalb der Expertise der Seelsorger und Klosteroberen auch hier große Bedeutung, vor allem bei der Verifizierung einer Vision zukommt. Mit Berufung auf Isidor wird der Kommentator Johannes Schlitpacher noch deutlicher: Item hoc expresse docet Ysidorus in »De Summo bono«: sacerdotes pro populorum iniquitate damnantur, si eos ignorantes non erudiant aut peccantes non arguant85. Von Bildern bewegt zu sein, ist eine Sache; die Gefahr, durch die Gemütsbewegung dem teuflischen Verstrickungsmuster zu unterliegen, die andere. Die größte Herausforderung besteht darin, den Unterschied zu erkennen. Die sieben astutiae des Teufels sind in zahlreichen Traktaten beschrieben, oft werden sie auch mit Musikinstrumenten verbunden86.

Eine Vertreibung des Teufels? Die Theologen des Mittelalters stehen der Musik je nach Aufführungsort unterschiedlich gegenüber; der Franziskaner-Postillator Nicolaus von Lyra etwa disputiert die Frage, ob von Dämonen besessene Körper durch Musik von jenen befreit werden können.87 Da allerdings Dämonen rein geistige Substanzen sind, kann menschliches Tun sie nicht vertreiben, sondern sie nur »dämpfen«; denn der besessene Mensch kann durch Musik in eine bessere Disposition zur Abwehr gelangen. Natürlich steht hier die antike Philosophie Pate, im Gegensatz zum christlichen Denken. Boethius berichtet vom Rasenden, der von Pythagoras 84 Dazu Tritz, Bildtheorie, 202f. 85 Kommentar zur Benediktsregel cap. 3: Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1398, fol. 50r. 86 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 641, fol. 105v–106r: Astutiae septem diaboli. Tit.: (Rot) Septem astucie dyaboli Nota septem astutias diaboli sive instrumenta musicalia quibus nititur homines decipere et in peccatis retinere […]. Ne dicas amico tuo cras revertere etc. (Spr. 3,28). 87 Hentschel, Dämon, 402f.

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durch Musik beruhigt werden kann. Das auch in dieser Hinsicht prominente Verhaltensmodell der Bibel (David und Saul)88 ist ohnehin in aller Bewusstsein. Nicht aber die Cithara Davids und auch nicht seine Künste siegen; vielmehr vertreibt das darauf angebrachte Kreuz, so sieht es etwa Robert von Middleton, den Dämon. [Ps.-]Johannes de Muris formuliert im Kontext der David-Saul Geschichte89 in beruhigender Weise. Musica et quod maius est spiritus malignos perterret et fugat90. Die Wirkung der Harmonie beruht auf dem transportierten Inhalt, dieser entscheidet, ob ein Teufel vertrieben werden kann oder nicht, Basilius folgend: ne dissonans sit a vocis tuae sensus tuus91. Im monastischen Kontext bedeutet Liturgie an Fest- und Wochentagen, Liturgie im Temporale und im Sanctorale jeweils die Differenzierung in Zahl der Gesänge, in deren Ausführung (Cantus planus vs. figuralis, im Ambitus); auch die Liturgie des Stundengebets steht in Korrelation dazu. In der Messfeier wird vor allem über die Frage der Mehrstimmigkeit und natürlich letztlich über den Einsatz von einem oder mehr Knabenchören und schließlich von Instrumenten diskutiert. Der Qualität des Tages, wie sie aus den mit den entsprechenden Messbüchern überlieferten Kalendern immer eindeutig als in summis, 12 candelis, novem candelis, tres candelis ablesbar ist, bestimmt auch die Ausstattung der Bücher. Selbst bei den Kartäusern steht dies außer Frage92. In der benediktinischen Reform des späten Mittelalters finden wir einen differenzierten Zugang93. Mehrstimmig darf an Hochfesten gesungen, die Orgel darf in der Messe, so sieht es das Propositum vor, bis zur Wandlung verwendet werden. Unisono warnt man vor Oberflächlichkeit, aber auch vor jenen, die im Chorgebet, und mehr noch im Messgesang, zum Ärgernis werden: cantare autem et legere non presumat, nisi qui potest ipsum officium implere, ut edificentur audientes, wie es Juan de Torquemada ausdrückt94. Liegt also gar nichts Diabolisches in der Musik? Die Übereinstimmung von vox et sensus, die Harmonie, kann als Schild gegen den Teufel wirken.

88 Hoffmann-Axthelm, David. 89 Ps. Johannes de Muris, v. 296–299; ed. Page, Johannes de Muris, 147. 90 Ps. Johannes de Muris, v. 254–257; ed. Page, Johannes de Muris, 146. Dazu Hentschel, Dämon, 406. 91 Martène, Commentarius, 329 (zu cap. 19). 92 Siehe Antiphonale Aggsbacense, St. Pölten, Diözesanbibliothek, HS 1 (vgl. Abb. 1–3). 93 Martène, Commentarius, 325–330 (zu cap. 19): de disciplina psallendi (325). 94 Torquemada, Regula, 233 (zu Regula Benedicti cap. 47).

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Diabolus in Musica ein On dit95 ? Der Tritonus, die verminderte Quinte oder die übermäßige Quarte, hat ein schreckliches Schicksal. Oft wurde und wird er in musiktheoretischen und musikhistorischen Werken verteufelt, weil er Schwieriges zu Gehör bringt. Dennoch sei etwas zur Ehrenrettung des Tritonus unternommen: Natürlich behandeln ihn zahlreiche Theoretiker des Mittelalters ausführlich; allerdings wird er keinesfalls als »des Teufels« bezeichnet. Dies werden erst Theoretiker des beginnenden 17. Jahrhunderts machen, zunächst Joannes Nucius im Jahre 161396, dann Andreas Werckmeister97 1702. Schließlich wird 1725 auch Johann Josef Fux diese Feststellung treffen98. Im Mittelalter und insbesondere im monastischen und universitären Kontext lesen wir sehr dezidierte Erläuterungen, die – das sei gar nicht beiseitegeschoben – auch die Herausforderung dieses »Tons« behandeln. Bei Hugo von Spechtshart von Reutlingen99: tritonus includit tres tonos semitonium excludendo; quod semitonium dulcedinem cantui frequenter adducit et administrat, et ob hoc tritonus minus curatur. Sehr ähnlich formuliert auch Johannes Cochlaeus100 in den »Excerpta musicae omnis cantus« (1496/98): cum non habet tantam dulcedinem sicut diatesseron a paucis musicis ponitur. Dass der Tritonus selten angewandt wird, weil er eben herausfordernd für das Gehör ist und nicht etwa leicht (nicht dissonant wirkend) anzuhören. Adam von Fulda101 rät schließlich deutlicher davon ab, ihn zu verwenden; da er nicht gut klingt. Ausdrücklich erlaubt ist er nur, wenn eine perfekte Consonantia folgt, die das Missbehagen eben auch sofort auflöst. Dieses Missbehagen beschreibt auch der Zisterzienser Joannes Nucius 1613; Mi et Fa in unisono […] nunquam opponi debent, dici enim non potest – und hier wird er deutlich ablehnender als die Theoretiker davor – quantopere aures offendat mollium ac ac durarum vocum contrapositio; schließlich folgt die Feststellung: NB (Nota Bene) Mi contra Fa, ist der teuffel in der Mussica102. Trotz diesem Verdikt finden wir die 95 Hammerstein, Diabolus. 96 Nucius, Musices. 97 Werckmeister, Harmonologia, 6: Und diss ist eigentlich das mi contra fa, wovon die Alten gesagt est diabolus in musica. 98 Fux, Gradus ad Parnassum, 51f.: Non dubito, quin saepius audiveris tritum illud sermone proverbium: mi contra fa est diabolus in Musica, quod fecisti procedendo de sexta Nota fa, ad septimam mi per saltum Quartae majoris, sive Tritoni. quem cantu difficilem, atque male sonantem in Contrapuncto adhibere nefas est. – Diehr, Literatur, 87, hält Johann Josef Fux für den ersten, der den Tritonus als des Teufels zu sein bezeichnet. 99 Druck 1493; Bogensignatur F IIv; *72. 100 Dazu Sachs, Musiklehre, 33. 101 Adam von Fulda, Musica 353; Slemon/Adam 202: similiter tritonus cum semidiapente, quia discrepantia semitonii prohibetur; tritonu[s] superinducentes qui ab omnibus musicis tamquam irregularis et incongruentissimus sonus vitari perhibetur. 102 Nucius, Musices, cap. 3, *27.

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Abb. 2: Antiphonarium Aggsbacense, Hiemale – St. Pölten, Diözesanbibliothek, HS 1, fol. 5v. Der Höllenhund wird durch die Pforte – die sich öffnet – erdrückt.

praktische Verwendung des Tritonus bei Johann Sebastian Bach an denkbar eindrucksvollsten Stellen; nicht nur in der Matthäuspassion (Barabbam-Akkord; BWV 244), sondern auch in den Fugen. So wird in der Fuge in a-Moll der Tritonus, in der fis-Moll-Fuge als fallender Tritonus103 als spanungsaufbauendes Element eingesetzt.

Ein Fazit und ein Ausblick Im späten Mittelalter wird eine Steigerung der Ausdrucksformen der Religiosität beobachtet, die insbesondre in der Meditation der Passion extreme Formen annehmen. Bereits seit der Spätantike wird im Kontext der Mystik vor Ekstasis gewarnt, weil hier der Teufel sein Repertoire der Versuchungen besonders mannigfaltig zum Einsatz bringen könne. Die im Hinblick auf das Jenseits höchst 103 Bruhn, Klavier, 473.

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»nervösen« Ausdrucksformen der Religiosität, von welchen Laien und Geistliche, Männer und Frauen gleichermaßen erfasst werden, fanden besonders in der Mystik ihren Ausdruck. Hans Blumenberg104 spricht von einer Gotteseskalation im späten Mittelalter, besonders bezogen auf das ausgehende 14. und das 15. Jahrhundert. Er bezeichnet William von Ockham als den »wirklichen Revolutionär«105. Wie immer man nun Blumenbergs weitere Einschätzung bewerten mag, sicher ist jedenfalls, dass sich mit dieser Gotteseskalation die Ausdrucksformen der Religiosität und Frömmigkeit in der Laienreligiosität und im Mönchtum drastisch verändern. Mit den kaum bis nicht kontrollierbaren Kontemplationen und Meditationen; den ersehnten und erlangten (?) Visionen wird gleichzeitig der Angst vor dem Teufel, dem Antichristen, und dessen nahezu unerschöpflichen Kunst der Täuschung Tür und Tor geöffnet. Schließlich aber gibt es auch Hoffnung im Kampf gegen den Teufel; ja sogar das Fürchten werden die daemones gelehrt (daemon timet mansuetos)106; selbst der das Sündenregister führende Teufel, muss dieses nach geleisteter Buße löschen107, so berichtet Jacques de Vitry im »Tutivillus«108.

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Simon Degenhart

Satellites Antichristi? Vergleichende Studien zum abendländischen Mongolenbild im 13. Jahrhundert

1.

Europa und die Mongolen – Annäherung an eine interkulturelle Konfrontation

»Denn er wird merken, daß er nicht von den Tartaren, sondern im Tartarus festgehalten wird. Der dies berichtet, hat es auch durchlitten. Denn ich war ›eine und eine halbe Zeit bei ihnen, in der Sterben Trost bedeutet hätte, wie das Leben eine Qual war‹.«1 Berichte wie dieser zeugen noch heute davon, welche Schrecken der Einfall des mongolischen Heeres im Europa des Jahres 1241 hervorrief. »Sie kamen wie ein plötzlicher Blitz«2 weiß der englische Geschichtsschreiber Matthaeus Parisiensis, welcher in seiner »Chronica maiora« ausführlich von den 1 Et sentiet se non a Tartaris, sed in tartaro detineri. Hoc refero up expertus. Fui enim per tempus et dimidium temporis inter eos, in quo mori solatium extitisset, sicut supplicium fuit vita, vgl. Heinemann/Roger 549 (Z. 29–32), übers. in: Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 140. Das »Klagelied« des aus Apulien stammenden Archidiakon von Großwardein Rogerius, in Anklang an die »Lamentationes Jeremiae« verfasst, ist eine der Hauptquellen zum Mongoleneinfall in Ungarn. Der Autor erlebte die Schrecken hautnah und geriet nach der Schlacht von Mohi (1241) in mongolische Gefangenschaft. Erst nach über einem Jahr gelang ihm die Flucht. Zu Rogerius vgl. etwa Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 129–138; Bezzola, Mongolen, 86–89. Die Bezeichnung tartari – »Tartaren« – für Mongolen erreichte Europa schon im Jahr 1224 in einem Brief der georgischen Königin Russutana: Rodenberg/Epistolae Bd. 1, 178f. (Nr. 251). Sie wurde später mit dem Tartarus assoziiert und als Synonym zu »Mongolen« gebraucht, vgl. Luard/Matthaeus 4, 111, 112–119. Matthaeus Parisiensis erkannte die verbreitete Verbindung mit dem »Tartarus« als einen Irrtum und leitete den Namen von einem Fluss ab, vgl. Luard/ Matthaeus 4, 78. Der Franziskaner Johannes von Plano Carpini kannte gar die richtige Bezeichnung »Tataren«: Item dixit nobis idem frater Iohannes, […] quod Tattari apellantur, non Tartari. Holder-Egger/Salimbene 206f.; er unterschied zwischen »Tartaren«, Mongolen und Tataren, vgl. Gießauf/Johannes 117 (IX, 28). Das Nomadenvolk der Tataren wurde im Zuge der mongolischen Expansion von den Mongolen unterworfen und in deren heterogenes Reich absorbiert. Nachfolgend wird daher stets die Bezeichnung »Mongolen« verwendet. Dazu Klopprogge, Ursprung, 155–159; Saunders, Matthew Paris, 124 Anm. 16; Schmieder, Europa, 22–24, 297f. Anm. 518; Weiers, Geschichte, 13–15. 2 Luard/Matthaeus 4, 77: Et venerunt impetu fulmineo usque ad fines Christianorum. Zu Matthaeus Parisiensis siehe etwa Vaughan, Matthew Paris, bes. 1–20; zu seinen Berichten von den Mongolen weiter: Saunders, Matthew Paris, 116–132.

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Simon Degenhart

Ereignissen um den Mongolensturm schreibt. Europa wurde von der Invasion des zentralasiatischen Reitervolkes jedoch nicht gänzlich unvorbereitet getroffen. Seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert fasste Dschingis Khan durch tiefgreifende soziale wie militärische Veränderungen heterogene nomadisierende Volksstämme zu einer organisierten Einheit zusammen, den »mongghol«. Diese drangen im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts auf ausgedehnten Feldzügen immer weiter nach Westen vor. Sie unterwarfen Transoxanien und Choresmien und fielen schließlich in Russland ein3. Somit verbreiteten sich bereits früh erste Nachrichten über die Nomaden in Europa. Dort konnten die Gerüchte an verschiedene Deutungsmuster und religiöse Erwartungen anknüpfen. Nomadenvölker spielten in der christlichen Eschatologie seit jeher eine herausragende Rolle. Bereits im ersten Buch Mose wird dem Sohn Abrahams, Ismael, die Rolle des Stammvaters eines großen Volkes zugesprochen4. An besonders prominenter Stelle steht die Schilderung der Invasion fremder Völker bei Ezechiel, hier führt Jahwe das Volk Magog unter dem König Gog gegen Israel. Diese Prophezeiung wurde schließlich in die Offenbarung des Johannes übernommen5 – die Fremdvölker waren von hier an ein Zeichen der Endzeit. Dieses Bild vom Weltende als Völkerinvasion wurde im Mittelalter weiterentwickelt und durch verschiedene außerkanonische Semantiken ergänzt6. Die Verquickungen verschiedener alt- und neutestamentarischer sowie nichtchristlicher Erzählungen fanden im 12. Jahrhundert in der »Historia scholastica« des Petrus Comestor in eine standardisierte Form und waren im 13. Jahrhundert über Religions- und Konfessionsgrenzen hinaus weit verbreitet7. Zur Untersuchung der abendländischen Mongolendeutung kann auf eine Vielzahl an Quellenmaterial zurückgegriffen werden. Verschiedene Gattungen, etwa historiographische Werke, Briefe und Reiseberichte aus den unterschiedlichsten Regionen Europas nehmen seit den 1230er-Jahren immer wieder Bezug auf das unbekannte Reitervolk. Um die unmittelbare Reaktion Europas auf die mongolische Invasion nachzuverfolgen, bietet es sich an, neben ausgefeilten 3 Kollmar-Paulenz, Mongolen, hier bes. 20–45; zu den Einfällen der Mongolen 1241 in Europa: Strakosch-Grassmann, Einfall, 1–181, sowie Jackson, Mongols, 65–91. Zu den Mongolen und zur »Goldenen Horde« grundsätzlich: Spuler, Goldene Horde; Weiers, Geschichte. 4 Vgl. Gen 16,10–12, 21,18–21. Für Bibelzitate wird in dieser Arbeit stets die revidierte Einheitsübersetzung (2016) herangezogen. 5 Ez 38–39; Offb 6–9. 6 Zur Bedeutung von Nomadenvölkern in der christlichen Eschatologie vgl. Klopprogge, Ursprung, 39–69; zum Bild des Weltendes als Völkerinvasion Brandes, Introduction, 1–19. Einen wichtigen Stellenwert hatten auch die sogenannten Alexanderromane. Dazu Schmidt, Brüste. Zur interkulturellen Genese dieses Motivs: Koch, Gog und Magog, 85–97. 7 Schmieder, Milde, 111–125, hier bes. 112. Zu Petrus Comestor und der »Historia scholastica« siehe: Luscombe, Petrus Comestor, 291–293 (mit weiteren Literaturhinweisen). Die Transkulturalität dieser Motive stellt Doufikar-Aerts, Gog and Magog, 390–411, besonders heraus.

