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German Pages 282 Year 2014
Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hg.) Von Zäsuren und Ereignissen
Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hg.) Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung
Gefördert mit freundlicher Unterstützung des Zentrums für Interkulturelle Studien Mainz
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INHALT Vorwort 9
KULTURTHEORETISCHE GRUNDLAGEN Modern Talking – die Konjunktur der Krise in anderen und neuen Modernen THORSTEN SCHÜLLER (MAINZ) 13 »…jetzt müssen Sie Ihr Gehirn umstellen…« Eine Nachlese von Jean Baudrillards Der Geist des Terrorismus CHRISTER PETERSEN (COTTBUS) 29 Betroffenheitsgesten vor 9/11 CHRISTIAN DE SIMONI (BERN) 49
TERRORISMUS Das ›Schläfer‹-Phantasma. Mediale Signaturen eines paranoiden Denkstils vor und nach 9/11 LARS KOCH (SIEGEN) 69 Linksterrorismus und Märtyrertum. Eine Annäherung im Hinblick auf die ›RAF‹ CHRISTOPH DEUPMANN (KARLSRUHE/KIEL) 89
SPUREN IN DER ALLTAGSKULTUR Katastrophenvisionen und kulturelle Zäsuren in der amerikanischen Populärkultur KARSTEN WIND MEYHOFF (KOPENHAGEN) 111 Vermarktete Apokalypse: 9/11 und evangelikale Endzeitliteratur CHRISTINA RICKLI (ZÜRICH/BERN) 135
LITERARISCHE ZÄSURERWARTUNG 11-M vs. 9/11: Kulturelle Brechung im Ereignisbegriff THOMAS SCHMIDTGALL (SAARBRÜCKEN) 157 Zäsur oder Wiederkehr des Immergleichen? 11-S in spanischen Romanen der Gegenwart URSULA HENNIGFELD (FREIBURG) 177 Industrie-Partisanen. William Gibsons Johnny Mnemonic, Carl Schmitt und der 11. September JONAS ENGELMANN (MAINZ) 199
DIE TOPOGRAPHIE DER ZÄSUR 9/11 als Zäsur für die Weltordnung? Eine Analyse geopolitischer Konstruktionen in transnationalen arabischen Printmedien SHADIA HUSSEINI (ERLANGEN) 221 »It’s complicated« – Topographische Netzwerke in Don DeLillos The Names und Stephen Gaghans Syriana SASCHA SEILER (MAINZ) 239
EPILOG: HISTORISCH-PHILOSOPHISCHE ZÄSURERWARTUNG Die Rede von der Zäsur. Ein Versuch anhand von Nietzsches neuer Bildlichkeit STEPHAN PACKARD (MÜNCHEN) 257
Autorinnen und Autoren 275
VORWORT »Es ist nichts mehr, wie es war« – Die unmittelbaren Reaktionen auf die Terroranschläge des 11. September 2001 unterstrichen stets den zäsurhaften Charakter des Datums. 9/11 teilte demnach die Weltwahrnehmung in ein ›Davor‹ und ein ›Danach‹. Mit größerem zeitlichen Abstand kommt allerdings die Frage auf, wie einzigartig und das Ereignis wirklich war und ob man tatsächlich von einer großen kulturellen oder historischen Zäsur sprechen kann. Der vorliegende Band stellt sich zur Aufgabe, weltgeschichtliche Ereignisse, die als Zäsur wahrgenommen werden, in ihrer kulturellen und medialen Rezeption zu betrachten. Viele weisen einen expliziten Bezug zu jener neuesten Zäsur namens 9-11 auf, einige lediglich einen impliziten. Doch alle Untersuchungen zeigen, dass zäsurhafte Ereignisse seit Jahrhunderten künstlerisch reflektiert werden und dass sich die rhetorischen Reaktionen auf historische Einschnitte ähneln. Einzelne Beiträge reflektieren hierbei die Begriffe des Ereignisses und der Zäsur theoretisch, andere explizieren die Termini anhand konkreter literarischer oder filmischer Beispiele. Gerade diese künstlerischen und auch medialen Verarbeitungen von historischen und kulturellen Einschnitten verdeutlichen das narrative Potential von Ereignissen, das zur ästhetischen Verarbeitung einlädt und historische Strukturen der ›longue durée‹ sichtbar macht. Unser Dank gilt dem Zentrum für Interkulturelle Studien (ZIS) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die großzügige Unterstützung des Projekts. Das Titelbild des Bandes wurde uns freundlicherweise von Ulrike Früchtnicht zur Verfügung gestellt. Für die zuverlässige und geduldige redaktionelle Mitarbeit und Drucklegung danken wir Susanne Bernhard und Brigitte Kienle. Mainz, im Februar 2010 Thorsten Schüller und Sascha Seiler
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K ULTURTHEORETISCHE G RUNDLAGEN
MODERN TALKING –
DIE
IN ANDEREN UND
KONJUNKTUR DER KRISE NEUEN MODERNEN
THORSTEN SCHÜLLER Einleitung: Dramatisierung und Relativierung d e s E r e i g n i s se s 9 / 1 1 »Es ist nichts mehr, wie es war« oder »Der Tag, der die Welt verändert hat« – die unmittelbaren Reaktionen auf die terroristischen Anschläge des 11. September 2001 unterstreichen stets den Ereignis- oder Zäsurcharakter dieses Spätsommertages, dessen Idylle durch die einschlagenden Flugzeuge jäh gestört wird: Der Dienstag im September teilt, so lassen es Presseartikel vermuten, als punktuell messbares Datum die Weltgeschichte in ein ›Davor‹ und ein ›Danach‹, wobei die Zeit des ›Danach‹ als eine Zeit der Krise in Erwartung einer Apokalypse wahrgenommen wird.1 Vielleicht ist es gerade die medial übermittelte Idylle im Hintergrund der einschlagenden Flugzeuge, die kontrastiv die Monstrosität der Terrorakte verstärkt, und dem Ereignis ein narratives oder präziser, ein dramatisches Potential verschafft. Die Rhetorik der Kommentare legt nahe, dass sich 9/11 als Zäsur ganz im Sinne der klassischen Dramatik als eine tragische Peripetie verstehen lässt, d.h. als ein überraschendes Moment, das einen vorhersagbaren Handlungsverlauf in sein Gegenteil verkehrt2. These der folgenden Überlegungen ist hingegen, dass das messbare Datum des 11. September keinen peripetischen Umschwung markiert,
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Siehe eine Zusammenstellung von deutschsprachigen Presseartikeln in einem kurz nach den Anschlägen veröffentlichten Artikel auf spiegelonline (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,156701,00, 31. Mai 2009) sowie das GEO Epoche-Heft mit dem Titel 11. September 2001 (GEO Epoche: 11. September 2001. Der Tag, der die Welt verändert hat, Hamburg: Gruner + Jahr 2001). Den Hinweis auf die Ausgabe von GEO verdanke ich Christian de Simoni. Aristoteles: Poetik, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1994, S. 35. 13
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sondern dass 9/11 lediglich das narrative Potential besitzt, ein schon zuvor und ein auch danach herrschendes Krisengefühl narrativ zu verknappen: Das Ereignis kann zwar überraschen, drückt dabei aber weniger eine peripetische Wende aus. 9/11 als Ereignis lässt sich vielmehr als metonymisches Zeichen verstehen, das als pars pro toto ein größeres Krisenbewusstsein ausdrückt. Dieses Krisenbewusstsein existiert schon vor dem 11. September 2001, wie viele Veröffentlichungen zur Zeitdiagnose beweisen, ist aber sprachlich und narrativ schwer zu benennen. Die Begriffe ›Ereignis‹ und ›Zäsur‹ werden deshalb in der Folge nur teilweise synonym gebraucht werden. Als Hypothese soll angenommen werden, dass dem Ereignisbegriff im Gegensatz zum Zäsurbegriff ein peripetisches Potential fehlt: Eine Zäsur teilt die Zeit in ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹ ein, einem Ereignis fehlt ein solches einteilendes Potential. Im Folgenden soll am Beispiel einiger soziologischer und philosophischer Texte das Verhältnis von Konjunktur und Ereignis untersucht werden: einer Konjunktur der Krise, d.h. einer sich über eine längere Zeit erstreckenden historischen Stimmung, und dem Ereignis 9/11, das diese Stimmung metonymisch verknappt.3 Seit den 1980er Jahren manifestiert sich in theoretischen Texten zum Zeitgeschehen ein Unbehagen in einer als konfliktuell oder krisenbeladen angesehenen Zeit. Das bedeutet, dass der 11. September 2001 die Welt nicht plötzlich in eine Krise manövriert, sondern lediglich symptomatisch für eine bereits länger andauernde Krise steht. Ohnehin scheint sich einige Jahre nach 2001 eine immer stärkere Relativierung des Ereignisses durchzusetzen. Umberto Eco beispielsweise führt das Ereignis 9/11 zwar in seiner Essaysammlung A passo di gambero von 2006 (die deutsche Übersetzung mit dem Titel Im Krebsgang voran erschien 2007) in einer Passage an, in der er behauptet, dass wir in einer Zeit lebten, die von Ängsten geprägt sei4, stellt den 11. September aber in eine Reihe mit anderen, auf den ersten Blick belangloseren Ereignissen, wie beispielsweise 3
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Zu den Begriffen Konjunktur und Ereignis siehe Fernand Braudel: »Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée«, in: Claudia Honegger (Hg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 47-85; sowie die einschlägigen Kapitel in Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 (erw. Neuausgabe). Umberto Eco: Im Krebsgang voran: Heiße Kriege und medialer Populismus, aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber, München: Hanser 2007, S. 9. 14
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den Jahrtausendwechsel. Die Konfrontation von 9/11 und dem Jahr 2000 ist zwar vordergründig ein Herunterspielen der Katastrophe, dennoch wird die Bedeutung des 11. September im Gesamtkontext der Essays nicht völlig negiert. Eco erwähnt die Chiffre 9/11 neben anderen Ereignissen in A passo di gambero an vielen Stellen – häufig in Kontexten, in denen es um Krisen und Ängste geht. Nicht nur Umberto Eco thematisiert eine gegenwärtige Krise vor allem der westlichen Welt und bedient sich 9/11 als Zeichen. Auch andere Texte diskutieren eine neue ›condition humaine‹ im Zeitalter einer beschleunigten Globalisierung. Dabei wird immer wieder auf den Begriff der Moderne rekurriert.
Die Mode der ›neuen‹ Modernen Seit über zwei Jahrzehnten lässt sich eine Konjunktur von neuen Moderne-Konzeptionen ausmachen. Im Gegensatz zu Konzeptionen der Postmoderne transportieren die neuen Modernediskurse in den meisten Fällen ein Gefühl der Krise oder der Angst. Autoren wie Ulrich Beck, Arjun Appadurai, Marc Augé, Zygmunt Baumann oder Gilles Lipovetsky suchen in ihren Texten nach dem passenden Adjektiv, um die von der Postmoderne zu unterscheidende Moderne der Gegenwart zu charakterisieren: Ulrich Beck erfindet die »andere« oder »neue« Moderne, Zygmunt Baumann die »flüssige« Moderne, Arjun Appadurai die »modernity at large«, Marc Augé die »surmodernité« und Gilles Lipovetsky die »temps hypermodernes«5. Einige dieser Texte sind vor, andere Texte nach dem 11. September 2001 geschrieben, einige thematisieren das Ereignis, andere nicht – gemeinsam ist den Texten, dass sie sich in ihrer Rhetorik und Thematik ähneln. Die Texte, die zwischen 1986 und 2007 verfasst wurden und ihre jeweilige Zeit kommentieren, beweisen, dass ein Gefühl der Krise oder der Angst stets ›in der Luft lag‹. Nach dem 11. September konnte, wie einige Texte zeigen, dieses diffuse Gefühl genauer erfasst und benannt werden. 9/11 avanciert demnach zu einer diskursi5
Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986; Zygmunt Baumann: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, aus dem Englischen von Richard Barth, Hamburg: Hamburger Edition 2008; Arjun Appadurai: Modernity at large, Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996; Marc Augé: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992; Gilles Lipovetsky/Sébastien Charles: Les temps hypermodernes, Paris: Grasset 2004. 15
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ven Konstruktion; das Ereignis drückt als Symptom eine länger angelegte Konjunktur der Krise aus.
M o d e r n e b e g r i f f u n d K r i s e n b e w u s s ts e i n Es erscheint auf den ersten Blick paradox, dass Autoren neue Modernen erfinden, d.h. mit einem Begriff operieren, der bereits seit der Postmoderne als überwunden gilt. Dabei distanzieren sich einige Autoren dezidiert von der Postmoderne und greifen Paradigmen auf, die mit denen der ›klassischen‹ Moderne verwandt sind.6 Denn der Begriff der Moderne bietet sich wegen seines ihm inhärenten Aspekts der Krise an, um sich zum einen vom spielerischen ›anything goes‹ der Postmoderne abzusetzen und zum anderen ein Unbehagen auszudrücken. Schließlich waren spätestens seit dem 19. Jahrhundert die mannigfachen Modernediskurse immer auch Krisendiskurse. Vor dem 19. Jahrhundert war die Moderne stets positiv konnotiert, wie Hans-Robert Jauß in seiner Begriffsgeschichte des Wortes ›modern‹ aufzeigt.7 Bereits ab dem 5. Jahrhundert nach Christus lässt sich demnach der Begriff ›modern‹ nachweisen, der das Bewusstsein einer positiv wahrgenommenen neuen Zeit ausdrückt, die einer ›abgelaufenen‹ Zeit entgegengesetzt wird. Das impliziert, dass der Begriff Jahrhunderte lang ein relativer Begriff war, der das Neue mit dem Vergangenen konfrontierte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hinterfragen Künstler und Philosophen Konzepte wie Fortschritt und Zivilisation und illustrieren auch schon vor Sigmund Freuds Essay ein ›Unbehagen in der Kultur‹. Begriffsgeschichtlich lässt sich eine immer weitere Pejorativierung des Begriffs im 19. Jahrhundert ausmachen. Ab dem 18. Jahrhundert lässt sich zudem eine Ent-Relativierung beobachten, ›modern‹ wird typologisch und als autonom wahrgenommen; im Laufe des 19. Jahrhunderts wird deutlich, dass der Begriff Diskurse vereint, die negativ konnotiert sind. Arthur Rimbauds emphatisches Diktum »il faut être absolument moderne«8 steht entschieden kritischeren Betrachtungen der epistemologischen 6 7
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Die Konzepte von Beck und Baumann verstehen sich als explizite Gegenmodelle zur Postmoderne. Hans-Robert Jauß: »Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewusstsein der Modernität«, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 11-66. Arthur Rimbaud: Une saison en enfer, in: ders., Poésies. Une saison en enfer. Illuminations, Paris: Gallimard 1997 [1873], S. 152. 16
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Konstruktion Moderne gegenüber. Für Richard Wagner beispielsweise ist Moderne gleichbedeutend mit Industrie und Geldwert bei gleichzeitiger Funktionalisierung und Entindividualisierung des Einzelnen9, für Friedrich Nietzsche zeichnet sich der moderne Mensch durch eine »Sklavenmoral«, durch Schwäche, Krankheit und Verweichlichung aus und er kommt zu dem Schluss, dass die »moderne Idee […] eine falsche Idee ist.«10 Man erkennt allein an der semantischen Entwicklung, dass die Idee der Moderne, die mit Humanismus, Aufklärung und Fortschrittsglauben gestartet ist, in eine Krise gerät. Auch wenn die verschiedenen Autoren über völlig unterschiedliche Gegenstände schreiben, benutzen sie doch den Begriff ›modern‹, um Krise und Krankheit des Individuums zu illustrieren. Ein ähnliches Phänomen lässt sich im 20. Jahrhundert beobachten. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Autoren nach einer spielerischen Postmoderne wieder verstärkt auf den Begriff der Moderne rekurrieren, um eine Krise begrifflich zu erfassen. »Disons ›modern‹ ce qui est à la mesure d’une crise« bringt Julia Kristeva in einem Aufsatz über Louis-Ferdinand Céline auf den Punkt, dass ›modern‹ auch Unbehagen, Angst und Krise bedeutet11, und wenn Antoine Compagnon von zentralen Momenten der Moderne schreibt, dann beschreibt er diese als »moments de crise«12; der Philosoph Charles Taylor schließlich betitelt seine Gedanken zum ständig fortschreitenden Niedergang der Moderne und einer »Entzauberung der Welt« mit The Malaise of Modernity13.
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»So habt ihr ihn, den Gott der modernen Welt, den heilig-hochadeligen Gott der fünf Prozent […]. Das ist Merkur und seine gelehrige Dienerin, die moderne Kunst«, aus Richard Wagner: »Die Kunst und die Revolution«, in: ders., Dichtungen und Schriften, Band 5, Frankfurt/Main: Insel 1983, S. 285. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, in: ders., Sämtliche Werke, Band 77, Stuttgart: Kröner 1993, S. 193. Julia Kristeva: »Céline le moderne«, in: Trente-quatre, quarante-quatre. Cahiers de Recherche des sciences des textes et documents 1 (1976), S. 16. Antoine Compagnon: Les cinq paradoxes de la modernité, Paris: Seuil 1990, S. 12. Zum Verhältnis Moderne und Krise siehe auch: Jürgen Habermas: »Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditionen«, in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 195-231, insbes. S. 201f. Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. 17
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S c hl ü s se l b e g r i f f e d e r n e u e n M o d e r n e n In der Folge sollen einige neuere Moderne-Theorien (von 1986 bis 2007) angerissen werden, die alle Ausdruck einer neuen Zeitwahrnehmung sind und sich durch wiederkehrende Isotopien der Krise auszeichnen. Die Wortfelder der Krise verändern sich von 1986 bis 2007 kaum und konstituieren sich durch semantische Unterfelder wie Angst/Furcht, Ortlosigkeit/Orientierungslosigkeit und Beschleunigung. In einigen Texten werden die Isotopien der Krise mit einem Ereignis konfrontiert. These der folgenden Ausführungen ist, dass sich die Zeitdiagnosen der Modernediskurse und folglich die Isotopien ähneln, und dass die Ereignisse, wenn sie in den Texten herangezogen werden, wechseln und austauschbar sind. Wird ein Ereignis in den Texten angeführt, so dient dies stets dazu, ein zuvor eher vage wahrgenommenes Zeitgefühl genauer benennen zu können. Ulrich Beck erfindet bereits in den 1980er Jahren neue Modernebegriffe, die er dezidiert von der Postmoderne absetzt. Die von ihm angenommene »modernisierte Moderne«, die sich durch Selbstreflexion auszeichnet14, scheint der Postmoderne zunächst ähnlich zu sein, sie ist geprägt durch das Bewusstsein, »that mastery is impossible«15. Die Einsicht, dass die Welt immer weniger diskursiv zu erfassen ist, lässt zwar an das Lyotard’sche Ende der Meta-Erzählungen denken, führt aber in der Beck’schen modernisierten Moderne weniger zu einer spielerischen Beliebigkeit, sondern zu Krisen- oder Angstdiskursen. Ein Beispiel dafür ist die zum geflügelten Wort avancierte, von Ulrich Beck so genannte und definierte »Risikogesellschaft«. In seinem gleichnamigen Buch16 tauft Beck die neue Diskursformation, die in globalisierten Zeiten entsteht, auf den Namen »zweite Moderne«. In dieser zweiten Moderne, in der die Industrialisierung sich ständig beschleunigt, in der Konzerne supra- und transnational agieren und in der eine neue Weltgesellschaft entsteht, ist das Individuum mit neuen und prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen konfrontiert, die die neue Weltordnung mit sich bringt. Was aus dieser Situation entsteht, ist die so genannte Risikogesellschaft: »In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken«17. 14 Siehe Ulrich Beck/Wolfgang Bonß/Christoph Lau: »Theorie reflexiver Modernisierung – Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme«, in: Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hgg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 11-59. 15 Bruno Latour zitiert ebd., S. 19. 16 U. Beck: Risikogesellschaft. 17 Ebd., S. 25; Hervorhebung im Original. 18
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Anlass seiner Gedanken zu den neuen Risiken sind die zunehmende Umweltverschmutzung und vor allem die nukleare Bedrohung. Angst vor saurem Regen und Atomwaffen scheinen in den 1980er Jahren das Äquivalent zur Angst vor terroristischen Anschlägen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu sein. Die von Beck diagnostizierten Bedrohungen der zweiten Moderne sind auf gewisse Weise demokratisch, sie betreffen jeden: »Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch«.18 Unmittelbar nach der Endredaktion seines Buchs bestätigt der Reaktorunfall von Tschernobyl gewissermaßen Becks Risikothesen. Der Ortsname Tschernobyl wird dabei zu einem leicht rezipierbaren und verstehbaren Zeichen, das Angst und Krise ausdrückt. »Das uns überrollende Neue«19 wird, ähnlich wie im Falle der terroristischen Bedrohung vor dem 11. September, nachträglich durch ein Ereignis datierbar, wie Beck selbst in einem nach der eigentlichen Redaktion hinzugefügten Vorwort mit dem Titel »Aus gegebenem Anlaß« erkennt20. Festzuhalten bleibt, dass das Reden über Krisen mit Hilfe eines Modernebegriffs geschieht, der mit dem Begriff der Angst operiert, und durch ein Ereignis wie Tschernobyl bestätigt und verknappt wird. Das Ereignis Tschernobyl bündelt die Wortfelder um Risiko, Krise und Angst zu einem einzigen Zeichen. Auch der polnische Soziologe Zygmunt Bauman erkennt eine neue Zeitrechnung und läutet am Beginn der 2000er Jahre eine auf die Postmoderne folgende neue Moderne ein, die »liquid modernity«, die ins Deutsche als »flüchtige Moderne« übersetzt wurde21. In den Texten Baumanns geht es neben der nicht fassbaren Flüchtigkeit der Zeit (die Ulrich Beck seinerseits mit den Metaphern »Surfen« und »Driften« umschreibt22) um den Zusammenhang von Moderne und Angst. Laut Baumann ist unsere Gegenwart von Unsicherheit und Angst geprägt. Dies liege daran, dass die immer größer werdende Freiheit des Individuums den Einzelnen überfordere und die Ortlosigkeit der Globalisierung ihn verwirre. In einer flüssigen Moderne, die er als ortlos, vernetzt und verwirrend charakterisiert, verschwinden Orientierungspunkte in einer seltsamen und begrifflich schwer zu fassenden Offenheit. Der Mensch hat sich laut Baumann eine Freiheit geschaffen, mit der er nicht umzugehen weiß und die ihn nach Rahmen suchen lässt. Paradoxerweise führt die ständige Risikenminimierung einer durchtechnisierten Welt dazu, dass die Angst wächst. Angstursachen werden unsichtbar und Gefahren tauchen überraschend auf, was dazu führt, dass die Menschen der flüssigen 18 19 20 21 22
Ebd., S. 48; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Z. Baumann: Flüchtige Zeiten. U. Beck/W. Bonß/C. Lau: »Theorie reflexiver Modernisierung«, S. 45. 19
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Moderne übertriebene Schutzmechanismen entwickeln. Baumann führt beispielsweise den Boom der SUV (Sport Utility Vehicles) auf eine diffuse Angst vor Terrorismus zurück23. Die Fahrzeuge, die sich als Mischung aus Geländewagen und Limousine beschreiben lassen, erhöhen demnach ein subjektives Sicherheitsempfinden. Angstursache und Angsttherapie sind folglich voneinander abgekoppelt; der geländegängige Wagen ist sicherlich kein probates Mittel, um im Stadtverkehr Anschlägen zu entgehen. Angst generiert und reproduziert sich ständig selbst und verliert den Kausalzusammenhang mit ihrer Ursache. Auch die Städte, die einst erfunden wurden, um den Menschen Sicherheit zu geben, werden in der flüssigen Moderne als bedrohlich erfahren; Migration und Fremde in der eigenen kosmopolitischen Stadt werden als risikoreich empfunden. Baumann erwähnt 9/11 zwar gelegentlich, inszeniert das Datum aber nicht als Ereignis, um diese Diagnose punktuell zu datieren. Dennoch wird zumindest die Konjunktur der Krise vor 2001 sichtbar. Marc Augé erfindet 1992 in seinem Essay Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodenité24 eine Zeit der »Übermoderne«, die vom Problem der Ortlosigkeit geprägt ist. Er beschreibt die Dynamik jener übermoderner Orte, die sich im doppelten Wortsinne mit dem Begriff des ›Übergangs‹ beschreiben lassen; Orte werden in dieser Perspektive immer mehr zu provisorischen Räumen oder Transitorten zwischen Aufbruch und Ankunft. Als Beispiele führt Augé Einkaufszentren oder Flughäfen an. Diese Orte zeichneten sich im Gegensatz zum ›traditionellen‹ statischen Ort durch einen Mangel an Identität und Geschichte aus. Die Dynamik der Orte führe aber laut Augé zu einem Mangel an Kommunikation und zu emotionaler Verwahrlosung, so dass der Untertitel der deutschen Übersetzung eine »Ethnologie der Einsamkeit«25 in den Fokus setzen kann. Auch Marc Augé rekurriert nicht auf ein Ereignis, sondern beschreibt lediglich das vage Gefühl einer als neu wahrgenommenen, von globalisierenden Kräften geprägten Zeit. 1996 erfindet der indische Anthropologe Arjun Appadurai die »modernity at large«26 (1996) und macht ähnlich wie Marc Augé aus dem chronologischen Begriff der Moderne ein Raumkonzept. Sein Modernekonzept ist deshalb interessant, weil er die beschriebene, von Globalisierungsphänomenen geprägte Zeit im Jahre 1996 noch als eher positiv bewertet, in einem 2006 erschienen Buch ähnliche Phänomene aber als ne23 Z. Baumann: Flüchtige Zeiten, S. 21. 24 M. Augé : Non-lieux. 25 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt/Main: Fischer 1994. 26 A. Appadurai: Modernity at large. 20
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gativ darstellt und dafür 9/11 als Wendepunkt anführt. Die »ausgedehnte« oder »befreite« Moderne Appadurais zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht punktuell messbar ist: Wie in den anderen Modernediskursen scheint es ein allgemein fühlbares Bewusstsein zu geben, dass ›alles anders wird‹. Gründe dafür sind die Allgegenwart der Medien und das Phänomen einer gesteigerten Migration, die Kennzeichen einer spürbaren Globalisierung sind. Sowohl Medien (im Sinne von Datenträgern) als auch Migranten zirkulieren weltweit. Diese Situation führe zu neuen Identitäten. So schauten Türken in Deutschland türkische Filme, verfolgten Südkoreaner in Philadelphia die Olympischen Spiele in Seoul 1988 im Fernsehen oder hörten pakistanische Taxifahrer auf Kassetten aufgezeichnete Predigten aus pakistanischen oder arabischen Moscheen in ihren Autos27. All dies führt nach Appadurai zu neuen Formen der Identitätskonstruktion. Durch das alltägliche Zirkulieren von Bildinventaren, Mythen und Zeichen durch Kassetten, Videos und Telefone erschafften die Massenmedien transnationale Gemeinschaften. In Appadurais Modell bewegt sich in einer Zeit der Globalisierung alles (Finanzen, Technik, Informationen, Bilder oder Ideen) in einem transnationalen Raum. Dieses Modell der transnationalen Bewegung und einer zunehmenden und vage wahrgenommenen Ortlosigkeit kommt 1996 noch als reine Feststellung daher. Sein Buch Fear of small numbers von 2006, auf Deutsch Geographie des Zorns28, sieht die Entwicklung in einem weit negativeren Licht: Unter anderem durch das Ereignis 9/11 wird die räumlich ausgeweitete Moderne, die von Bewegung und Kulturkontakten geprägt ist, zu einem Krisengebiet. Die im Titel evozierten »small numbers« sind eine Umschreibung für Migranten, die plötzlich als Minderheit der Mehrheit Angst einflößen. Die Entwicklung der Modelle Appadurais illustriert die Macht eines Ereignisses auf Konjunkturen: Eine positiv konnotierte globalisierte Moderne entwickelt sich durch die Neubewertung nach einem Ereignis zu einem negativ konnotierten Begriff. Der französische Philosoph Gilles Lipovetsky veröffentlicht 2007 einen Essay zur »Hypermodernität« (Les Temps hypermodernes)29. In diesem Text finden sich weder eine Datierung der neuen Zeit noch ein expliziter Bezug zu 9/11. Auffallend ist aber wiederum der Konnex von Moderne und Angst, in diesem Falle gekoppelt mit dem Paradigma der Beschleunigung. Laut Lipovetsky befindet sich die Gesellschaft in einer Spirale der Geschwindigkeit und des Exzesses. Diese neue Moderne Li27 Ebd., S. 4. 28 Arjun Appadurai: Fear of small numbers. An Essay on the Geography of anger, Durham/London: Duke 2006; ders.: Die Geographie des Zorns, aus dem Englischen von Bettina Engels, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. 29 G. Lipovetsky/S. Charles: Les Temps hypermodernes. 21
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povetskys existiert nur im Superlativ, die Hypermoderne radikalisiert und steigert die vorhergehende Moderne. Eine Zukunft ist im Zeitalter der Hypermoderne nicht absehbar und erscheint als problematisch, weswegen eine Jetztzeit und ein hemmungsloser Hedonismus vorherrschen. Dieser Hedonismus ist allerdings stets mit Angst gepaart30. So ist die hypermoderne Zeit durch Stress, durch psychosomatische Probleme, durch Zeitprobleme, Chaos und Deregulierung geprägt und führt zu fragilen Persönlichkeiten. Lipovetsky verzichtet darauf, ein Ereignis zu bemühen, konstatiert also lediglich eine Konjunktur der Krise. Festzuhalten ist, dass auch seine Moderne von einer ratlosen Suche nach Orientierung geprägt ist und mit einem Angstdiskurs verbunden ist. Alle angeführten neuen Modernemodelle operieren also mit dem Paradigma der Angst. Weitere immer wiederkehrende Begriffe sind Ortlosigkeit und Beschleunigung. Die unterschiedlichen Zeitdiagnosen aus über zwanzig Jahren ähneln sich in ihrer Wortwahl und ihrer Thematik, was vermuten lässt, dass das Gefühl der Krise nicht auf punktuelle Ereignisse zurückzuführen ist.
9 / 1 1 al s Z ä s u r ? – E r e i g n i s s e u n d K o n j u n k t u r e n Im theoretischen Denken ist ein Unbehagen also auch vor 2001 allgegenwärtig31. Die Mode der Modernen oder der Deprimismus in der Li30 Ebd., S. 69f. 31 In der Literatur lässt sich ein ebensolches Phänomen feststellen, das flankierend die These illustrieren könnte, dass am Ende des 20. Jahrhunderts eine Krise ›in der Luft liegt‹ und von einem Ereignis lediglich bestätigt wird: In der zeitgenössischen französischsprachigen Literatur beispielsweise gibt es auch in den Jahren vor dem 11. September 2001 eine Strömung, die als »déprimisme« bezeichnet wird und die gleichfalls als Ausdruck einer Krise wahrgenommen wird. Es sind vor allem die Romane Michel Houellebecqs und die Beschreibung des trostlosen Lebens ihrer Protagonisten, die den Deprimismus der französischen Literatur begründen. In diesen Romanen findet sich das Krisengefühl wieder, welches auch die theoretischen Texte zur Zeitdiagnose prägte. Interessant ist vor allem im Falle des Romans Plateforme von Michel Houellebecq (Michel Houellebecq: Plateforme, Paris: Flammarion 2001), der zur ›rentrée littéraire‹ im September 2001 erschien, dass sogar ein islamistisches Attentat thematisiert und ein ›clash of cultures‹ literarisch vorweggenommen wird. Die äußerst kontroverse Rezeption des Romans, die durch Houellebecqs Äußerungen zum Islam befeuert wurden (»Et la religion la plus con, c’est quand même l’islam«; www.lire.fr/entretien.asp/idC=37437/idTC=4/idR=201/idG= vom 22
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teratur als Kommentar eines Krisenbewusstseins wären demnach im Sinne des Historikers Fernand Braudel eine Konjunktur. Das Einbrechen des Datums 9/11 wäre im Gegensatz dazu als Ereignis zu sehen, das die Konjunktur konsolidiert, unter anderem vielleicht dadurch, dass ein Ereignis, wie der Historiker Reinhart Koselleck behauptet und wie unsere Darlegungen vermuten lassen, leichter zu erzählen ist.32 Koselleck stellt die These auf, dass sich Strukturen der »longue durée« nur umständlich beschreiben oder analysieren lassen, dass Ereignisse hingegen ein narratives Potential besitzen, dass »›Ereignisse‹ nur erzählt, ›Strukturen‹ nur beschrieben werden können«33. 9/11 reiht sich in einer solchen Perspektive in eine Reihe anderer Ereignisse ein, die die jeweiligen ModerneModelle oft stützen, seien es katastrophale Ereignisse wie Tschernobyl, weltgeschichtliche Einschnitte wie 1989 oder reine ›Jubiläen‹ wie das Jahr 2000. Ereignisse können Konjunkturen konsolidieren und vor allem sichtbar machen. Orte oder Daten, die Ereignisse benennen, avancieren auf diese Weise zu semantisch aufgeladenen Zeichen. Ulrich Beck kann sich in seiner Vorrede zu Risikogesellschaft auf das reine Nennen von »zwei Weltkriege[n], Auschwitz, Nagasaki, […] Harrisburg und Bhopal, nun Tschernobyl«34 beschränken, um das 20. Jahrhundert als ein Katastrophenjahrhundert zu charakterisieren. Zusammenfassend lässt sich zunächst festhalten, dass die neuen Moderne-Diskurse offensichtlich modisch sind und folglich einem Bedürfnis entsprechen, das endende 20. und beginnende 21. Jahrhundert konzeptuell zu beschreiben. Das was in den »anderen« oder »neuen« Modernen stets modellhaft festgestellt wird, ist ein Krisenbewusstsein oder das Gefühl eines Unbehagens; nicht selten wird dieses Unbehagen in den Diagnosen zu einem Gefühl der allgemeinen Angst ausgeweitet. Auffallend ist, dass die gelegentlich bemühten Ereignisse austauschbar scheinen. Würde man zum Beispiel in Ulrich Becks Texten zu neuen Modernen, die eigentlich Texte zur Globalisierung sind, 1986 gegen 9/11 austauschen, so würde der Text keine entscheidende Störung erfahren. 31. 05. 2009), zeigt gleichfalls, dass Houellebecq mit Plateforme und seinen anderen Romanen eine herrschende Stimmung literarisch aufgreift. Bezeichnenderweise ist es in Plateforme mit der Inszenierung eines islamistischen Anschlags wieder ein (fiktives) Ereignis, auf das die Stimmung des Romans in der Rezeption oft reduziert wurde. 32 Vgl. Reinhart Koselleck: »Darstellung, Ereignis und Struktur«, in: Anthologie. Wie Geschichte geschrieben wird, Berlin: Wagenbach 1990, S. 113-125. 33 Ebd., S. 113. 34 U. Beck: Risikogesellschaft, S. 7. 23
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Dennoch erfüllen die Ereignisse eine Funktion: Ereignisse wie 9/11 oder Tschernobyl konsolidieren auf gewisse Weise die Konjunktur der Krise in den Texten. Ein vages, nicht fassbares, sich lange entwickelndes Zeitgefühl wird plötzlich sichtbar und messbar. Der Philosoph Martin Seel beschreibt dies in seiner kleinen Phänomenologie des Ereignisses35 so, »dass Ereignisse Veränderungen sind, die sich abheben von Zuständen, die sich sehr viel langsamer und unscheinbarer verändern«36. Auf diese Weise markiert der 11. September 2001 zwar keine peripetische Zäsur, aber ein Ereignis, das sich bereits angekündigt hat. Das Ereignis teilt, wie die Betrachtungen der Modernetexte gezeigt haben, die Zeit nicht zäsurhaft in ein Davor und ein Danach, sondern radikalisiert im Sinne Seels die »Zustände, die sich viel langsamer und unscheinbarer verändern« und bringt sie auf einen allgemein rezipierbaren Punkt. Für Martin Seel ist der 11. September 2001 somit ein Paradebeispiel für ein Ereignis. Dennoch ist 9/11 für ihn zugleich die Ankündigung einer neuen Zeit: Er sieht 9/11 folglich als Zäsur und schreibt sich damit in eine stereotype 9/11-Wahrnehmung ein. 9/11 erzeugte nach Seel »die globale Gewissheit, dass die Welt […] nicht mehr dieselbe sein würde, wie sie vorher war«37. Ein Argument gegen die globale Zäsur 9/11 und eine neue Nuancierung in der Diskussion um Zäsuren und Ereignisse liefert Seel indes selbst: So wie er behauptet, dass auch eine documenta nur für Kunstkenner und -liebhaber ein Ereignis ist, so ist auch 9/11 nicht für alle Erdbewohner eine Zäsur: Auf dem afrikanischen Kontext beispielsweise wird das Ereignis nicht als solches wahrgenommen, sondern verschwiegen, ignoriert oder heruntergespielt. Der Nobelpreisträger Wole Soyinka aus Nigeria konstatiert: »Immer wieder werden wir mit der Ansicht bombardiert, wonach die Welt, die wir einst kannten, am 11. September 2001 ihr Ende fand. Ich kann beim besten Willen kein Verständnis für eine solche Ansicht empfinden […]«38. Soyinka und andere afrikanische Intellektuel35 Martin Seel: »Ereignis. Eine kleine Phänomenologie«, in: Nikolaus MüllerSchöll (Hg.), ›Ereignis‹. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspuch und Aporien, Bielefeld: transcript 2003, S. 37-47. 36 Ebd., S. 38, Hervorhebung im Original. 37 Ebd., S. 41. 38 Vgl. Wole Soyinka: Klima der Angst. Politische Essays, aus dem Englischen von Gerd Meuer, Zürich: Ammann 2005, S. 32; und in einer ähnlichen Perspektive Richard Priebe: »There was nothing new in the events of 9/11«; Richard K. Priebe: »Literature, Community, and Violence: Reading African Literature in the West, Post 9/11«, in: RAL (Research in African Literatures) 36-2 (2005). African Literature in the West, Post 9/11«, in: RAL (Research in African Literatures) 36-2 (2005). 24
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le sehen den 11. September nur als ein Ereignis von vielen in einer Reihe von anderen Katastrophen, die sich unter anderem auch (und von der Weltöffentlichkeit weit weniger wahrgenommen) auf dem afrikanischen Kontinent abspielten. In einer solchen Perspektive ist das Ereignis 9/11 auch ein Beispiel für die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und dafür, dass ein Ereignis erst in der Wahrnehmung eines Rezipientenkreises konstruiert wird. Folgende Punkte lassen sich aus den vorherigen Gedanken extrahieren: 1. Ereignisse sind Konstruktionen, die Konjunkturen auf den Punkt bringen können. Ereignisse haben demnach das Potential, narrative Bilder zu entwickeln, die ein vages Zeitgefühl illustrieren. 2. Ereignisse und Zäsuren sind nicht für jedermann gleichzeitig und gleichermaßen Einschnitte, die die Welt im globalen Maßstab verändern. 3. Die Modernediskurse zeigen, dass ein allgemeines Krisenbewusstsein in der Luft liegt. Vor allem der literarisch inszenierte Anschlag aus Michel Houellebecqs Plateforme (siehe Fußnote 31) beweist zudem, dass das Ereignis eines islamistischen Anschlags zuvor denkbar war. Der Text liefert ein Argument gegen die Auffassung, dass ein Ereignis einzigartig und nicht denkbar oder unvorhersehbar ist. 4. Die Chiffre 9/11 unterstreicht ein Unbehagen in der Globalisierung. Vieles was im Umfeld von 9/11 in Essays und theoretischen Abhandlungen besprochen wird, ist keine reine Auseinandersetzung mit dem punktuell messbaren Terror, sondern ist ein Kommentar zur zusammenwachsenden Welt. In einer solchen Perspektive teilt der 11. September 2001 die Weltgeschichte nicht in ein ›Davor‹ und ein ›Danach‹ und ist nicht der Auslöser einer historischen, politischen, soziologischen, kulturellen und epistemologischen Krise. Als Ereignis zeigt 9/11 lediglich die Konturen einer partiell empfundenen Krise auf, macht sie sichtbar und leicht rezipierbar.
L i t e r at u r 11. September 2001. Der Tag, der die Welt verändert hat, GEO EpocheHeft, Hamburg: Gruner + Jahr 2001. Appadurai, Arjun: Die Geographie des Zorns, aus dem Englischen von Bettina Engels, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. 25
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EINE
»… J E T Z T M Ü S S E N S I E I H R G E H I R N U M S T E L L E N …« NACHLESE VON JEAN BAUDRILLARDS DER GEIST DES TERRORISMUS CHRISTER PETERSEN
Befragt man heute, knapp acht Jahre nach dem Terroranschlag des 11. Septembers 2001, das Ereignis darauf, ob es eine Zäsur ausgelöst hat, so hängt die Beantwortung der Frage ganz entscheidend davon ab, wen man adressiert. Bezogen auf die westliche Gesellschaft und deren Politik muss die Antwort Ja lauten. Außer der derzeit andauernden Finanzkrise hat seit der letzten Jahrtausendewende kein Ereignis das Handeln der westlichen Industrienationen, und vor allen anderen der USA, in einem solchen Maße beeinflusst wie der 11. September 2001. Heute, nach dem Ende der Ära George W. Bush, findet der neu gewählte US-Präsident Barack Obama sein Land in zwei mittlerweile gänzlich sinnlos erscheinende Kriege in Afghanistan und im Irak verwickelt und steht vor dem moralischen Scherbenhaufen einer im Zuge des ›War on Terror‹ staatlich legitimierten Folterpraxis. So bleibt Obama seit Amtsantritt nichts weiter übrig, als für einen »Neuanfang in den Beziehungen zwischen Amerika und den Muslimen auf der Welt« zu werben1. Ob sich dieser Neuanfang in Form einer Zäsur nach der Zäsur tatsächlich einstellt, wird zwar erst die Zukunft zeigen, dass aber der 11. September und der daraus resultierende ›Krieg gegen den Terror‹ eine Zäsur in der geopolitischen Weltordnung geschaffen hat, steht heute bereits außer Frage. Auch als Medienereignis hat der 11. September einen unüberhörbaren Widerhall gefunden und gerade als ein solches den politischen, aber auch den künstlerischen und kulturtheoretischen Diskurs herausgefordert. Es haben nicht nur eine Vielzahl US-amerikanischer und europäischer Künstler, etwa die Schriftsteller Don DeLillo, Ian McEwan und Frédéric 1
Zit. nach Hans-Christian Rößler/Rainer Hermann: »Die Rede in Kairo. Obama: Salamu alaikum«: http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437 BAA85A49C26FB23A0/Doc~E510FAF520271469296019DF6C21CC7D B~ATpl~Ecommon~Scontent, Abruf am 20.6.2009 (2009). 29
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Beigbeder, auf das Thema Bezug genommen, sondern praktisch auch alle führenden westlichen Intellektuellen, von Noam Chomsky und Judith Butler über Paul Virilio und Slavoj Žižek bis hin zu Jürgen Habermas und Jacques Derrida.2 Inwieweit der 11. September eine Zäsur in Form und Inhalt der ästhetischen Auseinandersetzung mit den politischen Realitäten hervorgebracht hat, versuchen einige der Aufsätze in diesem sowie dem ihm vorhergehenden Band3 zu klären.4 Inwieweit der 11. September eine Zäsur in der kulturtheoretischen Auseinandersetzung markiert, daraufhin seien im Folgenden exemplarisch Jean Baudrillards Überlegungen zum Geist des Terrorismus befragt, um sie im Zuge dessen einer Kritik zu unterziehen, einer Kritik jenseits der üblichen vorschnellen Ablehnung oder affirmativen Paraphrase. Beides haben Baudrillards Schriften in ihrer mehr behauptenden als begründenden Polemik, in ihrer assoziativ-kreisenden Argumentation und ihrem scheinbar unwissenschaftlichen Essayismus immer wieder provoziert.5
Skandale und Provokationen Der massenmediale Diskurs über den 11. September lässt sich nicht zuletzt auch anhand der Historie seiner Skandale charakterisieren. Skandale machen Normverstöße in großem Stil sichtbar, produzieren öffentliche 2
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4
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Im Einzelnen: DeLillo (2008), McEwan (2005), Beigbeder (2005), Chomsky (2003), Butler (2004), Virilio (2002), Žižek (2002), Habermas/Derrida (2006). Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. Septembers 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf den Sammelband Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitung des 11. Septembers 2001 von Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen ((Hg.): Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitung des 11. Septembers 2001, Heidelberg: Winter 2008), dessen Beiträge sich ebenfalls mit dem Thema befassen. Blask begründet die Ablehnung, die Baudrillards postmoderner Textpraxis widerfährt, folgendermaßen: »Baudrillard muss mit der Gefahr leben, dass seine pluralistische, narrativ-paradoxe Methode der Radikalisierung aller Hypothesen als Scheinradikalität angegriffen und als leeres Geschwätz betrachtet wird. Das ist das Los dessen, der terrorisierenden Theoriegebäuden eine Absage erteilt, der den Dissens zum zentralen Bestandteil seiner Arbeit gemacht hat und der – vielleicht in der Hoffnung, dass ihm Ähnliches widerfahren möge – die von ihm untersuchten Phänomene keiner vereinheitlichenden Gewalt aussetzt« (Falko Blask: Jean Baudrillard zur Einführung, Hamburg: Junius 2005, S. 138). 30
»… JETZT MÜSSEN SIE IHR GEHIRN UMSTELLEN …«
Empörung über ein (vermeintliches) Fehlverhalten und lassen so die Regeln des jeweiligen gesellschaftlichen Diskurses ex negativo sichtbar werden.6 Während in der Endphase der Bush-Administration Kriegsverbrechen wie das Massaker im irakischen Haditha am 19. November 20057 oder die US-amerikanischen Folterungen in Abu Ghraib und Guantanamo als Verstöße gegen internationales Kriegs- und Menschenrecht von den westlichen Medien skandalisiert wurden (und zwar weitgehend unabhängig von der Frage, ob nicht der ›War on Terror‹ selbst der eigentliche Skandal sei), empörte man sich kurz nach dem 11. September vorzugsweise über Äußerungen, die nicht konform mit der medialen Selbstinszenierung der USA als einem singulären Opfer der 9/11Anschläge gingen. Die USA schienen damals in ihrem uneingeschränkten Kriegsrecht jeder Kritik enthoben, und jede auch noch so reflektierte Annäherung an die Ursachen und Ziele des Terrorismus wurde als fragwürdig und skandalträchtig eingestuft. Judith Butler beschrieb die damalige Situation wie folgt: »Since the events of September 11, we have seen both a rise of anti-intellectualism and a growing acceptance of censorship within the media. […] The voicing of critical perspectives against the war has become difficult to do, not only because mainstream media enterprises will not publish them […], but because to voice them is to risk hystericization and censorship. In a strong sense, the binarism that Bush proposes in which only two positions are possible – ›Ei6
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Zur Struktur von Skandalen Kristin Bulkow/Christer Petersen (»›Von mir aus schmeißt mich doch raus …‹. Skizze einer qualitativ-quantitativen Inhaltsanalyse des Fernsehpreisskandals 2008«, in: Ole Petras/Kai Sina (Hg.): Kulturen der Kritik. Mediale Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest, in Vorbereitung/2010), Steffen Burkhardt (»Wir stürzen ab. Mediale Selbstbespiegelung zwischen Integrität und Indiskretion am Beispiel Michel Friedmann«, in: Michael Beuthner/Stephan Alexander Weichert (Hg.): Die Selbstbeobachtungsfalle. Grenzen und Grenzgänge des Medienjournalismus, Wiesbaden: VS 2005, S. 173) und Karl Otto Hondrich (Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 15f.). Wie Mitte 2006 von Reportern der Time Magazine berichtet wurde, sollen am 19. November 2005 in der Stadt Haditha 24 unbewaffnete Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, von US-Marines des dritten Bataillons des ersten Marineinfanterieregiments in einer ›Vergeltungsaktion‹ erschossen worden sein. Siehe hierzu etwa Ellen Knickmeyer (»In Haditha. Memories of a Massacre Iraqi Townspeople Describe Slaying of 24 Civilians by Marines in November 19 Incident«: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/ content/article/2006/05/26/AR2006052602069_pf, letzter Abruf am 15.07. 2009 (2006). 31
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ther you’re with us or you’re with the terrorists‹ – makes it untenable to hold position in which one opposes both.«8
Eine erste Welle der Hysterie entlud sich damals an dem deutschen Komponisten Karlheinz Stockhausen, als dieser sich am 16. September 2001 in einem Pressegespräch anlässlich des Hamburger Musikfestes nach seiner persönlichen Meinung über die »Ereignisse der letzten Tage« befragt zu der Aussage verstieg: »Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat. Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen können, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert und dann sterben. (Zögert.) Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos.«9
Davon abgesehen, dass es einer immensen ›Umstellung des Gehirns‹ bedarf, um ästhetische und moralische Kategorien derart zu verwechseln, erklärt sich der »internationale Aufruhr«10, den das Statement verursachte und der Stockhausen trotz einer öffentlichen Entschuldigung tags darauf für geraume Zeit zur persona non grata degradierte,11 vor allem aus den Regeln des damaligen Diskurses. Stockhausen hatte, bei aller Abstrusität seiner Äußerung, die Ordnung des Diskurses verletzt, indem er sich (als Künstler) mit den Attentätern – und eben nicht ausschließlich mit den Opfern – des 11. Septembers identifizierte. Zwar nicht zu einem Aufruhr, aber doch zu heftigen Reaktionen kam es auch, als die französische Tageszeitung Le Monde 80 Tage nach den 8
Judith Butler, Judith: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London, New York: Verso, S. 1f. 9 Karlheinz Stockhausen: »›Huuuh!‹ Das Pressegespräch am 16. September im Senatszimmer des Hotel Atlantic in Hamburg«, MusikTexte 91 (2001), S. 90f. 10 Carrie Collenberg, Carrie: »›Zur Vorstellung des Terrors‹ – 9/11, RAF, and the Sublime«, in: Christer Petersen/Jeanne Riou (Hg.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien/Signs of War in Literature, Film and Media: Band/Volume 3: Terror, Kiel: Ludwig 2008, S. 97. 11 Unter anderem wurden seine Konzerte im Rahmen des Musikfestes von der damaligen Hamburger Kultursenatorin abgesagt, debattierte seine Heimatgemeinde darüber, ihm die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen, und distanzierten sich einige seiner Kinder öffentlich von Karlheinz Stockhausen. Siehe weiterführend zum Stockhausen-Skandal und zum Verhältnis von künstlerischer Ästhetik und medialem Inszenierungscharakter des 11. Septembers C. Collenberg (»Zur Vorstellung des Terrors«). 32
»… JETZT MÜSSEN SIE IHR GEHIRN UMSTELLEN …«
Anschlägen einen Beitrag des Philosophen und Soziologen Jean Baudrillard veröffentlichte. Der mit Der Geist des Terrorismus betitelte Artikel12 verursachte einige Entrüstung in der internationalen Presse. Dabei tat Baudrillard zunächst einmal nichts als auf das Offensichtliche hinzuweisen. Baudrillards erste These, dass »[d]ie terroristische Gewalt nicht ›real‹«, sondern »symbolisch« sei13, wird bereits in ihrer Begründung ebenso verständlich wie nachvollziehbar: »Let us be clear about this: the two towers are both a physical, architectural object and a symbolic object (symbolic of financial power and global economic liberalism). The architectural object was destroyed, but it was the symbolic object which was targeted and which it was intended to demolish«14. Die Anschläge sollten also weniger real als symbolisch und medial den Vereinigten Staaten in ihren zentralen Institutionen – namentlich dem Pentagon, dem Weißen Haus und dem World Trade Center – gelten. Die Wirkung und Reichweite der Anschläge resultierte aus dem synekdochischen Wert der Ziele: Ein Teil wurde für das Ganze attackiert, das Pentagon für die militärische Führung, die USA für den Westen und das World Trade Center für einen globalisierten Kapitalismus. Was Baudrillard hier behauptet, ist somit alles andere als neu oder provokativ. Schließlich wurden die Anschläge genau so auch in den westlichen Massenmedien rezipiert. In Baudrillards zweiter These steckt auf den ersten Blick schon mehr Provokationspotential, wenn es da heißt: »Unzählige Katastrophenfilme zeugen von diesem Phantasma, das sie natürlich mit Hilfe des Bildes bannen […]. Doch die allgemeine Anziehungskraft, die sie [die Bilder von 9/11] – gleich der Pornographie – ausüben, zeigt, dass das Ausagieren immer naheliegt – wobei der Ansatz zur Verneinung jeglichen Systems um so stärker ist, je perfekter oder allmächtiger dieses ist«15. Baudrillard ist mit dieser These allerdings nicht allein. Autoren wie Paul Vi-
12 Der Originaltitel lautet L’esprit du terrorisme. Ich beziehe mich in meiner Rekonstruktion der Baudrillard’schen Argumentation jedoch nicht auf den Artikel selbst, sondern mit Jean Baudrillard 2002 (»The Spirit of Terrorism«, in: Jean Baudrillard: The Sprit of Terrorism and Requiem for the Twin Towers. Translated by Chris Turner, London, New York: Verso 2002, S. 3–34; und ders.: »Der Geist des Terrorismus. Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes«, in: Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Peter Engelmann, Michaela Ott und Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2003, S. 11–35) auf je eine von Baudrillard redigierte englische und deutsche Übersetzung des ursprünglichen Artikels. 13 J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 31. 14 J. Baudrillard: »The Spirit of Terrorism«, S. 47f. 15 J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 14. 33
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rilio16, Slavoj Žižek17 oder Georg Seeßlen stellen beinahe zeitgleich fast identische Überlegungen an. Letzterer schreibt etwa: »Es ist erstaunlich, wie offensichtlich uns (und natürlich vorne weg den ›Kommentatoren‹) die Ähnlichkeit der in Endlosschleifen repitierten Bilder des Attentats auf das World Trade Center und die Kino-Bilder des Katastrophenfilms erscheint. […] All diese Kino-Bilder der Katastrophenphantasie erzählen von nichts anderem als davon, daß Systeme umso verwundbarer werden, je mehr technisch und organisatorisch avanciert sie sind, und je mehr sie sich auf ihre Unverwundbarkeit einbilden.«18
Die Beobachtungen stimmen überein, die Erklärungen ebenfalls.19 Es ist die unartikulierte Lust der Zerstörung dessen beizuwohnen, was übermächtig scheint, die sich ebenso im Phantasma des Katastrophenfilms wie in der Faszination der Bilder von 9/11 manifestiert: »Es ist vollkommen logisch und unausweichlich, dass die stete Machtzunahme einer Macht auch den Wunsch verstärkt, sie zu zerstören«20. Und genau in diesem Sinne können die Terroristen auf eine »tiefgreifende Komplizenschaft« des Publikums zählen, ohne dass diese jedoch »eingestanden werden kann« und muss21. Dass die Komplizenschaft mit den Attentätern kurz nach dem 11. September nicht eingestanden werden konnte, erklärt sich aus den Regeln des damaligen Diskurses. Dass Baudrillard und andere trotzdem darauf hingewiesen haben, macht das Provokationspotential aus, welches derartige Überlegungen damals hatten – heute, acht Jahre nach dem Ereignis, aber kaum mehr haben. Der Mechanismus jedoch, der einer solchen Komplizenschaft zugrunde liegt, findet sich an anderer, weniger exponierter Stelle modelliert. So erklärt der klinische Psychologe und Psychoanalytiker Michael Günter in einem Artikel in der Zeitschrift Psyche ganz nebenbei, wie es zu einer solchen geheimen Komplizenschaft zwischen Terroristen und Publikum kommen kann.
16 J. Baudrillard: »The Spirit of Terrorism«, S. 37ff. 17 Ebd., S. 16ff. 18 Georg Seeßlen/Markus Metz: Krieg der Bilder – Bilder des Krieges, Berlin: Bittermann 2002, S. 30. 19 Allerdings stellt sich die Frage, ob Seeßlen nicht bei Baudrillard abgeschrieben hat, da er zwar nicht auf Baudrillard verweist, trotzdem aber kurze Zeit später zum Teil zu identischen Aussagen gelangt, während sich Virilios und Žižeks Argumentationen doch im Detail deutlich von der Baudrillards unterscheiden. – Aber im Zweifel natürlich für den Angeklagten. 20 J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 13. 21 Ebd. 34
»… JETZT MÜSSEN SIE IHR GEHIRN UMSTELLEN …«
Laut Günter bieten Mediendarstellungen »beides: Die sozial sanktionierte Möglichkeit zur Identifikation mit destruktiven Phantasien und ihre gleichzeitige Abwehr durch Neutralisierung der Affekte, etwa im Rahmen der ›objektiven‹ Berichterstattung«, vor allem aber durch den von Günter so benannten Mechanismus der »identifikatorischen Projektion«: »Bei der ›einfachen‹ Projektion steht im Vordergrund, daß der Betreffende ihm selbst unannehmbar erscheinende Identifikationen anderen unterstellt. Insofern betont der Begriff der Projektion die Tendenz, Eigenes loswerden zu wollen und bei anderen zu lokalisieren, wie sie bei der projektiven Identifikation dann in ihrer ausgeprägtesten Form erscheint und mit einem Verlust der Verfügungsmöglichkeit über eigene Objekte einhergeht. Dagegen akzentuiert der Begriff der ›identifikatorischen Projektion‹ die bei bestimmten Projektionsvorgängen zu beobachtende Dynamik, daß aggressive oder libidinöse Impulse projiziert werden, um sich mehr oder weniger problemlos wieder mit ihnen identifizieren zu können.«22
Die heimliche Identifikation mit der Gewalt der Terroristen erklärt die Faszination der 9/11-Bilder, in denen das Publikum seine eigene Aggression gegen das System ›leben‹ kann, ohne sich jemals dafür rechtfertigen zu müssen. Schließlich sind es ja die Anderen, die die Gewalt tatsächlich verüben. Und so führt Günter weiter aus: »Bei der identifikatorischen Projektion aggressiv-destruktiver Impulse werden außerdem häufig die sonst unvermeidlich auftretenden Schuld- und Schamgefühle dadurch vermieden, daß zugleich eine bewußte Identifikation mit strafenden Überich-Instanzen in Form der Polizei, strenger gesetzlicher Maßnahmen, der Bestrafung der Täter etc. stattfindet. Darin eröffnet sich auch eine weitere Möglichkeit sadistisch destruktiver Identifikationen, die nicht als solche bewußt werden, sondern in gesellschaftlich sanktionierter Form des Gegensteuerns gegen Gewalt und Destruktivität maskiert werden können.«23
In dem Ruf nach Bestrafung der Täter kann somit abermals die eigene Gewalt identifikatorisch und projektiv ausagiert werden, ohne dass jemals ein Rechfertigungsdruck entstehen würde. Damit ist die komplette Ökonomie der Gewalt nicht nur des 11. Septembers, sondern auch des
22 Michael Günter: »Un-Heimliche Gewalt. Angstlust, Inszenierung und identifikatorische Projektion destruktiver Phantasien«, Psyche, Heft 3 (2006), S. 231f. 23 Ebd., S. 232. 35
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›War on Terror‹ erklärt; eine durchaus perfide Ökonomie, die stets nur die Gewalt des Anderen erkennt.24 Wenn mit Freud Therapie das Bewusstwerden des Unbewussten bedeutet, dann hat man das therapeutische Potential, welches Baudrillards Überlegungen boten, mit der Skandalisierung derselben verspielt. Statt sich, bevor man einen internationalen ›Krieg gegen den Terror‹ anzettelt, auch der eigenen destruktiven Gewalt bewusst zu werden, wurde jede Art der Auseinandersetzung jenseits der klar definierten Täter-OpferKategorien abgewehrt – durchaus im Sinne psychoanalytischer Abwehrmechanismen. Es war also nicht das Anders-, Neu- oder Einzigartige von Baudrillards Überlegungen, welches ihr Provokationspotential ausmachte, sondern dieses lag in der diskriminierenden Begrenztheit des damaligen Diskurses begründet.
D e r u n m ö g l i c he T au sc h Allerdings elaboriert Baudrillard noch eine dritte These und damit die zentrale These des Artikels, indem er die Selbstmordattentate des 11. Septembers als »symbolische Gabe« zu fassen versucht25. Diese ist auch aus einer weniger ideologisch verengten Perspektive, auch heute im Kontext einer zum Allgemeinplatz gewordenen Kritik am ›War on Terror‹, nicht ohne eine gewisse ›Umstellung des Gehirns‹ nachzuvollziehen. Doch bevor Baudrillards These im Einzelnen betrachtet wird, sei eines bereits vorweggenommen: Was Baudrillard in seinem Artikel zum Selbstmord als symbolische Gabe schreibt, mag provokativ sein, aber eben nicht neu. Vielmehr entwickelt Baudrillard den Theorieapparat, den
24 Selbst im Umkippen des ›War on Terror‹-Diskurses mit der Berichterstattung US-amerikanischer Kriegsverbrechen griff dieser Mechanismus noch. Erstens aus europäischer Perspektive, die in der Bush-Administration, meist aber in ›den Amerikanern‹ die Anderen der Gewalt identifizierte. Zweitens aus der Perspektive der Bush-Administration, die beispielsweise das Kriegverbrechen von Haditha als ein Irrläufertum einzelner fehlgeleiteter Soldaten identifizieren wollte. So zitiert die Tagesschau George W. Bush am 31. Mai 2006 in seiner ersten Reaktion auf das Massaker von Haditha mit den Worten: »Sollten sich die Anschuldigungen als richtig erweisen, werden die verantwortlichen Soldaten bestraft«. Die Verantwortung wie die Eskalation der Gewalt liegt also ausschließlich bei einzelnen ›Kriegsverbrechern‹, die zur Rechenschaft gezogen werden sollen, das militärisch-politische System selbst sowie dessen kriegerische Gewalt aber bleiben über jeden Zweifel erhaben. 25 J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 11. 36
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er 2001 (wieder) zur Anwendung bringt, bereits 25 Jahre zuvor. Insbesondere Baudrillards Theorien zum Selbstmordattentat lassen sich bis in dessen Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod aus dem Jahre 1976 zurückverfolgen. Er versucht dort – bezogen auf den linksradikalen Terrorismus der frühen 1970er Jahre – das Selbstmordattentat als ultimative Kritik am westlich-kapitalistischen System zu beschreiben. So liest man 2001: »Den Kampf in die symbolische Sphäre verlegen, in der die Regel der Herausforderung, des Rückstoßes, der Überbietung gilt. So wie der Tod nur durch einen gleich- oder höherwertigen Tod beantwortet werden kann. Das System durch eine Gabe herausfordern, die es nicht erwidern kann, es sei denn durch seinen eigenen Tod und Zusammenbruch. Die Hypothese der Terroristen lautet, dass das System in Reaktion auf die vielfache Herausforderung durch Tod und Selbstmord seinerseits Selbstmord begeht.«26
Und konnte bei Baudrillard bereits 1976 lesen: »In der Erwiderung auf die vielfache Herausforderung des Todes und des Selbstmordes [der Terroristen] muß sich das System selbst umbringen. […] Denn jeder Tod paßt unschwer ins Kalkül des Systems, selbst die Kriegsschlächtereien, nur nicht der Tod als Herausforderung, der symbolische Tod, denn dieser hat kein kalkulierbares Äquivalent mehr – er führt zu einer Überbietung, die nicht anders sühnbar ist als durch einen entsprechenden Tod. Für den Tod steht nur der Tod ein. Und das ereignet sich in diesem Fall: das System wird dazu getrieben, sich seinerseits umzubringen.«27
Dass Baudrillard denselben Theorieansatz anwenden kann, liegt darin begründet, dass sich in den letzten 25 Jahren, und vor allem mit dem Ende der Sowjetunion, das westlich-kapitalistische System zusehends globalisiert und mit Baudrillard somit noch mehr zu sich selbst gefunden hat.28 Um zu verstehen, warum das westlich-kapitalistische System auf die Selbstmordattentate mit seiner eigenen Zerstörung reagieren soll, gilt es Baudrillards These in ihren argumentativen Kontext zu stellen: Baudrillards kaum von der Hand zu weisende Basisannahme lautet, dass der Kapitalismus westlicher Prägung durch eine Universalität des Tauschprinzips bestimmt ist. Darum sind die Terrorakte von 9/11 gerade inso-
26 J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 22. 27 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Roland Voullié, Berlin: Matthes & Seitz1991, S. 66f. 28 Siehe hierzu etwa J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 17. 37
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fern ›terroristisch‹, als sie das kapitalistische Grundprinzip (des universellen Tausches) eskalieren und an seine Grenzen führen. Zunächst durch die »Gabe« der 3.000 Todesopfer der Anschläge, die die US-Regierung zu einer ebenso destruktiven Gegengabe der »Überbietung« der Opfer im ›War on Terror‹ um das Zehn- bis Hundertfache herausforderte.29 Damit sei es den Terroristen gelungen, »ihren eigenen Tod zu einer absoluten Waffe gegen ein System zu machen, das von der Ausschließung des Todes lebt, dessen Ideal die Parole ›Null Tote‹ ist«30. Gerade die Überbietung entlarvt das System in seiner Grausamkeit, führt eine Ideologie des modernen technisch-sauberen Krieges ad absurdum, nicht zuletzt auch indem mittels der Tauschrelation eine symbolische Verbindung zwischen den sinnlosen Morden des 11. Septembers31 und dem sinnlosen militärischen Töten Hunderttausender hergestellt wird. Damit steht das militärische Axiom moralischer Gewalt grundsätzlich in Frage, welches die USA und ihre Verbündeten immer schon, und so auch im ›Krieg gegen den Terror‹, für sich in Anspruch genommen haben. Das trug unter anderem solche Blüten wie Wladimir Putins Deklaration des Tschetschenienkrieges als Akt des ›War on Terror‹, obwohl hier doch die Bezeichnung Staatsterror dem Sachverhalt deutlich angemessener scheint.32 Bei Baudrillard klingen in diesem Zusammenhang wieder deutlich die oberen zitierten Überlegungen aus Der symbolische Tausch und der Tod durch, wenn es heißt: »Jedes Blutbad würde ihnen vergeben werden, wenn es einen Sinn hätte, wenn es als historische Gewalt[33] 29 Ebd., S. 22. Die geschätzten Opferzahlen schwanken je nach Organisation und dahingehend, ob nur die Opfer direkter Gefechte oder auch Folgeopfer einbezogen werden, zwischen knapp über 40.000 und weit über 900.000 afghanischen und irakischen Todesopfern des ›War on Terror‹. 30 Ebd., S. 21. 31 Bei Baudrillard heißt es ausführlich: »Man versucht, dem Ereignis nachträglich irgendeinen Sinn beizulegen, irgendeine Interpretation dafür zu finden. Die gibt es aber nicht, und so bleibt als einzige ursprüngliche und irreduzible Gegebenheit die Radikalität und Brutalität des Spektakels« (ebd., S. 31). 32 Zur genauen Definition von Staatsterror im Gegensatz zu Terrorismus, Befreiungskrieg etc. siehe Mario Harz/Christer Petersen (»Terrorist oder Freiheitskämpfer? Eine relationslogische Begriffsbestimmung jenseits des ›War on Terror‹-Diskurses«, in: Christer Petersen/Jeanne Riou (Hg.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien/Signs of War in Literature, Film and Media: Band/Volume 3: Terror, Kiel: Ludwig 2008, S. 32ff. 33 Offensichtlich spielt Baudrillard damit auf die Hegel’sche Geschichtsphilosophie an. So heißt es bei Ulrich Arnswald/Jens Kertscher Baudrillard zitierend: »Der Terrorismus ist […] nicht mehr rational, er folgt nicht mehr einer eigenen historischen Dialektik im Sinne Hegels. Baudrillard hält ihn 38
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interpretiert werden könnte – so lautet das moralische Axiom der guten Gewalt«34. Das relationale Verhältnis von Gabe und Gegengabe destruieren die Terroristen aber nicht, und das ist der Hauptstrang der Baudrillard’schen Argumentation, durch die Ermordung der 3.000 Zivilisten. Die Morde sollen ›nur‹ die Gewalt symbolisch wie real eskalieren. Erst der Einsatz »des eigenen Todes« macht den Terrorakt zu einer »absoluten Waffe« gegen das kapitalistische System. Einzig die Gabe des eigenen Todes produziert Baudrillard zufolge ein »absolutes und unwiderrufliches Ereignis«35, indem sie dem relationalen Prinzip eines scheinbar omnipräsenten Tausches als eine unreduzierbare, weil nicht konvertible »Singularität« entgegensteht36. Der Selbstmord der Attentäter stellt insofern eine fundamentale Kritik am kapitalistischen Tauschprinzip dar, als das System sich selbst zerstören müsste, um systemkonform zu handeln und die Gabe des Selbstmordes durch eine adäquate Gegengabe zu erwidern. Aus Hilflosigkeit gegenüber einem derartigen Ereignis würden wir, der kapitalistische Westen, einerseits mit dem »fundamentalen Antagonismus« konventioneller Kriege reagieren,37 andererseits sei uns »jedes Mittel recht, um [die] Taten [der Attentäter] in Misskredit zu bringen«, etwa die Unterstellung: »Diese Terroristen tauschen ihren Tod gegen
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folglich auch nicht mehr für ›real‹, sondern nur für ›symbolisch‹, denn ›als nicht wirklich seiend tritt der Terrorismus nicht in den dialektischen Ablauf der Geschichte ein‹« (»Rezension zu: Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen Verlag, 2002, 98 S.«. Online unter: http://www.iabilis.de/iabilis_t/2004/arsnwaldkertsherr 04.htm, Abruf am 23.11.2006 (2004), S. 4. J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 32. Ebd., S. 21. Ebd., S. 31. Ebd., S. 17. Baudrillard schreibt dazu ausführlich, indem er unter anderem auf Überlegungen aus The Gulf War Did Not Take Place (Jean Baudrillard: The Gulf War Did Not Take Place. Translated and with an Introduction by Paul Patton, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1995) rekurriert: »Jeder dieser Kriege [der Erste und Zweite Weltkrieg sowie der Kalte Krieg] bedeutete einen weiteren Schritt in Richtung einer einheitlichen globalen Weltordnung. Heute befindet sich diese – virtuell an ihre Grenzen gestoßene – Weltordnung im Konflikt mit antagonistischen Kräften, die überall […], ja im Herzen des Globalen selbst anzutreffen sind. Ein fraktaler Krieg […]. Eine Konfrontation, die so wenig zu greifen ist, dass man die Idee des Krieges von Zeit zu Zeit durch spektakuläre Inszenierungen wie im Golf oder in Afghanistan retten muss« (J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 17f.) 39
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einen Platz im Paradies ein«38. Jedoch falle die Behauptung letztlich nur auf diejenigen zurück, die sie im Munde führen: »Selbst den Tod bewerten wir nach dem, was er abwirft, also in Begriffen des Preisleistungsverhältnisses«39. Dieses Dispositiv des kapitalistischen Diskurses stellt der Anschlag laut Baudrillard aber gerade in Frage. Und darin, in der unkontrollierten »Entfesslung der Reversibilität« einer Gewalt, die einem sich globalisierenden Kapitalismus in all seinen Formen imperialistischer und missionarischer Repression immer schon immanent war, bestehe »der wahre Sieg des Terrorismus«40: »Ein Sieg, der überall dort sichtbar wird, wo das Ereignis sich verästelt und einsickert, […] auch in der Rezession des Wertesystems, aller Freiheitsideologie, der Bewegungsfreiheit usw., all dessen, was den Stolz der westlichen Welt ausmachte und worauf sie sich berief, um ihren Einfluss auf den Rest der Welt auszuüben. Was so weit geht, dass die Idee der Freiheit, eine noch ziemlich junge Idee, bereits dabei ist, aus den Gewohnheiten und dem Bewusstsein der Menschen zu verschwinden. Während die liberale Globalisierung dabei ist, sich in genau entgegengesetzter Weise zu realisieren: in Form einer polizeilichen Globalisierung, einer totalen Kontrolle, eines Sicherheitsterrors. Die Deregulierung endet in einem Höchstmaß an Zwängen und Restriktionen, die denen einer fundamentalistischen Gesellschaft gleichkommen.«41
Bevor im Folgenden nochmals überprüft werden soll, inwieweit die Attentäter des 11. Septembers nach Baudrillards Logik tatsächlich einen Sieg gegen das System davon tragen, sei an dieser Stelle die Frage nach dem 11. September als eine Zäsur in der kulturtheoretischen Auseinandersetzung beantwortet. Die Antwort ist zwar nur eine provisorische, da sie sich bloß auf das Indiz der Analyse Baudrillards sowie einer kursorischen Lektüre der Schriften Virilios, Žižeks und Derridas zum Thema beruft. Jedoch führt beides zu dem vorläufigen Ergebnis, dass 9/11 zwar den kulturtheoretischen Diskurs herausgefordert, jedoch nicht zu grundsätzlich neuen Betrachtungsweisen geführt hat. Vielmehr wurden die alten Methoden an der politischen Zäsur, die 9/11 zweifelsohne bedeutet, abermals durchgespielt und idealiter nochmals geschärft. Für einen kulturtheoretischen Paradigmenwechsel aber, wie ihn zuletzt der postmoderne Diskurs der 1970er und -80er Jahre hervorbrachte,42 lassen sich
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Ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 33. Ebd. Hierzu weiterführend Peter V. Zima (Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Basel: Franke 1997), Wolfgang Welsch 40
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keine Anhaltspunkte finden. Ein solcher Paradigmenwechsel wird sich vielleicht erst – vor dem Hintergrund nicht nur des 11. Septembers, sondern auch der Finanzkrise als Symptome eines globalisierten Kapitalismus – in einer neuen theoretischen Hinwendung zum Ökonomischen zeigen.