Satellites Antichristi?

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Berichten und Geschichtswerken auch diejenigen Quellen zu untersuchen, welche die Ereignisse unreflektiert behandeln. Dafür stellen die »Additamenta« der »Chronica maiora« des Matthaeus Parisiensis eine Quelle ersten Ranges dar8. Von ebenso großer Bedeutung sind die Gesandtschaftsberichte, welche im Rahmen eines interkulturellen Austauschs entstanden sind. Zum ersten Mal nahm Europa diplomatischen Kontakt mit einem völlig fremden Kulturkreis auf. Dies erforderte Mut und regte einen Reflexionsprozess an, der Europa ein Stück weit die Angst vor den Fremden nahm9. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der religiös-eschatologischen Gedankenwelt des Mittelalters und ersten empirischen Beschreibungen einer völlig unbekannten Kultur ist in der neueren Forschung eingehend untersucht worden10. Besondere Betonung erfuhr zudem die chronologische Entwicklung und Veränderung eines abendländischen Mongolenbildes11. Die überlieferte Meinungs- und Quellenvielfalt lädt zu einer vergleichenden Betrachtung ein. Indem Berichte von vier unterschiedlichen Autoren aus der Dekade zwischen 1237 und 1247 gegeneinander gelesen werden, lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wahrnehmung der Fremden akzentuieren und Ursachen für die Heterogenität der Deutungen rekonstruieren. Zugleich ermöglicht der vergleichende Blickwinkel, die Autoren und ihre Persönlichkeiten greifbar zu machen12. Diese Aspekte sind in der Forschung bisher weniger beachtet worden.

8 Zu den »Additamenta« des Matthaeus Parisiensis vgl. Vaughan, Matthew Paris, 78–91. Es handelt sich um eine heterogene Materialsammlung, die der Chronist nicht in sein Werk eingearbeitet hat; vgl. Brincken, Mongolen, 119. 9 So Euler, Begegnung, 49. Zum interkulturellen Austausch durch die Gesandtschaften siehe Garnier, Zeichen, bes. 218–221. 10 Zum Wechselverhältnis von traditio und Empirie siehe: Fried, Suche, 287–332; Klopprogge, Ursprung, 237–257; Steinicke, Heerscharen, bes. 84–124. Eine Untersuchung der Konfrontation divergierender Kommunikationsformen bietet Garnier, Zeichen, 199–222. Einen detaillierten, wenngleich etwas veralteten Forschungsüberblick liefert Schiel, Mongolensturm, 17–23. Auch der interkulturellen Dimension endzeitlicher Motive hat sich die neueste Forschung zugewandt: Doufikar-Aerts, Gog und Magog; Koch, Gog und Magog. 11 Vgl. die Arbeiten von Bezzola, Klopprogge, sowie Schmieder, Europa; dies., Milde; dies., Christians, Jews, Muslims. Grundlegend für die nachfolgenden Überlegungen weiter Fried, Suche, 287–332. 12 Arnold Esch, Erlebnis, hat einen ähnlichen Ansatz anhand von »Parallelberichten« eindrucksvoll demonstriert. In seiner Studie vergleicht er vier Berichte von Jerusalempilgern aus dem Jahr 1480.

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2.

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Erwartung und Erkenntnis – Der Brief eines ungarischen Bischofs

Um das Jahr 1240 verdunkelte sich der Himmel über Europa, der »Mongolensturm« stand unmittelbar bevor. Die ersten, furchterregenden Warnungen aus Russland und Ungarn hatten Europa bereits erreicht. Im Winter 1237/38 fielen die Fürstentümer Rjazan’ und Vladimir-Suzdal’. Im Dezember 1240 sollte schließlich Kiew durch die mongolischen Feldzüge weitestgehend zerstört werden. Nun war es nur noch eine Frage von Monaten, bis die Mongolen nach Ungarn und Polen vordringen würden13. In Europa hatte man die drohende Gefahr bis dahin völlig unterschätzt und weitgehend ignoriert14. Dabei hatte bereits der Dominikaner Julian, der zwischen 1235 und 1237 zwei Mal von Ungarn aus an die Wolga reiste, in einem Brief an den päpstlichen Legaten Salvius Salvi eindringlich vor dem Reitervolk gewarnt15. In dieser Situation also, vermutlich im Winter 1239/1240, befragte ein ungarischer Bischof zwei mongolische Kundschafter, welche die Ungarn gefangen genommen hatten. In einem Brief übermittelte er seine Erkenntnisse an einen Glaubensbruder in Paris. Der Autor selbst ist nicht greifbar, ebenso wie der genaue Zeitpunkt der Abfassung dieser Quelle16. In seinem Verhör ging der 13 Garnier, Zeichen, 203; zum Hergang des Einfalls Strakosch-Grassmann, Einfall, 1–101; Weiers, Geschichte, 89–112. 14 So schrieb etwa Thomas von Split: quasi ludus quidam vel inane sompnium videbatur eis, vgl. Heinemann/Thomas 585 (Z. 29); übers. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 237. Den Vorwurf der mangelnden militärischen Vorbereitungen gegen den Feldzug der Mongolen musste sich besonders der ungarische König Béla IV. gefallen lassen. Friedrich II. hielt ihm vor, »lässig« gehandelt zu haben. Vgl. Fried, Suche, 292. 15 Zu Julians erster Expedition an die Wolga, über die sein Mitbruder Riccardus einen Bericht verfasste, vgl. Schiel, Mongolensturm, 64–71. Der Bericht ist übersetzt und erläutert bei: Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 69–91. Zu Julians zweiter Reise, nach deren Rückkehr er den Brief an Salvi verfasste, vgl. Bezzola, Mongolen, 40–57; Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 95–100; Klopprogge, Ursprung, 159–162, 207–211; Schiel, Mongolensturm, 71–77. Übersetzung und Kommentar des Briefes bei Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 101–109. 16 Es sind zu Autor, Adressat und Datierung verschiedene Hypothesen aufgestellt worden. Denis Sinor vermutete Bischof Stephan von Waitzen als Urheber, eine Deutung, der sich Göckanjan anschloss. Hierfür gibt es jedoch keinerlei Belege in den Quellen. Als Adressat wird von Matthaeus Parisiensis der Bischof von Paris angegeben, dies wäre Guillaume d’Auvergne. Dagegen geben die Annalen von Waverley, die den Brief ebenfalls überliefern, lediglich einen in Paris anwesenden Archidiakon als Empfänger an. Auch diese Frage bleibt daher ungeklärt. Die Hypothese Frieds, der Brief sei über einen Pariser Archidiakon dem Bischof Guillaume d’Auvergne zugeleitet worden, ist sicherlich in Erwägung zu ziehen. Luard als Herausgeber der »Chronica maiora« datiert den Brief auf April 1242. Aufgrund des Inhalts des Briefes kann jedoch gefolgert werden, dass dieser vor dem Sturm auf Kiew im Dezember 1240 verfasst wurde. Die Mongolen warteten den Winter ab, um den gefrorenen Dnepr für einen Angriff überqueren zu können. Das Dokument entstand also im Sommer 1240, möglicherweise sogar schon im Sommer 1239, falls hier eine ähnliche Situation in Osteuropa vorherrschte. Vgl.

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ungarische Bischof systematisch vor. Er stellt Fragen zu Ursprung, Glauben, Sprache und Schrift, Lebensweise, Militär und Kampftaktiken. Es ist ein Versuch, das Fremde zu fassen und zu ordnen, es zu erkennen. Die Antwort auf die erste Frage des Bischofs nach der Heimat der Mongolen scheint jedoch seine Befürchtungen zu bestätigen: »Sie sei jenseits der Berge an einem Fluß Egog« oder »in Nachbarschaft eines Volkes, das den Namen Gog führe«17. Die erste Version dieser Aussage stammt aus der Überlieferung bei Matthaeus Parisiensis, die zweite aus den Annalen von Waverley. Das Ergebnis aber bleibt das gleiche. Ein ungarischer Bischof hörte bei der Befragung »echter« Mongolen den Namen »Gog« – um wen anderes als die Völker Gog und Magog konnte es sich also handeln? Im Verlauf des Verhörs zeigt sich, wie sich die Annahmen des Bischofs auf das Ergebnis seiner systematischen Vorgehensweise auswirken. Alle Antworten der Mongolen durchlaufen einen Endzeitfilter. Auf die Frage nach dem Glauben stellt der Bischof fest, dass diese keiner der drei Hochreligionen angehörten. Zudem »benutzen [sie] die Schrift der Juden«, welche sie von »bleiche[n] Leute[n]« erlernten, »die viel fasteten«18. Der Bischof folgert, es müsse sich wohl um Pharisäer und Sadduzäer handeln. Weiter würden sie keine Speisevorschriften kennen, äßen alles Tierische und seien hinter Bergen hervorgekommen, genau wie es Pseudo-Methodios in seinen »Revelationes« für die Endzeitvölker vorhergesehen hatte19. Die Überlieferung der Annalen von Waverley geht an dieser Stelle über Matthaeus Parisiensis’ Abschrift weit hinaus. »Wohl dreihundert Jahre und mehr« hätten die Mongolen »Bäume gefällt und Felsen gesprengt«20, bevor sie aus ihrem Verließ hervorbrechen konnten. Ihr Ziel, dies wiederum berichten beide erhaltenen Versionen einhellig: die Welteroberung21.

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Bezzola, Mongolen, 53–57, bes. 53f.; Fried, Suche, 299, 301; Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 273–276; Klopprogge, Ursprung, 162–165, bes. 162f.; Luard/Matthaeus 6, 75f. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 277. Die beiden Überlieferungen unterscheiden sich hier. Im Folgenden wird der Überlieferung bei Matthaeus Parisiensis gefolgt. Göckenjan und Sweeney (277–279) übersetzen beide Versionen. Bedeutende Abweichungen sind nachfolgend gekennzeichnet und werden gegebenenfalls kommentiert. Ebd. 277f. Diese bei Pseudo-Methodios als Ismaeliter bezeichneten Endzeitvölker brechen aus der Wüste hervor und missachten jegliche Speisevorschiften: Et exiit [Sampsisahib] in desertum Saba et concidit castra filiorum Ismahel […]. Erant autem quasi locustae et incedebant nudo corpore et edebant carnes camellorum composite in utribus et bibebant sanguinem iumentorum in lacte mixto. Garstad/Pseudo-Methodius, 88 (V, 2–3); zudem Klopprogge, Ursprung, 165. Bei den »Revelationes« handelt es sich um einen apokalyptischen Text, der um 700 unter dem Eindruck der islamischen Expansion in Syrien entstand. Vgl. Garstad, Introduction, VII–XVIII; Grifoni/Gantner, Recension, bes. 194–200; Friedman, Gog, 318–323. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 278. Ebd. 277.

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Die Schilderungen des Bischofs sind deshalb so interessant, weil sie mitverfolgen lassen, wie sich »die Vernunft […] mit dem Mythos vereinigt und das Monster gebiert«22. Nüchtern betrachtet sind die Schilderungen des Bischofs ein herausragendes Beispiel eines beginnenden empirischen Zeitalters. Er beobachtet, er befragt, und er erhält viele zutreffende Informationen. Die Mongolen waren kein christliches Volk. Sie kannten einen schamanistischen Glauben und waren lediglich mit dem Nestorianismus vertraut23. Auch benutzten sie eine Schrift, die von der Lateinischen grundverschieden war. Sieht man von der eschatologisierend-judaisierenden Metaebene ab, so lässt sich feststellen, dass viele Informationen, die der Bischof in Erfahrung brachte, tatsächlich zutrafen. Der Brief des ungarischen Geistlichen ist daher ein hervorragendes Beispiel für den Einfluss der traditio auf die Konstruktion von Wirklichkeit im Mittelalter. Unbekanntes und Fremdes wird mit symbolgeladenen Vorstellungen und biblisch-mythischen Erzählungen zu einem Weltbild verschmolzen. Die Identifikation der Mongolen mit dem Judentum erinnert an die »Historia Scholastica«, in der Petrus Comestor die blutrünstigen Endzeitvölker mit den zehn verlorenen Stämmen Israels amalgamiert und mit der Alexandersage verquickt hatte – eine Verbindung, die auch Matthaeus Parisiensis kannte und die möglicherweise in der Erinnerung an das Chasarenreich ein wahres Fundament hatte24. Doch die Assoziationen des Bischofs gingen noch weiter: Eine Knabenlese, welche die Mongolen in eroberten Gebieten womöglich praktizierten, deutet er in seinem Bericht als zeichenhafte Gräueltat: Der Mongolenherrscher lässt den Kindern sein Besitzzeichen auf der Stirn einbrennen, tut also das, was der Antichrist tut – und führt sogar denselben Titel: Rex regum, der König der Könige25. Auch eine deformierte, unheimliche Körperlichkeit diente dem Geistlichen als ein Zeichen 22 Fried, Suche, 332. 23 Zur Religion der Mongolen in der Mitte des 13. Jahrhunderts vgl. Spuler, Goldene Horde, 209–249, bes. 209–214. 24 Siehe Luard/Matthaeus 4, 77f. Die Ähnlichkeiten sind jedenfalls auffallend: Die Chasaren lebten nomadisch, waren jedenfalls teilweise jüdisch und militärisch mächtig. Ihr Reich befand sich am Fuße des Kaukasus, genau dort, wo Comestor die ehernen Tore Alexanders lokalisiert hatte und wo nun die Mongolen einfielen. Vgl. Roth, Chasaren, 192–202, bes. 197f.; ferner Emmerson, Antichrist, 84–89; Klopprogge, Ursprung, 65–67. 25 Vgl. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 278, 281 Anm. 14. Zur »Knabenlese« vgl. Spuler, Goldene Horde, 332. Klopprogge, Ursprung, 162f. weist darauf hin, dass es sich beim Titel rex regum auch um eine Übersetzung des Herrschertitels Gür Khan handeln könnte. Dennoch sind die Überschneidungen zum »Ludus de Antichristo«, einem geistlichen Spiel aus dem 12. Jahrhundert, bezeichnend. Der Titel des Antichrist lautet hier rex regum et orbis tocius rector. Er zeichnet Kinder auf der Stirn mit seinen Initialen: Antichristus depingens primam litteram nominis […] in fronte. Hier zit. nach Fried, Suche, 301 Anm. 58. Zum »Ludus de Antichristo« und zur Figur des Antichrist im mittelalterlichen Schauspiel vgl. etwa Ridder/ Barton, Antichrist-Figur, bes. 182–184. Das Motiv entstammt der Offb 13,16; ferner Jackson, Mongols, 144.

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Gottes, als eine äußerlich sichtbare Warnung, dass die Mongolen den menschlichen Wahrnehmungsbereich überstiegen, dass sie von Gott gesandt seien, um die Menschheit für ihre Sünden zu bestrafen und die letzten Tage anzukündigen26. Die Vorstellungswelten, welche der ungarische Bischof bereits in seine Befragung mit hineinbrachte, waren ausschlaggebend für den Verlauf des Verhörs und beeinflussten folglich seine Deutung der Fremden entscheidend27.

3.

Ein Augenzeuge der Schrecken – Ivo von Narbonne

Nicht nur fremde Schriften, Herkunftsbezeichnungen und andere Signale konnten für eine endzeitliche Deutung der Mongolen genutzt werden. Auch die grenzenlose Gewalt konnte ein Anzeichen für das Ende der Tage sein28. Eine solche Topographie der Gewalt zeichnet der Bericht Ivos von Narbonne. Der französische Vagabund erlebte den Mongolensturm selbst mit, und es bedurfte wohl einer persönlichen und unmittelbaren Erfahrung der Schrecken, um eine derart eschatologisierende Sichtweise auf die Mongolen zu entwickeln. Sein Zeugnis ist in der »Chronica maiora« des Matthaeus von Paris überliefert29. Ursprünglich handelte es sich um einen Brief an den Erzbischof von Bordeaux. Detaillierte Informationen zum Autor sind unbekannt. Aus der Quelle, die Matthaeus in das Jahr 1243 einordnet, geht hervor, dass sich Ivo nach einer Reise durch Norditalien in Österreich aufhielt, wo er mit der »Züchtigungsrute des Herren«30 erste Bekanntschaft machte. Aufgrund der Ereignisse, die Ivo in seinem Brief schildert, lässt sich dagegen schließen, dass der Bericht bereits im Jahr 1241 entstanden sein muss, also zu der Zeit, als der Einfall der Mongolen seinen Höhepunkt erreichte31. Mit den empfindlichen Niederlagen gegen das Reitervolk bei Liegnitz und Mohi kulminierten in Europa Angst und Schrecken, befürchtete man »doch wegen des unglücklichen Ausgangs den Untergang der Christenheit.«32 Das 26 Vgl. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 278. Dazu Antunes/Reich, Körper, 10f.; Giffney, Mongols, bes. 240. Zum Monströsen ferner Steinicke, Heerscharen. 27 Vgl. hierzu den Befund von Herbert Grundmann: Grundmann, Ketzerverhöre, insbes. 378f., 393f., der bei einem Vergleich spätmittelalterlicher Ketzerverhöre die Bedeutung des »inquisitorischen Vor-Urteil[s]« (393) herausarbeitet. 28 Offb 6–8. 29 Luard/Matthaeus 4, 270–277. 30 homines inhumani, […] virga furoris Dominici, terras infinitas peragrando feraliter devastat, vgl. Luard/Matthaeus 4, 272. 31 Vgl. hierzu sowie zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit Ivos Strakosch-Grassmann, Einfall, 144–146. Eine neuere Einordnung bei Segl, Ketzer, 76–111. 32 Brief König Bélas IV. an den deutschen König Konrad IV. in: Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 286. Weiter Bezzola, Mongolen, 66–74; Jackson, Mongols, 65–91; Schmieder, Europa, 27–30. Ausführlich, jedoch bisweilen veraltet ist Strakosch-Grassmann, Einfälle, 1–101.