Die mediale Ökonomie Ulrich Arnswalds und Jens Kertschers durchaus verständige Rezension der (hier vorrangig zitierten) Passagen-Ausgabe von Der Geist des Terrorismus endet mit einem grundsätzlichen Zweifel an Baudrillards Überlegungen: »Die Annahme, die inhaltlichen Ziele der Terroristen seien eine Form der Bekämpfung der Globalisierung, und ihr Rückgriff auf die angeblich ›symbolische‹ statt ›reale‹ Macht sind ebenso unbewiesen wie die Reaktionen der bestehenden Ordnung, also des Systems, die von Baudrillard antizipiert werden, ohne dass sich der vorgezeichnete repressive Automatismus als zwingend beweisen ließe. Vielleicht präsentiert der Terrorismus des 11. September gar keine Prinzipien und damit auch keine dem System überlegenen. Die Intention der Attentäter und ihr Handeln entziehen sich am Ende der Kontrolle der Analysen Baudrillards – und übrigens auch aller anderen Analysten. Baudrillard liefert ein in sich konsistentes Erklärungsmuster. Dies macht das Buch lesenswert. Ob dem aber so ist, bleibt trotz Baudrillards Interpretation weiterhin im Dunstkreis des Spekulativen.«43
Arnswald und Kertscher stellen also nicht die Struktur von Baudrillards Analyse in Frage. Deren innere Logik, deren »Begriffschema« und »Erklärungsmuster« seien vielmehr »konsistent«44. In Frage steht die Validität von Baudrillards Analyse. Dass Arnswald und Kertscher aber im Zuge dessen gerade den »repressive[n] Automatismus« anführen, den Baudrillard genauso wie die Eskalation der militärischen Gewalt durchaus richtig und höchstens in seiner Totalität polemisch überspitzt prognostiziert, lässt die Kritik im Detail nicht sehr überzeugend wirken. Baudrillards Befund, »dass die Idee der Freiheit« dabei sei, »aus den Gewohn-
(Unsere moderne Postmoderne, Weinheim: Akademie 2002) und Christer Petersen (Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel von Thomas Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr, Kiel: Ludwig 2003). 43 U. Arnswald/J. Kretscher: »Rezension zu Jean Baudrillard«, S. 7. 44 Ebd. 41
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heiten und dem Bewusstsein der Menschen zu verschwinden«, sowie die Einschätzung, dass insbesondere die USA sich einer »fundamentalistischen Gesellschaft« annähere45, stellen wohl keine allzu übertriebenen Beschreibungen der Frühphase des ›War on Terror‹ dar, welche zuvorderst durch Persönlichkeits- und Völkerrechtsverletzungen im Namen der allgemeinen Sicherheit geprägt war. Tiefgreifender und plausibler scheint da der Einwand, dass sich die Absichten der Attentäter Baudrillards Analyse entziehen müssen und seine Theorie des Attentats als symbolischer Tausch niemals dem Feld des Spekulativen entrissen werden kann. Aber was bedeutet das eigentlich? Offensichtlich fordern die Autoren, dass Baudrillards Hypothesen verifizierbar sein sollen, etwa in dem Sinne wie es der Wissenschaftstheoretiker Joseph M. Bocheński beschreibt: »Eine Aussage ist verifizierbar, wenn sie verifiziert oder falsifiziert werden kann, d.h. wenn es möglich ist, zu zeigen, dass sie wahr bzw. falsch ist.«46 Dabei soll die Verifizierbarkeit nicht nur als generelle logische Möglichkeit bestehen, sondern in einer konkreten empirischen Möglichkeit der Verifikation. Das bedeutet, Baudrillards Hypothesen sollen nicht nur deswegen nicht falsch sein, weil sie an sich nicht falsifizierbar sind (weil also grundsätzlich nicht die Möglichkeit besteht, die Falschheit von Baudrillards Thesen empirisch zu beweisen). Das wäre etwa die Struktur von Verschwörungstheorien. Diese verlassen gerade deshalb niemals den »Dunstkreis des Spekulativen«47, weil sie auf ihre Nicht-Falsifizierbarkeit hin konstruiert sind. So lässt sich beispielsweise behaupten, dass eine bestimmte Art von rosa Kaninchen in Kühlschränken lebt, immer nur dann, wenn diese geschlossen sind, und ohne je Spuren zu hinterlassen.48 Man beweise empirisch, dass das nicht wahr ist. Während sich logisch etwa einwenden ließe, wie man die Eigenschaften von etwas kennen kann, das sich gerade dadurch auszeichnen soll, dass es nicht empirisch zugänglich ist. Und tatsächlich scheint sich Baudrillards Hypothese vom Selbstmord als unmöglicher Tausch gegen eine Falsifikation insofern zu sperren, als man weder die Attentäter selbst noch ihr Umfeld nach ihren ›wahren Motiven‹ fragen kann, und selbst wenn man diese befragen könnte, wohl aufgrund fundamentaler kultureller Differenzen die Motive nicht verstehen würde. Arnswald und Kertscher behalten also Recht, wenn sie per se 45 J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 33. 46 Joseph Maria Bocheński: Die zeitgenössischen Denkmethoden, Tübingen, Basel: Franke 1993, S. 63. 47 U. Arnswald/J. Kretscher: »Rezension zu Jean Baudrillard«, S. 7. 48 Natürlich verhalten sich diese Kaninchen auch äußerst scheu gegenüber Infrarot- oder Röntgenstrahlen sowie gegenüber jeder anderen Art der technischen Sichtbarmachung. 42
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westliche Spekulationen über die terroristischen Intentionen verwerfen; konsequenterweise jede Spekulation, nicht nur die Baudrillards, sondern auch die Spekulationen »aller anderen Analysten«49. Das hieße weiterhin, dass wir als westliche Beobachter zu diesem Thema grundsätzlich schweigen müssen, es sei denn, es wäre doch noch eine andere Art der Analyse möglich. Diese könnte man als ›kritischen Ethnozentrismus‹ bezeichnen. Dergestalt, dass wir die Selbstmordattentate daraufhin befragen, wie wir, die Mitglieder des westlich-kapitalistischen Systems, sie verstehen und was die Art des Verstehens über uns und über die Dispositive unseres Eigen- und Fremdverständnisses aussagt. So gelesen erscheinen Baudrillards Überlegungen nicht mehr nur spekulativ, sondern durchaus plausibel: nämlich nicht mehr als Hypothesen zur Erklärung terroristischen Verhaltens, sondern nun als kritisch-reflexive Beschreibungen eines sich globalisierenden Kapitalismus, mit all dem, was dieser an Gewalt, welche unter anderem im Terror des 11. Septembers ihren Rückstoß findet, verursacht. Dementsprechend beschreibt Baudrillard auch den Terror als Effekt des Systems und eben nicht als etwas Fremdes, das von den Terroristen in ›unsere Welt‹ hineingetragen wird: »There is a global perfusion of terrorism, which accompanies any system of domination as though it were its shadow, ready to activate itself anywhere, like a double agent. We can not longer draw a demarcation line around it. It is at the very heart of this culture which combats it. […] That system can face down any visible antagonism. But against the other kind […], the agent of its own disappearance, against that form of almost automatic reversion of its own power, the system can do nothing. And terrorism is the shock wave of this silent reversion.«50
Insofern lesen sich Baudrillards Ausführungen bei all ihrer Polemik auch nicht als esoterischer Unsinn im Stile Karlheinz Stockhausens,51 sondern 49 U. Arnswald/J. Kretscher: »Rezension zu Jean Baudrillard«, S. 7. 50 J. Baudrillard: »The Spirit of Terrorism«, S. 10. 51 Scheinbar lassen sich auch Stockhausens Aussagen vom 16. September 2001 auf den Sinnzusammenhang der seinem Werk und vor allem dem 29stündigen Opernzyklus Licht zugrunde liegenden Kunstauffassung zurückführen. So liest man bei Christian Ruch: Da »der Tod [für Stockhausen] ›nur‹ den Übergang in eine wie auch immer geartete höhere Daseinsform dar[stellt], folgt daraus fast logisch eine Umwertung des ihm innewohnenden Vernichtungsmoments. Der Fokus rückt von der Vernichtung des Existierenden mit all seiner Tragik auf das Potenzial neuer Entwicklungsmöglichkeiten, das in der Vernichtung angelegt ist. Hier zeigen sich im Werk Stockhausens stark gnostische Vorstellungen« etc. (»›... und dann werden 43
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als durchaus plausible Thesen zur Beschreibung der 9/11-Anschläge als Folge eines globalisierten Kapitalismus. Aber eben nur, sofern man sich auf diese Thesen einlassen will, was kurz nach dem 11. September 2001 augenscheinlich noch unmöglich war. Das heißt aber nicht, dass Baudrillards Beschreibungen über jede Kritik erhaben sind. Tatsächlich gilt es, dessen Erklärungsmuster hinsichtlich ihrer Konsistenz zu befragen, welche Arnswald und Kertscher gerade nicht in Frage stellen. Dort, wo Baudrillard auf die Medialisierung der Anschläge des 11. Septembers eingeht, stellt er fest: »Among other weapons of the system which they turned around against it, the terrorists exploited the ›real time‹ of images, their instantaneous worldwide transmission […]. The role of images is highly ambiguous. For, at the same time as they exalt the event, they also take it hostage. They serve to multiply it to infinity, and at the same time, they are a diversion and neutralization […]. The image consumes the event, in the sense that it absorbs it and offers it for consumption.«52
Tatsächlich wären die Wirkung und Reichweite der Anschläge ohne ihre massemediale Multiplikation so gering gewesen, dass sie als Akt eines weltweiten Terrors kaum einen Sinn gemacht hätten. Auch war der Preis für die sofortige weltweite Verbreitung des ›Ereignisses‹ dessen spektakuläre Medialisierung, so dass 9/11 in gewisser Weise – und ganz in Übereinstimmung mit Baudrillards Theorie der Simulation53 – »nur mehr als Bildereignis« existiert54. Jedoch weist Baudrillard an dieser Stelle noch auf einen weiteren Effekt der ›Medienpräsenz‹ des 11. Septembers 5000 Leute in die Auferstehung gejagt‹ – Der Stockhausen-Skandal und die Wiederkehr des Verdrängten«. online unter: http://www.kath.ch/ infosekten/text_detail.php?nemeid=6374, Abruf am 15.07.2009 [2001]). Allerdings ist die Quelle, ein Internetportal der katholischen Kirche der Schweiz, ebenso dubios wie die Analyse des Autors, der das Werk Stockhausens bloß oberflächlich zur Kenntnis nimmt. Interessant wäre hier eine – vor allem auch musikwissenschaftlich – fundierte Werkanalyse Stockhausens vor dem Hintergrund seiner 9/11-Äußerungen. 52 J. Baudrillard: »The Spirit of Terrorism«, S. 27. 53 Siehe Baudrillards Simulationstheorie zusammenfassend C. Petersen (Der postmoderne Text, S. 204ff.), in sie einführend Wolfgang Kramer (»Jean Baudrillards Theorie der Immaterialisierung des Arbeitsprozesses im Verhältnis zum sozialen Wandel«, Tumult 34 (2009), S. 69ff.) und sie kritisierend Paul Majukt (»Baudrillard’s Disappearing Reality: Sophisticated Blindness and Pictures of Nothing That Speak«, Tumult 34 (2009), S. 85ff.). 54 J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 30. 44
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hin: Die massenmediale Inflation der Bilder entwertet den Terror im gleichen Maße, in dem sie ihn verbreitet. In dem Moment, in dem der Terror des Todes Tausender medial eskaliert wird, wird er auch schon wieder deeskaliert, da die Anschläge im Medialisierungsprozess ihres Bedrohungs- oder Beunruhigungspotentials und damit ihrer eigentlichen Botschaft beraubt werden. Dieser Prozess steigert sich sukzessive in der massenmedialen Verbreitung des Terrors, der vor allem auch eine Vermarktung des Terrors ist, und an dessen vorläufigem Endpunkt die mediale Auferstehung von 9/11 in Hollywood steht. In kommerziellen, das heißt von vornherein auf einen ökonomischen Erfolg hin konzipierten, Filmen wie Oliver Stones Word Trade Center (USA 2006) oder Paul Greengrass’ United 93 (USA 2006) finden die Anschläge des 11. Septembers, endlich jeder realen Bedrohung beraubt, ihre neue Existenz im konsumierbaren Spektakel des Katastrophenfilms. Und das Publikum kann, nachdem es seine ›Schuld‹ zuvor an der Kinokasse beglichen hat, befreit von jedem Realitätsdruck am pathetisch-brutalen Spektakel des konsumierbaren Gefühls – abermals identifikatorisch und projektiv – teilhaben. In diesem Prozess der massenmedialen Vermarktung verliert letztlich auch das Selbstmordattentat seinen terroristischen Wert. Der Terrorakt wird zu einer unfreiwilligen Gabe ans System, an ein System, welches den Terrorakt zum Spektakel transformiert und als solches konsumiert. Was die Terroristen dabei gewinnen, ist eine weltweite Aufmerksamkeit, was sie verlieren, ist ihre Botschaft. Und indem sich die Attentäter mit den Anschlägen in die Massenmedien einschreiben, gehen sie dem System von Gabe und Gegengabe letztlich in die Falle: Wie die Anschläge in ihrer Medialisierung zu einem Spektakel werden, das selbst den Tod zu einem konsumierbaren Medienevent macht, so fordert auch der Selbstmord der Attentäter in seiner Medienpräsenz das kapitalistische System letztlich nicht heraus. 9/11 bietet dem kapitalistischen wie medialen System bloß wieder neues Material für seinen endlosen Austausch von Waren und Informationen als Waren. Der Sieg des Terrorismus, den Baudrillard konstatiert, wird so – auch nach der Logik der Baudrillard’schen Argumentation – zu einem Pyrrhussieg. Und die Anschläge erscheinen gerade deswegen so sinnlos, weil die Attentäter des 11. Septembers 2001 eine Botschaft der Verweigerung gegenüber dem globalisierten Kapitalismus, wenn überhaupt, nur im Verzicht auf Austausch und Kommunikation hätten manifestieren können – nicht aber im konsumierbaren Spektakel des massenmedial inszenierten Mordens ihrer selbst und anderer. Hier zeigt sich der blinde Fleck der Analyse: Baudrillard unterschätzt die Komplexität einer Ökonomie, die längst schon den Medialisierungs-
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prozess erfasst hat, und damit auch die Widerstandsfähigkeit der Massenmedien gegen jeglichen symbolischen Akt. Methodisch zeichnen sich hierin die Grenzen des alten postmodernen Paradigmas ab und kündigen sich zugleich die Vorzeichen eines neuen Paradigmas an, die Vorzeichen einer konsequenten Kritik der nicht mehr nur politischen, sondern vor allem auch massenmedialen Ökonomie.
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9/11
CHRISTIAN DE SIMONI Ein Artikel von Jörg Lau mit dem Titel »Warum die Linke den Verschwörungstheorien zum 11. September zuerst verfällt«, abgedruckt in der Zeit vom 11. September 2003, endet mit der Feststellung: »Der breite Zulauf zu den Politparanoikern zeigt, dass es vielen offenbar immer noch schwer fällt, sich von dem Angriff mit gemeint zu fühlen. Lieber möchten sie an die abstrusesten Komplotte glauben als daran, dass die Terroristen wirklich meinten, was sie sagten und taten.«1
Den ›linken‹ Paranoikern »fällt es« also »schwer«, sich von dem Angriff »mit gemeint zu fühlen«. Dabei ist es, so suggeriert Lau, doch auch für sie naheliegend zu erkennen, dass die Terroristen ›uns‹ »wirklich« »meinten«. Dass also wir alle mit den Anschlägen vom 11. September gemeint sind. ›Wir sind gemeint‹ war in literarischen, politischen und kommentierenden Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 die Standardfloskel, wobei sich das ›wir‹ vom gesamten ›Westen‹ bis hin zur ›Zivilisation‹ bzw. zur ›Menschheit‹ ganz allgemein ausdehnte.2 Diese Art öffentlicher Selbsterkenntnis im Extremereignis gibt es nicht erst seit dem 11. September 2001. Und auch die Mechanismen, die der Selbstproklamation als Betroffene oder Betroffener zugrunde liegen und folgen, haben Tradition. Hier soll untersucht werden, wie dieser für Lau und den ›Westen‹ wohl normale und rationale Mechanismus funktioniert.
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Jörg Lau: 11. September. »Ein Wahn stützt den anderen. Warum die Linke den Verschwörungstheorien zum 11. September zuerst verfällt«, in: Die Zeit vom 11.09.2003. Vgl. Christian de Simoni: »Betroffenheitsgesten in politischen, publizistischen und literarischen Antworten auf 9/11«, in: Sandra Poppe/Sascha Seiler/Thorsten Schüller (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009, S. 81–99. 49
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Als Zäsur empfundene Ereignisse der Gegenwart lösen direkte Betroffenheit auch bei weit Entfernten aus und motivieren ›uns‹ außerdem dazu, öffentlich zu äußern, dass ›wir‹ uns ›gemeint‹ fühlen. Gleichzeitig werden »abstruseste Komplotte« verfolgt; sei es, dass Katastrophen als Strafe eines rächenden Gottes gelesen werden, sei es, dass als Drahtzieher der Terroranschläge eine global operierende Ölindustrie oder die eigene Regierung (oder beides) vermutet werden. »Was die Verschwörungstheoretiker betreiben«, behauptet Lau, »ist im Grunde eine pervertierte Schwundform von Theodizee. Sie machen das Böse erträglich und mildern seine Schockwirkung. Nein, die Welt ist nicht aus den Fugen, alles lässt sich lückenlos erklären! Die Stelle des guten Schöpfergottes, den die Theologen mit dem Bösen zu vereinen suchten, vertritt in dieser pervertierten Theodizee eine gigantische Verschwörung als die treibende Kraft der Geschichte.«3
Die Linke verfällt, so beantwortet Lau die Frage im Titel seines Artikels, den Verschwörungstheorien deshalb, weil die offizielle Erzählung eine rechte ist. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft, des Dialogs der Kulturen, das Lau in den Ereignissen bestätigt sieht, kann die Linke nicht mit ihrer Vorstellung einer ›gerechten Gesellschaft‹ vereinbaren, weshalb sie Verschwörungstheoretikern verfällt, die in einer aufdringlichen Akribie mit ›Fakten‹ und der ›Wahrheit‹ operieren – in einer an den Empirismus der Aufklärung erinnernden Zwanghaftigkeit.4 Die Geschichte ist seit Menschengedenken geprägt von als Zäsur empfundenen Katastrophen und Ereignissen – und die Theodizee eine alte Frage. Die Formel ›si Deus, unde malum?‹ findet sich, so Odo Marquard in einem 2008 erschienenen Sammelband über das Erdbeben von Lissabon, »Bezug nehmend auf Epikur – schon in ›De ira Dei‹ von Laktanz und […] später abgehandelt in metaphysischen Kapiteln ›De causa
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J. Lau: »11. September«. Vgl. Buchtitel wie 9/11/01 – Die Wahrheit (Eric Laurent); Die Terrorflüge (Terrorlüge): Der 11. September 2001 und die besten Beweise, dass wirklich alles anders war (Andreas von Rétyi); Mythos 9/11: Der Wahrheit auf der Spur. Neue Enthüllungen (Gerhard Wisnewski); 11. September: Die Bildbeweise (Gerhoch Reisegger); Die Wahrheit stirbt nicht – Das Terrorszenario des 11. Septembers 2001. Hintergründe, Fakten, Fragen Schlussfolgerungen (Hans-Jürgen Falkenhagen). Die Paranoia ist daran erkennbar, dass sie sich als das ankündigt, was sie eben gerade nicht ist: »Fakt«. 50
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Dei‹«.5 Obwohl die Frage »Wenn es Gott gibt, woher dann die Übel?« also einer längeren Tradition entstammt, ist doch das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 eine ganz besondere Herausforderung. Insgesamt starben damals – je nach Quelle – etwa 30 000 Menschen, gut zehnmal mehr als am 11. September 2001. Die ganze Stadt wurde durch das Beben und dadurch ausgelöste Flutwellen und Feuer zerstört. Ulrich Löffler schreibt in seiner Dissertation mit der Übertreibung im Titel, Lissabons Fall, Europas Schrecken, über den Vergleich dieses mit anderen ›handlichen Daten‹, dass »rhetorische Daten immer wieder zur Orientierung nötig sind«; es bleibt aber trotzdem »die Aufgabe eines detaillierteren historischen Blicks auf die konkrete Formierung der behaupteten Umbrüche«6, deshalb untersucht er eine große Zahl protestantischer Predigten ›nach Lissabon‹. Beim Erdbeben in Lissabon, so seine Schlussfolgerung, ist – wie beim 11. September (ließe sich ergänzen) – das Datum bloß der (erinnerte) Zeitpunkt, an dem sich seit Längerem abzeichnende Entwicklungen erstmals deutlich zutage treten. Löfflers Relativierung kann insofern für das hier verfolgte Unternehmen gerade nicht als solche hingenommen werden: »Es ist historisch und systematisch-theologisch noch zu unbestimmt, wenn der vermeintliche Vergleichspunkt [zwischen ›Tschernobyl‹ und ›Lissabon‹] lediglich in einer ›Erschütterung‹ bisher gültiger theologischer oder politischer Selbstverständlichkeiten oder nur unpräzise bestimmter ›Mentalitäten‹ gesucht wird.«7
Was Löffler hier mit »lediglich« bezeichnet, ist eine doch ziemlich präzise Beschreibung einer – wenn auch allenfalls nur vermeintlichen – historischen Zäsur. ›Nichts ist mehr, wie es war‹, galt auch für ›nach Lissabon‹. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass das Erdbeben 1755 »Kristallisationspunkt des Problems, nicht seine Erfindung«8 war, »An-
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Odo Marquard: »Die Krise des Optimismus«, in: Gerhard Lauer/Thorsten Unger (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2008, S. 205–215, hier S. 207. Ulrich Löffler: Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, Berlin/New York: de Gruyter 1999, S. 26. Ebd., S. 630. Susan Neiman: Das Böse denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 74. 51
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lass, nicht aber Ursache«9 für einen dann doch weitgehenden gesellschaftlichen und politischen Wandel bis hin zur Französischen Revolution. In derselben Art war der 11. September Anlass, aber wohl ebenso wenig Ursache für zwei Kriege in Afghanistan und Irak und einen ebenfalls feststellbaren gesellschaftlichen Wandel. Zumindest im historischen Diskurs ist das Erdbeben in Lissabon ›11/1‹ als Zäsur vor der Zäsur ›9/11‹ in nicht geringem Maß am Paradigmenwechsel der Aufklärung beteiligt. Ewa Mayer betont beispielsweise die »einschneidende Wirkung« des Erdbebens »auf die Ideen- und kulturgeschichtliche Entwicklung in Europa«, die unter anderem deshalb möglich war, weil das Ereignis in bisher nicht da gewesener Weise von den Medien rezipiert wurde: »[N]eben den Abhandlungen in Zeitungen erschienen auch zahlreiche philosophische, religiöse oder naturwissenschaftliche Traktate, die sich mit den Ursachen und Auswirkungen der Katastrophe auseinander gesetzt hatten.«10 Nach Lissabon wie nach 9/11 entbrannte eine große Diskussion in allen Medien weit über die betroffene Stadt hinaus. Debattiert wurde über die Vereinbarkeit des Bösen mit der Existenz eines guten Gottes bzw. über die Vereinbarkeit verschiedener Weltanschauungen miteinander. ›Nach Lissabon‹ geriet der Feudalismus in eine Krise, ›nach 9/11‹ schienen die Anstrengungen zu einem interkulturellen Dialog vorerst gescheitert. Die Frage nach Gott und die Frage nach dem (anderen, fremden) Menschen sind nicht grundverschieden. Die strukturelle Position des anderen, anhand dessen der Mensch sein Wesen zu definieren versucht, kann sowohl ein Gott als auch ein Fremder einnehmen. In beiden Fällen wird sie auf eine größere, weitgehend unbekannte Instanz verschoben, von der man sich aber doch eine ganz genaue Vorstellung schafft und mittels der man versucht, über sein eigenes Wesen Auskunft zu erhalten. Wenn Jörg Lau fordert, man möge sich doch als ›Mitgemeinte‹ der Anschläge erkennen, so stellt sich die Frage, wer das implizierte ›wir‹, das die Terroristen, gemäß Lau, »wirklich meinten«, ist bzw. wer nicht in die engere Auswahl des ›Westens‹, der ›Zivilisation‹ oder gar der ›Menschheit‹ kommt. Im Zentrum der Diskussion, die nach beiden Extremereignissen entbrannte, steht letztlich die philosophische Grundfrage nach dem Wesen des Menschen. Im folgenden diskursanalytischen Streifzug werden in Arnold Stadlers Anthologie Tohuwabohu, erschienen 2002, und in Heinrich von 9
Gerhard Lauer/Thorsten Unger: »Angesichts der Katastrophe. Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert«, in: dies. (Hg.), Erdbeben, S. 13–46, hier S. 37. 10 Ewa Mayer: Inszenierungen des Schreckens, Voltaires Tragödienkonzept nach 1755, in: ebd., S. 244–257, hier S. 244. 52
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Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili, erstmals 1807 publiziert, Tendenzen sichtbar, die nicht bloß die Zäsur 9/11 und daran anschließende Fragen, sondern auch unsere Antwort auf diese antizipieren. Die Reaktionen auf verschiedene (vermeintliche) Zäsuren gleichen sich. Eine historische Zäsur wirkt aber jeweils in beide Richtungen: Weder danach noch davor ist etwas, wie es war. Im Nachhinein lässt sich auch die Vergangenheit neu deuten, da nun ein Wissen darüber besteht, wohinein erst nachträglich11 auszumachende Tendenzen münden. Der in diesem Aufsatz unternommene Vergleich versteht sich deshalb als Beitrag zur Relativierung einer Hysterie, die im Affekt des Schreckens zu Kurzschlusshandlungen führte; als Aufforderung auch, zweimal zu denken, sowohl zurück als auch nach vorne, und damit als Beitrag zur Analyse der Zäsur ›9/11‹.
S t ad l e r : T o h u wa bo h u Von Arnold Stadler herausgegeben erscheint 2002 eine Textsammlung, bestehend aus einer »Synopse aus Altem Testament, Neuem Testament und Koran« sowie »Texte[n] aus der Welt der Literatur«, die »im Zusammenhang des 11. Septembers gelesen«12 werden können und, so Stadlers im Vorwort deklarierte Absicht, dies auch sollen. Der Schriftsteller und Theologe Stadler kehrt angesichts des Schreckens zurück zu Gott. Er möchte sich selbst und den Leserinnen und Lesern Halt bieten mit diesen »im Horizont des 11. September zusammengestellt[en]« Texten, »die das Treiben und Leiden, das Betreiben und Erleiden des Menschen, der unterwegs ist, vergegenwärtigen«.13 Krisen und schwierige Zeiten hat es, so Stadlers Bilanz, immer gegeben, der Mensch »war und ist bis zum heutigen Tag erschüttert und fasziniert von Katastrophen und Katastrophenberichten, nicht erst seit dem 11. September«.14 In der Relektüre klassischer Texte relativiert sich die Hysterie der Gegenwart. »Ich las«, so Stadler, »und sah, dass die Texte die alten sind, weil die
11 Zur Bedeutung des Begriffs »Nachträglichkeit« bei Freud, Lacan und Derrida, auf die Bezug nehmend dieser Begriff hier verwendet wird, vgl. Jacqueline Hamrit: »Nachträglichkeit«, http://www.clas.ufl.edu/ipsa/jour nal/2008_hamrit01 vom 11. 05. 2009 (2008). 12 Arnold Stadler (Hg.): Tohuwabohu. Heiliges und Profanes, gelesen und wiedergelesen von Arnold Stadler nach dem 11. September 2001 und darüber hinaus, Köln: Dumont 2002, S. 20. 13 Ebd., S. 23. 14 Ebd., S. 20. 53
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Fragen die alten sind«.15 Im Zentrum von Tausenden Jahren Überlieferung steht die Frage aus Psalm 8: »Was ist der Mensch?«16 Bilanzierend auf seine Textsammlung und die Gegenwart blickend, beantwortet Stadler diese Frage selbst in der folgenden, für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema völlig unzureichenden Weise: »Definition Mensch: jener, der Türme bauen und zerstören kann; jener, der tötet und getötet wird, jener, der lebt und stirbt.«17 Stadler beginnt die Verarbeitung der Terroranschläge, wie die meisten, mit seiner eigenen Person und der Mitteilung, wo er sich zum Zeitpunkt der Anschläge aufgehalten hat. Noch davor aber folgt in Anklang an einen literarischen Usus der Wetterbericht. »Der 11. September 2001 war«, schreibt er, »zunächst auch für mich, ein schöner Tag«.18 Umso dramatischer erscheint im Kontrast der Impact. – Vom Tag des Erdbebens in Lissabon wird immer wieder berichtet, »dass in geradezu groteskem Gegensatz zum schrecklichen Ereignis die Sonne schien und der Tag relativ mild war«.19 Dieselbe meteorologische Beobachtung eröffnet auch den 9/11-Commission-Report: »Tuesday, September 11, 2001, dawned temperate and nearly cloudless in the eastern United States.«20 – Stadler war mit anderen Schriftstellern am Comer See unterwegs, die Nachricht erreichte ihn per Handy. Am Abend sollte er einen Vortrag über den Begriff »z’semme g’keit«21 (zusammengefallen, eingestürzt) im Gedicht Die Vergänglichkeit von Johann Peter Hebel halten. Darin schildert ein Vater seinem Sohn, wie die Stadt Basel »um das Jahr zweitausend«22 völlig zerstört sein wird. Der Vortrag wird aus aktuellem Anlass auf den nächsten Tag verschoben, es »hatte uns, wie man so sagt, vorerst die Sprache verschlagen«. Der Vortragstext ist der Anthologie als Nach-
15 Ebd., S. 30f. 16 Ebd., S. 31; vgl. Psalm 8,5: »Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, / des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?« Bei Stadler: »Was ist der Mensch, dass du an ihn gedacht hast? Dieses Menschenkind, dass du es machen lässt«, S. 66. Stadler benutzt, wie er nachweist, dieselbe Übersetzung [Die Bibel. Einheitsübersetzung, Freiburg im Breisgau u. a.: Herder 1980], die hier und auch im Folgenden verwendet wird. Er hat den Text also wohl selbst nachbearbeitet. 17 A. Stadler: Tohuwabohu, S. 31. 18 Ebd., S. 12. 19 U. Löffler: Lissabons Fall, S. 127. 20 Thomas H. Kean (Hg.): The 9/11 Commission Report, New York: W. W. Norton 2004, S. 1. 21 A. Stadler: Tohuwabohu, S. 13. 22 Ebd., S. 367, bei Hebel: »wemme nootno gar zweytusig zehlt«, zit. nach A. Stadler: ebd., S. 352. 54
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wort beigefügt. »Z’semme g’keit«, schließt Stadler dort, »ist das Fanalwort von Hebels Vision kurz nach der französischen Revolution und vor allem Fortschritt des vergangenen Jahrhunderts des Fortschritts. Hebels Gedicht scheint aber wie für uns und mich geschrieben, für unser unglaubliches Jahrhundert aus Atombombe und Auschwitz«.23 Und, kann man im Nachhinein ergänzen: den Anschlägen vom 11. September 2001. Nach diesen war es, erinnert sich Stadler, »als ob wir selbst eingestürzt wären, als ob die Welt zusammengefallen wäre, als ob wir es mit eigenen Augen gesehen hätten«.24 Stadler fragte sich, »wie es weitergehen würde mit der Welt, also auch mit uns, also auch mit mir«.25 Die Betroffenheitsgeste führt zur bereits wiedergegebenen Frage danach, was den Menschen ausmacht. Angesichts des Extremereignisses beginnt der Mensch damit, sich zu hinterfragen. Er wird an seine Sterblichkeit erinnert, daran, dass Türme einstürzen können, dass die Erde beben kann, und ist entsprechend verunsichert. Vor die Fragen ›was bin ich?‹, ›was wird aus mir?‹ lässt sich, gewissermaßen als Schutz, die Gattung ›Mensch‹ stellen. Es gab, so viel wird aus Stadlers Textsammlung klar, immer schon Katastrophen und Extremereignisse und Berichte und Kommentare dazu. Kurz nach dem 11. September kommt Stadler etwa der Prophet Jeremias in den Sinn und die Zerstörung der Stadt Jerusalem. »Auch seither«, stellt er fest, »ist die Welt eine andere, wenn auch nicht für alle. Immer wieder wurde die Welt eine andere, wenn auch nicht für alle, und nichts war wie bis dahin, dachte ich. Und alles ist immer lange her, und die Welt hat sich weitergedreht. Auch seit dem 11. September ist es weitergegangen.«26 Die Frage (›was ist der Mensch?‹), die man und Stadler sich angesichts der Ereignisse stellt, ist auch bekannt als die vierte, die drei ersten (›was kann ich wissen?‹; ›was darf ich hoffen?‹; ›was soll ich tun?‹) zusammenfassende, philosophische Grundfrage Immanuel Kants. Sie findet sich in dieser Form in keinem seiner Werke, ist nur in einer Nachschrift zu den Metaphysikvorlesungen sowie in einem Brief an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Mai 1793 überliefert.27 Wie Reinhard Brandt in seiner Studie zur Bestimmung des Menschen bei Kant zu Recht feststellt, liegt das Problematische dieser Frage in ihrer Statik, denn
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Ebd., S. 370. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. Vgl. Reinhard Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg: Meiner 2007, S. 102f. 55
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»wenn einmal das Wesen des Menschen vom Philosophen bestimmt ist, lässt sich die Suche nicht weiterführen, das Ergebnis kann den anderen nunmehr arbeitslosen Philosophen mitgeteilt werden. Die Bestimmung dagegen verzeitlicht das Wesen; der Mensch vollzieht in der Selbstbestimmung seine eigene Bestimmung, der Kantische Mensch ist nicht, sondern wird.«28
Der Versuch der Bestimmung des Menschen bei Kant lässt sich zunächst im Zusammenhang mit dem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Trend, alles zu bestimmen und zu taxieren, lesen. Eine, so Brandt, »Furie des taxonomischen Bestimmens durchzieht die Köpfe und die literarischen Äußerungen, und die Epoche sticht dadurch hervor, dass sie sich selbst als das Zeitalter der Aufklärung bestimmt. ›Die Bestimmung des Menschen‹ ist also auch so lesbar, dass der Mensch das alles bestimmende und so auch sich selbst bestimmende Wesen ist.«29
Die Selbstbestimmung, die den Menschen angeblich ausmacht, steigert sich am 11. September dahingehend, dass er nicht nur seinen eigenen Tod, sondern damit auch denjenigen Tausender anderer bestimmen kann, wenn er denn selbstbestimmend genug ist. Die minutiösen Vorbereitungen der Terroristen vom 11. September überließen denn auch nichts dem Zufall. Wie Michael Reinhard Heß in seinem Vergleich der Terroristen vom 11. September mit dem Papstattentäter von 1981 mitteilt, folgten jene aber einer »geistlichen Anleitung« mit religiösen Anweisungen »für jeden zeitlichen Abschnitt des Anschlagsplans, bis buchstäblich zur letzten Sekunde«, mit denen verhindert werden sollte, dass sie an ihrem Unternehmen zweifeln und es in letzter Sekunde abbrechen. Das Vorhandensein dieser Anleitung beweist, so Heß, nicht nur die religiöse Motivation der Anschläge. Vielmehr offenbart es »einen Wunsch nach unbedingter, pausen- und lückenloser Kontrolle über den Geist der Attentäter, der durch eine Mischung von islamistischer Beschäftigungstherapie und Gehirnwäsche mit allen Mitteln an der Entfaltung einer autonomen Perspektive gehindert werden soll, die den vorgesehenen Ablauf des Attentats behindern könnte«.30 Von Selbstbestimmung kann also nicht die Rede sein.
28 Ebd., S. 105, kursiv im Original. 29 Ebd., S. 135. 30 Michael Reinhold Heß: Ali Ağca und der 11. September: Denkwürdige Koinzidenzen, in: Andreas Kraß/Thomas Frank (Hg.): Blut und Tinte. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 258–306, hier S. 272. 56
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K l e i s t: D as E r db e be n i n C h i li »Weichet fern hinweg, ihr Bürger von St. Jago, hier stehen diese gottlosen Menschen!«, ruft in Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili »eine Stimme, des Chorherrn Predigt laut unterbrechend, aus«31, kurz bevor die beiden Protagonisten, ein Neugeborenes und Freunde von der erzürnten Menge umgebracht werden. Bereits in seiner ersten Reaktion am 11. September 2001 droht Präsident Bush, man werde alles Mögliche tun, »to hunt down and to find those folks who committed this act«.32 In den folgenden Kriegen in Afghanistan und im Irak sterben Tausende. Sofort nach den Ereignissen wurden die ersten Namen genannt, bin Laden und die Taliban. »Die schnelle Fokussierung auf Bin Laden und die Taliban«, schreibt Armin Winiger, »sowie die kulturelle Lesart der Verbrechen als Angriff auf die westlichen Werte legen jedoch die Vermutung nahe, dass die Wahrnehmung von Bush bereits durch den Diskurs vom ›Kampf der Kulturen‹ beeinflusst war«.33 Laut Winiger erfüllt Bush nur die sich selbst erfüllende Prophezeiung Samuel Huntingtons, dessen Thesen des Clash of Civilizations erstmals im Sommer 1993 in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienen und zunächst dort in folgenden Ausgaben eifrig diskutiert wurden.34 Der insbesondere nach dem 11. September 2001 oft zitierte Politologe arbeitete sein Leben lang in verschiedenen Funktionen für das amerikanische Verteidigungsministerium, dessen ›Maßnahmen‹ sich im Nachhall der Anschläge vor allem gegen ›islamische‹ Staaten richteten. Huntingtons These war gerade nicht so visionär, wie nach dem 11. September oft behauptet. Vielmehr basierte die Reaktion der amerikanischen Regierung darauf; Huntington war sozusagen Teil (und wohl auch Mitbegründer) des hegemonialen Diskurses, innerhalb dessen die Täterschaft eruiert und ›bestraft‹ wurde. »Islam«, schreibt Huntington 1993, »has bloody borders«. Ebenso erwähnt werden in dem Aufsatz bereits die »nuclear, chemical and biological weapons«, die nach dem 11. Septem-
31 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. II/3, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1993 (Brandenburger Ausgabe), S. 36. 32 George W. Bush: Erste Stellungnahme am 11. 9. 2001, vgl. Armin Winiger: Der 11. September. Mythos einer neuen Ära, Wien: Passagen 2007, S. 46. 33 A. Winiger: ebd., S. 69f. 34 Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, Summer 1993, online greifbar unter: http://www.foreignaffairs.org, zuletzt aufgerufen am 11. 05. 2009. 57
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ber zum, wie sich unterdessen herausgestellt hat, unberechtigten Kriegsgrund werden würden. Wie das amerikanische Verteidigungsministerium durch Huntington ist die ›Meute‹ in der Kirche zu St. Jago durch den moralischen Diskurs vorbereitet. Ermordet werden am Schluss die beiden Personen, die bereits vor den Ereignissen in Ungnade gefallen sind und auf die der Tod wartete. – Dass es außerdem ein paar »Unschuldige« trifft (das Kind z. B.) ist bei Kleist Folge einer Verwechslung, in Bezug auf Afghanistan und Irak mit dem als ›Unwort des Jahres‹ 1999 in die Sprachgeschichte eingegangenen Euphemismus »Kollateralschaden« benennbar. Im Mittelpunkt von Heinrich von Kleists 1657 im Königreich Chili angesiedelter Novelle stehen Jeronimo und Josephe, deren Verhältnis gegen die herrschenden Moralvorstellungen verstößt. Dank des Erdbebens entkommen sie dem Gefängnis bzw. dem Tod. Im Angesicht des ›Entsetzlichen‹ ist für einen kurzen Moment ›nichts mehr so, wie es war‹. Es gibt einen »Umsturz aller Verhältnisse«.35 Jeronimo und Josephe werden von den anderen Überlebenden aufgenommen, man zeigt sich miteinander solidarisch. Das »Ende der Welt«36 führt kurzfristig zur Bildung eines Sinns für menschliche Einheit: »Es war, als ob die Gemüter seit dem fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt wären«.37 Der »menschliche Geist selbst« scheint, »wie eine schöne Blume, aufzugehen«.38 Es ist, »als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu e i n e r Familie gemacht hätte«.39 Auf einer Wiese, an einem locus amoenus, beginnt eine friedliche Zwischenphase, eine Idylle, die bis zur Aufstachelung der Meute im Dankgottesdienst andauert, zu dem die Überlebenden zusammenkommen. Nach der Fanatisierung durch eine Moralpredigt werden Jeronimo und Josephe von der erzürnten Menge vor der Kirche umgebracht. Nach dem 11. September findet sich »weltweit« zunächst ebenfalls Einheit beweisende Mitbetroffenheit (»Wir-Gefühl«, Patriotismus, freiwillige Helfer, Solidaritätsbekundungen). Die ›ganze Welt‹ ist Amerikanerin und bewundert Feuerwehrmänner und die Passagiere von ›Flug 93‹, die das vierte Flugzeug zum Abstürzen brachten. »Sie starben«, schreibt auch bewundernd Susan Neiman, »wie Helden sterben«.40 Alle helfen einander, die Trümmer aufzuräumen. Irene Dische beschreibt diesen Zustand eindrucksvoll: »Eine Zeit lang war Freundlichkeit die einzi35 36 37 38 39 40
H. v. Kleist: Erdbeben, S. 28. Ebd., S. 25. Ebd., S. 24. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27, Sperrung im Original. S. Neiman: Das Böse, S. 421. 58
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ge New Yorker Währung. Die kindlichen Tugenden hatten die Macht ergriffen. Ganz kurz, vom 11. September 2001 an, [sic] war New York eine Utopie«.41 Der Mechanismus der Einheit, Solidarität und Idylle, der den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Erdbeben bei Kleist folgt, scheint auch mit anderen Extremereignissen zu funktionieren. Christian Pfister beispielsweise kommt in seinem Aufsatz über »Naturkatastrophen als nationale Mobilisierungsereignisse in der Schweiz« zum Schluss, »dass die schweren Naturkatastrophen« im späten 19. Jahrhundert in der Schweiz (Hochwasser, Felsstürze) »erfolgreich als Plattformen zur Inszenierung nationalen Gedankengutes und nationaler Erlebnisse instrumentalisiert worden sind«.42 Zugleich mit der Einigkeit nach dem Ereignis, post festum sozusagen, gibt es in Chili und Amerika eine Rückbesinnung auf christliche Werte, die im Stadium höchster religiöser Verzückung, im Gottesdienst in Santiago oder anlässlich der Äußerungen des amerikanischen Präsidenten nach 9/11, dahin gehend ausartet, dass die Feinde erkannt und der Vernichtung preisgegeben werden: »My administration has a job to do«, verkündet Bush am 15. 11. 2001, »and we’re going to do it. We will rid the world of the evil-doers. We will call together freedom loving people to fight terrorism«.43 Gleichzeitig wird versucht, den Anfangszustand wiederherzustellen. Die Rückkehr zum Alltag wird erleichtert, wenn der Feind erkannt und die Gefahr dadurch bereits halb gebannt scheint. Mangelt es an einem konkreten Feind, kann der Mechanismus auch umgedreht und beim Kollektiv »wir« begonnen werden. Bemühungen, die Normalität wiederherzustellen, gibt es vonseiten sowohl des Marquis de Pombal, Bürgermeis-
41 Irene Dische: Als wir noch Kinder waren. Eine New Yorker Utopie – mitten in der Katastrophe, in: Toni Morrison et al.: Dienstag 11. September, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2001, S. 24–33, hier S. 28. 42 Christian Pfister: Naturkatastrophen als nationale Mobilisierungsereignisse in der Schweiz, in: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen: Narr 2003, S.283–298, hier S. 296f, vgl. auch: Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach: Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500– 2000, Bern: Haupt 2002. 43 George W. Bush: Today we mourned, Tomorrow we work, Remarks by President upon Arrival, The South Lawn, 15. September 2001. Online: http://www.whitehouse.gov, zuletzt aufgerufen am 15. 11. 2008, heute leider nicht mehr greifbar. 59
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ter von Lissabon, als auch Rudolph Giulianis, Bürgermeister von New York. Susan Neiman schreibt: »Pombal musste die Bedeutung des Erdbebens herunterspielen, um Lissabon wieder zur Normalität zurückzuführen. Seine Mahnung, die Geschäfte wieder aufzunehmen, floss aus derselben Quelle wie die Aufforderung Giulianis: Wo alles dagegen spricht, kann es ein heroischer Akt sein, das Leben wieder in normale Bahnen zu lenken.«44
Reinhold Schneiders Erzählung Das Erdbeben (1931) ist ganz dem portugiesischen »Held[en] mit mythischen Zügen«45 gewidmet. Als die Stadt zerstört daniederliegt, fragt ihn der König: »›Welche Stadt wird Hauptstadt? Porto? Coimbra?‹ Der Minister antwortete unbewegt: ›Lissabon.‹ – ›Und wenn das Unglück zurückkommt?‹ – ›Das liegt an uns. Wir bauen neue Straßen, neue Häuser; die Stadt wird vollkommen neu; nichts Altes hat in ihr Platz; das alte Verhängnis nicht und nicht das alte Unheil.‹«46
Wiederaufbau wird zum moralischen Neubeginn. Rudolph Giuliani gründet kurz nach dem 11. September zusammen mit dem damaligen Gouverneur Pataki die Lower Manhattan Development Corporation, die sich das Ziel setzte, »Lower Manhattan« möglichst rasch wieder aufzubauen.47 Am 25. Februar 2002 hält deren erster Präsident, Louis Thompson, einen Vortrag vor dem New Yorker Gemeinderat: »The attacks of September 11th were not simply an attack on the World Trade Center, but an attack on the American way of life. The challenge before all of us today is remembering that tragic day and rebuilding and revitalizing Lower Manhattan«.48 Am 16. Juli 2002 äußert Chairman John C. Whitehead noch Weiterführendes: »When the terrorists attacked the World Trade Center on September 11, 2001, they thought they were striking at the heart of our society, our democracy, our
44 S. Neiman: Das Böse, S. 413. 45 Maria de Lurdes das Neves Godinho: Der Untergang Lissabons und die Macht des Schicksals. Über die Darstellung eines portugiesischen Mythos in der Novelle Das Erdbeben von Reinhold Schneider, in: G. Lauer/T. Unger: Erdbeben, S. 422–434, hier S. 431. 46 Reinhold Schneider: Das Erdbeben, in: ders.: Das getilgte Antlitz. Erzählungen, Köln/Olten: Hegner 1953, S.55–75, hier S. 65. 47 Vgl. http://www.renewnyc.com, zuletzt aufgerufen am 11. 05. 2009. 48 Ebd. (>speeches>02. 25. 02). 60
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economy, and our soul. They believed that if they knocked our buildings down, they would damage our spirits and sink our moral. They were wrong.«49
Der Wiederaufbau wird damit zu einem Wiederaufbau nicht nur des Herzens, der ›Demokratie‹ und der ›Ökonomie‹ in den USA, sondern gar der menschlichen Seele, ein ethischer Akt. Gleichzeitig wird den Tätern eine die ›Demokratie‹ und gar ›unsere Seele‹ und ›unsere Moral‹ umfassende grenzenlose Vernichtungsabsicht unterstellt.
1 1 / 1 v e r su s 9 / 1 1 In der philosophischen Diskussion, die dem ›realen‹ Erdbeben in Lissabon vom 1. November 1755 folgte, zeigte sich zunächst ebenfalls Betroffenheit. So schreibt etwa Goethe über sich selbst: »Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen musste, war nicht wenig betroffen«.50 Nach dem Erdbeben fühlt man die Betroffenheit ›nicht von ungefähr‹ auch in Deutschland. Wie Löffler schreibt, traf das Erdbeben »eine Metropole, mit der man – nicht nur von deutschen Städten aus – in Verbindung stand und von deren Schicksal man im wahrsten Sinne als ›Mitbetroffener‹ erfahren musste«.51 Im Jahr 1755, erklärt Susan Neiman, »war Lissabon kein schläfriges Provinznest. Durch den Handel war Lissabon zu einer der reichsten Städte der Welt aufgestiegen. Am Rande Europas liegend, war die Stadt zum Ausgangspunkt für die Forschungsreisen und die Kolonisation des vorangegangenen Jahrhunderts geradezu prädestiniert; ihnen verdankt sie Macht und Weltstädtischkeit.«52
Auch New York ist eine Metropole und die getroffenen Türme trugen gar den sprechenden Namen »World Trade Center«. New York war aber noch mehr. Andrian Kreye nennt es den »Archetyp der Großstadt«,53 seit dem 19. Jahrhundert »Symbol für die Versprechungen Amerikas und der
49 Ebd. (>speeches>07. 06. 02). 50 Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Werke, Bd. 9, München: Beck 1974 (Hamburger Ausgabe), S. 30. 51 U. Löffler: Lissabons Fall, S. 179. 52 S. Neiman: Das Böse, S. 354. 53 Andrian Kreye: Broadway Ecke Canal. New York – Stadt im Aufbruch, München: Knaur 2004, S. 16. 61
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Moderne […,] Fluchtpunkt der Träume und Sehnsüchte […], Herz der Welt«. 54 Dass die Stadt New York als Traumbild, als Utopie in »unseren Köpfen« herumschwebte, erklärt auch zumindest teilweise die heftigen Reaktionen beispielsweise des Popliteraten Florian Illies in seinem Buch Generation Golf zwei: »Auch die größten Pazifisten haben erkennen müssen, dass es sich bei dem Angriff auf das World Trade Center nicht um eine arabische Einladung zum interkulturellen Dialog gehandelt hatte, sondern um ein Attentat. Und dass der gesamte Westen damit gemeint war. Und seither wird uns von Tag zu Tag bewusster – neben aller Wut auf die raubeinigen Amerikaner, die sich nicht scheren um den Rest der Welt und einfach einen Krieg gegen den Irak angezettelt haben –, dass auch unser eigenes Selbstbild ans Ende gekommen ist.«55
Bei Goethe schließt an die Betroffenheit nahtlos die Frage nach dem Wesen Gottes an: »Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm [dem kleinen Goethe] die Erklärung des ersten Glaubensartikels [›ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen…‹] so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.«56
In der bekannten Diskussion um Leibniz, Pope, Rousseau und Voltaire, in die sich schließlich auch Kant einmischt, rückt immer mehr der Mensch ins Zentrum.57 Der historische Diskurs sieht das Erdbeben in Lissabon als Wendepunkt, als Beginn der Aufklärung und Ende des Optimismus.58 Kants berühmter Beitrag besteht dabei vor allem darin, sich den Phänomenen selbst zuzuwenden und auf einen »physikotheolo-
54 Ebd., S. 17. 55 Florian Illies: Generation Golf zwei, München: Blessing 2003, S. 107, Hervorhebungen hinzugefügt. 56 J.W. v. Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 30. 57 Vgl. den Abriss der Diskussion in Hedwig Appelt/Dirk Grathoff (Hg.): Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart: Reclam 1986, S. 50–75. 58 Vgl. z. B. Harald Weinrich: Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon, in: ders.: Literatur für Leser: Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Sprache und Literatur 68, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz: Kohlhammer 1971, S. 64–76, hier S. 71. 62
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gischen Deutungshorizont«59 zu verzichten. Der Optimismus verstummte zwar, wie Löffler bemerkt, »nicht einfach angesichts des Erdbebens von Lissabon«, sondern zunächst wurde versucht, angesichts der Katastrophe auf die (göttliche) »geordnete Gesamtwirklichkeit«60 hinzuweisen (vonseiten diverser Prediger, aber auch z. B. Rousseaus und Kants). Aber die Naturwissenschaften wurden immer stärker, erforschten ›maritime Fossilien‹ und suchten nicht zuletzt auch nach ›natürlichen Gründen‹ für das Erdbeben. Und entsprechend wurde Gott geschwächt. Wie es Odo Marquard pointiert zusammenfasst: »Theodizee gelungen, Gott tot«.61 Letztlich, obwohl auch hier beim Setzen einer direkten Kausalität Vorsicht geboten ist, führt diese Diskussion direkt oder indirekt zu den umfassenden sozialen Umwälzungen der Französischen Revolution. Susan Neiman erklärt: »Mit den wachsenden Erwartungen an eine transparente intellektuelle Ordnung wurde auch die Forderung nach einer entsprechenden sozialen Ordnung lauter«.62 Die ›gottgegebene‹ Feudalordnung steht ebenso zur Diskussion wie der Gebende selbst; ohne Gott gibt es auch keine gottgegebenen Stände. Die Französische Revolution wird zur historischen Geburtsstätte sowohl der modernen Demokratie, in deren Namen die Kriege in Afghanistan und Irak geführt werden, als auch des Begriffs »Terror« in seiner nach 9/11 inflationär verwendeten Bedeutung. Die Beschäftigung mit dem Naturphänomen und die Frage nach Gott lösen anfänglich auch in Reaktionen auf das Erdbeben aufgefundene »Betroffenheitsphrasen«63 ab, führen zur Frage nach dem Menschen und münden (über noch zu untersuchende Umwege) in den säkularisierten Individualismus unserer Tage. Während nach dem Erdbeben Zweifel an Gott laut werden, erwachen nach den Selbstmordanschlägen vom 11. September 2001 Zweifel am Menschen (F. Illies: »unser eigenes Selbstbild [ist] ans Ende gekommen«). Beide Extremereignisse provozieren dieselbe (religiöse wie philosophische) Frage: ›was ist der Mensch?‹ Anstelle einer Krise des Optimismus findet sich nach den Anschlägen eine Krise des Kapitalismus bzw. des Multikulturalismus (»Die Schalmeien der Multikulti-Folklore sind verstummt«64, schreibt etwa Peter Hahne). »Wenn der 11. September 2001 ein neues Geschichtszeichen ist«, erklärt Norbert Bolz, »dann steht es dafür, dass nur der Terror den Mono-
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U. Löffler : Lissabons Fall, S. 622. Ebd., S. 625. O. Marquard: Krise des Optimismus, S. 209. S. Neiman: Das Böse, S. 362. U. Löffler : Lissabons Fall, S. 59. Peter Hahne: Schluss mit lustig! Das Ende der Spaßgesellschaft, Lahr: St.Johannis-Druckerei 2004, S. 14. 63
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log der Globalisierung aufbrechen kann«.65 Die Utopie einer globalen Gesellschaft vereinigter Konsumenten kann nur tolerant sein, wenn sie beim anderen ebenfalls auf Toleranz stößt. Wie aber »verhält sich eine aufgeklärte Kultur der Toleranz angesichts religiöser Intoleranz?«66 Die Denkfigur ist dieselbe wie diejenige der Theodizee. Stellt die Existenz des Bösen das Gute infrage? Ein Beispiel für eine intensivere Auseinandersetzung als Jörg Laus eingangs zitierte, eher spöttische Bemerkung ist François Julliens Buch Vom Bösen oder Negativen. Durch die Globalisierung, schreibt er, gibt es kein Außen mehr. Das Negative kann nicht mehr ›das Andere‹, der ›andere Block‹ sein. Das Böse wird verdrängt, wird unbewusst, und es entsteht Terrorismus. Die Ereignisse vom 11. September waren deshalb so traumatisch, weil sich darin »das plötzliche, aber resultative Zutagetreten [dieses] ›stillen Wandels‹ sehen«67 lässt. Jullien behandelt die Frage der Theodizee nach dem 11. September mittels eines Tricks, den er bereits mehrmals in anderen Büchern angewandt hat68, des Vergleichs mit China. Im Spiegel des ›Anderen‹ entsteht so eine neue Perspektive auf die alte Frage: Um dem Bösen wirklich auf die Schliche zu kommen, schreibt er, muss man das Gute hinterfragen. »Sobald ein solches Ansich [das Gute], ›gross‹, gesetzt ist, kann dieses Ansich nicht zugleich es selbst und sein Gegenteil sein und auch nicht dieses Andere in sich aufnehmen«.69 Denn: »Gerade die Herausbildung unabhängiger Entitäten (›Entitäten‹, weil unabhängig) verstößt gegen die Logik; sobald man das ›Böse‹ oder den ›Tod‹ an sich (einseitig) benennt, knüpft sich unweigerlich ein Drama – das nach Sinn verlangt, um aufgelöst zu werden«.70 Problematisch ist so gesehen nicht das Feindbild, sondern die Betroffenheitsgeste, die uns als Gute, Zivilisierte, Aufgeklärte darstellt und damit andere ausschließt.
65 Norbert Bolz: Das Konsumistische Manifest, München: Fink 2002, S. 42. 66 Ebd., S. 26. 67 François Jullien: Schattenseiten. Vom Bösen oder Negativen, Zürich/Berlin: Diaphanes 2005, S. 16. 68 Vgl. z. B. ders.: Vom Wesen des Nackten, Zürich/Berlin: Diaphanes 2003; ders.: Über die Zeit, Zürich/Berlin: Diaphanes 2004. 69 Ebd., S. 121. 70 Ebd., S. 127. 64
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T ERRORISMUS
DAS ›SCHLÄFER‹-PHANTASMA. MEDIALE SIGNATUREN EINES PARANOIDEN DENKSTILS VOR UND NACH 9/11 LARS KOCH I . A u sg a n g s t he se Seit dem Zusammenbruch der Systemkonfrontation in den Jahren 1989/ 1991 ist eine auf Dauer gestellte Krise des Politischen zu konstatieren. Versteht man das Politische im Rekurs auf Carl Schmitt als Unterscheidung von Freund und Feind, so lässt sich der Zeitraum der letzten rund 20 Jahre als Phase einer fortgesetzten Latenz begreifen, in der politische Konstellationen instabil geworden und politische Frontlinien erodiert sind. Die paradigmatische Figur der politischen Anthropologie, die sich im Kontext der von der Zäsur 1989/1991 angestoßenen Eskalationsdynamik sukzessive profiliert und seit 9/11 an Aufmerksamkeit weiter dazu gewonnen hat, ist der ›Schläfer‹. Wie kein anderer Typus besetzt er in unterschiedlichen Ausgestaltungen seit dem Ende des Kalten Krieges das Imaginäre der westlichen Gesellschaften und markiert dabei den äußersten (weil aus der Mitte der Gesellschaft heraus agierenden) Grad von Bedrohung. Seit 9/11 hat – nicht zuletzt aufgrund der faktischen Personalisierung der Attentäter auf den Fahndungsplakaten des FBI – ein paranoider Denkstil um sich gegriffen, der im Bekannten und Gewohnten permanent nach Anzeichen von Gefahr und Verrat forscht und dabei dem Verlust an Orientierung und Unterscheidungskompetenz reproduziert.
I I . K r i se d e r P o l i ti k s e i t 1 9 8 9 / 1 9 9 1 Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes ist das globale politische Koordinatensystem aus den Fugen geraten. Während des Kalten Krieges realisierte die atomare Abschreckung ein symmetrisches Gleichgewicht zwischen den Supermächten, das politische Prozesse im globalen Maßstab relativ kalkulierbar sein ließ. Seit 1991 steht – wie dies der Kulturwissenschaftler Friedrich Balke formuliert – die bis dato gültige Normalität des Feindes zur Debatte: »Die Ausnahmebeziehung, die die 69
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Struktur der Souveränität bestimmt, ist nicht länger durch die Existenz eines unversöhnlichen Antagonismus gekennzeichnet, der sich in einem Zwei-Blöcke-System institutionalisieren lässt, sondern manifestiert sich in einer radikalen Asymmetrie.«1 Nach dem Verschwinden des ›Gleichgewichts des Schreckens‹ ist somit sukzessive eine Situation entstanden, in der sich die nationalen und internationalen Institutionen in einem zunehmend undurchsichtigen Netz von so genannten low-intensity-Konflikten und asymmetrischen Kriegen verwickelt haben. Das Politische, im Rekurs auf Carl Schmitt verstanden als ein Denken in der binären Opposition von Freund und Feind, gerät während der 1990er Jahre schrittweise in die Krise. Die Verflüssigungen des politischen Machtgefüges werden in den kapitalismus- bzw. imperialismuskritischen Debatten in Kunst und Gesellschaftstheorie zunächst zwar als Paradigmenwechsel hin zu einer Apotheose von ›Rhizomen‹, ›Plateaus‹, ›Netzen‹, und ›Multitudes‹ gefeiert. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre jedoch depotenziert sich im Kontext des ersten Irakkriegs, des Bombenanschlags auf das World Trade Center (1993), der Angriffe auf die US-Botschaften von Nairobi und Daressalam (1998) und der Attacke auf den Zerstörer USS Cole (2000) der Traum vom Ende der Geschichte und einem friedlichen Zusammenwachsen der Weltgemeinschaft unter liberaldemokratischer Flagge. Im Zuge der sich im Schatten des Terrors ankündigenden »geopolitischen Wende«2kommt es zu einem shift in der Bewertung geostrategischer und ökonomischer Problemlagen, die zunehmend Zweifel und Verunsicherungen über den Status der weltpolitischen Machtbalance laut werden lassen. Spätestens mit 9/11 zerbrachen dann alle Hoffnungen auf eine friedliche und vernetzte Welt. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 markieren vor dem Hintergrund des bisher Gesagten in der Tat so etwas wie einen politischen und kulturellen Kulminationspunkt. Diesen möchte ich aber weniger als radikalen Bruch verstanden wissen, denn als eine Schwelle, die schon zuvor zu beobachtende Elemente eines geopolitischen Bewegungsmusters beschleunigt und stärker ausgeleuchtet hat hervortreten lassen. Weniger die terroristische Herausforderung hat sich an 9/11 radikal neu gestellt, als dass sich vielmehr die Art und Weise modifiziert hat, wie die westliche Welt die Konstellationen des Politischen seither wahrnimmt. Seit 9/11 ist Terror »das neue Prisma, durch das wir unsere Welt verstehen und die Prioritäten politischer Szenarien und Handlungsräume 1
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Friedrich Balke: »Restating Sovereignty«, in: Cornelia Epping-Jäger/ Torsten Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.): Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln: Dumont 2004, S. 13-37, hier S. 24f. Niels Werber: »Der neue Supercode. Der Kampf der Peripherie gegen das Zentrum«, in: Frankfurter Rundschau, 18.02.2002, S. 23. 70
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bestimmen«3. Hieraus resultieren, wie Hardt und Negri dies dargestellt haben, neue Formen kriegerischer Aktion, die sich im so genannten ›war on terror‹ jenem Handlungsfeld der Ununterscheidbarkeit anzupassen versuchen, das nach dem Ende der »weltpolitischen Topologie des Kalten Krieges«4 entstanden ist. Konkret stellt sich der westliche Antiterrorkampf als ein Nichtkrieg dar, der die klassischen Ordnungsmuster zwischenstaatlicher Konfrontation hinter sich gelassen hat und einer Logik folgt, die die Vermischung von Polizei- und Kriegsrecht mit dem Verweis auf den Ausnahmefall legitimiert. In der Argumentation der von der Bush-Regierung nach 9/11 formulierten »National Security Strategy« klingt diese strategische Neuausrichtung wie folgt: »Enemies in the past needed great armies and great industrial capabilities to endanger America. Now, shadowy networks of individuals can bring great chaos and suffering to our shores for less than it costs to purchase a single tank. Terrorists are organized to penetrate open societies and to turn the power of modern technologies against us.«5
Dergestalt positioniert betreibt die US-amerikanische Regierung die Postulierung von Vertrauen als Verdachtskommunikation. Sie eröffnet eine semantische Legitimationsspirale, die 9/11 als ein welthistorisches Ereignis behauptet, um das diffuse Feld des Politischen neu ausrichten zu können. Die zentrale Bedeutung dieser Zäsur, die den Übergang von einer »Ordnung der souveränen Nationalstaaten hin zu einer postsouveränen Welt der transnationalen Netze«6 markiert, sieht das USamerikanische Verteidigungsministerium im Jahre 2006 in der Unmöglichkeit, Frontverläufe wie in früheren Zeiten genau abstecken zu können: »The Westphalian world order is being challenged by a new form of insurgency – transnational, distributed, networked.«7 Der neue Feind
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Thomas Elsaesser: »Terror und Trauma: Siamesische Zwillinge im politischen Diskurs«, in: ders.: Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin: Kadmos 2007, S. 7-49, hier S. 9f. F. Balke, »Restating Sovereignty«, S. 16. The National Security Strategy of the United States of America, September 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss. Niels Werber: »Medien und Formen der Transnationalität: Schwärme«, Vortrag im Rahmen des Projekts »Schwarmlabor« an der Universität der Künste Berlin, Sommersemester 2009, vgl. http://www.design.udkberlin.de/IDK/SchwarmlaborVortrae.ȱ U.S. Department of State: Counterinsurgency in the 21st Century – Creating a National Framework, veröffentlicht am 11. September 2006, http:// www.au.af.mil/au/awc/awcgate/state/72027.htm. 71
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agiert übernational und dezentralisiert. Seine Maximierung von Gefahr und Verunsicherung findet er in der Figur des Schläfers.
III. ›Schläfer‹ und Paranoia Der Umstand, dass die Anschläge vom 11. September den US-amerikanischen Staat an vitalen Knotenpunkten seiner ökonomischen und militärischen Infrastruktur zu treffen vermochten, hat im kollektiven mentalen Haushalt Amerikas eine nachhaltige Wirkung entfaltet. Eine diffuse Angst allumfassender Bedrohung machte sich in den Wochen nach 9/11 in der amerikanischen Medienöffentlichkeit breit, die eine weitreichende Akzeptanz zur sicherheitsbezogenen Beschneidung von Bürgerrechten und zur Ausweitung staatlicher Überwachungsinstrumente schuf. Insbesondere das Faktum, dass einige der Attentäter in den Monaten vor ihrem Angriff unbemerkt in den USA gelebt hatten, schuf eine spezifische Verunsicherung, die sowohl das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen, wie auch den sozialen Nahbereich seiner Bürger betraf. Die US-Regierung reagierte innenpolitisch auf die um sich greifende Angst vor weiteren potenziellen Attentätern, indem sie semantisch wie argumentativ eine Offensive zur geistigen Mobilmachung startete, die angesichts der im Typus des »Schläfers« figurierten Latenz von Gefahr auf die soziale Synchronisation permanenter Wachsamkeit und die Bereitschaft zur Selbstkontrolle setzte. Zentrale Instrumente einer solchen wahrnehmungsdisponierenden ›Politics of fear‹ waren einerseits das als »apparatus of behavior control«8 funktionierende, polychrome Warnsystem der »5 codes« und andererseits der vom Justizministerium herausgegebene »Citizen’s Preparedness Guide«, eine Verhaltenslehre alarmierter Wachsamkeit, die den innenpolitischen Terrorkampf als feindortende Archäologie und politische Epidemiologie in Echtzeit konzeptualisierte: »Your federal, state, and local law enforcement and government agencies are working hard every day to prevent terrorism in America. But there are some things that you can do, too: Know the routines. Be alert as you go about your daily business. This will help you to learn the normal routines of your neighborhood, community, and workplace. Understanding these routines will help you to spot anything out of place.
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Paul Virilio: »The visual clash«, in: CTRL [Space]: Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother, hg. v. Thomas Levine/ Ursula Frohne/ Peter Weibel, Karlsruhe 2002, S. 108-113, hier S. 110. 72
›SCHLÄFER‹-PHANTASMA
Be aware. Get to know your neighbors at home and while traveling. Be on the lookout for suspicious activities such as unusual conduct in your neighborhood, in your workplace, or while traveling. Learn to spot suspicious packages, luggage, or mail abandoned in a crowded place like an office building, an airport, a school, or a shopping center. Take what you hear seriously. If you hear or know of someone who has bragged or talked about plans to harm citizens in violent attacks or who claims membership in a terrorist organization, take it seriously and report it to law enforcement immediately.«9
Gegen den Alptraum des zurückliegenden Zusammenbruchs der Ordnung setzen die politischen Behörden die Forderung nach einer kontrollgesellschaftlichen Verhaltensmodularisierung10, deren Attraktivität ebenso aus der zurückliegenden Expansion des Schreckens wie aus der seit 1991 virulenten Krise des Politischen begründet ist und sich zudem – um es mit Foucault zu formulieren – aus der Sehnsucht des Staates nach einer »in die Tiefe gehenden Organisation der Überwachung und der Kontrolle, [der] Intensivierung und Verzweigung der Macht« speist.11 Entwickelt sich im Kontext dieser Neujustierung des Sicherheitsapparates12 als Ergebnis eines gouvernementalen Ensembles von Reflexionen, Strategien und Technologien13 die gesamte Gesellschaft und insbesondere der städtische bzw. vorstädtische Raum in eine »Zone der Proto-Feindschaft«14, so besetzt der ›Schläfer‹ als ideologische Konstruktion eines
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U.S. Department of Justice, National Crime Prevention Council, USA Freedom Corps (Hg.): United for a Stronger America – Citizen’s Preparedness Guide, Washington 2002, S. 2. Vgl. Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Ders: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 254-261. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt der Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 254 In diesem Sinne definiert Jordan Crandall den Sicherheitsapparat im Anschluss an Vilém Flusser als ein Milieu, »das seine Subjekte vorbereitet oder ihre Neigungen zum Handeln kalibriert.« Vgl. Jordan Crandall: »Bereitschaft«, in: Multitude e.V./Unfriendly Takeover (Hg.): Wörterbuch des Krieges, Berlin: Merve 2008, S. 62-86, hier S. 73. Vgl. Michel Foucault, »Die Gouvernementalität«, in: Ulrich Bröckling u.a. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 41-68. Eva Horn: »Verrat im 20. Jahrhundert. Zur Genealogie des Irregulären in der politischen Theorie der fünfziger und sechziger Jahre«, in: Cornelia Eppinger-Jäger/Torsten Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.); Freund, Feind & 73
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Anderen in eigener Gestalt von nun an in exponierter Weise ebenso das politische wie das kulturelle Imaginäre. Seine besondere Brisanz gewinnt die Figur des Schläfers dadurch, dass sie einerseits im Sinne eines ›medium of exchange‹ ganz verschiedene Bedrohungsdiskurse – etwa: die Angst vor biologischen Virusangriffen, die Angst vor Computerviren, die Angst vor Krebszellen und die Angst vor Terrorzellen – semantisch zu verbinden versteht und zugleich die Subjekte mit einer ›Anrufung‹ zur Wachsamkeit adressiert.15 Kommunikativ erfolgreich ist das interpellatorische Konzept ›Terrorzelle/ Schläfer‹ insbesondere deshalb, weil es seine eigentliche ideologische Funktion naturalistisch invisibilisieren kann: »Das Bild des Sleepers ist aus der Medizin übernommen, wo mit ähnlichen Begriffen potenzielle oder latente Krebserreger und Infektionsherde im Körper des Menschen bezeichnet werden. Es ist das Bild eines körpereigenen und dennoch fremden, zerstörerischen Giftes.«16 Als »fusion figure« (Donna Haraway), in der sich »Phantasien über die Beschaffenheit des eigenen Sozialkörpers verdichten«17, trägt der ›Schläfer‹ so dazu bei, abstrakte Gefahrenmeldungen über die Virulenz des Terrors in konkretere, den Nahbereich tangierende Furcht-Narrative zu übersetzen. Diesen topologischen Aspekt ergänzend eröffnet die Figur des ›Schläfers‹ darüber hinaus – laut Derrida – eine zeitliche Perspektive, die die immer schon zurückliegenden Anschläge als kommende Katastrophe doppelt: »Die Prognose ist düster: Als Produkt der Gewalt, die ihn zu unterdrücken sucht, schuf der Terrorismus ein Trauma, das nicht durch Trauer gelindert werden kann, weil das Herz des Traumas nicht das vergangene Ereignis ist, sondern die Angst vor einem zukünftigen Ereignis, dessen katastrophische Natur nur geraten werden kann.«18
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Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln: Dumont 2004, S. 138-156, hier S. 142. Im Zuge einer theoretischen Konzeptualisierung der ›politics of fear‹ kommt Althussers Konzept ideologischer Staatsapparate in modifizierter Form eine Schlüsselrolle zu. Vgl. hierzu erste Anmerkungen in meiner Projektskizze »(Re-)Figurationen der Angst. Mediale Typologien des Monsters in der populären Gegenwartskultur«, zu finden unter www.spielformen -der-angst.de Christina von Braun: »›Sleeper‹: Der Körper des Fremden«, in: Mihran Dabag/Kristin Platt (Hg.): Die Machbarkeit der Welt. Genozid und Gedächtnis, München: Fink 2006, S. 172-185, hier S. 172. Ebd, S. 185. Jacques Derrida: »Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch mit Jacques Derrida«, in: Jürgen Habermas/ Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, ge74
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Da Semiotik und Intentionalität des »Schläfers« nicht so ohne weiteres zu eruieren sind, entwickelt sich eine omnipotente Verdachtsdynamik, die als eine neue Form der »Kontrolle […] Bewusstsein und Körper der Bevölkerung und zur gleichen Zeit die Gesamtheit sozialer Beziehungen durchdringt.«19 In gewisser Weise stellt sich die politisch bzw. medial konstruierte Angst vor »dem Schläfer von nebenan« als ein »innerer Rassismus permanenter Reinigung« dar, »der zu einer der grundlegenden Dimensionen der gesellschaftlichen Normalisierung wird.«20 Insbesondere die Tatsache, dass die Figur des ›Schläfers‹ jene »Zone der Unentschiedenheit« (Giorgio Agamben) besetzt, die in der terroristischen Unterbrechung des Zusammenhangs von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont entsteht, trägt zu seiner dauerhaften Brisanz bei: Das Narrativ, das zur Bearbeitung der terroristischen Kontingenzerfahrung zur Verfügung gestellt wird, befeuert seinerseits neue verunsichernde Kontingenzerfahrungen. In der Folge kommt es zu einer medial forcierten Feedbackschleife von Verdacht und Verunsicherung, welche die Offenheit der Bevölkerung gegenüber externen Steuerungsmaßnahmen massiv erhöht. Weil sich der innere Feind gemäß seiner »klandestinen Existenz«21 als ›man of the crowd‹ so schwer lesen lässt und der nächste Anschlag »ohne Vorwarnung, […] unvorhersehbar und grundlos«22 hereinbrechen kann, gilt es, die kommende Tat in Form einer realen Präkognition in ihrem Möglichkeitsraum aufzusuchen und so dem Noch-nicht-Täter zuvorzukommen. Da es den staatlichen Stellen jedoch anders als im Spielberg-Film Minority-Report an deterministischen Prognose-Medien fehlt, stellt sich einer solchen Präventiv-Strategie jedoch unweigerlich das Problem der Zeichen und ihrer Bedeutung: Gerade weil in der Figur des ›Schläfers‹ die vermeintliche religiöse und/oder politische Radikalisierung entgegen gängiger Repräsentationskonventionen nicht an äußerlichen Evidenzen festgemacht werden kann, sieht sich der hegemoniale
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führt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradorie, Berlin/Wien: Philo 2004, S. 117-178, S. 123. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M.: Campus 2002, S. 39. Michel Foucault: Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 75. Jean Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus. Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes«, in: Ders.: Der Geist des Terrorismus, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen Verlag 2003, S. 11-36, hier S. 23. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 159. 75
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Mediendiskurs des Zentrums dazu genötigt, Wahrheitsdefizite durch die hegemoniale Produktion hyperrealer Bilder des Bösen (Usama Bin Laden, der fanatische Taliban etc.) zu kompensieren.23 Diese entpuppen sich bei genauerem Hinsehen jedoch als reine Simulation. Hatte sich der Feind während des Kalten Krieges »gleichsam gesichtslos, aber lokalisierbar, abstrakt, aber berechenbar als Black Box präsentiert, deren Manöver und Reaktionen man im mirror-imaging der eigenen Rationalität antizipieren und durchspielen konnte, so fehlt diese Anmutung einer gemeinsamen Rationalität dem neuen Feindbild gänzlich.«24 Zwar ist die Realität der ›neuen Kriege‹ in den westlichen Medien insofern abgebildet, als hinter den medialen Zeichen der terroristischen Anführer die durchaus zutreffende Metapher des Netzwerks in jenes »Vakuum des Feindbildes« einrückt, »das der Kalte Krieg hinterlassen hat.«25 Wie jedoch die Mitglieder dieser vermutlichen Terrornetzwerke als Akteure einer politischen Anthropologie der Abtrünnigkeit konkret vorzustellen sind, bleibt trotz der manichäistischen Rhetorik des US-amerikanischen Kriegs gegen den Terror außerhalb der konkreten Bedrohungsimagination. Die Latenz des paranoiden Zeichenspiels – jeder Nachbar kann sich im nächsten Moment als Attentäter entpuppen – gewinnt dadurch an zusätzlicher Plausibilität, dass der ›Schläfer‹-Diskurs implizit an eben jenem Modus der Unentschiedenheit anknüpft, der die westlichen Subjekivierungsprozesse seit rund zehn Jahren unter dem Label des ›flexiblen Selbst‹ semantisch dominiert: Der ›Schläfer‹ ist deswegen so furchteinflößend, weil er den postmodernen Habitus der situationsbezogenen Selbsterfindung, der bürgerlichen Mimikry und des Spiels mit den Zeichen nutzt, um sein ›authentisches‹, gefährliches Ich bis zum Moment der Tat zu maskieren. Auf diese Weise findet die primäre neoliberale Angst vor Festlegung ein paranoides Doppel in der Figur des souverän mit der Nicht-Festlegung spielenden Terroristen.26 Der ›Schläfer‹, wie er in der Paranoia der ›moral panics‹ konstruiert wird, agiert als kalte Persona unter den Bedingungen des GuerillaKampfes. Schläfer und Terror-Netzwerk erweisen sich so als Widergänger im Sinne Slavoj Žižeks, der die hegemoniale Entäußerung der Genese des Terrorismus an die weit entfernten Grenzen der Peripherie in 23 Vgl. Susanne Regener, »Facial Politics – Bilder des Bösen nach dem 11. September«, in: Petra Löffler/Leander Scholz (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln; Dumont 2004, S. 203-224. 24 Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer-Verlag 2007, S. 479. 25 Ebenda, S. 450. 26 Vgl. hierzu Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München: Beck 2000, S. 40ff. 76
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seinem viel diskutierten Text über die »Wüste des Realen« als ideologischen Effekt decouvriert hat: Die »sichere Sphäre des amerikanischen Lebens wird als ständig von einem Außen bedroht erlebt, von terroristischen Angreifern, die sich rücksichtslos selbst opfern und feige sind. Wo immer wir solche einem rein bösen Äußern begegnen, sollten wir den Mut haben, die Hegelsche Lektion zu unterstreichen: In diesem reinen Äußern gilt es, die destillierte Version unseres eigenen Wesens zu erkennen.«27
Der ›Schläfer‹ agiert zudem nicht nur in einem bestimmten topologischen Raum, der dem Zentrum sehr nahe liegt, er agiert auch in einem medialen Raum, den er mit eben jener Gesellschaft teilt, die er deren eigenen audiovisuellen Narrativen und habituellen Mustern gemäß bekämpft. Dergestalt perspektiviert, bilden terroristische Tat28 und (pop-) kulturelles Phantasma29 einen schillernden Chiasmus, dessen Wurzeln tief in die Meistererzählung der westlichen Moderne zurückreichen und einen analytischen Blick in ihre gegenwartsbezogenen Bildwelten lohnenswert erscheinen lassen.
I V . T e r r o r , V e r s c hw ö r u n g u n d d i e F i k ti o n a l i s i e r u n g s s c h l e i f e Die audiovisuellen Formate der Medien ›Spielfilm‹ und ›Fernsehen‹, die man mit einigem Recht als Leitmedien der letzten rund 70 Jahre sehen kann, haben sich über die Zeitläufte hinweg immer wieder als Seismographen, Katalysatoren und Reflexionsinstrumente von politischen Ereignissen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen erwiesen. In gewisser Weise kommt der Bildklangproduktion von Spielfilm und Fernsehen eine meta-intentionale Eigenschaft zu, die man mit Foucault als Sichtbarmachung der »Positivität der Diskurse« bezeichnen könnte. Gemeint ist damit, dass im Raum des kulturellen Imaginären solche Deu-
27 Slavoj Žižek: »Willkommen in der Wüste des Realen«, in: Christian Geulen/Anne von der Heiden/ Burkhard Liebsch (Hg.): Vom Sinn der Feindschaft, Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 53-76, hier S. 59. 28 Zur Semantisierung des Selbstmordanschlags als ›reine Tat‹ in der Tradition der deutschen Romantik, Friedrich Nietzsches, Ernst Jüngers und der japanischen Kamikaze-Praxis vgl. Navid Kermani: Dynamit des Geistes. Martyrium, Islam und Nihilismus, Göttingen: Wallstein 2002, S. 30ff. 29 Zum phantasmatischen Kontext von 9/11 vgl. J. Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus«, S. 21ff. und E. Horn: Der geheime Krieg, S. 457-478. 77
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tungsmuster und Wahrnehmungen phantasmatisch artikuliert werden können, die auf der Ebene hegemonialer politischer Diskurse die Grenzen des Sagbaren überschreiten oder zumindest doch stark irritieren würden. Gleichwohl darf man sich das Verhältnis des kulturellen Imaginären und des hegemonialen politischen Diskurses nicht als strikt getrennte Sphären vorstellen. Vielmehr überlappen sich beide Bereiche, tauschen Bilder, Narrative und Plotstrukturen aus und bilden im Rahmen ihrer jeweiligen medienspezifischen Übersetzungsleistungen neue aktualitätsbezogene Synergien, die in gewisser Weise als Kartografien des Politischen und Sozialen gelesen werden können. Die Art und Weise, wie sich Kulturen und Politiken der Angst im Zuge einer ausgreifenden Signifikationsdynamik gegenseitig befruchten, kann an den Ereignissen des 11. September 2001 en detail studiert werden. Dies betrifft zunächst einmal den Schauwert der in Echtzeit übertragenen Live-Bilder selbst: Nach 9/11 ist in Feuilletons und Wissenschaft immer wieder fasziniert konzediert worden, wie sehr die Bilder der Anschläge aus den Archiven der Popkultur zu entstammen scheinen, wie sehr der 11. September ein »Teil Hollywoods« gewesen sei.30 Spielfilme wie Die Hard, Godzilla oder insbesondere Independence Day wurden herangezogen, um zu belegen, dass die Anschläge des 11. Septembers ein Bildregister aufrufen, das tief in der Populärkultur des Westens verankert ist. Aber nicht nur auf der Ebene der Bildlichkeit, sondern auch auf der Ebene der Diskursivierung sind Kontinuitäten zu beobachten, die den solitären Status des Ereignisses ›9/11‹ relativieren, es stattdessen eher in eine Kontinuität von westlichen Bedrohungsszenarien und interessengeleiteten geopolitischen Zuschreibungen einordnen und damit die Analysekategorie der ›Zäsur‹ insgesamt mit Fragezeichen versehen. Wie etwa der Historiker Philipp Sarasin instruktiv gezeigt hat, führt im US-amerikanischen Bild- und Diskursraum eine Signifikantenkopplung von den in den 1990er Jahren populären Genres des Bioterror-Thrillers über reale Großübungen zum Schutz von terroristischen Angriffen mit Biowaffen hin zu den im Nachgang von 9/11 aufgetretenen Anthrax-Briefen und Colin Powells denkwürdigem Auftritt vor dem UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003.31 Könnte angesichts der beiden hier angeführten Beispiele zunächst der Eindruck entstehen, der Zeichenstrom laufe eindimensional, vom kultu30 Vgl. z.B. Bernd Scheffer: »›wie im Film‹. Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods«, in: Ders./Oliver Jahraus (Hg.): Wie im Film. Zur Analyse populärer Medienereignisse, Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 13-44. 31 Vgl. Philip Sarasin, Anthrax. Bioterror als Phantasma, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 78
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rellen Imaginären hinein in den politischen Diskurs, so ist dem jedoch zu widersprechen. Ebenso, wie die Popkultur die politische Imagination bedient, partizipiert sie im Gegenzug an der Sphäre des Politischen, indem sie ›reale‹ politische Konstellationen in ihren Narrationen aufgreift und gemäß den eigenen Genre-Konventionen bearbeitet. Dabei übernehmen die popkulturellen Referentialisierungen des Terrors einerseits durchaus die Funktion, spezifische ›Wahrheitspolitiken‹ zu unterstützen und politische Öffentlichkeiten im zuvor dargestellten Sinne zu modulieren. Indem popkulturelle Thematisierungen des Terrors den gesellschaftlichen Raum in Bereiche von Sicherheit und Gefahr unterteilen, leisten sie einen konstitutiven Beitrag zu einer neuartigen politischen Konfiguration, die – ausgehend von der Zäsur 1991 – zunehmend Gouvernementalität als Bedrohung organisiert. Auch wenn einer engagierten Medienanalyse in diesem Sinne in der Sichtbarmachung von Angst als einer Schlüsseltechnologie der Macht eine wichtige Aufgabe zukommt, ist im Gegenzug allerdings darauf hinzuweisen, dass politische Implikationen fiktionaler audiovisueller Lesarten von Welt nicht gemäß unterkomplexer SenderEmpfänger-Modelle vereindeutigt werden dürfen, sondern – die USamerikanische TV-Serie 24 ist hier ein gutes Beispiel32 – in der Tradition der media studies immer auch auf Funktionspotenziale eines Gegendiskurses hin befragt werden müssen. Wir haben es also mit einer dreifachen Komplexität zu tun: Versucht man, die politische Relevanz der fiktionalen Darstellung von Terror in audiovisuellen Medien zu analysieren, so ist zum ersten immer die reziproke Signifikationsdynamik filmischer und außerfilmischer Wirklichkeit zu berücksichtigen. Zum zweiten muss das jeweilige audiovisuelle Produkt innerhalb seines spezifischen medialen Dispositivs, der eigenen Genregeschichte und der eigenen ästhetischen Konventionen kontextuiert werden. Zum dritten ist immer davon auszugehen, dass Spielfilme und Fernsehformate nicht unbedingt auf eine geschlossene Lesart von Welt rekurrieren, sondern möglicherweise Funktionspotenziale eröffnen, die diskursirritierend, wenn nicht gar diskursmodifizierend wirken können. Im Hinblick auf die Figur des ›Schläfers‹, die – wie ich abschließend im Rahmen einiger kursorischer Anmerkungen ausführen möchte – vor und nach 9/11 das westliche Imaginäre an prominenter Stelle bevölkert, ist die Ambivalenz der popkulturellen Terrorbearbeitungen gut nachvollziehbar.
32 Vgl. Lars Koch, »›It will get even worse‹ – Zur Ökologie der Angst in der US-amerikanischen Fernsehserie 24«, in: Sascha Seiler (Hg.): Was bisher geschah. Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen, Köln: Schnitt-Verlag 2008, S. 98-115. 79
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V. Paranoia im Spielfilm Das paradigmatische filmische Genre, in dem die Figur des Schläfers ihr Unwesen treibt, ist der Verschwörungsthriller. Die erste Hochkonjunktur der filmischen Paranoia sind die 1970er Jahre, als im Kontext von Kennedy-Morden, Vietnam und ›Watergate‹-Affäre eine ganze Reihe USamerikanischer Spielfilme in die Kinos kommen, die politische Ereignisse als Verschwörung inszenieren.33 Ausgehend vom Credo jeder Verschwörungstheorie – nichts geschieht zufällig, alles ist mit allem verknüpft, jeder Augenschein trügt – greifen Filme wie Klute (R: Alan J. Pakula 1971), The Parallax View (R: Alan J. Pakula 1974), The Three Days of the Condor (R: Sydney Pollak 1975) und All the President’s Men (R: Alan J. Pakula 1976) das in den USA herrschende Gefühl gesellschaftlicher Verunsicherung auf und führen es unter der Perspektive der politischen Intrige einer vorläufigen Lösung zu, indem sie extradiegetisch Komplexität reduzieren und zeitgleich intradiegetisch Komplexität steigern.34 Zwar greifen im Verschwörungsthriller klassischer Prägung – ähnlich wie in dem verwandten Subgenre des Agententhrillers – einzelne Akteure als Handlanger im Hintergrund agierender Mächte in das Leben zunächst Unbeteiligter ein. Grundsätzlich verläuft aber eine klare Trennlinie zwischen den Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit auf der einen Seite und dem politischen Aktionsfeld auf der anderen. Die sich im Kontext der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung seit den 1960er Jahren in einem neuen Modernisierungsschub massiv beschleunigende Erosion festgefügter normativer Koordinatensysteme konsolidiert der Verschwörungsthriller dergestalt, dass die ›reale‹ gesellschaftliche Veränderungsdynamik implizit als Resultat einer politischen Kausallogik benannt und im Verschwörungszusammenhang einer wenn auch negativen Entlastung zugeführt wird. Diese These, dass der Verschwörungsfilm immer auch als Thematisierung gesellschaftlicher Umbrüche zu werten ist, bestätigt sich auch im Hinblick auf den postmodernen Film der 1980er und 1990er Jahre, der ›Verschwörung‹ auf breiter Front als Handlungssujet weiterführt bzw. wiederentdeckt. Filme wie Twelve Monkeys (R: Terry Gilliam 1995), The Game (R: David Fincher 1997) oder auch The Truman Show (R: Peter Weir 1998) entwerfen das Bild einer Welt, in der sich die Protagonisten in einen umfassenden Ver33 Vgl. aus der Vielzahl der Publikationen zum Verschwörungsthriller aktuell Gordon B. Arnold: Conspiracy Theory in Film, Television, and Politics, New York: Praeger 2008. 34 Vgl. etwa die kulturwissenschaftliche Analyse von Peter Knight: Conspiracy culture: from the Kennedy assassination to The X-files, London/New York: Routledge 2000. 80
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blendungszusammenhang gestellt finden, in dem die Grenzen zwischen Faktizität und Fiktionalität zerfließen. Der angesichts unserer medialisierten Lebensverhältnisse motivgebende Verdacht, dass alles auch ganz anders sein könnte, mündet auf der Ebene der Filmhandlung – paradigmatisch wären hier die Fernsehserie X-Files (P: Chris Carter 1993-2002) und der Spielfilm The Matrix (R: Andy und Larry Wachowski 1999) zu nennen – gemäß des titelgebenden Slogans »Open your Eyes« (R: Alejandro Amenábar 1997) in die Inszenierung einer inneren Paranoia, die die Welt insgesamt als Täuschung anklagt und zugleich entpolitisiert.35 An die Stelle von Realismus tritt im postmodernen Verschwörungsfilm Konstruktivismus, Epistemologie wird durch Ontologie ersetzt: Es geht daher nicht mehr so sehr um die Verschwörung in der Welt, sondern um die Welt als Verschwörung. Ist der postmoderne Verschwörungsthriller damit als Kehrseite jener Eskalationsmedaille der Moderne zu deuten, die nach 1991 die Vision einer weltweiten Netzgemeinschaft träumte, so kehrt gegen Ende der 1990er Jahre im Kontext der am Anfang thematisierten geopolitischen Wende auch die filmische Paranoia in repolitisierter Variante zurück. Insbesondere die beiden Filme The Siege (R: Edward Zwick 1998) und Arlington Road (R: Mark Pellington 1998) thematisieren in Referenz auf den ersten Anschlag auf das World Trade Centre im Jahre 1993 und das Bombenattentat auf das mehrere Regierungsbehörden beherbergende Murrah Federal Building in Oklahoma City vom April 1995 Terror als US-amerikanisches Sicherheitsrisiko. Beide Filme unterscheiden sich dabei vom Verschwörungsthriller der 1970er Jahre dadurch, dass auf der Sujet-Ebene nun einerseits vorzugsweise Unbeteiligte oder zumindest nicht als Einzelpersonen adressierte Staatsbedienstete zum Objekt der Gefährdung werden und andererseits die Figur des ferngesteuerten und dabei zumindest indirekt klar der Klasse des Feindes zugeordneten Handlangers durch die Figur des selbstständig agierenden ›Schläfers‹ als handlungsmotivierendes Element ersetzt wird. Typisch für den USamerikanischen Terrorfilm der späten 1990er Jahre ist, dass auch er mit der paranoia-relevanten Unterscheidung von Oberfläche und geheimen Hintergrund operiert und den gemäß dem »Indizienparadigma«36 spurenlesenden Protagonisten als kognitiven Agenten der Detektion installiert. Neu hingegen ist, dass die für die politische Epistemologie der 1970er Jahre immer noch grundlegende, klare Trennung zwischen Gesellschaft 35 Vgl. Douglas Kellner: »Verschwörung und Akte X. Eine diagnostische Kritik«, in: Rainer Winter (Hg.): Medienkultur, Kritik und Demokratie. Der Douglas-Kellner-Reader, Köln: Halem-Verlag 2005, S. 232-263. 36 Zum Zusammenhang von Verschwörung, Spielfilm und Indizienparadigma vgl. E. Horn, Der geheime Krieg, S. 420ff. 81
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und Verschwörern zunehmend verwischt und das Private als Sphäre von Gefahr und Verrat installiert wird.37 Insbesondere Arlington Road spielt in der Figur des Geschichtsprofessor Michael Faraday durch, wie eine private Existenz zunehmend in den Sog einer politischen Paranoia gerät, zunehmend an der Unmöglichkeit einer proto-semiotischen Unterscheidung zwischen coincidence und conspiracy verzweifelt und letztendlich in den Fallstricken der zu spät erkannten Verschwörung vernichtet wird. Faraday, dessen als FBI-Agentin arbeitende Frau bei einem unberechtigten Einsatz gegen einen Waffenhändler und dessen Familie ums Leben kam, verdächtigt die neu in der Vorortstraße hinzugezogene Familie Lang, etwas Unrechtes im Schilde zu führen. Als er im Ergebnis einer langwierigen nachbarschaftlichen Ermittlung, die dem »Citizen’s Preparedness Guide« alle Ehre gemacht hätte, herausfindet, dass die Langs entgegen allen zwischenzeitlichen Zweifeln wirklich an einem verschwörerischen Anschlag gegen das örtliche FBI-Büro beteiligt sind, ist es jedoch schon zu spät. Die Bombe, die in seinem eigenen Auto versteckt ist, explodiert, als Faraday die Kollegen seiner toten Frau warnen will und viele Menschen sterben.38 37 Nach 9/11 spielen eine ganze Reihe von Spielfilmen und Fernsehserien die Diffusion der Grenze zwischen Privatheit und politischem Raum im Schatten des Terrors durch und fragen, welchen Effekt dies auf die zentrale Kategorie ›Vertrauen‹ hat. Neben der schon genannten Fernsehserie 24 ist hier vor allem an die 2005-2006 im US-amerikanischen Kabelfernsehen ausgestrahlte Serie Sleeper Cell (P: Ethan Reiff/ Cyrus Voris), aber auch an die deutschen Spielfilme Schläfer (R: Benjamin Heisenberg 2005) und Zelle (R: Bijan Benjamin 2007) zu denken. 38 In diesem Sinne ist der Name ›Faraday‹ im doppelter Hinsicht Programm: Der Chemiker und Physiker Michael Faraday entdeckte 1845 einen elektrostatischen Effekt, der dafür sorgt, dass Objekte, die sich innerhalb eines von einem elektrischen Leiter umschlossenen Raumes befinden, von einer Stromladung die von außen an den Leiter herangeführt wird, nicht betroffen sind. Ebenso wie im Faradayschen Käfig kein direkter Austausch zwischen System und Umwelt stattfindet, zeigt sich auch die Filmfigur Faraday in ihrem Verschwörungsdenken gefangen und zu einem konstruktiven Diskurs mit ihrer Umwelt unfähig. Über diese sozialpsychologische Disposition des Paranoikers hinaus referiert die Blitzableiterfunktion des Faradayschen Käfigs zugleich aber auch auf die seit dem im Anschluss an das Kennedy-Attentat veröffentlichten Warren-Report (1966) immer wieder diskutierte Einzeltäter-These. Damals, wie auch im Anschluss an das ›Oklahoma-City-Bombing‹ wurde intensiv diskutiert, ob mit den öffentlich vorgeführten Tätern Lee Harvey Oswald und Timothy McVeigh wirklich die Verantwortlichen gefunden worden sind. Indem Arlington Road vorführt, wie der Protagonist letztlich als unschuldiger Schuldiger als Blitzab82
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Weit interessanter als dieser relativ schlichte und gemäß den Konventionen des Spannungskinos konstruierte Plot, der in seiner Inszenierung einer Verschwörung auf die Debatte um die Einzeltäterschaft Timothy McVeighs im Nachgang des »Oklahoma City Bombings« rekurriert, ist die Art und Weise, wie die Familie der Langs als eine Terror-Zelle inszeniert wird, die das amerikanische Selbstverständnis in seinem Identitätskern trifft. Als Täter fungieren hier nicht unzivilisierte Fanatiker aus dem Mittleren oder Fernen Osten, sondern eine weiße amerikanische Durchschnittsfamilie, die sich in der Legitimation der Tat zudem noch auf eine Pflicht am Vaterland beruft und der Tötung staatlicher Repräsentanten eine tragische Berechtigung, wenn nicht sogar ein heroisches Pathos zuspricht. Faraday, der den staatlichen Stellen eine Mitschuld am Tod seiner Frau gibt und zudem in seinen Seminaren immer wieder über den Zusammenhang von Terror, staatlichen Interessen und Verschwörung agitiert, ist in seiner Denkhaltung gar nicht so weit von der Sichtweise der Langs entfernt. Für Lang wie für Faraday funktioniert der paranoide Verdacht als eine »Maschine des ständigen Verlangens nach Sinn, dessen Einlösung ständig hinausgeschoben wird.«39 In je unterschiedlicher Weise werden Faraday wie Lang von der Paranoia eines unfähigen Staates getrieben, der als Interessensverwalter der amerikanischen Bürger versagt. Einzig in der Frage der Gewalt gehen beide Figuren einen unterschiedlichen Weg. Während Faraday die Erfahrung von Kontingenz durch seine fortgesetzte, nie zu einem Ende kommende Suche nach der Wahrheit zu bearbeiten sucht, bringt Lang diese »Hermeneutik des Verdachts« (Paul Ricoeur) durch die Eindeutigkeit der Tat zum Verstummen. Ohne hier eine detaillierte Analyse von Arlington Road leisten zu können, ist für meine Argumentation gleichwohl wichtig, dass der ›Schläfer‹ schon vor 9/11 einen prominenten Platz in der amerikanischen Popkultur einnimmt. Nach dem 11. September wird die Krise der Unterscheidung von Freund und Feind zu einem zentralen Sujet des repolitisierten amerikanischen und auch europäischen Kinos. Spielfilme wie das Remake von The Manchurian Candidate (R: Jonathan Demme 2004), The Constant Gardener (R: Fernando Mereilles 2005), Syriana (R: Stephen Gaghan 2005), Traitor (R: Jeffrey Nachmanoff 2008) oder auch Body of Lies (R: Ridley Scott 2008) reaktualisieren das politische Feld der Gegenwart unter Einbeziehung bereits bestehender Verunsicherungsleiter für das retrospektive Aufklärungsinteresse fungiert, zweifelt der Film die Einzeltäter-Hypothese im einen wie im anderen Fall an. 39 Markus Vorauer, »Kafkaeskes im Film – Film als kafkaeskes Zeichensystem«, in: Michael Aichmayr/Friedrich Buchmayr (Hg.): Im Labyrinth. Texte zu Kafka, Stuttgart: Akademischer Verlag 1997, S. 185-247, hier S. 198. 83
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potenziale als einen Ort des politischen Positionsverlustes, in dem die fundamentale Kategorie des Vertrauens als Voraussetzung von Verhaltenszurechenbarkeit nichts mehr wert ist. In Reaktion hierauf rückt in komplexen kulturellen Codierungen ein Gewalt-Phänomen wieder verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit, das so gar nicht zur zivilisationsgeschichtlichen Meistererzählung des ›war on terror‹ passen will: Folter. In einer Reihe von audiovisuellen Formaten einerseits als Zeichen des terroristischen Anderen inszeniert, dient sie in weiteren Produktionen zugleich auch dazu, eben jene Indifferenz von Freund und Feind im Zuge eines blutigen Wahrheitsspiels zu redefinieren und den Zweifel des Verdachts in eine virtuelle Eindeutigkeit zu überführen. Die Angstkultur der westlichen Gesellschaften gegenüber den angstfreien und zum Tode bereiten ›Schläfern‹ inspiriert so eine Abfolge von Gefahrenbildern und Bedrohungsszenarien, die vor allem dazu dienen, das »Mobilisierungspotenzial einer Gesellschaft wach zu halten.«40 Der ›Schläfer‹, wie er in den fiktionalen Formaten als permanente Gefahr perhorresziert wird, hält die westlichen Gesellschaften im Status des Opfers und stellt die Anforderungen eines ›Banal Militarism‹ auf Dauer. Gegenläufig zu ihrer statistischen Signifikanz erweist sich die terroristische Gefahr als ein Aktivposten der Gegenwart, der ein Ensemble verschiedenartiger Diskursivierungsstrategien aufruft. Der sich in der Fiktionalisierung des ›Schläfers‹ artikulierende paranoide Denkstil bearbeitet das ausgeschlossene Andere der westlichen Gesellschaft, die die Fragwürdigkeiten ihrer Außen- und Sicherheitspolitik lange Zeit erfolgreich an die Grenzen der Peripherie verdrängen konnte, nunmehr aber an einer spezifischen Autoimmunreaktion leidet: »Der Schläfer […] übernimmt den Posten eines unsichtbaren Feinds, und gerade weil er – bis auf weiteres, bis zu einem Weckruf – unnachweisbar bleibt, löst er alle möglichen Autoimmunreaktionen aus. Er gehört damit zum Fleisch, zu den Organen einer Gesellschaft, die sich selbst misstraut, die sich an ihren eigenen Gefahrenherden identifiziert. Er repräsentiert so etwas wie Systemangst, das heißt eine Angst davor, dass wir hier, in dieser Gesellschaft, tagtäglich unbestimmte Gefahrenadressen produzieren.«41
40 So Joseph Vogl in einem Fernsehgespräch mit Alexander Kluge, das unter dem Titel »Extra-Post der Hölle« am 11.11.2007 im Format »News & Stories« bei Sat1 ausgestrahlt wurde. Hier zitiert nach Alexander Kluge/Joseph Vogl, Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich/Berlin: Diaphanes 2009, S. 123. 41 Fernsehgespräch zwischen Alexander Kluge und Joseph Vogl unter dem Titel »Das Unbewusste der Gewalt«, ausgestrahlt im Format »News & Sto84
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Dass die Figur des ›Schläfers‹ – das im Rekurs auf ein Stichwort Derridas formulierte Resümee Joseph Vogls weist darauf hin – nicht nur im Spielfilm, sondern auch im politischen Imaginären nach wie vor weniger als eine weltaußenpolitische Reflexionskategorie denn als eine innenpolitische Mobilisierungskategorie Attraktivität besitzt, zeigt ein Blick auf den zurückliegenden US-Wahlkampf im Jahre 2008: Auf John McCains bei einer Vielzahl von Großveranstaltungen suggestiv formulierte Frage »Who ist Barak Obama, really?« erklang hundertfach die Antwort »A terrorist!«.42
L i t e r at u r Arnold, Gordon B.: Conspiracy Theory in Film, Television, and Politics, New York: Praeger 2008. Balke, Friedrich: »Restating Sovereignty«, in: Cornelia EppingerJäger/Torsten Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.); Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln: Dumont 2004, S. 13-37. Baudrillard, Jean: »Der Geist des Terrorismus. Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes«, in: Ders., Der Geist des Terrorismus, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 2003, S. 11-36. Braun, Christina von: »›Sleeper‹: Der Körper des Fremden«, in: Mihran Dabag/Kristin Platt (Hg.): Die Machbarkeit der Welt. Genozid und Gedächtnis, München: Fink 2006, S. 172-185. Crandall, Jordan: »Bereitschaft«, in: Multitude e.V./Unfriendly Takeover (Hg.): Wörterbuch des Krieges, Berlin: Merve 2008, S. 62-86. Derrida, Jaques: »Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch mit Jacques Derrida«, in: Jürgen Habermas/Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradorie, Berlin/Wien: Philo 2004, S. 117-178. Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 254-261. Elsaesser, Thomas: »Terror und Trauma: Siamesische Zwillinge im politischen Diskurs«, in: Ders.: Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin: Kadmos 2007, S. 7-49. ries«, 02.03.2003, SAT1, zitiert nach A. Kluge/J. Vogl: Soll und Haben, S. 182f. 42 So etwa in einer Berichterstattung zum US-Wahlkampf Vgl. http://www. spiegel.de/politik/ausland/0,1518,585087,00. 85
LARS KOCH
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L I N K S T E R R O R I S M U S U N D M Ä R T YR E R T U M . E I N E A N N Ä H E R U N G I M H I N BL I C K A U F D I E ›RAF‹ CHRISTOPH DEUPMANN Wer Terrorismus und Märtyrertum in einem Zuge nennen hört, wird nach dem elften September 2001 mit großer Wahrscheinlichkeit zunächst an die Terroristen des Al Quaida-Netzwerks denken, die für ihren spektakulären Massenmord die Idee des Märtyrertums in Anspruch nahmen, weil sie ihr eigenes Leben dabei preisgaben. Aber auch vor dem elften September hätte man etwa an die Selbstmordattentäter der radikal-islamistischen Hizbollah gedacht, die seit den 1970er Jahren im Nahen Osten aufgetreten sind. Denn der politische ›Kampf‹ dieser Terroristen berief und beruft sich explizit auf eine religiöse Wahrheit, die sie mit dem eigenen Tod im Kampf gegen den mächtigen oder sogar übermächtigen Gegner – den Staat Israel oder die USA – zu bezeugen meinen. Diese Gewalttäter, auf deren Morde das geläufige Attribut ›feige‹ nicht zutrifft,1 mit denen man etwa die Taten der westdeutschen ›RAF‹ so häufig bezeichnet hat, setzen bewusst ihr eigenes Leben für die terroristische Tat ein, und sie interpretieren sich, gestützt durch ihr Umfeld, schon zu Lebzeiten – also vor der Tat – als Märtyrer.2 Die Ver(sch)wendung des eigenen Lebens an die terroristische Aktion scheint im europäischen Kontext keine Tradition zu haben; selbst die Attentate auf Hitler sind nicht zuletzt 1
2
Vgl. Susan Sontag: Feige waren die Mörder nicht. Aus dem Englischen von Julika Griem, in: Dienstag, 11. September 2001. 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 33-35; zuerst abgedruckt in der Zeitschrift New Yorker vom 24.9.2001. Vgl. Joseph Croitoru: Der Märtyrer als Waffe, in: Andreas Kraß/Thomas Frank (Hg.): Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 59-71, hier S. 70. – Vgl. dazu auch die Stelle in Don DeLillos ›9/11‹-Roman Falling Man (2007): »Amir had made the pilgrimage to Mecca. He was a hajji, fulfilling the duty, saying the funeral prayer, salat al-janaza, claiming fellowship with those who’d died on the journey. […] They were soon to perform another kind of duty, unwritten, all of them, martyrs, together.« (Don DeLillo: Falling Man, New York, London, Toronto, Sydney: Scribner 2008, S. 223). 89
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daran gescheitert, dass kein Akteur des Widerstands sein eigenes Leben an eine Tat zu wenden bereit war, die Krieg und Massenmord beendet haben könnte. Demgemäß erscheint der islamistische Terrorismus im gegenwärtigen westlich-politischen Diskurs als Form radikaler Differenz oder Alterität; eine Konstruktion, deren Distanz schaffende Funktion sich an der Popularität von Samuel Huntingtons These vom clash of civilizations im Selbstverständigungs-prozess über ›9/11‹ ablesen lässt. Die folgenden Überlegungen gehen in eine andere Richtung. Sie wollen zeigen, dass der Zusammenhang von Märtyrertum und Terrorismus auch im zeitgeschichtlichen Kontext des säkularisierten, in der christlichen Tradition fundierten ›Westens‹ keineswegs etwas Fremdes ist. Es geht also um eine Annäherung des Begriffspaars (›Links‹-)›Terrorismus‹ und ›Märtyrertum‹, also um eine kulturwissenschaftlich orientierte Annäherung an jene Nähe, die sich zwischen beiden Konzepten im Kontext des bundesdeutschen Linksterrorismus hergestellt hat. Damit aber wird ein Konnex in die Nähe der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte gerückt, den der öffentliche Diskurs im Schatten des elften Septembers eher kulturell auf Abstand zu bringen versucht. Dass die Figur des Märtyrers auch in der öffentlichen Rede über die RAF bis in die Gegenwart hinein offenbar eine als gefährlich wahrgenommene Rolle spielt, wird an einer Schlagzeile deutlich, welche die BILD-Zeitung am 16. April 2008 anlässlich einer Äußerung des Schauspielers Stipe Erceg, der in Uli Edels (von Bernd Eichinger produzierter) Verfilmung von Stefan Austs Der Baader-Meinhof-Komplex (2008) das RAF-Mitglied Holger Meins darstellt, auf ihre Titelseite gesetzt hat: »Stipe Erceg: Terrorist Holger Meins war ein Märtyrer. Dieser Schauspieler beleidigt RAF-Opfer«. Der Schauspieler hatte der Zeitung zufolge auf dem Wiesbadener Filmfestival über Meins gesagt: »Er war ein Märtyrer, das kann man schon so sagen, glaube ich.«3 Die Interpretation des Hungerstreiktoten als Märtyrer durch seinen Darsteller im Film zeigt einerseits das zähe Fortleben einer Deutung an, die nicht nur von den Inhaftierten und dem Dargestellten selbst mit propagandistischer Absicht zu Lebzeiten lanciert worden ist, sondern andererseits auch, dass ein solches hagiografisches Modell offenbar weit jenseits einer dominant religiösen Kultur noch ganz selbstverständlich zur Verfügung steht. Aber die Skandalisierung dieser Deutung eines RAF-Mitglieds als eines »Märtyrers« demonstriert zugleich auch, wie stark offenbar das Bedürfnis nach Zurückweisung der Märtyrerrolle im Zusammenhang des westlichen Terrorismus ist. 3
Vgl. BILD.de vom 16.4.2008, online unter http://www.bild.de/BILD/news/ vermischtes/2008/04/16/erceg-ruehmt-raf/meins-war-ein-maertyrer.html vom 3. Juli 2009. 90
LINKSTERRORISMUS UND MÄRTYRERTUM
M i l i ta n te s M ä r ty r e r tu m a l s c hr i s tl i c h e D e u t u n g sf i g u r Im einleitenden Essay zu dem von ihr herausgegebenen Band von Märtyrer-Porträts schreibt Sigrid Weigel mit Bezug auf den 11. September 2001, im Selbstmordattentäter begegne den »westlichen, jedenfalls den säkularisiert-christlichen Kulturen ein Widergänger ihrer eigenen Geschichte.«4 Tatsächlich hat der Islam bei seiner Gründung im siebten nachchristlichen Jahrhundert mit dem Märtyrer eine christliche Deutungsfigur ›beerbt‹, die in der Gleichung von Terrorismus und Märtyrertum fortlebt und deren Verwirklichung sich nun gegen die christlich fundierte westliche Hemisphäre wendet. Während jedoch die frühchristlichen Märtyrer des zweiten und dritten Jahrhunderts aufgrund des Konversionsverbots des römischen Kaisers Septimius Severus aus dem Jahr 201 vor allem erleidend für ihren Glauben einstanden und damit als ›Zeugen‹ – griechisch martys – den Opfertod des Erlösers im Sinne der imitatio christi typologisch wiederholten, haben die Kreuzzüge des Mittelalters zuerst die Figur des kämpferischen Märtyrers hervorgebracht. Als miles christi oder bellatores domini, also als Gotteskrieger, wurden die Kreuzzügler bezeichnet, die nicht in freiwilliger Selbstaufopferung, sondern in Kriegsgefangenschaft den Tod durch Feindeshand fanden.5 Die jüdischen Makkabäer, vor allem Judas Makkabäus, wurden bereits bei Augustinus als Krieger charakterisiert, die für ihren Glauben kämpfend ihr Leben ließen. Das Vorbild der jüdischen Glaubensstreiter rief auch die Christen zur Nachfolge auf: Im karolingischen neunten Jahrhundert wurde Judas Makkabäus zum Prototyp des heiligen Kriegers stilisiert. Der Aufruf zum Kreuzzug, den Papst Urban II 1095 in Clermont verfasste, nannte bereits die Makkabäer als Leitfiguren des christlichen Krieges.6 Auch wenn die christliche Liebesethik, die Paulus im ersten Korintherbrief entwickelte, dem Gedanken des Märtyrertums eher ablehnend gegenüber stand – »und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze« (1 Kor. 13,3) –, hat das Christentum neben dem leidenden den militanten Märtyrer als Deutungsfigur eingesetzt, an die die kämpferische ›Verteidigung‹ der Religion gegen ihre Opponenten anknüpfen konnte. 4
5 6
Sigrid Weigel: Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen, in: S. Weigel (Hg.): MärtyrerPorträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München: Fink 2007, S. 11-38, hier S. 11. Vgl. J. Croitoru: Der Märtyrer als Waffe, S. 65. Ebd. 91
CHRISTOPH DEUPMANN
Zur Logik des terroristischen Märtyrertums Aus diesen kulturhistorischen Bemerkungen können erste Konsequenzen in Hinsicht auf die terroristischen ›Märtyrer‹ gezogen werden. ›Märtyrertum‹ ist offenbar ein kulturelles Deutungsmuster, also kein Status, den sich ein Einzelner autonom durch seine individuelle Tat erwirbt. Märtyrertum ist vielmehr das Produkt einer vor allem postmortalen ›Martyrisierung‹, die bei einer hinreichend aktiven Märtyrerkultur auch schon zu Lebzeiten antizipiert und als sozial-kulturelle Rolle gewählt werden kann. Märtyrerkulturen, in denen der Tod eines Kämpfers zum selbstlosen Opfertod stilisiert werden kann, verfügen über kultische und rituelle Formen des Gedenkens und der Verehrung, ohne die die Märtyrer-Rolle nicht funktioniert. Wie jede Märtyrerdeutung steht auch die Selbst- und Fremddeutung ums Leben gekommener terroristischer Attentäter vor allem im Dienst und Interesse der Überlebenden, nicht der Toten:7 Stets steht das Märtyrertum in einem pragmatischen, letztlich politischen Zusammenhang der Weitergabe oder, mit christlichem Begriff, einer imitatio, die Nachfolgehandlungen evozieren soll. Im politischen Kontext dient es der Proliferation politisch motivierter Gewalt. Der terroristische Akt markiert demzufolge nicht einfach den Abbruch jeglicher Kommunikation, vielmehr wird das Zeichen des Märtyrer-Todes bewusst gewählt und zugesprochen, um affirmative Anschlusshandlungen anzustiften. Diese martyrologische Kommunikation, die über das Zeichen des freiwillig erlittenen oder als Konsequenz des Kampfes bereitwillig in Kauf genommenen Todes verläuft, ist jedoch einlinig oder unidirektional: Es ist die Zäsur des Todes, die jede Rückfrage und damit jede Wechselseitigkeit ein für allemal unterbindet oder unterbricht. Die martyrologische Kommunikation, die den Tod zum zentralen Zeichen erklärt, ist vor allem esoterischer, nicht exoterischer Art: Sie richtet sich in erster Linie an eine ›Ingroup‹ der bereits religiös oder politisch-ideologisch Einverstandenen und Überzeugten, also an einen Kreis, aus dem Akteure terroristischer Anschlusshandlungen gewonnen werden können. In geringerem Maß ist die martyrologische Kommunikation über das Zeichen des Todes demgegenüber exoterisch ausgerichtet, also an die Mitglieder der ›Outgroup‹ adressiert: Hier ist es die moralisch ausgezeichnete Dignität des ›Blutzeugen‹, der das eigene Leben für seinen religiösen Glauben oder seine politische Überzeugung einsetzt, welche die Wahrheit dieser Überzeugung auf unüberbietbar glaubhafte Weise exponieren und vermitteln soll. Durch die Martyrisierung von Kämpfern, die für ein absolut gesetztes Ziel und zugleich gegen eine Macht streiten, die zumindest vorläufig noch als überwältigend angesehen wird, wird es jedoch außerdem 7
Vgl. S. Weigel: Schauplätze, Figuren, Umformungen, S. 16. 92
LINKSTERRORISMUS UND MÄRTYRERTUM
möglich, Täter in Opfer zu transformieren, aktivistische Tat und passives, zum Tod führendes Leiden widerspruchslos ineinander zu überführen. Nicht zuletzt darin besteht die Funktion des martyrologischen Narrativs, wie es im Kontext des politischen Terrorismus eingesetzt wurde und wird. Die Figur des terroristischen Märtyrers verbindet ›archaische‹ und ›moderne‹ Konzepte, auf deren scheinbar paradoxe Überblendung Jeffrey Herfs Begriff des »reaktionären Modernismus« (reactionary modernism) anwendbar ist8: Religiöse Tradition und moderne Waffentechnik, kulthafte Veneration und das urbane Selbstverständnis der Terroristen als »Stadtguerilla« gehen darin eine Verbindung ein, die darum nicht als paradox erscheint, weil das Pathos des ersteren zur Verstärkung des letzteren Konzepts – also der religiöse Märtyrerstatus zur Verstärkung der revolutionär-säkularen Ideologie des bewaffneten Kampfes – dient. Diese Überblendung betrifft nicht zuletzt den Zusammenhang von Märtyrertum und Medialität, also die Verknüpfung ›pathetischer‹ Bildrhetoriken mit modernen Technikformen der Repräsentation, auf die noch einzugehen sein wird. Denn die Martyrisierung terroristischer Täter als Opfer der bekämpften Macht bedient sich in aller Regel einer auf dem Stand der jeweiligen Repräsentationsmedien erfolgenden Ikonisierung und einer daran anschließenden Bilderpolitik, die sie selbst zu Medien der Anklage wie der Verehrung macht. Die martyrologische Inszenierung des Terroristen ist zudem angewiesen auf eine Demokratisierung der Märtyrer-Idee, die sie zugleich im Sinne ihrer politischen, auf Proliferation der Gewalt ausgerichteten Funktion innerhalb einer potenziell gewaltbereiten Gruppe popularisiert. Anders als im christlich-katholischen Kontext, in dem der Märtyrerstatus auf eine institutionelle Sakralisierung und Kanonisierung von ›Blutzeugen‹ angewiesen ist, die in einem formellen Selig- oder Heiligsprechungsverfahren festgestellt wird, ist das dem miles christi entsprechende Kriegermartyrium im Islam von Anfang an nicht an vergleichbare Verfahren gebunden.9 Während die christlichen Märtyrerakten und Martyrologien wie die Legenda aurea aus dem 13. Jahrhundert oder die Acta Sanctorum (1643ff.) ein selektives Verzeichnis von offiziell anerkannten Märtyrern anlegten – also ein exklusives ›Register‹, das noch bis in die Gegenwart hinein mit dem Deutschen Martyrologium des 20. Jahrhun-
8
9
Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge: Cambridge University Press 1984 (reprinted 1987), insbes. S. 1-18. Vgl. David Cook: Martyrdom in Islam, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 35f. 93
CHRISTOPH DEUPMANN
derts10 fortgesetzt wird –, kennt der Islam eine solche Zugangsbeschränkung oder Limitierung hinsichtlich des Märtyrer-Status nicht. Es ist absehbar, dass dies zu einer Inflationierung des Märtyrertums führte. Der libanesische Autor Mahmut Darwish hat die Hauptstadt seines Landes, Beirut, in den 1980er Jahren dementsprechend als regelrechte »Posterfabrik« beschrieben, »die die Posterproduktion auf das Niveau einer Tageszeitung hob. […] Gesichter an den Wänden – Märtyrer an den Wänden, die frisch aus dem Leben, frisch aus der Druckerpresse kommen, ein Tod, der eine Reproduktion seiner selbst ist. Ein Märtyrer ersetzt das Gesicht eines anderen, nimmt seinen Platz an der Mauer ein, bis er wieder durch einen anderen ersetzt oder vom Regen weggespült wird.«11
Auch wenn die Gesichter der mutmaßlichen RAF-Terroristen auf den aushängenden Fahndungsplakaten keine Märtyrer-Porträts repräsentieren, waren sie doch im westlichen Deutschland der siebziger Jahre kaum weniger allgegenwärtig als die Abbildungen der ›Märtyrer‹ in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Die Sympathisanten und Solidaritäts-Komitees, welche die Inhaftierten der ersten Generation der RAF nach ihrem Suizid im Oktober 1977 zu Märtyrern stilisierten, knüpften jedoch an diese Medialisierung an. Wie sehr der Märtyrer-Topos für die im Kontext des Linksterrorismus verurteilten oder gestorbenen Täter schon in den siebziger Jahren abrufbar war, lässt sich an der westdeutschen politischen Lyrik Erich Frieds ablesen. Fried widmete seinen 1977 erschienenen Gedichtband So kam ich unter die Deutschen den RAF-Sympathisanten »Peter-Paul Zahl, Karl-Heinz Roth und alle[n] Lebenden und Toten, die ihnen etwas bedeuten«. Mit Zahls Verurteilung zu fünfzehn Jahren Gefängnishaft wegen der Schüsse auf zwei Polizisten vermehre sich »die Unzahl / des Unrechts / […] um einen Dichter / der Zahl heißt / davor zweier Märtyrer Namen.«12 Fried hatte seinem Gedichtband zur Verstärkung der politischen Aussage Fotografien beigegeben, die neben den RAF-Terroristen oder Sympathisanten Zahl, Roth und Meinhof auch den am 7. April 1977 ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback im Ornat des obersten Anklägers des Staates zeigten. Ohne die bildtechnische Ikonisierung der ›Opfer‹ und ihrer mächtigen Gegner kam auch 10 Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von Helmut Moll, Paderborn, München, Wien, Zürich 2006. 11 Zit. nach S. Weigel: Schauplätze, Figuren, Umformungen, S. 20. 12 Erich Fried: So kam ich unter die Deutschen, Hamburg: Association 1977, S. 68 (»Nach dem Urteil gegen Peter-Paul Zahl«). 94
LINKSTERRORISMUS UND MÄRTYRERTUM
Frieds politische Lyrik nicht aus. Sie suchte Verstärkung bei einem Medium der Evidenz, der Fotografie, das auch die ›Märtyrer‹ im vorderen Orient bis heute publikumswirksam in Szene setzt.
D e r i c o n i c t u r n d e s M är t yr e r k o n z e p t s Für die martyrologische Deutung der ›Opfer‹ eines Terrorismus, der auf säkularer Grundlage agierte, bildet die ›Informalisierung‹ des Märtyrertums – also ihre Abkoppelung von offiziell-institutionellen Anerkennungsprozeduren – eine Voraussetzung, die im europäisch-abendländischen Kontext ein Resultat des aufklärerischen Säkularisierungsprozesses im späten 18. und 19. Jahrhundert ist. Wie andere christliche Konzepte wird auch das Märtyrer-Konzept dadurch konvertierbar, beliebig verfügbar und gebrauchsfähig gemacht. Die Wirkungsgeschichte dieser Säkularisierung setzt sich aber auch im arabischen Raum durch. Tatsächlich haben schon die marxistisch orientierten palästinensischen Selbstmordattentäter der 1970er Jahre vom Konzept des Märtyrers Gebrauch gemacht, ohne an dessen religiöser Grundlage Anteil zu nehmen: Sie wurden als Schahid (arabisch für Märtyrer) bezeichnet, und auch die vor ihren Taten aufgenommenen Selbstdarstellungen, die sich die modernen Medien der Tonbandaufnahme oder des Videos zunutze machten, folgten der bereits in der vorislamischen arabischen Kampfkultur etablierten Konvention der Hinterlassung testamentarischer Sterbensworte in Form von Kriegsliedern oder Gebeten.13 Das Beispiel zeigt nicht nur, dass die martyrologische (Selbst-)Inszenierung von Terroristen auf eine explizit religiöse Rechtfertigung nicht unbedingt angewiesen ist. In ihr durchdringen sich – ganz im Sinne des vorhin benannten ›reaktionären Modernismus‹ – moderne politische Intentionen und Ideologien mit alten religionsgeschichtlichen Mustern. Es beleuchtet zugleich auch die mediale Seite der Adaption des Märtyrer-Konzepts für den modernen Terrorismus jedweder Provenienz, dass dessen Seriencharakter in Fotografie und Film seine adäquaten Medien gefunden hat, zumal diese die massenhafte Distribu-
13 J. Croiteru: Der Märtyrer als Waffe, S. 68f. – Den makabersten Ausdruck fand diese Serialisierung in der massenhaften Aufopferung persischer Kindersoldaten im zehnjährigen iranisch-irakischen Krieg zwischen 1980 und 1988, die über die Minenfelder geschickt wurden und denen bunte Plastikschlüssel mitgegeben wurden, die den verheißenen Zugang zum Paradies symbolisch öffnen sollten. Die ›Serienproduktion‹, die sich mit jedem Martyrium intentional und praktisch verbindet, setzte sich in einer regelrechten Märtyrer-Industrie um. 95
CHRISTOPH DEUPMANN
tion der Märtyrer-Ikonen ermöglichen.14 Diese auf modern-bildtechnischem Niveau erfolgende martyrologische Ikonisierung hat auch den Linksterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland buchstäblich von Beginn – also von seiner ›Ursprungsszene‹ – an begleitet. Schon die Aufnahme des sterbenden Benno Ohnesorg vom 2. Juni 1967 (Abb.1), die sofort zu einer Ikone des studentischen Protests geworAbb. 1: Das Bild des sterbenden Benno Ohnesorg
Quelle: Der Spiegel vom 12. Juni 1967 den ist und die Bildung der Terrorgruppe ›2. Juni‹ und den Terrorismus der ›Roten Armee Fraktion‹ mit veranlasst hat, bezog ihre Wirksamkeit nicht zuletzt daraus, dass es in der abgebildeten Konstellation und Haltung der abgebildeten Personen – mit dem Begriff des Kunsthistorikers Aby Warburg – eine ›Pathosformel‹15 des abendländischen Bildgedächtnisses aufrief: die Bildkonvention einer Pietà, Maria mit dem Leichnam Christi. Dass die fotografierte Situation, isoliert aus dem die Szene umgebenden Tumult, so abgeschlossen und ikonografisch in sich ›gültig‹ erscheint, hängt mit der Wiederholung dieser Pathosformel zusammen; tatsächlich existieren mehrere Aufnahmen der Szene aus anderen Blickwinkeln, die keine vergleichbare Prominenz erlangt haben. Dass es vor allem solche technischen Bilder waren, die sich ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland eingetragen haben und kanonisiert wor14 Vgl. dazu auch S. Weigel: Schauplätze, Figuren, Umformungen, S. 21. 15 Vgl. dazu Aby Warburg: Der Bilderatlas MNEMOSYNE. Hg. von Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, Berlin: Akademie 2000 (= Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Hg. von Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W. Forster, Nicholas Mann, Salvatore Settis und Martin Warnke. 2. Abteilung, Bd. II.1), insbes. Abbildung 42.11, S. 76/77. Zum Begriff vgl. Warburgs Einleitung, S. 3a-6b. 96
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den sind, lässt sich an der Referenz literarischer Texte auf dieselben ›Ikonen‹ der Zeitgeschichte noch Jahrzehnte nach den ins Bild gesetzten Ereignissen ablesen. Es ist das sofort massenmedial verbreitete Bild des von dem (neuerdings als Agenten der DDR-Staatssicherheit entlarvten) Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras bei der Demonstration gegen den persischen Schah in der Nähe der Oper in West-Berlin erschossenen Studenten Benno Ohnesorg, das Uwe Timm zum Ausgangspunkt seiner 2005 erschienenen Erzählung Der Freund und der Fremde gemacht hat: »Er liegt auf dem Asphalt, bekleidet mit einer Khakihose, einem langärmeligen Hemd, der Arm ausgestreckt, die Hand entspannt geöffnet, die Augen geschlossen, als schliefe er. Neben ihm kniet eine junge Frau in einem schwarzen Kleid oder Umhang. Die Frau […] blickt nach oben, so als wolle sie etwas fragen oder eine Anweisung geben, und hält, eine zärtliche Geste, seinen Kopf im Nacken. Deutlich ist das Blut am Kopf und am Boden zu sehen. Es hätte in diesem Schwarzweiß eine Einstellung aus dem Film Der Tod des Orpheus von Cocteau sein können, das war mein erster Gedanke beim Betrachten des Fotos, diese Verwandlung.«16
Abb. 2: Holger Meins bei seiner Festnahme am 1. Juni 1972 (Fernsehaufnahme)
16 Uwe Timm: Der Freund und der Fremde, Köln: Kiepenheuer&Witsch 2007, S. 11f. – In der Erinnerung einer Freundin von Ohnesorgs Frau, die Uwe Timms Erzählung festhält, wird diese Martyrisierung allerdings durch eine andere, heroisch-antikisierende Stilisierung ersetzt: »Und, sagt sie, und stockt, schön war er, wie ein griechischer Held lag er da.« (ebd., S. 166). Auch in diesem Fall fungiert der Anblick oder das Bild des Opfers als ›mythogrammatisches‹ Zeichen, das das Dokument eines zeitgeschichtlich-ereignishaften Augenblicks hinüberführt in die Sphäre einer ›überzeitlichen‹ Erzählung. 97
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Abb. 3: Das Cover des Zeitmagazins vom 7.7.1972
Auch das Bild von der Festnahme des unbekleideten Holger Meins am 1. Juni 1972 ruft eine pathetisch-ikonische Affektrhetorik auf, indem der ausgezehrte, aktuell wehrlose und verletzliche Körper des Terroristen auf die Szene der Hinführung Christi zur Kreuzigung durch die römischen Soldaten verweist (Abb. 2). Das zufälligerweise angedeutete T-förmige Kreuz im Hintergrund der Fernsehaufnahmen, die auf dem Cover des ZEITmagazins vom 7. Juli 1972 als dreiteilige Bildsequenz reproduziert worden sind (Abb. 3), verstärkt diese ikonologische Reminiszenz. Erst recht ›zitiert‹ die Porträtaufnahme des im Gefängnis Stuttgart-Stammheim 1974 (ausgerechnet am schicksalsträchtigen deutschen Datum eines 9. November) in der Folge seines 57-tägigen Hungerstreiks verstorbenen RAF-Mitglieds Holger Meins die imago des Märtyrers, deren leblose Stille jeden Gedanken an die Opfer terroristischer Gewalt fernhält (Abb. 4).17 Der Tod des Terroristen setzte auch im bundesrepublikanischen
17 Zur Ikonisierung der Terroristen der RAF vgl. auch die kurze Darstellung von Kai Bremer: Vom ›Propagandawert der Meinhof‹ – oder: Warum Gud98
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Abb. 4: Die doppelseitige Reproduktion der Fotografie des Hungerstreiktoten Holger Meins
Quelle: Der Stern vom 21.11.1974 Sympathisantenmilieu eine ›Posterproduktion‹ in Gang, die die Ähnlichkeit des zum Märtyrer Überhöhten mit den weit verbreiteten ikonografischen Repräsentationen des kubanischen Revolutionshelden Ernesto Che Guevara, also einer der prominentesten, bis heute bis zu den icons einer apolitisch-popästhetischen Mode hinein präsent gebliebenen Märtyrerfiguren der politischen Linken, offenbar bewusst suchte (Abb. 5).18 Sie setzte jedoch im holzschnittartigen Schwarz-Rot statt des Toten den
run Ensslin keine Pop-Ikone wurde, in: S. Weigel (Hg.): Märtyrer-Porträts, S. 291-293. 18 Dieser martyrologische Bilder-Diskurs setzt bis in die Gegenwart hinein fort. Im Laufe eines 90minütigen Filmporträts, das der Autor und Dokumentarfilmer Gerd Conradt, der in den sechziger Jahren zusammen mit Holger Meins die Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin besuchte, 2001 über den Terroristen gedreht hat (Gerd Conradt: Starbuck Holger Meins), wird aus dem Täter, der aufgrund seines Hungertodes justiziell nicht verurteilt werden konnte, ein Märtyrer staatlicher Gewalt. Vor dessen ›Ikone‹ meditiert ein Freund früherer Tage am Ende des Films minutenlang, um sich schließlich mit dem erwartbaren Topos der Betroffenheit vom Bild des Toten abzuwenden: »Ich kann gar nicht hinsehen.« – Vgl. dazu auch das ›Gedenkbuch‹ von Gerd Conradt: Starbuck Holger Meins. Porträt als Zeitbild, Berlin: Espresso 2001. 99
CHRISTOPH DEUPMANN
Abb. 5: Ein nach dem Tod von Holger Meins verbreitetes Plakat, 1974
Kämpfer als angry young man ins Bild, was die aktivistisch-militante Interpretation des Märtyrer-Musters unterstreicht. Aber auch die Aufnahme des auf dem Totenbett aufgebahrten Holger Meins, die das Nachrichtenmagazin Stern am 21. November 1974 doppelseitig publizierte, realisiert – ohne eine entsprechende politisch-pragmatische Absicht – die ›Pathosformel‹ der ostentatio, also die Ausstellung des Opfers, die in der Nachfolge des christologischen Ecce homo steht (und damit auf den Ursprung aller Martyrologie zurückweist):19 Auf einem weißen, mit Spitzen versehenen Kissen ist die Gestalt des auf 39 kg abgemagerten, bärtigen Häftlings aufgebahrt; eine ikonologische Mimesis, die das Bildgedächtnis des christlichen Abendlands in Anspruch nimmt und dadurch zugleich die martyrologische Funktionalisierbarkeit des Bildes verstärkt. Das fotografische Bild fungiert gewissermaßen als eine Art ›gedoppelte‹ Totenmaske: Denn das fotografische Bild ist selbst – Susan Sontag zufolge – schon eine Art ›Totenmaske‹, die im Schwarz-Weiß des massen19 Vgl. zu dieser Bildtradition Sabine Poeschel: Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 175b-176b (s.v. Ecce homo (Ostentatio)). 100
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medial verbreiteten Bildes noch einmal das Relief des Todes wiederholt.20
D i e S äk u l a r i s i e r u n g d e s M ä r t y r e r - M o d e l l s Der am marxistisch-säkularen Denken geschulte Jargon der RAFTerroristen ließ freilich einen religiösen Begriff wie den des Märtyrers eigentlich nicht zu. Demzufolge setzt der Tod des Holger Meins auch keine transzendentale Dimension in Kraft, wie sie den Märtyrern der christlichen und islamischen Tradition in Aussicht steht. Dennoch stehen auch die terroristischen Taten der RAF in einer pragma-logischen Perspektive der ›Weitergabe‹, die über das Lebensende der Täter im Sinne der politischen Proliferation terroristischer Gewalt hinausweist. Denn die ›Metaphysik‹ des Märtyrertums ist doppelter Art: Sie verweist einerseits – vertikal – auf das Jenseits, dessen Beschreibung etwa im Koran nicht zuletzt mit einer erotischen Verheißung für die kampffähigen jungen Männer versehen wird; andererseits aber – horizontal – verweist sie auf das Diesseits, indem sie eine ›genealogische‹ Serialität von Gewalthandlungen in Gang setzt, die sich mit jedem zum ›Opfer‹ gebrachten Leben der Täter verknüpft und fortsetzt. In Hinsicht auf den bundesdeutschen Linksterrorismus kommt nur diese letztere Dimension in Betracht. Auch die RAF dachte in Generationen, auch wenn sie den Begriff der Generation dabei zeitlich ziemlich verengte: Die ›erste Generation‹ der RAF nahm die so genannte ›zweite‹ in eine Pflicht und Schuldigkeit, die wesentlich in der zu betreibenden Befreiung der Inhaftierten der ersten Generation bestand. Diese Inpflichtnahme trug den Aktionen der zweiten Generation eine Tautologie ein – so dass ihre Absichten von der BaaderBefreiung am 14. Mai 1970 an, der ersten Tat der noch namenlosen terroristischen Gruppe, sich auf ihre Akteure selbst zurück bezogen; Stefan Aust meint, die RAF habe von Anfang an vor allem um sich selbst gekreist. Die Proliferation der Gewalt von der einen auf die andere ›Generation‹ geschah jedoch nicht zuletzt über das Zeichen des martyrologischen Todes, den Holger Meins, einer intern festgelegten Reihenfolge gemäß, zuerst zu erleiden an der Reihe war. Während Meins sich zu Tode hungerte und dadurch den von seinem Anwalt Otto Schily der ›Isolationshaft‹ der RAF-Häftlinge angelasteten »Tod auf Raten« realisierte, ernährten sich die anderen heimlich weiter.21 Die genealogische Seriali20 Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 147. 21 Vgl. Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg: Hoffmann und Campe 2008, S. 305. – Vgl. auch den Beitrag des späteren SPDInnenministers Otto Schily: »Verwesung bei lebendigem Leibe«. BM101
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tät, die mit den Toten der RAF in Gang gesetzt wurde, drückt sich auch in der Benennung der RAF-»Commandos« aus. Wie schon die »Bewegung 2. Juni« auf das Datum des Todes eines nicht-terroristischen Opfers rekurrierte, benannte die RAF nach dem Tod von Holger Meins ihre Operationen stets nach den Toten aus den eigenen Reihen: Die Geiselnahme in der Stockholmer Botschaft am 24. April 1975 stand im Zeichen des »Commandos Holger Meins«, und die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 wurde von den Kommandos »Siegfried Hausner« und »Martyr Halimeh« verübt. Hausner war bei der unfreiwilligen Detonation der Bombe in der deutschen Botschaft in Stockholm schwer verletzt worden und kurze Zeit darauf in Stuttgart-Stammheim an einem Lungenödem verstorben; »Halimeh« (»Schöne Kamelstute«) war der Deckname der bei der Flugzeugbefreiung im ugandischen Entebbe erschossenen Rote-Zellen-Terroristin Brigitte Kuhlmann. Die Toten des Terrorismus setzten ein martyrologisches Paradigma in Kraft, das noch in Astrid Prolls Vorwort zu dem von ihr 1998 herausgegebenen Band von Fotografien der RAF, Hans und Grete (wie die Decknamen von Baader und Ensslin lauteten) als topische Zusammenrückung von Tod, Terrorismus und Märtyrertum aufgerufen wird: Die RAF sei auch »die Selbstanmaßung einer rebellischen Generation. Und genau dieses Abenteuer der unverschämten Selbstanmaßung, das Andreas Baader bis hin zum Märtyrertod auslebte, macht bis heute die beunruhigende Faszination der RAF für manche Nachgeborene aus.«22 Dagegen lag es im Interesse der Staatsräson und der mit dem Staat loyalen Massenmedien, die Erzeugung von ›Märtyrern‹ des Linkterrorismus zu verhindern. »Angst vor neuer Märtyrer-Legende« betitelte das Nachrichtenmagazin Focus einen Bericht nach dem Tod des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams beim Versuch seiner Festnahme auf dem Bahnhof von Bad Kleinen am 27. Juni 1993.23 Auch Christoph Heins Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten zitiert solche Abwendungsversuche des Märtyrer-Mythos in der zeitgenössischen politischen Rede, wenn er den Bundeskanzler wenige Tage nach der versuchten Festnahme des Terroristen die dabei eingesetzte Einheit des Bundesgrenzschutzes »gegen die Verteidiger Otto Schily über die Isolierhaft, in: Der Spiegel Nr. 47 (1974), S. 41-47. 22 Astrid Proll: Selbstauslöser. Self-Timer, in: Astrid Proll.: Hans und Grete. Die RAF 67-77, Göttingen: Steidl 1998, S. 4-19, hier S. 8. 23 Axel Kintzinger: Angst vor neuer Märtyrer-Legende. Nach der Schießerei von Bad Kleinen werden neue Anschläge der RAF befürchtet, in: Focus Nr. 27 (1993), S. 36-38. 102
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Verurteilung durch eine linke Kampfpresse« verteidigen lässt, »die aus einem Mörder einen Märtyrer zu machen suche.«24 Es waren die (bis heute nicht restlos aufgeklärten) Inkonsistenzen in der Rekonstruktion des zum Tod des mutmaßlichen Terroristen führenden Ereignis-Ablaufs, die der Lesart von seiner ›Hinrichtung‹ die Vorlage geliefert haben. Das Reversbild dieser Formel, ›keine Märtyrer‹ zuzulassen, also die martyrologische Umdeutung von Tätern zu Opfern des Staates zu unterbinden, stellt der Appell der politischen Sympathisanten dar, »keine Märtyrer« zu schaffen: Hier dient das martyrologische Argument dazu, die Auslieferung und Inhaftierung von Terroristen der RAF zu verhindern. Eine um 1979 von der »Pressegruppe zur Verhinderung der Auslieferung von Astrid Proll« publizierte Protestschrift setzt bereits die Plausibilität dieser Verbindung von Märtyrertum und Terrorismus wie selbstverständlich voraus, ohne sie im Text weiter zu erläutern: »Keine Opfer, keine Märtyrer!« ist der erste Abschnitt der Schrift überschrieben.25 Das martyrologische Argument bezieht seine Kraft aus der Bereitschaft, die Inhaftierung der Terroristin umgehend als Märtyrerschicksal zu deuten. Die Familiarisierung mit den Tätern, die man beim Vornamen nennt – we are family – kennzeichnet den ›sauren Kitsch‹ zahlreicher Sympathisantentexte jener Zeit, deren Deutungsmuster, die Gefängnishaft als Folter zu interpretieren, die philosophische Autorität Jean-Paul Sartres mit seinem Besuch in Stammheim und seinen anschließenden Äußerungen vor der Presse zugearbeitet hat.26 Die Martyrisierung der inhaftierten »Genossinnen und Genossen« mit Hilfe des Stichworts »Isolationsfolter« – also einer Tortur durch »sensorische Deprivation«, wie es in der angeführten Protestschrift heißt27 – liest gewissermaßen Michel Foucaults Überwachen und Strafen (frz. 1975) gegen den Strich: Indem sie die Haft der Terroristen als Tortur definiert, erhält das »Verschwinden der Martern, d.h. der ›peinlichen Strafen‹« und des öffentlichen »Strafschauspiels« in der Latenz des Gefängnisses28 seit Ende des 18. Jahrhunderts, das Fou24 Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 93. 25 [Anonym:] Keine Opfer, keine Märtyrer!, in: Keine Auslieferung von Astrid in deutsche Isolationshaft. Wir wollen, daß sie leben kann, hg. von der Pressegruppe zur Verhinderung der Auslieferung von Astrid Proll. Berlin o.J., S. 4. Vgl. auch S. 5: »Astrids Geschichte und jetzige Situation ist für uns auch die all derer, die bereits ausgelifert [!] worden sind an diesen Staat, die nach Astrid in Ossendorf oder anderswo gefoltert worden sind.« 26 Vgl. dazu S. Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, S. 317f. 27 [Anonym:] Keine Opfer, keine Märtyrer!, S. 5. 28 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhr103
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cault in seiner Arbeit materialreich beschreibt, eine politischobskurantistische Bedeutung. Was von der Bühne spektakulärer öffentlicher Inszenierungen verschwand, wird im hermetischen Raum des Gefängnisses unter veränderten Bedingungen, die den physischen Einwirkungsbereich der tödlichen Tortur durch die Psyche der Inhaftierten ersetzen, insgeheim als arkane Praxis fortgesetzt – so lautet die martyrologische Interpretation der Sympathisanten, die an vielen Orten in Westdeutschland ›Solidaritätskomitees‹ bildeten.
D i e m a r ty r o l o g i s c h e O r d n u n g Die Suizide der Häftlinge von Stammheim am 18. Oktober 1977 stellten die letzte Stufe der Martyisierung der RAF-Täter dar. Sie erfolgten unmittelbar nach der gescheiterten Freipressung durch ein ›Kommando‹ antisemitischer palästinensischer Terroristen, deren Anführer sich selbst bereits als Märtyrer benannte – »Captain Martyr Mahmut« lautete der ›Kampfname‹ des Terroristen, der mit bürgerlichem Namen Zohair Youssif Akache hieß und zuvor eine Zeitlang mit Frau und Kind in London gelebt hatte. Der Tod der RAF-Terroristen der ersten Generation wurde innerhalb der Sympathisantenszene sofort als ›Mord‹ aufgenommen, wozu deren Anwälte wesentlich beigetragen haben. Schon Holger Meins hatte bereits lange vor dem Hungerstreik in seinem politischen ›Testament‹ die Märtyrerlegende seiner Ermordung lanciert: »Für den Fall, dass ich in der Haft vom Leben in den Tod komme, war’s Mord. Gleich was die Schweine behaupten werden … Glaubt den Lügen der Mörder nicht.«29 Diese Umdeutung des selbstbestimmten Todes, der eigentlich zu den Konstituenten des Märtyrer-Schicksals gehört, in ein fremdbestimmtes Schicksal der politischen, staatlich verübten Ermordung, also des aufopfernden sacrifice zum victim, widerspricht auf den ersten Blick der Legende des Märtyrertums. Statt die freiwillige Selbstaufopferung stark zu machen, verschiebt sie den eigenen Tod in Richtung des unfreiwillig erlittenen Todes, der dem Gefangenen durch die Hand des Feindes widerfuhr. Tatsächlich aber bediente sich der Terrorismus der RAF damit in propagandistischer Absicht eines Paradigmas, das den politischen Aktivismus des bekennenden Kriegers in den Vordergrund rückt: Wirksamer als die Tugend der Demut ist in der Märtyrerkultur des säkularen Terrorismus das Pathos des Kämpfers, das sich einer strikten kamp 1994, S. 14f. – Vgl. dazu auch Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, Vierte, durchgesehene Auflage München 1995, S. 184f. 29 Zit. nach S. Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, S. 305. 104
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Freund-Feind-Logik verschreibt. Die Gleichung von politischen Terroristen und Märtyrern steht im Zeichen einer Entdifferenzierung, die zwischen terroristischen Attentätern und Opfern des bekämpften ›Systems‹ genauso wenig unterscheidet wie zwischen zivilen Opfern und öffentlichen Repräsentanten des politisch-ökonomischen ›Systems‹.30 Sobald die Terroristen der RAF gefasst wurden, mutierten sie zu Opfern im ›Kampf‹ gegen das bekämpfte »Schweinesystem«, das für die Toten des Terrorismus letztlich stets allein verantwortlich war. Auch für die Seite der Getöteten bringt sich diese aufteilende Ordnung der Welt zur Geltung, die auch die persönlich ›unschuldigen‹ Opfer der Attentate pauschal der politisch anderen Seite überwies. Zwar unterstreicht noch Astrid Proll im Vorwort zu ihrem Bildband die moralische Differenz zum islamistischen Terrorismus, »seit Al-Quaida am 11. September 2001 ihr mörderisches, menschenverachtendes Gesicht zeigte […]: Gegen die Kommandos, die die Jets in das World Trade Center in New York steuerten, waren wir von moralischen Skrupeln geplagte Amateure.«31 Tatsächlich waren nicht alle Mitglieder der RAF bereit, die Schleyer-Entführung ›auf die harte Tour‹ – also indem sie die Begleitschützer und den unbewaffneten Fahrer ermordeten – durchzuführen. So wahllos, wie die islamistischen Terroristen auch Angehörige des eigenen muslimischen Glaubens am 11. September mit in den Tod rissen, verfuhren die Täter der RAF tatsächlich nie. Gerade deshalb war Ulrike Meinhofs Rechtfertigung der Befreiung Andreas Baaders aus der Haft am 14. Mai 1970, bei der ein Angestellter des Instituts für soziale Fragen schwere Schussverletzungen erlitt, um eine aufteilende Ordnung bemüht, die von der Identifikation konkreter Personen mit Funktionsträgern des bekämpften ›Systems‹ entlastete – so dass zwischen den Tätern und den Opfern terroristischer Gewalt eine »ganz klare Front« gezogen werden konnte: »[W]ir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. […] und natürlich kann geschossen werden.«32 Noch der 30 Zu dieser Entdifferenzierung gehört, dass die ›zweite Generation‹ der RAF die Entführung Willy Brandts erwog, der in norwegischer Uniform gegen die nationalsozialistische Wehrmacht gekämpft hatte. Der Entführungsplan wurde nur deshalb verworfen, weil seine Entführung vor allem der CDU/CSU-Opposition genutzt hätte. 31 A. Proll: Selbstauslöser. Self-Timer, S. 7. 32 So Ulrike Meinhof auf einem Tonband, das der Journalistin Michelle Ray bei einem konspirativen Treffen in West-Berlin ausgehändigt wurde. [Ulrike Meinhof]: Natürlich kann geschossen werden. Ulrike Meinhof über die Baader-Aktion, in: Der Spiegel Nr. 24 (1970), S. 74f., hier S. 75. Der Text fährt fort: »Denn wir haben nicht das Problem, daß das Menschen sind, so105
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letzte Brief des Hungerstreik-›Märtyrers‹ Holger Meins vom 31. Oktober 1974 dokumentiert diese Deshumanisation des politischen Feindes, die die Formel von 1968 – Sozialismus oder Barbarei – in ein anthropologisches Gegnerschaftsverhältnis transformierte: »Entweder Mensch oder Schwein.«33 Diese manichäische Aufteilung der Welt in eine Sphäre des ›Widerstands‹ auf der einen und einen mächtig-übermächtigen Feind auf der anderen Seite, auf der keine individuellen Subjekte mehr anerkannt werden, gehört zu den fixen Bedingungen der martyrologischen Legende, die die Täter der RAF sich zulegten. Der Linksterrorismus machte trotz seiner säkular-marxistischen Orientierung Gebrauch von den Mustern einer Martyrologie, die in der Tradition des christlichen Märtyrertums verankert sind – und die über ihre religionsgeschichtliche Vermittlung an den radikal-islamistischen Terrorismus und über die konkreten Verbindungen der linksradikalen bundesrepublikanischen Terrorszene mit den Terrororganisationen des Vorderen Orients hinaus eine Beziehung zu den Terroristen des 11. Septembers 2001 stiftet. Horst Mahler, der Anwalt Andreas Baaders im Frankfurter Kaufhaus-Brandstifter-Prozess vom Oktober 1968 und Mitbegründer der RAF, der Jahrzehnte später als NPDAnwalt zur extremen Rechten übergewechselt ist, hat diese Beziehung später in der pointierten Bemerkung zusammengefasst: »Wir, die RAF, waren eine zutiefst religiöse Gruppe.«34
L i t e r at u r [Anonym:] Keine Opfer, keine Märtyrer!, in: Pressegruppe zur Verhinderung der Auslieferung von Astrid Proll (Hg.), Keine Auslieferung von Astrid in deutsche Isolationshaft. Wir wollen, dass sie leben kann, Berlin o.V. o.J., S. 4 Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg: Hoffmann und Campe 2008. Bremer, Kai: Vom ›Propagandawert der Meinhof‹ – oder: Warum Gudrun Ensslin keine Pop-Ikone wurde, in: Sigrid Weigel (Hg.): Märtyfern es ihre Funktion ist, […] die Verbrechen des Systems zu schützen […]. [… ] das ist eine ganz klare Front«. 33 [Holger Meins]: Entweder Mensch oder Schwein. Der letzte Brief von Holger Meins (an Grashof, 31. Oktober 1974), in: Der Spiegel Nr. 47 (1974), S. 30. 34 Horst Mahler, zit. nach Andreas Pflitsch: ›Kommando Holger Meins‹ – zur Serienstruktur der RAF-Aktionen, in: S. Weigel (Hg.): Märtyrer-Porträts, S. 107a-109b, hier S. 109a. 106
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rer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern München: Fink 2007, S. 291-293. Conradt, Gerd: Starbuck Holger Meins. Porträt als Zeitbild, Berlin: Espresso 2001. Cook, David: Martyrdom in Islam, Cambridge: Cambridge University Press 2007. Croitoru, Joseph: Der Märtyrer als Waffe, in: Andreas Kraß/Thomas Frank (Hg.): Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 59-71. DeLillo, Don: Falling Man, New York, London, Toronto, Sydney: Scribner 2008. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Fried, Erich: So kam ich unter die Deutschen, Hamburg: Association 1977. Hein, Christoph: In seiner frühen Kindheit ein Garten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Herf, Jeffrey: Reactionary Modernism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge: Cambridge University Press 1984 (reprinted 1987). Kintzinger, Axel: Angst vor neuer Märtyrer-Legende. Nach der Schießerei von Bad Kleinen werden neue Anschläge der RAF befürchtet, in: Focus Nr. 27 (1993), S. 36-38. [Meinhof, Ulrike]: Natürlich kann geschossen werden. Ulrike Meinhof über die Baader-Aktion, in: Der Spiegel Nr. 24 (1970), S. 74-75. [Meins, Holger]: Entweder Mensch oder Schwein. Der letzte Brief von Holger Meins (an Grashof, 31. Oktober 1974), in: Der Spiegel 47/1974, S. 30. Pflitsch, Andreas: Kommando Holger Meins‹ – zur Serienstruktur der RAF-Aktionen, in: Sigrid Weigel (Hg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München: Fink 2007, S. 107-109. Proll, Astrid: Selbstauslöser. Self-Timer, in: dies.: Hans und Grete. die RAF 67-77, Göttingen: Steidl 1998, S. 4-19. Poeschel, Sabine: Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. Schily, Otto: »Verwesung bei lebendigem Leibe«. BM-Verteidiger Otto Schily über die Isolierhaft, in: Der Spiegel Nr. 47 (1974), S. 41-47. Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt a.M.: Fischer 1997.
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Sontag, Susan: Feige waren die Mörder nicht. Aus dem Englischen von Julika Griem, in: Dienstag, 11. September 2001. 2. Auflage Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 33-35 (zuerst abgedruckt in der Zeitschrift New Yorker vom 24.9.2001). Timm, Uwe: Der Freund und der Fremde, Köln: Kiepenheuer&Witsch 2007. Warburg, Aby: Der Bilderatlas MNEMOSYNE. Hg. von Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, Berlin: Akademie 2000 (= Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Hg. von Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W. Forster, Nicholas Mann, Salvatore Settis und Martin Warnke. 2. Abteilung, Bd. II.1). Weigel, Sigrid: Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märytrerkulturen, in: S. Weigel (Hg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München: Fink 2007, S. 11-38. Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von Helmut Moll. Paderborn, München, Wien, Zürich 2006.