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Abendland brauchte Zeit, um die Fremdvölkereinfälle zu begreifen. Wieso brachen die Reiterhorden so plötzlich hervor? Die christliche Eschatologie mit ihrer symbolgeladenen Apokalyptik war in der Lage, Erklärungsmuster anzubieten. Es müsse sich um die Begleiter des Antichrist handeln, um satellites antichristi33, so die Einschätzung Ivos. Anhand des Briefes des französischen Vagabunden lässt sich hervorragend nachverfolgen, wie die gewaltgeladenen Vorgänge des Mongolensturmes als unverkennbare Zeichen der Endzeit gedeutet wurden. Schon zu Beginn formuliert Ivo den Anspruch, die Wahrheit, also unzweifelhafte Tatsachen und Erfahrungen, zu berichten34. Er teilt die aus seiner Sicht einzig mögliche Wahrheit mit: Die Mongolen seien als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen gekommen, weshalb sie durch Feuer und Schwert auf grausamste Weise alles vernichteten, was sich ihnen in den Weg stellte35. Die Beschreibung des Endzeitvolkes zeichnet ein Bild grenzenloser Gewalt. Die Mongolen seien Kannibalen, verzehrten die Leichen ihrer Opfer wie Brot, ließen den Geiern nur die Knochen übrig. Die alten und hässlichen Frauen gäben sie den Menschenfressern zum täglichen Verzehr, die Jungen und Schönen aber erstickten sie in unablässigem Beischlaf und schnitten ihnen danach die Brüste ab, um sie ihren Anführern als Delikatesse zuzuführen. Die Mädchenkörper verzehrten sie in einem köstlichen Bankett36. Die Beschreibung dieser Gräueltaten, ebenso wie die detaillierte Schilderung sexueller Perversion, sind eher Phantasieprodukt des Autors als Tatsachenberichte. Es liegt nahe, dass der französische Vagabund seine dramatischen Darstellungen aus kursierenden Gerüchten übernahm. Narrative grenzenloser Gewalt waren im 13. Jahrhundert durchaus verbreitete Topoi, welche in ganz ähnlicher Weise in anderen Quellen nachweisbar sind und auch über das 13. Jahrhundert hinaus virulent blieben37. Thomas von Split etwa berichtet in seiner »Historia pontificum Salonitanorum et Spalatinorum« ebenfalls von extremen Gewalttaten und Verstümmelungen: Den wohlgestalteten Frauen, so der Chronist, schnitten die Mongolen die Nasen ab 33 Luard/Matthaeus 4, 273. 34 nihil dicam quod dubitem vel opinerer, sed certe quod expertus sum et quod scio, vgl. Luard/ Matthaeus 4, 270. 35 Hoc igitur et multis aliis peccatis inter nos Christianos emergentibus iratus Dominus, factus est velut vastator hostilis et ultor formidabilis, vgl. Luard/Matthaeus 4, 272. 36 Quorum cadaveribus principes cum suis cenofaris aliisque lotofagis, quasi pane vescentes, nihil praeter ossa vulturibus relinquebant. Sed quod mirum est, famelici et edaces vultures, quae forte supererant, reliquiis vesci minime dignabantur. Mulieres autem vetulas et deformes antropofagis, qui vulgo reputantur, in escam quasi pro diarrio dabant; nec formosis vescebantur, sed eas clamantes et ejulantes in multitudine coituum suffocabant. Virgines quoque usque ad exanimationem opprimebant, et tandem abscisis earum papillis, quas magistratibus pro deliciis reservabant, ipsis virgineis corporibus lautius epulabantur, vgl. Luard/Matthaeus 4, 273. 37 So Bezzola, Mongolen, 84, ebenso Segl, Ketzer, 99, auch mit Verweis auf Bezzola. Vgl. auch den Beitrag von Christof Paulus in diesem Band.

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und verstümmelten deren Gesichter38. Gleichartige Darstellungen finden sich auch beim Dominikaner Simon von Saint-Quentin39 oder auf einer Illumination einer Handschrift der »Chronica maiora«40. Sie sind den Verhaltensweisen der Ismaeliter in der Apokalypse des Pseudo-Methodios auffallend ähnlich41. Für Ivo, dessen Schilderungen ganz unter dem Eindruck der Endzeitlichkeit entstanden sind, waren Kannibalismus, Perversion und andere bestialischen Taten der Reiterhorden wohl nicht weniger real als die Grausamkeiten und Zerstörungen, welche die Mongolen auf ihren Feldzügen zweifellos begangen haben42. Das Vorwissen um ein Objekt bestimmte folglich dessen Wirklichkeit43. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Erfahrung, die Ivo etwa in der Mitte seines Briefes schildert. Er traf, nachdem sich die Mongolen aus Österreich zurückgezogen hatten, auf einen Engländer, welcher seine Heimat verlassen musste und seither Gesandtschaften für die Mongolen nach Westen durchführte. Er war mit den Fremden also bestens vertraut, hatte lange Jahre mit ihnen zusammengelebt. Zum ersten Mal verlieren die Mongolen in Ivos Bericht die dämonische Aura des Schreckens, vielmehr schildert er hier ein sehr gewöhnliches Volk. »Ihr Heimatland ist eine große Wüste, […] aus der sie Löwen, Bären und andere wilde Tiere vertrieben haben.«44 Die Gründer ihres Stammes verehrten sie als Götter, ihre Festlichkeiten zelebrierten sie zu speziellen Zeiten. Sie hätten eine harte und kräftige Brust, ein mageres und bleiches Gesicht, eine kurze und krumme Nase, ein spitzes und markantes Kinn45. Es ist bemerkenswert, wie präzise hier spezifische Eigenheiten der Mongolen geschildert werden. Sobald Ivo jedoch wieder zu seinen eigenen Worten zurückfindet, treten erneut jene grausamen und übernatürlichen Bestien hervor, mit deren Beschreibung er seinen Bericht begann. Was sagt das über die Konstruktion des Mongolenbildes des Abendlandes aus?

38 Vgl. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 246; Giffney, Mongols, 233–235. 39 Brincken, Mongolen, 131–134, bes. 133f. 40 Cambridge, Corpus Christi College, MS 016 II, fol. 167r. Die Illumination bildet den Kannibalismus der Mongolen ab und befindet sich unterhalb der Überlieferung des Briefes Ivos von Narbonne. Zur Verwendung des Motivs Kannibalismus in der »Chronica maiora«: Blurton, Cannibalism, 81–103, bes. 95–97; Gießauf, Kinderhaxerl, 115–118. 41 Vgl. etwa: Et in principio exitus eorum incipientes ab heremo habentibus in utero gladio perforabunt et fetum conpungent simul cum matribus, et infantes ab umeris nutricum rapientes percutient, et erunt bestiis in escam, vgl. Garstad/Pseudo-Methodius, 118 (XI, 17). Weiter Klopprogge, Ursprung, 51–53, 63–65, 173f.; Gießauf, Kinderhaxerl, bes. 91–107; Friedman, Gog, 321–323. 42 Klopprogge, Ursprung, 172. 43 Vgl. Fried, Suche, 290. 44 Patria eorum, tellus olim deserta et maximae vastitatis, ultra omnes Caldaeos, de qua leones, ursos, et alias feras arcubus et aliis machinis expulerunt, vgl. Luard/Matthaeus 4, 275. 45 Ebd.; vgl. auch Bezzola, Mongolen, 85f.

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Aus Ivos Brief kann geschlossen werden, dass es vor allem der Nimbus des Unbekannten war, der die Mongolen von einem gewöhnlichen Volk zur monströsen Begleiterschar Antichristi anwachsen ließ. Der Grund hierfür: mangelnde Kenntnis und mangelnder Kulturkontakt. Ivos Bericht ist so wertvoll, weil er zwei Sichtweisen überliefert: seine eigene, in der die Mongolen mit Mythen und Legenden behaftet sind, weil er sie nicht kennt und weil er aus einem Zustand der Angst berichtet; und die des Engländers, der bei den Mongolen lebt, diese wie sein eigenes Volk kennt und nichts weiß von Endzeitlichkeit und der sie begleitenden grenzenlosen Gewalt.

4.

Erklärung statt Deutung? – Die Gesandtschaftsberichte Julians und Johannes von Plano Carpinis

Der direkte Kontakt zu den Mongolen konnte zu ihrer Entdämonisierung führen; dafür sind auch die Reiseberichte zweier Gesandtschaften ein eindrückliches Zeugnis: der Brief des Dominikaners Julian und der Bericht des Franziskaners Johannes von Plano Carpini. Frater Julian reiste zwischen 1235 und 1237 zweimal von Ungarn aus an die Wolga, um die legendenumwobenen »Groß-Ungarn« zu missionieren46. Doch auf seiner zweiten Expedition erfuhr er nur von deren Untergang. Stattdessen brachte der Dominikaner erschreckende Neuigkeiten von den Angriffsabsichten der Mongolen mit, wozu auch ein Brief des Mongolenherrschers Batu Khan gehörte47. Zu Beginn seines Berichtes bietet Julian eine endzeitliche Deutung der Mongolen an. Es handle sich nämlich um Ismaeliter48. Diese Assoziation geht wohl auf die Apokalypse des Pseudo-Methodios zurück, wo dieses Motiv besonders prominente Verwendung findet. Im letzten der sieben Millennien der Weltgeschichte soll demnach die Welt zweimal von wilden Völkern erobert werden. Der zweite Eroberungszug der Ismaeliter, welche Pseudo-Methodios mit den Midianitern des Buches Richter gleichsetzt, leitet zudem die Endzeit ein49. Im Raum der Rus’, welcher oft mit Fremdvölkereinfällen konfrontiert war, hatten sich 46 Schiel, Mongolensturm, 64–77. Zu den dominikanischen Unternehmungen weiter Fried, Suche, 287–291. Zur Vorstellung des Ursprungs der Ungarn um 1200 vgl. Silagi (Hg.), Gesta Hungarorum, bes. 33–37. Weiter Fried, Suche, 288; Paviot, Friars, 120f.; Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 69, 95f. 47 Ebd. 96. Paviot nimmt an, dass die Mongolen Julian für einen Gesandten Bélas IV. hielten, vgl. Paviot, Friars, 121. 48 »Mir wurde von einigen Gewährsleuten berichtet, daß die Tartaren früher das Land bewohnten, das jetzt die Kumanen besiedeln, und daß sie in Wahrheit Söhne Ismaels genannt werden« vgl. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 101. 49 Vgl. Gen 16 und 21, Ri 6–8, bes. 7,15–25. Garstad/Pseudo-Methodius, 88–93 (V, 2–9), 108–120 (X, 6–XI, 18); sowie ders., Introduction, XIII–XVIII. Weiter Klopprogge, Ursprung, 51–53.

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Identifizierungen von unbekannten Nomadenvölkern mit Endzeitvölkern wie den Ismaelitern bereits etabliert. Es überrascht so kaum, dass Julian mit diesem Deutungsmuster vertraut war, schließlich führte ihn seine Reise nach »GroßUngarn« durch das Gebiet der Rus’50. Bemerkenswert ist, dass der Dominikaner diese apokalyptische Mongolendeutung nicht als seine eigene ausgibt. Vielmehr betont er, dass es sich um Berichte Dritter handle51. Neben dem Nexus »Tartaren« – Endzeitvolk bietet Frater Julian noch eine weitere Erklärung für das Erscheinen der Mongolen an. »Der erste Krieg der Tartaren aber begann so: Es gab im Lande Gotta einen Fürsten mit dem Namen Gurgutam«52, so beginnt der Dominikaner eine Erzählung, welche allem anderen als apokalyptischen Vorstellungswelten entspringt. Die Schwester Gurgutams, dessen Name wohl eine schlechte Lesart von Dschingis Khan oder des mongolischen Herrschertitels »Gür Khan« darstellt, sei von einem Nachbarfürsten entjungfert und enthauptet worden. Gurgutam habe daher geschworen, seine Schwester zu rächen. Zugleich kam es im Kumanenland, so Julian, zu Auseinandersetzungen zwischen den zwei Fürsten Gureg und Euthet. Der Sohn des Unterlegenen Euthet konnte zu Gurgutam fliehen und stachelte diesen zu Feldzügen gegen die Nachbarn an. Gurgutam errang einen Sieg nach dem anderen und machte sich, von all diesen Erfolgen berauscht, die Welteroberung zum Ziel53. Mit dieser Ursprungserzählung sucht Julian eine Erklärung für die Westfeldzüge der Mongolen im Diesseits. Sie seien eben nicht von Gott gesandt, seien keine Begleitschar Antichristi. Vielmehr habe eine nachvollziehbare Verkettung von Ereignissen zu ihren Eroberungszügen gegen das Abendland geführt. Die Deutung der Mongolen als Gog und Magog oder ihre Identifikation mit anderen Endzeitvölkern, wie sie Julians Gewährsleute berichten, sucht stets nach der Assoziation des Fremden mit dem Bekannten. Mit der Gurgutam-Erzählung dagegen nimmt der Dominikaner das Unbekannte auf und versucht, es mit eigenen Handlungsabläufen zu erklären54. Waren die Informationen, die Julian von seiner Reise mitbrachte, bisweilen wenig konkret, so hatte seine Expedition 50 Bezzola, Mongolen, 41 Anm. 128. 51 So auch am Ende des Berichtes, wenn Julian die Mongolen mit den Midianitern, einem weiteren Endzeitvolk, das Pseudo-Methodios mit den Ismaelitern gleichsetzte, identifiziert. Vgl. Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 109. 52 Ebd. 101. Für die Bezeichnung »Gotta« existieren unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten. Eine Lesart von »Chata« oder »Chataia« für China oder von »Qara Kitai« ist ebenso denkbar die die Identifikation mit dem Land »Chata« der »Relatio de David rege«. Auch eine schlechte Lesart des Landes »Gosan« aus der Ersten Chronik erscheint möglich, vgl. 1 Chr 5,26. Vgl. Klopprogge, Ursprung, 161; Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 111 Anm. 6; Schiel, Mongolensturm, 72. 53 Göckenjan/Sweeney, Mongolensturm, 101–104. 54 So auch Bezzola, Mongolen, 45–47; Klopprogge, Ursprung, 209–211.

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doch eines bewiesen: Gesandtschaften zu den Mongolen waren durchführbar55. Sechs Jahre nach Julians Rückkehr, im Jahr 1243, trat Innozenz IV. die Nachfolge Petri an. Zwar hatten sich die Nomadenvölker zu dieser Zeit bereits weitestgehend zurückgezogen, doch die Verunsicherung blieb. Um detaillierte Kenntnisse von den Fremden aus erster Hand zu erhalten und die Handlungsmöglichkeiten Europas auszuloten, schickte der Papst Gesandtschaften nach Osten56. Die Wahl der Gesandten war durchaus bedacht. Johannes von Plano Carpini, der um das Jahr 1190 geboren wurde, sich bereits um den Aufbau des MinoritenOrdens in Europa verdient gemacht hatte und über ein außergewöhnliches diplomatisches Geschick verfügte57, erreichte am 22. Juli 1246 den Hof des mongolischen Herrschers – gerade noch rechtzeitig, um der Erhebung Güyüks zum neuen Großkhan beiwohnen zu können58. Der Bericht, den er nach seiner Rückkehr verfasste, ging in Umfang und Detailreichtum, aber auch in Systematik und Struktur weit über zeitgenössische Kenntnisse hinaus. Zunächst sticht Carpinis systematische Vorgehensweise hervor. Nach logischen Kriterien gegliedert, bietet er eine Sammlung von Fakten. Seine Annäherung an die Mongolen erinnert an die scholastische Methode59. Alle Fragen, die Carpini beantwortet, alle Informationen, die er sammelt, sind zielgerichtet. Es ist davon auszugehen, dass er einen Fragenkatalog des Papstes bei sich hatte oder einen solchen zumindest kannte. Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass bereits auf dem Konzil von Lyon 1245 Erzbischof Peter – eine Persönlichkeit, die heute nicht genauer greifbar ist – ein Zeugnis über die Mongolen ablegte60. 55 Ebd. 195. 56 Vgl. Bezzola, Mongolen, 118–120; Fried, Suche, 302–305; Garnier, Zeichen, 204–206; Schmieder, Europa, 31f. Zu den Gesandtschaften und dem Charakter ihrer Berichte grundsätzlich: Klopprogge, Ursprung, 194–222; Euler, Begegnung, 47–58; diplomatiegeschichtlich Paviot, Friars. 57 Die wichtigste Quelle zum Leben Carpinis ist die Chronik seines Ordensbruders Jordan von Giano: Schlageter/Jordan 33–63. Zu Jordan von Giano Schlageter/Jordan 6–14; zu Johannes von Plano Carpini Bezzola, Mongolen, 120–123; Gießauf/Johannes 73–76; Klopprogge, Ursprung, 120f.; Münkler, Erfahrungen, 30–35. 58 Eine knappe Zusammenfassung der Reise bei Gießauf/Johannes 77–81, bes. 79; Paviot, Friars, 124–126. 59 Fried, Suche, 304f. Dies zeigt sich besonders in der Gliederung seiner »Historia Mongalorum«: Primo quidem dicemus de terra, secundo de hominibus, tertio de ritu […]. De terra proposuimus hoc modo tractare: in principio quidem dicemus de situ ipsius, secundo de qualitate, tertio de dispositione ipsius aeris in eadem, vgl. Gießauf/Johannes 87 (I, 1–2). 60 Fragen, die Peter beantwortete, waren etwa: Woher kamen die Mongolen? Was war ihr Glaube? Wie lebten sie und welche Bräuche hatten sie? Welche Absichten verfolgten sie? Zu Erzbischof Peter und dem Konzil von Lyon: Maiorov, Archbishop Peter, bes. 20–27; Jackson, Testimony, 66–77; Bezzola, Mongolen, 112–118, bes. 113; Klopprogge, Ursprung, 174–176. Sein Zeugnis ist bei Luard/Matthaeus 4, 386–389, überliefert. Ähnliche Fragen beantwortet Carpini, vgl. Gießauf/Johannes bes. 125 (Prolog); Garnier, Zeichen, 206; Münkler, Erfah-