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S PUREN
IN DER
A LLTAGSKULTUR
KATHASTROPHENVISIONEN UND KULTURELLE ZÄSUREN IN DER AMERIKANISCHEN POPULÄRKULTUR KARSTEN WIND MEYHOFF Als die Twin Towers in Lower Manhattan, New York, bei den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 von zwei gekidnappten Flugzeugen getroffen wurden, waren ähnliche Ereignisse bemerkenswerterweise bereits seit ungefähr einem Jahrhundert in vielen Werken beschrieben worden. Mehrere Kritiker wiesen auf die merkwürdige Tatsache hin, dass die Bilder der Twin Towers aussahen wie aus Hollywood-Filmen und aus der Katastrophenliteratur.1 Als singuläres Ereignis war 9/11 im Jahre 2001 natürlich beispiellos in der Weltgeschichte, aber als eine verheerende Katastrophe nichts Neues für die Konsumenten von Populärkultur – also Science Fiction, Kriminalgeschichten, Comics, Spielen und unzähligen Katastrophenfilmen.2 In seinem Essay The Flames of New York hat der amerikanische Autor und Aktivist Mike Davis herausgearbeitet, dass der Großvater der Science Fiction, der Brite H.G. Wells, New York schon 1908 in seinem klassisch gewordenen Katastrophenroman The War in the Air3 aus der Luft zerstören ließ. Wells’ prophetischer Roman präsentiert eine alternative geopolitische Fantasie der nahen Zukunft, in der die Weltmächte – Deutschland, das Britische Empire, die Vereinigten Staaten von Amerika und die ostasiatische Konföderation (Japan und China) – einen globalen Krieg um die Weltherrschaft austragen. Die Handlung basiert auf einem Wettrüsten zwischen den Nationalstaaten und Allianzen, denen daran 1
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Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, Wien: Passagen Verlag 2002, S. 29-31. Vgl. auch Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen, Wien: Passagen Verlag 2004, S. 20-25. Vgl. Scott McCrackens nützliche Einführung in die Populärliteratur in: Pulp. Reading Popular Fiction, Manchester: Manchester University Press 1998, S. 1-18. Mike Davis: »The Flames of New York«, in: Dead Cities and other Tales, New York: New Press 2002, S. 1-20. 111
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liegt, den Luftraum zu kontrollieren, indem sie verschiedene Waffentechnologien einführen, allen voran das Flugzeug, aber auch das Luftschiff und andere fantastische Erfindungen der Luftfahrt. Diese im Jahr 1908 jedoch noch fiktionalen Technologien wurden später tatsächlich ein zentrales und neues Element der modernen Kriegsführung und 2001 schließlich als zerstörerisches Kamikazeinstrument von den Terroristen für die Angriffe auf das World Trade Center eingesetzt. In Wells’ Roman ist es die deutsche Luftwaffe, angeführt vom Deutschen Mutterschiff Vaterland, die New York bombardiert und zerstört und Chaos unter den Einwohnern auslöst, so wie es ein Jahrhundert später mit den islamistischen Terroristen im Cockpit geschah. An einer zentralen Stelle in Wells’ Roman heißt es: »Lower Manhattan was soon a furnace of crimson flames, from which there was no escape. Cars, railways, ferries, all had ceased, and never a light lit the way of the distracted fugitives in that dusky confusion but the light of burning. Dust and black smoke came pouring into the street, and were presently shot with red flame.«4
Wer es nicht besser wüsste, könnte diese Beschreibung für einen Bericht der Ereignisse in den Straßen von Manhattan im September 2001 halten. Abbildung 1: H.G. Wells’ The War in the Air (1908)
H.G. Wells’ Vision eines brennenden New York ist bei weitem nicht das einzige bedeutende Zerstörungsszenario einer Großstadt in der Populär4
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KATASTROPHENVISIONEN
kultur. Seit nunmehr über hundert Jahren sind anglo-amerikanische Schriftsteller, Regisseure und Konsumenten von apokalyptischen und katastrophalen Visionen städtischer Räume besessen. Die Populärkultur hat regelmäßig Bilder von neuen Katastrophen an Leser und Zuschauer geliefert, die nicht genug bekommen können von aggressiven Aliens, atomarer Massenvernichtung, Ausbrüchen tödlicher Viren, terroristischen Plänen zur Lahmlegung des Regierungssystems und allen möglichen Natur- und Ökokatastrophen. Die extremen Dramatisierungen von Zerstörung, Katastrophe und Tod erscheinen als grundlegendes Motiv in der anglo-amerikanischen Kultur und Fantasie im Allgemeinen. Insbesondere die Zerstörung der großen amerikanischen Städte, allen voran New York und Los Angeles, hat sich in ein festes Genre mit eigenen Codes und Formeln entwickelt. Immer wieder waren die Megastädte das Ziel von verheerenden Zerstörungen aller Art; natürliche, menschengemachte und auch fiktive Katastrophen haben in diesen Städten gewütet und dabei die kollektive Vorstellungskraft heimgesucht und die tief verwurzelten Ängste und Fantasien der Amerikaner widergespiegelt. Das zentrale Argument dieses Aufsatzes ist, dass diese Art von Katastrophenfiktion entwickelt und gestaltet wird, um mit vergangenen und zukünftigen Ausnahmezuständen, Krisen oder Desastern umzugehen. Die Dramatisierung von Katastrophen ist zugleich ein Aufarbeiten von schrecklichen Ereignissen der Vergangenheit und ein Antizipieren von zukünftigen oder möglichen Katastrophen. Ein Teil der fiktionalen Auseinandersetzungen mit Katastrophen thematisiert verhängnisvolle Ereignisse, die als kulturelle Zäsuren bezeichnet werden können. Eine Zäsur wird in diesem Kontext als ein Ereignis oder Cluster von Ereignissen aufgefasst, die einen Einschnitt in den historischen Prozess vornehmen und den Zustand der Welt grundlegend verändern. Spezifische Ereignisse wie das Lissabonner Erdbeben von 1755, das Tschernobyl-Unglück von 1986 oder die Terrorattacken vom 11. September 2001 sind solche historischen Zäsuren, aber auch Ereigniscluster wie die multiplen Ereignisse im Zusammenhang mit Nuklearwaffen im Kalten Krieg bewirken ein neues geistiges und politisches Klima und müssen als eine kulturelle Zäsur verstanden werden. Diese Ereignisse trennen ein Vorher und ein Nachher innerhalb einer Kultur; Denkweisen, Wahrnehmungen und Handlungen werden durch sie verändert und bedingen ein neues kulturelles Klima. Katastrophenfiktion hält den Einschlag und die Folgen dieser Ereignisse für die soziale und politische Situation eines gegebenen kulturellen Kontextes fest. In diesem Sinne kann Katastrophenfiktion als ein Kulturseismograph verstanden werden, der die Narben und Ängste einer bestimmten Kultur kartiert und 113
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über das Leben und Nachleben von katastrophalen Ereignissen Aufschluss gibt. Die folgenden Seiten widmen sich der Katastrophenfiktion in der amerikanischen Populärkultur. Einführend sollen zunächst ausgewählte kulturelle Zäsuren und ihre Reflexion in Katastrophenfiktion behandelt werden. Anschließend werden die spezifischen Genreelemente in Katastrophenfiktion diskutiert. Dabei wird Katastrophenfiktion als Subgenre von Science Fiction definiert, und das Konzept der Katastrophe wird dementsprechend im Rahmen von Science-Fiction-Theorie diskutiert. Schließlich wird mit Katastrophenfiktion mit Schauplatz in Los Angeles ein besonders bedeutender Zweig des Katastrophengenres vorgestellt und besprochen und aufgezeigt werden, dass ein enger Zusammenhang zwischen Katastrophenfiktion und der Metropole an der kalifornischen Westküste besteht. Nimmt man die amerikanische Perspektive auf Katastrophenfiktion ein, so könnte man argumentieren, dass es historisch betrachtet eine biblische und eine eschatologische Tradition gibt, welche mit einer starken Tendenz zum Aufblasen und Vergrößern konkreter Ängste und Fantasien zu allumfassenden Katastrophen in der langen puritanischen Tradition amerikanischer Kultur verwurzelt sind.5 Andererseits ist der größte Teil der Katastrophenfiktion eindeutig in einem modernen und post-biblischen kulturellen Raum (nach 1900) angesiedelt, in dem ein allmächtiger Gott eine untergeordnete Rolle spielt gegenüber menschengemachten Desastern wie Luftkriegsmaschinen oder auch Naturkatastrophen, die keinen anderen Regeln als denen der schieren Brutalität der Naturgewalten gehorchen. Die Mächte, die die Menschen bedrohen und ihnen Angst einjagen, sind menschengemacht oder natürlich; Gott ist überraschenderweise in diesen Katastrophenfiktionen abwesend. Katastrophenfiktion spielt vielmehr in einer säkularen Welt und verwendet oft Handlungen und narrative Logiken von geradezu didaktischer Art, die komplexe Probleme (von den geopolitischen Konsequenzen einer atomaren Vernichtung zu den Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüchen und Erdbeben) darstellt und zu klaren und verständlichen Geschichten und Bilden vereinfacht, die ein Massenpublikum aufnehmen und in der Öffentlichkeit diskutieren kann. Als eine besondere Form von Populärkultur vollzieht Katastrophenfiktion eine Kartierung der kulturellen Narben und Ängste in Bezug auf desaströse Ereignisse in einer gegeben Zeitperiode, indem 5
Für eine historische Untersuchung der amerikanischen Tradition der apokalyptischen Literatur siehe Douglas Robinson: American Apocalypses: The Image of the End of the World in American Literature, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1985. 114
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sie von einem oft spezifischen historischen Problem ausgeht, das sich für eine Dramatisierung und Reflexion anbietet.
H ö c hs t r e al e K a t a s tr o p he n u n d d i e A n tw o r t der Populärkultur Angeregt durch Jacques Lacan hat der Philosoph Slavoj Žižek eine interessante Idee zur »Rückkehr des Realen«6 entwickelt, indem er behauptete, dass es nicht eine vermeintliche Realität war, die mit dem Spektakel von 9/11 über unsere fiktionalisierte Gesellschaft hereingebrochen ist, sondern umgekehrt unsere eigenen fantasmatischen Bilder der Welt plötzlich in unsere Realität eingegangen sind: »Wir sollten deshalb die gewöhnliche Lesart, der Einsturz des World Trade Centers sei das unsere Illusionen aufsprengende Reale gewesen, lieber umdrehen: Vor dem Einsturz der WTC-Türme lebten wir in unserer Realität, zu der es gehörte, das Grauen der Katastrophen in der dritten Weil weit von uns zu wissen, als etwas zu sehen, das (für uns) gespenstisch über die Bildschirme flimmerte – mit dem 11. September aber drangen diese phantasmatischen Bildschirmerscheinungen in unsere Realität ein. Nicht die Realität fand Eingang in unser Bild: das Bild drang ein und zerstörte unsere Realität (die symbolischen Koordinaten, die bestimmen, was wir als Realität erfahren).«7
Es wäre reizvoll, Žižeks eingängige Idee zu übernehmen, würde dies nicht implizieren, dass Katastrophenbilder in der Populärkultur bisher keine Spiegelungen von tatsächlichen und materiellen Ereignissen sind – denn sie sind es. Ereigniscluster verschiedener Art haben in Amerika schon früher als kulturelle Zäsuren fungiert; als Zäsuren, die Katastrophenbilder produziert und eine Grammatik und Logik von Katastrophenerzählungen generiert haben. Im letzten Jahrhundert haben derartige Ereigniscluster eine Fülle von neuen und radikalen Bildern dystopischer und apokalyptischer Zukunftsvisionen von Amerika hervorgebracht und inspiriert. Insofern hat Katastrophenfiktion in bestimmten historischen Zeiten als kultureller Spiegel der kollektiven Ängste und Fantasien in der amerikanischen Gesellschaft gewirkt und zugleich Handlungs- und Verhaltensweisen in Ausnahmenzuständen angeboten. Dies bedeutet zumeist, dass die Zäsuren nur teilweise genau datierbar sind, da sie sich typischerweise aus mehreren Ereignissen und Tatsachen zusammensetzen. 6 7
Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen, S. 15-40. Ebd. S. 24. 115
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Unter den zahlreichen wirkungsvollen Ereignisclustern des letzten Jahrhunderts, die eine Vielfalt angstgesteuerter Darstellungen hervorgebracht haben, dominieren drei Arten die Landschaft der Katastrophenfiktion: 1) die Erfindung von Nuklearwaffen; 2) der mögliche Zusammenstoß der Zivilisationen und die Dämonisierung des Kommunismus im Kalten Krieg (auch als Red Scare, roter Schrecken bekannt); und 3) die Naturkatastrophen, die den nordamerikanischen Kontinent immer wieder heimsuchen. Die Erfindung von Atomwaffen während des Zweiten Weltkriegs und die Abwürfe von Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki (am 6. und 9. August 1945) stellen einen wesentlichen Wendepunkt in der jüngsten Geschichte der Menschheit dar. Zum ersten Mal setzten die Vereinigten Staaten Massenvernichtungswaffen ein und ließen die Vorstellung eines nuklearen Holocaust entstehen, der die Zivilisation und die Natur auf einen Schlag vernichten konnte. Die Möglichkeit einer atomaren Massenvernichtung schuf eine Kultur der Angst und war im späten 20. Jahrhundert über lange Zeit eine definierende Komponente der kollektiven Imagination.8 Es gibt in der amerikanischen Populärkultur zahlreiche gute Beispiele für die Bedeutung der Angst vor einem nuklearen Holocaust. Walter M. Miller Juniors berühmter Science-Fiction-Roman A Canticle for Leibowitz (1960) zeigt eine Welt, die durch einen Atomkrieg zerstört wurde. In The Day They H-bombed Los Angeles (1961), einem weiteren Science-Fiction-Roman, lässt Robert Moore Williams Los Angeles mit Atombomben zerstören und beschreibt die Vision einer durch Menschengewalt ausradierten Stadt. Die Vision eines nuklearen Holocaust wird in verschiedenen Formen dargestellt und legt eine neue kulturelle Situation frei, in der die Angst vor Massenvernichtungswaffen den geistigen Horizont der Vorstellungswelt markiert. 9 Die verbreitete Furcht vor dem Kommunismus und die Idee einer russischen Invasion in amerikanisches Gebiet stellen in den frühen Nachkriegsjahren einen weiteren Ereigniscluster dar, der als eine bedeutende Zäsur in der amerikanischen Imagination fungiert. Der starke Anti8
9
Für eine Diskussion dieses Phänomens vgl. Scott C. Zeman und Michael A. Amundson (Hrsg.): Atomic Culture: How We Learned to Stop Worrying and Love the Bomb, Boulder: University Press of Colorado 2004. Für eine umfassende Einführung in dieses Thema vgl. David Bowling: Fictions of Nuclear Disaster, Iowa City: University of Iowa Press 1987. Vgl. auch Kim Newman: Apocalypse Movies. End of the World Cinema, New York: St. Martin’s Griffin 2000. Letzteres Buch fokussiert auf den Einfluss nuklearer Waffen auf das Kino. 116
KATASTROPHENVISIONEN
Kommunismus, der in der Gruppe um den republikanischen Senator Joseph McCarthy herrschte, bestimmte im Amerika der 1950er Jahre eine paranoide kulturelle Atmosphäre voller Verdächtigungen, Angst und Vorurteilen.10 Die Kultursituation, die der Red Scare produzierte, wurde von zahlreichen fiktionalen Arbeiten reflektiert. Einer der wichtigsten Autoren, der mit der Idee einer fremden Invasion arbeitet, ist der rechte Trivialroman-Autor Robert Heinlein, der 1951 den einflussreichen Science-Fiction-Roman The Puppet Masters und 1959 die Zukunftsfantasie Starship Troopers schrieb. Beide Romane sind urkomische und groteske Allegorien von gehirngewaschenen Kreaturen, die als Menschen oder Spinnentiere getarnt in freiheitsliebende Länder einfallen und die persönliche Freiheit der Menschen durch eine seelenlose Zombie-Lebensform ersetzen. Es bedarf nicht sehr viel Fantasie, um diese Art von Invasionen als Allegorien zu lesen, die von der Angst vor uniformen und entindividualisierten Gesellschaften gespeist wird, in denen jeder gleich denkt und handelt und weder individuelle Rechte noch Freiheiten hat. M. Keith Booker hat The Puppet Masters »as one of the quintessential alieninvaders-as allegory-for-communism text of the 1950s.11 Dieselbe Art von Narrativ findet sich in anderen Science-FictionKlassikern von 1954, insbesondere in Jack Finneys Invasion of the Body Snatchers, in dem die Individualität des amerikanischen Volkes durch die Invasion einer parasitären Lebensform aus dem Weltall bedroht wird. Still und heimlich werden Bewohner einer kleinen kalifornischen Stadt durch seelenlose Kopien ersetzt, deren einziges Ziel in ihrer Reproduktion besteht. Zahllose Filme basierten auf diesem Typ von Invasionsgeschichte und brachten eine ganze Welle von zweitklassigen ScienceFiction-Filmen hervor, die sich während der 1950er Jahre in ein Subgenre entwickelte, um dann während der 1960er Jahre langsam wieder zu verebben.12
10 Für eine detaillierte Untersuchung der antikommunistischen Bewegung in Amerika vgl. Ellen Schrecker: Many Are the Crimes. McCarthyism in America, London: Little, Brown and Company 1998. Siehe auch: M. Keith Booker: The Post-Utopian Imagination. American Culture in the Long 1950s, Westport: Greenwood Press 2001. 11 M. Keith Booker: Monsters, mushroom clouds, and the Cold War. American science fiction and the roots of postmodernism 1946-1964, Westport: Greenwood Press 2001, S. 48. 12 M. Keith Booker: Alternate Americas: Science Fiction Film and American Culture, Santa Barbara: Praeger Publishers 2006, S. 59-74. 117
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Die wiederkehrenden Naturkatastrophen wie Tornados, Fluten, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Feuersbrünste und weitere derartige Naturphänomene sind seit Beginn der amerikanischen Nation ein Bestandteil ihrer Geschichte. Der amerikanische Kontinent, vor allem die Westküste, wurde von einer Vielzahl von Naturkatastrophen heimgesucht, die in Katastrophenfiktion aller möglichen Form reflektiert wurden. Die Naturphänomene wurden zum Teil mehr oder weniger direkt durch den Menschen ausgelöst und sind das negative Resultat einer andauernden Zerstörung der Natur und eines Mangels an natürlichen Ressourcen wie Öl und Wasser. Derartige Naturkatastrophen werden insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema in der amerikanischen Literatur, häufig in der Gegend um Los Angeles, was in diesem Beitrag noch diskutiert werden soll. Dennoch waren es zwei britische Science-Fiction-Autoren, die den Weg für die moderne Beschreibung von Natur- und Ökokatastrophen geebnet haben: John Christopher (The Death of Grass von 1956) und J.G. Ballard (The Drowned World von 1962 und The Burning World von 1964). Sie erforschten die psychologischen, sozialen und politischen Aspekte von Ökokatastrophen durch die pedantisch genaue Berichterstattung der vielfältigen Konsequenzen sowohl auf einer Mikro- als auch auf einer Makroebene. Die Ökokatastrophe wurde wirkmächtig in Filmen wie Mark Robsons Klassiker Earthquake (1970) umgesetzt, der Los Angeles von einem heftigen Erdbeben aussetzt und die Stadt der Engel zerstört. Der Film ist eine der spektakulärsten Visionen einer der Naturkatastrophe ausgelieferten Stadt. 1994 publizierte der Cyberpunk-Autor Bruce Sterling Heavy Weather über die zukünftige Welt im Jahre 2031 mit einem radikal instabilen Ökosystem und unmöglich vorherzusagenden meteorologischen Bedingungen. Kürzlich hat der amerikanische Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson die Auswirkungen der Erderwärmung und des globalen Klimawandels in der Trilogie Science in the Capital behandelt, die die Romane Forty Signs of Rain (2004), Fifty Degrees Below (2005) und Sixty Days and Counting (2007) umfasst. Die drei Cluster – atomare Vernichtung, Red Scare und Ökokatastrophe –, die in diesem Abschnitt aufgezählt wurden, lassen sich dadurch von anderen abgrenzen, dass sie die kulturelle Imagination über Jahrzehnte geprägt und eine große Zahl von fiktionalen Auseinandersetzungen mit Katastrophenszenarien hervorgebracht haben.13
13 Katastrophenfiktion umfasst ein weitaus breiteres Spektrum von Katastrophen als die hier genannten. In den meisten Fällen haben die anderen Katastrophen jedoch weniger Einfluss auf die kollektive Vorstellungswelt als 118
KATASTROPHENVISIONEN
Science Fiction und das novum Von außen betrachtet ist Katastrophenfiktion ein spezielles Subgenre von Science Fiction. Historisch wurde das Genre der Science Fiction entwickelt: 1. um alternative soziale und politische Formen von Gesellschaftsorganisation aufzuzeigen (um 1900 fand in den Darstellungen ein Wechsel von utopischen zu dystopischen Gesellschaften statt) 2. um die Möglichkeiten und Konsequenzen von neuen und zukünftigen Technologien und Wissenschaften zu erforschen 3. um unsere gegenwärtige soziale und politische Realität zu kommentieren.14 Die grundlegende Eigenschaft von Science-Fiction-Erzählungen ist die Etablierung einer fiktiven Welt mit nicht-realistischen Komponenten. Diese Komponenten sind genuine ästhetische Erfindungen, die spezifische Probleme in einem gegebenen sozialen und politischen Kontext diskutieren. In diesem Sinne ist Science Fiction mit anderen Genres vergleichbar, die auf nicht-realistischen Elementen basieren, wie beispielsweise Fantasy, Märchen und Mythen. Die nicht-realistischen Komponenten in Science Fiction sind kreative Erfindungen oder Auskristallisierungen gegenwärtiger empirischer Tendenzen, und sie könnten unter bestimmten Bedingungen tatsächlich real sein. Der amerikanische Science-Fiction-Schriftsteller Philip K. Dick hat die folgende Definition einer Science-Fiction-Welt gegeben: »It is a society that does not in fact exist, but is predicated on our known society – that is, our known society acts as a jumping-off point for it; the society advances out of our own in some way, perhaps orthogonally, as with the alternate-world story or novel. It is our world dislocated by some kind of mental ef-
die hier aufgezählten. Eine Nennung der vielen verschiedenen Typen von Katastrophen im Film findet sich in Stephen Keane: Disaster Movies. The Cinema of Catastrophe, Harrow: Wallflower Press 2001. 14 Vgl. Adam Roberts: Science Fiction, London: Routledge 2000, S. 1-36. Vgl. auch John Clute und Peter Nicholls (Hrsg.): The Encyclopedia of Science Fiction, London: Orbit 1999, S. 311-314. 119
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fort on the part of the author, our world transformed into that which it is not or not yet.«15
Dass eine fiktive Science-Fiction-Welt durch unsere eigene Gesellschaft verstanden werden kann, ist der wesentlichste Unterschied zu den oben genannten Genres (Fantasy und Mythos), deren magische Komponenten auf keiner empirischen Grundlage basieren. Die häufigste Art, einer Science-Fiction-Welt eine reale Grundlage zu geben, besteht darin, in rationalen Kategorien und mit (Pseudo-)Theorien die Mechanismen und Funktionsmodi der nicht-realistischen Erfindungen oder Phänomene zu erklären. Aus diesem Grund ist die zentrale Figur in Science Fiction immer ein Wissenschaftler. Der Schriftsteller braucht einen Spezialisten, der den zukünftigen state of the art eines Phänomens für den Leser und die anderen Figuren des Universums erklären und beschreiben kann. In seiner einschlägigen Studie Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung (1979) hat der einflussreiche Science Fiction-Theoretiker Darko Suvin argumentiert, dass die Methode von Science Ficton darin besteht, fiktive Welten zu kreieren, die eine »Literatur der erkenntnisbezogenen Verfremdung«16 produzieren. Die Verfremdungen werden typischerweise benutzt, um einen ScienceFiction Realitätseffekt herzustellen, wie man in Anlehnung an Roland Barthes formulieren könnte. Innerhalb der fiktiven Welt ist alles logisch, rational und wissenschaftlich begründet. Die Andersartigkeit wird in Science Fiction sorgfältig und mit einem faszinierenden Sinn fürs Detail entwickelt (zumindest in den besten Werken dieses Genres). Für Suvin bedeutet diese spezifische Methode eine tatsächliche Überblendung von Verstehen und Befremdung. Adam Roberts stellt Suvins Konzepte folgendermaßen dar: »›Cognition‹, with its rational, logical implications, refers to that aspect of SF that prompts us to try and understand, to comprehend the alien landscape of a given SF book, film or story. ›Estrangement‹ is a term from Brecht, more usually rendered in English-language criticism as ›alienation‹, and in this context it refers to that element of SF that we recognise as different, that ›estranges‹ us from the familiar and everyday. If the SF text were entirely concerned with ›estrangement‹ then we would not be able to understand it; if it were entirely to do
15 Philip K. Dick: »My Definition of Science Fiction«, S. 99, in: Ders.: The Shifting Realities of Philip K. Dick. Selected Literary and Philosophical Writings, New York: Vintage 1995. 16 Darko Suvin: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 24. 120
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with ›cognition‹ then it would be scientific or documentary rather than science fiction.«17
Die kognitive Befremdung produziert eine alternative Welt, die klar wieder erkennbar und theoretisch für uns verständlich ist und die strukturelle Ähnlichkeit mit dem aufweist, was uns bekannt ist. Anders ausgedrückt: Bei der Lektüre von Science Fiction stoßen eine vollständig entwickelte Gesellschaft mit einem normativen Set von Werten und Möglichkeiten (die Science-Fiction-Welt) und die uns bekannte Welt mit ihren Werten und Möglichkeiten aufeinander, und diese Konfrontation bewirkt einen Effekt der Verwunderung, des Staunens und des Schocks. Der Effekt könnte auch als Effekt des verzerrten Spiegels oder als Thomas MorusEffekt bezeichnet werden. Wie Thomas Morus’ klassischer Text Utopia (1516), arbeitet auch die Science-Fiction-Erzählung explizit oder implizit mit einem Modell der zwei Welten, von denen die eine pure Fiktion und die andere unsere Realität ist. 18 In Morus’ Buch ist Utopia eine entfernte und unbekannte Insel im Atlantischen Ozean, auf der die sozialen und politischen Verhältnisse sich radikal von denen im England seiner Zeit unterscheiden. More erzählt die Geschichte eines Reisenden, der durch Zufall an diesen unbekannten Ort gelangt und seine Erfahrungen sorgfältig beschreibt, vorher hat er dieselben Beobachtungsgegenstände im England kritisch beschreiben. Das Buch besteht aus diesen zwei Teilen, die sich gegenseitig auf verzerrte Weise spiegeln. Diese Konstruktion ermöglicht einen aufschlussreichen und kritischen Vergleich und lässt die gegebenen Bedingungen in England chaotisch, unmenschlich und reformbedürftig erscheinen.19 Der Effekt ist einfach, aber wichtig, um die wesentliche Arbeitsweise in Science Fiction zu verstehen. Die Etablierung einer alternativen oder parallelen Welt kreiert eine Dynamik zwischen einem Hier und einem Dort, einer bekannten und einer unbekannten Welt, in der alles, wie gezeigt wird, komplett anders sein könnte. Je weiter das Science-FictionGenre sich entwickelt, desto weniger explizit wird das ’Hier’. Die bekannte Welt mit ihren sozialen und politischen Systemen wird selten explizit beschrieben, aber sie ist als immanenter Vergleichshorizont präsent
17 Adam Roberts: Science Fiction, S. 8. 18 Thomas Morus: Utopia. On the best state of a republic and on the new Island of Utopia, New Haven: Yale University Press 2001. 19 Alberto Manguel und Gianni Guadalupi haben eine beispielhafte Beschreibung von Morus’ Utopia geliefert in: Dies.: The Dictionary of Imaginary Places, Florida: Harcourt 1999, S. 672-681. 121
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und trägt dazu bei, dass die Science-Fiction-Realität sinnvoll erscheint.20 Damit das Science-Fiction-Universum nicht gleich wieder auseinander fällt, um es wie Philip K. Dick zu sagen, führt die kognitive Komponente systematisch eine kreative Transformation der Realität um uns herum durch. Diese Umplatzierung des Bekannten muss konsistent und von einer klaren Idee bestimmt sein: »There must be a coherent idea involved in this dislocation; that is, the dislocation must be a conceptual one, not merely a trivial or a bizarre one – this is the essence of science fiction, the conceptual dislocation within the society so that as a result a new society is generated in the author’s mind, transferred to paper, and from paper it occurs as a convulsive shock in the reader’s mind, the shock of dysrecognition.«21
Das wichtigste Instrument dieser kreativen Transformation konzeptualisiert Suvin als novum oder als novas, beides Ableitungen des lateinischen Wortes für neu. Der Begriff novum bezeichnet fiktionale Elemente wie Raumschiffe, Zeitreisen, galaktische Kolonisierung, Außerirdische, Androiden und so weiter. Ein novum kann ein kleines und einfaches Ding wie ein Gadget oder eine bestimmte Verhaltensweise oder auch umfassend entwickelte Konstruktionen wie die galaktische Geschichte oder Generationsraumschiffen sein, die Biotope transportiert. Die raison d’être eines novums kann in den harten oder weichen Wissenschaften begründet sein, in physikalischen oder metaphysikalischen Konzeptionen, und es wird typischerweise von mehreren Autoren wieder aufgenommen, wenn sie darin Perspektiven erkennen. Innerhalb des ScienceFiction-Universums wird das novum zur natürlichen Gegebenheit und dominiert die Erzählung, wenn der Plot und die Handlung um es herum konstruiert sind.22 Deshalb haben Science Fiction und andere Arten von experimentellen Genres eine grundlegende Aufhebung von Ungläubigkeit zur Folge. Die novas machen Science-Fiction-Welten zu beispielhaften anderen Realitäten, die typischerweise einen zeitlichen Faktor, das heißt eine andere historische Zeit mit sich bringen. Die Zukunft ist deswegen der bevorzugte Spielplatz von Science-Fiction-Autoren, weil wir natürlich nicht wissen, was die Jahre vor uns mit sich bringen, und die Wahrscheinlichkeit besteht, dass novas erfunden werden und unsere Wahr20 Suvin: Poetik der Science Fiction, S. 64-92. 21 Philip K. Dick: »My Definition of Science Fiction«, S. 99, in: The Shifting Realities of Philip K. Dick. Selected Literary and Philosophical Writings. 22 Suvin: Poetik der Science Fiction, S. 93-119. 122
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nehmung der Dinge verändern. Auch ein räumlicher Faktor wird oft eingesetzt, um eine neue Realität herzustellen. Die Reise zu einer Insel wie in Mores Roman oder Reisen zu anderen Galaxien und Planeten wie bei H.G. Wells und Frank Herbert produzieren denselben Effekt. Im Anschluss an den russischen Formalisten Mikhail Bakhtin lässt sich sagen, dass Science-Fiction-Literatur eine raum-zeitliche Matrix im fiktionalen Raum etabliert, eine Chronotope, die die Koordinaten und die Logik des narrativen Raums, inklusive Sprache und Wahrnehmung strukturiert und produziert.23 Das novum ist mit anderen Worten immer in einer spezifischen Chronotope verankert, die das wahrscheinlich werden lässt, was normalerweise unrealistisch und lächerlich erscheint. Das wichtigste novum in Katastrophenfiktion ist wenig überraschend die Katastrophe selbst. Normalerweise ist das Unglück, die vorausgehenden und folgenden Ereignisse eingeschlossen, das allerwichtigste Element der Erzählung und Formatieren aller anderen Elemente der fiktiven Welt. Im Gegensatz zu einer Menge anderer Arten von Science Fiction sind Katastrophen in Katastrophenfiktionen oftmals das einzige novum. Als einziges verändertes und nicht realistisches Element in einer sonst perfekt wieder erkennbaren und realistischen Welt steht die Katastrophe für sich und wird umso sichtbarer und exponierter in der Handlung. Die Logik scheint zu sein, dass, je vertrauter und realistischer alles andere in der Handlung ist, das Unglück desto wahrscheinlicher und Furcht erregender wird. Aus diesem Grund spielt der größte Teil der Katastrophenfiktion in der nahen Zukunft oder einer nicht weiter spezifizierten Gegenwart, so dass aktuelle Ängste und Probleme in einem Setting verhandelt und dramatisiert werden können, das auch für die Gegenwart gehalten werden könnte. Science Fiction der nahen Zukunft wird bei George Mann definiert als: »SF that takes as its setting the near or not-too-distant future. [...] Near future SF creates a world only one step removed from our own; it is credible and plausible and we can see our children inhabiting it. Often the stories can be all the more poignant because of this. Where far future SF will usually detail an entropic, alien time, near future SF attempts to bring science fiction closer to home and shows us an imminent, fundamental change to our lifestyles, which
23 Vgl. Mikhail Bakhtin: The Dialogic Imagination, Texas: University of Texas Press 1981. 123
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could be anything from a new technological gadget to an incredible realization of our place in the changing universe.«24
Die Szenarien der nahen Zukunft sind nicht weit entfernt und hypothetisch, sondern Situationen, die wir bereits erlebt haben oder in der uns bekannten Welt zu erleben fürchten. Die Spannung von Ungläubigkeit und Realismus wird durch die räumlich-zeitliche Nähe des Unglücks bewirkt. Science Fiction ist ein sehr heterogenes Phänomen, das seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert eine ungeheure Entwicklung erlebt hat. Die Formen, Figuren, novas, die Handlungen und Themen haben sich im fortdauernden Dialog mit den Veränderungen der modernen Gesellschaften gewandelt. Katastrophenfiktion ist seit Beginn Teil dieses Genres, aber das so genannte Goldene Zeitalter (1940-1950er) und die Neue Welle der Science-Fiction (1945-1970er) waren besonders fruchtbar für die Entwicklung apokalyptischer und katastrophaler Szenarios.
D i e E l e m e n t e v o n K a t a s tr o p h e n f i k t i o n Science Fiction ist Genrefiktion. In den verschiedenen Abschnitten der Geschichte des Genres haben sich Schemata und Formeln für spezifische Typen von Science-Fiction-Erzählungen herausgebildet.25 Die klassischen Techniken der Extrapolation, der Spekulation und der Kreation von nova haben sich als ideale ästhetische Strategien erwiesen, um neue Formeln zu entwickeln. Als ein Subgenre der Science Fiction hat Katastrophenfiktion eine eigene Formel. Katastrophenfiktion gebraucht eine Menge konventionalisierter Elemente der klassischen Science Fiction und operiert zugleich mit einer spezifischen Logik oder Grammatik, die die Probleme aufdeckt, welche mit Katastrophenszenarien verknüpft sind. Die Funktion der konventionalisierten Elemente der Katastrophenfiktion besteht, kurz gesagt, darin, soziale, ökonomische und politische Veränderungen in der modernen Gesellschaft zu diskutieren. Ein Überblick über die Elemente in der Formel für Katastrophenfiktion könnte folgendermaßen aussehen:
24 George Mann (Hrsg.): The Mammoth Encyclopedia of Science Fiction, New York: Robinson Publishing 2001, S. 493-494. 25 Vgl. Patrick Parrinder: Science Fiction. Its Criticism and Teaching, New York: Methuen 1980, S. 54-62. 124
KATASTROPHENVISIONEN
Elemente von Katastrophenfiktion
Elemente
Katastrophenfiktion
1. Raum
Städtischer Raum / Zentren der Macht
2. Protagonist
Der normale Bürger + Specializt / Wissenschaftler
3. Methode
Pragmatismus + Wissenschaft
4. Problem
Gier, Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit
5. Erzählstruktur
Mehrfache Erzählebene und Erzählstränge
6. Weltansicht
Manichäische Weltansicht
Wichtig ist, dass die Elemente sich gegenseitig unterstützen und zusammen die Teile einer ästhetischen Maschine zur Produktion von Katastrophenbildern konstituieren. Jedes Element zeigt einen spezifischen Aspekt des Ausnahmezustands auf und kann nicht vom Rest isoliert betrachtet werden. Jedes Element und seine Funktion in der Katastrophenformel soll hier kurz vorgestellt werden: 1. Der typische Schauplatz von Katastrophenfiktion sind Städte, urbane Megastrukturen mit einer hohen Bevölkerungsdichte, Macht und symbolischen Werten. Urbane Megastrukturen sind verletzlich und ihre infrastrukturelle Komplexität und hohe Dichte macht sie unter bestimmten Bedingungen zu potentiellen Todesfallen. Gleichzeitig symbolisieren sie das höchste Niveau menschlicher Entwicklung und Zivilisation. 2. Es gibt zwei wesentliche Arten von Protagonisten in der Katastrophenfiktion; den Durchschnittsbürger und den Experten, typischerweise ein Wissenschaftler oder ein Regierungsrepräsentant. An beiden lässt sich Handeln in desaströsen Szenarien untersuchen. Der normale Bürger wird mit der Herausforderung des Anderen (in Bezug auf Familie, Freunde, Nachbarn etc.) konfrontiert, und er muss in der Krise richtig handeln. Der Spezialist steht der gleichen Herausforderung gegenüber. Er muss allerdings auf einer höheren Ebene agieren, und seine Entscheidungen können möglicherweise den Rest der Welt retten. Wie der größte Teil der Populärkultur verhandelt das Katastrophengenre die Wahlmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten des Individuums angesichts einer ernsthaften Gefahr. Die Krisensituation, die Katastrophe, ist das ideale Szenario, um zu einer archetypischen oder »nackten« Situation zurückzukehren, in der der Mensch fundamentalen Entscheidungen gegenübersteht. Im Augenblick der Katastrophe kann sich der Mensch nicht auf die Zivilisation, Demokratie oder andere institutionalisierte Werte der modernen Gesell-
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schaft verlassen. Er ist zuallererst auf sich selbst und seine tiefsten Überzeugungen gestellt. Katastrophenfiktion dient der Untersuchung von Handlungen und Verhalten in Krisensituationen. Typischerweise zeigen sich sowohl beim normalen Bürger und beim Experten grundsätzliche humanistische Werte in Notfallsituationen. 3. Der Schlüssel zum angemessenen Handeln in Krisen liegt für beide Protagonisten in einem soliden Pragmatismus. Der normale Bürger benutzt und mobilisiert individuelle Fähigkeiten, um mit der Krise umzugehen. Oft gehen diese Fähigkeiten mit den erwähnten humanistischen Werten und mit einem nüchternen ethischen Ansatz an die Dinge einher. Der Wissenschaftler muss dagegen sein professionelles Wissen einsetzen, um die Situation richtig zu bewältigen. Er ist, genau wie der normale Bürger, mit schwierigen ethischen Entscheidungen konfrontiert, bei denen er zwischen dem geringeren Übel wählen und notwendigerweise mit dieser schweren Entscheidung umgehen können muss, die oftmals auf Kosten unschuldiger Menschen zugunsten der Rettung anderer geht. Seine wissenschaftliche Methode trifft sich oft mit dem Skeptizismus und der Arroganz des Establishments (Kollegen, Entscheidungstreffern in Regierungsinstitutionen etc.), denen es um politische und kurzfristige Lösungen geht. Dennoch sind die offiziellen Machtstrukturen selten in der Lage, die Krisen selbst zu meistern und bitten früher oder später den Spezialisten und seine engagierten Helfer um Unterstützung. Immer wieder zeigt Katastrophenfiktion auch Beispiele von Individuen oder Gruppen, die sich im Angesicht des Unglücks falsch verhalten und in einen Zustand von brutaler Bestialität und Egoismus verfallen. Das grundlegende Denken in Rousseaus Contrat Social wird ausgeblendet, wenn sie sich zu Aufständen, Vergewaltigungen und anderen destruktiven Aktivitäten hinreißen lassen, die in dem Moment zur Tagesordnung werden, wenn der gefallene Mensch im Schatten der Katastrophe Amok läuft. 4. Das Problem in der Katastrophenfiktion ist, wie bereits gesagt, die Katastrophe und ihr Ursprung. Die möglichen Katastrophen variieren von der rein menschengemachten Atombombe zur Naturkatastrophe wie Erdbeben und ähnlichen. Ein wiederkehrendes Motiv ist es, das Menschen durch ihr Handeln direkt oder indirekt Katastrophen provozieren und auslösen. Der gierige Kapitalist begeht ein katastrophales Verbrechen, wenn er die ökologische Nachhaltigkeit in seinen Projekten ignoriert. Der Wissenschaftler begeht ein Verbrechen, wenn er eine Technologie entwickelt, die er am Ende nicht mehr kontrollieren kann. Der verantwortliche Bürokrat begeht ein Verbrechen, wenn er aufgrund politischer Überlegungen die Warnungen der Experten ignoriert. Zumeist sind 126
KATASTROPHENVISIONEN
Gedankenlosigkeit und Unwissen die entscheidenden Faktoren und bestimmenden Mechanismen in einer längeren Kette von fatalen Ereignissen. Zusammenfassend kann man sagen, dass diese Übeltäter (die ›Bösen‹ der Katastrophenfiktion) nicht auf die Mächte achten, mit denen sie es zu tun haben. Dies ist ihr Verbrechen. 5. Katastrophenfiktion hat eine bestimmte narrative Struktur. Sie verbindet einen alltäglichen Normalzustand mit einem zunehmenden Gefühl von Gefahr und einer Eskalation der Ereignisse, bis die Katastrophe eintritt und ein Neuanfang möglich wird. In den jeweiligen Werken kann dieses Muster auf ganz verschiedene Weisen ablaufen. Ein klassischer narrativer Modus ist die lineare Struktur, in der die Steigerung und schließlich die Katastrophenbewältigung im Vordergrund stehen. Eine andere klassische Erzählweise findet sich in post-apokalyptischen Fiktionen, in denen die Katastrophe bereits passiert ist und ein Erzähler durch Flashbacks, Dialoge und andere Erinnerungsstücke der alten Welt Stück für Stück über sie berichtet. Die Katastrophenerzählung folgt normalerweise vielfachen Erzählsträngen und verschiedenen Protagonisten. Der normale Bürger und der Experte haben natürlich ihre Geschichte, aber auch die Erlebnisse von einer Reihe on Nebenfiguren werden oft beschrieben. 6. In Katastrophenfiktion manifestiert sich typischerweise eine manichäische Weltanschauung mit klarer Unterscheidung zwischen gut und böse, zwischen Freund und Feind, richtig und falsch und so weiter. Zugleich dominiert ein dystopisches Element die Geschichte und verweist auf Situationen von Hoffnungslosigkeit für die Zukunft. In Katastrophenfiktion sitzen die Menschen alle im selben Boot, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter und so weiter. Nichtsdestotrotz bleibt ein gewisser Grad von Hoffnung erhalten, obwohl sie in vielen Geschichten etwas messianisch und fragil erscheint. Ein gemeinsamer Grundzug der Geschichten besteht jedoch darin, dass Katastrophen nicht andauern werden. Es gibt ein Leben danach, einen Zustand nach der Katastrophe, in welchem die Dinge anders sein können und ein neues Leben, ein Neuanfang möglich sind. Die Elemente der Katastrophen-Formel können in einer Geschichte mehr oder weniger präsent und deutlich sein. Manche Geschichten sind archetypischer als andere und manche Werke integrieren stärker Elemente anderer Genres wie beispielsweise Richard Mathesons Klassiker I am Legend (1954), in dem das Katastrophengenre sich mit Elementen der Vampirliteratur mischt. Es lässt sich also sagen, dass die Formel individuell variiert. Einige Elemente können fehlen. Trotz einiger fester Elemente in der Formel ist das Genre deshalb ziemlich heterogen und deckt 127
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eine Breite von Unglücken und sozialen und politischen Problemen ab, wie wir im Fall von Katastrophenfiktion in Los Angeles feststellen werden.
K a t as tr o p h e n f o r sc hu n g u n d P e r s p e k t i v e n d e r K a ta s tr o p he n f i k ti o n »The city burning is Los Angeles’ deepest image of itself«26
In seiner großen Studie Ökologie der Angst beschreibt Mike Davis die lange und schmerzvolle Kulturgeschichte der realen und fiktiven Katastrophen in Los Angeles und Kalifornien. Das Buch enthält wertvolle Einblicke in die Tradition die sich mit der Verwüstung von Los Angeles beschäftigt und kann als ein erster Schritt einer neuen Forschungsrichtung betrachtet werden, die Katastrophenforschung oder Desastorologie heißen könnte. Davis’ Desastorologie basiert auf empirischer Forschung; den Anfang bezeichnet eine systematische Untersuchung von »etwa hundert Romane[n] « und: »ein paar Dutzend Filme[n]«. »Außer Trivialromanen und »ernster Literatur« wählte ich absichtlich auch kurzlebigere Erscheinungen – religiöse Pamphlete, privat gedruckte Traktate, okkultistische Betrachtungen, Softpornos und zweitklassige Filme. Solche abseitigen Werke würden mir, so hoffte ich, unzensierten Einblick in die geheimen sexuellen und rassistischen Phantasien verschaffen, die das Genre unterschwellig, sozusagen auf der Ebene des Unbewussten, transportiert.«27
Davis’ Projekt besteht darin, eine Taxonomie zu erstellen, welche die Felder der Katastrophenfiktion in Subgenres unterteilt und ihnen spezifische historische Zeitabschnitte zuordnet. Die Zusammenfassung hiervon sieht folgendermaßen aus: »Horden Romantische Katastrophe Kult-Katastrophe Die Bombe
1900-1940 1920er und 30er Jahre 1930er und 50er Jahre 1940er bis 80er Jahre
26 Joan Didion: Slouching towards Bethlehem, New York: Penguin Books 1979, S. 220. 27 Mike Davis: Ökologie der Angst, München: Verlag Antje Kunstmann 1999, S. 315. 128
KATASTROPHENVISIONEN
Ökokatastrophe Filmische Katastrophe Armageddon Invasion von Außerirdischen Magische Dystopie
1960er bis 80er Jahre 1970er Jahre 1980er und 90er Jahre 1980er und 90er Jahre 1980er und 90er Jahre«28
Davis zufolge treten Katastrophenbeschreibungen also in historischen Trends auf und nehmen durch das 20. Jahrhundert hindurch verschiedene Formen an. Aus dieser Perspektive betrachtet wird offensichtlich, dass Katastrophenfiktion die Sorgen und Ängste einer bestimmten Zeit aufzeigt. Kategorien wie »Horden«, »Die Bombe« und »Ökokatastrophe« sind große Trends, unter die eine ganze Reihe von Titeln subsumiert werden, während »Armageddon« und »Invasion von Außerirdischen« eher kleine Trends bestimmen und eine beschränkte Anzahl von Romanen und Filmen und eine historisch weniger entwickelte Tradition dazu zählen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts stand unter dem Zeichen der Angst vor Horden, die durch Los Angeles ziehen und die neuen Errungenschaften der jungen Stadt verwüsten. Diese Angst geht Davis zufolge auf Rassenängste zurück, welche die Idee einer Invasion der Fremden nähren: »als Los Angeles noch die am stärksten von der weißen, angelsächsisch-protestantischen Oberschicht geprägte amerikanische Großstadt war, äußerte sich die Rassenhysterie meist als Angst vor eindringenden Horden (gelben, braunen, schwarzen, roten oder deren außerirdischen Statthaltern).«29 So wird die Immigration in eine der am schnellsten wachsenden amerikanischen Städte im 20. Jahrhundert in apokalyptische Visionen von Invasionen von Fremden aller Art übersetzt. Die Furcht vor dem Anderen und die gewaltvollen Lösungen, die in dieser Art von pessimistischen Visionen angeboten werden, verweisen auf einen brutalen und gnadenlosen Diskriminations- und Repressionswillen gegenüber bestimmten Menschengruppen. Dieser nicht tolerierbare Umgang mit einer kulturellen Situation zeigt sich deutlich in Durchhalteund Kampfszenen der Katastrophenfiktion dieser Zeit und nimmt in mancher Hinsicht den Ausbruch rassenfeindlich motivierter Unruhen der 1940er Jahre und später vorweg.30 Wiederum ist es ein Cluster von Episoden und kein einzelnes Ereignis, das das angsterfüllte kulturelle Klima hervorruft und einer Intensivierung der Rassenängste und räumlichen sozialen Trennungen stattgibt.
28 Ebd. S. 317. 29 Ebd. S. 319. 30 Ebd. S. 325-340. 129
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Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts steht dagegen unter dem Zeichen der Angst vor der Atombombe und der Ökokatastrophe. Dies offenbart sich insbesondere, wenn man sich Davis’ Liste der Zerstörungsarten von Los Angeles in Katastrophenfiktion ansieht: »Kernwaffen Erdbeben Horden (Invasion) Ungeheuer Umweltverschmutzung Banden/Terrorismus Hochwasser Epidemien Kometen/Flutwelle Kult/Sekten Vulkanausbrüche Feuersbrünste Dürre Blizzard Teufel Freeway-Einsturz Unruhen Nebel/Smog Erdrutsch Bermudagras Globale Erwärmung Sandsturm Alles zusammen
49mal 28mal 10mal 10mal 7mal 6mal 6mal 6mal 5mal 3mal 2mal 2mal 1mal 1mal 1mal 1mal 1mal 1mal 1mal 1mal 1mal 1mal 1mal«31
Zunächst ist interessant zu sehen, wie breit das Spektrum der Katastrophen ist, das das Genre abdeckt. Nicht bei allen Unglücken handelt es sich um den Ausdruck tief verwurzelter kultureller Ängste, manche von ihnen sind einfach merkwürdige und idiosynkratrische Visionen von Schicksal (z.B. »Kult/ Sekten« und der »Teufel« zählen hierzu). Andererseits ist es interessant, die Anzahl von »Kernwaffen« und »Erdbeben« auf der Liste zu sehen. Wie bereits erwähnt, charakterisiert und dominiert die Angst vor einer nuklearen Massenvernichtung die kulturelle Atmosphäre und die Geisteshaltung zur Zeit des Kalten Krieges und markiert daher eine tiefe Zäsur im 20. Jahrhundert. Erdbeben sind dagegen lokale Phänomene, die eng mit der instabilen und exponierten Position von Los Angeles zusammenhängen. Auf der Basis von Davis’ Katastrophenforschung scheint weiterhin der Schluss möglich, dass eine Kultur mit mehreren Ängsten zugleich leben kann, mit mehreren kulturellen Zäsuren, die koexistieren und ver31 Ebd. S. 318. 130
KATASTROPHENVISIONEN
schiedene Formen von Katastrophenfiktion hervorbringen. Mehr als jedes andere Genre zeigt Katastrophenfiktion diese Zäsuren auf, mit denen eine Kultur lebt. Ihre Umsetzung in Literatur und Film ist zugleich eine Frage der Verarbeitung eines bereits geschehenen Unglücks und eine Frage der Antizipierung potentieller Katastrophen. In den Werken werden das Vorleben, das Leben und das Nachleben von Katastrophen sichtbar – sowohl als ein Teil der kulturellen Dynamik, als auch, mit Davis gesprochen, als ein Phänomen, dem Städte, Regionen und Nationen chronisch ausgesetzt sind, und das heißt auch als etwas, das den geistigen Horizont eines kulturellen Kontextes beständig prägt. Indem die oben aufgezählten Elemente der Formel als narrative Zutaten verwendet werden, macht Katastrophenfiktion komplexe Ereignisse und Phänomene für ein breites Publikum sichtbar und lesbar. Die Stärke einer Formel liegt in ihrer Fähigkeit, eine Erzählung mit wenigen, aber dichten Elementen zu erstellen. Archetypische Figuren, Handlungsweisen (richtige und falsche), soziale und politische Implikationen einer Katastrophe (vor, während und nach dem Ereignis) und die unterschwelligen Gründe des Unheils. Die Formel von Katastrophenfiktion lässt etwas normalerweise Unfassbares wie ein Erdbeben oder eine atomare Verwüstung greifbar werden, indem es in eine klare Erzählstruktur eingefügt wird. Ohne Zweifel geht ein gewisser Grad an Komplexität durch diese standardisierte Operation verloren, Bilder und Eindrücke können jedoch kommuniziert und in einer gemeinsamen Sprache verhandelt werden. Ein kritischer Beobachter könnte in den Formelelementen eine Vereinfachung und die Gefahr des Klischees erkennen. Ein optimistischerer Beobachter würde dagegen behaupten, dass Katastrophenfiktion Zugang zu den Ängsten und Narben einer Kultur verschafft, und damit weniger die mimetische Kapazität von Populärkultur in den Vordergrund rücken. Diesem zweiten Beobachter erscheint Katastrophenfiktion als ein privilegierter Ort und Zugang zu bewussten und unbewussten Ebenen einer Kultur und zu den Ängsten, die die Imagination der Welt heimsuchen, in der wir leben. Katastrophenfiktion artikuliert diese Ebene der gemeinsamen Vorstellungswelt und erlaubt damit einen Zugang zu den wesentlichen kulturellen Zäsuren, indem wir über solche sprechen, die durch verheerende Ereignisse markiert sind. Obwohl die Art und Weise, mit Katastrophen umzugehen, in diesem Genre oftmals ziemlich standardisiert und oberflächlich erscheint, gehört doch zu den zentralen Eigenschaften von Katastrophenfiktion, dass die potentiellen Probleme der Menschheit in der Vergangenheit und auch in der Zukunft nicht heruntergespielt werden. In diesem Sinne ist das Genre angesichts der Zukunft der Menschen eher pessimistisch. 131
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Meistens zeigt sich ein Optimismus erst in kurzen Schlusssequenzen, in denen die Welt nach der Katastrophe in einer post-apokalyptischen Landschaft dargestellt wird, in der eine neue Welt und ein neuer Anfang möglich erscheinen. Aber diese Schlussszenen stehen in hartem Kontrast zu den oftmals gnadenlosen Ausführungen der Katastrophe in actu und den Schrecken, die sie über die Menschen und die Natur bringt. Eine letzte Anmerkung gilt der Tatsache, dass terroristische Angriffe eine relativ geringe Rolle in Katastrophenfiktion gespielt haben und gemeinhin erst nach 9/11 2001 aufgetreten sind.32 Obwohl die Angriffe vom 11. September bis zu einem bestimmten Grad in der Populärkultur antizipiert worden waren, scheinen andere Arten von Ängsten und Phobien tiefer in der amerikanischen Kultur verwurzelt zu sein und öfter in Katastrophenfiktion angesprochen zu werden als der Terrorismus. In den letzten Jahren hat die Ökokatastrophe eine dominante Rolle in der Katastrophengalerie erlangt. Filme wie Roland Emmerichs The Day After Tomorrow (2004), Francis Lawrences I am Legend (2007) und Scott Derricksons The Day the Earth Stood Still (2008) sowie Cormac McCarthys The Road (2006) und Kim Staley Robinsons Trilogie Science in the Capital (2004-2007) beleben sämtlich die Ökokatastrophe der 1970er und 1980er Jahre als zentrales Thema der modernen Katastrophenfiktion wieder. Die Gefahren der globalen Erderwärmung, und nicht die des islamistischen Terrors, könnten vielleicht die nächste kulturelle Zäsur prägen, die die Vorstellungswelt der kommenden Jahrzehnte heimsuchen wird. Vorausgesetzt, dass man Katastrophenfiktion als Seismograph einer Kultur ernst nehmen möchte. Aus dem Englischen von Antonia von Schöning
32 Adrian S. Wisnicki hat die Tradition des Terrorismus-Erzählungen in der britischen Literatur, insbesondere um 1900 untersucht. Vgl. Ders.: Conspiracy, Revolution, and Terrorism from Victorian Fiction to the Modern Novel, London: Routledge 2009. Auch Alex Houen betrachtet die europäische Seite des Phänomens in seinem Buch Terrorism and Modern Literature. From Joseph Conrad to Ciaran Carson, Oxford: Oxford University Press 2002. Eine grundlegende Untersuchung zu ähnlichen Traditionen in Amerika steht noch aus. 132
KATASTROPHENVISIONEN
L i t e r at u r Aldiss, Brian und David Wingrove: Trillion Year Spree. The History of Science Fiction, New York: House of Stratus 2001. Bakhtin, Mikhail: The Dialogic Imagination: Four Essays by M.M. Bakhtin, Texas: University of Texas Press 1981. Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus, Wien: Passagen Verlag 2002. Booker, M. Keith: Alternate Americas: Science Fiction Film and American Culture, Santa Barbara: Praeger Publishers 2006. Booker, M. Keith: Monsters, mushroom clouds, and the Cold War. American science fiction and the roots of postmodernism, 19461964, Westport: Greenwood Press 2001. Booker, M. Keith: The Post-Utopian Imagination. American Culture in the Long 1950s, Westport: Greenwood Press 2001. Bowling, David: Fictions of Nuclear Disaster, Iowa City: University of Iowa Press 1987. Clute, John und Peter Nicholls (Hgg.): The Encyclopedia of Science Fiction, London: Orbit 1999. Cullen, Jim: The American Dream. A Short History of an Idea that shaped a Nation, Oxford: Oxford University Press 2003. Davis, Mike: Dead Cities and other Tales, New York: New Press 2002. Davis, Mike: Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe, übs. v. Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke und Gerline Schermer-Rauwolf, Kollektiv Druck-Reif, München: Verlag Antje Kunstmann 1999. Dick, Philip K.: The Shifting Realities of Philip K. Dick. Selected Literary and Philosophical Writings, New York: Vintage 1995. Didion, Joan: Slouching towards Bethlehem, New York: Penguin Books 1979. Houen, Alex: Terrorism and Modern Literature. From Joseph Conrad to Ciaran Carson, Oxford: Oxford University Press 2002. Keane, Stephen: Disaster Movies. The Cinema of Catastrophe, Harrow: Wallflower Press 2001. Manguel, Alberto und Gianni Guadalupi: The Dictionary of Imaginary Places, Florida: Harcourt 1999. Mann, George (Hrsg.): The Mammoth Encyclopedia of Science Fiction, New York: Robinson Publishing 2001. McCracken, Scott: Pulp. Reading Popular Fiction, Manchester: Manchester University Press 1998.
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VERMARKTETE APOKALYPSE: 9/11 U N D E V A N G E L I K AL E E N D Z E I T L I T E R A T U R CHRISTINA RICKLI Obwohl die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 überraschend über das amerikanische Volk einbrachen, stellen die Ereignisse für Millionen von Amerikanern nicht eine Zäsur im eigentlichen Sinne dar. Vielmehr nähren sie den Glauben an eine kurz bevorstehende Apokalypse, die der Grundstein des Weltbilds der großen und stetig wachsenden amerikanischen Bevölkerungsgruppe christlicher Fundamentalisten evangelikaler Ausrichtung ist. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erwartet diese Gruppierung den Beginn einer geschichtlichen Endzeitphase, die ihrer Meinung nach in der Bibel prophezeit wird und die die Wiederkehr Jesu Christi einläutet. Genährt werden diese Vorstellungen zudem von einer evangelikalen Tradition einer Fiktionalisierung der Endzeit in Romanen.1 Diese ›Endzeitliteratur‹ stützt sich stark auf Passagen der alttestamentarischen Bücher Daniels und Ezekiels sowie auf das Buch der Offenbarung. Als Zeichen für den ausgeprägten Glauben unter den evangelikalen Amerikanern an eine nahende Apokalypse kann der Verkaufsverlauf der Endzeit-Romanreihe Left Behind (LB) gewertet werden. Entworfen wurde LB von einem der einflussreichsten Evangelikalen, Tim LaHaye. Die Verkaufszahlen des ersten Bandes, Left Behind – A Novel of the Earth’s Last Days, waren nicht allzu erfolgsversprechend. Doch die Reihe entwickelte sich zum Verkaufsschlager: Der siebte Band, The Indwelling belegte 2000 gleichzeitig den ersten Platz der vier wichtigsten amerikanischen Bestsellerlisten2 – welche wohlgemerkt die Ver1
2
Für eine Übersicht zu dieser Tradition vgl. Crawford Gribben: Writing the Rapture: Prophecy Fiction in Evangelical America, Oxford: Oxford University Press 2009. Bruce David Forbes: »How Popular Are the Left Behind Books… and Why«, in: Jeanne Halgren Kilde/Bruce David Forbes (Hg.), Rapture, Revelation, and the End Times: Exploring the Left Behind Series, New York: Palgrave MacMillan 2004, S. 5-32, hier S. 8. Die benannten Bestsellerlisten sind von The New York Times, Publishers Weekly, Wallstreet Journal und USA Today. 135
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kaufszahlen christlicher Distributionskanäle nicht berücksichtigen. Zur Zeit der 9/11-Anschläge war die Reihe demnach bereits ein publizistischer Großerfolg, was den um 60% gesteigerten Verkauf in den Monaten nach 9/113 noch erstaunlicher wirken lässt. Ziel dieses Beitrages ist es aufzuzeigen, welche Umstände zum stark erhöhten Erfolg der LB-Reihe nach den Terroranschlägen führten und wie die erheblich gestiegenen Verkaufszahlen interpretiert werden können.
Die Bibel als Gerüst Die Left Behind-Reihe basiert auf einem christlich fundamentalistischen Weltbild, das Tim LaHaye als Gerüst der Romane benutzt. LaHaye arbeitet eng mit dem eigentlichen Schreibenden der Romanreihe, Jerry B. Jenkins, zusammen. Jenkins, ein ausgewiesen christlicher Schriftsteller, der durch das Verfassen von Biografien christlicher Sportgrößen bekannt wurde,4 erhält vor dem Verfassen eines Bands jeweils ein 70- bis 100seitiges Dokument von LaHaye.5 In diesem Dokument skizziert LaHaye den Handlungsbogen und liefert den theologischen Hintergrund, unterstützt durch Bibelzitate. Danach macht sich Jenkins ans Werk und gestaltet aus dem theologischen Konstrukt eine Geschichte, die in ihrem Inhalt an Romane von Stephen King und in ihrem Schreibstil an Werke John Grishams erinnert. Durchsetzt wird die actionreiche Handlung mit Passagen, die den archaischen Stil der King James Bibel imitieren. Das Ende eines jeden Romans versieht er mit einem sogenannten cliffhanger, einem Spannungselement, das erst im nächsten Band der Romanreihe aufgelöst wird, und das die Leser auf die Erscheinung des Folgebands harren lässt. Die Geschichte, die sich über die zwölf Bände sowie vier Sequels und Prequels (insgesamt über 5000 Seiten) der LB-Romanreihe zieht, ist rasch zusammengefasst: Die Handlung beginnt mit der Schilderung eines Tages, an dem auf mysteriöse Art und Weise Millionen von Leuten gleichzeitig verschwinden. Zurück bleiben nur ihre Kleider. Im Chaos, das durch tausende führerlose Autos und Flugzeuge sowie verwirrte Zurückgebliebene entsteht, entwickelt sich der Präsident Rumäniens mit klaren Lösungsansätzen zum Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er 3 4
5
C. Gribben: Writing the Rapture, S. 130. Melani McAlister: »Prophecy, Politics, and the Popular: The Left Behind Series and Christian Fundamentalism’s New World Order«, in: The South Atlantic Quarterly 102.4 (Fall 2003), S. 773-798, hier S. 780. David Gates: »The Pop Prophets«, in: Newsweek vom 24. Mai 2004, http://www.newsweek.com/id/105396?tid=relatedcl, 15.11.2009. 136
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funktioniert die UNO zur Global Community um und errichtet nach und nach ein totalitäres und globales Terrorregime mit der Hauptzentrale im neu gegründeten New Babylon in der Nähe Bagdads. Erst formiert sich eine Widerstandsgruppe von Amerikanern und bald wächst auch eine Opposition in Israel. In einem Zusammenschluss entsteht eine amerikanisch-israelische Gruppierung, die weltweit als einzige der Global Community die Stirn bietet. Sieben Jahre dauert der Kampf zwischen den zwei ungleichen Parteien – eine Zeit schrecklicher Plagen und Katastrophen. Die Terrorherrschaft der Global Community wird in einer Schlacht bei Armageddon beendet und eine tausend Jahre anhaltende Friedenszeit beginnt.
W e i t g e he n d u n e r f o r s c h t e s P hä n o m e n In Europa ist die LB-Reihe trotz den laut Eigenwerbung über 63 Millionen verkauften Exemplaren,6 Übersetzungen in 33 Sprachen7, weiterführenden Romanreihen und dem Computerspiel Left Behind – Eternal Forces, ein beinahe unerforschtes Phänomen. So brachte beispielsweise die Literaturrecherche keinen einzigen ausführlichen deutschsprachigen akademischen Beitrag zu LB zu Tage.8 Und auch in den USA ist LB ein an den Universitäten weitgehend vernachlässigtes Thema9 – dies, obwohl das Time Magazine bereits im Jahr 2002 einen umfassenden Artikel zur Reihe druckte10 und die Autoren die Titelseite von Newsweek11 zierten. LB ist nicht bloß seines publizistischen Erfolgs wegen ein Untersuchungsgegenstand, der besondere Beachtung verdient, sondern auch aufgrund seiner Bezugnahme auf ein Weltbild, welches insbesondere seit
6
Eigenwerbung auf dem letzten Band der Reihe: Tim LaHaye/Jerry B. Jenkins: Kingdom Come, Carol Stream IL: Tyndale House Publishers 2007. 7 Monahan, Torin: »Marketing the Beast: Left Behind and the Apocalypse Industry«, in: Media, Culture & Society 30 (2008), S. 813-830, hier S. 817. 8 Die konsultierten Datenbanken waren: Index Theologicus, Jstor, Literature Online, MLA International Bibliography. 9 Kevin L. Cope: »Never Better Than Late: The Left Behind Series and the Incongruities of Fundamentalist Idealisms«, in: Catherine Pesso-Miquel/ Klaus Stierstorfer (Hg.), Fundamentalism and Literature, New York: Palgrave MacMillan 2007, S. 181-204, hier S. 183. 10 Nancy Gibbs: »Apocalypse Now«, in: Time Magazine vom 1. Juli 2002, http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,1002759,00 (10.11.2009). 11 D. Gates: »The Pop Prophets«. 137
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9/11 auf jegliche Facette des amerikanischen Lebens einen stetig wachsenden Einfluss ausübt. Ein Verständnis, wie LB mit christlich-fundamentalistischer Ideologie zusammenhängt und wie der gesteigerte Erfolg von LB mit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 verknüpft ist, bedingt ein Grundwissen an evangelikaler Geschichte und Theologie. Fehlt dieses Hintergrundswissen, besteht die Gefahr, die LB-Romane als pure Science Fiction, Fantasy-Literatur oder gar dystopisches Schreiben einzuordnen – ein Vergleich, der aufgrund der generischen Anlehnungen an Romane jener Gattungen angebracht scheint. Jedoch unterscheidet sich die LBReihe grundsätzlich von Werken der drei zuvor aufgeführten Gattungen. Dies weil sie sich als Teil einer prophetischen Tradition präsentiert, die eine nahe Zukunft fiktionalisiert, welche auf einer – in den Augen der Autoren – »wortwörtlichen« Auffassung der Bibel basiert. Eine Zukunft, die für Millionen amerikanischer Evangelikalen Gewissheit zu sein scheint und in der alle, die nicht einer bestimmten Auslegung des christlichen Glaubens angehören, Schreckliches durchleben müssen.
L an g e T r a d i ti o n d e s E n d z e i t g l a u b e n s Vorstellungen zu einer bald nahenden Endzeit begleitet das Christentum seit seinen Anfängen. Bereits im ersten Jahrhundert A.D. trösteten sich Gläubige mit der Überzeugung, dass Christus bald zurückkehren, die Verfolger und Verleumder der Christen zur Rechenschaft ziehen, Satan endgültig besiegen und ein tausendjähriges Reich, das ›Millennium‹, auf Erden errichten wird.12 So entstand das Buch der Offenbarung nach Johannes, das heute dem Neuen Testament angegliedert ist. Besondere Popularität erfährt der Millenniumsglaube immer während schwerer Zeiten wie z.B. der Pest oder großer Kriege, oder wenn kalendarische Wendepunkte wie Jahrhundert- und Jahrtausendwenden anstehen. Die Geschichte der evangelikalen Tradition des Millenniumglaubens, auf der LB basiert, beginnt im Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Ein Gründungsmythos besagt, dass 1830 eine Frau in Port Glasgow in Schottland eine Vision hatte, in der Jesus seine Gläubigen vor einer schrecklichen sieben-jährigen Unruhezeit rettete, und nach Ablauf derer er das tausendjährige Friedensreich begründete.13 Eine weniger folkloris12 Jeanne Halgren Kilde: »How Did Left Behind’s Particular Vision of the End Times Develop?«, in Jeanne Halgren Kilde/Bruce David Forbes (Hg.), Rapture, Revelation, and the End Times: Exploring the Left Behind Series, New York: Palgrave MacMillan 2004, S. 33-70, hier S. 36. 13 T. Monahan: Marketing the Beast, S. 815. 138
VERMARKTETE APOKALYPSE
tische Version sieht den Ursprung der in LB gebrauchten Exegese der Offenbarungsgeschichte in der Zusammenarbeit eines kleinen elitären Zirkels am Trinity College in Dublin sowie der Universität von Oxford in den 1820er- und 1830er-Jahren.14 Der Zirkel, in dessen Zentrum der Engländer John Nelson Darby stand, entwickelte das theologische Grundgerüst, auf dem die LB-Reihe basiert und das heute unter dem Begriff ›prämillenialistischer Dispensationalismus‹ (pD) bekannt ist.15 Während mehreren Reisen in die Vereinigten Staaten gelang es Darby, Anhänger für den pD in der neuen Welt zu finden. Mit Hilfe der Errichtung von sogenannten Bibelinstituten und später theologischen Fakultäten an christlich fundamentalistischen Universitäten formierten sich Darbys Ideen zu einer einflussreichen Leseart der Offenbarungsgeschichte. In der Entstehungszeit der LB-Reihe Mitte der 1990er-Jahre zählten sich 15 Millionen Amerikaner – aus verschiedenen protestantischen Kongregationen – zu den prämillenialistische Dispensationalisten.16 ›Dispensationalismus‹17 bezeichnet eine Einteilung der Heilsgeschichte der Bibel in (meist) sieben verschiedene, aufeinander folgende Zeitalter, den sogenannten ›Dispensationen‹. Dispensationalisten gehen davon aus, dass Gott in jedem der einzelnen Zeitalter eine leicht abweichende Heilsgeschichte für die Gläubigen bereitstellt. Die erste Dispensation betrifft die Zeit des Paradieses, die letzte die des Millenniums. Dispensationalismus kann als theologischer Kunstgriff gewertet werden. Dessen Sinn ist es, die im Alten Testament prophezeite Bestimmung Israels getrennt von den biblischen Prophezeiungen, von denen Dispensationalisten glauben, dass sie für Evangelikale gelten, zu betrachten. Dabei läuft die Dispensation für Israel (die fünfte Dispensation) parallel mit der sechsten Dispensation, dem Kirchenzeitalter, das die evangelikalen Dispensationalisten für sich beanspruchen. Trotz dieser Trennung sind die zwei Dispensationen eng miteinander verknüpft, denn erst wenn gewisse – gemäß der evangelikalen Auslegung – biblische Versprechen für Israel eingelöst werden, kann die siebte und letzte Dispensation (das Millennium) für die Evangelikalen anbrechen. Dieser Glauben erklärt die finanzielle Unterstützung Israels durch christliche Fundamentalisten (die zu einer großen Mehrheit Dispensationalisten sind), ihre Opposition gegen eine Zweistaatenlösung und die enorme Beliebtheit von Reisen ins
14 C. Gribben: Writing the Rapture, S. 5. 15 Anita Gandolfo: Faith and Fiction: Christian Literature in America Today, Westport CT/London: Praeger Publishers 2007, S. 92. 16 T. Monahan: Marketing the Beast, S. 816. 17 C. Gribben: Writing the Rapture, S. 172. 139
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»Heilige Land«.18 Zusätzlich wird dadurch die prominente Stellung, die Israel in LB einnimmt, verständlich. Das Adjektiv ›prämillenialistisch‹ bezieht sich auf die Vorstellung des ›Prämillenialismus‹, einer Überzeugung, dass Christus vor (ergo ›prä-‹) dem Millennium wiederkehren wird.19 ›Prämillenialistisch‹ steht einer älteren Auslegung der Offenbarung, der ›post-millenialistischen‹ Variante, wonach Christus erst nach dem Millennium auf die Erde zurückkehrt,20 diametral gegenüber. Die Bestimmung des Zeitpunkts Christi Wiederkehr hat weit reichende Konsequenzen für den Glauben und das Verhalten der Anhänger der verschiedenen Millenniumglaubensrichtungen. Demnach glauben Vertreter des ›Postmillenialismus‹, dass es die Verantwortung der Kirche und des Kirchenvolkes sei, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Millennium beginnen könne. Hingegen gehen Prämillenialisten, zu denen die Autoren der LBReihe gehören, davon aus, dass die Menschheit nur durch Christi Wiederkehr von allem Übel befreit werden könne. Sie werten Kriege, Plagen und Naturkatastrophen als eminente Beispiele dafür, dass Christus bald wiederkehren wird. Aufgrund dieser Überzeugung überrascht es nicht, dass Dispensationalisten die Ereignisse des 11. September 2001 als Vorboten der nahenden Endzeit interpretiert haben.21 Weitere Elemente des prämillenialistischen Dispensationalismus sind Begriffe wie ›Entrückung‹22 (›rapture‹) und ›Trübsal‹ (›tribulation‹), die eng miteinander verknüpft sind. Die Entrückung bezeichnet ein Ereignis, während dem alle Gläubigen simultan von Christus in den Himmel gerufen werden. In der von den Autoren der LB-Reihe vertretenen Version des pDs, markiert dieser Moment den Beginn der Zeit der Trübsal, einer Phase, in der alle in der Offenbarung beschriebenen Plagen und Katastrophen eintreten und vor der die entrückten Gläubigen verschont werden. Dadurch wird diese Variante des pDs auch ›prätribulational‹ genannt. Obschon sich Prämillenialisten uneinig darüber sind, wann die Entrückung geschehen soll, glauben alle, dass die Trübsal nur durch die Wiederkehr Christi und im Endkampf zu Armageddon beendet wird.
18 M. McAlister: Prophecy, Politics, and the Popular, S. 781. 19 Ebd., S. 174. 20 Malise Ruthven: Fundamentalism: A Very Short Introduction, Oxford: Oxford University Press 2007, S. 9. 21 N. Gibbs: »Apocalypse Now«. 22 K. Cope: Never better Than Late, S. 185. 140
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Dispensationalismus und Fundamentalismus Als Synonym für ›prämillenialistischer Dispensationalist‹ wird heute oft ›christlicher Fundamentalist‹ verwendet. Diese Gleichsetzung basiert unter anderem auf einer Reihe von Pamphleten unter dem Namen The Fundamentals – A Testimony to the Truth. Zwischen 1910 bis 1915 zirkulierten rund drei Millionen Ausgaben von The Fundamentals, die gratis an Pastoren, Missionare, Theologieprofessoren, Studenten und Sonntagsschulen verschickt wurden.23 Geschrieben wurden die Artikel von führenden amerikanischen und britischen Vertretern der Bewegung. Aus der Gesamtheit der Artikel kristallisierten sich die Glaubensprinzipien, die einen – nach Worten der Autoren und Herausgeber – christlichen ›Fundamentalisten‹24 ausmachen. Diese ›fundamentalen‹ Glaubenssätze25 werden bis heute zur Definition des fundamentalistischen Protestantismus verwendet: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Unfehlbarkeit der Bibel Die Erschaffung der Welt durch Gott ex nihilo Die Authentizität von Wundern Die jungfräuliche Geburt Jesu Christi Die Reinwaschung der Sünden durch Jesus Christus Millenialismus – die imminente Wiederkehr Jesu Christi
Zu Punkt 1) gehört die – in den Augen der Fundamentalisten – wortwörtliche Auslegung der Bibel. In den Vereinigten Staaten ist Punkt 5) heute eng verknüpft mit dem Begriff ›wiedergeborener Christ‹26 (›born-again Christian‹), denn in den Augen der christlichen Fundamentalisten in den USA ist nicht automatisch jeder getaufte Christ reingewaschen von sei23 Vgl. M. Ruthven: Fundamentalism, S. 7ff. 24 Der Begriff ›Fundamentalismus‹ tauchte erstmals in diesem selbstreferentiellen Zusammenhang auf. Erst später wurde der Begriff ausgeweitet um weitere religiöse oder kulturelle Bewegungen aus einer Außenperspektive heraus zu beschreiben. Vgl. R. Scott Appleby/Martin E. Marty: »Think Again: Fundamentalism«, in: Foreign Policy (Jan/Feb 2002), S. 16-22 / Judith Nagata: »Beyond Theology: Toward an Anthropology of ›Fundamentalism‹«, in: American Anthropologist 103.2 (Jun. 2001), S. 481-498. 25 Glenn W. Shuck: Marks of the Beast: The Left Behind Novels and the Struggle for Evangelical Identity, New York: New York University Press 2005, S. xi. 26 Jürgen Donnerstag: »Understanding Evangelical Christianity in Its Relation to American Popular Culture«, in: Wolf Kindermann (Hg.), Transcending Boundaries, Berlin: Lit 2007, S. 225-244, hier S. 229. 141
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nen Sünden. Nach dieser Überzeugung seien ausschließlich Personen, die entweder in eine Familie von wiedergeborenen Christen hereinsozialisiert wurden oder die im Erwachsenenalter durch ein vorgegebenes Gebetsritual ›Jesus als ihren persönlichen Erlöser‹ empfangen, von ihren Sünden befreit. Punkt 6) ist ebenfalls stark mit den Vorstellungen wiedergeborener Christen verknüpft. Für eine Mehrheit der wiedergeborenen Christen ist das Millennium mit der Idee der Entrückung verknüpft und mit dem Glauben, dass nur wiedergeborene Christen entrückt werden.
Left Behind und ppD Von großer Bedeutung für die Bewertung der LB-Reihe ist, dass Tim LaHaye, der das theologische Konstrukt der LB-Reihe entwirft, einer der einflussreichsten Vertreter des ›prätribulational-prämillenialistischen Dispensationalismus‹ (ppD) ist. Als ausgebildeter evangelikaler Pfarrer tritt LaHaye in mannigfaltiger Weise für die Verbreitung der ehemals wenig beachteten Lesart der in der Bibel beschriebenen Endzeit ein. So initiierte LaHaye 1992 die Pre-Trib Study Group, eine Gruppe, die sich ausschließlich mit der Erforschung des ppD konzentrierte. Im Jahr darauf gründete LaHaye das Pre-Trib Research Center. Die Hauptaufgabe dieses Forschungszentrums ist es: »to encourage ›research, teaching, propagation, and defense of the pretribulational rapture and related Bible prophecy doctrines.‹«27 Die LB-Romanreihe kann als erstes Großprojekt dieses Zentrums gewertet werden.
Handlung als Paradebeispiel für ppD Der weiter oben vorgestellte Handlungsbogen kann nun um die Fachbegriffe des ppD ergänzt und neu bewertet werden. Das mysteriöse Verschwinden von Millionen von Leuten kann mit dem Ereignis der Entrückung erklärt werden, die sieben Jahre dauernde Zeit von Plagen und Katastrophen entspricht der Trübsalzeit, der Führer der Global Community ist der sich formierende Antichrist, bei der Schlacht von Armageddon besiegt der wiedergekehrte Jesus Christus den Antichrist und seine Heere. Auf den Sieg folgt das tausendjährige Friedensreich des Millenniums. Mit dem Hintergrundswissen des ppD erhält der Übertitel der Romanreihe einen bitteren Beigeschmack, denn die nach der Entrückung auf der Erde verbleibenden Menschen werden »zurückgelassen« (»left behind«)
27 A. Gandolfo: Faith and Fiction, S. 93. 142
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und müssen – im Gegensatz zu den Entrückten – die Schrecken der Endzeit durchleben. Der prätribulational-prämillenialistische Dispensationalismus, auf dem die Handlung basiert, ist jedoch nicht bloß für ›Insider‹ erkennbar, sondern wird immer wieder innerhalb der LB-Reihe verhandelt. Da die Autoren LaHaye und Jenkins ein Grundwissen zum ppD beim Leser nicht voraussetzen können, führen sie die Leser vorsichtig an das Thema des ppD heran. Die Leser werden zusammen mit den Charakteren während der gesamten Romanreihe zu Experten des ppD ausgebildet. Wie diese Belehrung der Leser funktioniert kann anhand einer genaueren Auseinandersetzung mit dem ersten Band der Reihe illustriert werden. Left Behind – A Novel About the Earth’s Last Days begleitet eine kleine Gruppe von Amerikanern dabei, wie sie zu einem Verständnis des mysteriösen Verschwindens von Leuten gelangen. Rayford Steele, einer der Hauptcharaktere von LB, ist ein zurückgelassener Ehemann, dessen Ehefrau eine wiedergeborene Christin war. Er erinnert sich an die Worte seiner Frau, wonach die Entrückung eines Tages eintreffen werde. Hilfe suchend begibt er sich zur Kirche seiner Frau in einem Vorort Chicagos. Die ganze Kongregation wurde entrückt, außer dem Pfarrer Bruce Barnes, der bekennen muss, dass er nie wirklich an die Prophezeiungen der Bibel geglaubt hat. Bruce überreicht Rayford ein Video, das der Hauptpfarrer der Kirche vor der Entrückung für die Zurückgelassenen eingespielt hat. Das Video ist als Aufklärung und Anleitung für die Hinterbliebenen gedacht:28 »As you watch this tape, I can only imagine the fear and despair you face, for this is being recorded for viewing only after the disappearance of God’s people from the earth. That you are watching this indicates that you have been left be-
28 Die Idee des hier aufgeführten Videos hat unter der Leserschaft von LB einen so großen Anklang gefunden, dass eine Website wiedergeborenen Christen für 40 Dollar jährlich den Service bietet, dass im Falle der Entrückung den zurückgelassenen Bekannten und Verwandten eine ähnliche Botschaft zugespielt wird. Unter der Rubrik Why führen die Betreiber Folgendes an: »You remember how, for a short time, after (9/11/01) people were open to spiritual things and answers. (We are still singing »God Bless America« at baseballs’ seventh inning stretch.) Imagine how taken back they will be by the millions of missing Christians and devastation at the rapture. They will know it was true and that they have blown it.« Wie die von wiedergeborenen Christen betriebene Website dieses Angebot im Falle einer tatsächlichen Entrückung wahrnehmen kann, ist nicht aufgeführt. Vgl. http://www.youvebeenleftbehind.com, 30. November 2009. 143
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hind […]. I would like you to consider what I have to say here as instructions for life following Christ’s rapture of his church. That is what has happened.«29
Was diesen Worten folgt, ist das Aufführen von Bibelpassagen, die belegen sollen, dass die Ereignisse bereits in der Bibel als Entrückung hervorgesagt werden und was gemäß weiteren Prophezeiungen der Bibel nun geschehen wird. Rayford erfährt, dass eine siebenjährige Trübsalszeit mit unvorstellbaren Katastrophen folgen wird, die Gott erfolgen lässt, um ›böse‹ Leute von den ›guten‹ zu sortieren. Denn die Katastrophen und Plagen sollen dazu dienen, die verbleibenden Menschen von der Richtigkeit der Endzeitprophezeiung zu überzeugen und die, die nach der Entrückung zu wiedergeborenen Christen werden, in ihrem Glauben zu prüfen. Gleichzeitig werden in Israel mit Hilfe von Propheten 144.000 Juden zum Christentum bekehrt, was die Voraussetzung für die Wiederkehr Christi schaffen wird. Der Rest der Romanreihe dient der Bestätigung dieser Vorhersagen und führt detailreich den Kampf zwischen ›gut‹ und ›böse‹ auf. Im Zentrum der Handlung steht die Tribulation Force, eine amerikanischen Gruppierung, die sich um Bruce Barnes und später Rayford Steele formiert und die den einzigen erfolgreichen Widerstand gegen den Antichrist durch Infiltration der Global Community liefert. Der Widerstand gelingt oft nur durch göttliche Interventionen, etwa ein Wunder oder das Eingreifen von Engeln. Zeitgleich beginnen an der Klagemauer in Jerusalem zwei Propheten mit der Bekehrung der 144.000 Juden. Dadurch formiert sich in Israel, das lange vom Elend der Trübsal verschont wird, die Opposition gegen die Global Community. Im Laufe der Romanreihe schließen sich die Tribulation Force und der israelische Widerstand zusammen und gründen eine Parallelgesellschaft in der Felsenstadt Petra – eine Gesellschaft, die nur durch Wunder plötzlich sprudelnder Wasserquellen und dem Regnen von Himmelsbrot (Manna) überleben kann. Über das Internet – das auf wundersame Weise der Kontrolle des Antichrists entgeht und trotz aller weltumspannenden Katastrophen noch funktioniert – entsteht eine Plattform, über die geistliche Führer Millionen von Menschen mit Predigten und Motivationsreden versorgen. Die Predigten dienen entweder dazu, das oft grausame Handeln Andersgläubigen gegenüber zu rechtfertigen oder Andersgläubige von der Richtigkeit ihrer Auslegung der Endzeitprophezeiung zu überzeugen. Die Beschreibung daraus entstehender Konversionen, während derer ›Ungläubige‹ ein Gebetsritual durchlaufen, 29 Tim LaHaye/Jerry B. Jenkins: Left Behind: A Novel About the Earth’s Last Days, Carol Stream IL: Tyndale House Publishers 1995, S. 209. 144
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bildet einen wichtigen Teil der Romanreihe. Den Höhepunkt findet die Handlung in der Schlacht zu Armageddon, bei der Satan besiegt wird und alle Ungläubigen ein grausames Ende finden. Die Zusammenfassung der Handlung verdeutlicht, dass sich der gesteigerte Erfolg von LB nach 9/11 nicht direkt dem Inhalt der Romane zuschreiben lässt. Denn dieser kann in keiner Weise prophetisch für die Ereignisse des 11. September gewertet werden. Vielmehr muss angenommen werden, dass der rapide Anstieg des Verkaufs mit dem Glauben und Weltbild, die LB zu Grunde liegen, zusammenhängt. Jenkins sieht den Zusammenhang zwischen 9/11 und LB folgendermaßen: »The tragedy of 9/11 made everything so much more real and believable«.30 Doch für wen genau wurde LB realer und glaubhafter – nur für die wiedergeborenen Christen oder auch für Amerikaner gemäßigteren Glaubens? Und wie lässt sich daraus erklären, dass Jenkins am 3. Oktober 2001 bereits verkünden konnte, dass sich der Verkauf der LB-Bücher verdoppelt31 hat, ein Trend der, wie weiter oben bereits erwähnt in einem um 60 % gesteigerten Verkauf von LB in den Monaten nach dem 11. September 2001 resultierte? Um diese Fragen zu beantworten, wird zuerst aufgeschlüsselt, welcher Glaubensgemeinschaft Leser der Romanreihe angehören. Damit soll einerseits untersucht werden, inwiefern der gesteigerte Erfolg tatsächlich auf den Anteil wiedergeborener Christen unter den Käufern zurückgeführt werden kann. Anderseits sollen die Zahlen Auskunft darüber geben, ob die in der LB-Reihe vertretene Endzeitvision eine gesteigerte Relevanz innerhalb weiterer amerikanischer Gesellschaftsegmente erfährt.
L e s e r sc h a f t Eine Studie der christlichen Universität Spring Arbor (Michigan) aus dem Jahr 2006 zur religiösen Zugehörigkeit der Leser bringt Folgendes zu Tage: Beinahe 69 % der Leser sind Protestanten, 8,6 % Katholiken und 22,8 % gehören nicht-christlichen Religionen32 an.33 Leider ist die
30 Gary Younge: On Tour with the Harbingers of Doom, in: The Guardian vom 1.4.2004, http://www.guardian.co.uk/world/2004/apr/01/ books.usa, 23.11.2009. 31 »›Left Behind‹ author Jerry Jenkins on God and September 11« (03.10.2001), http://archives.cnn.com/2001/COMMUNITY/10/03/jenkins/ index, 28.11.2009. 32 Ob auch Atheisten zu den Lesern gehören, kann den Angaben zur Studie nicht entnommen werden. 145
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protestantische Leserschaft nicht in weitere Untergruppen aufgeteilt, doch liegt die Vermutung nahe, dass ein Großteil der protestantischen LB-Leser wiedergeborene Christen sind, denn LB ist auf ihr Weltbild zugeschnitten. Was an dieser Statistik erstaunt, ist dass 31 % einer Gruppierung angehören, die mit Sicherheit nicht zu den wiedergeborenen Christen zählen. Diese Leser zählen demnach nicht zu den in LB beschriebenen Gewinnern, sondern ihnen widerfährt in der beschriebenen Trübsalszeit großes Leid und ihre Qualen werden in den Romanen detailgenau beschrieben. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Leser die Reihe als pure Fiktion genießen und die actionreiche Handlung im Vordergrund steht. Jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass nach dem 11. September 2001 das evangelikale Endzeitszenario auch unter den nicht-wiedergeborenen Christen eine erhöhte Zustimmung findet. Der Amerikanist Andrew Strombeck attestiert der LB-Reihe nach 9/11 eine Verbindung zu typisch amerikanischen Vorstellungswelten: »Their rampant popularity, especially in the post-9/11 era, manifests their resonance in the American imagination.«34 Eine Bewertung des Wahrheitsgehalts von Strombecks Behauptung bedingt zusätzliche Informationen zur Leserschaft der Romane. In einem ersten Schritt soll darauf eingegangen werden, wie der erhöhte Erfolg der LB-Reihe nach 9/11 in den Reihen der wiedergeborenen Christen erklärt werden kann. In einem zweiten Schritt wird auf die Möglichkeit eingegangen, dass nach den Terroranschlägen eine Ausweitung der Leserschaft auf Amerikaner, die sich nicht als wiedergeborene Christen bezeichnen, stattfand.
Left Behind und die Prophezeiung Die Autoren der LB-Reihe selbst haben sich davor gehütet, die Ereignisse des 11. September 2001 öffentlich als klare Vorboten der Endzeit zu bezeichnen. Diese Zurückhaltung ist sicherlich damit zu erklären, dass sie im Falle einer ausbleibenden Entrückung als falsche Propheten entlarvt würden. So haben sich die Autoren auch dagegen entschieden, in den nach 9/11 entstandenen Romanen auf 9/11 anzuspielen.35 Dennoch 33 Da die Studie noch nicht publiziert ist, werden Informationen der Universitäts-Website entnommen: http://www.spring.arbor.edu/edu_newsDetail. aspx?id=39700, 16.11.2009. 34 Andrew Strombeck: »Invest in Jesus: Neoliberalism and the Left Behind Novels«, in: Cultural Critique 64 (Fall 2006), S. 161-195, hier S. 189. 35 »›Left Behind‹ author« 146
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legen die erhöhten Verkaufszahlen nach 9/11 nahe, dass die Terroranschläge dazu führten, die Leserschaft von LB in eine erhöhte Alarmbereitschaft bezüglich der Endzeit zu versetzen. Eine mögliche Verknüpfung des aktuellen Weltgeschehens mit der Romanhandlung und den dahinterstehenden Prophezeiung kann darauf zurückgeführt werden, dass im speziellen wiedergeborene Christen unter der Leserschaft Tim LaHaye als Prophezeiungsexperten anerkennen. Zur Zeit des 11. Septembers 2001 hatte sich LaHaye – ehemals der Verfasser vieler Traktate zu evangelikaler Familienpolitik36 – bereits als ein solcher etabliert. Im Jahr 2000 erschien die Erstausgabe der Tim LaHaye Prophecy Study Bible – eine annotierte Version der King James Bibel, auf deren Buchdeckel LaHaye als Co-Autor der erfolgreichen LB-Reihe angepriesen wird. Die LaHaysche Bibel leitet Gläubige an, Prophezeiungspassagen im Sinne des prätribulational-prämillenialistischen Dispensationalismus zu deuten. Sie ist dabei bloß ein Produkt innerhalb eines wachsenden Informationsimperium, das LaHaye aufbaut, um seine Anhänger zu überzeugen, dass die Entrückung jederzeit passieren kann. Eine vor 9/11 erschienene Publikation weist deutlich auf eine nahende Endzeit hin: Im Dezember 2000 erschien das Buch Are We Living in the Endtimes, das LaHaye mit Jenkins geschrieben hat. Mit welcher Überzeugung LaHaye an die Deutung der Bibel herangeht, beweist folgende Aussage von ihm: »›Our position is essentially what the Bible says […] The idea that we could be wrong has not occupied much of my serious thought.‹«37 Auf dem Buchrücken befindet sich folgender Satz: »Best-selling authors Tim LaHaye and Jerry B. Jenkins lay out twenty reasons for believing that the Rapture and Tribulation could occur during our generation.« Auch hier wird das Expertentum des Autorenteams dadurch unterstrichen, dass sie die erfolgreiche LB-Reihe erschaffen haben. Weniger als ein Jahr nach dieser Publikation schien durch die Terroranschläge für viele LB-Leser LaHayes und Jenkins Einschätzung einer baldigen Entrückung bestätigt.38 Es ist ein wichtiger Umstand, dass die Romane von Lesern, die entweder wiedergeborene Christen sind oder dem von LaHaye entworfenen Endzeitbild gegenüber nicht abgeneigt sind, nicht als pure Fiktion, sondern als fiktionalisierte Prophezeiung wahrgenommen werden. Im 36 M. McAlister: Prophecy, Politics, and the Popular, S. 781. 37 A. Gandolfo: Faith and Fiction, S. 108 38 Seit 2007 werden Leser der LB-Reihe unter anderem durch den LB Prophecy Club, der der Website der Bücher angegliedert ist in der Deutung aktueller Ereignisse auf die Endzeit hin unterstützt. Vgl. http://www.left behind.com, 30.11.2009. 147
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Speziellen 9/11 hat viele Leser in ihren Vorstellungen bestätigt, dass LB eine nahe, für zurückgelassene Menschen grausame Zukunft ausführt. Genau diese scheinbar bestätigte Prophezeiung führte zum erhöhten Erfolg der LB-Reihe nach 9/11. Denn obwohl Statistiken und Studien dazu fehlen, kann vermutet werden, dass hauptsächlich Personen, die die LBReihe bereits kannten, zum erhöhten Erfolg nach den Terroranschlägen beitrugen. Amy Frykholm beschreibt in ihrer Publikation einer qualitativen Studie zu LB-Lesern die Motivation, LB zu lesen wie folgt: »Readers of the Left Behind Series often narrate the rapture and its particular manifestation in the Left Behind series as provoking for them thoughts about ultimate meaning and the ultimate nature of reality. It conjures up fears about their own salvation and the salvation of loved ones while providing a lens through which contemporary life can be understood.«39
Besorgt darum, ob sie am Tag der Entrückung tatsächlich in den Himmel gerufen und ob ihre Bekannten und Verwandten unter den Entrückten sein werden, kaufen wiedergeborene Christen vermehrt Bücher der LBReihe. Einerseits lesen sie die Bücher selbst, in der Hoffnung, dass das Lesen ihre eigene Überzeugung stärkt.40 Anderseits verschenken sie die Bücher mit dem Gedanken, dass die Beschenkten durch diese bekehrt würden. Auch die Autoren von LB betonen immer wieder, dass sie die Romane mit der Intention schreiben, dass dadurch Leser zu wiedergeborenen Christen werden.41 Demgegenüber betont Frykholm in ihrer im Jahr 2004 publizierten Studie, dass LB keine Leute bekehren kann, die dem darin vertretenen Glauben ablehnend gegenüber ständen. Sie hält fest, dass Leser, die nicht wiedergeborene Christen sind, die Bekehrungsbotschaft der Romane entweder ignorieren oder sich durch diese von der LB-Reihe abwenden. Leser, die von Bekannten und Verwandten aus den Kreisen der wiedergeborenen Christen gedrängt werden, die LB-Reihe zu lesen, täten dies meist bloß, um den besorgten »Bekehrern« einen Gefallen zu machen oder um diese in ihrem Glauben besser verstehen zu können. Eine Bekehrung bleibt dabei meistens aus. 39 Amy Johnson Frykholm: Rapture Culture: Left Behind in Evangelical America, Oxford: Oxford University Press 2007 [EA 2004], S. 11. 40 Eine quantitative Umfrage zu Gründen, wieso LB gelesen wird nennt den Wunsch nach einer gesteigerten Spiritualität und Wachstum als einen Hauptgrund. Vgl. http://www.spring.arbor.edu/edu_newsDetail.aspx?id= 39700, 28.05.2009. 41 C. Gribben: Writing the Rapture, S. 143. 148
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Trotz dieser Feststellung sowie der Vermutung, dass zur Mehrheit bereits begeisterte LB-Leser zu den erhöhten Erfolgszahlen der LB-Reihe führten, ist es sehr wahrscheinlich, dass durch die Terroranschläge sich neue Leser zu LB »bekehren« ließen. Wie viele neue Leser tatsächlich nach 9/11 zur LB-Reihe stießen, ist aufgrund fehlender Statistiken nicht bestimmbar. Jedoch behauptet der Religionswissenschaftler Glenn Shuck, dass in der Zeit nach 9/11 die in LB fiktionalisierte Endzeit an Akzeptanz innerhalb der amerikanischen Gesellschaft gewann: »For several days and weeks, I suspect, most Americans had access to this kind of insight into what might otherwise have seemed like yet another banal conspiracy theory.«42 Shuck nimmt demnach an, dass die Romanreihe nach den Terroranschlägen mit der Sensibilität vieler Amerikaner zusammentraf. Etliche nicht-wiedergeborene Christen fanden durch den Umstand, dass die Terroranschläge im Rahmen eines stark entfachten Djihads wahrgenommen wurden, zur Überzeugung, dass der 11. September mit den in der Offenbarung beschriebenen Ereignissen in Verbindung steht. Demnach steht das in LB beschriebene Endzeitszenario mit einem in der amerikanischen Kultur verankerten Endzeitglauben in Zusammenhang.
R e l i g i o s i t ä t u n d E n d z e i tg l au b e n i n d e n U S A Anhand von unterschiedlichen Statistiken, die miteinander in Beziehung gebracht werden, soll die Verknüpfung von evangelikaler Glaubenswelt und Endzeitglauben innerhalb der amerikanischen Gesellschaft aufgezeigt werden. In einem ersten Schritt wird anhand einer Analyse von verschiedenen Statistiken aufgeführt, auf was für ein Glaubensbild sich die Mehrheit der Amerikaner beruft. In einem zweiten Schritt wird diskutiert, wie 9/11 mit dem christlich-evangelikal gefärbten Endzeitglauben Amerikas zusammenspielt. Zur Konfessionszugehörigkeit der amerikanischen Bevölkerung gibt eine Studie aus dem Jahr 2007 Auskunft. Aus den erhobenen Daten einer repräsentativen Auswahlgruppe, die 33.356 erwachsene Teilnehmer umfasst, ergibt sich folgendes Bild: 51.3 % bezeichnen sich als Protestanten, 23.9 als Katholiken, 16.1 als nicht einer Religionsgruppe zugehörig, der Rest gehört einer Vielzahl weiterer Religionen an.43 Die protestantische Bevölkerung ist in viele Untergruppen, wie z.B. den Baptisten und Lutheraner aufgeteilt. Diese Unterteilung sagt nichts darüber aus, ob die Anhänger dieser Kongregationen wiedergeborene Christen sind. Um ein 42 G. Shuck: Marketing the Beast, S. 21. 43 http://religions.pewforum.org/reports, 30.11.2009. 149
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Bild davon zu erhalten, an was die amerikanischen Christen im Besonderen glauben, müssen demnach andere Umfragen konsultiert werden. Zu konkreteren Glaubensinhalten gibt eine Umfrage von Harris Interactive Auskunft. Das online Umfrage-Portal führt regelmäßig Erhebungen zu The Religious and Other Beliefs of Americans durch. Im November 2007 beantworteten 2.455 Amerikanerinnen und Amerikaner einen Fragekatalog, den sie online zugeschickt erhielten.44 Die Zusammenfassung und Präsentation der Umfrageresultate beginnt mit der Feststellung, dass mehr Amerikanerinnen und Amerikaner an den Teufel, die Hölle und Engel als an Darwins Evolutionstheorie glauben – an diese glauben bloß 42 % der Umfrage-Teilnehmer. An Gott glauben 82 % aller Befragten, an Wunder 79 %, an den Himmel 75 %, an Jesus Christus als Gottessohn 72 % und an den Teufel 62 %.45 Aus diesen Angaben wird ersichtlich, dass die Grundelemente des in LB propagierten Weltbildes (wie Gott, Jesus, Teufel, und Wunder) für eine Mehrheit der Umfrageteilnehmer keine pure Fiktion, sondern einen festen Glauben darstellen. Wie verbreitet der Endzeitglauben in der Zeit nach 9/11 war, führt eine Studie, die im Juni 2002 entstanden ist, auf. Time Magazine führte gemeinsam mit dem Fernsehsender CNN eine Umfrage unter Amerikanern zu ihrer Einstellung gegenüber der Bibel und der Endzeit durch.46 Telefonisch wurden 1003 Amerikaner und Amerikanerinnen befragt, wovon sich 34 % als wiedergeborene Christen zu erkennen gaben.47 Die Resultate der Umfrage legen offen, wie verbreitet der Endzeitglauben unter der amerikanischen Bevölkerung ist. Obwohl nur 36 % der Befragten daran glauben, dass die Bibel das Wort Gottes ist und somit wortwörtlich gelesen werden sollte, glauben 59 % dass die in der Offenbarung beschriebenen Ereignisse eines Tages eintreffen werden. Die anschließende Frage nach dem Zeitpunkt des Beginns der Ereignisse der Offenbarung ist missverständlich. Die Frage lautet: »Do you 44 http://www.harrisinteractive.com/harris_poll/index.asp?PID=838, 16.11.2009. 45 Die Resultate aller christlichen Teilnehmer sind weiter in die Rubriken »katholisch«, »protestantisch« und »wiedergeborener Christ« aufgeteilt. Die Angaben zum Prozentsatz und Gruppengröße der jeweiligen Konfessionen fehlen, daher werden hier nur die Resultate vorgestellt, die aus der Gesamtzahl der Befragten resultieren. Die Prozentsätze der wiedergeborenen Christen lagen in allen Belangen höher. 46 http://www.pollingreport.com/religion2.htm, 14.11.2009. 47 Die Befragten wurden gefragt, ob sie sich als »wiedergeboren«, »evangelikal« oder »fundamentalistisch« bezeichnen würden. Da jedoch Mehrfachnennungen möglich sind, kann nicht bestimmt werden, wie sich diese Kategorien überschneiden. 150
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think that the end of the world, as predicted in the Book of Revelation will happen in your lifetime or don’t you think so?« 17 % beantworten diese Frage mit »ja«, 32 % mit »nein«, 10 % mit »weiß nicht« und 41 % gaben an, dass sie nicht glauben, dass die Offenbarung das Ende der Welt hervorsage (das entspricht der Anzahl der Befragten, die nicht an die Offenbarung glauben). Was an der Frage unklar ist, ist ob Befragte, die an eine baldige Entrückung glauben, sich unter diejenigen zählen, die die Katastrophen der Offenbarung miterleben, oder ob sie die Frage mit nein beantworten haben. Hätte die Umfrage danach gefragt, ob die Befragten glauben, dass die Entrückung während ihrer Lebzeit eintrifft, wäre der Anteil an Befürwortern mit erheblicher Wahrscheinlichkeit viel größer ausgefallen. Ein solches Ergebnis würde es nahe legen, dass mehr als 17 % der Befragten 9/11 als Vorboten der Endzeit ansehen. Die Umfrage geht nicht direkt auf die Frage ein, ob 9/11 die Endzeit ankündige. Jedoch wird erhoben, ob die Befragten glauben, dass die Ereignisse des 11. Septembers spezifisch in der Bibel prophezeit werden. Darauf antworteten 23 % mit »ja« und 13 % gaben an, dass sie sich nicht sicher seien, ob dies der Fall sei. Damit erwägen über ein Drittel der Befragten, dass die Bibel 9/11 angekündigt hat.48 Diese Resultate spiegeln die Vorstellung christlicher Fundamentalisten wider, dass Amerika– trotz seiner Nichterwähnung in der Bibel – in der Endzeit eine Schlüsselrolle übernimmt. Inwieweit sich die Rhetorik und das Weltbild der LB-Reihe mit dem denen der zur Zeit der Anschläge amtierenden Regierung Präsident Bushs überschneiden, soll Teil zukünftiger Untersuchungen sein.
Schlussfolgerungen Es ist plausibel, dass nach 9/11 die erhöhte Akzeptanz des in LB vertretenen Weltbilds außerhalb evangelikaler Kreise zum gesteigerten Erfolg der Endzeit-Romanreihe geführt hat. Wurde LB vor den Terroranschlägen mehrheitlich ein Platz in der evangelikalen Literatur zugewiesen, eroberte die Reihe nach 9/11 eine prominente Stellung im amerikanischen Mainstream. Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins Romanreihe traf mit einer Endzeitfiktion, in der ›gut‹ und ›böse‹ klar zugeordnet sind, innerhalb der verunsicherten und verängstigten amerikanischen Gesellschaft den Nerv der Zeit. LB liefert im Rückgriff auf die 2000-jährige Offenbarungsgeschichte ein Erklärungsmodell, durch das sich der von einem heiligen Krieg inspirierte Angriff auf das amerikanische Festland in eine christliche Heilsge48 In welchen Bibelpassagen die Bejaher einer biblischen Vorankündigung der Terroranschläge sehen ist nicht ausgeführt. 151
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schichte einbauen lässt. Dadurch wurden die Anschläge des 11. September 2001 von Millionen evangelikaler Amerikaner nicht als eigentliche Zäsur wahrgenommen, sondern als lange erwartetes Ereignis, das die Endzeit ankündigt. Aus den drastisch gesteigerten Verkaufszahlen lässt sich folgern, dass wiedergeborene Christen LaHayes für LB aufbereitete Schema eines prätribulational-prämillenialistischen Dispensationalismus (ppD) durch 9/11 bestätigt sahen. In der Erwartung einer baldigen Entrückung wollten sie durch den Kauf der Romane entweder ihren eigenen Glauben stärken oder ihre Verwandten und Bekannten durch das Verschenken der Romane bekehren. Denn die in LB beschriebenen Schrecken der Trübsal und des Endkampfs zwischen dem Antichrist und Jesus Christus sollte weder für sie selbst noch für die unbekehrten Angehörigen zur Realität werden. Für Amerikaner, die nicht der Überzeugung einer bald nahenden Endzeit sind, mag LB auf einer metaphorischen Ebene als Erklärungsmodell gedient haben. Für Leser, die nicht der Gruppe der wiedergeborenen Christen angehören, trat die stark dem ppD verschriebene Theologie in den Hintergrund. In den Vordergrund rückte die Handlung, die auf einem traditionsreichen Erzählmuster innerhalb der amerikanischen Populärkultur aufbaut, das den Kampf zwischen ›gut‹ und ›böse‹ stets in einem Sieg des ›Guten‹ enden lässt. In der Verbindung dieser archetypischen Erzählung mit einem in der amerikanischen Gesellschaft weit verbreiteten Endzeitglauben errang die stark auf wiedergeborene Christen ausgerichtete Romanreihe in den USA eine gesteigerte Visibilität und Akzeptanz. Der erhöhte Bekanntheitsgrad führte zu einem potenziell gesteigerten Verkauf außerhalb evangelikaler Distributionskanäle. Heute hat sich der nach 9/11 gesteigerte Verkaufserfolg von LB wieder verlangsamt. Dies zeigt ein Vergleich der Verkaufszahlen einzelner Bände auf. Desecration, der neunte Roman der LB-Reihe hielt sich ab dem 8. November 2001 für 15 Wochen an der Spitze der Rangliste der 150 meistverkauften Romanen laut der USA Today.49 Doch der letzte Band der LB-Reihe, Kingdom Come (2007) erreichte auf derselben Liste bloß den 16. Platz und schied nach sechs Wochen bereits wieder aus.50 Erinnern wir uns an den Erfolg, den LB bereits im Jahr 1998 erfuhr, können die Verkaufszahlen des letzten Bands so gedeutet werden, dass LB zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Beitrages (November 2009) unter den Erfolgsstand der Zeit vor 9/11 gefallen ist. Ob dieser Verkaufsrückgang auf eine Abkehr wiedergeborener Christen vom Glauben an eine baldige Entrückung oder gar an die Theorien des ppD hinweist, kann im 49 http://content.usatoday.com/life/books/booksdatabase/default.aspx, 28.11.2009. 50 Vgl. ebd. 152
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Rahmen dieses Beitrags nicht untersucht werden. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass der Rückgang des Verkaufserfolgs der Endzeit-Romanreihe als Verarbeitung der Zäsur, die 9/11 für die USA darstellte, gedeutet werden kann.
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L ITERARISCHE Z ÄSURERWARTUNG
KULTURELLE
11-M V S . 9/11: BRECHUNG IM EREIGNISBEGRIFF THOMAS SCHMIDTGALL
»Nous sommes tous Américains«1 war auf der Titelseite der französischen Tageszeitung Le Monde nach den Anschlägen vom 11. September 20012 zu lesen. »Todos […] somos hoy madrileños«3 proklamierte die spanische La Vanguardia im Anschluss an die Attentate in Madrid vom 11. März 2004. Beide bedingungslose Solidaritätsbekundungen stellen unmittelbare, reflexartige Reaktionen der europäischen Medien auf zwei Ereignisse von zuvor ungeahntem Ausmaß dar: Die audiovisuellen bewegten Bilder des Terroranschlages auf das World Trade Center ließen die Attentate vom 11. September 2001 zu einer Begebenheit von globaler Tragweite werden. Das zweite Flugzeug, wie es in den Südturm des Welthandelszentrums stürzte, die brennenden und rauchenden Twin Towers, der Zusammenbruch beider Türme, die gigantische Staubwolke, die sich durch die Straßen Lower Manhattans bewegte und die entsetzten Gesichter der Menschen in New York – Bilder von außerordentlicher symbolischer Qualität und Wirkungskraft, die sich unmittelbar als transnationales Medienereignis in das kollektive Gedächtnis der Welt einschrieben. Ein kollektiv-traumatisches Ereignis stellten auch die Attentate von Madrid am 11. März 20044 dar. So sprach der damalige EU-Parlamentspräsident Pat Cox, für den die Anschläge einer Kriegserklärung gleichkamen, von dem »gemessen an den Folgen […] schlimmste[n] Terroranschlag in der Geschichte Spaniens, […] in der Geschichte aller europäi-
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Colombiani, Jean-Marie: »Nous sommes tous Américains«, in: Le Monde vom 13.09.2001, S. 14. Im weiteren Verlauf werden die Terroranschläge verkürzend als »der 11. September« bezeichnet. [O. A.]. »Terror sin límites«, in: La Vanguardia, 12.03.2004, S. 44. Im weiteren Verlauf werden die Bombenattentate vom 11.03.2004 mit der spanischen Chiffre »11-M« abgekürzt, die sich in Spanien analog zu »9/11« durchgesetzt hat. 157
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schen Staaten«5. Die Detonation von mehreren Sprengsätzen in Nahverkehrszügen im Stadtgebiet von Madrid hatte fast 200 Todesopfer und an die 1500 Verletzte unterschiedlicher nationaler Herkunft zur Folge und ist heute zumindest in der nationalen Wahrnehmung der Spanier als kollektives Trauma verankert. So bezeichnet u. a. die US-amerikanische Zeitung The Washington Post die Anschläge auch als »Spain’s nightmare«6. Der vorliegende Beitrag reflektiert die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA und der Attentate vom 11. März 2004 in Madrid in vergleichender Perspektive. Im Zentrum der Überlegungen stehen insbesondere die Frage nach dem Ereignischarakter beider Anschläge und ihre Auswirkungen auf die kollektiv-mentalen Strukturen der betroffenen Nationen. Zunächst soll im Folgenden ein kurzer Abriss über den Ereignisbegriff gegeben und dieser in Bezug zum Begriff des Medienereignisses beleuchtet werden. Anschließend werden die Ereignishaftigkeit, die Bedeutung und gesellschaftliche Wahrnehmung insbesondere der Attentate in Madrid diskutiert, die jedoch immer vergleichend dem 11. September gegenüber gestellt werden. In methodischer Hinsicht werden dabei neben wissenschaftlichen Überlegungen auch Pressestimmen wichtiger Qualitätszeitungen aus Deutschland, Frankreich und den USA herangezogen7, um gesellschaftliche Perzeptionsprozesse in den einzelnen Nationen offen zu legen.
Zum Ereignisbegriff Die Frage nach dem Zäsurcharakter global wahrgenommener Terroranschläge, wie sie der 11. September oder der 11-M darstellen, also die Frage, ob derartige Geschehnisse einen Einschnitt in politischer, wirtschaftlicher und vor allem kultureller Hinsicht bedeuten, ist eng mit dem Begriff des Ereignisses verbunden8,9. Der Definition des Begriffs Ereig-
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Zitat nach [o. A.]: »Terror in Madrid erschüttert ganz Europa«, in: Die Tageszeitung vom 12.03.2004, S. 1. James Morrison: »Spain’s nightmare«, in: The Washington Times vom 15.03.2004, S. A19. Bei den Tageszeitungen wurden ausschließlich Artikel aus der Woche vom 11.03.2004 bis einschließlich 14.03.2004 herangezogen, um eine möglichst unmittelbare Reaktion der Journalisten einzufangen. Stellenweise werden die Begriffe Zäsur und Ereignis sogar synonym verwendet. 158
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nis und seiner Charakteristika liegen besonders in der Philosophie verschiedene Ansätze zugrunde. Allgemein wird ein Ereignis jedoch zunächst als etwas, das geschieht (»things that happen«10), verstanden. Aus lebensweltlicher Perspektive, also bezogen auf individuell erlebte Ereignisse wie Geburt, Tod etc., lässt sich ein Ereignis zunächst als »Einbruch oder Einschnitt […], etwas, das überrascht und wonach das eigene Leben, das Umfeld, die Lebenswelt nicht mehr die sind, die sie vorher waren«11, begreifen. Die französische Intellektuellenzeitschrift Esprit definiert Ereignis im Zusammenhang mit dem 11. September, dem Sie eine ganze Ausgabe mit dem Titel »Face à l’événement«12 widmet, wie folgt: »L’événement n’est pas réductible à l’actualité, il y a événement quand le trouble est tel que nous n’arrivons plus à saisir ce qui se passe, quand tout le reste de l’actualité n’a plus de sens (oubliée, la campagne présidentielle…), qu’elle nous met dans un état passager de prostration«13.
In der Philosophie ist die Beschäftigung mit dem Ereignisbegriff insbesondere Aufgabe der Ontologie und stellt hier einen wichtigen Terminus dar. Das Begriffsverständnis, das der Definition von Esprit zugrunde liegt, nähert sich an die Theorie Martin Heideggers an, der zu den wichtigsten Denkern des 20. Jahrhunderts zählt, die sich mit dem Ereignisbegriff auseinandergesetzt haben14. Für Heidegger bestand das wesentliche Charakteristikum eines Ereignisses nicht in der Opposition zu etwas, das mit dem Eingreifen menschlicher Absichten geschehe, also in der Opposition zum Handeln, sondern in der »Aussetzung einer etablierten Seins-
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Bedeutsam sind solche im Folgenden zu definierende Ereignisse, da sie, wie Marc Rölli es nennt, »einen Bruch in der Zeit herbeiführen und deshalb nicht nur punktuelle Bedeutung haben, sondern auf Zeiträume der Vergangenheit und Zukunft ausstrahlen«. [Marc Rölli: »Einleitung: Ereignis auf Französisch«, in: Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München: Wilhelm Fink 2004, S. 7-40, hier S. 7.] Stanford Encyclopedia of Philosophy: Event, http://plato.stanford.edu/ entries/events/ vom Stand: 20.11.2006. Thomas Rathmann, »Ereignisse Konstrukte Geschichten«. In: Thomas Rathmann (Hg.), Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur, Köln: Böhlau Verlag 2003, S. 1-19, hier S. 3. [O. A.]: »Face à l’événement«, in: Esprit vom Oktober 2001, S. 6-7. Ebd., S. 6. Vgl. hierzu Heidegger, Martin: »Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis)«, in: Friedrich-Wilhelm von Hermann (Hg.), Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Klostermann 1989. 159
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ordnung«15. Das Ereignis im Sinne Heideggers ist weiter in seinem Wesen nicht greifbar, sondern lässt sich nur anhand seiner Wirkung bestimmen. Es zerstöre eine bestehende Ordnung und könne niemals vorhergesehen werden, da es in der bisherigen Ordnung nicht gedacht werden könne. Damit bleibe es singulär und lasse sich nur danach beurteilen, was es nicht darstelle, also ex negativo16. Ein Ereignis könne demnach nie in seinem politischen oder gesellschaftlichen Kontext gedacht oder erklärt werden. Gleichzeitig stehe das Ereignis am Anfang alles Neuen, denn »ohne das Ereignis gebe es keine Geschichte und keine Kultur, keinen Sinn und keine Norm, keine Kontinuität und keine Welt«17. Eine ereignishafte Bedeutungszuschreibung, die einem solchen Verständnis des Ereignisses nahe kommt, manifestiert sich in spontanen Äußerungen wie »Es wird nichts mehr so sein, wie es war«18 für den 11. September oder »un atentado con estrategia y dimension de alcance mundial – o ›global‹[…]«19 in Bezug auf den 11-M. In Ergänzung zum philosophischen Ereignisbegriff stellen mediale Ereignisse singuläre Geschehnisse außerhalb des gewöhnlichen Medienalltags dar, die das Zeitgeschehen prägen und heute vorwiegend von audiovisuellen Medien vermittelt werden. Charakteristisch ist, dass sie »durch eben diese Medien inszeniert werden bzw. überhaupt nur stattfinden, weil mediale Präsenz angestrebt wird«20. Ihnen kommt damit, so 15 Andreas Hetzel: »Das reine Ereignis. Philosophische Reaktionen auf den 11. September« in: Matthias N. Lorenz (Hg.), Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. Septembers, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 267-286, hier S. 268. 16 Vgl. ebd. 17 Ebd. 18 Klaus-Dieter Frankenberger: »Ins Herz«, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.09.2001, S. 1; vgl. hierzu auch Mathias N. Lorenz: »Nach den Bildern – 9/11 als ›Kultur-Schock‹. Vorwort«, in: M. Lorenz (Hrsg.): Narrative des Entsetzens, S. 7-16, hier S. 7. 19 Miguel Platón: 11-M. Cómo la Yihad puso de rodillas a España, Madrid: La Esfera de los Libros 2005, S. 12. Miguel Platón, damals Nachrichtenchef der spanischsprachigen Agentur EFE, war im Anschluss an die Anschläge auf Grund von Zensur- und Manipulationsvorwürfen zugunsten der Regierungspartei Partido Popular (PP) von José María Aznar in die Kritik geraten und zum Rücktritt aufgefordert. Vgl. hierzu Rosario G. Gómez: »Los trabajadores de medios públicos denuncian ›censura‹ y ›manipulación‹«, in El País vom 16.03.2004, S. 62. 20 Claus Leggewie: »Zur Funktion und Geschichte von Medienereignissen«, in: Unvergessliche Augenblicke. Die Inszenierung von Medienereignissen, Katalog zur Ausstellung im Museum für Kommunikation, Frankfurt, S. 815, hier S. 9. 160
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auch im Fall der Fernsehberichterstattung über den 11. September oder den 11-M, die Funktion eines »monument électronique«21, eines elektronischen Denkmals zu, das dem Geschehenen als Erinnerungsrahmen für die Zukunft dient22. Mögen auch die audiovisuellen Medien in diesem Kontext dominant sein, sind dennoch auch andere Medien, also Printmedien genauso wie Literatur, Film und Internet, an der Konstruktion solcher Medienereignisse beteiligt. Sie verstärken mitunter multiplikatorenartig die Berichterstattung und Dokumentation. Hervorzuheben ist vor allem, dass das kollektive Gedächtnis und die Identität einer Gesellschaft im Medienzeitalter zunehmend von einem dynamischen Prozess durch historische Ereignisse geprägt sind, die mehr denn je multimedial23 vermittelt werden. Dabei beschränkt sich die Vermittlung solcher Ereignisse nicht nur auf den nationalen Raum, sondern findet zunehmend auf transnationaler24 Ebene statt25. Im Folgenden soll unter anderem der (mediale) Ereignischarakter der beiden Terroranschläge im Sinne einer »Zäsur im Laufe der Weltgeschichte«26, mindestens aber einer »Zäsur des Denkens«27 näher beleuchtet werden. Inwiefern dieser auch in spezifischen kulturellen Gegebenheiten und Zuschreibungen begründet liegt, soll gleichermaßen diskutiert werden.
21 Carol Gluck: »11 Septembre. Guerre de télévision au XXIe siècle«, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 1 (2003), S. 135-162, hier S. 143. 22 Vgl. ebd. 23 Der Begriff »multimedial« wird in diesem Zusammenhang zunächst im Sinne eines technologischen Medienbegriffs verstanden, wie ihn Ernest W. B. Hess-Lüttich in Anlehnung an Roland Posner definiert. Vgl. hierzu: Ernest W. B. Hess-Lüttich: »Die Zeichen-Welt der multimedialen Kommunikation«, in: Ernest W. B. Hess-Lüttich (Hg.), Medienkultur – Kulturkonflikt. Massenmedien in der interkulturellen und internationalen Kommunikation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 431-449, hier S. 433-435. 24 Vgl. hierzu Claus Leggewie zum Begriff des transnationalen Medienereignisses: »Transnational sind Medienereignisse nicht schon dadurch, dass ein Schlüsselereignis in anderer Nationen übertragen wird […]. Sie werden es vielmehr […], wenn sich Kommunikationsräume ‚quer durch, jenseits von und über die Nationen hinaus eröffnen und eine neue Aggregatsstufe nunmehr ›globaler‹ Vergesellschaftung erreicht wird. (C. Leggewie, Zur Funktion und Geschichte von Medienereignissen, S. 10.) 25 Vgl. Claus Leggewie: Die Globalisierung und ihre Gegner, München: C. H. Beck 2003, S. 46-50. 26 Adrian Kreye: »Tanz der Apokalypso», in: Süddeutsche Zeitung vom 11.09.2001, S. 17. 27 Ebd. 161
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1 1 - S v s. 1 1 - M ― Unterschiede und Gemeinsamkeiten Analogiebildung Unbestreitbar lassen sich auf den ersten Blick deutliche Gemeinsamkeiten zwischen dem 11. September und dem 11-M ausmachen. Beide Anschläge wurden jeweils in einer der größten städtischen Metropolen des jeweiligen Landes verübt, beide Attentate fanden in den frühen Morgenstunden statt, beide Anschläge wurden von Terrorgruppen mit islamistisch-fundamentalistischem Hintergrund verübt und hatten eine bis dahin ungekannt hohe Opferzahl zur Folge. Diese Parallelen sind es, die in der unmittelbaren Reaktion auf die Ereignisse in Madrid, zu einem Vergleich mit dem 11. September führten. So ist in der französischen Zeitung Le Figaro die Rede von »le 11 septembre des Espagnols«28, die kommunistische L’Humanité spricht ebenfalls vom »›11 septembre‹ de l’Espagne«29, während die Washington Post einen betroffenen spanischen Bürger mit »It was like the twin towers – it’s even the same date, the 11th«30 zu Wort kommen lässt und bereits einen Tag nach den Anschlägen »3/11«31 – in Analogie zu dem Chiffrekürzel »9/11«, das synonym für den 11. September steht – titelt. Diese Zuschreibung von gemeinsamen Merkmalen findet jedoch nicht nur in der ausländischen Presse statt, auch in Spanien selbst wird beiden Ereignissen eine gewisse Verwandtschaft zugesprochen, wie z.B. El Mundo erkennen lässt, wo sich die Überschrift »Nuestro 11-M«32 findet. Überhaupt manifestiert sich in dieser Analogiebildung33 – einer unmittelbaren, nicht tiefer reflektierten Reduktion des Geschehenen auf ein sprachliches Element, bestehend aus vier Zeichen – eben jenes spontane assoziative Moment, das auf eine spezifische mental-kulturelle Tiefenstruktur verweist. Diese kommt zum Vorschein, da durch den geringen
28 Alexis Lacroix: »Gérard Chaliand; réflexions sur ›le 11 septembre des Espagnols‹«, in: Le Figaro vom 13.03.2004, S. 15. 29 Jean-Paul Piérot: »11 mars à 7 h 30«, in: L’Humanité vom 12.03.2004, Rubrik: International [ohne Seitenangabe]. 30 Keith B. Richburg: »A catastrophe ›like the Twin Towers‹«, in: The Washington Post vom 11.03.2004, S. A01. 31 [O. A.]: »3/11«, in: The Washington Post vom 12.03.2004, S. A22. 32 Raúl del Pozo: »Nuestro 11-M, atacaron al corazón«, http://www.elmundo. es/elmundo/2004/03/12/espana/1079063332 (03.05.2009). 33 In Spanien hat sich nach dem 11. September das Kürzel »11-S« eingebürgert. 162
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zeitlichen Abstand34 der Reaktionen und die aufkommenden kollektiven Emotionen eine profundere Rationalisierung ausbleibt. Ereignisse sind zwar per definitionem einzigartig, jedoch ist es im Fall des 11-M die Ähnlichkeit der kollektiven Empfindungen, Zuschreibungen, Deutungen und Überzeugungen, die zwar zunächst in der eigenen (nationalen) Kultur verankert sind, die aber auch eine Art mentale Brücke zwischen der US-amerikanischen und spanischen Gesellschaft schlagen. Der augenscheinliche Unterschied stellt vor diesem Hintergrund zunächst eine Gemeinsamkeit dar, der eine ähnliche Rezeption bzw. Reaktion beider Gesellschaften auf die Ereignisse hervorruft. Das Außergewöhnliche eines solchen Ereignisses hängt somit auch von der sozialen oder kulturellen Bedeutung und ihrer symbolischen Aufladung ab; oder wie Miguel Rodrigo Alsina postuliert: »el carácter de excepcional de un acontecimiento se define en función de sus propias circunstancias sociales, ideológicas y culturales que contribuyen a potenciar su imagen«35.
Nachfolgend werden deshalb die verbindenden und trennenden Charakteristika, die sich zusammensetzen aus den das jeweilige Ereignis konstituierenden Elementen und kommunikativen Besonderheiten der medialen Vermittlung, näher betrachtet.
Historisch-kollektive Erfahrungen Die Anschläge von Madrid reihen sich einerseits in eine Vielzahl terroristischer Erfahrungen ein, die in der jungen Demokratien Spaniens seit ihrem Bestehen 1975 ihre Spuren hinterlassen hat. So war es in erster Linie die 1959 gegründete baskische Separatistenorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA), die in den letzten 30 Jahren für den Tod von über 580
34 In diesem Mechanismus mag auch unter anderem die gesamtgesellschaftliche Empörung über die Äußerungen des Komponisten Karlheinz Stockhausen begründet sein, der mit Bezug auf den 11. September die Attentate als »das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos« bezeichnet hatte. Zitat nach Ute Vorkoeper: »Nach dem Bildersturm«, in: Die Zeit online, http://www.zeit.de/feuilleton/kunst_naechste_generation/ terror_5?page=all, 05.12.2006. 35 Zitiert nach María Guillermina Franco Álvarez/María Luisa Sánchez Calero: »Representación y discurso en la crisis informativa del 11-S y 11-M«, in: A. Vara, Cobertura informativa del 11-M, S. 193-205, hier S. 196. 163
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Menschen verantwortlich war36 und entscheidend das kollektive Bewusstsein der Nation geprägt hat. Die höchste Anzahl an Todesopfern, die bei einem einzigen Anschlag der ETA ums Leben kamen, betrug bis zu den Bombenanschlägen in Madrid 21.37 Auf Grund dieser bereits historisch und mental verankerten Terrorerfahrungen stellt deshalb Alan Riding in der New York Times mit Bezug auf den Vergleich der beiden Ereignisse nicht ganz unberechtigt fest: »After the murderous bombings in Madrid on Thursday, Spanish newspapers immediately compared 11-M – March 11 – to 9/11. But there was a flaw in the analogy. On Sept. 11, 2001, the United States was caught off guard. In contrast, Spain and several to her European countries have experienced terrorism for more than three decades. And lately they had been bracing for a big terrorist action somewhere in the region.«38
Und auch Antonio Elorza betrachtet die ETA und ihre Attentate als »vaccination contre la peur«39. So hätten fast 20% der Spanier, laut dem Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS), in einer Umfrage zu den Attentaten vom 11. September in den USA angegeben, sich überhaupt nicht für das Ereignis zu interessieren und ganze 26% machten sich demnach keine Sorgen darüber, selbst Opfer eines Anschlages zu werden.40 Unbestreitbar haben sich die Attentate vom 11. März nunmehr dennoch als Fixpunkt im kollektiven Gedächtnis der spanischen Nation verankert, da sie sich von den bisherigen Aktionen der ETA deutlich unterscheiden und einige Spezifika aufweisen. Zunächst sind es Intensität und Tragweite der Anschläge, die einen Unterschied darstellen. Mit fast 200 Toten beträgt die Opferzahl ungefähr das Zehnfache des bisher blutigsten Anschlages, den die spanische Demokratie bis dahin kannte und der auch bezüglich seines Ausmaßes
36 Vgl. Arno Gimber: Kulturwissenschaft Spanien, Stuttgart: Klett 2003, S. 47. 37 Dabei handelte es sich um ein Attentat in einem Supermarkt in Barcelona am 19.06.1987. Vgl. hierzu Jean Chatain: »Espagne. La capitale espagnole frappée au coeur«, in: L’Humanité vom 11.03.2004, Rubrik: International [ohne Seitenangabe]. 38 Alan Riding: »Europe knows fear, but this time it’s different«, in: The New York Times vom 14.03.2004, S. 1. 39 Antonio Elorza: »De ›Bienvenido Mister Marshall‹ au 11 septembre 2001: Les sources de l’anti-américanisme espagnol«, in: Les cahiers d’histoire sociale 21 (2002-2003), S. 43-56, hier S. 54. 40 Vgl. ebd., S. 53-54. 164
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über die nationalen Grenzen hinaus von Bedeutung ist41. In der Tat sprachen einige Analysten von dem schwersten Terroranschlag in der gesamten Europäischen Union. So bezeichnet die französische Zeitung Le Monde das Geschehen als »l’attaque terroriste la plus meurtrière jamais commise en Espagne et en Europe«42 und Die Welt in Deutschland sieht in dem Ereignis den »schwersten Terroranschlag in Europa seit dem Krieg neben Lockerbie«43. Ein weiterer Unterschied besteht in der Tatsache, dass die ETA sehr häufig, wenn auch nicht immer, politisch motivierte Anschläge verübt hat, deren Opfer meistens in einem politischen Kontext gesehen wurden. Die Anschläge vom 11. März dagegen hatten ausschließlich zivile Opfer zum Ziel. Nicht minder bedeutend ist das außerordentliche Überraschungsmoment der Anschläge auf die Nahverkehrszüge. Die Anschläge der ETA wurden in der Regel anonym und per Telefon im Voraus angekündigt. Der 11-M hebt sich somit deutlich von terroristischen Attentaten der spanischen Vergangenheit ab und ihm kommt deshalb zu Recht in seiner gesellschaftlichen und medialen Bedeutung die Stellung eines »hechoruptura«44 zu.
Religiöse Elemente Welchen Einfluss das terroristische Medienereignis auf die mentale Struktur hatte, lässt sich unter anderem an dem Faktor Religion ablesen, dem im Kontext der Verbindung der Terroranschläge mit islamistischfundamentalistischen Gruppierungen eine wichtige Interpretations- und Meinungsbildungsfunktion zugesprochen wird. María José Pou Amérigo postuliert in diesem Zusammenhang in ihrer Untersuchung zur Präsenz des Religiösen in der medialen Berichterstattung über Terrorismus: »Con la matanza de marzo, la prensa española ha de empezar a utilizar la clave religiosa al tratar las acciones terroristas en el territorio nacional«45. 41 Ohne die ca. 1500 zum Teil schwer verletzten Opfer zu erwähnen. 42 [O. A.]: »Madrid: l’enquete tente de cerner un acte terroriste sans précédent«, in: Le Monde vom 13.03.2004, Rubrik: International [ohne Seitenangabe]. 43 Guido Heinen: »Lästige Fragen«, in: Die Welt vom 13.03.2004, S. 1. 44 Zitiert nach M. Franco: Representación y discurso en la crisis informativa del 11-S y 11-M, S. 194. 45 María José Pou Amérigo: »La presencia de lo religioso en el tratamiento mediático del terrorismo«. In: Alfonso Vara Miguel/Jordi Rodríguez Virgili/Elea Giménez Toledo/Montserrat Díaz Méndez (Hg.), La comunicación 165
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Im Laufe Ihrer Analyse kommt sie unter anderem zu der Schlussfolgerung, dass religiöse Elemente im Pressediskurs der spanischen Medien, die seit dem Bestehen der Demokratie eher eine Art Randdasein geführt haben, durch den islamistischen Terror wieder als Interpretationsschlüssel aktueller Gegebenheiten eingeführt wurden, auch wenn das dominante Deutungsparadigma die politischen Motive der Attentäter bleiben46. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass im Gegensatz zu den Anschlägen vom 11. September die Anschläge von Madrid von den spanischen Medien nicht in einen ›Kampf der Kulturen‹ eingeordnet werden47, sondern die Ursache eher in der militärischen Intervention Spaniens im Irak und ähnlichen politischen Argumenten gesehen wird. Zwar spielt auch hier ein größerer gesellschaftspolitischer, internationaler Rahmen eine Rolle, jedoch wird dieser auch von anderen europäischen Analysten tendenziell eher als Konfrontation zwischen Demokratie und Terrorismus48 oder als »Angriff auf die Zivilität«49 eingestuft; nicht aber als ›Clash of Civilization‹ wie ihn z.B. Samuel Huntington50 versteht. Es handelt sich jedoch nicht nur um diskursive Gegebenheiten im Sinne einer argumentativen Struktur, die von religiös-kulturelle Elementen beeinflusst werden. Auch der visuelle Darstellungsmodus in der medialen Berichterstattung unterliegt einer kulturellen Prägung. Amor Muñoz Bécares weist darauf hin, dass bestimmte Kulturen Bilder mit Gewaltinhalten eher akzeptieren als andere. Dabei unterscheiden sich die Art der Darstellung des Todes und der Zerstörung in der visuellen Kultur
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en situaciones de crisis, del 11-M al 14-M: actas del XIX Congreso Internacional de Comunicación, Facultad de Comunicación, Universidad de Navarra: Navarra: Ediciones Universidad de Navarra 2006, S. 127-137, hier S. 129. Vgl. ebd., S. 135-136. Pou Amérigo beschreibt dies folgendermaßen: »A diferencia de las interpretaciones sobre el 11-S, en España no se produce tras el 11-M una referencia al enfrentamiento entre civilizaciones. […] Es interesante esta diferencia por cuanto podría significar la presencia o ausencia de elementos de culpabilidad, del mismo modo que para algunos analistas europeos, tras el 11-S, lo que se manifestaba era la resistencia de los países islámicos a ser transformados por Occidente representado en Estados Unidos« (ebd., S. 132). Vgl. Georges Suffert: »La démocratie contre les terrorismes«, in: Le Figaro vom 13.03.2004, S. 16. Harry Nutt: »Ohne Botschaft«, in: Frankfurter Rundschau vom 13.03.2004, S. 15. Samuel Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon & Schuster 1996. 166
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Spaniens und Nordamerikas: »Los Estados Unidos tienden a evitar las imágenes de noticias violentas más notablemente que las culturas latinas. La geografía puede tener mucho que ver con ello«51. In ihrer Untersuchung der Titelseiten von US-amerikanischen und spanischen Tageszeitungen, die unmittelbar nach den jeweiligen Attentaten erschienen, kommt Muñoz Bécares unter anderem zu dem Schluss, dass in den spanischen Tageszeitungen vor allem die mediale Repräsentation der Opfer im Mittelpunkt steht, während sich in den USA eine Botschaft des Sieges und der Hoffnung unter Vermeidung der Abbildung von Leichen und Verletzten als Konstante findet52. Sie führt dies auch jeweils auf den Einfluss des Protestantismus in den USA und des Katholizismus in Spanien zurück: »Este tratamiento antivisualista del dolor, dominante en la mayoría de los medios de comunicación estadounidenses, recupera, en palabras de Paschalidis la tradición iconoclasta de la Reforma protestante, y representa una concepción enfrentada a las raices católicas de nuestro país, donde tan interiorizada tenemos la imágen de Cristo crucificado.«53
Stellen religiöse Referenzen hier tendenziell einen trennenden Aspekt zwischen den beiden Kulturen dar, so lassen sich bei der kollektivpsychologischen Verarbeitung der Ereignisse durchaus auch Gemeinsamkeiten erkennen. So ist in beiden Nationen im Kontext der Anschläge eine Art zivile Ritualisierung des Schmerzes und der Trauer zu beobachten gewesen, die sich nicht allein in der Produktion von zivilen Riten (z.B. Trauerzüge für die Opfer) niederschlug54, sondern auch in einer Art medialen Trauer zu beobachten waren. So hat z.B. die spanische Tageszeitung El País in ihrer OnlineAusgabe eine Art virtuellen Schrein eingerichtet, der den Titel »Vidas Rotas« trägt. Auf der Seite werden schwarze Schleifen aneinandergereiht dargestellt. Jede Schleife steht für eines der Todesopfer. Klickt man auf einer der Schleifen öffnet sich einen neue Seite, in der die Kurzbiographie eines der Opfer zu finden ist, die es dem Internetnutzer erlaubt, die Anschläge mit konkreten Personen zu verbinden und damit das Ereignis 51 Amor Muñoz Bécares: »La despersonalización del dolor: diferencias en el tratamiento informativo del 11-S y el 11-M en las portadas de los diarios«, in: A.Vara Miguel, La comunicación en situaciones de crisis, S. 509-523, hier S. 509. 52 Vgl. ebd., S. 510. 53 Ebd., S. 512. 54 Vgl. M. Pou Amérigo, La presencia de lo religioso en el tratamiento mediático del terrorismo, S. 132-133. 167
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zu personalisieren. Ein Effekt, der durch die Überschrift »Detrás de cada lazo hubo una vida«55 verstärkt wird und dadurch einen emotionalen Zugang eröffnet. Die Opfer werden unter anderem im Rahmen einer Art virtuellen Huldigung in einen rituellen Deutungskontext eingeordnet. Abbildung 1: Virtuelle Repräsentation der Opfer der Anschläge vom 11.03.2004 in Madrid56
Ähnlich wie das September 11 Digital Archive57, bei dem individuelle Erinnerungen an die Terroranschläge in den USA gespeichert werden, um sie einer breiten Masse zur Verfügung zu stellen, lässt sich auch in »Vidas Rotas« eine Art »Institutionalisierung individualisierter Massenkommemoration«58 ausmachen. Eine Besonderheit der spanischen Version stellt hier der deutliche Fokus auf die Opfer und deren Personalisierung dar.
55 Vidas Rotas, http://www.elpais.com/comunes/2004/11m; letzter Zugriff am 20.06.2009. 56 Ebd. 57 September 11 Digital Archive, http://911digitalarchive.org; letzter Zugriff am 20.06.2009. 58 Erik Meyer/Claus Leggewie: »›Collecting Today for Tomorrow‹. Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ›Elften September‹«, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004, S. 277-303, hier S. 287. In dem Artikel findet sich eine genauere Analyse des hier genannten »September 11 Digital Archive«. 168
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Heroismus Ein weiteres nationales Spezifikum manifestiert sich in dem unterschiedlichen kulturellen Verständnis der Heldenfiguren und ihrer Funktion. Zwar spielen bei beiden Attentaten die ›Helden‹ der Katastrophe eine wichtige Rolle, wie María José Pou Amérigo feststellt. Der kulturelle Bedeutungskontext unterscheidet sich jedoch in beiden Nationen. Heroismus und heldenhaftes Denken, geprägt von Zuversicht und Hoffnung, ist für die US-amerikanische Kultur elementar. Die Figur des ›heroischen‹ Helden59, dem besonders in US-amerikanischen, fiktionalen Darstellungen eine besondere Bedeutung zukommt60, vereint gleich mehre nationalkulturelle Mythen und Werte. Dies wird besonders deutlich, wenn man die gesellschaftliche Anerkennung betrachtet, die Rettungskräften wie Feuerwehrmänner und Polizisten, gerade im Kontext des 11. Septembers entgegengebracht werden. Als Kollektiv verkörpern Sie die Tatkraft und den Kampfgeist – und ganz besonders – die Möglichkeiten des Einzelnen. Gerade mit Blick auf den 11. September ist die Verbindung von individuellem Schicksal und historischem Ereignis für das Verständnis der US-amerikanischen Kultur, einer Kultur »der unablässigen Arbeit an sich selbst, in der die Aufmerksamkeit des Individuums vor allem auf die eigenen Möglichkeiten zur Selbsterneuerung ausgerichtet ist«61, elementar. Ein ganz anderes Bild ergibt sich für den 11-M in Madrid. Hier verbinden sich ein vom Katholizismus »als Konstante der spanischen Kultur«62 geprägtes Weltbild mit der Vorstellung des leidenden, »gekreuzigten« Helden. Als »víctimas propiciatorias sacrificadas en el ritual sangriento del terrorismo«63 manifestiert sich deren Bedeutung in der oben bereits angeführten Darstellung von Zerstörung und Gewalt in Form der visuellen Abbildung der Opfer in den spanischen Tageszeitungen. Nicht zuletzt liegt in dieser unterschiedlichen kulturellen Bedeutungszuweisung der Grund für die Tatsache, dass nach dem 11. September in den 59 Nicht der wertneutrale Held im Sinne eines Protagonisten in z.B. Spielfilmen. Vgl. hierzu Bettina Plett: Problematische Naturen? Held und Heroismus im realistischen Erzählen, Paderborn: Schöningh 2000, S. 22-23. 60 Man denke nur an das genuin US-amerikanische Genre des Superheldencomics oder den klassischen Hollywoodfilm. 61 Winfried Fluck: »Kultur«, in: Peter Lösche/Hans Dietrich von Loeffelholz (Hg.), Länderbericht USA, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 42004, S. 698-787, hier S. 702. 62 A. Gimber, Kulturwissenschaft Spanien, S. 38. 63 M. Pou Amérigo, La presencia de lo religioso en el tratamiento mediático del terrorismo , S. 135. 169
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USA patriotische Symbole im Vordergrund standen, während in Spanien im Kontext des 11-M, außer der schlichten schwarzen Schleife64, die symbolisch für die Trauer um die Opfer und die Solidarität mit den Angehörigen stand, keine vergleichbaren Bedeutungsträger auszumachen waren. Vor diesem Hintergrund ist auch die unterschiedliche Einordnung des jeweiligen Ereignisses in der US-amerikanischen und spanischen Presse zu sehen. Dominieren unmittelbar nach dem 11. September in den Schlagzeilen der Printmedien der USA emotional besetze Begriffe wie »America«, »nation« und »home«, sind es in Spanien vor allem Zuweisungen wie »masacre«, »matanza« und »infierno«, die im Vordergrund stehen65.
Symbolische Bedeutung des Anschlagsortes Der Stadt New York und mehr noch dem World Trade Center kommen in dem global-medialen Deutungskontext des 11. Septembers eine ganz spezifische Bedeutung zu. Wenn Claus Leggewie vom »Ort des Geschehens«, also der Stadt New York und noch präziser dem World Trade Center spricht und diesem eine besondere »ikonische Qualität«66 zuweist, bezieht er sich auf die semantische zeichenhafte Aufladung, die den Zwillingstürmen als lokalem Symbol, d. h. als Sinnbild der Stadt New York und seinem spezifischen Lokalkolorit, in semiotisch reduzierter Weise zukam. Gleichzeitig verweist Leggewie damit aber auch auf das komplexere nationale und v. a. globale symbolische Bild, das einerseits das amerikanische Selbstverständnis, den American way of life, die multikulturelle Prägung, die kapitalistische Gesellschaftsordnung, andererseits aber auch den US-amerikanischen wirtschaftlichen und kulturellen Imperialismus meint. In dieser Bedeutungsaufladung liegt auch der symbolisch-affektive Gehalt der Zerstörung der beiden Zwillingstürme begründet67, die letztlich die Flugzeugattentate auf das Pentagon und den 64 Vgl. an dieser Stelle auch Abbildung 1. 65 A. Muñoz Bécares, La despersonalización del dolor, S. 514. 66 Claus Leggewie: »11. September 2001 – welche Niederlage? Notizen zur Entstehung eines globalen Erinnerungsortes«, in: Horst Carl (Hg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 447-464, hier S. 448. 67 Die Symbolwirkung war von den Terroristen beabsichtigt. So hält Sascha Seiler mit Blick auf die Äußerungen Boriy Groys, Jean Baudrillards und Slavoj Žižek fest: »Jeder der drei Kulturphilosophen sieht die Inszenierung eines symbolischen, medialen Aktes als wichtigstes Ziel der Terroristen an […].« (Sascha Seiler: »Das verschüttete Paradies - Die Darstellung des ver170
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Absturz in Shanksville, Pennsylvania, hinsichtlich ihrer medialen Präsenz in den Hintergrund drängten68 und einen wichtigen Unterschied zu den Anschlägen in Madrid darstellen. Die Bombenattentate in Spanien fanden in der Hauptstadt und damit im kulturellen und politischen Zentrum des Landes mit Sitz der Regierung statt. Die Eisenbahnstationen Santa Eugenia, El Pozo und Atocha – wichtige Verkehrszentren von Madrid – stehen als Ort des katastrophischen Geschehens im Mittelpunkt. Als dominierendes (fotografisches) Bild in der medialen Berichterstattung69 fand sich die Abbildung der zerstörten Züge auf den Gleisen, umgeben von Leichen, Rettungskräften und Überlebenden, die dem spanischen Medienrezipienten »festgefügte, symbolhaltig verdichtete Stadtbilder«70 boten. Vor allem Atocha, der berühmte Hauptbahnhof Madrids, verweist als im kollektiven Gedächtnis verankertes »Stadt-Icon«71 auf eine spezifische ikonographische Einordnung, die den Eindruck der moralischen Vernichtung auf Grund der materiellen Zerstörung noch verstärkt. Festzuhalten ist jedoch, das ein wesentlicher Unterschied zu New York in der größeren, globalen Reichweite des symbolischen Gehaltes der Stadt New York und des World Trade Center im Gegensatz zu den Anschlagsorten in Madrid besteht, wodurch eine emblematische Identifikation sehr viel stärker auf den nationalen Kontext beschränkt bleibt. Diese tendenzielle Beschränkung auf eine nationale Bedeutung des Ereignisses wird noch verstärkt durch die Personalisierung der Anschläge. Letztere erfolgte unter anderem auch durch die Abbildung der Opfer. Das Ereignis bekam dadurch ein ›Gesicht‹. Im Gegensatz dazu enthielt die Mehrheit der Bilder im Falle des 11. September nur die Abbildung der brennenden Türme. Josep Ramoneda erläutert die Personalisierung von Ereignissen durch die Abbildung menschlicher Opfer wie folgt: »Sin imágenes de los cuerpos calcinados de los conciudadanos, el imaginario del dolor se concentraba en el emblema: las Torres Gemelas en llamas. El sím-
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lorenen ›Amerikanischen Traums‹ in Romanen über 9/11«, in KulturPoetik 7 (2007), S. 47-65, hier S. 56. In der medialen Berichterstattung dominiert bis heute das Attentat auf das World Trade Center. Vgl. hierzu Adrian Kreye: »Nachrichten aus New York«, in: Süddeutsche Zeitung vom 04.09.2006, S. 12. Sowohl im Fernsehen als auch in den Printmedien. Knut Hickethier: »Fernsehen als urbanes Medium«, in: Bernd Henningsen (Hg.): Die inszenierte Stadt. Zur Praxis und Theorie kultureller Konstruktionen, Berlin: Berlin Verlag 2001, 157-176, S. 170. Ebd., S. 172. 171
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bolo creaba espacio de dolor compartido. La ausencia de imágenes despersonalizó las víctimas, convirtiéndolas en una sola gran víctima.«72
Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Ereignissen liegt somit nicht nur im Ort des Geschehens selbst, sondern eben auch in seiner medialen Repräsentation und die dadurch erfolgte Bedeutungszuweisung.
Schlussbetrachtung Ob man den Anschlägen von Madrid und New York nun denselben Ereignischarakter zuschreibt, oder ob man in beiden Ereignissen überhaupt etwas Ereignishaftes im Heideggerschen Sinne entdeckt, ist und bleibt strittig. Unstrittig ist, dass es sich bei beiden Anschlagsserien um global wahrgenommene und bedeutende Geschehnisse handelt, die konkreten Einfluss auf weltpolitische Strukturen nehmen73. Auch wenn der 11. September sich auf den ersten Blick auf Grund einiger Besonderheiten (wie z.B. die globale Wahrnehmung der USA als Supermacht und Weltpolizei, die häufig als militärisch unverwundbar eingestuft wurde und dennoch Ziel der Attentäter wurde, die deutlich höhere Zahl der Opfer, die Zuschreibung einer Konfrontation der Kulturen und die deutlich intensivere und breitenwirksame mediale Berichterstattung und Thematisierung in diskursiver Hinsicht) als ›bedeutsamer‹ präsentiert, so ist jene Bedeutsamkeit, also das Ereignishafte, nicht zuletzt auch abhängig von der national unterschiedlichen Deutung und Bearbeitung sowie der jeweiligen kulturellen und mentalen Struktur. Denn gedeutet und bearbeitet werden Medienereignisse von der ersten Sekunde ihrer medialen Vermittlung an, denn »das Verstehen der Tat […] ist in solch einem Moment ein unbedingt notwendiger aufklärerischer Strohhalm, an den sich die in seinen Grundfesten erschütterte Zivilgesellschaft klammert und klammern muss«74. Nicht zuletzt erfolgt der Versuch des 72 Zitiert nach A. Muñoz Bécares, La despersonalización del dolor, S. 521522. 73 So beeinflusste der 11-M nicht nur nachhaltig den Ausgang der Parlamentswahlen am 14.03.2004 zugunsten der sozialistischen Partei von José Luis Rodríguez Zapatero, sondern hatte z.B. auch Einfluss auf strategische Entscheidung der US-amerikanischen Regierung. Vgl. hierzu z.B. JeanLouis Turlin: »Washington renforcé dans ses convictions sécuritaires«, in: Le Figaro vom 13.03.2004, S. 6 oder Dan Eggen/Walter Pincus: »Bombing clues point to islamist terrorists; but officals say it’s too soon to know«, in: The Washington Post vom 12.03.2003, S. A15. 74 H. Nutt, Ohne Botschaft, S. 15. 172
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Verstehens über die kulturelle und mediale Deutung. Als dynamische Prozesse unterliegen derartige Ordnungs- und vor allem Einordnungsversuche auch in hohem Maße spezifischen historischen und kulturellen Faktoren, wie anhand einiger Aspekte am Beispiel des 11. Septembers und des 11-M aufgezeigt wurde. Unterschiedliche kollektiv-historische Erfahrungen mit Terror, die unterschiedliche Präsenz des Religiösen (Protestantismus vs. Katholizismus) und die unter anderem daraus resultierenden unterschiedlichen Werte und Überzeugungssysteme, aber auch die jeweils nationalspezifische oder globale symbolische Aufladung von Orten sind Faktoren, die die Stellung und das Verständnis von (Medien-)Ereignissen definieren und prägen und diese damit zu einer komplexen Untersuchungskategorie machen. Es bleibt abzuwarten, wie sich in Zukunft der Blick auf beide Ereignis verändern wird und welche Auswirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Nationen damit einhergehen werden. Letztlich ist auch die kulturelle »Wirkungsgeschichte«75 der Terroranschläge noch nicht absehbar.
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75 Zitat nach Giovanna Borradori: Le ›concept‹ du 11 septembre. Dialogues à New York. Jacques Derrida/Jürgen Habermas, Paris: Galilée 2004, S. 55. Den Begriff der ›Wirkungsgeschichte‹ verwendet Habermas hier in Anlehnung an Hans-Georg Gadamer. 173
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ZÄSUR ODER WIEDERKEHR DES IMMERGLEICHEN? 11-S I N S P A N I S C H E N R O M A N E N D E R G EG E N W A R T URSULA HENNIGFELD Im vorliegenden Aufsatz sollen aktuelle spanische Romane behandelt werden, die sich mit 9/11 auseinandersetzen. Im Spanischen wird nicht die Bezeichnung »9/11« verwendet, sondern man spricht von »11-S«, wenn man die Anschläge in New York am 11. September 2001 meint, und von »11-M«, wenn man sich auf die Anschläge in Madrid am 11. März 2004 bezieht. Dies könnte bereits ein erster Hinweis darauf sein, dass die Terroranschläge von Amerika in der spanischsprachigen Literatur anders rezipiert und gewichtet werden als im angelsächsischen und U.S.-amerikanischen Raum. In Chile etwa denkt man bei »11 de septiembre« keineswegs sofort an die Attentate von New York, sondern an den Putsch am 11. September 1973 von Pinochet gegen die Allende-Regierung. Das Datum erinnert also an den Beginn der Pinochet-Diktatur, die von 1973 bis 1990 andauern sollte. Auch dieser 11. September wird zumindest in Lateinamerika als kulturelle Zäsur wahrgenommen.1 Auch in Katalonien gedenkt man am 11. September nicht der Opfer der Twin Towers. Der 11. September ist der »Día Nacional de Catalunya« (auf Katalanisch »Diada«). Dieser Gedenktag soll daran erinnern, dass Barcelona 1714 im spanischen Erbfolgekrieg nach 14monatiger Belagerung in die Hände der Bourbonen fiel. Wie sieht nun die Beschäftigung mit 11-S in einem Land aus, in dem über Jahrzehnte hinweg immer wieder ETA-Terroranschläge auf eige1
»Was wäre geschehen, wenn es den 11. September nicht gegeben hätte? Die Frage ist unsinnig, aber manchmal ist es nötig, unvermeidlich oder unserer Bequemlichkeit geschuldet, unsinnige Fragen zu stellen. Was also wäre geschehen? Nun, vieles. Die Geschichte Lateinamerikas wäre anders verlaufen.« Roberto Bolaño: »Bescheidener Vorschlag«, in: Kirsten Brandt/Heinrich v. Berenberg (Hg.): Roberto Bolaño. Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiographie, Berlin: Berenberg, S. 59-62, hier S. 59. 177
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nem Territorium verübt wurden und das am 11. März 2004 selbst Opfer eines Anschlags wurde? Wird der 11. September 2001 in Spanien als kulturelle Zäsur und »transkulturelles Medienereignis« wahrgenommen?2 Gibt es Anzeichen, die 9/11 als Etappe einer kontinuierliche Entwicklung erscheinen lassen? Zwar war 1979 von Lyotard in La condition postmoderne das Ende der sog. Meistererzählungen als Kennzeichen der Postmoderne diagnostiziert worden, doch die Anschläge von New York und der darauffolgende War on Terror können als Beginn einer neuen amerikanischen Meistererzählung interpretiert werden.3 Funktioniert diese Meistererzählung auch für die spanische Literatur? Um diesen Fragen nachzugehen, werde ich zunächst kurz darlegen, welche Rolle Al Qaida in Spanien spielt. Unter Bezug auf den Politologen Fernando Reinares, den Schriftsteller und Journalisten Manuel Vicent und den Philosophen und Essayisten Eduardo Subirats versuche ich nachzuvollziehen, wie der 11. September in der öffentlichen Diskussion in Spanien wahrgenommen wird. Anhand von vier zeitgenössischen spanischen Romanen von Alberto Vázquez-Figueroa, Antonio Prieto, Juan Manuel de Prada und Julia Navarro sollen Varianten der ästhetischen Verarbeitung des 11. September in Spanien vorgestellt werden.
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Erik Meyer/Claus Leggewie: »›Collecting Today for Tomorrow‹. Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ›Elften September‹«, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin, New York: de Gruyter 2004, S. 277-291. So spricht beispielsweise der französische Politologe Gilles Kepel vom »Grand Récit américain« und meint damit den Kampf der sog. zivilisierten Welt gegen den Terrorismus. Vgl. Kepel, Gilles: Terreur et martyre, Relever le défi de civilisation, Paris: Flammarion 2008, S. 22. Birgit Däwes argumentiert ähnlich: »Die kollektive Erinnerung an die Terroranschläge ist so maßgeblich durch das medial konstruierte ›master narrative‹ − samt seiner Neben- und Nachhandlungen von Heroismus, Patriotismus und der ›Achse des Bösen‹ geprägt, dass der 11. September zunächst als undarstellbar galt.« Däwes, Birgit: »›The Obliging Imagination Set Free‹: Repräsentationen der Krise – Krise der Repräsentation in der U.S.-amerikanischen 9/11 novel«, in: Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen (Hgg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, Heidelberg: Winter 2008, S. 67-87, hier S. 68. Zum Terminus ›Meistererzählung‹ und seiner Geschichte vgl. Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hgg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. Zur Krise der Meistererzählung vgl. Jarausch, Die Krise der nationalen Meistererzählung, in: ders./Sabrow, S. 140-162. 178
ZÄSUR ODER WIEDERKEHR DES IMMERGLEICHEN?