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Auf die entscheidende Frage, ob es sich bei dem fremden Reitervolk um die Ismaeliter oder andere Heerscharen des Antichrist handle – kurz gesagt: Ob nun die Endzeit angebrochen sei –, äußerte sich der Franziskaner anders als viele seiner Zeitgenossen. Die Mongolen seien kein Endzeitvolk, sie dienen Carpini vielmehr als Werkzeug, um die wahren apokalyptischen Völkerscharen zu identifizieren. Denn sie stießen auf ihren Feldzügen immer weiter nach Westen vor, bis sie schließlich zu den Kaspischen Bergen gelangten. »Diese Berge waren aber auf der Seite, der sie sich näherten, aus magnetischem Gestein, wodurch ihre Pfeile und Waffen aus Eisen angezogen wurden.«61 Da die von Alexander im Kaukasus eingeschlossenen Völker das herannahende mongolische Heer bemerkten, begannen sie, sich einen Weg durch den Berg zu bahnen. Als die Mongolen nach zehn Jahren erneut zu diesem Berg gelangten, war den Völkern der Durchbruch gelungen. »Aber als sie zu den Bewohnern zu gelangen versuchten, konnten sie es nicht, da sich eine Wolke dazwischengeschoben hatte.«62 So verloren die Mongolen die Orientierung und zogen sich zurück. In seiner »Historia Mongalorum« verflicht Carpini Motive unterschiedlicher Provenienz: Die von Alexander dem Großen im Kaukasus eingeschlossenen Endzeitvölker entstammen dem frühmittelalterlichen Syrien, die Gotteswolke dem Alten Testament, der magnetische Berg war in der mittelhochdeutschen Literatur weit verbreitet63. Die ausgeklügelte Erzählung ist Ausdruck der engen interkulturellen Verzahnung eschatologischer Motive und erlaubt dem Franziskaner zweierlei: Erstens lässt er die Mongolen auf die wahren Endzeitvölker treffen, womit er die Worte der Heiligen Schrift und der abendländischen traditio verifizieren kann. Zweitens verdeutlicht diese Wendung, dass die Endzeit zwar nah, aber noch nicht angebrochen sei, denn die Begleitscharen Antichristi seien

rungen, 34. Auf seiner Reise hatte er einen Brief des Papstes im Gepäck: Rodenberg/Epistolae Bd. 2, 74f. (Nr. 105). 61 Gießauf/Johannes 162 (V, 15). 62 Ebd. 162f. (V, 15). 63 Zu den inhaftierten Endzeitvölkern vgl. oben sowie Emmerson, Antichrist, 85–89; Koch, Gog und Magog, 88–90; Gießauf, Kinderhaxerl, 97f.; Schmidt, Brüste, 90–97. Zum »Magnetberg« vgl. Steinicke, Heerscharen, 100 Anm. 272; Werner, Peoples, 86. Die Wolke, welche die wilden Heerscharen weiterhin in ihrem Bergverließ gefangen hält, kann mit der Gotteswolke aus Ex 19 in Verbindung gebracht werden, welche die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten beschützt. Vgl. dazu auch die veränderte Fassung von Carpinis Bericht, welche aus der Feder des polnischen Franziskaners C. de Bridia stammt: Cumque utrique sibi appropinquare cepissent, et ecce nubes diuisit eos stans in medio sicut quondam Egypcyos et filios Israel. Siehe Önnerfors/Historia 11; Steinicke, Heerscharen, 101. Zu C. de Bridia weiter Bezzola, Mongolen, 122; ausführlich Werner, Peoples.

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weiterhin durch eine unüberwindliche Wolke hinter den Bergen inhaftiert64. Dadurch verlieren die Mongolen ihre Endzeitlichkeit. Bisweilen schildert Carpini ein Volk wie andere auch, mit eigener Geschichte, eigenen Sitten und Bräuchen und eigenem Glauben. Auch der Franziskaner setzt das Neue in Bezug zum Bekannten, aber ihm gelingt dies ohne die Verteufelung des Unbekannten. Zwar »können ihre schlechten Eigenschaften gar nicht alle beschrieben werden«, weil sie »so zahlreich sind«65. Dennoch seien die Mongolen nicht inhärent böse oder dämonisch. Untereinander, so Carpini, schimpften sie kaum, Körperverletzung und Diebstahl sei ihnen unbekannt, jeder achte den anderen nach Gebühr66. Zum ersten Mal, so kann man festhalten, verleiht ein Europäer den Mongolen ein menschliches Gesicht – wobei er allerdings eine positive Stereotypisierung setzt67. Carpini zeichnet ein höchst differenziertes Mongolenbild, das den Europäern Sitten und Kampftaktiken der Fremden erklärte und auf diese Weise Wissen von unschätzbarem Wert übermittelte. Darin besteht eine zentrale Leistung des Franziskaners.

5.

Das abendländische Mongolenbild zwischen Pluralität und Individualität

Welche Schlüsse lassen sich aus der vorliegenden Untersuchung für die abendländische Mongolendeutung ziehen? Fest steht: Es gab in der Mitte des 13. Jahrhunderts große Unterschiede in der Bewertung fremder Völker. Ein homogenes abendländisches Mongolenbild hat es offensichtlich nicht gegeben68. Vielmehr war der Blickwinkel auf das Reitervolk von unterschiedlichen Faktoren abhängig und durchaus individuell. Die zeitliche Nähe der Entstehungszeit der Quellen zum Höhepunkt des Mongolensturms 1241/1242 spielte eine wichtige Rolle dafür, wie die Mongolen in Europa wahrgenommen wurden. Je greifbarer die Bedrohung wurde, desto deutlicher tritt die endzeitliche Dimension in den zeitgenössischen Zeugnissen hervor. Im Zenit stand die apokalyptische Deutung während des Höhepunktes der mongolischen Einfälle 1241. Der Bericht Ivos von Narbonne ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. Er griff in Europa verbreitete Gerüchte und Topoi auf und entwarf eine Semantik der Grausamkeit und Per64 »Sobald sie in die Wolke eindrangen, [konnten sie] aus dem vorhin beschriebenen Grund nicht mehr weiter«, vgl. Gießauf/Johannes 162f. (V, 15). Siehe weiter Steinicke, Heerscharen, 99f. 65 Gießauf/Johannes 145 (IV, 6). 66 Ebd. 144 (IV, 2f.). 67 Hierzu ebd. 82. 68 Diese Ansicht hält sich noch in der aktuellen Forschung, etwa bei Classen, Imagination, 15– 17.

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version. Antichristlich-endzeitliche Motive nutzte er zur Gegenwartsdeutung. Sie dienten der Sinnstiftung und Angstbewältigung – eine Eigenschaft, die dem eschatologischen Denken des Mittelalters zu eigen ist und auch in anderen Situationen beobachtet werden kann69. Carpini dagegen, der seine Reise zu den Mongolen zu einer Zeit unternahm, als diese weitgehend aus Europa verschwunden waren, nimmt den Fremden die chthonische und endzeitliche Konnotierung. Auch dem Ort und dem Modus der Begegnung lässt sich anhand des Quellenvergleiches eine wichtige Bedeutung beimessen. Julian und Carpini waren beide als Gesandte unterwegs. Sie reisten in eine andere Welt, waren über Monate nur vom Fremden umgeben und ständig mit unbekannten Kommunikationsund Zeichensystemen konfrontiert70. Dies hatte eine Reflexion über das Eigene und das Fremde zur Folge. Die Erfahrung, die sie mit den Mongolen unmittelbar sammeln konnten, führten zu einer Entdämonisierung. Eine derartige Reflexionsebene konnten Ivo und der ungarische Bischof nicht erreichen. Sie nahmen die Mongolen in der lateinischen Umgebung war. Es lag folglich nahe, die Fremden in einen vertrauten, religiös-eschatologischen Kontext zu überführen und einzuordnen. Ihr Mongolenbild schöpfte aus Deutung, nicht aus Erklärung. Schließlich aber lassen sich, indem die Zeugnisse des Mongolensturms als Parallelschilderungen mit- und zueinander kontrastiert werden, die Horizonte und Persönlichkeiten der Autoren greifbar machen. Der Aufbau und die systematische Methodik der »Historia Mongalorum« des Johannes von Plano Carpini deuten darauf hin, dass er zur Bildungselite seiner Zeit gehörte. Er war mit der Scholastik bestens vertraut, war geschulter Theologe und hatte bereits Europa von Spanien bis Russland kennengelernt, bevor er in die Mongolei aufbrach71. Seine Erfahrung im Umgang mit dem Unbekannten und seine Bildung waren beim Schreiben seines Berichtes eine wichtige Stütze und prägten seine logische Herangehensweise72. Auch war die Auseinandersetzung mit dem Fremden und Heterodoxen für die Mendikanten – für den Dominikaner Julian noch mehr als für den Franziskaner Carpini – konstitutiv. Dem einfachen Vagabunden Ivo fehlte dieses Handwerkszeug völlig. Sein Brief lässt keinen vergleichbar systematischen Ansatz erkennen; Ivos Bildung scheint nicht weit über die ohnehin verbreitete Volksfrömmigkeit hinauszureichen73. Dies strahlt auch auf sein 69 So etwa im sog. Investiturstreit, in der Auseinandersatzung zwischen Friedrich II. und dem Papsttum oder auch in der Zeit des Schwarzen Todes im 14. Jahrhundert. Vgl. Ficzel, Papst, 366; Struve, Endzeiterwartungen, 210–212; Marschall, Der Schwarze Tod, 29–48. 70 Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für den Gesandtenaustausch im 13. Jahrhundert vgl. Garnier, Zeichen, bes. 207–221. 71 Vgl. Fried, Suche, 304; Gießauf/Johannes 74f. 72 So auch Fried, Suche, 304. 73 Zur Volksfrömmigkeit im Mittelalter: Schreiner: Laienfrömmigkeit, 1–78.

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Mongolenbild aus. Im vergleichenden Zugang lassen sich somit weitestgehend unbekannte Persönlichkeiten schemenhaft nachzeichnen und auf diese Weise Individualität im Mittelalter greifbar machen74. Der »plötzliche Blitz«75, der Europa Mitte des 13. Jahrhunderts ins Herz traf, richtete nicht nur gewaltige Zerstörung an, sondern führte auch zu bemerkenswerten Entwicklungen in der Geistesgeschichte des Okzidents. Zum ersten Mal fanden Versuche empirischer Erkenntnis im hiesigen Denken Anwendung, indem nämlich die Mongolen wie bei Carpini nach ethnohgraphischen Eigenschaften beschrieben und kulturelle Differenzen wahrgenommen wurden. Dadurch wurde man sich der eigenen kulturellen Gemeinsamkeiten bewusst76. Carpini und auch sein Auftraggeber Papst Innozenz IV. verstanden bereits: Wenn die Christenheit siegreich aus den Begegnungen mit den Mongolen hervorgehen sollte, so half es wenig, diese als apokalyptische Heerscharen zu verteufeln und sich von der Angst vor dem Jüngsten Tag lähmen zu lassen. Bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts begann Europa in der Begegnung mit den Mongolen zu erkennen, dass Wirklichkeit nicht durch Übertragung hergebrachter Konzepte und Erfahrungen wiedererkannt, sondern durch eine systematische Erforschung des Unbekannten neu konstruiert werden muss. Dies war der erste Schritt in einem Erkenntnisprozess, welcher sich durch Spätmittelalter und frühe Neuzeit zog und in ein Zeitalter der Entdeckungen mündete.

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Isabel Grimm-Stadelmann

Zoe. Purpurgeborene Prinzessin, Kaiserin und Alchemistin mit antichristlichen Zügen? In memoriam Klaus Alpers (1935–2022)

Wie Wolfram Brandes am Beispiel des byzantinischen Kaisers Anastasios I. (430– 518, reg. 491–518) und der entsprechenden Quellensituation detailliert gezeigt hat1, bilden eschatologische Deutungen,2 und dabei insbesondere diverse Spielarten der Antichristvorstellungen,3 ein ganz wesentliches Element der Kaiserkritik. Die Projektion ausgewählter Motive des Antichristlichen auf unterschiedliche Herrscherpersönlichkeiten – neben besagtem Kaiser Anastasios I. wäre hier vorrangig Justinian I. (um 482–565, reg. 527–565) zu erwähnen – war zusätzlich zu chronologischen Faktoren4 und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen (z. B. Naturkatastrophen5, Seuchenzügen oder astrologischen prodigia) ganz stark vom individuellen Charakter der Herrscherpersönlichkeiten, aber auch von der jeweiligen Schwerpunktsetzung der entsprechenden Berichterstattung bzw. Quellensituation abhängig. Dabei ist zu beobachten, dass nicht immer sämtliche Motive gleichermaßen zum Tragen kommen, sondern 1 Brandes, Anastasios, 24–63, bes. 56–63; vgl. auch ders., Literatur, 307. 2 Detaillierter Überblick mit umfassender Bibliographie: Brandes, Predictions, 32–63; ders., Literatur, 308–322; Magdalino, History, 4–7, 15–19, 25f. (Renaissance der Apokalypse des Johannes im 10. Jahrhundert). 3 Zum Antichrist in Theologie und Politik, Literatur und Ikonographie vgl. die entsprechenden und im Literaturverzeichnis angegebenen Lemmata von Ess, Auty und Binding, jeweils mit ausführlicher Bibliographie; vgl. ferner den Band von Brandes/Schmieder, Antichrist, dessen Einzelbeiträge die unterschiedlichen Spielarten und Schwerpunkte der Antichristvorstellungen in sämtlichen mittelalterlichen Kulturkreisen eingehend und vergleichend analysieren. Die Einleitung beinhaltet ferner einen ausführlichen und überaus fundierten Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum »Antichrist« mit umfassender Bibliographie (ebd. VIII– X). 4 Zur Chronologie des Weltendes und des Erscheinens des Antichrist vgl. Brandes, Predictions, 44. 5 Vgl. Brandes, Literatur, 305–322; ders., Predictions, 51f., mit Verweis auf Kosmas Andritzopoulos (1274) und ausführlicher Analyse der endzeitbezogenen Schilderung solcher Ereignisse in hagiographischen und historischen Quellen sowie in Abhängigkeit von politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Vgl. bes. die Quellensituation des 10. Jahrhunderts (ebd. 46– 48): Die geschilderten apokalyptischen Szenarien und Naturkatastrophen passen sehr gut zu Psellos’ Bericht über Zoes unkonventionelles Verhalten.

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deren Gewichtung und Wertigkeit der Zielsetzung der Gesamtschilderung sowie der beabsichtigten Intensität der Herrscherkritik angepasst werden. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich mein Beitrag auf einzelne Motive des Antichristlichen, die der byzantinische Universalgelehrte Michael Psellos (1018–1078)6 in seiner »Chronographia«7 gezielt zur kritischen Charakterisierung der purpurgeborenen (πορφυρογέννητος)8 Prinzessin und späteren Kaiserin (βασιλίς)9 Zoe (978–1050, reg. April – Juni 1042), der zweitgeborenen Tochter Kaisers Konstantinos VIII. (960–1028, reg. 1025–1028)10, verwendet. Sowohl Zoe selbst wie auch ihre jüngere Schwester Theodora (985–1056)11 standen zunächst im Mittelpunkt von Heiratsverhandlungen mit westlichen Herrschern, die aber aus unterschiedlichen Gründen nicht weiterverfolgt wurden.12 Als Legitimationsträgerin13 verhalf Zoe sowohl ihren drei Ehemännern Romanos III. Argyros (968–1034, reg. 1028–1034)14, Michael IV. Paphlagon (1010–1041, reg. 1034–1041) und Konstantinos IX. Monomachos (1000–1055, reg. 1042–1055)15 wie auch dem von ihr adoptierten Michael V. Kalaphates (?–1042, reg. 1041–1042)16 zur Kaiserwürde; darüber hinaus regierte sie vor ihrer Vermählung mit Konstantinos Monomachos zusammen mit ihrer Schwester Theodora einige Monate des Jahres 104217 selbst als Kaiserin. 6 Zu Biographie und Œuvre von Michael Psellos vgl. Papaioannou, Michael Psellos, 2013. 7 Im Folgenden zitiert nach der Edition von Reinsch 2014 als Chronogr. (mit Kapitelangabe); die Übersetzung zitiert als Reinsch 2015. 8 Gamillscheg, Zoe und Theodora, 397 Anm. 7; Herrin, Influence, 204, 240f. 9 Zur Titulatur vgl. Gamillscheg, Zoe und Theodora, 399; Herrin, Influence, 231. 10 Lilie, PMBZ 3, 531–535 (Nr. 23735); zu Zoe vgl. ebd. 6, 762f. (Nr. 28508). 11 Ebd. 6, 291f. (Nr. 27605). 12 Vgl. ebd. 6, 762f.; Gamillscheg, Zoe und Theodora, 397; Herrin, Influence, 311. 13 Gamillscheg, Zoe und Theodora, 397–401, bes. 397 Anm. 7; Hill, Women, 41, 52f.; dies./James/ Smythe, Zoe, 216–225. 14 Lilie, PMBZ 5, 602–604 (Nr. 26835). 15 Ebd. 3, 536 (Nr. 23736); Schreiner, Konstantin, 1378. 16 Zu Anklage und Verbannung Zoes durch Michael V. Kalaphates sowie dem daraus resultierenden Volksaufstand am 19. April 1042 vgl. ausführlich Gamillscheg, Zoe und Theodora, 397–401, bes. 397 Anm. 8 (zur Anklagebegründung); Hill, Women, 46–48; dies./James/ Smythe, Zoe, 217f., 226–228. Zoe wurde das Verbrechen des crimen laesae maiestatis (καθοσίωσις) zur Last gelegt, was Garland, Empresses, 136, mit den gegenüber Zoe bestehenden Vorbehalten seitens ihrer Zeitgenossen begründet; doch liegt der Anklage vielmehr ein Versuch Michaels V. zugrunde, unabhängig von der Legitimation durch Zoes dynastische Verankerung die eigene Machtstellung zu festigen. 17 Zur eschatologischen Bedeutung dieses Jahres vgl. Brandes, Liudbrand, 462, ders., Predictions, 44, unter Hinweis auf die Handschrift Dresden, Sächsische Landesbibliothek. Staatsund Universitätsbibliothek Dresden, MS A. 187 (16. Jahrhundert), die eine Sammlung eschatologischer Texte enthält, sowie einen Brief des Niketas David Paphlagon, der das Jahr 1041 als mögliches Ende der Welt nennt. Darüber hinaus fällt Zoes Lebenszeit in einen Zeitraum, für den eine Vielzahl einschlägiger Quellen unterschiedliche Daten für das unmittelbar bevorstehende Weltende errechnet haben, so z. B. die Jahre 987/88, 997, 1000, 1025/ 26 etc. Ausführlich zu diesen Berechnungen und den relevanten Quellen vgl. Brandes, Li-

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Den einschlägigen Quellen18 zufolge war Zoe zweifelsohne eine bemerkenswerte Frau von durchaus ambivalenter Persönlichkeitsstruktur, doch wurde sie, anders als der bereits erwähnte Kaiser Anastasios, niemals explizit als Antichristfigur geschildert oder mit dieser Motivik überhaupt in Verbindung gebracht. Die »Chronographia« des Michael Psellos ist die einzige Quelle, die indirekt und ausschließlich in vielsagenden Anspielungen die Charakterzüge Zoes mit einzelnen Motiven des Antichristlichen verknüpft, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf die »vier Arten von Verführungen des Antichrist« gelegt wird, »1) divitiae; 2) terror; 3) sapientia; 4) signa et prodigia«.19 Im Unterschied zu Prokops Charakteristik des »antichristlichen« Justinian als »reichsvernichtende« Herrscherpersönlichkeit20 bescheinigt Psellos der Zoe hingegen nur ein »reichsschädigendes« Handeln, das aber keineswegs in eschatologischem Kontext steht, sondern ausschließlich Ergebnis ihrer moralischen Verfehlungen ist. Ganz im Sinne der Antichristmotivik charakterisiert Psellos Zoe somit als extravagant, maßlos und verschwendungssüchtig (divitiae)21, sowie äußerst skrupellos, unbeherrscht, jähzornig und arrogant (terror).22 Sie besaß weitreichende Kenntnisse (sapientia) über die materia alchemica und so manche giftige Substanzen (φάρμακα), zudem war sie in unterschiedlichen Formen angewandter Magie (Amulettwesen und Wahrsagerei) bewandert.23 Physische »Antichristmerkmale«, wie z. B. unterschiedliche Augenfarben – »δίκορος«, als Merkmal Kaisers Anastasios I.24 – werden Zoe nirgends bescheinigt, doch betont Psellos mehrfach den dämonischen Charakter von Zoes geradezu unheimlicher Schönheit, auf die das Alter keinen Einfluss zu haben schien (signa et prodigia).25

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udbrand, 459–463, und Sˇevcˇenko, Texts, 561–578; zu Zoes und Theodoras gemeinsamer Regierung vgl. Hill/James/Smythe, Zoe, 228f. Chronogr. III/1–6, 17–26; IV/1–8, 16–23; V/5, 17–51 und VI/1–14, 58–68, 157–160, 183; Thurn/ Johannes Skylitzes 373f., 375f., 389–391, 392, 403, 416–421, 422f., 433f., 477f.; BüttnerWobst/Johannes Zonaras 572–574, 581–587, 595–597, 609–616, 618–621, 647f.; vgl. ferner entsprechende Notizen in den Schreiner/Kleinchroniken I/14, 64–68 (142f.), I/15, 8–12 (159), I/16, 10–14 (165–167). Bousset, Antichrist, 40 führt die entsprechende lateinische Tradition (»Elucidarium« des Honorius von Autun, III/10) auf Hieronymus und dessen Auslegung zu Dan 11,39 zurück; vgl. auch Bousset, Antichrist Legend, 64. Zu den Grundlagen der Antichristsemantik im östlichen Christentum vgl. Rizzi, L’ombra, 1–13. Vgl. dazu ausführlich Brandes, Anastasios, 43 Anm. 131. Chronogr. III/5; VI 157–160; Garland, Empresses, 138; Hill, Women, 54, mit dem Hinweis, dass Einschränkungen ihrer Verfügungsgewalt über die kaiserliche Schatzkammer für Zoe stets ein ausschlaggebender Konfliktpunkt waren. Chronogr. III/21, 23; 26; IV, 4, 157–159; Garland, Empresses, 138. Chronogr. VI/64, 66; vgl. Laskaratos, Κύλικες, 238. Brandes, Anastasios, 60. Chronogr. VI/157.

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Nach Zoes Tod lässt Psellos26 die gesamte auf sie projizierte Antichristmotivik, quasi als eine Art Lebensresümee, Revue passieren: Maßlos und übertrieben ist die Trauer ihres Gemahls, der sich, entweder aus Furcht oder in Erwartung reicher Belohnung, zahlreiche Personen anschlossen (divitiae und terror). Zoes Grabstätte wird zudem Schauplatz einer chemischen Reaktion (sapientia), die als Wunder (signa et prodigia) interpretiert wird: »Nachdem jedenfalls die Kaiserin Zoe diese Welt in hohem Alter verlassen hatte, blieb ihm (sc. Konstantinos IX.) tief im Herzen die Sehnsucht nach ihr zurück, so dass er nicht nur laut um sie klagte und ihr Grab mit Tränen benetzte und auch nicht nur die Gottheit gnädig für sie zu stimmen suchte, sondern er wollte ihr gottgleiche Ehre zukommen lassen. Als zum Beispiel eine der Säulen um ihr Grab, welche ringsum mit Silber umkleidet war, an einer Stelle, wo das kostbare Material eingerissen war, Feuchtigkeit angezogen hatte und einen kleinen Pilz auf ganz natürliche Weise hatte hervorsprießen lassen, da war er voller Verzückung und erfüllte den Kaiserpalast mit lauten Rufen, dass der Allmächtige ein Wunder getan habe am Grabe der Kaiserin, damit alle wüssten, dass ihre Seele unter die Engel aufgenommen worden sei. Niemand war sich über das, was tatsächlich geschehen war, im Unklaren, doch alle nährten eine Begeisterung, die einen aus Furcht, die anderen, weil sie seine Fiktion zu einer Quelle für ein Leben in Reichtum machten.« (Übers. Reinsch 2015, 525)27

In der Folge werden nun einige ausgewählte Textpassagen aus Psellos’ »Chronographia« über Wesen und Handeln Zoes vor dem Hintergrund der Antichristmotivik im Einzelnen analysiert.

Das Motiv der Maßlosigkeit: Zoes Kinderlosigkeit: Medizin und Iatromagie Die altersbedingte Kinderlosigkeit des Kaiserpaares und diverse fruchtlose Versuche, Abhilfe zu schaffen, sowie die daraus resultierende fortschreitende Entzweiung der Ehepartner gab Psellos die Möglichkeit, erstmals einzelne Elemente der Antichristmotivik in seinen Bericht einzuflechten. Die Konfrontation der Charaktereigenschaften beider Ehepartner – wobei sich Zoes zu Maßlosigkeit und Übertreibung neigendes, geradezu dämonisches Wesen deutlich von der Schlichtheit und Ignoranz ihres Gemahls abhebt – lässt keinen Zweifel daran, dass Romanos seiner Gemahlin in keinster Weise ebenbürtig ist: »Und es scheint, als habe er (sc. Romanos Argyros) nicht einmal so viel Scharfsinn besessen zu erkennen, dass die Tochter des Konstantinos […] das gebärfähige Alter bereits überschritten hatte und ihr Leib bereits untauglich für das Gebären von Kindern 26 Chronogr. VI/183; Übers. Reinsch 2015, 525; Garland, Empresses, 155f. 27 Chronogr. VI/183.

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war. Sie stand nämlich im 50. Lebensjahr, als sie mit Romanos vermählt wurde. Doch selbst trotz des physischen Unvermögens hielt er umso mehr an seinem Wunsch fest; weshalb er […] sich auch ebenso mit solchen Leuten einließ, die behaupten, dass sie die Natur zum Versiegen und wieder aufleben lassen können, und sich Einreibungen und der Einnahme von Tränken unterzog (ἀλείμμασί τε καὶ τρίμμασιν ἑαυτὸν ἐδίδου) und auch seine Frau dazu anwies. Sie aber tat sogar noch mehr (ἡ δ᾽ ἔτι καὶ πλέον ἐποίει τελουμένη τὰ πλείω), indem sie allerhand magische Praktiken befolgte und irgendwelche Steine am Körper trug (ψηφίδας τινὰς προσαρμοζομένη τῷ σώματι), sich mit Amuletten behängte (προσαρτῶσα τὲ ἑαυτὴν προσαρτήμασι) sowie Bänder umband (ἄμμασι περιδέουσα) und den übrigen Unfug (τὴν ἄλλην φλυαρίαν) an ihrem Körper zur Schau stellte.« (Übers. Reinsch 2015, 127)28

Hier thematisiert Psellos erstmals das Motiv der Maßlosigkeit bei Zoe (ἡ δ᾽ ἔτι καὶ πλέον ἐποίει τελουμένη τὰ πλείω), das in der Folge zentrales Leitmotiv ihrer Charakterisierung werden sollte. Während sich der Kaiser auf medizinische Maßnahmen (ἀλείμμασί τε καὶ τρίμμασιν) verließ, ergänzte Zoe dieses Konzept noch um etliche iatromagische Komponenten in Form von Amuletten und Talismanen.29

Das Motiv des Terrors I: Giftanschläge und Mordkomplotte Psellos berichtet über Gerüchte, dass Zoe und ihr Liebhaber Michael Paphlagon, der spätere Kaiser Michael IV., mehrere Anschläge auf das Leben des Kaisers Romanos III. Argyros verübt hätten. Angeblich sei Zoe fest davon ausgegangen, bald an der Seite ihres Geliebten zu herrschen und habe sowohl diesen Wunsch wie auch ihre Liebe zu Michael in der für sie charakteristischen maßlosen Weise zum Ausdruck gebracht.30 Psellos verknüpft das Maßlosigkeitsmotiv mit dem Motiv der divitiae, hier in seiner ureigensten Form, als Manifestation der antichristlichen Verführungsstrategie: »Dass sie ihn wie eine Statue schmücken (περικαλλύνειν τοῦτον ὥσπερ ἄγαλμα) und vergolden und ihm mit Fingerringen und golddurchwirkten Gewändern Glanz verleihen wollte, halte ich nicht für verwunderlich […] Sie aber ließ ihn bisweilen heimlich vor den Leuten im Palast (λανθάνουσα τοὺς πολλούς) sogar an ihrer Stelle auf dem Thron Platz nehmen (ἐπὶ τὸν βασιλικὸν θρόνον ἐκάθιζεν ἀναλλάξ) und gab ihm auch ein Szepter

28 Chronogr. III/5. 29 Hill, Women, 44; zu unterschiedlichen Spielarten der iatromagischen Ergänzungstherapie vgl. Grimm-Stadelmann, Untersuchungen, 287–294. 30 Thurn/Johannes Skylitzes 389, beschreibt die Verliebtheit der Kaiserin als »dämonisch« und »manisch«: πρὸς τοῦτον ἡ βασιλὶς ἔρωτα δαιμωνιώδη σχοῦσα καὶ μανικόν, womit er dem Maßlosigkeitsmotiv zusätzlichen Nachdruck verleiht; vgl. auch Hill, Women, 44; dies./James/ Smythe, Zoe, 225f.

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in die Hand (σκῆπτρον ἐνεχείριζε), und manchmal würdigte sie ihn gar des Diadems (ταινίας ἠζίωσε).« (Übers. Reinsch 2015, 155)31

Obgleich die gesamte Umgebung des Kaisers und auch seine Schwester Pulcheria bereits Verdacht geschöpft und ihn mehrfach vor Anschlägen auf seine Person gewarnt hatten,32 berücksichtigte dieser die Warnungen nicht einmal dann, als ein nicht näher spezifiziertes Mordkomplott gerade noch rechtzeitig verhindert wurde: »Als seine Schwester Pulcheria und einige der mit der Wartung des Schlafzimmers betrauten Diener das Mordkomplott gegen ihn (τὸν κατ’ αὐτοῦ συσκευαζόμενον θάνατον) aufdeckten, ihn darüber aufklärten und eindringlich baten, sich in Acht zu nehmen, ließ er nicht etwa, was er leicht hätte tun können, den heimlichen Ehebrecher beseitigen und damit der ganzen Affäre ein Ende setzen […], sondern er […] traf überhaupt keine Gegenmaßnahmen in dieser Angelegenheit.« (Übers. Reinsch 2015, 157)33

Das Motiv des Terrors wird sukzessiv gesteigert, indem die dem Kaiser nahestehenden Personen erfolgreich eliminiert werden: »Das hatte ich […] schon gesagt, nämlich dass zwar der Kaiser den Verdacht oder die vollendete Tatsache einer Liebesaffäre mit Gelassenheit (εὔκολος) hinnahm, seine Schwester Pulcheria jedoch und alle, die damals zu ihren engen Vertrauten gehörten, äußerst empört (ἐμεμήνει) waren. Gegen diese nun wurden die Bataillone in Stellung gebracht (ἡ μάχη καθίστατο), und die Aufstellung zur Schlacht blieb nicht im Dunkeln (ἡ μὲν παράταξις οὐκ ἀφανής), der Sieg hingegen geschah unter ungeklärten Umständen (ἐν ὑπονοίαις δὲ συμβεβήκει τὰ τρόπαια). Die Schwester starb nämlich nach kurzer Zeit, und von ihren Vertrauten ereilte den einen plötzlich dasselbe Schicksal, ein anderer zog sich auf Wunsch des Autokrators vom Hofe zurück. Von den übrigen bekundeten die einen ihr Einverständnis mit der Sache und die anderen hielten den Mund.« (Übers. Reinsch 2015, 159 und 161)34

Terror und Einschüchterung sind hier die hervorstechenden Merkmale, verstärkt durch die bewusst eingesetzte Kriegsmetapher (ἡ μάχη καθίστατο), wobei die »Schlacht« weniger im offen ausgetragenen Kampf als vielmehr in hinterhältigen, mit dem Überraschungseffekt arbeitenden Handlungen bestand: Pulcheria und deren Vertraute finden ein allzu plötzliches Ende35, andere Getreue werden vom Hof verbannt, sodass der Kaiser zunehmend isoliert wird.

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Chronogr. III/20. Vgl. Hill, Women, 44. Chronogr. III/21. Chronogr. III/23. Laskaratos, Κύλικες, 161, 240 interpretiert die entsprechenden Quellen dahingehend, dass Pulcheria auf Veranlassung Zoes vergiftet wurde, sehr wahrscheinlich mit Arsen.

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Das Motiv des Terrors II: Die Erkrankung des Kaisers Mehrere Quellen berichten analog über eine mysteriöse tödliche Krankheit, die Kaiser Romanos III. ganz plötzlich befallen hatte.36 Psellos beschreibt diese sehr detailliert als Ganzkörpersymptomatik mit eitrigem Ausschlag, einhergehend mit gravierender Wesensveränderung, Anorexie und Schlaflosigkeit: »[…] den Autokrator befiel eine Krankheit von ungewöhnlicher und schlimmer Art (νόσημα τῶν ἀήθων καὶ χαλεπῶν); sein ganzer Körper entzündete sich nämlich plötzlich und wurde eitrig (ὅλον γὰρ ἀθρόον τὸ σῶμα, καὶ κακόηθες αὐτῷ ἐγεγόνει καὶ ὕπουλον37). Von da an rührte er Speise kaum noch an, und auch der Schlaf ließ sich nur oberflächlich auf seinen Augenlidern nieder und flog rasch wieder davon; und alle möglichen unangenehmen Züge, die man vorher nicht an ihm kannte, stellten sich bei ihm ein: ein schroffes Wesen, eine mürrische Gemütsverfassung, Zorn, Wut und lautes Herumschreien. Er, der sein Leben lang von frühester Jugend an ein umgänglicher Mensch (εὐπρόσιτος) gewesen war, wurde jetzt unzugänglich (δυσπρόσιτος) und ging auch selbst auf niemanden mehr zu; denn das Lachen hatte ihn verlassen, und auch seine heitere Anmut (ἡ τῆς ψυχῆς χάρις) und liebenswürdige Art.« (Übers. Reinsch 2015, 161)38

Psellos’ Schilderung des Kaisers als »lebender Leichnam«39 basiert neben entsprechenden Quellen auf Autopsie: »Ich jedenfalls habe ihn oftmals bei den Prozessionen in diesem Zustand gesehen (ich war damals noch nicht ganz 16 Jahre alt), wie er sich nämlich kaum von einem Leichnam unterschied (βραχύ τι τῶν νεκρῶν διαφέροντα). Denn sein ganzes Gesicht war aufgedunsen (ἐξῳδήκει τὸ πρόσωπον) und seine Gesichtsfarbe war um nichts besser als die von Toten, die erst am dritten Tag beerdigt werden (τὸ χρῶμα οὐδέν τι κάλλιον εἶχε τῶν τριταίων περὶ τὰς ταφάς). Sein Atem ging rasch (ἀπέπνει τὲ πυκνῶς) und nach ein paar Schritten musste er schon wieder stehenbleiben. Von seinen Kopfhaaren waren ihm die meisten ausgefallen wie bei einem toten Körper (ὥσπερ ἀπὸ νεκροῦ σώματος) […] Alle anderen hatten ihn bereits aufgegeben, er selbst aber war durchaus nicht ohne Hoffnung, sondern hatte sich der ärztlichen Kunst überantwortet (ι᾿ατρικαῖς τέχναις ἑαυτὸν ἐδεδώκει) und suchte von dort sein Heil zu gewinnen (κἀκεῖ τὴν σωτηρίαν ἑαυτῷ ἐμνηστεύετο).« (Übers. Reinsch 2015, 163)40

36 Laskaratos, Κύλικες, 149–161; vgl. auch Hill, Women, 44f. 37 Die verwendete Terminologie ist in den medizinischen Texten so nicht gebräuchlich: ὕπουλος bzw. ὕπουλον erscheint gelegentlich im Schrifttum Galens sowie bei Oreibasios und Aetios in Zusammenhang mit Anfallsleiden, bei dem Aktuarios Johannes Zacharias im Rahmen seiner Uroskopie. Nur bei Galen und Diokles steht ὕπουλος im Kontext mit Geschwüren, jedoch nicht in Kombination mit κακοήθος. 38 Chronogr. III/24. 39 Zur Verortung des Begriffs in der Lepraterminologie vgl. eine anonyme Eulogie auf Johannes Chrysostomos (60,17–67,1): Miller/Nesbitt, John Chrysostom, 33–43; dies., Corpses, 186–191. 40 Chronogr. III/25.