Al Qaida und die Rezeption von 11-S in Spanien Wie der spanische Politologe Fernando Reinares in seiner Analyse Terrorismo global schildert, ist Al Qaida schon seit vielen Jahren auf spanischem Boden aktiv. So wird im Dezember 2002 in der Provinz Rioja ein Algerier verhaftet, der in Al Qaida-Camps in Afghanistan ausgebildet wurde und für eine Terrorzelle Mitglieder rekrutiert. In Logroño verhaftet die Polizei im März 2003 einen Pakistani, der am Finanznetzwerk von Al Qaida beteiligt ist.4 Über Jahre hinweg werden in Spanien neue Mitglieder rekrutiert, Gelder gesammelt und über Scheinfirmen weitergeleitet. Reinares geht davon aus, dass Spanien eine der »Hauptbasisstationen« von Al Qaida in Europa ist.5 In den drei Jahren vor 11-M werden nicht weniger als vierzig verdächtige Personen verhaftet. Am 11. März 2004 bringen Al Qaida-Terroristen mithilfe von zehn Bomben vier Nahverkehrszüge zur Explosion – es handelt sich um jenes Attentat, das als »11-M« ins kollektive Gedächtnis der Spanier eingeht. Es gibt 190 Tote und 1.500 Verletzte.6 Im Unterschied zu den New Yorker Anschlägen sind die Madrider Attentate keine Selbstmordattentate. Spanien wird damit zum ersten europäischen Land, in dem ein Al QaidaAttentat verübt wird. Eine Erklärung könnten nach Reinares die geographische Lage und die verhältnismäßig lockeren Einreisebestimmungen Spaniens sein. Den Grund dafür, dass Spanien Ziel eines Attentats wurde, sieht er nicht darin, dass sich Spanien am Irak-Krieg beteiligt. Sondern Spanien sei durch den Kampf gegen ETA besonders aufmerksam und habe immer wieder Al Qaida-Zellen aufgedeckt und so verhindert, dass eine funktionierende Infrastruktur des Terrors entstehen konnte.7 Darüber hinaus werde Spanien von Islamisten noch immer als Teil eines einstmals verlorenen Territoriums wahrgenommen, das es zurückzuerobern gelte. Drei Monate nach den Madrider Anschlägen konnte in der Provinz Toledo ein Attentat gegen einen Hochgeschwindigkeitszug gerade noch vereitelt werden. Fernando Reinares, der schon vor dem 11. September 2001 zum ETA-Terrorismus publiziert hat und der »Terrorism Prevention Branch« 4
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Vgl. Fernando Reinares: Terrorismus global, Madrid: Taurus 2003, S. 73. Da die spanische Originalausgabe zur Zeit vergriffen ist, zitiere ich aus folgender Ausgabe: Reinares, Fernando: Terrorismus global. Aktionsfeld Europa, Hamburg: EVA 2005. Diese Ausgabe enthält ein zusätzliches Kapitel, das der Autor nach den Anschlägen von Madrid geschrieben hat. Ebd., S. 74. Ebd., S. 98. Ebd., S. 103. 179
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der Vereinten Nationen angehört, berät seit 2004 auch das spanische Innenministerium in Fragen der Terrorbekämpfung. In Terrorismo Global gibt er folgende Definition von Terrorismus: »Terroristisch können wir einen Gewaltakt nennen, wenn der psychische Effekt, den er in einer bestimmten Gesellschaft oder in einem Bereich derselben hervorruft, größer ist als die materiellen Auswirkungen. Das heißt, wenn emotionale Reaktionen wie Angst oder Unruhe in einer Bevölkerung den absichtlich herbeigeführten Schaden bei weitem übersteigen. […] Damit terroristische Gewalt diese Wirkung hat, wird sie systematisch und für die Opfer unvorhersehbar über einen längeren Zeitraum eingesetzt. Im Allgemeinen richtet sie sich gegen Ziele, die eine symbolische Bedeutung in einem kulturellen Umfeld oder in einem institutionellen Rahmen haben.«8
Für die Definition von Terrorismus ist nach Reinares also nicht entscheidend, wer diese Gewalt ausübt, ob staatsfeindliche Gruppen oder der Staat selbst. Er wird sogar noch deutlicher: Der staatliche Terrorismus im Rahmen der Innenpolitik habe jede moderne terroristische Vereinigung längst an Zerstörung und Grausamkeit übertroffen.9 Auch Geheimdienste oder Spezialeinheiten der Streitkräfte üben supranationale terroristische Gewalt aus. So weist er darauf hin, dass Libyen in den siebziger Jahren Nazis aufnahm, um ein neofaschistisches Terrornetz aufzubauen, die amerikanischen Geheimdienste mit den »Todesschwadronen« kooperierten und Frankreich bis in die achtziger Jahre hinein Terroristen Asyl gewährte, um selbst von Anschlägen verschont zu werden. Die Anschläge vom 11. September bezeichnet Reinares als »megaterroristische Akte«.10 Als Beispiele für weitere Akte dieser Art vor 9/11 nennt er die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki.11 Dennoch ist er überzeugt, dass kein Ereignis in der Geschichte des Terrorismus mit dem 11. September vergleichlich ist, was die Folgen, die Zahl der Toten und Verletzten sowie den immateriellen Schaden betrifft.12 Reinares empfiehlt, dass die liberalen Demokratien maßvoll auf terroristische Gewalt reagieren sollten. Vor allem sollen sie nicht auf Terrorismus antworten, indem sie gegen die Prinzipien und Werte verstoßen, 8 9 10 11
Ebd., S. 10f. Vgl. ebd., S. 12. Ebd., S. 29. Eine Verbindung zwischen Hiroshima und 9/11 stiftet auch Luc Lang, der seinen 9/11-Roman 11 septembre mon amour (in Anspielung auf Marguérite Duras’ Hiroshima, mon amour) nennt. Vgl. Lang, Luc 11 septembre mon amour, Paris: Stock 2003. 12 Dies müsste man gerade im Vergleich mit Hiroshima konsequenterweise bezweifeln, da etwa die Zahl der Toten um ein Vielfaches höher ist. 180
ZÄSUR ODER WIEDERKEHR DES IMMERGLEICHEN?
auf die sich das eigene politische System gründet. Wichtiger ist eine effektive multinationale Zusammenarbeit sowie der Dialog zwischen den Kulturen und Konfessionen. Vor allem aber muss darauf geachtet werden, regionale Konflikte zu lösen, die den Islamisten als Vorwand für Anschläge dienen.13 Dazu gehört vorrangig auch die Integration von Einwanderern. Denn wie Reinares darstellt, sind besonders die Kinder von Einwanderern gefährdet, sich terroristischen Gruppen anzuschließen; sie sind weder in die Gesellschaft des Gastlandes integriert, noch fühlen sie sich ihrem Herkunftsland verbunden.14 Der Schriftsteller und Journalist Manuel Vicent ordnet 9/11 in eine Reihe von historischen Zäsuren ein: Das Ereignis ist so bedeutsam wie die Zerstörung des ArtemisTempels, der Brand der Bibliothek von Alexandria, die Eroberung von Konstantinopel, der Berliner Reichstagsbrand, die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki und die Napalmbomben auf Vietnam. Er sieht in 9/11 die Endstufe einer Entwicklung: Jede Waffe, mit dem Steinwurf angefangen, hat immer noch schlimmere Waffen hervorgebracht und zu einer Spirale der Gewalt geführt.15 Der aus Barcelona stammende und zur Zeit in New York lebende Philosoph und Essayist Eduardo Subirats deutet 9/11 als grundlegende Zäsur, die sogar die kollektive Erinnerung an ein anderes historisches Gräuel, den Ground Zero von Hiroshima, überschrieben hat: »El Ground Zero de Hiroshima se ha convertido en un no-lugar de la memoria electrónica colectiva. El de Manhattan ha sido institucionalizado electrónicamente como un fin y un comienzo: de un nuevo siglo, una guerra nueva, una nueva era, un nuevo mundo.«16
Der Anschlag auf die Zwillingstürme habe, so Subirats, den Charakter einer radikalen Realität, einer unauslöschlichen Präsenz und einer unausbleiblichen Erfahrung. Die Rollenverteilung zwischen Fernsehzuschauern und Erlebenden hat sich erstmals umgekehrt: die Leute in Belgrad und Jerusalem sitzen staunend vor dem Fernseher und sehen die Attentate, während die Amerikaner, die ansonsten Anschläge nur aus dem Fernsehen kennen, nun selbst betroffen sind. 17 13 F. Reinares: Terrorismus global, S. 96f. 14 Dieses Problem behandelt der algerische Autor Slimane Benaïssa in seinem Roman La dernière nuit d’un damné. Vgl. Benaïssa, Slimane: La dernière nuit d’un damné, Paris: Plon 2003. 15 Vgl. hierzu http://www.elpais.com/articulo/ultima/flor/paranoia/elpepiult/ 20080831elpepiult_1/Tes?print=1 (9.6.2009) 16 Eduardo Subirats: Violencia y civilización, Madrid: Losada 2006, S. 95f. 17 Vgl. ebd., S. 97f. 181
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Bald nach den Attentaten werden die Toten und Verschwundenen zu Helden zu stilisiert, man spricht von Opfern. Das Opfer aber ist ein kollektives Ritual mit der Funktion sozialer Integration. Dies hat schwerwiegende Folgen: Der 11. September wird zu einem mythischen Beginn einer unausweichlichen historischen Aufgabe und einer politisch-militärischen Mission umgedeutet.18 Die gängigen Thesen vom Ende der Geschichte (Fukuyama), vom Kampf der Kulturen (Huntington) oder die Analysen von Chomsky, Weinberger und Wallerstein verurteilt Subirats als politischen Populismus, der auf einem trivialen, vulgären und autoritären Diskurs basiert.19 In 11-S: una crónica stellt Subirats die These auf, dass die neuen globalen Kriege entweder klimatologische oder biologische Kriege (Amazonas), von Waffenhändlern angezettelt (Balkan, Ruanda), Kriege um Energieressourcen (Irak, Tschetschenien, Kolumbien) oder Finanzkriege (asiatische Länder, Lateinamerika) sind.20 Ähnlich düster wirkt auch das Szenario von Vázquez-Figueroas nach Aussage des Autors zwischen Juli und September 2001 entstandenem Krimi.
Alberto Vázquez-Figueroa: T o d o s s o m o s c u l p a b le s Die Verbindung zwischen der Romanhandlung und 9/11 wird beim Leser bereits durch einen Blick auf das Cover der Taschenbuchausgabe erzeugt: Man sieht ein unscharfes Flugzeug und daneben Wolken aus Qualm, Rauch und Feuer – möglicherweise von einem der brennenden Türme des World Trade Centers.21 Der Privatdetektiv Gaetano Derderian wird von Romain Lacroix, Multimillionär und Inhaber des weltweit agierenden Konzerns Acuario & Orion engagiert, um eine Serie von Sabotageakten und Morden aufzuklären. Derderian beginnt zu verstehen, dass multinationale Konzerne bald 18 Vgl. ebd., S. 101. 19 Ebd., S. 151 u. 177. Auch Reinares bezieht Position gegen Huntington: Seiner Ansicht nach zeugen die Anschläge nicht von einem Kampf der Kulturen, sondern wollen diesen allererst herbeiführen. Außerdem ist die Gewalt nicht allein gegen westliche Ziele gerichtet, sondern beispielsweise auch gegen die hinduistische Bevölkerung in Pakistan. Reinares, Terrorismus global, S. 37 u. 69. 20 Subirats : Violencia y civilización, S. 83. 21 Alberto Vázquez-Figueroa: Todos somos culpables, Barcelona: Debolsillo 2004 182
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an die Stelle von Nationen treten werden. Sie besitzen zwar keine Armeen, Nationalhymnen oder Flaggen, fühlen sich dafür aber auch keineswegs verpflichtet, bestimmte Grenzen einzuhalten oder soziale, ethische und religiöse Werte zu respektieren.22 Damit ist das neue Zeitalter der Großindustriellen angebrochen. Derderian bekommt im Rahmen seiner Nachforschungen erklärt, was ein »Terrorist« ist: »Tan sólo existe una clase de terroristas, amigo mío, métase eso en la cabeza de una vez por todas. Todo aquel que es capaz de atentar violentamente contra algo o alguien, no es más que un terrorista, sea cual sea la razón que esgrima para hacerlo, puesto que desde el momento mismo en que emplea la fuerza, todas sus razones dejan de tener validez.«23
Eine Unterscheidung zwischen staatlicher Gewalt und Terrorismus scheint also unzulässig. Derderian lernt, dass nicht nur die Unternehmen zunehmend global agieren, sondern dass auch lokale Terrororganisationen global zusammenarbeiten. Ein Mitarbeiter von Acuario & Orión, in dessen Auftrag Derderian recherchiert, gibt unumwunden zu, Osama Bin Laden von gemeinsamen Sommerurlauben in Marbella zu kennen. Beide fragen sich, wie es eigentlich möglich ist, dass ein gebildeter, intelligenter und reicher Mann, der das Leben in vollen Zügen genießen könnte, sich entscheidet, in Höhlen zu leben und Unschuldige zu töten. Angesichts dieser unverständlichen Wahl kommen sie zu dem Schluss, dass der Terrorismus wie ein Krebsgeschwür sein müsse, das jeden befallen kann.24 Nun beginnt Derderian an seiner Mission, die er als Schachpartie versteht, zu zweifeln. Denn wie soll er einen unsichtbaren Gegner besiegen, der sich an keine der bekannten Regeln hält und nur Chaos stiftet? Er versteht auf einmal, wie prekär das Gleichgewicht jener Gesellschaft ist, in der er lebt. Einen phantasmatischen Feind – so die Schlussfolgerung des Privatdetektivs – kann also auch keine Regierung je mit Panzern und Raketen erfolgreich besiegen.25 In dem Roman wird der Blick auch auf Spanien und sein Terrorismusproblem gerichtet. In Zusammenhang mit einer Entsalzungsanlage im Nahen Osten wird erörtert, wie groß die Gefahr ist, dass Terroristen 22 23 24 25
Vázquez-Figueroa, Todos somos culpables, S. 30. Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 204. Diese These vertritt auch F. Reinares: »Das Terrornetz Al Qaida kann aufgrund seiner Beschaffenheit und seiner Ausdehnung nicht militärisch bekämpft werden«; F. Reinares: Terrorismus global, S. 93. 183
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die Wasserreservoirs Spaniens vergiften. Gegen Ende des Romans diskutieren mehrere Personen miteinander, was der Einsturz des World Trade Centers bedeutet. Die venezolanische Ehefrau des Multimilliardärs argumentiert, dass die Türme ein Symbol für Reichtum und Triumph waren. Dass sie innerhalb von Minuten einstürzten, hat der Welt gezeigt, dass das Götzenbild auf tönernen Füßen stand und die Verehrung nicht wert war. Derderian gibt zu bedenken, dass die Welt schon vor 9/11 bei etlichen Katastrophen wie Kriegen in Afrika oder der Zerstörung der Buddhas von Bamian untätig geblieben ist. Der Unterschied zu 9/11 sei, dass die ganze Menschheit am Fernsehbildschirm in Echtzeit miterleben konnte, wie tausende unschuldiger Menschen starben.26 Derderian selbst war zum Zeitpunkt der Anschläge in der Nähe des World Trade Centers und somit unmittelbarer Augenzeuge der Ereignisse. Der Detektiv schlägt vor, Bin Laden mit Hilfe der Medien zu besiegen. Man müsse einen falschen Doppelgänger präsentieren, um Bin Ladens Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Dieser solle so lange die Verantwortung für Attentate übernehmen und immer unglaubwürdigere Hassparolen predigen, bis auch seine treuesten Anhänger an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Am Ende des Romans macht Derderian in einer pathetischen Schlussrede deutlich, dass vor allem ein Umdenken der westlichen Industrienationen vonnöten ist: »De momento tenemos que combatir por los medios que sean, legales o no, una catástrofe, que pretende adquirir proporciones apocalípticas, pero al mismo tiempo que debemos intentar hacer comprender al mundo que todos tenemos parte de culpa y que si no ponemos remedio distribuyendo mejor la riqueza, pronto o tarde el problema resurgirá.«27
Vázquez-Figueroa plädiert also für eine gerechtere Güterverteilung. 9/11 wird bei ihm als globales Problem gesehen, das Spanien mit den USA und der ganzen Welt verbindet. Nur wenn soziale Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden, lässt sich Terror dauerhaft verhindern.
A n to n i o P r i e to : Un a y t o d as l as g u e r r as In diesem Roman ist 9/11 das Ende einer Kette von historischen Etappen. Die über den zeitreisenden Erzähler verbundenen einzelnen Teile behan26 Vgl. Vázquez-Figueroa : Todos somos culpables, S. 284. 27 Ebd., S. 299. Siehe hierzu http://www.elpais.com/articulo/internacional/ Reinres/_Fernando/Europa/blanco/terrorismo/elpepiint/20030606elpepiint 2/Tes?print=1, 9.6.2009. 184
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deln den Trojanischen Krieg (Los dioses van a Troya), das Römische Imperium (Roma caput mundi), den sog. Sacco di Roma (Del mundo cortesano al saqueo de Roma), die Französische Revolution (Alimentar la llama) und den Zweiten Weltkrieg (La guerra de todos contra todos). Das Buch endet mit 9/11: auf der letzten Seite berichtet der Ich-Erzähler, wie er im Fernsehen davon erfährt, dass die Zwillingstürme des World Trade Centers von zwei Flugzeugen getroffen wurden. 9/11 erscheint zwar einerseits als Zäsur, andererseits sind aber die Attentate und der daraus resultierende Krieg nur ein weiteres Beispiel für die Grundthese, dass Geschichte zyklisch verläuft und daher die Wiederkehr des Immergleichen ist.28 Als Erklärung für die Anschläge in New York werden bei Prieto Machtbesessenheit und Hochmut als typisch menschliche Schwächen angeführt. Schon im Trojanischen Krieg ging es eigentlich nicht um Helena, sondern um die Schätze von Priamus und die strategische Lage der Stadt. Der Raub Helenas durch Paris ist nur ein Täuschungsmanöver, mit dem einige Machthaber ihre Gier maskieren. Troja wird als Prototyp des Krieges präsentiert. Die Erinnerung an Troja wurde aber immer wieder von Kämpfen überschrieben, die ebenfalls aus Habgier und Machtbesessenheit angezettelt wurden. Die Historie ist so als Abfolge von kriegerischen Auseinandersetzungen erzählbar; Friedenszeiten dienen lediglich der Vorbereitung auf den nächsten Krieg.29 Als Beleg dieser These werden vom Erzähler zwei lateinische Aussprüche zitiert. Der erste lautet »Qui desiderat pacem, praeparet bellum«.30 Das Zitat stammt aus dem Vorwort zu Vegetius’ Epitoma rei militaris, einem militärtheoretischen Werk des 4. Jahrhunderts n. Chr. Als weiterer Sinnspruch wird »Bellum pacis est causa« angeführt.31 Möglicherweise ist dies eine Abwandlung von »sapientes pacis causa bellum gerunt« aus Sallusts Epistula ad Caesarem.32 Im Anschluss an die stoische Staatsethik vertritt Sallust
28 Zu 9/11 als Zäsur vgl. »Parece que la seguridad de un mundo se ha derrumbado y que algo nuevo, totalmente inexplicable, ha surgido. Es septiembre.« Prieto, Antonio: Una y todas las guerras, Barcelona: Seix Barral 2003, S. 396. Zu 9/11 als Wiederkehr des Gleichen vgl. »En el pasado, toda ciudad que se preciara tenía su elevada torre, su alzado castillo o su mimada acrópolis, desde donde la mirada vigilaba la ciudad hasta el goce de poseerla. Quizás también ahora continúe sucediendo, como en esas dos inmensas torres gemelas del World Trade Center de Nueva York, con su soberbio desafío.« ebd., S. 10. 29 Ebd., S. 89. 30 Ebd., S. 177. 31 Ebd., S. 122. 32 Vgl. Gaius Sallustius Crispus, Epistulae ad Caesarem I, 6,2. 185
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nämlich (ebenso wie Cicero in De officiis) die Ansicht, dass äußere Kriege zu Frieden und Sicherheit innerhalb des Imperiums führen.33 Auch diese Intertexte machen deutlich, dass Prieto 9/11 und die Folgen in eine größere historische Perspektive rückt. In Analogie zur Dreierkonstellation Menelaos – Helena – Paris wird auch die römische Geschichte erzählt: Die Schönheit von Cleopatra verführt sowohl Cäsar als auch Marc Anton und gefährdet so das Imperium. Marc Anton wiederum steht zwischen seiner Geliebten Cleopatra und seiner rechtmäßigen Ehefrau Octavia, der Schwester von Augustus. Dass er sich für Cleopatra entscheidet, führt zum Krieg mit Augustus in der Seeschlacht von Aktium 31 v. Chr. Nachdem Marc Anton verloren hat, bringen er und Cleopatra sich um. Im dritten Teil des Romans geht es um den Sacco di Roma, die Plünderung Roms durch deutsche Landsknechte und spanische Söldner im Jahr 1527. Der Ich-Erzähler verkehrt nun in Humanistenkreisen, macht z.B. die Bekanntschaft von Erasmus und Cornelius Agrippa. In Granada lernt er außerdem Juan Boscán, Garcilaso de la Vega und Andrea Navagero kennen. An dieser Auswahl erkennt man, dass hier entscheidende historische Ereignisse aus spezifisch spanischer Sicht gewählt werden. Denn der venezianische Diplomat und Dichter Navagero soll Boscán 1526 in Granada getroffen und ihn dazu aufgefordert haben, Sonette nach italienischem Vorbild in kastilischer Volkssprache zu schreiben. Dies schildert Boscán in einem Brief an die Herzogin von Soma. Sein Freund Garcilaso verfasst daraufhin bedeutende Sonette in spanischer Sprache. Auch der Humanist Alfonso de Valdés und der Dichter Francisco Delgado/Delicado kommen in diesem Teil als Romanfiguren vor und belegen die Interpretation von Geschichte aus spanischer Perspektive. Die Französische Revolution und die folgenden Jahre der TerrorHerrschaft werden so präsentiert, dass auch sie als Wiederholung bekannter Muster erscheinen.34 Das Ende des Romans spielt während des Zweiten Weltkriegs in Berlin. Dieser Teil beginnt jedoch mit einer Prolepse: in der Jetztzeit, so erfährt der Leser, wohnen der Erzähler und seine Freundin Carla in Rom. Ihr Wohnungsnachbar Richard stammt aus New York. Er hat dem Paar schon öfter von seinen Besuchen des World Trade Centers berichtet und stolz über die Twin Towers gesprochen, da sie für ihn pars pro toto für die unverwundbaren Vereinigten Staaten ste-
33 Dass diese Auffassung durchaus noch aktuell ist, wird deutlich, wenn der israelische Außenminister Lieberman seine Politik mit dem Satz »Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten« skizziert. Vgl. F.A.Z. Nr. 79 vom 03.04.2009, S. 6 34 Vgl. ebd., S. 225. 186
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hen.35 Auch wenn die ägyptischen Pyramiden und der Parthenon untergingen, wenn das römische Kolosseum und die Vatikanische Bibliothek zerstört wurden, seien die Zwillingstürme unverwundbar und unantastbar. Mit den Twin Towers beginnt also dieser Teil, mit ihnen wird das Buch auch enden. Doch zunächst springt die Handlung wieder zurück ins Berlin der Jahre 1940/41, wo der Erzähler als Übersetzer für Funksprüche arbeitet. Er ist – ebenso wie seine russische Kollegin Tatiana und sein Kollege Paul Hertz – in gewisser Weise Kollaborateur, da er für die Nazis arbeitet: »Todos éramos culpables«.36 Während die Lage in Deutschland während des Kriegs immer heikler wird, hat der Erzähler zwei wichtige Einsichten: 1. Es wird nie einen letzten Krieg geben. Denn Krieg führt nie zu Frieden und Freiheit, sondern zu Hass und so wiederum zu neuen Konflikten. 2. Man kann der Erinnerung nicht entkommen. Allerdings werden nur wenige Menschen im Gedächtnis der Geschichte namentlich weiterleben, die meisten werden als anonyme Tote vergessen. Am Ende des Romans sieht der Erzähler im Fernsehen, wie die beiden Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers rasen. Er tröstet sich mit dem Wissen, dass alles, was zerstört wird, in einer anderen Form woanders wieder aufgebaut wird. Die Energie bleibt erhalten, nur die Form ändert sich – hier fühlt sich der Leser an den Ersten Hauptsatz der Thermodynamik erinnert.37 Alle im Roman behandelten historischen Epochen und Zäsuren – Der Trojanische Krieg, das Römische Imperium, der Untergang der Papststadt Rom, die Jahre der Terror-Herrschaft in Paris, der Zweite Weltkrieg – und schließlich auch 9/11 sind also lediglich Varianten von Una y todas las guerras.
J u a n M a n u e l d e P r a d a : L a v i da i n v i s i b l e De Prada schildert 9/11 in seinem Roman als Apokalypse. Der Ich-Erzähler beschreibt, dass er mit seiner Frau am Fernsehbildschirm miterlebte, wie zwei Flugzeuge in die Türme schnitten als wenn sie aus Butter wären. Die Menschen, die an den Fenster hängen und sich zu retten versuchen, werden mithilfe von Vergleichen und Metaphern beschrieben: Sie sehen aus wie Insekten, die ihrer Flügel beraubt wurden. Da sie aber vergessen, dass sie keine Flügel haben, stürzen sie aus den Fenstern des
35 Ebd., S. 303. 36 Ebd., S. 312. Hier zeigt sich eine Parallele zum Roman von Vázquez-Figueroa, der bereits im Titel die Schuld enthält (Todos somos culpables). 37 Vgl. ebd., S. 175. 187
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World Trade Centers.38 Ähnlich wie in Muñoz Molinas Ventanas de Manhattan werden zur Schilderung der Anschläge auch hier Wörter wie »incredulidad«, »incapaz« und »ininteligible« verwendet.39 Das Attentat auf die Twin Towers ist unvorstellbar und undarstellbar, wenn auch nicht unvergleichlich. Die Reaktion der Menschen an den Fernsehbildschirmen wird verglichen mit den Bewohnern des belagerten Madrid während des Spanischen Bürgerkriegs. Auch hier wird 9/11 also in Bezug zu gravierenden historischen Ereignissen der eigenen nationalen Vergangenheit gesetzt. Auch an mythologische Figuren knüpft De Prada an, wenn er die Zuschauer vor dem Fernsehbildschirm mit Menschen vergleicht, die vom Blick der Medusa versteinert wurden. Die Frau des Erzählers wiederholt monoton immer nur die Worte »No puedo verlo«.40 Als der Ich-Erzähler in den USA ankommt, erscheint ihm das ganze Land wie ein untergegangenes Atlantis. Die Auswirkungen der Anschläge sind auch in Chicago deutlich spürbar. Die Menschen benehmen sich wie paranoide Maschinen, Gespenster oder Schlafwandler.41 Anders als bei Muñoz Molina ist der Schauplatz des Romans von de Prada nicht New York, sondern Chicago. Ähnlich wie New York ist Chicago jedoch eine Stadt, die mit ihren Wolkenkratzern in den Himmel reicht und an den Ehrgeiz Babylons erinnert. Auch Madrid wird als eine dieser babylonischen Städte bezeichnet. Auch auf diese Weise wird deutlich, dass New York keine Sonderstellung einnimmt und die Gefahr eines Attentats nicht nur die Amerikaner bedroht.
A n to n i o M u ñ o z M o l i n a : V e n t an as de M a n h a t t a n Das titelgebende Motiv des Fensters strukturiert den gesamten Text, der eine Mischung aus Roman und Reisebericht ist. Das Leitmotiv Fenster hat auch der französische Autor Beigbeder für seinen 9/11-Roman Windows on the World gewählt. Wieso sind Fenster so beliebt, wenn es um die ästhetische Bearbeitung von 9/11 geht?
38 Prada, Juan Manuel de: La vida invisible, Madrid: Espasa Calpe 2007, S. 21. 39 Ebd., S. 22. 40 Ebd., S. 22f. 41 Vgl. ebd., S. 69. 188
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Godehard Janzing hat sich mit der Bildlogik des Fenstersturzes eingehend beschäftigt.42 Die Defenestration funktioniert als Fanal, wie er an Darstellungen der Bartholomäusnacht, an Picassos Guernica und dem Bild des Falling Man deutlich macht. Der Prager Fenstersturz als Auslöser des Dreißigjährigen Krieges wäre hier noch zu ergänzen. Der fallende Mensch macht nach Janzing die Ausweglosigkeit der Situation besonders deutlich und wird zum Symbol menschlicher Verletzlichkeit. Die aus den Fenstern des World Trade Centers fallenden Menschen sind »transnationale Ikonen«, die die nationale Mobilmachung begleiteten.43 Das Fenster dient der Sichtbarmachung: »Solange wir hinter Fenstern wohnen und aus Fenstern schauen – uns gewissermaßen über das Rahmenwerk unseres Fensters definieren – wird selbiges wohl auch Ort der Verständigung über Konflikte bleiben«.44 Indem das Fenster bei Muñoz Molina und Beigbeder, der Fenstersturz bei Don DeLillo leitmotivisch werden, wird deutlich, dass die Autoren sich narrativer Muster und historischer Topoi bedienen, um das Thema 9/11 ästhetisch zu gestalten.45 Auch der Rekurs auf den Fenstersturz dient dazu, die Anschläge von New York zu anderen historischen Krisenmomenten in Bezug zu setzen. Ein auffälliger Unterschied zwischen anderen 9/11-Romanen und dem Reisebericht von Muñoz Molina besteht darin, dass er Intertexte kanonischer spanischer Autoren verwendet. Lorcas Poeta en Nueva York stellt den wichtigsten Bezugstext dar. Aber auch der Beginn von Francisco de Quevedos berühmtem Sonett »Buscas en Roma a Roma« wird auf New York übertragen. Leitmotivisch kehrt auch das folgende Zitat aus Cervantes’ Don Quijote wieder: »Sola la vida humana corre a su fin ligera más que el viento.46 Damit knüpft Muñoz Molina an das kollektive Gedächtnis der spanischen Leser an und bezieht 9/11 gleichzeitig auf weiter zurückliegende historische Epochen wie das Siglo de Oro. Vom Einsturz der Zwillingstürme erfährt Muñoz Molina weder aus eigener Anschauung noch aus dem Fernsehen, sondern durch einen Anruf seiner 42 Vgl. Janzing, Godehard: »Fenstersturz als Fanal. Zur Bildlogik von Gewaltexzessen«, in: Isabella von Treskow u.a. (Hgg.), Bürgerkrieg. Erfahrung und Repräsentation, Berlin: trafo 2005, S. 73-102. 43 Vgl. ebd., S. 96. 44 Ebd., S. 97. 45 Wie Jacques Rancière gezeigt hat, müssen auch das Undarstellbare und das Unmenschliche in derselben Sprache ausgedrückt werden, die auch das Menschliche, Darstellbare beschreibt. Es gibt keine Sprache, die dem Erlebten eigen wäre. Vgl. Rancière, Jacques: Le destin des images, Paris: La Fabrique 2003, S. 142. 46 Vgl. u.a. Muñoz Molina, Antonio: Ventanas de Manhattan, Barcelona: Seix Barral 2008, S. 213, 228, 253, 293. 189
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Tochter aus Spanien.47 Was er mit eigenen Augen sieht, erscheint ihm unglaublich und – wie De Prada – von apokalyptischer Dimension. Das Attentat auf die Zwillingstürme charakterisiert er als »inconcebible«, »increíble« und »inverosímil«.48 Ausgehend von diesem Schockerlebnis wird ihm die Flüchtigkeit alles Irdischen bewusst: »Lo que damos más por supuesto, el agua corriente, el suministro electrónico, es tan frágil como la estructura de esas torres de acero que parecían indestructibles, y si el agua y la electricidad faltan por un nuevo sabotaje la vida entera de cada uno de nosotros se desmoronará en penuría, terror y confusión.«49
Alles, was die Menschen für konstant und standhaft hielten, erweist sich mit den Attentaten vom 11. September als fragil und prekär.50 9/11 hat deutlich gemacht, wie schmal der Grad zwischen Normalität und Katastrophe sein kann und daher zu einer grundlegenden Verunsicherung der Menschen geführt.51 Muñoz Molina gibt zu bedenken: Während sich in Europa alte Menschen noch an den Zweiten Weltkrieg und Spanier an den Spanischen Bürgerkrieg erinnern können, fehlt den Amerikanern diese Erinnerung an Kriege auf eigenem Territorium. Daher fällt es ihnen umso schwerer, mit diesem Bruch in der Normalität und dem Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit umzugehen.
J u l i a N av a r r o : L a s a n g r e de lo s i n o c e n t e s Der in der Taschenbuchausgabe über 700 Seiten umfassende Roman beginnt im Languedoc des 13. Jahrhunderts zur Zeit der Katharerver47 Im Folgenden werde ich von ›Muñoz Molina‹ sprechen und meine damit den stark autobiographischen Erzähler. Sich selbst charakterisiert der ironische Erzähler gegen Ende des Buchs folgendermaßen: »Soy el ciudadano invisible de un país inexistente, célebre si acaso por la Inquisición, las matanzas de indios, las corridas de toros y las películas de Pedro Almodóvar«; ebd., S. 341. 48 Ebd., S. 81f. 49 Ebd., S. 86. 50 Muñoz Molina, Ventanas de Manhattan, S. 130. Eine ähnliche Lehre zieht auch der französische Autor Beigbeder in seinem 9/11-Roman Windows on the World aus den Attentaten: »Ce que nous croyons stable est mouvant. Ce que nous imaginons solide est liquide. Les tours sont mobiles, et les gratte-ciel grattent surtout la terre. Comment quelque chose d’aussi énorme peut-il être détruit aussi vite?« Beigbeder, Frédéric: Windows on the World, Paris: Gallimard 2003, S. 21. 51 Muñoz Molina, Ventanas de Manhattan, S. 333. 190
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folgung. Die zweite Episode spielt 1938 in Carcassonne, 1939 in Paris sowie im Berlin des Zweiten Weltkriegs. Der dritte Teil versetzt den Leser in die Gegenwart einer globalisierten Welt. Alle drei Zeitschichten werden über die Crónica de Fray Julián verbunden: Zu Beginn des Romans verfasst der Ordensbruder Julián eine Chronik, um von der Verfolgung der Katharer zu berichten, die für ihren Glauben sterben. Der Wissenschaftler Ferdinand – Protagonist des nächsten Großkapitels – erforscht jene Handschrift. Als er stirbt, hinterlässt er sie dem Priester Ignacio Aguirre, der dem europäischen Geheimdienst bei der Terrorbekämpfung helfen soll. Die Handschrift ist somit Leitmotiv des Romans, das illustrieren soll, dass bei jedem kulturellen oder religiösen Konflikt bzw. Krieg immer Unschuldige sterben. Zu Beginn des zweiten Romanabschnitts reist Ferdinand Arnaud nach Berlin, um dort seine Frau Miriam zu suchen, die bei einem Besuch ihrer jüdischen Eltern verschollen ist. Doch er muss feststellen, dass die ganze Familie wie vom Erdboden verschwunden ist und vermutlich deportiert wurde. In diesem Teil des Romans geht es zum einen um den Rassenwahn der Nazis, aber auch um die französische Kollaboration der Vichy-Regierung. Erst nach dem Krieg gelingt es Ferdinand herauszufinden, dass seine Schwiegereltern in Dachau vergast wurden und Miriam 1939 angeblich an Herzstillstand gestorben und in einem Massengrab verscharrt wurde. Interessant ist hier vor allem, dass die Schuld an der Vernichtung der europäischen Juden nicht allein den Deutschen angelastet wird – abermals das »Todos somos culpables«-Motiv, das Vázquez-Figueroa und Prieto verwenden: »Los alemanes son los principales culpables de lo sucedido pero no lo hicieron solos. ¿De verdad los políticos de Vichy no sabían lo que significaba mandar a sus conciudadanos a Auschwitz? […] Creo que algún día Europa tendrá que hacer examen de conciencia […].«52
Die aktuellen Probleme resultieren also aus Verbrechen der Vergangenheit, die nicht aufgearbeitet wurden. Auch Navarro appelliert, Verantwortung zu übernehmen und sich mit den Fehlern der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Während Ferdinand auch nach dem Krieg in Frankreich bleibt, wandert sein Sohn David nach Israel aus. Erst nachdem seine Mutter als Jüdin umgekommen ist, wendet David sich der Religion zu und wird Zionist. In Israel freundet er sich mit dem Palästinenser Hamza an. Obwohl beide niemals gegeneinander kämpfen wollen, werden sie von ihrem 52 Navarro, Julia: La sangre de los inocentes, Barcelona: Debolsillo 2008, S. 241f. 191
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Umfeld aufgehetzt und schließlich zum bewaffneten Kampf gezwungen. Als Hamzas Guerrilla-Truppe eines Tages in Davids Kibbuz eindringt, erschießt David seinen Freund Hamza. David wiederum wird vom Anführer der palästinensischen Kämpfer getötet. So werden aus Kindern, die – unbelastet von den Vorurteilen und Feindbildern der Elterngeneration – Freunde geworden waren, schließlich Feinde. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass es im Krieg keine Gewinner geben kann, sondern letztlich alle verlieren. Mit einem Sprung in die Gegenwart beginnt das letzte Drittel des Romans. Soeben haben islamische Extremisten in Frankfurt ein Attentat verübt. Die Mitarbeiter des Centro de Coordinación Antiterrorista der Europäischen Union bitten den Vatikan, ihnen bei der Aufklärung des Attentats und der Suche nach den Drahtziehern zu helfen. Der Leser erfährt, dass einer der Attentäter, Mohamed Amir, überlebt hat und Kontakt zu seiner Terrorzelle aufnimmt. Diese zwingt ihn, die Witwe eines in Frankfurt umgekommenen Attentäters zu heiraten und schickt ihn zu seiner Familie nach Granada, wo er einige Zeit untertauchen soll. Mohamed ist zum fanatischen Extremisten geworden, weil sein Wunsch, sich zu integrieren und akzeptiert zu werden, gescheitert ist: »Allí [en Pakistan] había encontrado un sentido a su vida, abandonando para siempre su pretensión de convertirse en un occidental. Durante años había soñado con poder confundirse con Granada, su ciudad, pero no lo había conseguido. Era diferente, diferente a aquellos estúpidos compañeros suyos de clase. Era diferente porque sus rasgos le delataban. »Moro«, le llamaban con desprecio algunos españoles, otros le trataban con deferencia, pero no era más que la cortesía con que se distingue a quien es diferente.«53
Man könnte Mohamed daher im Sinne Enzensbergers als »radikalen Verlierer« bezeichnen.54 Zwar sind seine Taten nicht zu entschuldigen, aber auch er ist ein Opfer – einer fremdenfeindlichen und exkludierenden Ge-
53 Ebd., S. 366. 54 Der »radikale Verlierer« wird von anderen als Verlierer wahrgenommen, übernimmt diese Fremdzuschreibung aber schließlich. Er ist gesellschaftlich isoliert, fühlt sich missverstanden und bedroht. Diese narzisstische Kränkung muss kompensiert werden. Aus Verzweiflung und der Suche nach Sündenböcken entstehen zunehmender Realitätsverlust, Rachebedürfnis, Männlichkeitswahn, ein kompensatorisches Überlegenheitsgefühl, die Fusion von Zerstörung und Selbstzerstörung sowie der Wunsch, Herr über das Leben der anderen und den eigenen Tod zu werden. Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: Schreckens Männer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 45. 192
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sellschaft. Navarro kritisiert, dass die spanische Gesellschaft einerseits Fremde ausgrenze, andererseits eine falsch verstandene Toleranz lebe: »La comunidad musulmana se extendía por todos los rincones ante los ojos de los españoles que, llevados por su afán de tolerancia y para que nadie pudiera acusarlo de perseguir a otras razas o religiones, se dejaban conquistar sin oponer resistencia.«55
Die Auftraggeber der Attentate bleiben anonym und ziehen im Hintergrund die Fäden. Nur andeutungsweise erfährt der Leser, dass einer der Hintermänner ein Waffenlieferant ist, der gezielt Konfrontationen und kriegerische Auseinandersetzungen provoziert, um Geschäfte zu machen. Der Kopf der Terrororganisation El Círculo, Salim el-Bashir, ist ein fanatischer Islamist, der sich vordergründig für die Versöhnung der Kulturen engagiert. Er hält Vorträge über Toleranz und die Versöhnung der Kulturen und Religionen, bereitet aber insgeheim Attentate vor. Die Ermittler finden schließlich heraus, dass drei Selbstmordanschläge in Istanbul, Rom und Jerusalem vorbereitet werden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, der dadurch erschwert wird, dass es in der Abteilung zur Terrorbekämpfung offensichtlich einen Maulwurf gibt, der mit den Drahtziehern der Attentate zusammenarbeitet. Wer sind die Menschen, die bereit sind, bei einem Selbstmordattentat zu sterben? Eine der Frauen, die sich bei einem Attentat in die Luft sprengen will, ist die Serbin Ylena. Mit zwölf wurde sie von Moslems, die ihr Dorf überfielen, vergewaltigt und verstümmelt: »Me encontraron al día siguiente. No podía hablar, ni andar, ni llorar. […] Me llevaron a un hospital y allí lograron devolverme a la vida. Tuvieron que operarme y vaciarme por dentro. Aquellos bestias… me destrozaron el útero, los ovarios… y además me mutilaron. […] Lo peor fue que a nadie le importó. La matanza que llevaron a cabo en mi pueblo, las violaciones… eso no salió en las noticias, nosotros éramos serbobosnios, y en aquella guerra nos había tocado el papel de malos. Cuando nuestros hombres destrozaban algún pueblo y violaban a sus mujeres se convertía en noticia internacional, pero si se violaba a las serbias tanto daba, el mundo entero clamaba por los bosnios y nada más. […] En realidad me mataron aquel día […] Al menos, con eso les devuelvo algo del mal que nos hicieron.«56
Ylena handelt also ebenfalls als radikale Verliererin. Sie will sich für das erlittene Unrecht rächen, indem sie das Zerstörungswerk ihrer Peiniger zu Ende bringt und gleichzeitig möglichst großen Schaden anrichtet. Wie 55 Navarro: Todos somos culpables, S. 398. 56 Ebd., S. 544. 193
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aus dem Zitat hervorgeht, wird die Unterteilung in Gut und Böse angesichts eines Krieges obsolet. Beide Seiten begehen Gräueltaten, unter denen immer Unschuldige leiden. Ein wesentlicher Unterschied zu vergleichbaren Romanen besteht bei Navarro darin, dass hier auch Frauen als Selbstmordattentäter agieren. Ylena wird in Istanbul zwar noch von der Polizei abgeführt, es gelingt ihr aber, die Bombe zu zünden. Zwar bleibt das geplante Massaker, bei dem die Reliquien Mohameds vernichtet werden sollen, aus, aber sie reißt zehn Polizisten mit in den Tod. Wie der Roman zeigt, ist es eher dem Zufall geschuldet, wenn es den Ermittlern gelingt, Attentätern auf die Spur zu kommen. Zwar bleiben die großen Katastrophen und Massaker aus, jedoch kann nie wirklich verhindert werden, dass die Attentäter sich und Unschuldige töten. Nazis und radikale Islamisten arbeiten bei Navarro Hand in Hand, um den verhassten Westen zu vernichten. Dabei werden sie von Waffenhändlern unterstützt, die ideologische Konflikte gezielt schüren, um Geld mit Waffenverkauf zu verdienen. Geschichte erscheint in Navarros Roman als ewiger Kampf zwischen denjenigen, die das Blut Unschuldiger vergießen und denen, die dieses Blutvergießen verhindern wollen.57
Fazit Sowohl die politologische Analyse von Fernando Reinares als auch der Roman von Vázquez-Figueroa setzen sich mit der Frage auseinander, wie man Terrorismus definieren kann. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass auch staatliche Gewaltanwendung terroristisch sein kann. Die Anschläge zeugen nicht von einem Kampf der Kulturen im Sinne Huntingtons, sondern könnten diesen erst hervorrufen. Wenn Terrorismus effektiv bekämpft werden soll, ist eine gerechtere Verteilung der Güter unabdingbar. Was in den USA als inkommensurables Ereignis erscheint, wird in Spanien mit anderen historischen Zäsuren wie z. B. dem Fall von Troja, dem Untergang Roms, dem Terror der Französischen Revolution, Hiroshima, dem Spanischen Bürgerkrieg, dem Zweiten Weltkrieg usw. verglichen. Damit wird die Bedeutung von 9/11 als Zäsur zwar relativiert, gleichzeitig aber betont, dass dieses Ereignis die ganze Welt zum Umdenken veranlassen muss. 57 Auch Reinares geht von einer Allianz zwischen arabischen islamischen Fundamentalisten und radikalen amerikanischen Christen aus, die Terrorakte planen. Sie verbinde der Hass auf die USA, die NATO und Israel. Vgl. Reinares, Terrorismus global, S. 46. 194
ZÄSUR ODER WIEDERKEHR DES IMMERGLEICHEN?
Dem Roman von Prieto liegt ein zyklisches Geschichtsbild zugrunde. Krieg und Frieden wechseln sich immer ab, Aufstieg und Fall der Reiche geschehen nach dem gleichen Muster. Die Friedenszeiten dienen dabei immer nur der Aufrüstung. Die Auswahl der historischen Zäsuren, die er als Beispiel anführt, zeugen jedoch von einer iberozentrischen Sicht auf Geschichte. Dem Ersten Hauptsatz der Thermodynamik folgend, wird die These vertreten, dass Energie weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur in andere Formen umgewandelt wird. Ebenso wechselt auch der Krieg im Laufe der Jahrhunderte lediglich seine Gestalt. Muñoz Molina wählt das Fenster als Leitmotiv für seinen Roman und illustriert damit die von Janzing explizierte Bildlogik von Gewaltexzessen. Mit den aus den Fenstern des World Trade Centers stürzenden Menschen greift Muñoz Molina auf Bilder historischer Fensterstürze zurück, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Über spanische Intertexte wie Lorca, Quevedo und Cervantes wird auf der Textebene an das kollektive Vorwissen angeknüpft. Auch hier dienen bekannte ästhetische Muster dazu, das eigentlich Unbegreifliche, Undarstellbare zu vermitteln In Julia Navarros Roman werden nicht nur die Folgen der Attentate oder die Reaktionen der Fernsehzuschauer beschrieben, sondern auch die Terroristen werden in den Blick genommen. Dabei zeigt sich, dass sie das sind, was Enzensberger »radikale Verlierer« genannt hat. Sie sind das Ergebnis sozialer Ungerechtigkeiten, gescheiterter Integration und falsch verstandener Toleranz. Navarro schildert, wie eine Frau, die im Jugoslawien-Krieg vergewaltigt und verstümmelt wurde, zur fanatischen Attentäterin wird. Das Thema der Terroristin und Selbstmordattentäterin kommt in 9/11-Romanen überhaupt vergleichsweise selten vor.58 Dies mag daran liegen, dass bei dieser Gattung Autoren gegenüber Autorinnen generell zu dominieren scheinen.59 Das Neuartige von 9/11 liegt für Vázquez-Figueroa und de Prada darin, dass die Fernsehzuschauer gewissermaßen Opfer der Medusa wurden, indem sie als Augenzeugen das Ereignis im Fernsehen verfolgten.60 58 Neben dem Roman von Navarro ist das einzige mir bekannte weitere Beispiel der Roman L’attentat von Yasmina Khadra. Vgl. Khadra, Yasmina: L’attentat, Paris: Julliard 2005. 59 Ausnahmen sind The Emperor’s Children von Claire Messud und really ground zero. 11. september und folgendes von Kathrin Röggla. Vgl. Messud, Claire: The Emperor’s Children, New York: Random House 2006 und Röggla, Kathrin: really ground zero. 11. september und folgendes, Frankfurt a.M.: Fischer 2001. 60 Hier wäre allerdings zu fragen, ob die Fernsehzuschauer wirklich als Augenzeugen im strengen Sinne bezeichnet werden können. Denn die synästhetische Qualität des Geschehens (wie z.B. Gerüche) ist nicht gegeben. 195
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Damit sind sie von den Bildern gelähmt worden. Beide Autoren greifen den Gedanken »Todos somos culpables« auf und verlangen ein globales Umdenken, um die Güter gerechter zu verteilen. Die Analyse zeitgenössischer spanischer Romane, die sich mit 9/11 beschäftigen, belegt, dass die Autoren an das kollektive Wissen ihrer spanischen Leser anknüpfen, um das Unbegreifliche einzuordnen und ästhetisch zu gestalten. Während einerseits auf Texte Bezug genommen wird, die zum kulturellen Gedächtnis der Spanier gehören, wird andererseits die Solidarität mit den Amerikanern in dem Sinne betont, dass die ganze Weltgemeinschaft aufgefordert ist, sich die Ursachen von Terrorismus genauer anzusehen und Verantwortung zu übernehmen. Die Terroranschläge zu verurteilen, gleichzeitig aber nicht gegen Korruption, Waffen- und Menschenhandel, Armut und Ausgrenzung vorzugehen, wird als doppelzüngige Heuchelei entlarvt, die Terroristen in die Hände spielt. Damit sollte deutlich geworden sein, dass 11-S in den untersuchten Romanen zwar als gravierendes Ereignis von globaler Bedeutung verstanden wird, das an die Grenzen der Vor- und Darstellbarkeit führt, jedoch nicht als traumatische kulturelle Zäsur, die inkommensurabel bleibt.
L i t e r at u r Beigbeder, Frédéric: Windows on the World, Paris: Gallimard 2003. Benaïssa, Slimane: La dernière nuit d’un damné, Paris: Plon 2003. Bolaño, Roberto: »Bescheidener Vorschlag«, in: Kirsten Brandt/Heinrich v. Berenberg (Hgg.), Roberto Bolaño. Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiographie, Berlin: Berenberg 2008, S. 59-62. Däwes, Birgit: »›The Obliging Imagination Set Free‹: Repräsentationen der Krise – Krise der Repräsentation in der U.S.-amerikanischen 9/11 novel«, in: Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen (Hgg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, Heidelberg: Winter 2008, S. 67-87. DeLillo, Don: Falling Man, New York: Scribner 2007. Enzensberger, Hans Magnus: Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Janzing, Godehard: »Fenstersturz als Fanal. Zur Bildlogik von Gewaltexzessen«, in: Isabella von Treskow u.a. (Hgg.), Bürgerkrieg. Erfahrung und Repräsentation, Berlin: trafo 2005, S. 73-102.
Gerade der Geruch nach verbranntem Menschenfleisch oder der Ascheregen auf der Haut werden in 9/11-Romanen besonders intensiv beschrieben. 196
ZÄSUR ODER WIEDERKEHR DES IMMERGLEICHEN?
Jarausch, Konrad H.: »Die Krise der nationalen Meistererzählung«, in: ders./Martin Sabrow 2002, S. 140-162. Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hgg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. Kepel, Gilles: Terreur et martyre. Relever le défi de civilisation, Paris: Flammarion 2008. Khadra, Yasmina: L’attentat, Paris: Julliard 2005. Lang, Luc: 11 septembre mon amour, Paris: Stock 2003. Messud, Claire: The Emperor’s Children, New York: Random House 2006. Meyer, Erik/Leggewie, Claus: »›Collecting Today for Tomorrow‹. Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ›Elften September‹«, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hgg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin, New York: de Gruyter 2004, S. 277-291. Muñoz Molina, Antonio: Ventanas de Manhattan, Barcelona: Seix Barral 2008. Navarro, Julia: La sangre de los inocentes, Barcelona: Debolsillo 2008. Prada, Juan Manuel de: La vida invisible, Madrid: Espasa Calpe 2007. Prieto, Antonio: Una y todas las guerras, Barcelona: Seix Barral 2003. Rancière, Jacques: Le destin des images, Paris: La Fabrique 2003. Reinares, Fernando: Terrorismus global. Aktionsfeld Europa, Aus dem Spanischen übersetzt von Sabine Giersberg, Mit einem aktuellen Kapitel für die deutsche Ausgabe von Fernando Reinares und einem Nachwort von Hans Leyendecker, Hamburg: EVA 2005. Reinares, Fernando: »Europa es blanco del terrorismo«, in: El país 6.6.2003, abrufbar unter http://www.elpais.com/articulo/internacional /Reinares/_Fernando/Europa/blanco/terrorismo/elpepiint/20030606el pepiint_2/Tes?print=1 (9.6.2009) Röggla, Kathrin: really ground zero. 11. september und folgendes, Frankfurt a.M.: Fischer 2001. Subirats, Eduardo: Violencia y civilización, Madrid: Losada 2006. Vázquez-Figeroa, Alberto: Todos somos culpables, Barcelona: Debolsillo 2004. Vicent, Manuel: »La flor de la paranoia«, in: El País 31.8.2008, abrufbar unter http://www.elpais.com/articulo/ultima/flor/paranoia/elpepiult/ 20080831elpepiult_1/Tes?print=1 (9.6.2009).
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I N D U S T R I E -P A R T I S A N E N . W I L L I A M G I B S O N S JOHNNY MNEMONIC, CARL SCHMITT U N D D E R 11. S E P T E M B E R JONAS ENGELMANN »Daß wir die Körper, inklusive unserer eigenen, zu verachten beginnen, […] das ist das zerebrale an der emportauchenden Gesellschaft.« Vilém Flusser
»Ausnahmezustand« – dieser umstrittene staatspolitische Begriff hatte nach den Anschlägen des 11. September 2001 Konjunktur. So kommt Mark Terkessidis beim Anblick der einstürzenden Türme des World Trade Center zu dem Schluss: »Zweifellos hat der elfte September dem Narrativ des Ausnahmezustands endgültig zum Durchbruch verholfen.«1 Auch Thorsten Schüller stellt fest, dass nach den terroristischen Anschlägen des 11.9. die Rede vom »Ausnahmezustand« in aller Munde war.2 Doch auch jenseits der Kulturwissenschaften wird immer wieder im Kontext der neuen weltpolitischen Lage mit diesem Begriff hantiert: »Der ›Krieg gegen den Terror‹ wird zu einer Metapher für den Ausnahmezustand«, schreibt Markus Vašek in der Zeitschrift »Juridikum«.3
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Mark Terkessidis: »Souveräne Interventionisten«, in: Redaktion Jungle World (Hg.): Elfter September Nulleins. Die Anschläge, Ursachen und Folgen. Ein Kongress-Reader, Berlin: Verbrecher Verlag 2002, S. 191200, hier S. 193. Thorsten Schüller: »Kulturtheorien nach 9/11«, in: Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien. Bielefeld: transcript 2009, S. 21-38. Schüller macht die in erster Linie an Giorgio Agambens Homo-sacer-Projekt fest. Siehe: Giorgio Agamben: Homo sacer. Ausnahmezustand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Markus Vašek: »Mit Carl Schmitt nach Guantánamo. Der Terrorist: ein moderner Partisan?«, in: Juridikum 1/2009, S. 18-20, hier S. 20. 199
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Mit dem »Ausnahmezustand« wurden nach dem 11. September auch die politischen Entscheidungen diverser Regierungen begründet. Alleine in Deutschland wurden noch im Jahr 2001 zwei so genannte Anti-TerrorGesetzespakete verabschiedet, die neben der Einführung des Paragrafen 129b auch Erweiterungen der Kompetenzen des BND und neue ausländerrechtliche Bestimmungen beinhalteten.4 Durch Otto Schilys AntiTerror-Pakete werde »der Ausnahmezustand zur Norm erhoben«, schrieb der Berliner Professor für Staats- und Verwaltungsrecht Martin Kutscha in einer Stellungnahme.5 Damit verweist Kutscha auf die Herkunft des Begriffes aus der Rechtslehre Carl Schmitts, die in der Verwendung des Wortes oftmals nicht mit reflektiert wird. Carl Schmitt, der aufgrund seiner nationalsozialistischen und antisemitischen Schriften unter den Nationalsozialisten nach 1945 bis an sein Lebensende mit einem Lehrverbot belegt wurde, führte den Begriff in seinem Werk Politische Theologie 1922 für die politische Theorie als einen Fall »äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen«6 fruchtbar ein.7 »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«8, heißt es in Schmitts Versuch einer juristischen Begründung diktatorischer Gesellschaftsstrukturen. Während Schmitt den Ausnahmezustand lediglich feststellt und als notwendig erachtet, gewissermaßen aus der Perspektive des Herrschenden auf ihn blickt, findet sich in Walter Benjamins Auseinandersetzung mit dem Begriff in seinen Denkbildern Über den Begriff von Geschichte – seinem letzten Text bevor er auf der Flucht vor den Nationalsozialisten über die Pyrenäen Selbstmord beging – die Perspektive des Unterdrückten wieder: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die
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Vgl. hierzu Emma Schuster/Stefan Käsewieter: »Sicherheit im Paket. Die neuen deutschen Anti-Terror-Gesetze im Überblick«, in: Jungle World 16/ 2002, S. 28-31. Zitiert nach: Thies Marsen: »Das kleine Horrorpaket«, in: Jungle World 50/ 2001, S. 6. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Duncker und Humblot 1993, S. 14. Vgl. zu Carl Schmitts Verstrickung in den Nationalsozialismus Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 19331944, Frankfurt am Main: Fischer 1984, S. 194-197. Schmitt: Politische Theologie, S. 13. 200
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Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.«9
Das nationalsozialistische Deutschland hatte den Ausnahmezustand als Permanenz gesetzt und damit gezeigt, wie dieser zur Regel werden kann. In seinem Passagenwerk schreibt Benjamin in ähnlicher Absicht »Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.«10 Giorgio Agamben, der sich zuletzt mit dem Begriff »Ausnahmezustand« auseinander setzte, nimmt ebenfalls die Perspektive des Unterdrückten ein und sieht angesichts des Prozesses der Auflösung großer staatlicher Strukturen Benjamins These der Permanenz des Ausnahmezustands erneut bestätigt. Daher versucht Agamben »das Problem der Grenzen und der originären Struktur der Staatlichkeit erneut und in einer neuen Perspektive aufzuwerfen.«11 Eine solche Auseinandersetzung mit dem Begriff und dessen Hintergrund erscheint angesichts des inflationären Gebrauchs im Kontext der Anschläge des 11. September durchaus nötig, wird er sich doch von diversen Seiten angeeignet, um dem eigenen Handeln im Sinne Schmitts eine Legitimation zu verschaffen. »Die Erklärung des Ausnahmezustandes stärkt die Staaten, denn solange der Ausnahmezustand herrscht, solange also die Menschen sich bedroht fühlen, bleibt die Legitimität der staatlichen Akteure erhalten«12, so Terkessidis. Der Ausnahmezustand kann als ein Zusammenbruch bestehender Strukturen beschrieben werden, die von einer sich selbst zum Souverän erklärenden Macht neu gesetzt werden. Das literarische Genre der Science Fiction, um das es im Folgenden gehen soll, kann als Versuch betrachtet werden, einen solchen, in die Zukunft verlagerten Zusammenbruch zu sehen, zu beschreiben und so greifbar zu machen. In diesem Text soll daher eine fast 30 Jahre alte Science-Fiction-Erzählung William Gibsons zur Analyse der Ereignisse des 11. September 2001 herangezogen werden, um herauszuarbeiten, inwieweit dort Strukturen der Ereignisse des 11. September, im Sinne eines Eindringens in bestehende
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Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: dsb.: Gesammelte Schriften. Band I.2. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 691-704, hier S. 697. 10 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Band V.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 592. 11 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 22. 12 M. Terkessidis: Souveräne Interventionisten, S. 196. 201
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Machtstrukturen, abgebildet werden. Die theoretische Grundlage der Analyse wird Carl Schmitts Theorie des Partisanen von 1962 darstellen, der dort – der Science Fiction nicht unähnlich – für die Zukunft die Entstehung so genannter Industrie-Partisanen prophezeit, die sich, assimiliert an den Stand der Technik, gegen die Durchrationalisierung der Gesellschaft wenden.
Science Fiction William Gibsons Erzählung »Johnny Mnemonic« von 1982 birgt bei genauer Lektüre eine Reihe von Themen in sich, die fast prophetisch die Anschläge auf das World Trade Center vorausahnen. Das Prophetische ist natürlich im Bereich der Science Fiction nichts ungewöhnliches, ist sie doch eine Form von Literatur, die qua Genre bereits versucht, ihrer Zeit voraus zu sein, der Zukunft auf halbem Weg entgegenzukommen. Science Fiction gilt daher seit ihren Anfängen, Jules Verne und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, als visionäre Vorausnahme von Ereignissen, von denen die Menschheit seit Jahren träumt, die jedoch erst sehr viel später zur Realität werden sollten, wie etwa die bei Verne beschriebene Reise zum Mond.13 Doch nicht nur auf technischer, auch auf gesellschaftlicher Ebene bildeten viele Werke der Science Fiction utopische Ideen ab, von denen einige tatsächlich Realität wurden: so gab es an Bord des Raumschiff Enterprise bereits in den 1960ern schwarze Führungsoffiziere14, ebenso wie ein friedliches Nebeneinander russischer und amerikanischer Kollegen. Science Fiction ist immer auch eine Gegenwartsdiagnose, die sich auf zwei Arten in den Text einschreiben kann: entweder unbewusst als »ideologisches Projekt«, wie Pierre Macherey an Verne herausgearbeitet hat,15 oder als vom Autoren als solche inten-
13 Vgl. hierzu auch Christof Wolf: Zwischen Illusion und Wirklichkeit: Wachowskis Matrix als filmische Auseinandersetzung mit der digitalen Welt, Berlin/Hamburg/Münster: LIT Verlag 2002, S. 21 f. 14 Nichelle Nichols, die den weiblichen und schwarzen Kommunikationsoffizier Uhura spielt, wurde angeblich von »Martin Luther King persönlich dazu bestärkt, diese Rolle weiterzuspielen, sah er doch den symbolischen Wert dieser Figur für die schwarze Bürgerrechtsbewegung.« Alexander Ruoff: »Science Fiction und bürgerliche Utopie. Zukunftsvorstellungen nach Auschwitz«, in: jour fixe initiative berlin (Hg.): Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft, Münster: Unrast 2000, S. 244. 15 Vgl. Pierre Macherey: Zur Theorie der literarischen Produktion. Studien zu Tolstoij, Verne, Defoe, Balzac, Darmstadt: Luchterhand 1974, S. 80 ff. 202
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diert.16 Barthes schreibt über Jules Verne, »sein Werk verkündet, daß nichts dem Menschen entgehen kann; daß die Welt, selbst die fernste, wie ein Objekt in seiner Hand ist; daß das Eigentum alles in allem nichts anderes ist als ein dialektischer Moment in der allgemeinen Dienstbarmachung der Natur.«17 Weil sich Texte der Science Fiction immer im Spannungsfeld zwischen Utopie und Gegenwart bewegen, lassen sich an ihnen Einbrüche in das reale Ordnungsgefüge nachvollziehbar und greifbar machen. Dem »Vervollkommnen der Welt«, wie Roland Barthes über das Werk Jules Vernes zusammenfassend anmerkt18, steht eine dystopische, düstere Form der Science Fiction gegenüber, in der der Mensch nicht mehr die Kontrolle über die Welt besitzt, sondern sich vielmehr in einem undurchschaubaren Netzwerk befindet, das er nicht mehr zu steuern vermag. Vorläufer dieser Form von Science Fiction ist die in den 1960ern entstandene sogenannte New Wave19, »die sich nicht mehr für die Details technischer Entwicklungen, sondern für die Auswirkungen dieser auf die Menschen und deren Realitätswahrnehmung interessierten.«20 Die Unterwerfung der Natur kippt in der New Wave der Science Fiction und insbesondere bei jenen Autoren der frühen 1980er-Jahre, die bereits das Internet und die virtuellen Welten vorausahnend in ihre Texte aufnahmen, in eine Beherrschung des Menschen durch die von ihnen geschaffene künstliche Natur; Filme wie The Matrix oder eXistenZ haben sich dieser Themen angenommen. Es geht somit nicht mehr um die Frage »Wann wird das Beschriebene geschehen?«, sondern vielmehr »Wie wirklich ist das, was wir als Realität wahrnehmen?«, wie Moritz Baßler
16 So hat Macherey Verne – viele Jahre bevor Edward Said die kontrapunktische Lektüre populär gemacht hat – hinsichtlich dessen, was seine Texte nicht sagen, was sie verschweigen, interpretiert. Gerade im Kontext des Kolonialismus, der Eroberung neuen Raums, kann man Verne mit Macherey als einen Vertreter des ideologischen Überbaus des Projektes lesen: »Jules Verne will eine Notwendigkeit darstellen, übersetzen, die zutiefst ideologisch ist, nämlich eine bestimmte Idee der Arbeit, der Eroberung, die im Zentrum seines Werks steht.« (Macherey, S. 162.) Ob dies bewusst intendiert ist, oder sich unbewusst in den Text einschreibt, bleibt dabei unerheblich. Die Autoren der Enterprise dagegen wollten mit ihrem utopischen Gesellschaftsbild durchaus bewusst ein Zeichen setzen. 17 Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 40. 18 R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 39. 19 In Anlehnung an die französische Filmbewegung Nouvelle Vague. 20 Andreas Rauscher: Das Phänomen Star Trek. Virtuelle Räume und metaphorische Weiten, Mainz: Ventil Verlag 2003, S. 350. 203
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ausführt.21 Manfred Geier schreibt zu dieser neuen Form der Science Fiction: »Anfang der achtziger Jahre betrat eine neue Generation die Science-Fiction-Szene. Sie verknüpfte die Projekte und Projektionen von Kybernetik, Automatentheorie, Künstlicher Intelligenz und maschineller Simulation mit den Körpererfahrungen von Menschen, die sich an virtuelle Welterzeugungen und simulative Hyperrealitäten ankoppeln.«22 Einer der visionärsten Science-Fiction-Autoren dieser Jahre dürfte neben Philipp K. Dick William Gibson sein.
D i e Re al i t ät u n d d i e S c i e n c e F i c t i o n Doch manchmal werden auch Science-Fiction-Autoren von der Realität eingeholt: Gibson beschreibt in einem Interview, dass er seinen Roman Pattern Recognition, der am 11. September 2001 bereits 100 Seiten umfasste, nach dem Ereignis umschreiben musste, da die Hintergrundgeschichte der Charaktere nun keinen Sinn mehr ergab.23 Gibson beschrieb die Anschläge in einem Interview als eine »Erfahrung jenseits der Kultur«24, und den »wahren Beginn des 21. Jahrhunderts«25. Pattern Recognition gilt mithin als einer der ersten amerikanischen Romane, die den 11. September literarisch zu fassen versuchten.26 Slavoj Žižek hat in Willkommen in der Wüste des Realen geschrieben, die Anschläge des 11. September seien »lange, bevor sie stattfanden, bereits Gegenstand populärer Fantasie«27 gewesen. Einer derjenigen,
21 Moritz Baßler: »Moderne und Postmoderne. Über die Verdrängung der Kulturindustrie und die Rückkehr des Realismus als Phantastik«, in: Sabina Becker, Helmuth Kiesel, Robert Krause (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin u.a.: Walter de Gruyter 2007, S. 435-450, hier S. 447. 22 Manfred Geier: Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos Literatur Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 270. 23 Vgl. Dennis Lim: »Think Different«, in: Village Voice vom 11.3. 2003. 24 Vgl. Andrew Leonard: »Nodal Point. William Gibson talks about how his new present-day novel, ›Pattern Recognition‹, processes the apocalyptic mind-set of a post-9/11 world«, in: http://www.salon.com/tech/books/2003/ 02/13/gibson/print, 30.03.2009. 25 Vgl. Angela Bennie: »A reality stranger than fiction«, in: Sydney Morning Herald vom 7.9.2007. 26 Vgl. Joe Wiebe: »Writing Vancouver«, in: The Vancouver Sun vom 13.10.2007. 27 Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen. Deutsch von Maximilian Probst, Wien: Passagen Verlag 2004, S. 25. 204
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die diese populäre Fantasie genährt haben, ist zweifelsohne William Gibson selber. Doch was ist der Mehrwert einer solchen Analyse, welche Erkenntnis kann man daraus ziehen, dass der Anschlag der Zwillingstürme den Menschen vor ihren Fernsehern erschien »wie im Film«28? Klaus Theweleit beschreibt in seiner Analyse der Reaktionen auf den 11. September: »Kommentatoren, die erschreckt Filme auflisteten, in denen sie ähnliches oder Gleiches bereits gesehen hatten, wussten meist nicht und sind bis heute eher ratlos, was diese Listen eigentlich sagen oder bedeuten.«29 Was Klaus Theweleit hier beschreibt ist nichts anderes als das Problem der Nicht-Reflexion des Ausnahmezustandes: es werden Begriffe oder Bilder herbeizitiert, ohne jedoch nach deren Hintergrund und Bedeutung für die Analyse der Ereignisse zu fragen. Bei den von Theweleit angesprochenen Beschreibungen geht es meist um die medialen Bilder der Anschläge, die strukturell Verbündeten des Ausnahmezustandes, wie Terkessidis schreibt,30 die aus Katastrophenfilmen bekannt erschienen. Es soll hier jedoch nicht um Bilder gehen, die, wie Žižek schreibt, »die von Hollywood Verdorbenen […] nur an die atemberaubendsten Szenen der großen Hollywoodfilme«31 denken lassen konnten. Vielmehr sollen Strukturen untersucht werden, die durch den 11. September offensichtlich wurden: Schläfer, das Eindringen primitiver Waffentechnik in einen hochgerüsteten Staat, die Opferung des eigenen Lebens für eine – zumindest in den Augen der Selbstmordattentäter – höhere Sache, etc. Durch Science Fiction, wenn man sie als eine Form der objektiven Fantasie versteht, lässt sich womöglich leichter begreifen, was am 11. September passiert ist, da sie gerade nicht versucht »Realität« abzubilden, sondern vielmehr, mögliche Realitäten zu imaginieren. Dabei soll auf Carl Schmitts Theorie des Partisanen zurückgegriffen werden, die anders als die »großen Hollywoodfilme« keine Bildassoziationen weckt, jedoch Strukturen beschreibt, die sich sowohl in William Gibsons Erzählung, als auch im Kontext des 11. September wiederfinden lassen.
28 Vgl. Bernd Scheffer: »›… wie im Film‹. Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods«, in: Mathias N. Lorenz (Hg.): Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. Septembers 2001, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 81-103. 29 Klaus Theweleit: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell, Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld/Roter Stern 2002, S. 261. 30 M. Terkessidis: Souveräne Interventionisten, S. 196f. 31 S. Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen, S. 23. 205
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Willkommen im Cyberspace William Gibson wurde einem größeren Publikum durch seinen Roman Neuromancer von 1984 bekannt. Manfred Geier bemerkt zu diesem Roman: »William Gibson schreibt Science Fiction. Mehrmals hat er betont, daß es naiv wäre, seine Einfälle als Prognosen dessen zu lesen, was wirklich geschehen oder stattfinden könnte. […] Aber in einer Hinsicht sind sie dennoch realistisch. Sie entwerfen das Bild einer Gesellschaft, in der das körperliche Dasein zurückgedrängt wird zugunsten eines telematischen Vagabundierens in reinen Informationsnetzwerken.«32
Aus zwei Gründen muss man dieser Aussage widersprechen: so existieren bereits in Neuromancer Menschen, die ihre Körperlichkeit im Krieg suchen; in Johnny Mnemonic wird noch stärker die Rückkehr des Körpers in die entmaterialisierte Welt, die Rückkehr des Materiellen in den Krieg gegen die Vormacht des »Unnatürlichen«, des Technisierten und der globalen Machtentfaltung einiger weniger Konzerne beschrieben. Daher ist auch Gibsons Selbsteinschätzung, seine Literatur habe nichts mit einer zukünftigen Realität zu tun, zu widersprechen. Bereits die ersten Sätze von Johnny Mnemonic lassen die Vorbereitung eines terroristischen Anschlages anklingen: »I put the shotgun in an Adidas bag and padded out with four pairs of tennis socks, not my style at all, but that was what I was aiming for: If you think you’re crude, go technical; if they think you’re technical, go crude. […] These days, though, you have to be pretty technical before you can even aspire to crudeness. «33
Die Attentäter des 11. September waren ebenfalls darauf bedacht, sich primitiver Technik, wenn man Flugzeuge einmal als solche betrachten will, zu benutzen, um überhaupt die Wirkung entfalten zu können, die sie schlussendlich hatten. Der Erzähler und Protagonist von Gibsons Erzählung ist Johnny Mnemonic, der für verschiedene Auftraggeber Informationen schmuggelt, die er in ein Implantat in seinem Kopf einspeisen kann. Martina Mittag schreibt:
32 M. Geier: Fake, S. 275. 33 William Gibson: »Johnny Mnemonic«, in: Ders.: Burning Chrome, New York: Harper Collins 2003, S. 1-23, hier S. 1. 206
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»Johnny Mnemonic ist vergleichbar mit einer wandelnden Floppy im Dienst kapitalistischer Interessen, eine Floppy, die nichts von sich selbst weiß, und Gefahr läuft, zu reiner Materialität reduziert zu werden. Er ist im wörtlichen Sinn Datenträger.«34
Einer seiner Auftraggeber ist der Hehler Ralfi Face, der als faschistoider Charakter eingeführt wird. Er hat sich durch plastische Chirurgie ein neues Äußeres verpasst: »Built something like an overripe pear, he’d worn the once-famous face of Christian White for twenty years – Christian White of the Aryan Reggae Band, Sony Mao to his generation, and final champion of race rock.«35
Christian White – in diesem Kontext ein sprechender Name. Der Zugangscode zu den Informationen in Johnnys Kopf entpuppt sich dann schließlich auch als Hakenkreuz. »Ralfi Face. No imagination«36, kommentiert Johnny Mnemonic. Überwachung und Kontrolle sind in der von Gibson beschriebenen globalisierten Welt total: »We’re an information economy. They teach you that in school. What they don’t tell you is that it’s impossible to move, to live, to operate at any level without leaving traces, bits, seemingly meaningless fragments of personal information. Fragments that can be retrieved, amplified… «37
Ganz ähnlich beschreiben Konrad Schüttauf und Gerd Brudermüller die Entwicklung der Globalisierung, allerdings ohne diese, wie Johnny Mnemonic, zu problematisieren: »Der Einsatz von Satelliten auch zur zivilen Nachrichtenübermittlung eröffnete die Möglichkeit weltweiter Kommunikation in einem bislang nicht gekannten Ausmaß und mit un-
34 Martina Mittag: »Cyberidentitäten – Von resonierenden und räsonierenden Subjekten«, in: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt am Main: Campus 2002, S. 441-457, hier S. 441. In der Verfilmung der Erzählung, die hier nicht behandelt werden soll, hat Johnny Mnemonic gar die Erinnerung an seine Kindheit gelöscht, um mehr Speicherplatz freizugeben. 35 W. Gibson, »Johnny Mnemonic«, S. 3. 36 Ebd., S. 13. 37 Ebd., S. 17. 207
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geahnten Geschwindigkeitsraten.«38 Johnny hat die Überwachung verinnerlicht und versucht, unterhalb des Radars durchs Raster zu schlüpfen. Die Welt ist beherrscht von multinationalen Konzernen – daher ist die Rede von der globalisierten Welt durchaus zutreffend –, die mafiose Strukturen angenommen haben: »Where do you hide from the Yakuza, so powerful that it owns comsats and at least three shuttles. […] The Yakuzi is a true multinational, like ITT and Ono-Sendai.«39 Auch Ralfi Face gerät schließlich zwischen die Fronten und wird vom Auftragskiller eines Konzerns ermordet, gerade als Johnny ihn zur Rede stellt, da der Auftrag geplatzt ist, und er die Informationen in seinem Kopf loswerden und seinen Lohn kassieren will. Johnny entkommt dem Auftragskiller, der hinter den Daten in seinem Kopf her ist, mit Hilfe von Molly Millions, die ihn zu den Lo Teks – wieder ein sprechender Name – führt, einer im Untergrund operierenden Gruppe, die mit primitiven Waffen gegen die Macht der Konzerne ankämpft und sich mit Schwarzhandel über Wasser hält. »The Lo Teks leech their webs and huddling places to the city’s fabric with thick gobs of epoxy and sleep above the abyss in mesh hammocks. Their country is so attenuated that in places it consists of little more than holds for hands and feet, sawed into geodesic struts.«40
Während der Killer sich an ihre Fersen heftet, entschlüsselt ein Freund von Molly, ein drogensüchtiger Cyborg-Delfin – »surplus from the last war«41–, den Zugangscode zu Johnnys Implantat. Der Killer trifft schließlich bei den Lo Teks ein und wird von Molly in einem Zweikampf auf dem sogenannten Killerparkett – einer Art Trapez – durch einen »culture shock«42 getötet. Das primitive Leben der Lo Teks läutert Johnny und er bleibt bei ihnen: »When I looked out across the Killing Floor, before he [der Killer, J.E.] came, I saw the hollow I was. And I knew I was sick of being a bucket.«43 Seinen Lebensunterhalt verdient er zukünftig durch Erpressungen über die in seinem Kopf gespeicherten Informationen.