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Als mögliche Ursache für des Kaisers Erkrankung wird eine längerfristige kontinuierliche Vergiftung vermutet: »Ob nun das Liebespaar selbst und diejenigen, die an der Sache beteiligt waren (οἱ τοῦ πράγματος κοινωνοί), ein Verbrechen der frevelhaftesten Art an ihm begangen haben, vermag ich nicht zu sagen […]. Für alle anderen aber steht einhellig fest (κοινὸν τοῦτο τέθειται ὁμολόγημα),41 dass man den Mann zunächst unter Drogen gesetzt (πρότερον φαρμάκοις καταγοητεύσαντες) und ihm dann Nieswurz (ἑλλέβορον) verabreicht hat.« (Übers. Reinsch 2015, 163)42

Dioskurides unterscheidet im vierten Buch (Kap. 148 und 162) zwei Arten43 von ἑλλέβορος, wovon Veratrum album (Weißer Germer) insbesondere als Emetikum (Brechmittel) verwendet wird, Helleborus orientalis hingegen sowohl als Laxativ wie auch bei neuropsychiatrischen Erkrankungen (Epilepsie, Melancholie, Mania und Paralyse), Gelenkleiden (Arthritis) und Dermatosen zur Anwendung kommt:44 »Sie bewährt sich bei Epilepsie, Melancholie, Manikern, Arthritis und Paralyse […]. Mit Weihrauch, Wachs, Molke und Fichten- oder Zedernöl aufgestrichen, dient sie zur Behandlung von Krätze; mit Essig oder unvermischt aufgelegt, bewährt sie sich gegen Leukoplakien, Flechten und schuppige Dermatosen.« (Übers. Aufmesser 2002, 272)45

Im Falle von Romanos III. Argyros lässt sich vermuten, dass ihm Helleborus orientalis als harmlos erscheinendes Medikament (als Laxativ zur Purgierung oder im Rahmen einer dermatologischen Therapie) verabreicht wurde. Ioannes 41 So auch für Thurn/Johannes Skylitzes 389f., der davon überzeugt ist, dass eine regelmäßige Giftdosis die Lebenskraft des Kaisers sukzessive geschwächt und schließlich ganz zum Erliegen gebracht habe. Skylitzes’ Bericht wird von Michael Glykas weitgehend übernommen, wobei dieser von βραδυθανάτοις φαρμάκοις spricht. Abgesehen von Matthaios von Edessa (III/ 198) behauptet jedoch keine Quelle eine eigenhändige Verabreichung des Giftes durch Zoe selbst: Laskaratos, Κύλικες, 153 Anm. 2. 42 Chronogr. III/26. 43 Ausführlich zu Botanik und Toxikologie vgl. Laskaratos, Κύλικες, 155, mit detaillierter Analyse der einschlägigen Vergiftungssymptome, die denen des Romanos III. Argyros nahezu deckungsgleich entsprechen: »[…] γαστρεντερικές διαταραχές, ανορεξία, σιελόρροια, αιματέμεση από ρήξη των τριχοειδών του στομάχου, αραίωση της αναπνοής που φθάνει μέχρι απνοίας, ιλίγγους, λιποθυμίες, κεφαλαλγία και κυρίως μείωση της συστολής των γραμμωτών μυών – μετά αρχικούς σπασμούς.« 44 Sowohl die antike Medizin (»Corpus Hippocraticum« und pharmakologisches Schrifttum Galens) wie auch die byzantinische Heilkunde kennt eine Vielzahl unterschiedlichster Arzneimittel auf Helleborusbasis, mit Schwerpunkt in der Behandlung von Hauterkrankungen: zahlreiche Belege im »Dynameron« des Ailios Promotos, bei Oreibasios, Aetios, Paulos von Aigina und im »Dynameron« des Nikolaos Myrepsos, vereinzelte Rezepte auf Helleborusbasis auch bei Alexander von Tralleis, Paulos von Nikaia und Demetrios Pepagomenos. Vgl. dazu Laskaratos, Κύλικες, 154 Anm. 3 sowie 60–82, zur byzantinischen Toxikologie und den relevanten Quellen. 45 Wellmann/Dioskurides. Mat. Med. IV, 290–292 (cap. 148); 306–308 (cap. 162). Der griechische Text zur zitierten Übersetzung von Aufmesser steht bei Wellmann/Dioskurides IV, 308.

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Laskaratos diagnostizierte nach umfassender Analyse sämtlicher einschlägiger Quellenaussagen46 eine Art von »Mithridatismus«, ausgelöst durch ein anderes Gift, das dem Kaiser über einen längeren Zeitraum verabreicht wurde und die chronischen Symptome hervorgerufen habe; Helleborus habe er erst in der letzten Phase, sehr wahrscheinlich als Medikament zur Bekämpfung der chronischen Symptomatik, zu sich genommen.47 Der starke Haarausfall in Kombination mit den Ödemen schließe eine langfristige Helleborusvergiftung aus; in Betrachtung der Gesamtsymptomatik sei vielmehr eine regelmäßige Einnahme von Arsen über einen längeren Zeitraum hin plausibel.48

Das Motiv des Terrors III: Herrschermord im Bad? Das zentrale diesbezügliche Motiv stammt aus der antiken Mythologie und zwar aus der Atridensage, die vom Mord im Bad an Agamemnon durch dessen Gemahlin Klytaimnestra und deren Liebhaber Aigisthos berichtet.49 Der Mordanschlag auf Romanos III. Argyros, ebenfalls im Bad verübt, wird von Psellos gemäß seinen Gewährsleuten (οἱ καὶ τἄλλα πρὸς τοῦτο συνείροντες, vielleicht sogar Augenzeugen?) detailliert beschrieben. Die aktuelle Personenkonstellation zwischen Romanos, Zoe und deren Liebhaber Michael entspricht dabei exakt der mythologischen Motivik, einzig die Art des Mordes (Agamemnon wurde von Aigisthos mit einem Beil erschlagen) weicht ab: »Er machte sich also in sehr guter Verfassung (διαπρεπῶς) auf, um sich zu salben, zu waschen und sich verschiedenen Reinigungsprozeduren für seinen Körper (καθαρσίοις περὶ τὸ σῶμα) zu unterziehen. […] Dann gingen auch einige seiner Begleiter in das Becken hinein, um ihn zu stützen und es ihm bequem zu machen. So schien es wenigstens (ἔδοξεν). Aber ob sie, nachdem sie ins Becken gegangen waren, dem Autokrator irgendwie Gewalt angetan haben (παρηνόμησαν), kann ich nicht genau sagen. Es behaupten nun diejenigen, die auch alle übrigen Angaben zu dieser Sache beigetragen 46 Laskaratos, Κύλικες, 152f., wo er Psellos’ Schilderung mit den Berichten von Johannes Skylitzes (Thurn/Johannes Skylitzes 389f.), Georgios Kedrenos, Michael Glykas und Johannes Zonaras (584f.) vergleicht: sämtliche Quellen betonen den krankhaften Haarausfall (Joh. Skylitzes: τριχορρυεῖ γένυν τε καὶ τὴν κόμην, d. h. der Haarausfall bezieht sich auf Bart und Haupthaar gleichermaßen) des Kaisers und seine zunehmende Schwächung; hier begegnet auch die Leichnamsmetapher. Thurn/Johannes Skylitzes, 389, benennt als einzige Quelle nicht Zoe, sondern explizit Johannes Orphanotrophos, den Bruder Michaels, als verantwortlichen Rädelsführer: […] κατεργασθείς, ὥς φασιν, ὑπὸ Ἰωάννου τοῦ μετὰ ταῦτα ὀρφανοτρόφου. 47 Laskaratos, Κύλικες, 156, präzisiert somit unter Bezugnahme auf Psellos’ Aussage das klinische Bild: Επομένως η χρόνια συμπτωματολογία του Ρωμανού δεν οφειλόταν στο ελλέβορο, αλλά μόνο η πρόσφατη. Η αρχική κλινική εικόνα οφειλόταν στο άλλο δηλητήριο που χορηγήθηκε χρόνια. 48 Vgl. ebd. 156–161. 49 Vgl. Escher-Bürkli, Aigisthos, 972–974; Roscher, Aigisthos, 151–153.

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haben (οἱ καὶ τἄλλα πρὸς τοῦτο συνείροντες), dass sie, als der Autokrator seinen Kopf ins Wasser tauchte (das war nämlich eine Gewohnheit von ihm), seinen Nacken herunterdrückten (συμπιέσαντες αὐτοῦ τὸν αὐχένα) und so eine geraume Zeit lang festhielten (ἐπέσχον ἐπὶ χρόνον πολύν). Dann hätten sie losgelassen und seien hinausgegangen. Ihn aber habe offensichtlich die inwendige Atemluft an die Oberfläche gehoben (τὸν δὲ τὸ πνεῦμα κουφίσαν), kaum noch atmend (ἄπνουν), wie ein Korken planlos auf dem Wasser schaukelnd (τοῖς ὕδασιν ὥσπερ φελλὸν ἀλόγως ἐπισαλεύοντα). […] Jemand habe […] ihn so wie er war in elendem Zustand (ἀθλίως) aufs Bett gelegt. Daraufhin sei ein großes Geschrei entstanden, es waren plötzlich andere Leute da und auch die Kaiserin selbst (ἡ βασιλὶς αὐτή), ohne Gefolge (ἀδορυφόρητος), wie bei einem schrecklichen Trauerfall (ὡς ἐπὶ πένθει δεινῷ); und nach einem kurzen Blick sei sie wieder gegangen, nachdem sie sich durch Augenschein von seinem bevorstehenden Tod überzeugt hatte (τὸ πιστὸν τῆς τελευτῆς ει᾿ληφυῖα διὰ τῆς ὄψεως).« (Übers. Reinsch 2015, 165 und 167)50

Badekuren, sowohl Voll- als auch Teilbäder,51 waren wesentlicher Bestandteil zahlreicher byzantinischer Therapiekonzepte52, insbesondere zur Linderung dermatologischer Leiden.53 Die Schilderung von Zoes kaltblütiger Reaktion auf das unmittelbar bevorstehende Ende ihres Gemahls schließt Psellos’ Bericht ab und unterstreicht zudem das mit ihrer Person verbundene »Antichristmotiv« des Terrors. Das Erscheinungsbild des Leichnams des Kaisers, den Psellos während der feierlichen Aufbahrung selbst in Augenschein nehmen konnte, scheint die Vergiftungstheorie in jeder Hinsicht zu bestätigen:54

50 Chronogr. III/26. 51 So unterscheidet z. B. der byzantinische Arzt Alexander von Tralleis (6. Jahrhundert) lauwarme Vollbäder im Rahmen einer komplexen Fiebertherapie (Puschmann, 295), kombinierte Süßwasserbäder (warmes Vollbad in Kombination mit lauwarmen Kopfgüssen) gegen »Mania« und »Tobsucht«, also bei neurologischer oder psychopathologischer Symptomatik (ebd. 604), sowie gezielte Sitzbäder gegen Nierensteine (ebd. 465). Vgl. ferner das zusammenfassende Kapitel zur therapeutischen Bedeutung des Bades in der byzantinischen Medizin bei dem spätbyzantinischen Aktuarios Johannes Zacharias (ca. 1275–1330): Ideler/ Zacharias 374f.); zur kritischen Edition (I. Grimm-Stadelmann) dieser Abhandlung vgl. http://jza.badw.de und BAdW-Podcast: https://badw.de/die-akademie/presse/podcast/podc ast-details/detail/eine-burnout-therapie-aus-byzantinischer-zeit.html [eingesehen am 01. 08. 2021]. 52 Vgl. Zytka, History, mit Fokus auf der antiken und spätantiken Medizin; zum Bad in Byzanz vgl. Berger, Das Bad in der byzantinischen Zeit. Eine an Zytkas Untersuchung unmittelbar anschließende Studie mit Schwerpunkt auf der Badekultur und therapeutischen Bedeutung des Bades während der gesamten byzantinischen Zeit, unter Berücksichtigung der professionellen Spezialliteratur (»Xenonika«) sowie der einschlägigen byzantinischen Rezeptliteratur (»Dynamera« und »Iatrosophia«) ist nach wie vor ein Desiderat. 53 Vgl. zahlreiche Belege für komplexe Badetherapien bei Oreibasios, Aetios, Paulos von Aigina, Paulos von Nikaia, Demetrios Pepagomenos sowie in den »Dynamera« des Ailios Promotos und Nikolaos Myrepsos. 54 Vgl. dazu Laskaratos, Κύλικες, 152–163.

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»Als ich den Leichnam betrachtete, erkannte ich ihn zunächst nicht sicher, weder an der Farbe noch an seinen Zügen (οὔτε ἀπὸ τοῦ χρώματος· οὔτε ἀπὸ τοῦ σχήματος), sondern nur aus den Insignien (ἐκ τῶν παρασήμων) schloss ich, dass es der verstorbene Kaiser war. Sein Gesicht war nämlich ganz entstellt (διέφθαρτο), nicht weil es eingefallen gewesen wäre, sondern vielmehr aufgedunsen (ἐξῳδηκός), und seine Gesichtsfarbe war völlig verändert (τὸ χρῶμα πάντῃ ἠλλοίωτο), nicht wie die eines Toten (οὐχ᾽ ὡς νεκρῶδες), sondern sie glich vielmehr dem Teint von solchen Leuten, die durch das Trinken von Gift aufgeschwemmt und fahl sind (ἐῴκει τοῖς ἐκ φαρμακοποσίας ἀνοιδήσασι καὶ ὠχριακόσιν), so dass man meint, sie bildeten überhaupt kein Blut mehr.« (Übers. Reinsch 2015, 171 und 173)55

Das Motiv des Terrors IV und die Löwenmetapher: Zoes Inhaftierung im Palast Bereits kurz nach Regierungsantritt des neuen Kaisers, Michael IV., der seine Legitimation aus der unmittelbar nach Romanos’ Tod geschlossenen Heirat mit Zoe bezog, distanziert sich dieser von seiner Gemahlin: Psellos vermutet entweder aus schlechtem Gewissen, gepaart mit Reue über die mit ihr gemeinsam verübte Mordtat – oder aber aus Furcht vor einem Anschlag Zoes auf sein eigenes Leben. Aus diesem Grund ergreift er, wohl auf Anraten seines Bruders Johannes Orphanotrophos, entsprechende Schutzmaßnahmen, indem er Zoe in ihren Gemächern im Palast inhaftieren und unter strenge Bewachung stellen lässt: »Er [sc. Kaiser Michael IV.] misstraute ihr nämlich, da er aus eigener Erfahrung (οἴκοθεν) Gründe für sein Misstrauen hatte, und änderte den Spielraum der Freiheit, die sie hatte. Er unterband nämlich ihre gewohnten Ausflüge aus dem Palast und sperrte sie in die Frauengemächer ein (καὶ τὴν γυναικωνίτιν αὐτῇ περιέφραξεν) […]. Sie aber war darüber verbittert (ἐδριμύττετο) […], aber dennoch beherrschte sie sich (ἐπεῖχε δ᾽οὖν ὅμως) […] und passte sich wie die fähigsten unter den Rednern den jeweiligen Personen und Situationen an (μεθηρμόζετο) […]. Vielmehr hatten sie große Furcht vor ihr (ἐδεδοίκεσαν αὐτὴν σφόδρα), als sei sie eine Löwin (ὥσπέρ τινα λέαιναν), die nur im Augenblick ihre gefährliche Wildheit abgelegt habe, und sie sicherten sich vor ihr (κατησφαλίζοντο) durch jede Art von Absperrung, jede Art von Mauer.« (Übers. Reinsch 2015, 187 und 189)56

Zoe wird hier mit einer Löwin verglichen, womit Psellos ein Szenario heraufbeschwört, in dem die Kaiserin als furchteinflößende, ungezähmt-animalische Kreatur präsentiert wird, deren wilde Leidenschaften und Emotionen eine latente Bedrohung für ihre gesamte Umgebung sind. Darüber hinaus beinhaltet die Löwenmetapher unmittelbaren Bezug zur Antichristmotivik gemäß Hippolyt 55 Chronogr. IV/4. 56 Chronogr. IV/16f.

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(Περὶ τοῦ Ἀντιχρίστου, Kap. VI): »Ein Löwe ist Christus und ein Löwe der Antichrist […].«57 War die Angst Michaels begründet? Nicht Psellos, sehr wohl aber Johannes Skylitzes58 berichtet in der Tat von einem weiteren Giftanschlag auf Zoes Betreiben hin, dessen Ziel diesmal Johannes Orphanotrophos gewesen sei. Zoe habe dessen Leibarzt bestochen, um ihm ein (höchstwahrscheinlich aus Zoes Produktion stammendes) Gift in seine gewohnte Medizin zu mischen. Der Anschlag misslang jedoch, woraufhin der Arzt samt seinen Mitwisser in die Verbannung geschickt, Zoe selbst jedoch umso strenger bewacht wurde. Zusammenfassend erwies sich Zoe also als äußerst effektive Giftmischerin, weshalb die Furcht Michaels IV. sicher keineswegs unbegründet war: Michaels eigener Tod wurde zwar gemeinhin als Resultat seines epileptischen Leidens verstanden, doch seien, einigen Quellen zufolge, auch bei ihm sonderbare und denen des Romanos ganz ähnliche Schwellungen im Gesichtsbereich aufgetreten…59

Das Motiv der Sapientia und Höllenmetapher: Alchemie und Parfümherstellung In krassem Gegensatz zu ihrer übertriebenen Religiosität – selbst hier kommt das Motiv der Maßlosigkeit zum Tragen – schildert Psellos Zoe in der Rolle einer – heidnischen! – Alchemistin, die sich gänzlich der Parfümherstellung widmet.60 Die Anspielung auf die Werkstätten am Markt sowie auf (niedrige) Handwerker erweckt den Eindruck, dass sich Zoe nicht nur ihres kaiserlichen Ranges unwürdig verhält, sondern in übertriebener Weise Tätigkeiten nachgeht, die für eine Frau und Kaiserin völlig unakzeptabel sind:61 »Nur eines betrieb sie mit Eifer und nur diesem galt all ihr Tun und Trachten, nämlich Variationen der natürlichen Düfte herzustellen und Parfums zu destillieren (τὰς τῶν ἀρωμάτων φύσεις μεταβάλλειν καὶ μυρεψεῖν) […]. Und ihr für die Nachtruhe abgetrennter Raum war um nichts vornehmer als die Werkstätten auf dem Markt (οὐδέν τι σεμνότερος ἦν τῶν ἐπὶ τῆς ἀγορᾶς ἐργαστηρίων), in welchen die Handwerke, die sich des Feuers bedienen (αἱ βαναυσοὶ τῶν τέχνων καὶ ἐμπυρίοι), betrieben werden; denn rings um 57 Vgl. Bousset, Antichrist, 15, Bousset, Antichrist Legend, 25. 58 Thurn/Johannes Skylitzes 403; vgl. auch Büttner-Wobst/Johannes Zonaras 595; detaillierte Analyse bei Laskaratos, Κύλικες, 200f. Laskaratos (161, 240) geht auch in diesem Fall, ähnlich wie bei Romanos, Pulcheria und deren Umgebung, von einer versuchten Arsenvergiftung aus. Vgl. auch Hill, Women, 46, 53; Garland, Empresses, 139f. 59 Laskaratos, Κύλικες, 240. 60 Vgl. ebd. 237; Hill, Women, 53f.; Mavroudi, Divination, 431f., 437–443, mit Hinweis auf den bewussten Einsatz alchemistischer, aber auch philosophischer, theologischer und vor allem patristischer Fachterminologie durch Psellos. 61 Vgl. Herrin, Influence, 96f.

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ihren Schlafraum wurden etliche Feuerstellen unterhalten (πυρὰ γοῦν πολλὰ πέριξ τοῦ δωματίου αὐτῆς) […]. Im Winter nun konnte ihr Treiben wenigstens als etwas für sie Nützliches gelten, und das viele Feuer (τὸ πολὺ πῦρ) erwärmte ihr die kalte Luft, zur Sommerzeit hingegen schien es für alle übrigen kaum erträglich, dort auch nur vorbeizugehen. Sie dagegen, als sei sie unempfindlich gegen die Hitze (ἀναισθήτως τοῦ καύματος), war von den zahlreichen Feuern wie von einer Leibwache (ὑπὸ πολλοῖς ἐδορυφορεῖτο πυρσοῖς) umgeben.« (Übers. Reinsch 2015, 377 und 379)62

Sogar als Höllenfürstin wird Zoe hier präsentiert, die sich gänzlich mit Feuer umgibt und dieses Element vollkommen zu beherrschen scheint, indem sie es als eine Art Leibwache nutzt, wodurch das dämonische Bild noch intensiviert wird. Dies und der konstante Hinweis auf die stets unterschwellig vorhandene Maßlosigkeit und Übertreibungssucht Zoes impliziert eine weitere Spielart der Antichristmotivik in Kombination mit dem divitiae-Motiv, das Psellos dem Leser kontinuierlich ins Gedächtnis ruft.63

Die Motive der Sapientia und Maßlosigkeit: Frömmigkeit contra Dämonik, die Ikone des Christus Antiphonetes und divinatio Der unmittelbar anschließende Hinweis auf Zoes übersteigerte Gottesfurcht und Religiosität wirkt an dieser Stelle wie ein Zerrbild, das bewusst platziert wird, um die Ambivalenz ihrer Person, quasi das antichristliche Element ihres Charakters, weiter zu intensivieren: »Eines allerdings habe ich an ihr immer bewundert, nämlich dass sie an Gottesliebe (φιλοθεΐᾳ) alle Frauen, aber auch das ganze Männergeschlecht übertraf. Ebenso wie diejenigen nämlich, die sich durch Kontemplation mit Gott vereinigen (ἀνακραθέντες διὰ θεωρίας Θεῷ), mehr noch wie diejenigen, die noch darüber hinaus gelangt sind und, völlig in Gott aufgegangen (ἐνθεάσαντες), sich ganz an dieses Endziel ihres Strebens halten und diesem anhangen, so hat auch sie ihre glühende Verehrung (θερμότατον σέβας) der Gottheit in dem »ersten und reinsten Licht« (τῷ πρώτῳ καὶ ἀκραιφνεστάτῳ φωτί) sozusagen völlig aufgehen lassen64 […].« (Übers. Reinsch 2015, 379 und 381)65

Besagte Ikone des Christus Antiphonetes ist ein wundertätiges Christusbild, mit dem die Legende verbunden war, es habe im 7. Jahrhundert für einen Schuldner

62 Chronogr. VI/64. 63 Chronogr. VI/62; Übers. Reinsch 2015, 375, 377. 64 Als eine Art persönlicher ὁμοίωσις Θεῷ, ganz im Sinne von Gregor von Nazianz, den Psellos auch explizit zitiert: Mavroudi, Divination, 438 Anm. 29. 65 Chronogr. VI/65.

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die Bürgschaft übernommen (Antiphonetes).66 Den Quellenberichten zufolge besaß Kaiserin Zoe eine Kopie dieser Ikone, anhand derer sie die Zukunft voraussagen konnte. Ferner stiftete sie dem Christus Antiphonetes eine Kirche, in der sie nach ihrem Tod bestattet wurde.67 »Indem sie zum Beispiel auch »ihren«, um es einmal so auszudrücken, Jesus auf das Genaueste abbilden (διαμορφώσασα ἀκριβέστερον) und mit überaus prächtigem Material bunt ausschmücken ließ (καὶ λαμπροτέρᾳ ὕλῃ ποικίλασα), gestaltete sie sein Abbild so, dass es geradezu lebendig (μικροῦ δεῖν ἔμπνουν) war.68 Dieses gab nämlich durch seine Farben die erbetenen Antworten zu erkennen, und seine Färbung zeigte an, was in Zukunft geschehen würde (ἐδήλου τὰ μέλλοντα ἡ χροιά). Folglich sagte sie viele künftige Ereignisse voraus (κατεμαντεύετο).« (Übers. Reinsch 2015, 381)69

Die hier geschilderte Praxis stützt sich auf Motive aus den gräkoägyptischen »magischen« Papyri, worin Statuen und Bildwerke im Kontext der divinatio eine wesentliche Rolle spielen,70 verweist darüber hinaus aber auch auf Heliodors Schilderung der Geisterbeschwörung durch eine ägyptische Magierin.71 Die bewusste Bezugnahme auf solche Motive und die ihnen zugrundeliegenden Quellen lässt keinen Zweifel über Psellos’ tatsächliche Meinung hinsichtlich der übertriebenen und damit unnatürlichen Frömmigkeit der Kaiserin. Interessant ist dabei der Aspekt, dass Psellos den Anschein einer tiefverwurzelten Abneigung gegenüber den »heidnischen Schriften« vermitteln möchte, obgleich er sich sehr intensiv damit auseinandergesetzt hatte:72 »Mir ist zwar aus der Lektüre heidnischer Schriften (λόγους ἑλληνικούς) bekannt, dass der in die Luft aufsteigende Dampf der wohlriechenden Essenzen (τῶν ἀρωμάτων) die bösen Geister vertreibt (ἀπελαύνει μέν, τὰ πονηρὰ πνεύματα), die Anwesenheit der guten 66 Vgl. Patterson Sˇevcˇenko, Christus Antiphonetes, 439f.; Mavroudi, Divination, 431–460; Petzold, Christus Antiphonetes, 326–329, 335–337, 341–343; Herrin, Influence, 150, zur Rolle von Christusikonen im eschatologischen Kontext vgl. Magdalino, History, 15–19. 67 Vgl. Petzold, Christus Antiphonetes, 337f. 68 Zur Rolle von Christusbildern als Kindersatz vgl. die Ausstellung »Seelenkind« des Freisinger Diözesanmuseums 2013 mit begleitendem Ausstellungskatalog; zur entsprechenden Traditionsbildung vgl. Aris, Kind. 69 Chronogr. VI/66. 70 So z. B. die altägyptischen statues guérriseuses als Mittelpunkt diverser, auch divinatorischer Rituale: Jelínková-Reymond, Inscriptions; Gorrini, Statues, 107–130; Grimm-Stadelmann, Untersuchungen, 119, 133, 598, sowie Preisendanz/Albert Henrichs, PGM, I/98, mit einem Divinationsritual, in dessen Zentrum ein Sonnenskarabäus steht: Grimm-Stadelmann, Untersuchungen, 531 Anm. 662. Generell zu divinatio und divinatorischen Praktiken vgl. ebd. 119, 271, mit ausführlicher Bibliographie; zu byzantinischen Bildorakeln vor apokalyptischem Hintergrund vgl. Brandes, Literatur, 322. Psellos interpretiert Zoes Christusikone im Sinne des alttestamentarischen Ephoud, eines Kultobjekts, das von den Israeliten ebenfalls zur divinatio verwendet wurde: Mavroudi, Divination, 446–454. 71 Bekker/Heliodor 206f. 72 Mavroudi, Divination, 432–437, 448–450, mit Hinweis auf Psellos’ Kommentar zu den χαλδαϊκὰ λόγια.

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(τὰς τῶν κρειττόνων παρουσίας) dagegen in die zugrundeliegenden Substanzen hineinzieht, wie ja bei anderen Gelegenheiten auch Steine, Pflanzen und magische Praktiken (καὶ λίθοι· καὶ πόαι· καὶ τελεταί) 73 das Erscheinen des Göttlichen (τὰς θεοφανείας) anzeigen sollen. Doch habe ich diese Mär schon gleich, als ich sie las, nicht akzeptiert und ihr auch später nicht durch praktische Anwendung vertraut, sondern sie mit Steinwürfen (βαλὼν λίθοις) verjagt.« (Übers. Reinsch 2015, 381 und 383) 74

Implizite Antichristmotivik? Charakteristika der Kaiserin Zoe: Maßlosigkeit, divitiae und terror In einem abschließenden Kapitel fasst Psellos seine Charakteristik der Kaiserin Zoe zusammen, indem er, ungeachtet ihrer übertriebenen Religiosität, das Zerrbild eines christlichen Herrschers heraufbeschwört: In völliger Unkenntnis über die grundlegenden Anforderungen und Pflichten ihres kaiserlichen Amtes sei Zoes Wesen von Maßlosigkeit, Skrupellosigkeit, Willkür und Verschwendungssucht bestimmt, wobei sie in ihrer Grausamkeit und aus fehlgeleitetem Familiensinn ihrem Vater in jeder Hinsicht nacheifere. Die erneute Betonung ihrer Gottesfurcht vertieft die negative Persönlichkeitsstruktur umso mehr: »Als sie aber alt geworden war, stand es um ihre Verstandeskräfte nicht eben gut (οὐ πάνυ τι εἶχε τοῦ φρονήματος ἐρρωμένως). Ich will sie damit nicht als eine Person bezeichnen, die verrückt war (ὡς περὶ παραφόρου) oder völlig den Verstand verloren hatte (ἐξεστηκυίας), sondern als eine, die auch nicht die geringste Ahnung (ἀδαοῦς) von den Angelegenheiten des Staates hatte und dazu noch infolge kaiserlicher Maßlosigkeit verdorben war (ὑπὸ βασιλικῆς τε ἀπειροκαλίας διεφθαρμένης). Wenn sie denn überhaupt mit einem charakterlichen Vorzug (ψυχικῷ προτερήματι) ausgestattet war, so konnte ihre Urteilskraft nicht einmal diesen ungetrübt bewahren, sondern indem sie ihn in übertriebener Weise (πλέον ἢ δεῖ ἔχειν) an den Tag legte, ließ sie erkennen, dass dieser Vorzug nicht Großzügigkeit (οὐ φιλότιμον), sondern fehlendes Gespür für das richtige Maß (ἀπειρόκαλον) war. Positiv an ihr hervorzuheben ist jedoch ihre Verehrung für die Gottheit, denn hier kann ich ihr auch nicht das Übermaß vorwerfen (οὐδὲ γὰρ ἔχω ἐνταῦθα τὸ πλέον ἐπαιτιᾶσθαι) […]. Was aber ihr übriges Verhalten angeht, so war dieses einmal milde und weichherzig (ἁπαλός τε καὶ ἔκλυτος), dann jedoch wieder übertrieben hart und streng (σκληρὸς ἄγαν καὶ σύντονος), beides ohne jeden vernünftigen Grund (σὺν οὐδενὶ λόγῳ), und fast im selben Augenblick (παρὰ βραχύ) konnte ihr Verhalten derselben Person gegenüber ins Gegenteil umschlagen.« (Übers. Reinsch 2015, 497) 75

73 Evtl. eine Anspielung auf die im byzantinischen Zeitalter intensiv rezipierte spätantike Wissenssammlung der »Kyraniden«, basierend auf gräkoägyptisch-hermetischem Gedankengut, vgl. Grimm-Stadelmann, Untersuchungen, 47–286, bes. 103–118. 74 Chronogr. VI/67. 75 Chronogr. VI/157f.

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Implizite Antichristmotivik? Charakteristika der Kaiserin Zoe: signa et prodigia In das »antichristliche« Gesamtbild der Kaiserin fügt sich, gleichsam als dämonische Komponente, auch ihre unvergängliche physische Schönheit: »Obwohl sie bereits das siebzigste Lebensjahr überschritten hatte, hatte sie keine Falte im Gesicht (ῥυτίδα μὲν οὐκ εἶχεν), sondern blühte wie in jugendlicher (ὡς ἐπὶ νέῳ) Schönheit.76 Ihre Hände allerdings konnte sie nicht ruhig (οὐκ ἀτρόμως) halten, sondern zitterte stark (ἐκεκλόνητο).77 Auch war ihr Rücken gebeugt (συνεκεκύφει).78 […] Eines nur betrieb sie mit Eifer und setzte all ihre Energie darein, nämlich Gott ein Opfer darzubringen, ich meine nicht so sehr dasjenige durch Lobpreisung, geistige Zuwendung und Beichte, sondern jenes durch Wohlgerüche (δι᾽ ἀρωμάτων) und durch das, was vom Land der Inder und Ägypter in unser Land kommt (καὶ ὅση τῆς Ἰνδῶν καὶ Αι᾿γυπτίων γῆς ει᾿ς τὰ ἡμέτερα φοιτᾷ ὅρια). (160) Als aber die ihr zugeloste Zeit abgelaufen war und sie sterben sollte, gab ihr körperlicher Zustand dazu ein kurzes Vorspiel. Ihr schwand nämlich allmählich das Verlangen nach Nahrung, und da der Mangel immer größer wurde, rief er bei ihr ein tödliches Fieber (πυρετὸν ἐπιθανάτιον) hervor, und dadurch dass ihr Körper sich aufzehrte (συντηκόμενον) und gleichsam dahinschwand (μαραινόμενον), kündigte er ihren nahe bevorstehenden Tod an. Sogleich lässt sie die Gefängnisse öffnen, erlässt Schulden, befreit die Bedrückten aus ihrer Not, veranlasst die Öffnung der kaiserlichen Schatzkammern (ταμιεῖα τὲ βασιλικὰ ὑπανοίγνυσι) und lässt das dort gehortete Gold in Strömen fließen (ποταμηδὸν χεῖσθαι ἐᾷ τὸν ἐν ἐκείνοις χρυσόν). Während so das Gold derart großzügig (ἀφειδῶς), derart maßlos (ἀκρατῶς) ausgeschüttet wurde, schied sie nach kurzem Todeskampf und unter völliger Veränderung der Gesichtszüge (καὶ τὴν ὄψιν ἀλλοιωθεῖσα) aus dem irdischen Leben, nachdem sie zweiundsiebzig Jahre gelebt hatte.« (Übers. Reinsch 2015, 499 und 501) 79

Vor den Hintergrund der Antichristmotivik gestellt lässt Zoes Charakteristik eine neue und erweiterte Dimension der Antichristysmbolik im Rahmen einer subtilen Kaiserkritik als Spielart eines literarischen Topos erkennen: Die AntichristMetapher wird zum diagnostischen Medium, um ein detailliertes Psychogramm einer facettenreichen und durchaus ambivalenten historischen Persönlichkeit zu entwerfen, der, zusammen mit ihrer Schwester Theodora als den letzten Vertreterinnen des makedonischen Herrscherhauses, immerhin herausragende politische und gesellschaftliche Bedeutung zukam.