38 Konrad Schüttauf/Gerd Brudermüller: »Vorwort«, in: dies. (Hg.): Globalisierung: Probleme einer neuen Weltordnung, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, S. 7-10, hier S.7. 39 W. Gibson, »Johnny Mnemonic«, S. 18. 40 Ebd., S. 17. 41 Ebd., S.10. 42 Ebd., S. 22. 43 Ebd., S. 22f. 208
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Alles Leben in der von Gibson beschriebenen Welt wird dominiert und determiniert von der Macht der Großkonzerne, die scheinbar sämtliche Fäden des Weltgeschehens in der Hand haben und Störungen der Machtverhältnisse über ihre Killer lösen lassen. Die einfachen Bewohner dagegen scheinen mehr zu vegetieren, als ein eigenständiges Leben zu führen: »The concrete walls were overlaid with graffiti, years of them twisting into a single metasrawl of rage and frustration.«44 Dieser Verweis auf die damals noch neue Theorie Jean Baudrillards zum Graffiti ist insofern im Kontext der Erzählung Gibsons interessant, als dass es in beiden Fällen um einen Einbruch in die Informationsgesellschaft, das Unterwandern von Strukturen durch Zeichen ohne Bedeutung. Baudrillard schreibt über die Graffiti: »Ein neuer Typ der Intervention in die Stadt, nicht mehr als Ort der ökonomischen und politischen Macht, sondern als Zeit/Raum der terroristischen Macht der Medien, der Zeichen und der herrschenden Kultur.«45 Gegen diese Undurchschaubarkeit einer globalisierten Welt setzen die Lo Teks die idealisierte Version eines einfachen, dem technischen Stand entsprechenden ›natürlichen‹ Lebens jenseits einer Vereinzelung des Menschen, sondern vereint in einem gemeinschaftlichen Kampf gegen einen abstrakten Feind. Mark T. Berger bemerkt hierzu: »In Gibson’s future the subaltern classes engage in an array of localized rebellions and everyday forms of resistance […].«46 Durch die Folgen der Globalisierung wird eine Front gegen die diffuse neue Machtverteilung geformt. Johnny Mnemonic bewegt sich in jeder Hinsicht in einer Zwischenwelt. Zu keiner Welt wirklich gehörig, mit einer teilweise gelöschten eigenen Identität lebt er in einer Zwischenwelt. »Die Maschinen vermischen sich so sehr mit der menschlichen Kultur, dass Mensch und Maschine nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, mehr noch: das Zukunftswesen weiß selbst nicht mehr, wie viel Mensch und wie viel Maschine es ist.«47
44 Ebd., S. 9 45 Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Aus dem Französischen von Hans-Joachim Metzger. Berlin: Merve 1978, S. 25. 46 Mark T Berger: »The Triumph of the East? The East Asian Miracle aons post-Cold War capitalism«, in: Douglas A. Borer(Hg.): The rise of East Asia: critical visions of the Pacific century, London: Routledge 1997, S. 260-287, hier S. 282. 47 Georg Seeßlen/Fernand Jung: Science Fiction. Grundlagen des populären Films, Marburg: Schüren 2003, S. 523. 209
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Das Einspeisen von Wissen in den Körper, das Leben als Prothesenwesen, birgt zwangsläufig massive Identitätsprobleme für die Betroffenen in sich: Wer ist man? Kann man so etwas wie eine eigene Identität unter diesen Umständen noch bestimmen? Der künstliche Mensch ist ein klassisches Thema der Science Fiction, was auch Georg Seeßlen und Fernand Jung herausarbeiten: »Wenn es künstliche Menschen gibt, dann wissen wir weder mehr genau, was ›der Mensch‹ ist, noch was ›ich‹ und ›du‹ für Bedeutungen haben.«48 Das eingespeiste Wissen, die gespeicherten Informationen über Geldströme und Konzernverwicklungen, bleibt in der Erzählung Gibsons dem direkten Abruf unverfügbar und birgt eine Wahrheit über die Strukturen der Welt, die die nicht involvierte Bevölkerung ausschließt und ihr für immer verschlossen bleiben muss. Stattdessen imaginiert sie sich einem Feind gegenüber, gegen dessen Strukturen sie mit ihren primitiven Waffen anzukämpfen versucht, bildet sich eine Gegenwahrheit. Johnnys sprechender Name macht auf die Problematik des Konflikts zischen den beiden Formen von Wissen deutlich, auf die neue Dimension des Einschreibens in den Körper auf der einen und die neue Struktur der verwalteten Welt auf der anderen Seite. Bei Gibson befindet sich Johnny Mnemonics Körper in einem Zwischenstadium zwischen künstlich und real; mit den Lo Teks beschreibt er gleichzeitig die Rückkehr des Körpers in den Krieg, die Rückkehr des Materiellen in den Kampf gegen die Gesellschaft: Statt Flugzeugen benutzen die Kämpfer in Johnny Mnemonic selbstgebaute Revolver, die aufgrund ihrer Primitivität von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als Gefahr erkannt werden.
Partisanen Die Lo Teks in der Erzählung Gibsons verstehen sich als legitimierte Kämpfer gegen die zunehmende Technisierung der Welt, als Kritiker eines Systems der Unterdrückung durch das, was man heute wohl als Globalisierung oder in der Terminologie von Negri und Hardt mit »Empire« umschreiben würde.49 48 G. Seeßlen/F. Jung: Science Fiction, S. 477. 49 »Die Genealogie des Empire ist […] eurozentrisch, ihre gegenwärtigen Machtzentren sind hingegen an keine geografische Region gebunden. Herrschaftslogiken, die in gewissem Sinne aus Europa oder den vereinigten Staaten stammen, begründen und stützen heutzutage Herrschaftspraktiken auf der ganzen Welt.« Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt am Main: Campus 2002, S. 14. 210
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Frantz Fanon konnte im konkreten Kampf von Kolonisierten gegen Kolonisatoren in Die Verdammten dieser Erde noch schreiben: »Die Intuition der kolonisierten Massen begreift […] plötzlich, daß ihre Befreiung durch Gewalt geschehen muß und nur durch Gewalt geschehen kann.«50 Mit der zunehmenden Globalisierung sind die Konfliktlinien nicht mehr so eindeutig zu bestimmen. Carl Schmitt entwickelte seine Theorie des Partisanen dagegen im politischen Kontext der Befreiungsbewegungen gegen den Kolonialismus Anfang der 1960er, was seine Überlegungen zur Zukunft des Partisanen, auf die ich weiter unten eingehen werde, umso erstaunlicher erscheinen lässt. »Der Partisan ist derjenige, der hundertprozentig Partei ergriffen hat«51, sagt Schmitt in einem Gespräch mit Joachim Schicke. Bei Gibson hat der Partisan Partei ergriffen gegen die Technisierung der Gesellschaft und die Globalisierung, und erscheint wie bei Schmitt als »der Retter des Politischen in einer Welt, in der die Souveränität preisgegeben wird.«52 Nach Schmitt ist der Partisan als radikaler, außerstaatlicher Ausnahmezustand zu verstehen; während der Ausnahmezustand bei Schmidt noch bestimmten Regeln folgt, so gelten für den Partisanen keine Regeln mehr.53 Die Definition der Lo Teks als Partisanen im Sinne Schmitts erscheint gerechtfertigt, betrachtet man seine Schrift zu dieser Thematik genauer. Ein Charakteristikum des Partisanen ist, »dass er dem herrschenden politischen Ordnungsgefüge den Krieg erklärt, ohne sich den eingespielten Regeln des Krieges zu unterwerfen.«54 Schmitt selber schreibt: »Der moderne Partisan erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegen-Terror bis zur Vernichtung steigert.«55 Der Begriff vom gehegten Krieg ist bei Schmitt zentral. Burkhard Liebsch definiert ihn wie folgt: »Im gehegten Krieg treten territorial klar abgegrenzte Staaten, als personae publicae 50 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 61. 51 Joachim Schicke: Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin: Merve 1993, S. 24. 52 Gerhard Scheit: Suicide Attack, Zur Kritik der politischen Gewalt. Freiburg: ça ira 2004, S. 359. 53 Vgl. Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin: Duncker und Humblot 1993, S. 18. 54 Wolfgang Lange: »Literatur im Extrem. Georg Büchners Woyzeck«, in: Leonhart Fuesd/ Jörg Löffler (Hg.): Diskurse des Extremen: über Extremismus und Radikalität in Theorie, Literatur und Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 107-132, hier S. 114. 55 Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 17. 211
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vorgestellte ›Raumeinheiten‹, in einer Duell-analogen Auseinandersetzung gegeneinander an, die sich als justi hostes betrachten und sich nicht das Recht anmaßen, über das Recht der gegnerischen Partei zu befinden.«56 Ein »gehegter Krieg« findet nicht mehr statt, da die Regeln für diesen außer Kraft gesetzt sind – sowohl bei Gibson, wie auch im Kontext der Anschläge vom 11. September. Auch die Lo Teks verweigern sich dem politischen Ordnungsgefüge, und verstecken sich »in der Grube, tief unten, wo jeder äußere Einfluss sofort konzentrische Wellen der Bedrohung schlägt.«57 Schmitt bestimmt als Kriterien des Partisanen vier Elemente: die Irregularität, die gesteigerte Mobilität im Kampf, das gesteigerte politische Engagement und den tellurischen Charakter. »Der Partisan kämpft irregulär«58, lautet einer der zentralen Sätze in Schmitts Theorie des Partisanen. Er definiert sich immer nur negativ über die Regularität seines Antipoden, des Soldaten.59 »Der Partisan ist sozusagen ein Einzelkämpfer des Ausnahmezustands, Stellvertreter einer Souveränität, die objektiv verdrängt worden ist«60, so Gerhard Scheit. Anders als in seiner Schrift Der Begriff des Politischen von 1932, nach der sich ein Volk nach dem Ende des Staates in einen vorpolitischen Zustand begibt und von einem fremden Volk beherrscht wird61, wird in seinem Werk von 1962 nun der defensive Partisan aktiv, der im Namen des Volkes die politische Entscheidung in die Hand nimmt. Er kämpft gegen die Eindringlinge, die dem Volk ihre Ordnung aufzuzwingen versuchen. Während der Ausnahmezustand Teil eines geregelten Ablaufs ist, in dem aus dem Feind ein Gegner wird, wird das Ende der Antagonismen durch die Globalisierung in der Figur des Partisanen ausgedrückt.
56 Burkhard Liebsch: »Aus Feindschaft geboren? Carl Schmitt, Edgar Morin, Jan Patočka und die europäische Gegenwart. Mit einem Nachtrag zum Geschichtszeichen des 11. September«, in: Christian Geulen/Anne von der Heiden/Burkhard Liebsch (Hg.): Vom Sinn der Feindschaft, Berlin: Akademie Verlag, 2002, S. 17-52, hier S. 26. 57 W. Gibson, »Johnny Mnemonic«, S. 18. 58 Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 11. 59 Vgl. Schmitt, Theorie des Partisanen, ebd. Schmitt leitet den Begriff des Partisanen aus dem Widerstand gegen die Napoleonische Armee her, Vgl. ebd. 60 Scheit: Suicide Attack, S. 359. 61 »Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.« Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 7. Auflage, Berlin: Duncker und Humblot 2002, S. 54. 212
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In diesem Kampf hilft dem Partisanen das zweite von Schmitt angeführte Merkmal, die gesteigerte Mobilität in der Kampfführung. Dazu gehört nicht nur, dass sie aus dem Hinterhalt kämpfen, ein anderer zentraler Aspekt ist ihre Tarnung, das Sich für den Feind Unsichtbarmachen: darin »steckt die Überlegenheit des Partisanen gegenüber dem uniformierten, d.h. dem öffentlich kennbar gemachten Gegner.«62 Sie sind »Schläfer«, die sich in der Zivilbevölkerung tarnen und sich außerhalb ihres Kampfes unauffällig verhalten63, wie sich auch Johnny Mnemonic zu Beginn der Erzählung seiner Unauffälligkeit versichert: »I checked myself out in the chrome siding of a coffee kiosk., your basic sharp-faced Caucasoid with a ruff of stiff, dark hair.«64 Zentral ist auch das politische Selbstverständnis des Partisanen, der nicht aus Gewinnsucht handelt, sondern für ein politisches Ziel.65 Seine Legitimität bezieht der Partisan dabei der aus Traditionen seines Volkes und deren Institutionen, in deren Namen er den Angreifer oder Besatzer zurückzuschlagen versucht, was Schmitt den tellurischen Charakter des Partisanen nennt.66 Dies ist natürlich in Gibsons Erzählung abstrakter gestaltet, da die Besatzung sich nicht mehr konkret darbietet, sondern vielmehr in Form ökonomischer Verhältnisse, gegen die die Lo Teks im Namen der von der Ökonomie Ausgeschlossenen ankämpfen. Dabei zeichnet sie »die Bereitschaft zum Nichts, welches der Tod ist«67 aus, am Deutlichsten wohl in der Institution des Killerparkett zu sehen. Auch Gerhard Scheit spricht im Kontext von Schmitts Theorie des Partisanen vom »selbstbestimmten Opfer«68, das ihn kennzeichne und schreibt weiter, »die in den frühen sechziger Jahren konzipierte Partisanen-Theorie erscheint wie eine Beschwörung des islamistischen Selbstmordattentäters von heute.«69 Interessanterweise blieb Schmitt in seinen Ausführungen nicht bei einer Beschreibung seiner damaligen Gegenwart stehen, sondern entwarf auch ein Bild der Zukunft, das jenem Gibsons frappierend ähnelt, in der die Technik den Menschen beherrscht und stellt die Bedeutung dieser Entwicklung für den Partisanen heraus: 62 63 64 65 66 67
Schicke: Gespräche mit Carl Schmitt, S. 16. Vgl. Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 32. W. Gibson, »Johnny Mnemonic«, S. 1. Vgl. Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 21. Ebd., S. 26. Karl Löwith: »Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt«, in: ders.: Sämtliche Schriften. Band 8, Stuttgart: Metzler 1984, S. 32-71, hier S. 44. 68 Scheit: Suicide Attack, S. 360. 69 Ebd., 376. 213
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»Wenn die innere, nach optimistischer Meinung immanente Rationalität und Regularität der technisch durchrationalisierten Welt restlos durchgesetzt ist, dann ist der Partisan vielleicht nicht einmal mehr ein Störer. Dann verschwindet er einfach von selbst im reibungslosen Vollzug technisch-funktionalistischer Abläufe […]. Dann würden die Partisanen aussterben, wie die Steinzeitjäger ausgestorben sind, sofern es ihnen nicht gelingt zu überleben und sich zu assimilieren.«70
Diese Anpassung, oder Assimilation, an die technische Entwicklung bezeichnet Schmitt als Industrie-Partisanen: »Wie aber, wenn es einem Menschen-Typus, der bisher den Partisanen lieferte, gelingt, sich an die technisch-industrielle Umwelt anzupassen, sich der neuen Mittel zu bedienen und eine neue, angepasste Art von Partisanen, sagen wir den Industrie-Partisanen zu entwickeln? Gibt es eine Gewähr dafür, daß die modernen Vernichtungsmittel immer in die rechten Hände fallen und daß ein irregulärer Kampf undenkbar wird?«71
Die Attentäter des 11. September können als solche assimilierten Industrie-Partisanen betrachtet werden, die angepasst und unauffällig in westlichen Staaten lebten, ihre Legitimation nicht mehr aus der Tradition ihres von fremder Macht besetzten Staates ziehen, sondern aus der imaginierten Bedrohung eines Gottesstaates durch die westliche Welt, als deren Zentrum – wie auch als ein Zentrum des Judentums72 – von ihnen New York identifiziert wird.73 Die »Bereitschaft zum Nichts«, von der Löwith spricht, wird in der Wandlung des Partisanen zum Märtyrer zur Essenz, das Opfer der eigenen Person belohnt in einem versprochenen Jenseits, mit Bassam Tibi könnte man von einer »Re-Politisierung des
70 Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 80f. 71 Ebd., S. 81. 72 Tageschau.de meldete am 9.5.2005: »Die Anschläge vom 11. September 2001 werden zumeist ausschließlich als Angriff auf die USA verstanden. Glaubt man aber den Zeugenaussagen von Shahid Nickels, einem ehemaligen Mitglied der Hamburger Gruppe um den Attentäter Mohammed Atta, dann hatte dieser ›ein nationalsozialistisches Weltbild‹. Laut Nickels habe Atta New York deswegen als Ziel ausgewählt, weil es für ihn ›das Zentrum des Weltjudentums‹ gewesen sei.« Andrej Reisin: Der neue Antisemitismus: Eine globale Gefahr?«, in: tagesschau.de am 9.5.2005, http://www. tagesschau.de/inland/meldung183980. 73 Siehe Osama Bin Laden: »Erklärung der Internationalen Front für den Heiligen Krieg gegen die Juden und Kreuzfahrer«, in: Gilles Kepel/Jean-Pierre Milelli (Hg.): Al-Qaida. Texte des Terrors, München: Piper 2006, S. 85-90. 214
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Sakralen«74 sprechen. Die Lo Teks sind nicht nur bereit ihr Leben zu opfern, sie verstehen die Selbstopferung gar als eine Form der Kommunikation der Generationen, der Tradition: »The electricity they were tapping to light the Killing Floor seemed to be an axception to their overall aesthetic, made in the name of … riotual, sport, art? I didn’t know, but I could see that the floor was something special. I had the look of having been assembled over generations.«75
William Gibsons Erzählung ist in diesem Kontext von Relevanz, da hier die Wandlung des Partisanen zum Industrie-Partisanen nachvollziehbar wird, die Schmitt nur andeuten konnte. Gibsons Science-Fiction ist nur bereits wenige Jahre nach ihrem Erscheinen zur Realität geworden.
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74 Bassam Tibi: Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik. 3. Auflage, München: Beck 2002, S. 59. 75 W. Gibson: »Johnny Mnemonic«, S. 19. 215
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D IE T OPOGRAPHIE
DER
Z ÄSUR
9/11
ZÄSUR FÜR DIE WELTORDNUNG? EINE ANALYSE GEOPOLITISCHER ALS
KONSTRUKTIONEN
IN TRANSNATIONALEN
ARABISCHEN
PRINTMEDIEN
SHADIA HUSSEINI Kurz nach den Anschlägen vom 11. September spendete der damalige palästinensische Präsident Yassir Arafat vor laufenden Kameras sein Blut für die Opfer der Terrorattentate. Vertreter der politischen Elite arabischer Staaten sowie arabische Intellektuelle sprachen in der Öffentlichkeit Beileidsbekundungen aus und verurteilten Terrorismus auf das Schärfste. So unterschied sich das Bild, welches sich in arabischen Medien bot, unmittelbar nach den Attentaten in vieler Hinsicht kaum von demjenigen in amerikanischen oder europäischen Medien. Doch gleichzeitig wurde in letzteren von jubelnden Arabern und Muslimen auf den Straßen in den palästinensischen Autonomiegebieten, in Afghanistan oder in Nigeria berichtet, die sich über die Anschläge gefreut hätten. Wie passt dies zusammen? Im »öffentlichen Diskurs der westlichen Welt«1 wird den Ereignissen von 9/11 häufig der Status einer »Zäsur«2 zugeschrieben. Die Vorstellungen von einer ›neuen Weltordnung‹ wurden in westlichen Medien nach den Attentaten in zunehmendem Maße artikuliert; nicht selten lag dabei die Theorie vom »Kampf der Kulturen« nach Samuel Huntington als Ordnungsmuster zugrunde.3 Kann so etwas auch für die arabischen
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Thorsten Schüller: »Kulturtheorien nach 9/11«, in: Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hg.), 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. Septembers 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009, S. 21-38, hier: S. 21. Vgl. z. B. Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. Septembers 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009. Vgl. z. B. Paul Reuber/Anke Strüver: »Diskursive Verräumlichungen in deutschen Printmedien: Das Beispiel Geopolitik nach 9/11«, in: Jörg Dö221
SHADIA HUSSEINI
Medien behauptet werden? Welche Rolle wird 9/11 hier im Kontext des politischen Geschehens auf der Weltbühne beigemessen und inwiefern wird auch hier von einer Zäsur für die Weltordnung gesprochen? Sind Verschiebungen in territorialen Freund- und Feindbildern erkennbar? Die Bilder von der Weltordnung vor 9/11, welche in Diskursen arabischer Öffentlichkeiten produziert wurden, lassen sich im Rückgriff auf orientalistische Untersuchungen und Erkenntnisse holzschnittartig als ein Ordnungsmuster zusammenfassen, welches die USA seit dem Ende des Kalten Krieges als einzige Weltmacht beschreibt, die insbesondere im Nahen und Mittleren Osten eine imperialistische Interessenspolitik verfolgt.4 Hat sich dieses Bild geändert? Während sich bereits eine Reihe an Forschungsarbeiten mit der Idee von 9/11 als Zäsur im Zusammenhang mit westlichen Medien beschäftigt haben, mangelt es an Untersuchungen aus ›anderen‹ Perspektiven, sodass hiermit ein kleiner Beitrag geleistet werden soll, um diese Lücke zu füllen. Die Analyse wird am Beispiel der transnationalen arabischen Print-
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ring/Thorsten Thielemann (Hg.), Mediengeographie, Bielefeld: transcript, S. 315-332. Vgl. Albert Hourani: Die Geschichte der arabischen Völker, Frankfurt a. M.: Fischer 1992; Issa J. Boullata: Trends and issues in contemporary Arab thought. Albany, New York: State University of New York Press 1990; Kai Hafez: Islam and the West in the mass media. Fragmented images in a globalizing world, Cresskill, NJ: Hampton Press 2000; Siegrid Faath (Hg.): Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nahund Mittelost: Inhalte, Träger, Perspektiven, Hamburg: Deutsches OrientInstitut 2004; Siegrid Faath (Hg.): Antiamerikanismus in Nordafrika, Nahund Mittelost: Formen, Dimensionen und Folgen für Europa und Deutschland, Hamburg: Deutsches Orient-Institut 2003 u. a. Im Anschluss an die hier aufgeführten Studien wird den USA aus arabischen Perspektiven eine imperialistische Außenpolitik angelastet, die seit den 1990er Jahre noch offensiver als zuvor verfolgt worden wäre. Kritisiert wird in starkem Maße auch die Art und Weise der Interventionen. Darunter fällt die jahrzehntelange Unterstützung von arabischen Autokratien und gegen internationale Rechtsstandards verstoßende Regime sowie die Unterstützung radikaler islamistischer Gruppierungen im Kampf gegen den Kommunismus vor allem während der 80er Jahre. Ferner wird den USA ein permanentes proisraelisches Verhalten im Nahostkonflikt vorgeworfen, vgl. Siegrid Faath/Peter Mattes: »Zusammenfassung«, in: Siegrid Faath (Hg.), Antiamerikanismus in Nordafrika, Nah- und Mittelost: Formen, Dimensionen und Folgen für Europa und Deutschland, Hamburg: Deutsches OrientInstitut 2003, S. 325-349, hier: S. 334. 222
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medien al-Hayat, al-Quds al-Arabi und Sharq Alawsat durchgeführt.5 Diese repräsentieren natürlich nicht die arabischen Medien insgesamt. Jedoch verfügen sie als Qualitäts- und Prestigemedien über einen sehr hohen Einfluss innerhalb des Mediensystems, sodass die von ihnen aufgegriffenen Themen und Denkansätze auch in andere Medien diffundieren. Laut Islamwissenschaftler Lutz Rogler haben sie ein bemerkenswertes Gewicht, »das sie bis zu einem gewissen Grade eine Orientierungsfunktion für die nationalen Tageszeitungen und Öffentlichkeiten erfüllen lässt«.6 Untersucht werden die meinungsbetonten Rubriken der Zeitungen,7 da gerade hier politisches Geschehen erklärt und gedeutet wird und im Zuge dessen insbesondere hier Konstruktionen der Weltordnung sichtbar zutage treten. Die Meinungsrubriken gelten darüber hinaus als vergleichsweise offene Foren für politische Diskussion. Vertreter unterschiedlicher politischer, religiöser und ideologischer Strömungen – Liberale, Konservative, Säkularisten, Nationalisten, Islamisten etc. – sollen hier zu Wort kommen können.8
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Die im Jahr 1987 begründete pan-arabische Tageszeitung Asharq Alawsat wird aus saudi-arabischen Mitteln finanziert und in den meisten Hauptstädten der arabischen Staaten sowie in einigen Städten der USA gedruckt. Ihre tägliche Auflage beträgt ca. 250.000 Exemplare. Hauptabsatzmärkte sind Saudi-Arabien und die anderen Staaten der arabischen Halbinsel, wobei die Zeitung auch im Internet präsent ist und ihre Websites täglich mehrere Millionen Mal besucht werden. Dies gilt ebenso für al-Hayat und al-Quds alArabi. Al-Hayat wurde 1964 im Libanon begründet, heute wird sie jedoch auch aus saudi-arabischen Geldern finanziert und in allen arabischen Hauptstädten sowie in einigen Städten der USA und Europa gedruckt. Ihre tägliche Auflage beträgt ca. 170.000. Mit einer Auflage von ungefähr 50.000 Exemplaren ist al-Quds al-Arabi die kleinste der drei Zeitungen. Im Unterschied zu den anderen beiden Printmedien befindet sie sich in palästinensischer Trägerschaft und erhält zusätzlich finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten. Vgl. dazu Lutz Rogler: »Die überregionale arabische Presse und ihr Beitrag zum Wertewandel in arabischen Gesellschaften«, in: Siegrid Faath (Hg.), Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost: Inhalte, Träger, Perspektiven, Hamburg: Deutsches Orient-Institut 2004, S. 423-447. Ebd. In al-Hayat werden die Rubriken raÝy (Meinung), afkÁr (Ideen), tiyÁrÁt (Strömungen) untersucht, in Asharq Alawsat und al-Quds al-Arabi jeweils die Rubrik raÝy (Meinung). Jon B. Alterman: »New media, new politics? From satellite television to the internet in the Arab world«, Washington, DC: Washington Institute for Near East Policy 1998, S. ix. 223
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Bevor nun die Ergebnisse der Analyse dargestellt werden,9 erfolgt eine kurze Erläuterung dessen, was unter einer ›Zäsur‹ in den Vorstellungen von der Weltordnung überhaupt verstanden und wie diese theoretisch gefasst werden kann.
Zäsur als diskursives Ereignis Vorstellungen von der Weltordnung werden hier im Rückgriff auf diskurstheoretische Ansätze als diskursiv produzierte, sich über lange Zeiträume entwickelnde geopolitische Konstruktionen begriffen. Dieser Konzeptionalisierung nach stellen sie äußerst machvolle Gebilde dar, nicht zuletzt weil sie als Leitbilder für politisches Handeln fungieren können.10 In den Massenmedien haben sie vor allem die Funktion, für politisches Geschehen einen Deutungsrahmen zu liefern und dies damit zu erklären. Im Zuge dessen werden sie reproduziert bzw. verändert und dabei werden Normen und Werte festgeschrieben, territoriale Freundund Feind-Schemata gebildet und Identitäten von Eigenem und Fremden verortet.11 Eine Zäsur in den Vorstellungen von der Weltordnung würde einen Einschnitt bedeuten, der die Ordnungsmuster verschiebt und einen merklichen Bruch kennzeichnet. Konzeptionell lässt sich ein solcher Bruch mithilfe poststrukturalistischer Ereignistheorien greifen, deren Grundidee Andreas Hetzel in seinem Beitrag zur Frage der Ereignishaftigkeit des 11. Septembers auf Martin Heidegger zurückführt. Dieser definiert das Ereignis folgendermaßen: »[Es] unterbricht und ent-setzt eine gesetzte Ordnung, es interveniert in einer bestimmten historischen Situation, ohne dabei aus den Elementen dieser Situation abgeleitet werden zu kön-
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Die in diesem Beitrag angeführten Zitate aus den Zeitungsartikeln wurden von mir ins Deutsche übersetzt. Damit sind zwangsläufig Bedeutungsverschiebungen einhergegangen, denn jede Übersetzung ist letztendlich ein Interpretationsschritt. Es sind nicht die ›Originalstimmen‹, die hier zu Wort kommen. Die Schreibweise der Autorennamen, sofern sie in lateinischer Schrift nicht bekannt ist, erfolgt in der Umschrift nach den Regeln der DMG. 10 Vgl. Edward Said: Orientalism, New York: Vintage 1979; Derek Gregory: »Power, knowledge and geography«, in: Hans Gebhardt/Peter Meusburger, Hettner-Lecture with Derek Gregory, Bd. 1, Heidelberg: Department of Geography, University of Heidelberg 1998, S. 9-45; Gearóid Ó Tuathail: Critical Geopolitics: The Politics of Writing Global Space, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1996. 11 In Anlehnung an ebd. 224
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nen«.12 Daran anknüpfend führt Hetzel fort: »Das Ereignis lässt sich nicht voraussagen, es erscheint plötzlich und wird nie als es selbst, sondern nur in seinen Wirkungen sichtbar. Es bleibt singulär, lässt sich nicht wiederholen und nicht repräsentieren. […] [D]as Ereignis [wird] aber zugleich zur Möglichkeitsbedingung von Neuem […]«.13 Diesem Gedanken nach würden die Konstruktionen der Weltordnung nach dem Eintreten einer Zäsur, verstanden als Ereignis, völlig anders aussehen. Territoriale Freund- und Feindschemata hätten sich verschoben und Identitäten von Eigenem und Fremden würden neu verortet sein. In den Medien könnten übliche Ordnungsmuster der Welt nicht mehr herangezogen werden, um politisches Geschehen zu erklären, andere müssten her – und damit würden die gängigen Muster auch nicht mehr reproduziert. Ein Ereignis mit solcher Wirkungskraft ist als radikaler Bruch kaum vorstellbar, denn die zumeist lange gewachsenen Konstruktionen der Weltordnung verschieben sich kaum von einer Sekunde auf die andere.14 Hilfreich erscheint es daher, auf die Ereigniskonzeptionen von Michel Foucault zurückzugreifen, der aufbauend auf die oben skizzierte Grundidee verschiedene Typen von Ereignissen ausmacht. Neben den Ereignistypen von Bruch und Diskontinuität, welche er vornehmlich in »Die Ordnung des Diskurses« beschreibt,15 macht er in anderen Werken Überlegungen zu Ereignissen, die Zeitverläufe von kurzer, mittlerer oder langer Dauer aufweisen. Seine Gedanken veranschaulicht er an der Ver12 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M.: V. Klostermann 1989, S. 7. 13 Andreas Hetzel: »Das reine Ereignis. Philosophische Reaktionen auf den 11. September« in: Matthias N. Lorenz, Narrative des Entsetzens, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, S. 267-286, hier: S. 268. 14 Vgl. Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer: »Geopolitische Leitbilder als diskursive Konstruktionen – konzeptionelle Anmerkungen und Beispiele zur Verbindung von Macht, Politik und Raum«, in: Hans Gebhardt/Helmut Kiesel (Hg.), Weltbilder, Heidelberg: Springer (Heidelberger Jahrbücher, 47), Bd. 47, S. 1-44. 15 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Fischer 2007, S. 37f. Foucault konzipiert in seiner hier ausgeführten Diskurstheorie das Ereignishafte nicht als etwas, das außerhalb des Diskurses stehen würde. Im Sinne einer poststrukturalistischen Ereignistheorie gehört es Foucault zufolge vielmehr zu den Eigenschaften des Diskurses. Vgl. ebd., S. 11. Demnach bewegt sich der Diskurs zwischen Ordnung und Ereignishaftigkeit: Einerseits stiftet er Ordnung, andererseits umfasst er »krebsartig wuchernde Momente« einer historischen Ereignishaftigkeit und Singularität. Vgl. auch Hannelore Bublitz: Diskurs. Bielefeld: transcript 2003. 225
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breitung einer Technik (kurze Dauer), am Ersatz des Geldes durch andere Zahlungsformen (mittlere Dauer) und an der Veränderung des demographischen Gleichgewichtes (lange Dauer).16 Übertragen auf Ereignisse, welche Konstruktionen der Weltordnung verändern, können als eindrückliche Beispiele die Weltkriege oder auch der Zusammenbruch des Ostblocks genannt werden. Problematisch wird es allerdings bei der konkreten Nachfrage, ab wann denn nun ein Ereignis vorliegt. So kann unter Umständen schon eine unqualifizierte Äußerung eines Nachrichtensprechers der Tagesschau zum Tagesgeschehen als Ereignis gewertet werden.17 Einen Ausweg bildet letztendlich nur die Verortung der eigenen Perspektive, aus der heraus beurteilt wird, ob man es mit einem Ereignis zu tun hat, oder nicht. Für den Attentäter muss 9/11 lange im Vorhinein geplant worden sein und somit war es für ihn vorhersehbar; für einen Angehörigen eines der Opfer können die Anschläge als plötzlicher und unerwarteter Bruch das Leben radikal verändert haben.
Geopolitische Ordnungsvorstellungen in transnationalen arabischen Printmedien nach 9/11 Die Perspektiven, die nun in den Fokus gerückt werden sollen, lassen sich in den Diskursen arabischsprachiger Öffentlichkeiten verorten. Wie die meisten Medien wurden auch die transnationalen arabischen Zeitungen durch die Geschehnisse vom 11. September in starkem Maße herausgefordert. Unmittelbar nach den Terrorattentaten waren global und auf nahezu allen Kanälen immer wieder dieselben Bilder im Fernsehen zu sehen – zunächst häufig unkommentiert, bevor erste Erklärungsversuche der Anschläge gewagt wurden.18 Überall wurde Solidarität mit den USA bekundet: »Wir sind alle Amerikaner!« hieß es in vielen großen Zeitungen und Fernsehsendern.19 Für die transnationalen arabischen Printmedien lässt sich Ähnliches sagen. Auch dort werden in den ersten Tagen nach den Anschlägen immer wieder die Bilder der einstürzenden Türme des World Trade Centers abgedruckt und Solidaritätsbekundungen mit den USA geäußert, insbe16 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. Suhrkamp 2005; Michel Foucault, Dits et Ecrits, Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, hier: Nr. 192, »Gespräch mit Michel Foucault«. 17 Michael Ruoff: Foucault-Lexikon, Paderborn: UTB 2007, S. 109. 18 Vgl. Stephan A. Weichert: Die Krise als Medienereignis. Über den 11. September im deutschen Fernsehen, Köln: von Halem 2006. 19 Z. B. in Le monde vom 12.9.2001. 226
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sondere mit den Opfern der Anschläge und dem amerikanischen Volk.20 In zahlreichen Artikeln werden Verurteilungen der Terroranschläge durch Präsidenten, Regierungssprecher und andere Vertreter und Organisationen arabischer und islamischer Länder ausgesprochen: »SaudiArabien verurteilt die Terroranschläge, die im Widerspruch zu allen religiösen Werten stehen«, so heißt es beispielsweise in einem der Texte, »die Terrorakte stellen schwerwiegende Bedrohungen für Sicherheit, Stabilität und Frieden in der Welt dar […]«.21 Dieser Artikel berichtet weiter von Beileidsbekundungen sämtlicher Staaten der arabischen Halbinsel und zitiert ein Telegramm des jemenitischen Präsidenten ÝAlÐ ÝAbdallÁh ÑÁliÎ an Präsident Bush, in dem es heißt: »Ich verfolgte mit tiefer Sorge und Trauer die verbrecherischen terroristischen Taten, denen [unsere] Freunde, die Vereinigten Staaten ausgesetzt waren. Ich [möchte] ihnen gegenüber [meinen] Schock angesichts jener grässlichen Tragödie und meine Verbundenheit mit dem [mit uns] befreundeten amerikanischen Volk zum Ausdruck bringen. Ich möchte [hiermit] aufrichtiges Beileid und tiefes Mitgefühl im Namen der jemenitischen Regierung und des jemenitischen Volkes an alle Opfer jener Katastrophe übermitteln«.22
Die USA werden in diesem Textbeispiel so wie in zahlreichen weiteren Artikeln als Freund und der Terrorismus als Feind dargestellt. Auf territorialer Ebene scheint die Welt als vereint betrachtet zu werden, welcher als bedrohlicher und unverortbarer ›Anderer‹ der Terrorismus gegenübersteht. Während sich ein solches Bild in den ersten Tagen nach den Anschlägen in den untersuchten Zeitungsartikeln beständig wiederholt, verändert es sich jedoch relativ schnell im Zuge erster Erklärungsversuche.
20 Die Auswahl der in diesem Beitrag untersuchten Artikel erfolgt aufbauend auf einer Überschriftenanalyse in den meinungsbetonten Rubriken der drei Zeitungen von 9/11 bis Ende 2006. Dadurch lassen sich grobe Argumentationsmuster herausarbeiten, welche anhand von ausgewählten Texten im Rahmen einer Feinanalyse genauer beleuchtet werden. Das methodische Vorgehen ist daher eher qualitativ ausgerichtet und erhebt damit keinerlei Anspruch auf Repräsentativität oder Vollständigkeit. Die Argumentationslinien der drei Zeitungen unterscheiden sich bezüglich der hier nachgegangenen Forschungsfragen kaum. In al-Quds al-Arabi erfolgt Kritik zuweilen dezidierter als in den anderen beiden Zeitungen. 21 Ohne Autor, in: al-Hayat vom 13.09.2001, S. 5, übers. S.H. Hier sowie in den folgenden Quellenbelegen wird auf die Angabe der Titel der Zeitungsartikel aus Platzgründen verzichtet. 22 Ebd. 227
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9/11 gilt es in das Weltgeschehen einzubetten und durch Hintergrundinformationen und Analysen einen Deutungsrahmen zu liefern. Dazu wird in zunehmendem Maße auf die US-amerikanische Politik verwiesen und der internationale Terrorismus zu großen Teilen als ihr eigenes Produkt dargestellt.23 In einer Reihe an Zeitungsartikeln wird die USamerikanische Politik durch Imperialismus, Unterdrückung, Gewalt und Brutalität charakterisiert und die Ansicht geäußert, dass sie Terrorismus schüre. Daher sei sie auch (mit)verantwortlich für die rasche Ausbreitung und das Wachstum terroristischer Organisationen, denn die Ursachen des Terrors lägen insbesondere in Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Zwang, Ausbeutung und Armut.24 Solche Darstellungen wiederholen sich zunehmend im Kontext des ›Kampfes gegen den Terrorismus‹. Es wird häufig betont, dass vor allem die Maßnahmen, welche im Rahmen dieses Leitbildes durchgeführt werden, nichts erreichen würden, als Terrorismus weiter anzufachen.25 So hätte man es mit einem »Teufelskreis der dialogischen Beziehung vom Terrorismus und dem Kampf gegen ihn« zu tun.26 Zu weiten Teilen wird die Ansicht vertreten, dass die Politik Amerikas Terrorismus produziere, zugleich aber auch von ihm profitiere. Den üblichen Argumentationsmustern zufolge würde sie durch die Verbindung von Islam und Terrorismus letzteren in der islamischen Welt verorten und könne so Schurkenstaaten definieren. Auf dieser Basis sei sie in der Lage ihre Interventionspolitik im Nahen und Mittleren Osten zu legitimieren.27 Daher ziele der ›Kampf gegen den Terrorismus‹ weniger auf seine Vernichtung ab, sondern vielmehr auf die Umsetzung geostrategischer Interessen der USA, allen voran die Stabilisierung der USamerikanischen Präsenz in Zentralasien sowie die Sicherung der Kontrol-
23 Vgl. z. B. ÝAlÐ AÎmad SaÝÐd, in: al-Hayat vom 15.10.2001, S. 16; ÑÁliÎ BašÐr, in: al-Hayat vom 16.05.2004, S. 17; ËÁlid aš-ŠÁmÐ, in: al-Quds alArabi vom 23.04.2003, S. 19; AÎmad ÍamrÙš, in: Asharq Alawsat, vom 24.09.2002, unter: http://www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. 24 Vgl. AÎmad AbÙ Zayd, in: al-Hayat vom 5.11.2001, S. 10; SamÐr ÇarÐb, in: al-Hayat vom 06.12.2001, S. 10; ÍalÐm BarakÁt, in: al-Hayat vom 12.03.2002, S. 9.; BašÐr MÙsÁ NÁfiÝ, in: al-Quds al-Arabi vom 27.09.2001, S. 19. 25 Vgl. ÝAbd al-WahhÁb BaradÌÁn, in: al-Hayat vom 12.09.2003, S. 9; RaÞy al-Quds, in: al-Quds al-Arabi vom 12.07.2005, S. 19. 26 ÑÁliÎ BašÐr, in: al-Hayat vom 25.04.2004, S. 17, übers. S.H.; ÝAbd alWahhÁb BaradÌÁn, in: al-Hayat vom 17.09.2005, S. 9, übers. S.H. 27 Vgl. ÝAlÐ AÎmad SaÝÐd, in: al-Hayat vom 15.10.2001, S. 16 ; SamÐr ÇarÐb, in: al-Hayat vom 06.12.2001, S. 19; MušÁrÐ aÆ-ÅÁyidÐ, in: Asharq Alawsat vom 07.11.2004, unter: http://www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. 228
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le über die Ölvorkommen.28 Die Terroranschläge des 11. Septembers hätten der Regierung unter George W. Bush damit einen Vorwand geliefert, um im Nahen und Mittleren Osten zu intervenieren und »Unterwerfungskriege« zu führen.29 »In dieser Hinsicht«, so wird in einem der Texte resümiert, »werden die Anschläge des 11. Septembers bis ins Äußerste ausgenutzt, um die islamische Welt einzunehmen […] und um Russland und China den Zugang zu den Energiequellen zu verwehren«.30 Solche Deutungen lassen sich in den untersuchten Zeitungsartikeln bereits einige Wochen nach 9/11 ausmachen. In den darauf folgenden Jahren werden sie mit den Berichten über die Interventionen der USRegierung immer wieder bestätigt. Dazu gehören im Wesentlichen die Kriege in Afghanistan und im Irak, die Interventionen im Nahostkonflikt und in der Libanonkrise, aber auch Vorhaben zur ›politischen Umstrukturierung‹ und die Installation ›demokratischer Strukturen‹ im Rahmen der ›Greater Middle East Initiative‹.31 Hierbei wird den USA stets die schamlose Ausnutzung der Terroranschläge vom 11. September vorgehalten, wobei die Opfer dieser Ausnutzung letztendlich die Araber und Muslime seien.32 Besonders deutlich zeigt sich dies auch in den Karikaturen der drei Zeitungen, die an den Jahrestagen von 9/11 erscheinen.
28 Vgl. MunÐr ŠafÐq, in: al-Hayat vom 25.10.2001, S. 19; ÇasÁn al-ÝAÔiyya, in: al-Hayat vom 09.10.2001, S. 9; ËalÐl al-ÝAnÁnÐ, in: al-Hayat vom 13.09.2003, S. 10; BisÁm AbÙ ŠarÐf, in: Asharq Alawsat vom 11.09.2002, unter: http://www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. 29 MunÐr ŠafÐq, in: al-Hayat vom 25.10.2001, S. 19, übers. S.H.; vgl. dazu insbesondere auch SamÐr ÇarÐb, in al-Hayat vom 06.12.2001, S. 10 und WaÎÐd ÝAbd al-MaÊÐd, in: al-Hayat vom 06.08.2003, S. 9. 30 WalÐd NÙwayhaÃ, in: al-Hayat vom 28.10.2001, S. 10., übers. S.H. 31 Hierbei handelt es sich um ein Projekt, das die amerikanische Regierung unter George W. Bush im Juni 2004 auf der G8-Konferenz in Sea Island in Gang gebracht hat. Das Projekt sieht eine Demokratisierung und politische Umstrukturierung in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens vor. Die Initiative hat verschiedene internationale Vorläufer und ist letztendlich ein Konsens der G8-Staaten, die sich über Form und Inhalt einigen konnten. Dennoch wird sie häufig und insbesondere in den arabischen Staaten als ein US-amerikanisches Konzept verstanden, nicht zuletzt da es in Washington initiiert wurde. In den arabischen Medien erlebte sie einen sehr starken und kritischen Widerhall. Inzwischen wurde diese Initiative in die »Middle East Partnership Initiative« umbenannt und ist auch mit einer Homepage im Internet vertreten, vgl. http://mepi.state.gov/ vom 09.05.2009. 32 HudÁ ÍawwÁ, in: al-Hayat vom 24.02.2002, S. 19, übers. S.H.; vgl. außerdem AmÐn al-MahdÐ, in: al-Hayat vom 19.12.2002, S. 8; FaraÊ AbÙ 229
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Im Jahr 2002 publiziert die Zeitung al-Hayat zum Gedenken an die Terroranschläge in New York und Washington eine Karikatur (vgl. Abbildung 1), welche zwei an Seilen hängende Bomben zeigt, wobei die Seile jeden Augenblick zu reißen drohen. Zusammen bilden sie die elf und werden ergänzt durch den Schriftzug »September«. Unter den Raketen wird ein Teil der Weltkugel mit den Umrissen der arabischen Staaten gezeigt.33 Abbildung 1: Gedenken an den 11. September im Jahr 2002
Quelle: al-Hayat vom 10.9.2002, S. 9 Auch die Karikaturen, die im Jahr 2003 erscheinen, bringen die Vorstellungen der Ausnutzung von 9/11 auf Kosten der Araber und Muslime zum Ausdruck (vgl. Abbildung 2). Al-Hayat zeigt einen Araber – symbo-
l-ÝUšša, in: Asharq Alawsat vom 31.08.2002, unter: http://www.aawsat. com vom 30. Juni 2009. 33 In der Zeitung al-Hayat bringen einige weitere Karikaturen, die in diesen Tagen erschienen, die Ansicht der Ausnutzung von 9/11 auf Kosten der Araber und Muslime zum Ausdruck, wie z. B. al-Hayat vom 11.09.2002, S. 9 oder al-Hayat vom 14.09.2002, S. 9. Auch al-Quds al-Arabi publiziert zu dieser Zeit eine Reihe solcher Karikaturen. Eine Abbildung vom 04.09.2002 (S. 19) in dieser Zeitung zeigt beispielsweise ein USamerikanisches Flugzeug, das – analog zu den zwei Türmen des WTCs – auf zwei große Palmen zufliegt. Diese befinden sich in einer islamischen Stadt, welche durch Minarette und Kuppeln von Moscheen symbolisiert wird. Weitere Beispiele in al-Quds al-Arabi sind die Karikaturen vom 09.09.2002, S. 19, vom 10.09.2002, S. 19 und vom 12.09.2002. Asharq Alawsat karikiert die beiden Türme des WTCs, wobei einer von ihnen auf amerikanischen Boden stürzt und viele Opfer fordert, der andere jedoch stürzt in die palästinensischen Autonomiegebiete, vgl. Asharq Alawsat vom 11.09.2002, unter: http://www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. 230
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lisiert durch die arabische Kopfbedeckung und den Schnurrbart –, dessen Enthauptung durch ein Fallbeil kurz bevorzustehen scheint. Die Halterung des Fallbeils selbst bildet eine elf, links neben der Zahl steht das Wort »September« geschrieben.34 Abbildung 2: Gedenken an den 11. September im Jahr 2003
Quelle: al-Hayat vom 11.9.2003, S. 9 Die gleichen Deutungen werden auch im Jahr 2004 wieder abgebildet. Die Zeitung Asharq Alawsat publiziert sogar dieselbe Karikatur wie im Vorjahr. Al-Hayat (vgl. Abbildung 3) zeigt die Zeichnung eines Arabers – erkennbar durch Schnurrbart und arabische Kopfbedeckung – ohne Arme an seinem Körper. Diese sind jedoch abgegrenzt in einem Viereck auf seinem T-Shirt abgebildet, welche die Ziffern der Elf festhalten. Sie symbolisieren damit ein Gefängnisfenster, unter dem die Aufschrift
34 Im Vergleich zum Vorjahr werden zwar deutlich weniger Karikaturen dieser Art publiziert, jedoch bringen die veröffentlichen Abbildungen mit einer mindestens ebenso großen Deutlichkeit die Ausnutzung der Terroranschläge und die damit einhergehende Opferrolle der Araber und Muslime zum Ausdruck. Al-Quds al-Arabi vom 11.09.2003 (S. 19) zeigt zwei brennende Türme, wobei einer den Irak, der andere Palästina verkörpert. Asharq Alawsat veröffentlicht an diesem Tag eine Karikatur die eine Elf zeigt, die durch zwei lang gestreckte Gräber dargestellt wird. Eines der Gräber trägt die Aufschrift »die arabische Welt«, das andere die »die islamische Welt«, vgl. Asharq Alawsat vom 11.09.2003, unter: http://www. aawsat.com vom 30. Juni 2009. 231
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»September« geschrieben steht.35 Auch im Jahr 2005 erscheinen ähnliche Karikaturen.36 Abbildung 3: Gedenken an den 11. September im Jahr 2004
Quelle: al-Hayat vom 11.9.2004, S. 9 Die Deutungen, dass die USA Terrorismus schüren und von ihm profitieren, da sie in der Proklamation des ›Kampfes gegen den Terrorismus‹ eine Rechtfertigung ihrer imperialistischen Politik finden, gehen Hand in Hand mit den Vorstellungen von den USA als einziger Weltmacht. Dabei wird ihnen nicht nur Imperialismus vorgeworfen, sondern auch das hohe Maß an Brutalität und Unrechmäßigkeit, das ihn kennzeichnen würde.37 Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit dem Irakkrieg artikuliert. Nur eine Weltmacht, der niemand Widerstand leisten könne, sei in der Lage auf eine solche Art und Weise zu handeln:
35 Weitere Beispiele: al-Hayat vom 12.09.2004, S. 9 und vom 13.09.2004, S. 9; al-Quds al-Arabi vom 13.09.2004, S. 19, vom 17.09.2004, S. 19 und vom 19.09.2004, S. 19; Asharq Alawsat vom 11.09.2004, unter: http:// www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. 36 Vgl. al-Hayat vom 11.09.2005; al-Quds al-Arabi vom 13.09.2005, S. 19; Asharq Alawsat veröffentlicht in diesem Jahr keine Karikatur, die sich auf den 11. September bezieht. 37 Vgl. George ÓarÁbКÐ, in: al-Hayat vom 17.11.2002, S. 19; MuÎyÐ d-DÐn RaÊab al-BannÁ, in: Asharq Alawsat vom 18.11.2003, unter: http:// www.aawsat.com vom 30. Juni 2009; George ÓarabКÐ, in: al-Hayat vom 01.06.2003, S. 19. 232
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»Amerika ist seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks allein in der Lage zurechtzuweisen. So kann es zurechtweisen, ohne selbst zurechtgewiesen zu werden. […] Amerika gibt sich das Recht, Präventivkriege zu führen, und zu behaupten, dass jeder der von ihm geführten Kriege ein gerechter Krieg ist, ausgehend von Normen und Kriterien, die es selbst definiert, ohne sich internationalen Normen und Kriterien zu verpflichten«.38
Mit den hier zutage tretenden Vorstellungen von der Weltordnung lässt sich beinahe nahtlos an die Weltbilder anschließen, welche die eingangs aufgezeigten Forschungsarbeiten der Orientalistik in Diskursen arabischen Öffentlichkeiten vor den Anschlägen des 11. Septembers ausmachen. Auch diese beschreiben die USA als einzige Weltmacht, die eine imperialistische Politik im Nahen und Mittleren Osten verfolgt. Ein Bruch mit einer solchen Ordnungsvorstellung kann im Rahmen dieses Beitrags kaum nachgewiesen werden.
Keine neue Weltordnung Zu Beginn dieses Beitrags wurden die Fragen aufgeworfen, welche Rolle 9/11 aus der Perspektive transnationaler arabischer Printmedien im Kontext des politischen Geschehens auf der Weltbühne beigemessen wird und inwiefern sich hier eine Zäsur in den Vorstellungen von der Weltordnung ausmachen lässt. In der Tat scheint 9/11 für eine kurze Zeit Raum in Diskursen arabischer Öffentlichkeiten geschaffen zu haben, in dem dominierende Deutungen der Weltordnung und übliche Freund-Feind-Schemata über den Haufen geworfen werden. Die USA werden als Opfer ›des Terrorismus‹ präsentiert, mit denen sich die gesamte Welt solidarisiert und sich ›dem Terrorismus‹ als dem ausgeschlossenen, unverortbaren ›Anderen‹ entgegen stellt. Doch von einer Zäsur kann kaum die Rede sein, denn wenige Tage später kehrten die scheinbar etablierten Vorstellungen von der Weltordnung zurück, mit Hilfe derer die Terroranschläge zu weiten Teilen erklärt wurden: die USA als einzige Weltmacht, die auf unrechtmäßige Art und Weise ihren imperialen Interessen im Nahen und Mittleren Osten nachgeht und der ›die arabische Welt‹ zum Opfer fällt. Dabei scheint ›der Terrorismus‹ in den hier artikulierten Darstellungen zum ›Freund‹ der USA zu avancieren, mit dessen Hilfe sie ihre imperialistische Politik legitimieren und ihre Rolle als einzige Weltmacht weiter fes-
38 George ÓarabКÐ, al-Hayat vom 01.06.2003, S. 19, übers. S.H.; vgl. auch ÝAbdallÁh an-NaÝÐmÐ, in: al-Hayat vom 14.03.2004, S. 18. 233
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tigen können. Dieses Bild wird im Verlaufe der darauf folgenden Jahre immer wieder bestätigt und damit nur noch tiefer festgeschrieben. Aus den hier untersuchten Blickwinkeln bleibt 9/11 damit unvergleichbar mit Zäsuren in den Ordnungsvorstellungen von der Welt, wie beispielsweise dem Beginn des Kolonialismus oder dem Zusammenbruch des Ostblocks.39 Eine Zäsur, die dominierende Konstruktionen der Weltordnung in gegenwärtigen Diskursen arabischer Öffentlichkeiten deutlich verschiebt, ließe sich nur dann erkennen, wenn die USA nicht mehr als hegemoniale Macht in der Welt wahrgenommen werden würden, die auf Kosten ›Anderer‹ handeln, um ihre Interessenspolitik umzusetzen. Manche mögen vielleicht mit dem Regierungswechsel in den USA und dem neuen Präsidenten Barack Obama den Anfang eines solchen Wandels erblicken, andere bleiben skeptisch. Ob, wann, wie und aus welcher Perspektive heraus sich eine solche Zäsur ereignen wird, ist fraglich, jedoch ist dies nicht ausgeschlossen – ganz im Sinne des Charakters eines Ereignisses, welches auf unvorhergesehene Weise in einer bestimmten historischen Situation interveniert.
Zitierte Quellen ÝAbd al-MaÊÐd, WaÎÐd, in: al-Hayat vom 06.08.2003, S. 9. AÆ-ÅÁyidÐ, MušÁrÐ, in: Asharq Alawsat vom 07.11.2004, unter: http://www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. AbÙ l-ÝUšša, FaraÊ, in: Asharq Alawsat vom 31.08.2002, unter: http:// www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. AbÙ ŠarÐf, BisÁm, in: Asharq Alawsat vom 11.09.2002, unter: http://www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. AbÙ Zayd, AÎmad, in: al-Hayat vom 5.11.2001, S. 10. Al-BannÁ, MuÎyÐ d-DÐn RaÊab, in: Asharq Alawsat vom 18.11.2003, unter: http://www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. Al-MahdÐ, AmÐn, in: al-Hayat vom 19.12.2002, S. 8. Al-ÝAnÁnÐ, ËalÐl, in: al-Hayat vom 13.09.2003, S. 10. Al-ÝAÔiyya, ÇasÁn, in: al-Hayat vom 09.10.2001, S. 9. An-NaÝÐmÐ, ÝAbdallÁh, in: al-Hayat vom 14.03.2004, S. 18. Aš-ŠÁmÐ, ËÁlid, in: al-Quds al-Arabi vom 23.04.2003, S. 19. BaradÌÁn, ÝAbd al-WahhÁb in: al-Hayat vom 12.09.2003, S. 9 BaradÌÁn, ÝAbd al-WahhÁb, in: al-Hayat vom 17.09.2005, S. 9. 39 Vgl. Alexander Schölch: »Der arabische Osten im neunzehnten Jahrhundert 1800-1914«, in: Ulrich Haarmann (Begr.)/Heinz Halm (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, München: Beck 2001, S. 365-431, hier: S. 388. 234
9/11 ALS ZÄSUR FÜR DIE WELTORDNUNG?
BarakÁt, ÍalÐm, in: al-Hayat vom 12.03.2002, S. 9. BašÐr, ÑÁliÎ, in: al-Hayat vom 16.05.2004, S. 17. BašÐr, ÑÁliÎ, in: al-Hayat vom 25.04.2004, S. 17. ÇarÐb, SamÐr, in: al-Hayat vom 06.12.2001, S. 19. ÍamrÙš, AÎmad, in: Asharq Alawsat, vom 24.09.2002, unter: http:// www.aawsat.com vom 30. Juni 2009. ÍawwÁ, HudÁ, in: al-Hayat vom 24.02.2002, S. 19. NÁfiÝ, BašÐr MÙsÁ, in: al-Quds al-Arabi vom 27.09.2001, S. 19. NÙwayhaÃ, WalÐd, in: al-Hayat vom 28.10.2001, S. 10. ÓarabКÐ, George, in: al-Hayat vom 01.06.2003, S. 19. ÓarÁbКÐ, George, in: al-Hayat vom 17.11.2002, S. 19. Ohne Autor, in: al-Hayat vom 13.09.2001, S. 5. RaÞy al-Quds, in: al-Quds al-Arabi vom 12.07.2005, S. 19. ŠafÐq, MunÐr, in: al-Hayat vom 25.10.2001, S. 19. SaÝÐd, ÝAlÐ AÎmad, in: al-Hayat vom 15.10.2001, S. 16. Karikaturen in al-Hayat: vom 10.9.2002, S. 9; vom 11.09.2002, S. 9; vom 14.09.2002, S. 9; 11.9.2003, S. 9; vom 11.9.2004, S. 9; vom 12.09.2004, S. 9; vom 13.09.2004, S. 9; vom 11.09.2005, S. 9. Karikaturen in al-Quds al-Arabi: vom 04.09.2002, S. 19; vom 09.09.2002, S. 19; vom 10.09.2002, S. 19; vom 11.09.2003, S. 19; vom 13.09.2004; vom 17.09.2004, S. 19; vom 19.9.2004, S. 19. Karikaturen in Asharq Alawsat: vom 11.09.2002, unter: http://www. aawsat.com vom 30. Juni 2009; vom 11.09.2003, unter: http://www. aawsat.com vom 30. Juni 2009; vom 11.09.2004, unter: http://www. aawsat.com vom 30. Juni 2009.
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9/11 ALS ZÄSUR FÜR DIE WELTORDNUNG?