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Vgl. Garland, Empresses, 153. Wohl Anzeichen einer Parkinsonerkrankung: Laskaratos, Κύλικες, 238f. Wohl Osteoporose? Chronogr. VI/158–160.

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Barbara Hill, Imperial Women in Byzantium 1025–1204. Power, Patronage and Ideology, Harlow 1999. Barbara Hill/Liz James/Dion C. Smythe, Zoe. The Rhythm Method of Imperial Renewal, in: Paul Magdalino (Hg.), New Constantines. The Rhythm of Imperial Renewal in Byzantium, 4th–13th Centuries. Papers from the Twenty-Sixth Spring Symposium of Byzantine Studies, St Andrews, March 1992 (Publications of th Society for the Promotion of Byzantine Studies 2) Aldershot 1994, S. 215–229. Eva Jelínková-Reymond, Les inscriptions de la statue guérrisseuse de Djed-her-le-sauveur ˙ (Institut français d’archéologie orientale, Bibliothèque d’étude 23) Le Caire 1956. Ioannes Laskaratos, Κύλικες ζωής κατευναστρίαι. Ιστορική και ιατρική προσέγγιση στίς δηλητηριάσεις της βυζαντινής περίοδος, Athen 1994. Ralph-Johannes Lilie u. a. (Hg.), Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit (PMBZ), Abt. 2: 867–1025, 8 Bde., Berlin 2013. Paul Magdalino, The History of the Future and its Uses. Prophecy, Policy, and Propaganda, in: Roderick Beaton/Charlotte Roueché (Hg.), The Making of Byzantine History. Studies Dedicated to Donald M. Nicol (Centre for Hellenic Studies, King’s College London Publications 1) Aldershot 1993, S. 3–34. Maria Mavroudi, Licit and Illicit Divination. Empress Zoe and the Icon of Christ Antiphonetes, in: Véronique Dasen/Jean-Michel Spieser (Hg.), Les savoirs magiques et leurs transmission de l’Antiquité à la Renaissance (Micrologus’ Library 60) Firenze 2014, S. 431–460. Timothy S. Miller/John W. Nesbitt, Saint John Chrysostom and the »Holy Disease«. An Excerpt from an Unpublished Anonymous Eulogy (BHG 871; CPG 6517), in: Rivista di Studi bizantini e Neoellenici 42 (2005) S. 33–43. Timothy S. Miller/John W. Nesbitt, Walking Corpses. Leprosy in Byzantium and the Latin West, Ithaca/London 2014. Stratis Papaioannou, Michael Psellos. Rhetoric and Authorship in Byzantium, Cambridge 2013. Nancy Patterson Sˇevcˇenko, Art. Christus Antiphonetes, in: The Oxford Dictionary of Byzantium 1 (1991) Sp. 439f. Martin Petzold, Christus Antiphonetes. Ein ikonographischer Typos zwischen Mysterienbild und frommen Mystizismus, in: Michael Schneider/Walther Berschin (Hg.), Ab Oriente et Occidente (Mt 8,11), Kirche aus Ost und West. Gedenkschrift für Wilhelm Nyssen (Schriftenreihe des Zentrums Patristischer Spiritualität KOINONIA im Erzbistum Köln 43) St. Ottilien 1996, S. 323–343. Marco Rizzi, L’ombra dell’anticristo nel cristianesimo orientale tra tarda antichità e prima età bizantina, in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hg.), Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern, Berlin 2010, S. 1–13. Wilhelm Heinrich Roscher, Art. Aigisthos, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie I/1 (1886) Sp. 151–153. Peter Schreiner, Art. Konstantin IX., in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991) Sp. 1378. Ihor Sˇevcˇenko, Unpublished Byzantine Texts on the End of the World about the Year 1000 AD, in: Mélanges Gilbert Dagron (Travaux et Mémoires. Collège de France, Centre de Recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance 14) Paris 2002, S. 561–578. Michal Zytka, A Cultural History of Bathing in Late Antiquity and Early Byzantium, Abington 2019.

Autoren und Autorinnen

Christoph Augustynowicz ist außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Seine Forschungsinteressen gelten den frühneuzeitlichen Beziehungen der Habsburger zum östlichen Europa, der galizisch-polnische Grenzraumforschung, der Kulturgeschichte Polens, der Sozialgeschichte Polen(-Litauens) unter besonderer Berücksichtigung der Juden sowie Bildern und Stereotypen des östlichen Europas (Vampir[ismus]glaube) und der Historiographiegeschichte (Ostmitteleuropa-Konzeptionen). Zur Imagologie des östlichen Europa erschienen zuletzt: Kleine Kulturgeschichte Polens. Vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert, Wien 2017; (hg. mit Agnieszka Pufelska) Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2017; (hg. mit Dietlind Hüchtker/Börries Kuzmany) Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion. Östliches Europa, sozialgeschichtliche Interventionen, imperiale Vergleiche, Göttingen 2022. Simon Degenhart studiert seit dem Wintersemester 2018/19 Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit November 2020 arbeitet er am DFG-Forschungsprojekt »Der Winthirfriedhof – Eine anthropologisch-historische Pilotstudie« unter Leitung von Christof Paulus (LMU) und Michaela Harbeck (Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns). In seinem Studium beschäftigte er sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte des politischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert, mit Byzanz und Westeuropa zur Zeit Manuels I. Komnenos und mit der Wahrnehmung des Fremden im Mittelalter. In seiner Bachelor-Arbeit bei Kiran Klaus Patel beleuchtete er die Diskurs- und Intellektuellengeschichte des 19. Jahrhunderts am Beispiel des Reichsgedankens bei Constantin Frantz und Paul de Lagarde. Der vorliegende Aufsatz erwuchs aus einer Hauptseminararbeit zum Thema »Antichrist und die Wahrnehmung des Fremden«.

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Autoren und Autorinnen

Isabel Grimm-Stadelmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Privatdozentin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihr Forschungsschwerpunkt umfasst die spätantike und byzantinische Medizin, deren handschriftliche Überlieferung und die Edition byzantinischer medizinischer Gebrauchsliteratur. Zur Thematik erschienen von ihr zuletzt: Untersuchungen zur Iatromagie in der byzantinischen Zeit. Zur Tradierung gräkoägyptischer und spätantiker medizinischer Zaubertexte (Byzantinisches Archiv Series Medica 1) Berlin/Boston 2020; Das Kind als Patient. Quellensituation und Forschungsfragen zur Kinderheilkunde im byzantinischen Zeitalter, in: L’infanzia nell’alto Medioevo (Settimane di Studio della Fondazione Centro Italiano di Studi sull’alto Medioevo 68) Spoleto 2021, S. 199–257; Byzanz und das Abendland. Heilkunde im Dialog. Byzantinische Medizin im Spannungsfeld zwischen Ost und West, in: Erika Juhász (Hg.), Byzanz und das Abendland VII: Studia Byzantino-Occidentalia (Antiquitas, Byzantium, Renascentia 42) Budapest 2021, S. 97–162. Gerhard Langer ist Professor am Institut für Judaistik der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte gelten der biblischen Rezeptionsgeschichte, der rabbinischen Epoche, der jüdischen Kultur und Religion im Allgemeinen und der deutsch-jüdischen Literatur im Besonderen. Zur Thematik erschienen von ihm u. a.: »Die Kinder als Bürgen der Tora«. Psalm 8,3, ein rabbinisches Motiv und Soma Morgensterns Übersetzung, in: Marianne Grohmann/Ursula Ragacs (Hg.), Religion übersetzen. Übersetzung und Textrezeption als Transformationsphänomene von Religion (Religion and Transformation in Contemporary European Society 2) Wien 2012, S. 93–108; Visualisierung von Religion in Soma Morgensterns »Die Blutsäule«, in: Marion Meyer/Deborah Klimburg-Salter (Hg.), Visualisierungen von Kult, Wien/Köln/Weimar 2014, S. 96–106; Soma Morgenstern, der Midrasch und die exegetische Erzählung, in: Jacques Lajarrige (Hg.), Soma Morgenstern. Von Galizien ins amerikanische Exil (Forum: Österreich 1) Berlin 2014, S. 313–343. Daniel Luger ist Postdoc-Mitarbeiter an der Universität Graz und Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung sowie der Arbeitsgruppe Regesta Imperii der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Historischen Hilfswissenschaften (Diplomatik, Paläographie) und der spätmittelalterlichen Reichsgeschichte. Zur Höchstgerichtsbarkeit bzw. dem Supplikenwesen im römischdeutschen Reich des 15. Jahrhunderts erschienen zuletzt: Das »Königliche Gerichtsbuch« des Michael von Pfullendorf aus den Jahren 1442 bis 1451. Zu den Anfängen des Kammergerichts am römisch-deutschen Königshof (Quellen und

Autoren und Autorinnen

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Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 77) Wien/Köln 2022; Zwischen kaiserlichem Befehl und Wunsch der Parteien. Zur Einsetzung von Schiedsgerichten unter Kaiser Friedrich III., in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 155 (2019) S. 393–402; (hg. mit Christian Lackner) Modus supplicandi. Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 72) Wien 2019. Claudia Märtl war bis 2020 Professorin für mittelalterliche Geschichte mit dem Schwerpunkt Spätmittelalter an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist seit 2006 Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte gelten dem 15. Jahrhundert, insbesondere der italienischen, deutschen und französischen Geschichte sowie der Geschichte von Papsttum und Kurie, und der lateinischen Überlieferung des Mittelalters. Hierzu in knapper Auswahl: Donatellos Judith. Ein Denkmal der Türkenkriegspropaganda des 15. Jahrhunderts?, in: Franz Fuchs (Hg.), Osmanische Expansion und europäischer Humanismus. Akten des interdisziplinären Symposions vom 29. und 30. Mai 2003 im Stadtmuseum Wiener Neustadt (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 20) Wiesbaden 2005, S. 53–95; Die sedia gestatoria der Päpste, in: Mario Döberl/Alejandro López Álvarez (Hg.), Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren. Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts, Köln/Wien/Weimar 2020, S. 17– 48; Karolinger, Ottonen, Staufer? Das Ziborium von S. Ambrogio in Mailand, in: Richard Engl u. a. (Hg.), Stauferdinge. Materielle Kultur der Stauferzeit in neuer Perspektive, Regensburg 2022, S. 25–45. Meta Niederkorn ist außerordentliche Universitätsprofessorin für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien. In ihren Forschungen widmet sie sich der Universitäts- und Wissenschafts- sowie der vergleichenden Ordensgeschichte. Hierbei konzentriert sie sich vor allem die Untersuchung von Text- und Wissenstransfer (Übersetzungen), Liturgie und Musik, v. a. auf Edition, Analyse und Untersuchung der Wirkungsgeschichte von Texten sowie deren »Verwahrung« in Bibliotheken des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Aus diesem Umfeld erschienen: Ars Dictaminis-Rhetorica bona et utilis. Brieftheorie, Beispiele von Musterbriefen und Briefsammlungen, in: Gerundium 12 (2021) S. 59–79; Untersuchung zu Texten aus der Wiener Mathematischen Schule in den Bücherbeständen der Kartause Aggsbach im ausgehenden Mittelalter, in: Johannes Feichtinger u. a. (Hg.), Wandlungen und Brüche. Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte, Göttingen 2018, S. 173–182; Außenwirkung durch Memoria societatis universitatis. Sterben, Tod und Memoria an der spätmittelalterlichen Universität Wien, in: Martin Kintzinger/Wolfgang Eric Wagner/Marian Füssel (Hg.), Akademische Festkulturen

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Autoren und Autorinnen

vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Zwischen Inaugurationsfeier und Fachschaftsparty (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 15) Basel 2019, S. 325–355; Lesen und hörend lesen. Zum Sakramentar Düsseldorf, D1, in: Thomas Schilp/Klaus Gereon Beuckers (Hg.), Fragen, Perspektiven und Aspekte der Erforschung mittelalterlicher Frauenstifte. Beiträge der Abschlusstagung des Essener Arbeitskreises für die Erforschung des Frauenstifts (Essener Forschungen zum Frauenstift 15) Essen 2018, S. 111–144. Anne Louise Nielsen ist Habilitandin (Postdoc) am Institut für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Basel. Sie hat in Zürich, Freiburg, Kopenhagen und Berlin studiert und ihre Doktorarbeit (Der Gehende – Subjektivität und Theologie des Werdens bei Søren Kierkegaard [1813–55]) in 2016 an der Universität Aarhus verteidigt. Ihre Forschungsinteressen gelten der Existenz- und Subjektivitätstheorie des 19. Jahrhundert, insbesondere Søren Kierkegaard, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Nietzsche, sowie dem älteren und neueren Theologischer Realismus, besonders Karl Barths dialektische Theologie des 20. Jahrhundert. Die folgenden Artikel im Umkreis der Aufsatzthematik erschienen zuletzt: A Figurative Necessity in Dealing with Selfhood in Kierkegaard’s Thinking, in: Kierkegaard Studies Yearbook 1 (2016) S. 39–50; Græske stemmer i Kierkegaards radiale bevægelsestænkning [Griechische Stimmen in Kierkegaards radikalen Bewegungsdenken], in: Peter Aaboe Sørensen/Michael Vernersen (Hg.), Kend dig selv [Erkenne dich selbst], Århus 2022, S. 7–23. Christof Paulus ist Referent am Haus der Bayerischen Geschichte und außerplanmäßiger Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte gelten der Globalgeschichte des Frühmittelalters, der Zeit der Kirchenreform, dem 15. Jahrhundert sowie der Edition mittelalterlicher Quellen. Zur Thematik erschienen von ihm zuletzt: Dracula im Kloster, oder: Wie gelangte Vlad der Pfähler nach Tegernsee?, in: Thomas M. Bohn/Rayk Einax/ Stefan Rohdewald (Hg.), Vlad der Pfähler – Dracula. Tyrann oder Volkstribun, Wiesbaden 2017, S. 115–130; (mit Gabriele Annas) Geschichte und Geschichten. Studien zu den »Deutschen Berichten« über Vlad III. Dra˘culea (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 67) Wiesbaden 2020; (mit Albert Weber) Venedig und der »wilde Osten«. Wissen, Rang und Interessenräume im ausgehenden Mittelalter, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 100 (2020) S. 208–262. Ingrid Würth vertritt momentan die Professur für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsinteressen richten sich auf die Frömmigkeits- und Sozialgeschichte des späten Mittelalters, die mitteldeutsche Landesgeschichte in vergleichender Perspektive und die politische Geschichte im

Autoren und Autorinnen

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Hoch- und Spätmittelalter. Zum Thema sind zuletzt von ihr erschienen: Geißler in Thüringen. Die Entstehung einer spätmittelalterlichen Häresie (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 10) Berlin 2012; Häresie, Inquisition und Bettelorden in Erfurt im 14. und 15. Jahrhundert, in: Karl Heinemeyer/Anselm Hartinger (Hg.), Barfuß ins Himmelreich? Martin Luther und die Bettelorden in Erfurt. Textbd. und Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Erfurt 2017, Dresden 2017, S. 88–91.

Poetik, Exegese und Narrative. Studien zur jüdischen Literatur und Kunst Poetics, Exegesis and Narrative. Studies in Jewish Literature and Art Herausgegeben von Gerhard Langer, Carol Bakhos, Klaus Davidowicz und Constanza Cordoni Poetik – Exegese – Narrative versteht sich als eine wissenschaftliche Reihe mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung. In ihr wird jüdische Literatur von der Antike bis zur Gegenwart herausgegeben, analysiert, ausgelegt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf Erzählungen im weiten Sinn, wozu auch Film und Medien gehören. Das Ziel ist es, Texte in ihrer literarischen und strukturellen Tiefendimension sowie ihrem über die Zeiten hinweg aktuellen Aussagegehalt zu verstehen und zu vermitteln, wobei die (sozial-)geschichtlichen, politischen und kulturellen Hintergründe mitbedacht werden. Die Reihe richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, an Studierende und ein an Kulturund Literaturwissenschaft sowie an Jüdischen Studien interessiertes breites Publikum. Weitere Bände dieser Reihe: Band 17: Chiara Conterno (Hg.) Briefe als Laboratorium der Literatur im deutsch-jüdischen Kontext Schriftliche Dialoge, epistolare Konstellationen und poetologische Diskurse 2021, 224 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1296-9 € 40,– D / € 42,– A Band 16: Ida Fröhlich / Nóra Dávid / Gerhard Langer (eds.) You who live in the shelter of the Most High (Ps. 91:1) The Use of Psalms in Jewish and Christian Traditions 2021, 232 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1236-5 € 40,– D / € 42,– A Band 15: Lydia Helene Heiss Jung, weiblich, jüdisch – deutsch? Autofiktionale Identitätskonstruktionen in der zeitgenössischen deutschsprachig-jüdischen Literatur 2021, 272 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-8471-1175-7 € 45,– D / € 47,– A Band 14: Yannick Gnipep-oo Pembouong Generation und Strategie Barbara Honigmann im literarischen Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 1986–2015 2020, 414 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-8471-1123-8 € 50,– D / € 52,– A

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