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»I T ’ S
COMPLICATED«
- T O P O GR A P H I S C H E N E T Z W E R KE I N D O N D E L I L L OS T H E N A M E S U N D S T E P H E N G A G H A N S S Y RI A N A SASCHA SEILER Als in Stephen Gaghans 2005 entstandenen Film Syriana der CIA-Agent Bob Barnes nach einer gescheiterten Nahost-Mission zu seinen Auftraggebern in Langley/Virginia zurückkehrt, muss er sich einem Verhör unterziehen, in dem die stellvertretende Sicherheitsbeauftragte der USA Barnes nach seiner Meinung zu den politischen Perspektiven im Iran befragt: »India is now our ally. Russia is our ally. Even China will be an ally. Everybody between Morocco and Pakistan is the problem. Failed states and failed economies. But Iran is a natural cultural ally of the US. The Persians do not want to roll back the clock to the 8th century. I see students marching in the streets. I hear Khatami making the right sounds. And what I'd like to know is, if we keep embargoing them on energy, then someday soon are we going to get a nice, secular, pro-Western, pro-business government?«1
Barnes’ kurze Antwort besteht lediglich aus den träge vorgetragenen Worten »It’s possible.« Um dann anzufügen: »It’s complicated« – zwei Worte, die nicht nur für die Struktur des Films Syriana und für die politische Situation im Nahen Osten stehen, sondern auch für die metaphysische Topographie der globalisierten Welt als Ganzes. In Syriana geht es um die Beschreibung des Kreislaufs von Öl, Macht, Geld, Politik, Religion und Terrorismus, und um die Art und Weise, wie diese Elemente nicht nur zusammenhängen, sondern ein System ergeben, das im Folgenden als ›abstrakte Topographie‹ des Kapitalismus bezeichnet werden soll und das aus einer dezentrierten Anhäufung von Verbindungen besteht, die – ganz im Sinne von Deleuzes/Guattaris Rhizom – eine von geographischen Bedingungen nur partiell abhängige Kartographie der politi-
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Transcript aus: Syriana, 2005. 239
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schen Macht ergeben –, einen glatten Raum, der aus dem feinen Raster endloser Kerbungen entstanden ist.2 Wie wichtig heutzutage diese dezentralisierten Ströme geworden sind, merkte man ganz aktuell Ende 2008 am globalen Zusammenbrechen der Finanzmärkte, als offensichtlich wurde, wie Ströme nicht real existierenden Geldes durch dutzende Kanäle und Unterkanäle gejagt wurden, bis sich ein undurchsichtiges Netzwerk aus Anleihen, Krediten und Umschuldungen ergab, das Staat wie Privatwirtschaft in globalem Maße durch unsichtbare Linien verbindet. Dass das labile Gleichgewicht von global dominierenden Faktoren wie Geld, Macht, Politik oder Religion nicht erst in einer Welt nach 9-11 einem Kollaps nahe ist, sondern dass diese metaphysische Topographie seine späten Wurzeln in den frühen 80er Jahren hat, soll nun anhand der zielgerichteten Analyse von Syriana und vor allem von Don DeLillos 1982 erschienenen Romanen The Names, der kurz nach dem Sturz des Schahs von Persien spielt, aufgezeigt werden. Anhand dieser Analyse soll eine Zäsur angedeutet werden, die vor allem das Ergebnis eines langfristigen Prozesses darstellt, der genauso mit dem stetig steigenden Interesse am Öl der Golfstaaten zusammenhängt wie mit der untrennbaren Verknüpfung von politischer Macht und religiösem Erwecken. In Syriana wird vordergründig die Rekonstruktion von oben erwähntem Netzwerk anhand eines Fallbeispiels betrieben: Ein reformwilliger arabischer Thronfolger soll einem islamistischen Attentat zum Opfer fallen, um so dessen Bruder, einem religiösen Fundamentalisten, den Weg frei zu machen. Obwohl die USA das Reformbestreben des Prinzen öffentlich honoriert und unterstützt, ist man über mehrere verzweigte Kanäle an der Vollendung dieses Attentats beteiligt. Die Komplexität, die Barnes bei der Anhörung zu Beginn des Films zu Wort bringt, äußerst sich in der nahezu undurchschaubaren Verwicklung von politischen und finanziellen Interessen der USA am Persischen Golf, so dass das naheliegende Ziel, die von Barnes intendierte Vereitlung des Attentats, nicht in Betracht gezogen werden kann. Der Banker Bryan Woodhouse stellt in einer Szene gegen Ende von Syriana fest, dass dieser rhizomatische Interessenskonflikt das Ergebnis einer Abfolge von politischen Fehlentscheidungen am Golf seitens des Westens ist: »[…] if you look at the whole progression from Versailles, through Suez, 1973, Gulf War One, Gulf War II, it's really shaping up as a fight to the death.«3 2 3
Vgl.: Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 657-693. Transcript aus: Syriana, 2005. 240
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Vielleicht kann der Sturz des Schah, der wiederum als Initialzündung von DeLillos The Names dient, als in dieser Abfolge endgültige, religiös determinierte Zäsur angesehen werden, die der Zäsur 9-11 vorausgeht. Oder ist die angebliche Zäsur, die das Attentat im Jahr 2001 für die Weltgemeinschaft bedeutet, vielleicht auch nur als weitere Folge der Ereignisse, die der Revolution im Iran 1979 folgten, zu werten? Als Barnes in Syriana die Situation als »kompliziert« bezeichnet, hat seine Vorgesetzte keine weiteren Fragen mehr und entlässt ihn mit den lakonischen Worten »Of course it is. Thank you for your time.«4 Dies soll einerseits zeigen, dass die politische Schaltzentrale der USA nicht nach komplizierten Antworten auf komplexe Sachverhalte sucht, sondern an einfachen Lösungen interessiert ist. Andererseits ist Barnes Ausspruch auch eine implizite Beschreibung von Gaghans Film als Ganzem. Dieser nämlich unternimmt in mehreren parallel geschalteten Episoden den Versuch, den komplexen Kreislauf des Öls darzustellen, verweigert dabei aber, anders als ähnlich angelegte Filme wie Steven Soderberghs Traffic5 oder Robert Redfords Of Lion And Lambs, wie auch sein Protagonist die einfache Antwort, da es diese in einer Welt nach 1979 nicht mehr gibt. Deutlich orientiert sich Gaghan hierbei an den Fiktionen Don DeLillos – der Zuschauer wird in die einzelnen Episoden des Films quasi hineinkatapultiert, ohne Hintergründe zu kennen und ohne jemals dem Handlungsverlauf richtig folgen zu können. Tom LeClair beschreibt dies in seiner Analyse von DeLillos ›System-Romanen‹6 als »narrative perspectivism«7 in Verbindung mit einer assoziativen Struktur sowie multiplen Subtexten, eingebettet in eine ›räumliche Form‹. Der Leser bekommt nur Fragmente einer Geschichte vor Augen geführt, vernimmt einzelne Gesprächsfetzen, die zwar auf einen größeren, globalen Zusammenhang hinweisen, jedoch ihrerseits stets isoliert dastehen, als unverständliche, übrig gebliebene Fragmente einer automatisierten, bedeutungsschwangeren, politisierten Sprache. Der ausgemachte Feind, der radikale Islamismus, drängt wiederum auf eine Simplifizierung dieses technokratischen Kapitalismus; eine Simplifizierung, die den Terror als humanistische Maßnahme gegen die Entmenschlichung des Kapitalflusses sieht, jedoch in Wirklichkeit selbst ein elementarer Bestandteil jenes ökonomischen Kreislaufs ist. Kurz wird in Syriana der Blickwinkel einer Ausbildungsstätte von Terroristen zu-
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Ebd. Zu Traffic Film schrieb Stephen Gaghan das Drehbuch. Vgl. Tom LeClair: In The Loop. Don DeLillo and the System Novel. Urbana & Chicago: University of Illinois Press, S. 178. Ebd., S. 178. 241
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geneigt, wo der predigende Geistliche die Komplexität des kapitalistischen Netzwerks negiert: »They will tell us the dispute is over economic resources or military domination and if we believe that we play right into their hands, with only ourselves to blame.[…] The divide between human nature and modern life cannot be bridged by free trade. No. It cannot be cured with deregulation, privatization, openness or lower taxes.[…] The pain of living in the modern world will never be solved by a liberal society […]«8
Der Aufbau der parallel gezeigten Erzählstränge ist zwar nicht besonders gelungen, doch illustriert er die Dichotomie zwischen dem scheinbaren, scheinheilig gepredigten Archaismus des Nahen Ostens und der unterstellten Übertechnisierung der westlichen Welt als Grund, in den Heiligen Krieg zu ziehen. Die Ablehnung einer liberalen Gesellschaft fußt auf der Annahme, dass jegliche Liberalisierung auch ein Schritt zur Zerstörung des Ursprungs, des ›Wahren‹ darstellt. Doch gleichzeitig illustriert der Film den Irrglauben der USA durch radikale Liberalisierung alles zu ihren Gunsten lösen zu können. Dass die amerikanische Regierung die Kontrolle über das rhizomatische Netzwerk scheinbar verloren hat, mag der Zuschauer anhand der von ihm schwer in einen Zusammenhang zu bringenden Bilder und Szenen glauben, doch geht es Gaghan in Syriana vor allem um eine Bestätigung der ständigen Kontrolle über diese komplexen Zusammenhänge. Auch der Investment-Banker Woodman sieht sich in seiner Vermutung bestätigt, dass die scheinbare Komplexität des Netzwerks nicht mehr als ein simpler Kreislauf von Interessen ist, der sich, das wird in The Names noch deutlicher zu beobachten sein, aus der Auswertung von Zahlen speist. Politische und ökonomische Prozesse werden letztlich heruntergerechnet und eine so genannte »Risikoanalyse« betrieben, die als letzte Lösung das kriegerische Eingreifen vorsieht; also das Einbrechen des Körpers in den vormals virtuellen Raum9 – im Grunde eine Imitation der Vorgehensweise terroristischer Zellen. In oben erwähntem Zitat gibt Woodman in einer Schlüsselszene des Films zusammenfassend die seiner Meinung nach vorherrschende Denkweise der amerikanischen Regierung wieder, welche das Voranschreiten des Konflikts erst bedingt:
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Transcript aus: Syriana, 2005. Vgl. hierzu: Boris Groys: Szenen einer Liebesbeziehung, in: Der Schnitt 03/2002, S. 94. 242
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»What are they thinking? They’re thinking we’re running out. We’re running out and ninety percent of what’s left is in The Middle East. So if you look at the whole progression from Versailles, through Suez, 1973, Gulf War One, Gulf War II, it’s really shaping up as a fight to the death. So what they’re thinking is keep playing, keep buying your toys, keep spending fifty thousand dollars a night for your hotel room, but don’t invest in your infrastructure, don’t build a new economy…«10
In Don DeLillos Roman The Names ist der amerikanische Schriftsteller und Ghostwriter James Axton Anfang der 80er Jahre, kurz nach dem Sturz des Schahs von Persien, als so genannter ››Risikoanalytiker‹‹ in den Staaten des Nahen Ostens unterwegs. Sein im Laufe der Hanndlung niemals richtig fassbar werdender Beruf besteht im Kern darin, die politische und wirtschaftliche Lage des betreffenden Landes zu untersuchen und auszuwerten. Relevant für die Bewertung des Risikopotentials eines Staats sind etwa die Gefängnisstatistik in Bezug gesetzt zur Zahl der ausländischen Arbeitnehmer, die Arbeitslosigkeit unter jungen Männern, die Frage, ob die Gehälter der Generäle in letzter Zeit beachtlich gestiegen sind, die Zahlungen an den Klerus, die Behandlung von Dissidenten oder die Baumwollernte. »What seems likely? Collapse, overthrow, nationalization? Maybe a balance of payments problems, maybe bodies hurled into ditches. Whatever endangers an engagement.«11 Die Bedeutung von Axtons Beruf hat mit der wachsenden Macht der Nahoststaaten im Zuge der Ölkrise, der religiösen Radikalisierung im Zuge des Schah-Sturzes sowie der damit wachsenden terroristischen Bedrohung scheinbar enorm zugenommen: »We’re important suddenly. Isn’t it something you feel? We’re right in the middle. We’re the handlers of huge sums of delicate money. Recyclers of pertrodollars. Builders of refineries. Analysts of risks...When the Mainland Bank makes a proposal to one of these countries,(…) Action risk. It’s not a loan to some developer in Arizona. It’s much broader, it has a serious frame. Everything here is serious.«12
Finanzströme, eine politische Topographie der Macht, der Weg des Öls, die enorme Bedeutung von Religion, die Verknüpfung mit dem islamistischen Terrorismus – diese abstrakte Topographie, anhand derer in Syriana die Welt nach 9-11 kartographiert wird, hat ihre Wurzel wie gesehen in einer zeitlich viel früheren Zäsur, die mit dem Sturz des Schahs
10 Transcript aus: Syriana, 2005. 11 Don DeLillo: The Names, New York: Knopf 1982, S. 35. 12 Ebd., S. 98. 243
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und der damit zusammenhängenden Gefährdung westlicher Interessen am Golf ihren metaphorischen und realpolitischen Höhepunkt fand. In dieser Welt, so beschreibt es DeLillo in The Names, verabschieden sich die westlichen Protagonisten im Nahen Osten von tatsächlicher Topographie, also der kartographisch skizzierten Aufteilung in Dörfer, Städte, Regionen, Staaten, Landesgrenzen, usw. und schaffen sich ein Paralleluniversum, das hauptsächlich aus den abstrakten Verbindungslinien besteht, die der Nahost-Konflikt und das machtpolitische Spiel zwischen West und Ost produziert hat. Als Fixpunkte dienen in dieser abstrakten Topographie lediglich die Flughäfen und Hotelzimmer, während das Flugzeug als Transportmittel eine götzengleiche Allmachtsfunktion eingenommen hat. Der Junk-Space13 des Flughafens wird für Axton und seine Geschäftspartner zum realen Lebensraum. Entfernungen werden nicht mehr in Kilometern berechnet, sondern in Flugstunden, und die reale Welt, das ›Fleischliche‹ der Nahost-Staaten 14, ihre Menschen, ihre Städte, ihre Bräuche, werden zwischen Hotelzimmer, Geschäftsessen und Flughafen nur noch als abstraktes Beiwerk wahrgenommen. Gleich zu Beginn von The Names räsoniert Axton über den Typus des geschäftlichen Vielfliegers: »We were a subculture, business people in transit, growing old in planes and airports. We were versed in percentages, safety records, in the humor of flaming death...We could distinguish between bad-weather categories and relate them to the guidance system of the plane we were on. We knew which airports were efficient, which were experiments in timelessness or mob rule; which had radar, which didn’t; which might be filled with pilgrims making the hadj....We knew where martial law was in force, where body searches were made, where they engaged in systematic torture, or fired assault rifles into the air at weddings, or abducted and ransomed executives. This was the humor of personal humiliation.«15
Später sieht er in der Luftfahrt gar eine Bedingung für die Zuschreibung von individueller Identität: »Air travel reminds us who we are. It’s the means by which we recognize ourselves as modern. The process removes us from the world and sets us apart from each other.«16 Einen dieser Vielflieger, seinen Chef George Rowser, beschreibt Axton etwa als einge-
13 Rem Koolhass: Junkspace, in: Chuihua Judy Chung, Jeffrey Inaba et al (Hg): Harvard School of Design Guide to Shopping. Köln: Taschen 2002. 14 Vgl. B. Groys: Szenen, S. 94. 15 D. DeLillo: The Names, S. 7. 16 Ebd., S. 254. 244
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schlossen in ein Vakuum aus Flughafen, Flugzeug und Hotel: »Every space he inhabited seemed enclosed.«17 Der auch in Syriana zentrale (abstrakte) geographische Raum, der in diesem Zusammenhang neu entworfen wird, ist ein metaphysischer, er ist, so Ulrich Meurer in seinem Buch Topographien, »nicht mehr von Aufbruchs- und Ankunftsort markiert, sondern spleißt sich zu einer dichten und heterogenen Fläche aus.«18 Die Kerbung des Raums bedinge zwar anfangs die Verwandlung der glatten Oberfläche in einer Geographie – forciert durch die Visumspflicht, ein stetiger ironischer Seitenkommentar in The Names – doch, so Meurer, angelehnt an Deleuze/Guattaris Mille Plateaus, weiter, habe sich durch die stete Verfeinerung des Rasters, der gekerbte wieder in einen glatten Raum verwandelt.19 Die Flugzeuge sind nicht mehr auf dem Weg, sondern einfach anwesend. Durch den steten Transit verschwimmt die Wahrnehmung und beschleunigt sich gleichzeitig unaufhörlich. Tom LeClair spricht von der Verbindung zweier Hemisphären, der des Gehirns mit jener des Globus, also der topographischen.20 Die zentrale Frage, die sich in The Names stelle, sei: »How do humans cover space?«21 Da Raum nun, nach Lefebvre, alleine nicht repräsentieren kann 22, wird er im Kontext der oben erwähnten Machtverteilung expliziert, um den abstrakten Strom, das Netzwerk aus Geld, Öl, Politik, Terror, usw., zu konstituieren. Die Bewertung eines Landes wird indes häufig durch die – oft als rein rhetorisch abgelehnte – Frage: »Are they killing Americans?«23 eingeleitet. Der Sturz des Schahs hat die Sicherheitslage drastisch verschlechtert, doch kreisen die ewigen Dinnergespräche weniger um die reale Präsenz des Terrors, denn eher um den Terror als Teil eines abstrakten Konstrukts von flüchtigen Linien, die ein dezentriertes Netz bilden, in dem die Protagonisten sich verfangen haben. Terrorismus also als Teil der Risikoanalyse: »In this decade a quarter of a billion dollars in ransom money had been paid to terrorists. Business executive were prime targets.«24
17 Ebd., S. 269. 18 Ulrich Meurer: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne, München: Wilhelm Fink 2007, S. 155. 19 Vgl. U. Meurer: Topographien, S. 156. 20 Vgl.: T. LeClair: In The Loop, S. 176 21 Ebd., S. 179 22 Vgl. Henri Lefebvre: The Production of Space. Malden, MA et al: Blackwell 1991, S. 1-67 23 D. DeLillo: The Names, S. 45. 24 Ebd., S. 46. 245
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Die Gefahr der Entführung eines bedeutenden Geschäftsmanns wird dann wie folgt erklärt: »He convinced a medium-sized insurance company to sell ransom policies to the multinationals. His job was to figure the risk of enrolling applicants for coverage. He read everything in the public record on terror and travelled widely to set up lines of data-gathering that helped him draw conclusions on overseas operations, the attitudes of host countries, political currents in general. Secrecy was important. If a terrorist group knew that a certain corporation insured its executives against kidnap and ransom, they’d clearly want to consider an action.«25
Hier wird nicht nur das globale System des Terrors verdeutlicht, sondern auch die große Rolle, die nur noch abstrakt wahrnehmbare Finanzströme dabei spielen. Der Verkauf (und Weiterverkauf) von Versicherungen vor Terrorakten nimmt eine wichtige Funktion in der Genesis dieser Terrorakte selbst ein, die undurchsichtigen Finanzströme speisen sich wiederum aus dem Geschäft mit dem Öl und der Versicherung gegen terroristische Akte, die den Fluss des damit zusammenhängenden Geldes zerstören könnten. Dies wiederum ist verwoben mit den politischen Interessen, die klar im Einflussbereich des Ölhandels stehen und eine »Verwestlichung« des Nahen Ostens zum Ziel hatten, die durch die Inthronisierung des Ayatollah im Iran einen Rückschlag erlitt. Der Versicherer Lloyds, so erklärt es Axton einem Geschäftspartner, will den Golf vorneweg zur Kriegszone erklären und der Ölpreis, so Axton, gelte als Indikator für die Besorgnis des Westens: »It provided a figure, 24 Dollars a barrel, say, to measure against the figure of the month before or the year before. It was a handy way to refer to our complex involvement. It told us how bad we felt at a given time.«26 Der Ölpreis wird also als abstraktes Zahlenwerk dazu verwendet, die Komplexität der abstrakten Topographie des Netzwerks zu simplifizieren, auf einen verständlichen Nenner herunterzudividieren – »It’s complicated«, wie es in Syriana heißt. Der Finanzstrom wiederum, und die Undurchschaubarkeit seiner Kanäle spielt auch im abstrakten topographischen Netzwerk von The Names eine zentrale Rolle: »Bank loans, arms credits, goods, technology. Technicians are the infiltrators of ancient societies. They speak a secret language. They bring new kinds of death
25 Ebd., S. 46. 26 Ebd., S. 66. 246
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with them....All the banking and technology and oil money create an uneasy flow through the region, a complex set of dependencies and fears.«27
Diesem Strom ist, so Ulrich Meurer, eine grenzenlose Dynamik implizit, was auf die aufgrund von Anteilen und Aktienverteilung undurchsichtigen Multinationalismus der Konzerne zurückzuführen ist, also Geldabstraktion, die »deterritorialisierende Macht von Finanzkapital«28. Diese Vorstellung vom unkontrollierbaren Fließen eines abstrakten Finanzstroms als Kennzeichen kapitalistischer Ökonomie ist zurückzuführen auf Deleuze und Guattaris Überlegungen zum außer Rand und Band geratenen Kapitalismus in Mille Plateaus: »Am Ende der Einkerbung, die der Kapitalismus in beispielloser Weise vervollkommnet hat, schafft und konstituiert das zirkulierende Kapital zwangsläufig erneut eine Art von glattem Raum, in dem das Schicksal der Menschen wieder ins Spiel kommt. [...] Die multinationalen Konzerne erzeugen eine Art von deterritorialisiertem glattem Raum, in dem die Besetzungspunkte und Austauschpole völlig unabhängig von den klassischen Wegen der Einkerbung werden. Das Neue sind immer die neuen Rotationsformen. Die heutigen beschleunigten Formen der Kapitalzirkulation machen die Unterschiede zwischen Konstantem und Variablem und sogar auch zwischen fixem und zirkulierendem Kapital immer relativer, wesentlich ist dabei die Unterscheidung zwischen einem eingekerbten und einem glatten Kapital, sowie die Art und Weise, in der das erste das zweite hervorbringt, und zwar quer zu den Komplexen, die über den Territorien und Staaten und sogar über unterschiedlichen Staatstypen schweben.«29
Ulrich Meurer sieht nach Deleuze/Guattari den Kapitalismus, wie DeLillo ihn in The Names ästhetisiert darstellt, »in einem Stadium des Strukturlosen. Er dringt in alle Enklaven ein und macht ihre Membranen für Ware und Diskurs unendlich durchlässig.«30 Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »postmodernen Geopolitik«31 und Geoökonomie, in der alle Markierungen und Kerben untergehen und, wiederum, einen glatten Raum zurücklassen. Nach Lyotard in Das Erhabene und die Avantgarde ist der Kapitalismus eine Ökonomie, die von der Idee unbegrenzten Reichtums und uneingeschränkter Macht reguliert werde. Es sei jedoch nicht möglich, 27 28 29 30 31
Ebd., S. 114. U. Meurer: Topographien, S. 158. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 681-682 U. Meurer: Topographien, S. 159. Ebd., S. 159. 247
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irgendein reales Paradigma zu nennen, das diese Idee letztlich bestätige.32 Ähnlich funktioniert auch die Topographie, die in Syriana und The Names dargestellt wird und letztlich eine Abbildung des, wie Meurer nach Deleuze ihn bezeichnet, glatten Raum des Kapitalismus ist. Doch auch die politische Organisation wird zu einem Deleuze’schen glatten Raum, der sich durch seine Fluchtlinien konstituiert und vielmehr in Abhängigkeit vom rhizomatischen Gesamtnetzwerk steht: »That is politics too [...] The politics of occupation, the politics of dispersal, the politics of resettlement, the politics of military bases.«33 Nach dem Sturz des Schahs flüchten die Europäer aus dem Nahen Osten. Sie fliegen in Massen aus Beirut, Tripolis, Bagdad, Islamabad, Bahrain, Muscat, Kuwait und Dubai in Athen ein und warten auf die Reorganisation der Golfstaaten und auf die zukünftige Entwicklung des Ölflusses. Oder wie Axtons Chef George Rowser die Indizien der Radikalisierung beschreibt: »›They’re throwing away their London Suits to wear traditional things. You know what that means, don’t you?‹«34 Nach Meurer wird in The Names ein Raum dargestellt, in dem die »Territorien okkupiert, gehalten, aufgegeben, getauscht (werden), ohne ein Gebiet zu ergeben.«35; ein endloses politisches Go-Spiel. Diesem Globalen tritt in The Names überdeutlich das Lokale als Ausdruck des Archaischen entgegen, nicht unbedingt in Form des Terrorismus, sondern in Form des großen Interesses, das der Ich-Erzähler Axton immer wieder für Orte aufbringt, die er, verlässt er mal den Flughafen oder das Hotel, als ursprünglich empfindet, gerade, weil ihm im Laufe des Romans bewusst wird, dass er und seine Kollegen stets »between places, never in them«36 reisen. Sieht man den Terrorismus als unabtrennbaren Bestandteil des unsichtbaren kapitalistischen Netzwerks, so ist die Negation seiner Bedeutung, gar seines semiotischen Mehrwerts, in den Gesprächen der Amerikaner in The Names überdeutlich. Die ständig wiederholte Frage »Are they killing Americans?«37, die quasi als ausreichende Beschreibung eines Landes und seiner Bedeutung postuliert ist, weist auf das Desinteresse der Protagonisten an der organischen Verbindung von Terrorismus und amerikanischer Interventionspolitik hin – vor allem im metaphori32 33 34 35 36 37
Vgl. ebd., S. 159. D. DeLillo: The Names, S. 57. Ebd., S. 269. U. Meurer: Topographien, S. 160. D. DeLillo: The Names, S. 183. So wie der ebenfalls endlos wiederholte Fragesatz »How many languages do you speak?« die Identität des ›Geschäftsreisenden‹ in der abstrakten Topographie definiert. 248
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schen bzw. ökonomischen Sinne. Die Protagonisten sind in ihren abendlichen Gesprächsrunden nicht in der Lage, eine konkrete Verbindung zwischen ihrer Arbeit bei Banken, Versicherungsunternehmen oder gar der amerikanischen Regierung zum aufkeimenden Terrorismus im Nahen Osten herzustellen. Dies ist insbesondere im Hinblick auf das Bild des Terrorismus im knapp zehn Jahre später (und trotzdem noch zehn Jahre vor 9-11) erschienenen Roman DeLillos Mao II besonders interessant. Hier zieht der Autor an mehreren Stellen eine Parallele zwischen Terrorismus und Schriftstellertum; der Schriftsteller verfolge schließlich ähnliche Ziele wie der Terrorist, denn vor allem ein Autor verstehe diese unglaubliche Wut, denn er wisse tief in seiner Seele, was der Terrorist denkt und fühlt. Andererseits sei das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Terrorist wie das einer sich gegenseitig bedingenden Waagschale. So äußert der von Terroristen entführte Schriftsteller Bill Gray: »What terrorists gain, the novelists lose. The degree to which they influence mass consciousness is the extent of our decline as shapers of sensibility and thought. The danger they represent equals our own failure to be dangerous.«38
Der letzte Autor, dem es möglich gewesen ist, unsere Art zu denken zu befruchten, sei Samuel Beckett gewesen. Nach ihm sei die einzige tragische Narration die von explodierenden Flugzeugen und zusammenfallenden Gebäuden – im Vorfeld von 9-11 ein wahrhaft prophetischer Gedanke. Dies liege auch daran, dass es bei Literatur wie bei Terrorismus um das Stillen der menschlichen Sucht nach ›Bedeutung‹ gehe. Die Nachrichten füttern letztlich die Lust an der dunklen Seite der menschlichen Existenz, dem Verlangen nach Katastrophen: »This is where we find emotional experience not available elsewhere.«39 Die Literatur werde somit nicht mehr gebraucht. Anders als die bewusst ahnungslosen, in ihrer metaphysischen Topographie des Nahen Ostens gefangenen Geschäftsleute und Politiker in The Names, rückt das Organische der Masse im Bewusstsein Bill Grays in den Mittelpunkt. Theoriekonstrukte in der Literatur werden abgelöst durch die wahre Lust an der Katastrophe; daher ist Gray auch ein williges Entführungsopfer, da er sich so aus dem abstrakten Kosmos der Fiktion, des geschriebenen Wortes, lösen kann und in die reale Welt eintritt. In The Names ist es einzig der Erzähler James Axton, der auf dem Weg ist, sich von der irrealen, technisierten Pseudo-Topographie zu lösen und das Organische, Archaische zu suchen, das Bill Gray, gerade auch als Schriftsteller, im terroristischen Akt längst gefunden zu haben glaubt. 38 Don DeLillo: Mao II, London: Penguin 1991, S. 157. 39 Ebd., S.72. 249
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Das Organische, Lokale jedenfalls offenbart sich vor allem in der archaischen Sekte »Die Namen« und dem wachsenden Interesse, mit dem Axton sein virtuelles topographisches Reich immer öfter verlässt, um nach den, wie er sie beschreibt, zerlumpten, in Höhlen lebenden Gestalten der mysteriösen Sekte zu suchen, die aufgrund ihrer Ritualmorde von sich reden macht. Das Prinzip der Sekte fußt auf einem Glauben an die vorsprachliche Gemeinschaft und sie artikuliert sich in Morden an unschuldigen Bewohnern von Dörfern, deren Anfangsbuchstaben dieselben sind wie die ihres Heimatorts. Die Tatsache, dass sie bei den Morden die Insignien früher Schreibkunst, scharfe Klingen und Hämmer, verwenden, um sich in ihre Opfer quasi »einzuschreiben« kann als Suche nach dem originären, geschriebenen Text interpretiert werden, der die erste Stufe einer Weiterentwicklung hin zur gesprochenen Sprache darstellt, jedoch lange vor der postmodernen Transformation hin zur Zahl steht. Oder wie das Sektenmitglied Andahl ausdrückt: »Numbers behave, words do not«40. Bei den »Namen«, die LeClair passend als »terrorrists of textuality«41 beschreibt, steht das Archaische als etwas da, das außerhalb des ökonomisch-politischen Kreislaufs steht, der das Leben Axtons und seiner Kollegen ausmacht, der von Meurer nach Deleuze/Guattari als mittlerweile schon wieder geglätteten, weil durch und durch gekerbten Raum, beschrieben wurde. James Axton tauscht als Akt der Flucht in die organische Realität sozusagen die Zahl gegen den Buchstaben ein, den Anfang der Entwicklung von Sprache, an den sich die »Namen« hinbewegen wollen.42 Seine Kritik an George Rowser etwa macht Axtons daran fest, dass der Raum, den dieser beanspruche, vollends durch die Zahlen, »his numbers, the data he collected«43 aufgebraucht werde. Er imaginiert sich Rowser auf einer Insel ohne Politik, ohne Risiko, einen Ort, dem dieser aufgrund des Fehlens von Zahlen hilflos ausgeliefert wäre: »The place would be an offense to him, a white space he could not know through numbers.«44 Dass diese kontrastiven Elemente – der virtuelle ökonomischpolitische Kreislauf und dessen Simplifizierung durch den terroristischen 40 D. DeLillo: The Names, S. 193. 41 T. LeClair: In The Loop, S. 194. 42 Eine interessante Fußnote ist in diesem Zusammenhang die Behauptung des Sektenmitglieds Singh, die Wüste, als archaischster aller geographischen Orte, sei die ultimative Lösung, weil einfach und unvermeidbar: »It’s like a mathematical solution applied to the affairs of the planet« (D. DeLillo: The Names, S. 294). 43 Ebd., S. 269. 44 Ebd., S. 51. 250
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Akt – nur schwer zu trennen sind, wird in einem in diesem Zusammenhang äußerst treffenden, zynischen Ausspruch vom Banker Charles Maitland deutlich, der sich über die verschwindende Kunst des komplexen Teppichknüpfens äußert, die in seinen Augen immer mehr in die Hinterländer von politisch fragwürdigen Staaten zurückgedrängt wird: »They seem to go together, carpet-weaving and political instability.«45 Und doch stellt sich DeLillo, wie in anderen seiner Romane auch, die Frage, wie es dem zeitgenössischen Menschen möglich sein kann, sich stetig dem Fortschritt, also dem stets wachsenden Informationsfluss, einer immer komplexeren Geographie, anzugleichen, mit diesem Schritt zu halten, während er gleichzeitig versucht, ältere, wohl lebensnotwendige Intimität mit Orten, Menschen und nicht zuletzt sich selbst aufrecht zu erhalten?46 Welche Rolle spielt der Terrorismus hierbei? Das Motiv des Organischen als kontrastives Element zum technisierten Alltag taucht jedenfalls in DeLillos Romanen nämlich immer dann wieder auf, wenn es um die Thematisierung von Terrorismus geht. Sein erster Roman nach 9-11, Cosmopolis47, spielt fast ausschließlich im Innern einer mit hochkomplexer Technik ausgestatteten Luxuslimousine, die durch ein chaotisches, von einer Terrorwarnung nervöses New York fährt. Der in dieser Limousine sitzende Protagonist Eric Packer lebt gänzlich in seiner virtuellen Welt als Finanzjongleur und die kleine Flucht aus der Zahlenwelt besteht darin, abends vor dem Einschlafen Gedichte von Zbigniew Herbert zu lesen. Am Ende des Romans lässt sich Eric Packer absichtlich erschießen, um das Leben zu spüren, um einen Ausweg aus der irrealen Zahlentopographie zu finden. Auch er tauscht die Zahl gegen den Buchstaben ein. Boris Groys spricht in Szenen einer Liebesbeziehung davon, dass allgemein »unter der Realität gewöhnlich der Tod verstanden wird« und der 11. September »der Anfang unserer Liebesbeziehung mit dem Islam« gewesen sei, da die »entführten Flugzeuge den Körper unserer Zivilisation penetrieren, um sich mit ihm in einem zerstörerischen Orgasmus zu vereinen«.48 Jean Baudrillard weist in seinem Essay L’esprit du terrorisme ebenfalls auf die empfindliche Störung des virtuellen, technisierten Systems durch einen singulären Akt hin, wenn er sagt: 45 Ebd., S. 176. 46 Vgl. T. LeClair: In The Loop, S. 184. 47 Laut DeLillo wurde Cosmopolis jedoch vor 9-11 geschrieben. Vgl. dazu auch: Sascha Seiler: Das verschüttete Paradies - Die Darstellung des verlorenen »Amerikanischen Traums« in Romanen über 9/11, in: KulturPoetik, Band 7/1 (2007), S. 47-65, hier: S. 55. 48 B. Groys: Szenen, S. 94. 251
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»Quand la situation est ainsi monopolisée par la puissance mondiale, quand on a affaire à cette formidable condensation de toutes les fonctions par la machinerie technocratique et la pensée unique, quelle autre voie y a-t-il qu’un transfert terroriste de situation ? […] Le terrorisme est l’acte qui restitue une singularité irréductible au cœur d’un système d'échange generalisé.«49 Und Slavoj Žižek erkennt in Willkommen in der Wüste des Realen, dass die »absolute Wahrheit des kapitalistischen, utilitaristischen, entgeistigten Universums […] die Entkörperlichung des ›realen Lebens‹ selbst, seine Umkehrung in eine gespenstische Show«50 sei. Die Inszenierung eines symbolischen, medialen Aktes sei beim Ereignis 9-11 also das wichtigste Ziel der Terroristen gewesen, die damit den Westen mit seinen eigenen Waffen – der unmittelbaren, ständig zur Verfügung stehenden Kommunikationstechnik sowie der medialen Omnipräsenz – schlagen, indem sie symbolische Zwischenräume öffnen, in denen plötzlich ideologische Fragen erörtert werden, nachhaltig unterstrichen durch die reale Präsenz des Todes. Auf dieselbe Art und Weise sucht Don DeLillos Eric Packer, wenngleich freiwillig, den Tod als Zeichen einer fleischlichen Existenz51: »But his pain interfered with his immortality. It was crucial to his distinctiveness, too vital to be bypassed and not susceptible, he didn’t think, to computer emulation […] He’d come to know himself, untranslatabely, through his pain.«52
James Axtons Suche nach Bedeutung mittels der Erfahrung des Organischen allerdings scheitert, weil die Sekte, deren Spur er gefunden hat, im 49 Jean Baudrillard: L’esprit du terrorisme, in: Le Monde vom 2.11.2001. 50 Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen, in: Christian Geulen/Anne von der Heiden/Burkhardt Liebsch (Hgg.): Vom Sinn der Feindschaft, Berlin: Akademie Verlag, S. 53-75, hier: S. 56. 51 Einen ähnlichen, wenngleich nicht in gleichem Maße radikalen Weg geht Bucky Wunderlick in DeLillos 1973 erschienen Roman Great Jones Street: Hier verliert der ausgebrannte und lebensmüde Rocksänger durch den Konsum einer (auch von Terroristen eingeführten) Wunderdroge die Sprache, und der Weg, diese zurückzuerlangen führt ihn gleichsam, ähnlich der Sekte in The Names wieder zurück in die archaische Lebensform, quasi weg aus der Zahlenwelt der Charts und Dollarmillionäre hin zum Erlernen der Sprache als Verweigerung der postmodernen Welt, einer metaphysischen Topographie. 52 D. DeLillo: The Names, S. 207. Gemeint ist hier die ›Unübersetzbarkeit‹ von Gefühlen in Daten. 252
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Begriff der Selbstauflösung ist. Bezeichnenderweise ist es die reale Topographie, die der archaischen Bewegung ein Ende setzt, da Kommunikationswege zu lang sind, um ein funktionierendes Kollektiv aufrecht zu erhalten. Dies führe zu Zersplitterungen und neuem Sektierertum, bis das Ziel aus den Augen verloren wurde. Das Scheitern der terroristischen Zellen durch ihre ideologiebedingte Ablehnung moderner Kommunikationswege lässt die vom Westen konstruierte abstrakte Topographie oberflächlich gesehen dann doch seltsamerweise als Gewinner erscheinen. Die Frage lautet also: Können wir – in Hinblick auf Syriana und The Names – von einer abstrakten Topographie sprechen, die sich über die konkrete, politische Kartierung hinwegsetzt und dieser eine neue, metaphysische Dimension hinzufügt? Wie auch in Syriana geht es in DeLillos Roman primär um »complex systems, endless connections«53, wie James Axton es ausdrückt. Diese Verbindungen werden in The Names via »the universal language of flight numbers, symbols empty of sensory experience and cultural particularity«54 gemacht, so LeClair. Auch in Syriana wird an einem gewissen Punkt der Konflikt zwischen dem technisierten Westen und dem ››archaischen‹‹ Nahen Osten plakativ illustriert. Die oben zitierten Worte des religiösen Predigers richten sich deutlich gegen die Welt der Zahlen und der kalten Analytik, als welche die westliche Welt definiert wird, zielen jedoch ebenfalls auf eine Gegenüberstellung von Archaik und Fortschritt. Tatsächlich scheint es, als ob die abstrakte Topographie, wie in The Names mit dem Bild des Teppichknüpfens treffend ausgedrückt, im Kontext des Ost-West-Konflikts auf beiden Seiten gerade deswegen eine so zentrale Stellung eingenommen hat, weil beide von ihr wie an unsichtbaren Verwurzelungen eines metaphysischen Rhizoms zusammengehalten werden und jeder Versuch der Entwirrung zu weiteren, undurchdringbaren Verbindungen führt.
Li ter at ur Baudrillard, Jean: L’esprit du terrorisme, in: Le Monde vom 2.11.2001. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 657-693. DeLillo, Don: Cosmopolis, London: Picador 2004. DeLillo, Don: Great Jones Street, Boston: Houghton Mifflin 1973. DeLillo, Don: Mao II., New York: Penguin 1991.
53 Ebd., S. 313. 54 T. LeClair: In The Loop, S. 183. 253
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DeLillo, Don: The Names, New York: Knopf 1982. Groys, Boris: Szenen einer Liebesbeziehung, in: Der Schnitt 03 / 2002, S. 94. Koolhaas, Rem: Junkspace, in: Chuihua Judy Chung, Jeffrey Inaba et al (Hg): Harvard School of Design Guide to Shopping, Köln: Taschen 2002. LeClair, Tom: In The Loop. Don DeLillo and the Systems Novel, Urbana & Chicago: University of Illinois Press 1987. Lefebvre, Henri: The Production of Space. Malden, MA et al: Blackwell 1991. Meurer, Ulrich: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne, München: Wilhelm Fink 2007. Seiler, Sascha: Das verschüttete Paradies - Die Darstellung des verlorenen ››Amerikanischen Traums‹‹ in Romanen über 9/11, in: KulturPoetik, Band 7/1 (2007), S. 47-65. Theweleit, Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell, Frankfurt/M, Basel: Stroemfeld 2002. Žižek, Slavoj: Willkommen in der Wüste des Realen, in: Christian Geulen/Anne von der Heiden/Burkhardt Liebsch (Hgg.): Vom Sinn der Feindschaft, Berlin: Akademie Verlag, S. 53-75
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E PILOG : H ISTORISCH - PHILOSOPHISCHE Z ÄSURERWARTUNG
DIE REDE EIN VERSUCH
ANHAND
NEUER
ZÄSUR. V O N N I ET Z S C H E S
VON DER
BILDLICHKEIT
STEPHAN PACKARD Was geschieht, wenn 9/11 als Zäsur bezeichnet wird? Während die Behauptung von einer kulturellen Zäsur am 11. September strittig ist,1 besteht kein Zweifel daran, daß die Anschläge und ihr weiterer Kontext in populären, politischen und philosophischen Diskursen jedenfalls immer wieder als Zäsur beschrieben, inszeniert und referenziert wurden: Nichts werde wieder so sein, wie es gewesen sei;2 die Geschehnisse seien emergent, ein Einbruch des Realen, sinnhafter Ordnung inkommensurabel, unberechenbar, traumatisch und im emphatischen Sinne ereignishaft.3 Jenseits der bestehenden Herausforderung an die Kritik, über solche Urteile zu entscheiden, sind die Bedingungen und Strukturen der vorliegenden Rede von Zäsur zunächst zu beschreiben: Wie werden entsprechende Äußerungen möglich, was konstituieren sie, wie können sie gelingen oder mißlingen? Die folgenden Überlegungen beginnen eine Suche nach den diskursiven Formationen, in denen eine Rede von Zäsur aufscheinen kann, und den Spezifika ihres Zeichengebrauchs. Es wird daher zunächst der Versuch einer systematischen Klärung der Verschränkung von Transformation und Kontinuität unternom1
2
3
Vgl. die Zusammenfassung in Anneka Esch van-Kan: »Ein-Brüche/Trotz allem. Zur ›Politik der Bilder‹ im amerikanischen Theater seit dem 11. September 2001«, in: Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009, S. 259-278, hier bes. S. 260ff. Matthias N. Lorenz weist darauf hin, daß diese Formulierung Bild und FAZ in seltener Einstimmigkeit zusammenbrachte. »Nach den Bildern – 9/11 als ›Kultur-Schock‹« (Vorwort), in: ders. (Hg.), Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. Septembers 2001, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 7-16, hier S. 7. Zur Diskussion vgl. Andreas Hetzel: »Das reine Ereignis«, in: Lorenz (Hg.): Narrative des Entsetzens (Anm. 2), S. 267-286. 257
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men, die einer kohärenten Rede von der Unterbrechung zugrunde liegen muß. Als entscheidend erweist sich dabei die Vorbereitung der Zäsur durch ihre diskursive Erwartung. Abseits der Kontexte, die die Suche motivierten, sollen diese grob skizzierten Kriterien dann anhand einer anderen Zäsurrede ausprobiert und verfeinert werden: Der Konzeption, Forderung und Setzung einer neuen Bildlichkeit in Nietzsches apokalyptischer Poetologie. Diese Studie steht dabei paradigmatisch für eine Reihe von Untersuchungen weiterer Zäsurdiskurse, von der es zu zeigen gilt, daß sie damit begonnen werden könnte. Denn erst durch die Einführung eines kategorialen Verständnisses der Zäsurrede kann die Erforschung der konstituierten Zäsur vom 11. September als Instanz einer semiotisch allgemein faßbaren Formation dem politisch absichtsvollen Pathos vom unkategorisierbaren Ereignis entzogen werden. Wo die Rede von der Zäsur sagt, nichts sei wie diese Zäsur, ist demnach zu antworten: jede Zäsurrede ist so.4
K o n ti n u i t ä t u n d T r an s f o r m a ti o n Wenn 9/11 als Zäsur bezeichnet wird, geschehen mindestens drei Dinge zugleich: Erstens wird mit ›9/11‹ ein Gegenstand gesetzt, von dessen Konstitution die folgende Prädikation ablenkt und abhängt: Ein Datum wird zum Namen von etwas, dessen Existenz zunächst vor allem darin besteht, unter diesem Namen identifiziert zu werden.5 Daß lexikalisierte Semantik und populäre Pragmatik des Namens weit auseinandergehen – nichts am Kalendertag ›11. September‹ ist dazu prädestiniert, just diese Ereignisse von diesem 11. September zu bedeuten –, entlastet diese Bedeutung gerade um ihren Sinn. Gemäß einer aristotelischen Ontologie, in der nichts sein kann, ohne etwas zu sein, legitimiert die Bezeichnung alsZäsur überhaupt erst das Sein als-9/11, und macht aus dem Namen den Anspruch auf Existenz. 9/11 gibt es, insofern es seine Benennung durch seine Teile gibt. In dieser Weise gehört zu ›9/11‹ im etablierten Sprechen 4
5
Damit wird selbstverständlich die historische Spezifizität dieser Formation nicht bestritten; inwiefern sie in beliebigen Kontexten und kulturellen Zusammenhängen möglich ist, wäre erst zu untersuchen. Bestritten wird aber jeder Beweis, der aus ihrer Spezifizität die Singularität ihrer Zäsur jenseits der spezifischen Rede herleitet. Zum Namen des Ereignisses als nicht getroffene Selektion aus der ›Stätte‹ des Ereignisses, einer Menge von Elementen, die in der Situation, in die das Ereignis einbricht nicht (als dieselben) präsent sind, vgl. Alain Badiou: L'être et l'événement, Paris: Seuil 1988, S. 223-233; sowie unten. 258
DIE REDE VON DER ZÄSUR
von 9/11 vieles, dessen Teilhabe nicht etwa durch die phänomenale Verbindung mit ein und demselben Geschehen oder einer singulären Handlung verbürgt wird: Neben dem ›11. September 2001‹ und ›den Anschlägen‹, dem ›World Trade Center‹ und ›Ground Zero‹ umfaßt die Kohäsion und Kohärenz eines zusammenhängenden post-9/11-Diskurses inzwischen ebensosehr andere Themen wie den Krieg im Irak, die Diskussion von Folter und Überwachung, den Hurrikan ›Katrina‹ und viele weitere. 9/11 ist, insofern sie alle 9/11 sind. Aber das präzisiert die Frage nur, ohne sie zu beantworten: Wie wird 9/11 auf diese Menge wiederholbarer, mit dem Anschein unmittelbarer Realität versehener Zeichen festgelegt, die in Zitat und Anspielung immerzu wiederkehren? Welche ideologischen Momente arretieren die wiedererkennbare Signatur dieses Komplexes? Zweitens wird die Konstitution mit der Beschreibung einer Unterbrechung und Zweiteilung verbunden, die im Begriff der ›Zäsur‹ miteinander verknüpft sind: 9/11 als Zäsur beobachten heißt, etwas als das zerteilte, pausierte zu beobachten, dem die Zäsur gilt. Insofern die sinnstiftende Beobachtung des 11. September sich der wie immer heterogenen ›Kultur‹ zuschreibt, beschreibt sie sich als derselben ›kulturellen Zäsur‹ unterworfen. Die sich damit andeutende Paradoxie einer Position, die ihre eigene Suspension und Division beobachtet, ist jedoch nicht zwingend und daher nur scheinbar paradox: Vielmehr wird durch die Setzung der Zäsur als ihr Objekt ein Gegenstand gesetzt, der von dem ungegenständlichen Prozeß der Beobachtung wesentlich verschieden sein muß. Das heißt also: Von der Zäsur reden, bedeutet zugleich, von einer Rede reden, die von der Zäsur tranchiert wird; diese zerschnittene Rede wird aber nur durch dieselbe Setzung mit der Zäsurrede, als deren Gegenstand sie zunächst hergestellt wird, identifiziert, und kann gar nicht in derselben Weise Rede sein wie sie. Eine solche triadische Reflexion zwischen subjektiver Rede, Zäsur und Redeobjekt wird nun gerade von der Dichotomie der behaupteten Zäsur ausgeschlossen.6 Die von der Zäsur nicht betroffene Rede wird dadurch zu jenem Teil der betroffenen Rede erklärt, der vor der Zäsur lag. Die Relevanz der Zäsur bestreiten heißt dann, in der Zeit der Zäsur vorgestrig zu sein; die Zeichen der Zeit nicht verstanden zu haben. Aber wie ist die doppelte Zeitlichkeit der Zä6
Die Figur wiederholt also die idealistische Aporie zwischen Denken und Sein, die vom subjektiven Denken nur als einem objektiven Sein denken kann. Eine Reflexionslogik, die dieser Verwirrung gerecht wird, muß dagegen eine triadische Relation zugrundelegen, wie sie Gotthard Günthers Kritik ebenso wie die pragmatizistische Semiotik von Charles Sanders Peirce vorstellen. Vgl. dazu Nina Ort: Reflexionslogische Semiotik, Weilerswist: Velbrück 2007, hier bes. S. 40ff. 259
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sur beschaffen und geschützt, die die Binarität eines Vorher und Nachher mit der Bestätigung und Ablehnung der Binarität identifiziert? Denn drittens wird die Zweiseitigkeit der Zäsur so zur imaginären Wiederholung der Grenze schlechthin, so daß jede weitere Definition und Begrifflichkeit in den Bann dieser einen Distinktion gerät und diese Distinktion dabei zugleich zu mehr gemacht wird, als es ein Ereignis oder Zeitpunkt wäre: Das Ereignis und der Zeitpunkt sind als Namen des Ganzen miteinander identisch, vom bloßen Geschehen und bloßer Zeitmessung verschieden, und rücken an die Stelle einer ›ersten Distinktion‹7, auf die alle weiteren Unterscheidungen als Tokens eines Typs bezogen werden. Rhetorisch ist diese Strategie in besonderer Weise immunisiert, da jede Alternative außerhalb des Raums dieser Unterscheidung auf eine der Seiten der Unterscheidung bezogen wird: Vor der Zäsur ist ohne Zäsur, und gerade deshalb ist jede Abwesenheit der Zäsur nur vorläufig – oder obsolet. Wenn aber jede spezifische Unterscheidung auf die allgemeine Zweiteilung des Raums der Zäsur reduziert wird, wie kann die Spezifizität dieses Raums dann noch vermittelt werden? Die Frage nach der Kohärenz, der doppelten Zeitlichkeit und der Vermittlung der Zäsurrede ergibt die grobe Skizze einer spezifischen Triade, die ihren Zeichengebrauch charakterisiert. Der Formation, die seine Pragmatik ermöglicht, können wir uns anhand einer semiotischen Rekonstruktion nähern, die die Konkurrenz vorhandener Konzeptionen zwischen Trauma, Ideologie und Ereignis reflektiert und aufnimmt. Entziffern wir zunächst die drei Bedingungen einer solchen Semiose nach den grundlegenden Begriffen der Erstheit, Zweitheit und Drittheit im Sinne von Charles S. Peirce. 8 Wenn die Zäsurrede vom subjektiven Diskurs einen beschriebenen Objektdiskurs trennt und ihn als den eigenen ausgibt, muß sie durch impliziten Gebrauch oder explizite Setzung die eigenen Zeichen auf jene des Dividierten, des Beschriebenen referieren lassen. Das heißt, sie muß 7 8
Durchaus im Sinne der ›first distinction‹ in George Spencer Brown: Laws of Form, Portland: Cognizer 1994, S. 3f. Vgl. z.B. Charles Sanders Peirce: »A Guess at the Riddle«, in: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, hg. v. Peirce Edition Project: Max H. Fisch u.a., Bloomington: Indiana UP 1982-, hier Bd. VI, S. 166210, sowie zusammenfassend Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. Stuttgart und Weimar: Metzler 2000, S. 65f. Erste Vorüberlegungen zu der folgenden Semiotik der Zäsur und eine Entwicklung am Beispiel populärer Superheldencomics nach 9/11 in Stephan Packard: »›Whose Side Are You On?‹ Zur Allegorisierung von 9/11 in Marvels Civil WarComics«, in: Poppe et al. (Hgg.): 9/11 als kulturelle Zäsur (Anm. 1), S. 317-336, hier bes. S. 322ff. 260
DIE REDE VON DER ZÄSUR
Zeichen verwenden, die die Zäsur einer Zeichenfolge bezeichnen und die sich selbst dabei in die selbe Zeichenfolge stellen. Durch diese Identifikation kann die Zäsurrede Kohärenz erhalten, indem weitere Zeichen der Zäsur an diese Zeichen anschließen können; durch die darin aufgehobene Differenz zwischen setzendem und gesetztem Zeichen kann eine doppelte Zeitlichkeit entstehen, indem die Zäsur ebensosehr in ihrem Diskurs wie in seinem Gegenstand bezeichnet werden muß; die spezifische Regularität, mit der Identität und Differenz hier aufeinander bezogen sind, soll die Vermittelbarkeit ihrer vielfältigen Semiosen beschließen: Sie ist die Regel der Zäsurrede. Ihrer Konvention zufolge ist die konkrete Realität der Zäsur gerade durch ihre Duplikation in Zeichen verschiedener Zeitordnungen garantiert, da diese ohne semantische Vermittlung geschieht und die verschiedenen Namen auf einander wie auf das Ereignis unmittelbar bezieht, um gerade dadurch das Ereignis als solches zu plausibilisieren. Die gemeinsame Qualität, die der symbolischen Identifikation zweier Elemente verschiedener Zeitordnungen zugrundegelegt wird, erlaubt dann eine ikonische Konfusion dieser indexikalischen Dyade. Diese abstrakte Entwicklung wird anhand eines gängigen Zeichens für den 11. September schnell anschaulich: Ein Bild zeige einen rauchenden Turm, dahinter den Anflug des zweiten Flugzeugs.9 Es ist damit ikonisches Zeichen des Geschehens: Es sieht aus wie dieses. Eine allgemeine Regel für die Interpretation von Photographien würde es nun erlauben, das Bild wegen seiner Ähnlichkeit zum Dargestellten als Zeichen für das Dargestellte zu verwenden; es würde dann gemäß den Konventionen für solche Symbole auch einen indexikalischen Anteil erhalten, durch den es nicht nur das Aussehen der Türme beim Angriff wiedergibt, sondern auf diesen einen konkreten Angriff in einem bestimmten Moment zeigt. Für die Zäsurrede reicht diese Semiose jedoch nicht aus. Für diesen Diskurs muß sie vielmehr durch eine andere ergänzt werden, in der die Relationen etwas verschieden ausfallen und in der das Bild zu mehr wird als zum bloßen Abbild des Geschehens, nämlich zum Bild eines Ereignisses im emphatischen Sinne. In diesem Umgang mit dem Zeichen wird das Bild selbst zu demjenigen, das die gängige Ordnung unterbricht: Die Bilder, nicht die Anschläge gehen um die Welt, und das Bild selbst wird noch vor dem, wovon es erzählt, als das Reale bestimmt, 9
Es ließen sich verschiedene Aufnahmen anführen, die diese Bedingung erfüllen. Gemeint ist aber gerade die generelle Qualität dieses Motivs, die sich dadurch auszeichnet, daß die wenigen Kennwörter ausreichen, ein solches Bild aus der Erinnerung zu evozieren. Vgl. zur sprachlichen Codierung dieser Bildwahrnehmung: Bernd Scheffer: »Kafka ans Telefon. Literatur leistet sich mediale Erfahrungen«, in: Sprache im technischen Zeitalter 36.146 (1998), S. 197-204. 261
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das mit ihm über uns herein- und in unsere Welt einbricht. Diese ›Dialektik des Ähnlichen und des Realen‹10 unterstellt sich einer Regel, die zwei Zeitordnungen symbolisch identifiziert: Die des Abbilds und die des Bilds als Suspension. Beide sind dann derselbe Einbruch, und nur auf diesen kann das Bild deuten. Es ist einer der Namen11 des Ereignisses im Sinne Badious, insofern es selbst Element seiner Ereignisstätte ist, und was es bezeichnet, könnte nur durch andere Namen wiedergegeben werden, weitere Bilder und andere Zeichen. Das Bild zeigt dann zwar den Anblick des Geschehens, aber es zeigt nicht auf das Geschehen, sondern auf seine Ereignishaftigkeit in dem Moment, in dem das Bild gesehen wird. Weitere Zeichen können genau dann kohärent angeschlossen werden, wenn ihnen dieselbe Qualität zugeschrieben wird: Genau dann sind Wörter wie ›Katrina‹ und Bilder wie der Gefolterte auf der Holzkiste Bilder derselben Zäsur. Vermittelbar wird die Zäsur, insofern weitere Semiosen die so vorbereiteten, (neu) gedeuteten Zeichen aufnehmen und im Sinne dieser Regel weiterverwenden. So werden zwei zunächst widersprüchliche Schilderungen gemeinsam fixiert: Der gewaltsame Einbruch des Realen in imaginäre und symbolische Ordnungen; und Bilder, die für jedermann den Eintritt des ultimativ anderen bedeuten. Diese beiden Positionen, die häufig in einem Atemzug vorgestellt werden, widersprechen einander diametral. Denn die behandelte Zäsur kann nicht in einfacher Weise jenseits der Ordnungen des Abbilds und der Referenz stehen und zugleich in einer (übrigens vergleichweise kleinen) Menge von Darstellungen begriffen sein. Undarstellbarkeit und mediale Gewalt können nur in einer komplexen Struktur aufeinander bezogen, nicht aber als identisch gedacht werden. Gerade das ist aber Voraussetzung für die Rede von der Zäsur, die jenes andere ihres Diskurses, das ihn unterbrechen soll, diskursiv enthalten muß. In diesem Sinne wird die mediale Imagination der allgegenwärtigen Bilderwelt eben von Bildern unterbrochen, die mindestens ebensosehr wie die Namen ›9/11‹, ›die Anschläge‹ usw. als leere Bezeichner des Ereignisses in Frage kommen. Ihre Leere entfernt sie aber nur scheinbar aus den Bezügen der Referenz; denn während sie sie als Bilder aushöhlt, macht es sie als Namen zu symbolischen anstelle von ikonischen, zu sprachlichen statt imaginären Zeichen. Diese Relation macht die Wirkung der Bilder erst möglich: Sie bestehen als Abbilder des Undarstellbaren, indem sie es durch das Angebot seiner Bilder in einen nennenden, nicht darstellenden Umgang einführen. Die Wiedergabe eines 10 So Slavoj Žižek: »Passions of the Real, Passions of Semblance«, in: Welcome to the Desert of the Real. Five Essays on September 11 and Related Dates, London und New York: Verso 2002, S. 5-32, hier S. 19. 11 Vgl. Anm. 5. 262
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der bekannten Bilder wird also nur insofern als Zeichen der Zäsur gebraucht, als sie nicht Bild, sondern Anrufung darstellt. In der Logik des Ereignisses verfehlen Bild und Entziehung des Realen einander und werden dadurch in ihre korrespondierenden Mängel überführt. Diese können im Augenblick ihrer gegenseitigen Verfehlung Trauma und Ideologie heißen. Insistiert das Trauma auf der Unzugänglichkeit des Realen im Symptom, besteht die Ideologie darauf, das Reale im Diskurs anzubieten. Das Trauma führt auf eine andere Reduplikation der Zeitlichkeit: In der Disposition zum Trauma ist ein zweites, ›infantiles‹ Ereignis verborgen, das sich im traumatischen Ereignis als Automatismus der Wiederholung auswirkt.12 Erst wenn beide in die Abfolge einer Erzählung aufgenommen werden, wird die doppelte Zeit zu der zweier Diskurse, von denen der eine den anderen erzählt und damit als geordneten Diskurs herstellt. Diese Doppelung wird damit endlich als die vergleichsweise einfache zwischen discours und histoire erkenntlich. Ideologie andererseits ist hier exemplarisch Ideologie in Bildern von Massenmedien und kann daher im Sinne von Heath als Formung der »unity of the real relations and the imaginary relations [...] and the real conditions of [...] existence«13 als die ultimative Gleichsetzung von Bild und Realem an der Stelle der symbolischen Ordnung verstanden werden. Erst durch ihre Entfaltung im anschließenden Diskurs verdoppelt sich ihre Zeit: Und dafür ist es zunächst unerheblich, ob die anschließende Kritik die Ideologie verneint oder bestätigt.14 Während das Trauma nach Erzählung verlangt, fordert die Ideologie zu Kritik auf. Beide unterlaufen den Bedarf des Ereignisses nach einer Entscheidung, die aus der Welt ohne Ereignis eine Sicht von vor dem Ereignis macht und diese durch die Welt, in der das Ereignis wahr ist, ersetzt.15 Sowohl die Erzählung als auch die Kritik rediskursivieren die Zäsur, ordnen sie in die Regularität jenes Umgangs mit Trauma und Ideologie ein, der sie bewältigt. Daran läßt sich die zentrale Unterscheidung zwischen der Zäsur ihres eigenen Diskurses und dem Ereignis festmachen: Die Zäsur ist gerade insofern kein Ereignis, als sie sich ihrem Diskurs nicht endgültig verwehrt, noch ihn durch einen anderen ersetzt; denn sie wird durch ihn konstituiert und bestätigt ihn. Die Zäsur konstituiert zwar auch die Logik der Namen des Ereignisses, aber sie tut dies nur 12 Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke XI, hg. v. Anna Freud et al., London: Imago 1944ff., hier S. 376. 13 Stephen Heath: Questions of Cinema, London: Macmillan 1981, S. 5. 14 Vgl. Slavoj Žižek: The Sublime Object of Ideology, London: Verso 1989. 15 Vgl. A. Badiou: L'être et l'événement, S. 223ff. 263
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durch den entsprechenden Gebrauch der Zeichen: Sie läßt ihre Ereignishaftigkeit aus ihren Namen entstehen. Sie findet ihren Ort auch nicht im Trauma, sondern in seiner Erzählung; nicht in der Ideologie, sondern in ihrer Kritik – ohne daß Erzählung und Kritik dabei aus einem bestimmten Trauma herausführen oder eine bestimmte Ideologie überwinden würden. Sie ist gerade keine Transformation, nicht das diskursive Ergebnis von Diskontinuitäten und Brüchen, das nach Foucaults Unterscheidung eine Veränderung »nicht provoziert, sondern konstituiert«,16 sondern besteht in der Kontinuität eines Diskurses, der von Brüchen und Diskontinuitäten redet. Als kontinuierlicher betrifft er insbesondere auch jenen Bereich vor der Zäsur, der von ihm einer ganz anderen Ordnung zugeschrieben wird: Er betrifft seine eigene Vorbereitung, jenen Raum, in dem die Zäsur ermöglicht wird. So erinnert uns Žižek: »When we hear how the attacks were a totally unexpected shock, how the unimaginable Impossible happened, we should recall the other defining catastrophe from the beginning of the twentieth century, the sinking of the Titanic: this, also, was a shock, but the space for it had already been prepared in ideological fantasizing, since the Titanic was the symbol of the might of nineteenth-century industrial civilization. Does not the same hold also for these attacks? […] That is the rationale of the often-mentioned association of the attacks with Hollywood disaster movies: the unthinkable which happened was the object of fantasy, so that, in a way, America got what it fantasized about, and that was the biggest surprise.«17
Zu fragen ist also nach dem Zäsurdiskurs vor der Zäsur; dieser ist im Vergleich mit anderen, früheren Zäsuren aufzufinden. Die gesuchte Vorbereitung der Zäsur kann als Erwartung, Provokation, Postulat, als Furcht vor oder Wunsch nach der Zäsur formuliert sein. Da das Erwartete – keineswegs allein in der Kunst – wiederum Redeweisen betrifft, kann die Rede von der Zäsur sich zugleich selbst performieren; sie erfüllt dann eine traditionelle Forderung nach Literarizität, insofern diese als Selbstreflexivität verstanden wird. Die Suche nach einer literarischen Zäsur gilt demnach der Vorbereitung der Beobachtung einer poetischen Zäsur, die innerhalb etablierter Diskurse möglich ist, und die vorbereitende Be-
16 Michel Foucault: »Antwort auf eine Frage«, übs. v. H. Kocyba, in: Dits et Écrits: Schriften, Bd. I: 1954-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 859-886, hier S. 864. Vgl. auch Archäologie des Wissens, übs. v. U. Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 11ff., 22ff., 245ff., 298ff.; sowie Die Ordnung des Diskurses, übs. v. W. Seitter, Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 13ff., 196ff. 17 S. Žižek: Passions of the Real, S. 15f. 264
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schreibung der Zäsur muß dabei als eine Beschreibung ihrer eigenen Ästhetik fungieren.
N i e tz sc h e s n e u e B i l d l i c h k e i t Nietzsche18 erwartet und performiert in seiner Poetologie eine solche Zäsur, die eine Umschaffung des Bildes betrifft und die an der Selbstbeobachtung seiner Zeit als Übergang in eine neue Moderne ihren Anteil hat. Damit ist für die anderen Zäsuren ein einzelnes Beispiel gewählt, dem nicht nur in anderen Diskursen und anderen Künsten, nicht nur bei anderen Autoren und in anderen Genres, sondern selbst innerhalb von Nietzsches eigener Poetologie und Philosophie zahlreiche andere anzuschließen wären. Nietzsches Konzeption neuer Bildlichkeit bietet sich jedoch besonders an, insofern damit die Engführung von eng gefaßter Modernität und transmedialer Visualität zugleich mit jener Rede von der Zäsur gezeigt werden kann, die Formationen der Dekadenz nahtlos mit ästhetischen Innovationen verbindet. Ist damit einerseits der mediale Bruch der Moderne als rhetorische Transformation reflektiert, so ist daran andererseits die Anschlußfähigkeit des innovativen Wandels als vormoderne Konzeption von Modernität zu demonstrieren. Mit der transmedialen Visualität der Moderne ist eine mediale Veränderung gemeint, die sich vor allem mit neuen Formen des Bilds beschäftigt. Gehört zu den Objekten, die im medialen Wandel aufscheinen, die Vielzahl technischer und formaler Innovationen der Photographie, des Films, der Collage und des Comics, so holt die Zäsurrede diese für die Literatur ein, indem sie sie ebenso in einer Veränderung des Umgangs mit übertragenem Sichtbaren in der Anschaulichkeit sprachlicher Kunstwerke, in der Außenperspektive neuer Erzählformen und in neuen Verfahren für bildliche Metaphern in Gedichten konstruiert. Dies geschieht sogar in privilegierter Weise, insofern die literarische Bildlichkeit den technischen Innovationen vorausgeht19 und die neue Bildlichkeit in der Differenz neuerer zu früheren sprachlichen Formen hier in einen besonders deutlichen Kontrast tritt. Bildlichkeit wird so einerseits zu einer 18 Vgl. zum folgenden sowie zu seiner Bedeutung für Leseweisen der modernen Lyrik: Stephan Packard: »Das umgeschaffene Bild. Nietzsches erwartete mediale Zäsur in der Lyrik der Jahrhundertwende«, in: Dok-il-munhak (Zeitschrift der koreanischen Gesellschaft für Germanistik) 110 (2009, i.E.). 19 Jacques Rancière zieht den Bogen von Diderots Brief an die Taubstummen bis zum ›showing‹ in Flauberts Bovary: Vgl. »Le destin des images«, in: Le destin des images, Paris: La Fabrique 2003, S. 7-39, hier S. 19ff. 265
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Zuspitzung der verschiedenen Charakterisierungen der Moderne als Konzentration auf eine medial verstandene ästhetische Fragestellung. Gleichzeitig kann diese neben der Programmatik einer ›Moderne‹ im Naturalismus und Symbolismus als Fortsetzung und Fokussierung eines Grundproblems der schon antiken Rhetorik gelesen werden, insofern Nietzsches Bilder, wie zu zeigen sein wird, Tätigkeit (energeia) und Anschaulichkeit (enargeia) in eine neue Beziehung setzen. Inwiefern wird nun die Jahrhundertwende für Zeitgenossen gerade deshalb als Umbruch wahrnehmbar, weil für diese Wahrnehmung einer Zäsur Begriffe vorbereitet sind? Die vorausgehende Erwartung bezieht sich gerade auf das fin de siècle. Statt mit der in ihr beschriebenen Wende zu enden oder aus ihr erst hervorzugehen, faßt diese Erwartung beide Seiten der beschriebenen Opposition in sich, indem sie eine Ästhetik der Verwandlung von Tätigkeit in Sichtbarkeit exerziert und problematisiert. Nietzsches apokalyptische und prophetische Rede betont immer wieder, daß sich alles ändern werde, und begreift sich zugleich selbst als Schauplatz der Veränderung und deren Überwindung. Welche Erwartung bringt Nietzsche der medialen Zäsur entgegen? »Alles Schaffen ist Umschaffen«, stellt er schon in Notizen vom Juni und Juli 1883 fest, wo Textstellen aus dem zweiten und dem späteren vierten Teil des Zarathustra nebeneinander stehen.20 Dieser generelle Grundsatz seiner Ästhetik wird sofort mit der sprachlich realisierten Metapher von bildender Kunst verbunden: »Alles Schaffen ist Umschaffen – und wo schaffende Hände wirken, da ist viel Sterben und Untergehen. Und nur das ist Sterben und in Stücke gehen: ohne Erbarmen schlägt der Bildner auf den Marmor. Daß er das schlafende Bild aus dem Marmor löse, darum muß er ohne Erbarmen sein: darum müssen wir Alle leiden und sterben und Staub werden. Aber wir selber sind die Bildner auch in dem Dienst seines Auges: oft erzittern wir selber vor der schaffenden Wildheit unserer Hände.«21
Diese Stelle führt drei zentrale Elemente von Nietzsches Bildentwurf ein. Erstens: Das Bild kommt aus einem Sterben, und dieser Vorgang bedarf einer Erbarmungslosigkeit. Zweitens: Ein Bildner ist am Werden des
20 Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin: dtv 1967-1988 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle KSA, gefolgt von Band- und Seitenzahl), Bd. 10, S. 371. Die Stelle wird auch im zweiten Teil des Zarathustra im Kapitel »Auf den glückseligen Inseln« wiederholt, KSA 4, S. 109-112. 21 KSA 10, S. 371. 266
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Bildes beteiligt und übt diese Erbarmungslosigkeit aus, und zugleich wird ihm eine funktionale Stelle zugewiesen, die auch die eines Betrachters ist, da Beobachtung oder Wahrnehmung als formende Aktivität verstanden wird. In dieser aktiven Beobachtung wird das erbarmungslose Anheimgegebensein ans Sterben teilweise kompensiert (›Aber wir selber –‹). Und drittens: Es besteht in dieser Aktivität von Bildendem und Sehendem eine Verschränkung zwischen Auge und Händen, Bildlichkeit und Tätigkeit. Denn während der Bildner über ein Auge verfügt, dem der Beobachter dient, sind diesem die Hände zu eigen, deren Tätigkeit ihn wiederum erschreckt. Nietzsches Philosophieren ist als ›figurativ‹ und als ›anschaulich‹ bezeichnet worden,22 und diese Anschaulichkeit ist in der zitierten Passage offensichtlich. Es ist aber auch sofort zu erkennen, daß die Figurativität erst langsam zur Anschaulichkeit entwickelt wird: Schaffende Hände, Sterben und Untergehen sind bereits metaphorische Ausdrücke, die aber zusammen noch kein bestimmtes sichtbares Bild ergeben; dieses wird erst mit dem Bildhauer eingeführt, was die Orientierung am Umschaffen unmittelbar illustriert. Im Sinne der klassischen Rhetorik verfügt diese Metapher zunächst nur über energeia, werktätige Aktivität, und erst am Ende der Passage über enargeia, Sichtbarkeit für (geistige) Augen:23 Dem ursprünglichen aristotelischen Lob für die Auswahl von Metaphern und Vergleichen, deren uneigentlicher Teil Lebendigkeit und Aktivität einem eigentlich gemeinten allgemeinen Begriff oder statischen Sachverhalt hinzufügt, steht spätestens seit Quintilian die Orientierung auf Sichtbarkeit als Expansion im Raum, als Farbigkeit, kurz als buchstäbliche Anschaulichkeit des Uneigentlichen gegenüber. Ist beiden Kriterien die Sinnlichkeit der gesuchten Trope gemeinsam, ist gerade die letztere für die selektive Externalisierung von Sinnlichkeit in den neuen Bildmedien des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts in besonderer
22 Vgl. Lars Niehaus: »Figurativität, Physiologie und Religion. Nietzsches experimentalphilosophische Überlegungen zu einer diätetischen Religionskritik«, in: Matthias Buschmeier/Till Dembeck (Hg.): Textbewegungen 1800/1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 325-341, hier S. 326. 23 Vgl. Aristoteles: Rhetorik 1410ff.; Quintilian, Ausbildung des Redners VIII 2-3; Cicero, Redner III157, 160-163; vgl. auch Bernhard Asmuth: »Seit wann gilt die Metapher als Bild? Zur Geschichte der Begriffe ›Bild‹ und ›Bildlichkeit‹ und ihrer gattungspoetischen Verwendung«, in: Gert Ueding (Hg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 299-309; sowie Hendrik Birus: »Picturing It. The Issue of Visuality in the Classical Theory of Metaphor«, in: arcadia 38 (2003), S. 314322. 267
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Weise anschlußfähig. Jenseits bloß technischer Apparate nimmt sie damit eine Ästhetisierung des räumlich präsenten und in dieser Präsenz adressierbaren, aber als sichtbaren gerade stummen Objekts wieder auf.24 Die Opposition zwischen energeia und enargeia, die als Prozeß letztere aus ersterer entwickelt, findet sich in vielen von Nietzsches Metaphern wieder, in denen sich häufig eine klare Trennlinie zwischen Vergleichen von Arbeiten und im engeren Sinne visuellen Bildern ziehen läßt; und die damit einen Perspektivismus umsetzen, der von der Spannung lebt, die zwischen dem Tun des sehenden Subjekts und dem immer nur dadurch Sichtbaren besteht. Die vielleicht pointierteste Formulierung findet sich in Der Wanderer und sein Schatten, als wiederum aus (hier poetischer) Tätigkeit, die zunächst nicht sichtbar, sondern hier hör- und lesbar ist, durch die Einführung von ›nackt‹ und ›bekleidet‹, von ›Schönheit‹ und ›Bildhauerist, durch die Einführung von ›nackt‹ und ›bekleidet‹, von ›Schönheit‹ und ›Bildhauer‹ der Umschlag von zwar schon energisch-metaphorischer Prosa in erst dann anschauliche Sinnlichkeit stattfindet: »Unsere Prosa. – Keines der jetzigen Culturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen: es giebt keine deutsche Prosa, – so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir’s verdienen. Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebniss, dass der Deutsche nur die improvisierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiäner sagt, dass Prosa gerade um soviel schwerer sei als Poesie, um wieviel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei, als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen, – das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreifdichtung einen besonders hohen Werth zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? – es ist ihm, als ob man ihm etwas aus dem Fabelland vorerzählte.«25
Sprache wird durch Arbeit zur Bildsäule. Als Forderung wird dieses differenzierte Bildverständnis erst erkenntlich, wenn seine Spannung mit einer weiteren Differenz verbunden wird: Nietzsches Kritik an den Dichtern. Denn trotz Nietzsches dichterischer und besonders figurativer Sprache greift er klassische Dichter immer wieder heftig an. So steht in der Nachbarschaft der eben zitierten Passage folgende Invektive gegen Goethes Metaphorologie, wonach »alles Vergängliche [...] nur ein Gleichnis« sei, und das »Unzulängliche« nur »als Ereignis«, in der dramatischen 24 Vgl. J. Rancière : »Le destin des images«. 25 F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II: »Der Wanderer und sein Schatten«, No. 95, KSA 2, S. 595. 268
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Gattung, verwirklicht werden könne.26 Nietzsche betrachtet diese Poetologie als allzu empfindsam für die Forderungen der Moderne; sie lebe in einem liebenden anstelle eines erbarmungslosen Subjekts: »Das Unvergängliche – das ist nur ein Gleichniß, und die Dichter lügen zu viel. [...] Und am liebsten ist ihnen das Reich der Wolken: da setzen sie ihre bunten Bälge darauf und heißen sie Götter. Und wenn sie in einem Garten liegen unter Bäumen oder an einem Felsenhang vor den Blumen einsam reden, so meinen sie ihre zärtl Empf sei Erkenntniß. Sie glauben alle, daß die Natur in sie verliebt sei und horche immer herum auf ihre Schmeicheleien.«27
Dennoch gibt es eine Dichtung, die vor Nietzsches Kritik bestehen kann; einige Kapitel später heißt es im Zarathustra: »Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die Dichter zuviel lügen? – Aber auch Zarathustra ist ein Dichter. [...] Dieses Gleichniss sage ich den Dichtern. Wahrlich, ihr Geist selber ist der Pfau der Pfauen und ein Meer von Eitelkeit! Zuschauer will der Geist des Dichters [...]. Aber dieses Geistes wurde ich müde: und ich sehe kommen, dass er seiner selber müde wird. Verwandelt sah ich schon die Dichter und gegen sich selber den Blick gerichtet.«28
Das bringt die Forderung nach einer neuen Dichtung durch einen neuen Umgang mit Gleichnissen und Schauen auf den Punkt. Beide Ambivalenzen, zwischen Tätigkeit und Schauen sowie zwischen Dichterkritik und philosophischer Figurativität, verbinden sich in dem eingangs zitierten Bild vom erbarmungslosen Bildhauer. Mit der dort geforderten Umschaffung des Bilds zum neuen Bild des neuen Zeitalters ist zugleich die wesentliche Bedeutung des Umschaffens für das neue Bild ausgesprochen. Denn, so Nietzsche wiederum: »diess bedeute euch Wahrheit, dass alles verwandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares [...]! Eure eigenen Sinne sollt ihr zu Ende denken!«29 Die sinnliche Anschaulichkeit des Bildes wird also geradezu gefordert, aber dabei als
26 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Faust. Texte, hg. v. A. Schöne, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (=Sämtliche Werke, Bd. I.7/1), S. 464. 27 KSA 10: 370; auch dies in den »glückseligen Inseln«, KSA 4, S. 110. 28 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, II. Teil: »Von den Dichtern«, KSA 4, S. 163-166. 29 Ebd., KSA 4, S. 110. 269
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notwendige Begrenzung vorgestellt, die schmerzhaft sein und der Erbarmungslosigkeit bedürfen kann. Entsprechend verfährt Nietzsche am Ende des Zarathustra mit der Anschaulichkeit als Motiv der Erkenntnis in der Philosophie. Einerseits ruft er: »Blitz meiner Weisheit! Stich ihnen die Augen aus!«30 Andererseits begreift er im Finale »mit Einem Blicke Alles«.31 Die Anschauung wird verneint, wo sie den beschränkten Fähigkeiten der Menschen entspricht; und zugleich bejaht, da sie weiterhin Erkenntnis heißt, die freilich wiederum des tätigen und erbarmungslosen Subjekts bedarf: »Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens Zeige- und Werde-Lust«,32 so Nietzsche: Das so beschriebene Bild ist in seiner Zeigbarkeit und Sinnlichkeit ans Werden gebunden, und gerade deshalb bei aller Lust von vornherein ›nur‹ dies, beschränkt. Diese doppelte Ambivalenz zwischen Tätigkeit und Bildlichkeit einerseits und zwischen Beschränkung und Bejahung des Werdens andererseits spiegelt einen Gegensatz, der für Nietzsches gesamte Entwicklung bestimmend ist und sich im Wandel seines Verhältnisses zu Wagner am deutlichsten äußert, jenem Dichter mit Bildern, dem »dityhrambischen Dichter«.33 In seinem ersten Loblied an und für Wagner, der Geburt der Tragödie, lobt Nietzsche bereits die Verbindung, das »geheimnisvolle[] Ehebündnis«34 des Apollinischen und des Dionysischen als einerseits apollinische, »bildende[] Kunst, [...] auch [...] einer wichtigen Hälfte der Poesie«35 und der dionysischen, musikalischen »Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.«36 Seine Poetologie setzt damit eine Suche nach einem bildlich-poetischen Gesamtkunstwerk fort, das Sehen und Tun zusammenführen soll und so die Brücke zwischen erzählender und darstellender Medialität herstellt. Sie reicht mindestens bis zu Lessings Laokoon zurück, der die Differenz durch das bewegte Bild des Theaters zu überbrü-
30 Ebd., IV. Teil: »Vom höheren Menschen«, KSA 4, S. 360. Frühe Notizen zu diesen Stellen finden sich in seinen Notizen von 1883 neben den zitierten Stellen des II. Teils von Zarathustra, vgl. KSA. 10, S. 368ff. 31 Ebd., »Das Zeichen«, KSA 4, S. 407. 32 Ebd., II. Teil: »Auf den glückseligen Inseln«, KSA 4, S. 11. 33 Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtung IV. Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, S. 429-509, passim. 34 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, KSA 1, S. 42. 35 Ebd., KSA 1, S. 26. 36 Ebd., KSA 1, S. 29. 270
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cken hoffte.37 Auch bei Nietzsche scheint dies zunächst nur auf Theateroder Opernbühnen teilweise zu verwirklichen; Wagner beschrieb seine Lösung 1849 in der Trias von »Tanz«, »Ton« und »Tichtung« [sic].38 Um 1900 wird sie zwar in den neuen erzählenden Bildmedien des Films und des Comics in einer neuen Form Realität, sehr wohl aber auch in einer umgeschaffenen und umschaffenden Bildsprache der Dichtung. Denn als Nietzsche sich schließlich gegen Wagner wendet, strebt er nach dem »Auge Zarathustras, ein[em] Auge, das die ganze Thatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht«.39 Die Darstellung von Wagner als »Sceniker« und als »Schauspieler«40 zwischen Musik und bildender Dichtung wird für Nietzsche dann zur »Diagnostik der modernen Seele«; das dionysisch-tätig hervorgebrachte apollinische Bild markiert die Zäsurerfahrung einer Moderne, die nach ihrer Überwindung erst noch dasjenige werden solle, was Nietzsche dann vor allem durch sein Fehlen bezeichnet, und wozu die Erbarmungslosigkeit des Bildners den ersten Ansatz liefert: Aus ihr heraus wird die Mitleidlosigkeit möglich, die Nietzsche am Ende von Dichtern, Bildermachern und Philosophen gleichermaßen fordert, und mit der Zarathustra endet, nachdem der Protagonist zugesehen hat, wie die ›höheren Menschen‹ von wilden Tieren zerrissen wurden und seine philosophischen Erörterungen in Gesprächen gleichzeitig mit dem Text enden. So ist die Anschaulichkeit der Metapher in der von Nietzsche erwarteten medialen Zäsur zu bestimmen: Als durch Tätigkeit erst hergestellte Sichtbarkeit, die durch den Bezug zum tätigen Subjekt spezifisch und perspektivisch wird, und die dadurch mit jener Ambivalenz verbunden werden kann, die vom Subjekt Erbarmungslosigkeit fordert. Diese Forderung ergibt sich aus der Beschreibung der Zäsur, die als Schwellenerfahrung die Forderung noch keineswegs erfüllt. Die Zäsurerwartung Nietzsches unterscheidet daher nicht zwei Seiten einer Zäsur, sondern drei Stufen: Bildlichkeit wird aus Tätigkeit geschaffen, und dies gilt als modern; Modernität in diesem Sinne ist aber nicht als Ergebnis der Zäsur, sondern als Durchgang durch sie konzipiert, so daß ihre tätige Bildlichkeit wiederum zu überwinden und in fortgesetzter Prozeßhaftigkeit und 37 Vgl. dazu Stephan Packard: »Zwischen Physiognomik und Zeichenlehre. Lessings Affektsemiologie am Eingang der Hamburgischen Dramaturgie«, in: Anne Bohnenkamp/Matias Martinez (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethezeit, Göttingen: Wallstein 2008, S. 335-356. 38 Vgl. Richard Wagner: Die Kunst und die Revolution, Leipzig: Otto Wigand 1849. 39 F. Nietzsche: Der Fall Wagner, KSA 6, S. 12. 40 Ebd., S. 28. 271
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erneuter Erbarmungslosigkeit aufgegeben werden soll. Es ist diese letzte Ambivalenz, die Blendung durch Blitz und Erkenntnis durch Blick zusammenfügt. Gerade durch diese Dreiteilung aber gelingt die Diskursivierung einer Zäsur, die den Diskurs unterbrechen soll, in ihm aber zugleich nicht nur beschrieben, sondern performiert wird.
L i t e r at u r Asmuth, Bernhard: »Seit wann gilt die Metapher als Bild? Zur Geschichte der Begriffe ›Bild‹ und ›Bildlichkeit‹ und ihrer gattungspoetischen Verwendung«, in: Gert Ueding (Hg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 299-309. Badiou, Alain: L’être et l’événement, Paris: Seuil 1988. Birus, Hendrik: »Picturing It. The Issue of Visuality in the Classical Theory of Metaphor«, in: arcadia 38 (2003), S. 314-322. Esch van-Kann, Anneka: »Ein-Brüche/Trotz allem. Zur ›Politik der Bilder‹ im amerikanischen Theater seit dem 11. September 2001«, in: Poppe et al. (Hgg.), 9/11 als kulturelle Zäsur, S. 259-278. Foucault, Michel: »Antwort auf eine Frage«, übs. v. H. Kocyba, in: Dits et Écrits: Schriften, Bd. I: 1954-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 859-886. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, übs. v. U. Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, übs. v. W. Seitter, Frankfurt a.M.: Fischer 1991. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke XI, hg. v. Anna Freud et al., London: Imago 1944ff. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Faust. Texte, hg. v. A. Schöne, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (=Sämtliche Werke, Bd. I.7/1). Heath, Stephen: Questions of Cinema, London: Macmillan 1981. Hetzel, Andreas: »Das reine Ereignis«, in: Lorenz, Matthias N. (Hg.): Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. Septembers 2001, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 267-286. Lorenz, Matthias N. (Hg.): Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. Septembers 2001, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Lorenz, Matthias N.: »Nach den Bildern – 9/11 als ›Kultur-Schock‹« (Vorwort), in: Lorenz (Hg.), Narrative des Entsetzens, S. 7-16.
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DIE REDE VON DER ZÄSUR
Niehaus, Lars: »Figurativität, Physiologie und Religion. Nietzsches experimentalphilosophische Überlegungen zu einer diätetischen Religionskritik«, in: Matthias Buschmeier/Till Dembeck (Hg.), Textbewegungen 1800/1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 325-341. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin: dtv 1967-1988. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. Stuttgart und Weimar: Metzler 2000. Ort, Nina: Reflexionslogische Semiotik, Weilerswist: Velbrück 2007. Packard, Stephan: »Zwischen Physiognomik und Zeichenlehre. Lessings Affektsemiologie am Eingang der Hamburgischen Dramaturgie«, in: Anne Bohnenkamp/Matias Martinez (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethezeit, Göttingen: Wallstein 2008, S. 335-356. Packard, Stephan: »›Whose Side Are You On?‹ Zur Allegorisierung von 9/11 in Marvels Civil War-Comics«, in: Poppe, Sandra/Schüller, Thorsten/Seiler, Sascha (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009, S. 317-336. Packard, Stephan: »Das umgeschaffene Bild. Nietzsches erwartete mediale Zäsur in der Lyrik der Jahrhundertwende«, in: Dok-il-mun-hak (Zeitschrift der koreanischen Gesellschaft für Germanistik) 110 (2009, i.E.). Peirce, Charles Sanders: »A Guess at the Riddle«, in: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, hg. v. Peirce Edition Project: Max H. Fisch u.a., Bloomington: Indiana UP 1982-, hier Bd. VI, S. 166-210 Poppe, Sandra/Schüller, Thorsten/Seiler, Sascha (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009. Rancière, Jacques: »Le destin des images«, in: Le destin des images, Paris: La Fabrique 2003, S. 7-39. Scheffer, Bernd: »Kafka ans Telefon. Literatur leistet sich mediale Erfahrungen«, in: Sprache im technischen Zeitalter 36.146 (1998), S. 197-204. Spencer Brown, George: Laws of Form, Portland: Cognizer 1994. Wagner, Richard: Die Kunst und die Revolution, Leipzig: Otto Wigand 1849. Žižek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology, London: Verso 1989. Žižek, Slavoj: »Passions of the Real, Passions of Semblance«, in: Welcome to the Desert of the Real. Five Essays on September 11 and Related Dates, London und New York: Verso 2002, S. 5-32.
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AUTORINNEN
UND
AUTOREN
de Simoni, Christian (Bern), geb. 1979, studierte Neuere Deutsche Literatur, Kommunikations- und Medienwissenschaften an den Universitäten Bern, Köln und Zürich und promovierte 2009 über Betroffenheitsgesten in die Anschläge vom 11. September 2001 verarbeitenden Texten aus dem deutschen Sprachraum. Letzte Buchveröffentlichung: »Es war aber auch ein Angriff auf uns selbst«. Betroffenheitsgesten in der Literatur nach 9/11 (2009). Er arbeitet als Texter, Ghostwriter und Redakteur in Bern (CH). Deupmann, Christoph (Karlsruhe/Kiel), geb. 1967, wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Literaturwissenschaft des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT); z. Zt. Vertretung einer Juniorprofessur an der Universität Kiel. Publikationen: ›Furor satiricus‹. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jh. (Tübingen 2002); Paradoxien der Wiederholung. (2003) (zusammen mit Robert André); Theodor Storms Novellen (2008) (Reihe Interpretationen, RUB 17534); Aufsätze zur Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Engelmann, Jonas (Mainz), hat von 1998 bis 2006 in Mainz Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft studiert. Derzeit promoviert er mit einem Stipendium der HansBöckler-Stiftung über »Perspektiven graphischen Erzählens – Zur selbstreflexiven Ästhetik des zeitgenössischen Autorencomic«. Daneben journalistische Arbeiten für unterschiedliche Zeitungen. Diverse Beiträge in Sammelbänden, zuletzt: »Die schwarze Welt der Träume«. David B.s Die heilige Krankheit und der Verlag L’Association. Hennigfeld, Ursula (Freiburg), geb. 1977, Juniorprofessorin für Romanische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Petrarkismus, Ruinenpoesie, KZ-Literatur, Terror und Roman. Publikationen: Der ruinierte Körper. Petrarkistische Sonette in transkultureller Perspektive (2008); Literarische Gendertheorie: Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette (zus. mit F. Hörner und U. LinkHeer) (2006).
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VON ZÄSUREN UND EREIGNISSEN
Husseini, Shadia (Erlangen), geb. 1978, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeographie, postkoloniale Theorie, Translation Studies, Migrationsforschung. Promotion zum Thema: »Imaginative Geographien von Eigenem und Anderem in arabischen Printmedien. Eine diskursanalytische Untersuchung am Beispiel al-Hayat, Asharq Alawsat und al-Quds al-Arabi.« Koch, Lars (Siegen), geb. 1973, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Universität Siegen. Antragsteller und Koordinator des DFG-Netzwerks »Spielformen der Angst«. Mitveranstalter der von der DFG geförderten internationalen Tagung »Störfälle/Epistemologie – Performanz – Ästhetik« (Mai 2010). Aktuelle Buchpublikationen: Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm (mit Wara Wende) (2010) (im Druck); Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960 (2007). Meyhoff, Karsten Wind (Kopenhagen), geb. 1975, ist Doktorand am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaft an der Universität in Kopenhagen, Dänemark. Chefredakteur von Lettre International, Dänemark. Forschungsschwerpunkte: Kriminalliteratur, Science Fiction, klassischer und moderner Film, Kulturtheorie, Amerikanische und Skandinavische Literatur. Letzte Bucherveröffentlichungen: Forbrydelsens elemente Kriminallitteraturens historie fra Poe til Ellroy (2009); Björlings metode. Et portræt af Gunnar Björling og hans naturdigtning (2008); At se sig selv sanse. Samtaler med Olafur Eliasson (mit Anna Engberg-Pedersen, 2004). Als Herausgeber: Turisthistorier. Rejse, turisme og repræsentation (mit Søren Lose und Johanne Løgstrup, 2007); Fodnoter. Træk af vandringens historie (2005); Mellem ørerne. PERformer HØJHOLT. Mediekunst fra 1967 og frem (mit Jacob Kreutzfeldt und Morten Søndergaard) (2004). Packard, Stephan (München), geb. 1978, ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte betreffen die semiotische und psychoanalytische Untersuchung traditioneller und neuer Medien, darin insbesondere Theorien der Trope, Phänomene der Zensur und anderer Formen textueller Kontrolle sowie historische und systematische Aspekte der Affektsemiotik. Er ist aktives Mitglied der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor). Publikation: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Comicanalyse (2006).
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Petersen, Christer (Cottbus), geb. 1971, seit 2006 Juniorprofessor für Angewandte Medienwissenschaften an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Zuvor Lecturer am Department of Languages, Literatures and Film des University College Dublin in Irland, wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Assistant Professor am Department of German and Slavic Studies der University of Manitoba in Winnipeg, Kanada. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt auf dem Gebiet der Medialisierungsprozesse politisch motivierter Gewalt. Buchveröffentlichungen: Der postmoderne Text (2003), Das Spielfilmwerk Peter Greenaways (2009), Begründer und Herausgeber der Reihe Zeichen des Krieges (2004, 2006, 2008). Aufsätze zu literaturwissenschaftlichen, filmphilologischen sowie medien- und kulturwissenschaftlichen Themen. Rickli, Christina (Zürich/Bern), geb. 1978, schreibt zurzeit ihre Doktorarbeit »Traumatized Culture or Cultured Trauma: American Literature Post-9/11« an der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: Amerikanische Moderne, zeitgenössische amerikanische Literatur, Bedeutung der Apokalypse innerhalb der amerikanischen Kultur. Letzte Publikation: »An Event ›Like a Movie‹? Hollywood and 9/11«. Schmidtgall, Thomas (Saarbrücken), geb. 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Forschungsschwerpunkte: Amerikanisierung und Antiamerikanismus im romanischen Raum, transatlantische Beziehungen, interkulturelle Trainings in Forschung und Praxis, Romanische Film- und Medienwissenschaft, Erinnerungs- und Gedächtniskulturen. In Vorbereitung: Dissertation zum Thema Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis. Zur interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen des 11. Septembers in Deutschland, Frankreich und Spanien. Schüller, Thorsten (Mainz), geb. 1975, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Afrikanische Literaturen, Kulturtheorien, Literatur und Populärkultur. Letzte Buchveröffentlichungen: »Wo ist Afrika?« – Paratopische Ästhetik in der zeitgenössischen Romanliteratur des frankophonen Schwarzafrika (2008); 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien (mit Sandra Poppe und Sascha Seiler) (2009).
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VON ZÄSUREN UND EREIGNISSEN
Seiler, Sascha (Mainz), geb. 1972, ist Akademischer Rat im Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte im Bereich der Populären Kultur, der nord- und südamerikanischen Literatur, der Postmoderne und der Intermedialität. Letzte Buchveröffentlichungen: Handbuch der literarischen Gattungen (Hg. von Dieter Lamping mit Sandra Poppe, Sascha Seiler und Frank Zipfel) (2009); 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien (mit Sandra Poppe und Thorsten Schüller) (2009); Was bisher geschah. Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen (Hg.) (2008); Literarische Medienreflexionen (mit Sandra Poppe) (2008).
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Kultur- und Medientheorie Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited Oktober 2010, ca. 226 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums November 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien November 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion
Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3
Juli 2010, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8
Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld
Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt
August 2010, 372 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4
April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8
Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika
Theo Röhle Der Google-Komplex Über Macht im Zeitalter des Internets
Oktober 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7
Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien
Juli 2010, 266 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1478-7
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
Thomas Weitin (Hg.) Wahrheit und Gewalt Der Diskurs der Folter in Europa und den USA September 2010, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1009-3
Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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